Die offene Moderne – Gesellschaften im 20. Jahrhundert: Festschrift für Lutz Raphael zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783666370915, 9783525370919

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Die offene Moderne – Gesellschaften im 20. Jahrhundert: Festschrift für Lutz Raphael zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783666370915, 9783525370919

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Christian Marx Morten Reitmayer (Hg.)

Die offene Moderne Gesellschaften im 20. Jahrhundert

Die offene Moderne – Gesellschaften im 20. Jahrhundert Festschrift für Lutz Raphael zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Christian Marx und Morten Reitmayer

Mit 5 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Eisenbahnunglück am Bahnhof Montparnasse am 22. Oktober 1895 © akg-images / Science Source Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-37091-5

Inhalt

Michael Jäckel Vorwort – »Wir sind immer in Geschichten.« . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Christian Marx / Morten Reitmayer Einleitung: Die offene Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Andreas Gestrich Soziale Ungleichheit und Geschichte der Moderne . . . . . . . . . . . . . 32 Christof Dipper Klassen – Aufstieg und Niedergang eines Paradigmas . . . . . . . . . . . 59 Christoph Weischer Sozialstrukturanalyse und Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Adelheid von Saldern Geschlechterordnungen im 20. Jahrhundert. Ein Essay zu Deutschland und den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Joachim Rückert Privatautonomie unbegrenzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Anselm Doering-Manteuffel Konjunkturen von Liberalismus im 20. Jahrhundert. Das deutsche Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Julia Angster Das Ende des Konsensliberalismus. Zur Erosion einer Werteordnung »nach dem Boom« . . . . . . . . . . . . 189 Ulrich Herbert Weltanschauungseliten. Radikales Ordnungsdenken und die Dynamik der Gewalt . . . . . . . . . 214 Jakob Tanner Kartelle und Marktmacht im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 228

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Inhalt

Paul Windolf Von der korporatistischen Koordinierung zur staatlichen Regulierung. Ein Paradigmenwechsel auf dem deutschen Finanzmarkt in den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Jan-Otmar Hesse Mit Hayek in der Handtasche. Hat der Neoliberalismus die Welt verändert? Das Beispiel der bundesdeutschen Handelspolitik . . . . . . . . . . . . . . 272 Nicole Mayer-Ahuja Wandel von Arbeit nach dem Fordismus – arbeitssoziologische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Hans Günter Hockerts / Winfried Süß Markt und Nation. Über zwei Relationen des Sozialstaats und ihren Wandel in Zeiten von Globalisierung und Europäisierung . . . . . . . . . . . . . . 318 Andreas Eckert Jenseits von Stahl und Kohle. Wirtschaftlicher Wandel und Industrialisierung in Afrika seit der Kolonialzeit. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Ursula Lehmkuhl Internationale Ver- und Entriegelungsprozesse im »American Century«. Die 1970er Jahre als Epochenschwelle in den internationalen Beziehungen? 362 Jan Eckel Nachdenken über das »Ende«. Übergänge und Nebeneinander in der Zeitdiagnostik um 1990 . . . . . . 386 Martin Endreß Zu einer historischen Theorie einer Schwellenzeit der Moderne. Aspekte einer Auseinandersetzung mit dem theoretisch-konzeptionellen Zuschnitt von Lutz Raphaels Zeitgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . 414 Beiträgerverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

Michael Jäckel

Vorwort – »Wir sind immer in Geschichten.«

»›Wir sind immer in Geschichten‹. […] Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie säuberlich getrennt.«1

»Ruhm« heißt der Roman, aus dem diese Worte stammen. Der Titel passt zu einer Würdigung, die Botschaft des Zitats kann auch die Geschichtswissenschaft neugierig machen. In einer besonderen Romanform erweisen sich neun zunächst unabhängig voneinander aufgelistete Episoden als klug miteinander verwoben. Anstelle von Kapiteln, die dem Buch eine Ordnung geben, zerfließen plötzlich die Grenzen. Die Infragestellung von Ordnungen und Sichtweisen, aber auch die Entwicklung neuer Perspektiven auf das Vergangene, kennzeichnen die wissenschaftliche Arbeitsweise von Lutz Raphael. Es beginnt bei der Frage, was eigentlich ein Thema ist. Jeder kennt aus seinen ersten Schreibversuchen während des Studiums – und auch bereits davor – die Herausforderung, etwas, weil es nicht zu einem Thema gehört, auch weglassen zu dürfen. Wie lässt sich also das Forschungsgebiet einhegen? Welche bereits vorgegebenen »Schubladen« beeinflussen den Blick auf das angeblich Wesentliche? Aus meiner Sicht steckt in diesen Fragen auch die Herausforderung an die Kreativität des Historikers, die Lutz Raphael in seinen Arbeiten vielfach unter Beweis gestellt hat. Er hat nicht nur die existierenden Gewohnheiten einer Disziplin hinterfragt, sondern aktiv mit eigenen Arbeiten Antworten auf mögliche alternative Wege der Erkenntnis gegeben. Ich will dies an wenigen Beispielen illustrieren. Eine Reise durch die Hauptstädte dieser Welt würde jedem aufmerksamen Beobachter zeigen, dass die eigene Geschichte selten durch die Brille anderer Nationen vermittelt wird. So spiegelt sich auch im Curriculum des Geschichtsunterrichts das Curriculum einer Nation, vor allem dieses. Nach den desaströsen Erfahrungen mit einem übersteigerten Nationalismus hat sich dies zwar verändert, aber Erfahrungen mit Geschichte waren eben lange Zeit Erfahrungen mit der eigenen. Hinzu kam, dass Geschichte sich gerne an großen Persönlichkeiten und großen Ereignissen orientiert hat. Eine Vorliebe für das Heroische und Dramatische, für die radikalen Brüche und Scheidewege, kennzeichnet den Umgang mit der Vergangenheit.

1 Daniel Kehlmann, Ruhm, Hamburg 2010, S. 201.

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Michael Jäckel

In seinem Buch »Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme«2 hat Lutz Raphael eine sehr differenzierte Sicht auf die Historie der eigenen Disziplin geworfen. Bevor sich das akademische Berufsfeld etablierte und Geschichtswissenschaft zu einem Fach an Universitäten wurde, organisierte es sich unter anderem in Clubs von Gelehrten, die unterschiedlich distanziert mit dem Phänomen der Staatsnähe umgingen. Besonders deutlich wird diese Abhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die deutsche Geschichtswissenschaft, bis dahin eine Disziplin mit hohem Renommee, verlor nachhaltig an Ansehen. So zeigen diese Scheidewege der Geschichte eben auch, dass die Verwobenheit des Faches mit von »Menschen und Mächten« geschaffenen Ereignissen auch darüber entscheidet, wer zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehört. Auch die intensive Beschäftigung mit der französischen Historiografie unterstreicht diesen Zusammenhang. Symptomatisch steht hierfür der Satz von Marc Bloch: »J’ai horreur du nationalisme scientifique.«3 Die Geschichte sorgt selbst dafür, dass sich thematische Neukonfigurationen ergeben: Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es eine ideologische Blockbildung, die in der Disziplin Wahrnehmungsgrenzen aufbaut, zugleich leitet dieses Ereignis eine Phase des Postkolonialismus ein, ebenso eine Vorstellung von europäisch-westlicher Geschichtskultur. So erweist sich die Kategorie des Raumes gleich in mehrfacher Hinsicht als bedeutsam für die Geschichtswissenschaft. Raum ist zugleich eine weitere Kategorie, die in vielfacher Weise Ordnungssinn vermitteln soll. Da ist zunächst die sprachliche Gebundenheit des Denkens, die innerhalb der Geschichtswissenschaft zu räumlich wahrnehmbaren Segregationen geführt hat. Lutz Raphaels Sortierung der internationalen Historiografie, die nun auch im digitalen Bereich Maßstäbe setzt4, zeigt, wie sich territoriale Grenzen auch in thematischen Wahlverwandtschaften niedergeschlagen haben. Hier geht es vor allem um die Bereitschaft, von den näheren und ferneren Nachbarn zu lernen. Der Blick in andere geschichtswissenschaftliche Kulturen erfolgt nicht, um die damit verbundene Vielfalt quasi zu dokumentieren. Eher soll es für die große Herausforderung sensibilisieren, die universalgeschichtliche Projekte zu berücksichtigen haben. Hier wirkt die Kategorie des Raumes wie eine Überforderung. In anderen Fällen aber kann sie als analytisches Instrumentarium zu vielleicht nicht säuberlichen, aber doch deutlich erkennbaren Trennungen führen. Im Beitrag »Inklusion / Exklusion – ein Konzept und seine Gebrauchsweisen in der Neueren und Neuesten Geschichte«5 verknüpft Lutz Raphael die Kategorie 2 Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003. 3 Zit. nach: Ebd., S. 90. 4 Vgl. »Digital Atlas of European Historiography« (online: https://daeh.uni-trier.de, aufgerufen am 25.03.2020). 5 Lutz Raphael, Inklusion / Exklusion – ein Konzept und seine Gebrauchsweisen in der Neueren und Neuesten Geschichte, in: Iulia-Katrin Patrut / Herbert Uerlings (Hg.), Inklusion / ​

Vorwort – »Wir sind immer in Geschichten.«

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des Raumes mit einem zentralen Unterscheidungskonzept der Soziologie. Aussagen, die sich auf räumliche Kategorien beziehen, bestimmen oder begrenzen Handlungsspielräume. Herrschaftliche oder polizeiliche Anweisungen über den Umgang mit Menschenansammlungen im öffentlichen Raum gehören hier ebenso erwähnt wie die Schaffung exklusiver Räume für sogenannte Randgruppen. Auch die moderne Kategorie »No go-Area« zeigt, wie die Erwartung an die Beschaffenheit von Räumen selbst auferlegte Verzichte verstärkt. Die Nah- und Fernwirkung solcher Mechanismen hat insbesondere auch Michel Foucault analysiert, der Lutz Raphael wiederum als ein theoretischer Anker beim Blick auf die Funktionsweise bürokratischer Herrschaft im 19. Jahrhundert diente.6 Die Kategorie des Raumes eröffnet aber auch einen Blick über die reine Ereignisgeschichte hinaus, sie lenkt den Blick auf die großen Trägerschichten des sozialen Wandels, ebenso auf jene, die in ihren Traditionen verharren wollen. Aus der intensiven Auseinandersetzung mit der französischen Geschichtswissenschaft, insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist für die Forschungen an der Universität Trier ein tragender Gedanke hervorgegangen, der sich in der zwischenzeitlich gelegentlich bereits etwas überdehnten Formel »Strukturen langer Dauer« manifestiert hat. Aber auch hier ist es das Ordnungsprinzip, das historisch vermeintlich höchst disparate Phänomene als gar nicht so disparat erscheinen lässt. Der französischen Soziologie, insbesondere Pierre Bourdieu, verdanken wir beispielsweise die Aufforderung, nach den Gemeinsamkeiten zwischen auf den ersten Blick unterschiedlichen Dingen zu suchen. Dies baut Brücken zwischen Kultur und Ökonomie, zwischen Systemen, die normalerweise getrennt gesehen werden. Ebenso steht der Begriff »Mentalität« für ein Amalgam von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein, das Lutz Raphael in seinen Arbeiten stets interessiert hat. Sein Blick über die Grenzen hätte im Titel des jüngst erschienenen Buchs »Jenseits von Kohle und Stahl«7 nicht deutlicher artikuliert werden können. Denn es war Ulrich Beck, der zu Beginn der 1980er Jahre mit seinem Beitrag »Jenseits von Stand und Klasse?«8 nicht nur an lange Kontroversen über die Angemessenheit soziologischer Kategorien anknüpfte, sondern den Ort »Gesellschaft« neu zu vermessen begann. In seinem Beitrag »Persönliche und Sachliche Kultur«, erstmals erschienen im Jahr 1900, beschrieb Georg Simmel das Verhältnis des Menschen zu anderen und zu sich selbst als Kultur: »Indem wir die Dinge kultivieren, […] kultivieren

Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 2013, S. 235–256. 6 Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000. 7 Ders., Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019. 8 Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 35–74.

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Michael Jäckel

wir uns selbst.«9 Daraus ergeben sich Wertschätzungen und der Sinn für Traditionen. Ebenso ist das Verschwinden dieser Kulturen ein schmerzhafter Prozess. Lutz Raphael hat es in seiner vergleichenden Geschichte der Industriearbeit im ausgehenden 20. Jahrhundert akribisch verdeutlicht. Die Analyse vermittelt, was manchmal nur einem anderen Genre gelingt. In »Rost«, einem Roman von Philipp Meyer, wird das Schicksal der Stahlregion Pittsburgh wie folgt beschrieben: »Dann kam das nächste alte Werk mit Schornstein, das war nicht nur Stahl, das waren Dutzende kleinerer Industrien, die den Stahlwerken zuarbeiteten und von ihnen abhingen; Schneiden und Pressen, dann Spezialbeschichtungen, Bergbauausrüstung, eine lange Liste. Das System war recht komplex, und als die Werke dichtmachten, da brach das ganze Tal zusammen, dessen Herz der Stahl gewesen war. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis alles zu Rost zerfiel, das Tal zu einem primitiven Urzustand zurückkehrte. Allein der Stein würde fortdauern.«10 Auch Lutz Raphael kann Partei ergreifen, ohne parteiisch zu werden. Am Ende dieser kurzen und einleitenden Geschichte steht also wieder ein Roman. Die Kreativität der literarischen Geschichtsschreibung ist weit gespannt. Deren Konkurrenz zu einem »faktengestützte[n] Realismus«11 war und ist Lutz Raphael sehr bewusst. Der Begriff »Quelle« wird für eine methodenbewusste Geschichtswissenschaft zu einer schwierigen Kategorie. »Geschichten in Geschichten in Geschichten« heißt es bei Kehlmann. Der britische Kulturwissenschaftler Raymond Williams hat einmal von einer »dramatisierten Gesellschaft« gesprochen, für die die regelmäßige Ablenkung durch unterschiedlichste Medien der Zerstreuung in den Rang »eines grundlegenden Bedürfnisses« aufgerückt sei.12 Das ist nicht das Geschäft der Historikerin oder des Historikers. Aber für die Faszination, die von dieser Disziplin (durchaus in einem doppelten Sinne) ausgeht, zu werben, schon. Der Leibniz-Preisträger Lutz Raphael ist ein sehr gutes Beispiel dafür.

9 Georg Simmel, Persönliche und sachliche Kultur, in: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 11 (1900), Heft 7, S. 700. 10 Philipp Meyer, Rost, Stuttgart 2010, S. 16 f. 11 Raphael, Geschichtswissenschaft, S. 63. 12 Raymond Williams, Drama in einer dramatisierten Gesellschaft [1984], in: Udo Göttlich u. a. (Hg.), Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln 1998, S. 238–252, hier S. 241.

Christian Marx / Morten Reitmayer

Einleitung: Die offene Moderne Es mangelt gewiss nicht an Vorschlägen zu einer inhaltlichen Bestimmung des Moderne-Begriffs, auch aus historischer Perspektive. Ein Arbeitsbegriff der Moderne, der es vermöchte, die Forschung derart anzuregen, dass offene Fragen beantwortet und neue Fragen gestellt werden können, wäre zweifellos ein großer heuristischer Gewinn. Bekanntlich hatte sich die Modernisierungstheorie dieser Aufgabe angenommen und mit einem robusten politischen Mandat versehen. Doch bei allem wissenschaftlichen Ertrag etwa der »Deutschen Gesellschaftsgeschichte«1 hat die Kritik – neben anderen Einwänden – auf zwei konzeptionelle Probleme aufmerksam gemacht, die die Modernisierungstheorie in Deutschland schließlich als Sackgasse erscheinen ließen: Erstens hat die Annahme der strukturellen Kopplung der Prozesse in Wirtschaft, Sozialstruktur, Politik und Kultur die normativ aufgeladene Vorstellung einer Parallelität historischer Verläufe in diesen Makrofeldern heraufbeschworen, die in der historischen Wirklichkeit kaum je aufzufinden ist. Und zweitens führte die Annahme eines geglückten westlichen »Normalwegs« in die Moderne, die sich aus der Idealisierung – insbesondere jener Parallelität – der englischen, französischen und US -amerikanischen Geschichte ergeben hatte, zu einer teleologischen Verengung der Modernisierungstheorie, die ihre Erklärungskraft für die geglückten wie die missglückten Nationalgeschichten, etwa in Gestalt des »deutschen Sonderwegs«, empfindlich minderte.2 Neuere Vorschläge einer gewissermaßen »verschlankten« Modernisierungstheorie haben deshalb insbesondere die Idee der strukturellen Kopplung sowie die teleologische Perspektive aufgegeben und versucht, auf diese Weise einen Analyserahmen für die spezifischen Dynamiken und die Widersprüche moderner Gesellschaften, gerade in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, zu retten.3 Besonders die Wucht der Basisprozesse, also das in seinem Ausmaß ganz

1 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987–2008; ders., Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. Das eigentlich paradigmatisch modernisierungstheoretisch angelegte Werk ist aber wohl ders., Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973. 2 Helga Grebing, Der »deutsche Sonderweg« in Europa 1806–1945. Eine Kritik, Berlin 1986. 3 Axel Schildt, Modernisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010, http:// docupedia.de/zg/schildt_modernisierung_v1_de_2010, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/ zzf.dok.2.787.v1 (zuletzt abgerufen am 12.07.2020); Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5–21.

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Christian Marx / Morten Reitmayer

neue, aber diskontinuierlich verlaufende (vorwiegend industrielle) Wirtschaftswachstum, der säkulare Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, die Klassen­ bildungsprozesse vor allem des Industrieproletariats und der neuen Mittelklassen, Urbanisierungs- und Migrationswellen, die Entstehung eines politischen Massenmarktes und die Notwendigkeiten der politischen Massenintegration im Nationalstaat, die breitenwirksame Alphabetisierung und die fortschreitende Entzauberung der Welt durch die modernen Wissenschaften, und die dadurch verursachte hohe Geschwindigkeit der Modernisierung haben Politik und Gesellschaft in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor schier unlösbare Herausforderungen gestellt. Dagegen hat unter anderem der Einspruch der Begriffsgeschichte darauf aufmerksam gemacht, dass zum einen der Begriff der Moderne zumindest in Deutschland erst aus den 1880er Jahren datiert, und dass sich zum anderen den historischen Akteuren um 1800 vor dem Hintergrund eines revolutionierten Erfahrungsraums ein ganz neuer Erwartungshorizont aufgespannt habe.4 Christof Dipper hat deshalb die Dialektik von Basisprozessen und den zu relativ stabilen Ordnungsmustern verfestigten Wahrnehmungen, Erfahrungen und Wissensbeständen (»Diskursen«) ins Zentrum seines Moderne-Begriffs gestellt. Dieser verdichtet sich in dem Befund des geschichtlich neuartigen Bewusstseins der historischen Zeitgenossen, in der Moderne zu leben. Von hier aus kann Dipper dann eine Geschichte der Moderne als eines gerichteten historischen Verlaufs in die Gegenwart schreiben.5 Aber ist ein solcher Moderne-Begriff sinnvoll ohne den Kapitalismus als konstitutives Element zu denken? Diese Frage hat Werner Plumpe aus gänzlich unmarxistischer Sicht aufgeworfen und mit seinem Konzept des »modernen Kapitalismus«, der um 1800 entstanden sei, beantwortet.6 Auch dagegen lassen sich – vor allem aus wirtschaftshistorischer Sicht – Einwände erheben, die hier nicht abgewogen werden können, doch sei zu Bedenken gegeben, dass die Beziehungen zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der übrigen Geschichte in diesem Modell nicht gerade entkompliziert werden; zum einen weil die Natur dieser Beziehung fraglich bleibt, zum anderen weil diese übrige Geschichte gewissermaßen zur Restgröße herabsinkt. Denn die »andauernde Revolution« (Plumpe) der kapitalistischen Modernisierung erscheint in einem

4 Christof Dipper, Moderne, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.08.2010, http:// docupedia.de/zg/dipper_moderne_v1_de_2010, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.​ 2.318.v1 (zuletzt abgerufen am 12.07.2020). 5 Christof Dipper, Moderne, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 17.01.2018, http:// docupedia.de/zg/Dipper_moderne_v2_de_2018, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.​ 2.1114.v2 (zuletzt abgerufen am 12.07.2020). 6 Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019; Tagungsbericht: Konzeptionen der Moderne – Wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven und aktuelle Entwicklungen, 11.11.2010–13.11.2010 Essen, in: H-SozKult, 04.01.2011, (zuletzt abgerufen am 12.07.2020).

Einleitung: Die offene Moderne

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solchen Moderne-Begriff einzig von endogenen Faktoren angetrieben; die Wirkung zwischen der wirtschaftlichen Dynamik und den politischen, sozialen und kulturellen Prozessen erscheinen einseitig oder zumindest stark asymmetrisch zu sein – wie sind in dieser Hinsicht z. B. die Bedeutung wissenschaftlich-technischer Innovationen oder auch die Ökonomisierung anderer Felder (etwa desjenigen des Wissenschaftsbetriebs) zu bewerten? Die machtvolle Veränderungsdynamik der kapitalistischen Modernisierung selbst dürfte hingegen nur von kulturalistischen die-hards in ihrem Ausmaß bestritten werden. Zu ihrem Motor wie zu ihrem Symbol wurde schon früh die Eisenbahn, doch Lokomotiven und Züge symbolisierten weit mehr als allein die ökonomische Moderne: Die Dynamik des wissenschaftlichen Fortschritts, die Bewegung ohne Muskelkraft, die Erschließung großer Räume, eine Infrastruktur, die neue Wahrnehmungen schuf, die Leistungsfähigkeit moderner Gesellschaften als solcher.7 Doch in den 1940er Jahren fuhren die Eisenbahnen auch nach Auschwitz, und gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Eisenbahngleise auf vielen Nebenstrecken demontiert, weil sich der Zugbetrieb angesichts der Konkurrenz von Automobil und Flugzeug nicht mehr lohnte. Auch war nicht jede Zugfahrt an ihr glückliches Ende gekommen, wie das Umschlagbild zeigt. Mit dem Verschwinden der Lokomotive als Symbol der Moderne war letztere allerdings noch nicht beerdigt; Todesanzeigen begleiten sie seit ihrer Geburt. Ebenso verkündet keiner der hier versammelten Beiträge den Beginn der Postmoderne; vielmehr zeigt sich die Moderne nach vielen Richtungen hin offen, mit ungewisser Zukunft, aber gestaltungsoffen für ganz unterschiedliche Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten. Es ist daher nicht nötig, die folgenschwere Unterscheidung zwischen den Gesellschaften der Moderne und denjenigen der Vormoderne zu bemühen,8 um die von Niklas Luhmann eingeführte Denkfigur des »Möglichkeitsüberschusses«, der in funktional differenzierten Gesellschaften an die Stelle des »Zwangs der Tradition« zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft getreten sei, zum

7 Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018, S. 141; Plumpe, Das kalte Herz, S. 194–200. 8 Es sei nur auf Christopher Baylys globalgeschichtlich argumentierenden Entwurf verwiesen, wonach mit der »Geburt der Moderne« gewissermaßen ein Zivilisationssprung verbunden war, weil der neue Typus des Nationalstaats und die massive Ausweitung globaler wirtschaftlicher und intellektueller Verbindungen derart heftig miteinander interagierten, dass eine neue Stufe der sozialen Organisation entstand, gekennzeichnet durch Komplexität und Uniformität. Hier steht also der qualitative Sprung von der Vormoderne in die Moderne im Vordergrund und weniger die disruptiven Prozesse seit dem späten 19. Jahrhundert, weshalb Baylys Moderne-Begriff in der Zeitgeschichte nur eine untergeordnete Rolle spielt. Allerdings ähnelt Baylys Bestimmung, dass »das Wesentliche des Modernseins darin liegt, sich für modern zu halten«, durchaus derjenigen Dippers. Vgl. Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt am Main 2006, Zitat S. 25.

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Christian Marx / Morten Reitmayer

Ausgangspunkt eines Nachdenkens über Gesellschaften im 20. Jahrhundert zu wählen.9 Mit diesem theoretisch grenzenlosen Möglichkeitsraum, der seine Grenzen systemtheoretisch erst an den Sinn-Grenzen der sozialen Systeme findet, erscheint die Moderne grundsätzlich offen  – auch ohne die Übernahme weiterer systemtheoretischer Denkfiguren. Der Zwang zur Selektion aus dem unübersichtlichen Repertoire der Möglichkeiten dürfte sich dabei angesichts des machtvollen Handlungsdrucks, der im 20. Jahrhundert von den oben genannten Basisprozessen der Industriemoderne ausging, vervielfacht haben: Sie erzeugten nämlich die Handlungs- und damit Selektionszwänge, deren Ergebnisse sich zu stabilen Mustern der sozialen und symbolischen Ordnung verfestigten und dem 20. Jahrhundert sein Gesicht verliehen. Gleichwohl, die praktische Auswahl an Möglichkeiten war nicht unbegrenzt und beliebig; situative Momente, nationale Traditionen, politisch-soziale Weltbilder, handfeste Interessen und machtbewehrte Konstellationen schränkten die Selektionsmöglichkeiten sichtbar ein. Die Geschichte der Sozialstaatlichkeit in Europa, die ausschnittweise auch in diesem Band berührt wird, legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Auch die erstaunliche Resilienz des liberal-kapitalistischen Gesellschaftsmodells in den europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts stellt einen offensichtlich häufig gewählten Ausschnitt dieses Möglichkeitsraums dar. Die Renaissance liberaler Ideen und der säkulare Aufstieg »neoliberaler« Gesellschaftskonzepte und Handlungsimperative in nahezu allen westlichen Gesellschaften seit den 1970er Jahren, sowie die entsprechenden Bewegungen in zahlreichen sogenannten Transformationsgesellschaften der ehemals staatssozialistischen Länder seit 1989/90 konfrontieren die ZeithistorikerInnen mit neuen (und alten) Fragen der Attraktivität und der Beharrungskraft dieses Ordnungsmusters seit dem 19. Jahrhundert. Denn der Wiederaufstieg dieser Ordnungsideen, die ihren Siegeszug in ganz unterschiedlicher Gestalt antraten – von der Forderung nach mehr Auswahlmöglichkeiten für Konsumenten über die Propaganda zur (Selbst-) Optimierung von Individuen und Prozessen oder zur Binnensteuerung von Organisationen durch marktförmige Regulierungen bis hin zum planmäßigen Aushöhlen von Arbeitnehmerrechten im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsunternehmen  – weisen darauf hin, dass unsere Gegenwart von der auf gesellschaftliche und politische Integration bedachte, korporatistische und konformistische Ära nach 1945 durch eine tiefe Zäsur getrennt ist, über deren Ausmaß bislang allerdings keine Einigkeit besteht.

9 Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas / Niklas Luhmann (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main 1971, S. 25–100, hier S. 56/57; Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131, hier S. 131.

Einleitung: Die offene Moderne

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Auf das Auftauchen einer solchen Epochenschwelle im Verlauf der 1970er Jahren ist bereits von Zeitgenossen hingewiesen worden; der französische Philosoph Jean-François Lyotard hat 1979 beispielsweise mit dem Begriff des »postmodernen Wissens« außerordentlich einflussreich die Behauptung einer tiefgreifenden Differenz zwischen der Epoche der Moderne und derjenigen der »Postmoderne« vertreten. Ganz ähnlich, wenn auch auf einer anderen Ebene gelagert, ist der Bericht an den Club of Rome interpretiert worden, der 1972 die berühmt gewordenen »Grenzen des Wachstums« verkündete. Die Vielzahl der Diagnosen eines epochalen Bruchs kann hier nicht gewürdigt werden; erwähnt seien nur die Deutung von Eric Hobsbawm, wonach ein »Erdrutsch« die bipolare Welt des 20. Jahrhunderts beseitigt habe, und das Konzept des »Strukturbruchs« von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael.10 Der von ihnen postulierte »soziale Wandel revolutionärer Qualität«, der sich zwischen den 1970er und 1990er Jahren ereignet habe, lässt sich als eine konfliktreiche Erweiterung des Möglichkeitsraums verstehen, in der Bindungen und Verriegelungen aufgebrochen wurden, die seit dem 19. Jahrhundert geschaffen worden waren, um die als gefährlich erachteten ökonomischen, sozialen und kulturellen Dynamiken, die von den Basisprozessen der Moderne ausgingen, zu begrenzen oder zumindest zu kanalisieren.11 Die neoliberalen Entriegelungen sind am leichtesten auf zwei Gebieten zu beobachten: Auf dem der Politischen Ökonomie einerseits, sowie im Bereich der neuen gesellschaftlichen Zeitdiagnosen und Leitbegriffe andererseits: Die Wellen der Privatisierung, die in den 1980er Jahren Westeuropa und nach 1990 Osteuropa durchliefen, der allgemeine Abbau von Kapitalverkehrs- und Außenhandelsbeschränkungen, die Aufgabe staatlicher Monopole und Preisfestsetzungen – alle diese Maßnahmen wurden ausdrücklich ergriffen, um diejenigen Wettbewerbskräfte freizusetzen, die einst von eben diesen Bindungen kontrolliert, eingehegt und abgeriegelt werden sollten.12 Zeitgenössische Leitbegriffe wie »Individualisierung«, »Erlebnisgesellschaft«, »unternehmerisches Selbst« usw. postulierten die Auflösung gewachsener sozialer Milieus sowie deren Kontrollmechanismen und Ordnungsideen, und propagierten die Krea­ tivität des von seinen sozialen Zwängen befreiten Individuums.13 Dagegen hat10 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970, 3. Aufl., Göttingen 2012. 11 Lutz Raphael verweist schon früh darauf, dass in den 1970er Jahren »wichtige Tragpfeiler des politisch-ökonomischen Modells der Nachkriegszeit ins Wanken geraten« sind. Vgl. Lutz Raphael, Partei und Gewerkschaft. Die Gewerkschaftsstrategien der kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs seit 1970, Münster 1984, S. 26. 12 Norbert Frei / Dietmar Süß (Hg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012. 13 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986; Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1992; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007.

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ten die korporatistischen Experimente der Zwischenkriegszeit zum Teil explizit auf die Beseitigung des liberal-kapitalistischen Ordnungsmodells abgezielt – was in Osteuropa bis 1990 zu beobachten war –, auf jeden Fall aber der Zähmung der Dynamiken des politischen Massenmarktes gedient; und die politisch-sozialen Leitvokabeln kreisten seit der Jahrhundertwende um »ganzheitliche« Sozialmodelle, die die Einbindung des Individuums in – unterschiedlich konstruierte – »Gemeinschaften« feierten. Die zahlreichen Systemwechsel nach dem Zweiten Weltkrieg in ganz Europa (einschließlich der Besatzungsherrschaften) versuchten mehr oder weniger erfolgreich, diese Leitideen umzucodieren, ohne jedoch den Primat der notwendigen Einbindung des Individuums aufzugeben. Auch korporatistische Modelle konnten nach 1945 als regulierte Form der Interessenvermittlung unter demokratischen Vorzeichen fortgesetzt werden.14 Neben dem Zweck der Einhegung, Begrenzung und Kontrolle von Dynamiken dienten solche Abriegelungen auch der Vermeidung von Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen, etwa in Form sozialstaatlicher Sicherungsinstrumente, die das Durchschlagen wirtschaftlicher Krisen auf individuelle Lebensschicksale und kollektive Sozialordnungen abmildern und begrenzen sollten. Schließlich ist daran zu denken, dass die großen korporativ eingebundenen nichtstaatlichen Mitspieler während des kurzen 20. Jahrhunderts, von den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften über weitere Interessenverbände bis hin zu den großen Kirchen, von ihren Mitgliedern ein verhältnismäßig konformistisches Verhalten erwarteten (und dies auch durchsetzten). Auch diese Bindungen an Verhaltensstandards lösten sich seit den 1970er Jahren (was beispielsweise die Bindung an die großen Kirchen anbetrifft teilweise auf schon früher) sukzessive auf. Mit diesen materiellen und ideellen Konstellationen, Interessen und Selektionsmechanismen, kurz, mit der Geschichte nationaler und transnational wirksamer Ordnungsmuster stehen, das ist der Vorschlag dieses Buches, nun aber auch genau diejenigen Bezugspunkte für eine vergleichende und synthetisierende Sozialgeschichte Europas zur Verfügung, die sich nicht bloß als eine »Sammelstelle für Sektoralgeschichten« versteht.15 Eine solche Forschungsperspektive lädt deshalb dazu ein, ihren jeweiligen Untersuchungsgegenstand als einen Fall des Möglichen zu konstruieren, denn der Vielzahl an Selektionsmöglichkeiten standen doch immer wieder nur wenige, gleiche oder mindestens ähnliche und vergleichbare Herausforderungen gegenüber. Mit anderen Worten, die Ähnlichkeiten der Herausforderungen und die als Antwort darauf entstandenen Ordnungsmuster können einen Rahmen für eine Sozialgeschichte Europas bilden. 14 Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62/3 (2014), S. 321–348. 15 Lutz Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ute Schneider / Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt am Main 2008, S. 73–91, hier S. 73.

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Eine der größten Herausforderungen für die Gesellschaften Europas bestand zweifellos in der mindestens bis zum Ersten Weltkrieg wachsenden und erst nach 1945 spürbar – und doch nur vorübergehend – abnehmenden materiellen Ungleichheit. Nicht dass ökonomisch-soziale Ungleichheit neu gewesen wäre, aber bis zum 19. Jahrhundert waren die politischen, rechtlichen und kulturellen Dimensionen von Ungleichheit in den europäischen Gesellschaften ungleich dominanter als im 20. Jahrhundert, von den totalitären Systemen einmal abgesehen, und unbeschadet der Tatsache, dass dies für die europäisch beherrschte imperial-koloniale Welt gerade nicht galt. Gewissermaßen »nackte« ökonomische Ungleichheit lief jedoch auch dem allgemeinen europäischen Trend zu »Wachstum und Gleichheit« in Politik und Recht, Konfession und Bildung zu wider und stellte eben deshalb eine so große Herausforderung für die Staaten Europas dar. Auch wenn der logische Status sozialer Ungleichheiten (im starken Plural) für eine Theorie der Moderne nach dem Ende der Modernisierungstheorie unklar ist,16 so sind die Effekte sozialer Ungleichheit doch in kaum einem Handlungsfeld zu übersehen. Anders gesagt, Ungleichheit stellte eine unhintergehbare Tatsache und eine politische, soziale, kulturelle und ökonomische Herausforderung für moderne Gesellschaften dar. Vor diesem Hintergrund diskutiert Andreas Gestrich die Frage nach dem Stellenwert sozialer Ungleichheit für die Geschichte moderner Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Dabei folgt er den Überlegungen von Lutz Raphael, wonach die Moderne eine Vielzahl konkurrierender Ordnungsentwürfe und politischer Handlungsoptionen bereithalte und die Entwicklung der europäischen Gesellschaften gerade aufgrund dieses Möglichkeitsüberschusses richtungs- und gestaltungsoffen sei. Umgekehrt sei die zunehmende sozialwissenschaftliche Selbstbeobachtung ein Basisprozess, von dem alle europäischen Gesellschaften ergriffen worden seien.17 Sozialer Ungleichheit wurde hierbei mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit geschenkt, aber sie verschwand nicht. Gestrich plädiert daher dafür, den die Moderne kennzeichnenden Möglichkeitsüberschuss rivalisierender Ordnungsentwürfe mit der Idee sozialer Felder zusammenzudenken, um auf diese Weise funktionale und vertikale Differenzierungen sowie Handlung und Struktur aufeinander zu beziehen und soziale Ungleichheit in der Gesellschaftsgeschichte der Moderne zu verankern. Vor dem Hintergrund der empirischen Erträge der britischen Forschung konstatiert er, dass in der Bundesrepublik die traditionelle sozialwissenschaftliche Konzentration auf Unter- und Mittelschichten und das Erwerbseinkommen blinde Flecken in der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung – in Bezug auf Reichtum wie auch auf versteckte Dimensionen sozialer Ungleichheiten – hinterlassen hat. Nicht umsonst sind die Vermögenseliten die unbekannteste der deutschen Elitenfraktionen. Gestrich 16 Vgl. die Beiträge von Andreas Gestrich und Christof Dipper in diesem Band. 17 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193.

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diskutiert insbesondere Sieghard Neckels These der »Refeudalisierung« als Bezeichnung für »dynastische Strukturen ökonomischer Macht« am Beispiel des Landbesitzes in Großbritannien. Damit wirft Gestrich eine Frage auf, die auch in der neueren Erforschung des Reichtums noch kaum wahrgenommen worden ist, nämlich unter welchen historischen Bedingungen, mit welchen Praktiken und welchen Folgen eigentlich Reichtum, also ein hohes ökonomisches Kapital, in andere Kapitalsorten transformiert werden kann.18 Auch Christof Dipper kommt zu dem Ergebnis, dass die modernisierungstheoretischen Großerzählungen und mit ihnen das Klassenparadigma mit dem Niedergang der industriegeprägten Geschichtsepoche zeitverzögert in die Krise gerieten. Während der »klassischen Moderne« hatten sich die europäischen Gesellschaften intensiver als zuvor für ökonomisch erzeugte Ungleichheit interessiert, weil diese nur noch in Grenzen als legitim erachtet wurde. In dieser Perspektive sind »Klassen« als diskursiv erzeugte Ordnungsmuster der Moderne zu verstehen, die Gesellschaften Orientierung boten und ihnen damit halfen, die komplexer und dynamischer werdenden Herausforderungen zu bewältigen. Seitens der deutschen Historiker wurde diese Entwicklung lange Zeit ausgeblendet. Bei ihnen dominierte nach wie vor ein politiklastiges Geschichtsbild, das erst in den 1960er Jahren durch den Aufstieg der Sozialgeschichte eine Erschütterung erfuhr. Doch war jener Perspektivenwechsel nicht von Dauer. Gerade als die Sozialgeschichte und das Klassenparadigma an Auftrieb gewannen, erlebten zahlreiche westliche Gesellschaften das Ende der Proletarität19 – ohne dass soziale Ungleichheiten dadurch verschwunden wären. Infolgedessen wirken die Großdarstellungen der Sozialgeschichte – von Hans-Ulrich Wehler oder Jürgen Kocka – inzwischen wie Monumente vergangener Tage in einer neuen Wissenschaftslandschaft, die durch eine enorme Pluralisierung der Perspektiven gekennzeichnet ist. Da »Klasse« nur die vertikale Dimension der Struktur sozialer Ungleichheit anspricht und sich die Facetten sozialer Ungleichheit gegenwärtiger Gesellschaften immer weiter ausdifferenzieren, erscheint diese Kategorie für Dipper – auch aufgrund der Zeitgebundenheit geschichtswissenschaftlicher Deutungsangebote  – zur Beschreibung moderner Gesellschaften zunehmend ungeeignet. 18 Gestrich verweist in seinem Beitrag umfänglich auf die Konzepte Pierre Bourdieus, in dessen Soziologie das Problem des Transfers zwischen unterschiedlichen Kapitalsorten eine wichtige Stellung einnimmt. Zu denken ist aus einer anderen Perspektive jedoch auch beispielsweise an Christoph Deutschmanns Überlegungen zu Geld als universalem Inklusionsmedium. Vgl. Christoph Deutschmann, Geld als universales Inklusionsmedium moderner Gesellschaften, in: Rudolf Stichweh / Paul Windolf (Hg.), Inklusion und Exklusion. Studien zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Wiesbaden 2009, S. 223–239. 19 Josef Mooser, Abschied von der »Proletarität«. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze / Rainer M. Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143–186; Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.

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Dass die Bielefelder Sozialgeschichte schon kurz nach ihrer Blüte vor gewaltigen konzeptionellen Herausforderungen stand – vor allem durch die Konfrontation mit der Alltagsgeschichte, der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der neuen Kulturgeschichte  – wird auch von Christoph Weischer konstatiert. In seiner Analyse des Verhältnisses von Sozialstrukturanalyse und Sozialgeschichte kommt er zu dem Schluss, dass es im Grunde in beiden Disziplinen zu einer ähnlichen Krise der klassischen Analysemodelle kam. Neue Forschungsperspektiven wie die Geschlechter- oder die Migrationsforschung hatten in beiden Fällen zunächst einen herausfordernden Charakter und bewirkten dann das Einbeziehen neuer geschlechtlicher, transnationaler oder globaler Perspektiven. Gleichzeitig erfuhr die Bedeutung von kulturellen Praktiken für soziale Differenzierungsprozesse eine erhöhte Aufmerksamkeit. Im Ergebnis habe dies dazu geführt, dass verschiedenste Forschungszusammenhänge zu sozialen Ungleichheiten heute eher nebeneinander als miteinander in Kontakt stünden. Vor diesem Hintergrund schlägt Weischer vor, die alten und neuen Konzepte der Sozialstrukturanalyse im Sinne einer Protheorie sozialer Ungleichheit zusammenzubringen, bei der sozialen Positionen und sozialen Lagen eine zentrale Bedeutung zukomme. Mit Blick auf die Sozialgeschichte könne hieraus zum einen eine Geschichte der sozialen Positionen als Geschichte des gesellschaftlichen Wandels, zum anderen eine Geschichte sozialer Lagen als Geschichte des sozialstrukturellen Wandels entwickelt werden. Zweifelsohne gehören Klasse, Geschlecht, Rasse und Ethnizität – auch und gerade in ihrer sozialen Konstruiertheit  – zu den klassischen Kategorien der Ungleichheitsforschung; dies gilt für die Sozialstrukturanalyse wie für die Sozialgeschichte. In diesem Zusammenhang zeigt Adelheid von Saldern in einem deutsch-amerikanischen Längsschnittvergleich für das 20. Jahrhundert, dass die Ordnung der Gesellschaft stets von geschlechterspezifischen Grenzziehungen durchdrungen war. Während es die alte Frauenbewegung in der wilhelminischen Öffentlichkeit zunächst schwer hatte, sich Gehör zu verschaffen, erlangten Frauen mit der Revolution 1918 das Wahlrecht und damit ihre verfassungsrechtliche Gleichberechtigung als Staatsbürgerin. In den 1920er Jahren wies das medial verbreitete Leitbild der Neuen Frau in Deutschland wie den USA auf die neuen Möglichkeiten hin, selbstbestimmt und selbstoptimiert die bestehenden gesellschaftlichen Grenzziehungen ausweiten zu können, doch blieben die Maßstäbe der (weißen) bürgerlichen Mittelschichtenfamilie weit verbreitet. In diesem Zusammenhang entwickelte sich die Eugenik zu einem gesellschaftlichen Optimierungsprogramm für Mensch und Gesellschaft – diesseits wie jenseits des Atlantiks – und wurde unter den Bedingungen des rassistischen NS -Regimes auf breiter Front ausgebaut, besonders zu Lasten der Frauen. Wie eng Antirassismus und Frauenbewegung miteinander in Kontakt standen, zeigte sich besonders in den USA, wo sich die neue Frauenbewegung in den 1960er Jahren  – im Unterschied zur Bundesrepublik  – nicht nur im Kontext der Studentenbewegung, sondern auch im Rahmen der antirassistischen Civil Rights-Bewegung formierte. Auch in Deutschland übertraf die gesellschafts-

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politische Stoßkraft der neuen Frauenbewegung jene der alten Frauenbewegung bei weitem. Dennoch warnt von Saldern davor, die Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts als eine stetig fortschreitende Verringerung der geschlechterbezogenen Ungleichheiten zu erzählen. Frauen fungierten während des ganzen 20. Jahrhunderts vielfach als Manövriermasse auf dem Arbeitsmarkt  – und tun es bis heute. Auch neue psychologische Auswahlverfahren fußten vielfach auf geschlechterbezogenen Grundannahmen männlicher Gutachter, und so entwickelten sich in beiden Ländern männliche Alleinernährermodelle mit geschlechterspezifisch hierarchisierten Lohngruppen heraus. Die Hochzeit der Industriegesellschaft ermöglichte noch einmal eine späte Blüte patriarchaler Strukturen, gleichzeitig blieb das moderne Prekariat vielfach weiblich  – wie auch Nicole Mayer-Ahuja und Christoph Weischer in ihren Beiträgen herausstreichen. Eine der Grundlagen des liberal-kapitalistischen Ordnungsmodells ist das Privatrecht, das die Autonomie des Individuums im Verhältnis zu seiner sozialen Einbettung definiert. In diesem Zusammenhang betont auch Joachim Rückert in seinem Beitrag mehrfach die Bedeutung geschlechtsbezogener Regeln. Zwar gingen viele rechtliche Änderungen mit einer Ausweitung weiblicher Partizipationsrechte einher, doch oftmals wurden hier neue Beschränkungen eingezogen. Das Entstehen, der Wandel oder das Scheitern von Rechtsordnungen – sie sind immer an bestimmte Bedingungen, wie vergangene Erfahrungen, zukünftige Erwartungen und (dauerhafte) soziale Praktiken, gebunden. Rechtssetzungen und soziokulturelle Ordnungsmuster stehen somit in einem Wechselverhältnis zueinander und regulieren über ein zu einem Regime verdichtetes Ordnungsdenken moderne Gesellschaften. Gesellschaftliche Selbstbeobachtungen, wissenschaftliche Diskurse und die Verwissenschaftlichung des Sozialen  – wie sie von Lutz Raphael mehrfach herausgestellt worden sind20 – dienen somit als Grundlagen zur Legitimation gouvernementaler Ordnungen. Auch der Erfahrungshintergrund des ökonomischen Erfolgs konnte hierzu beitragen. Rückert argumentiert, dass die privatrechtlich geschützte Autonomie des Individuums und seine Entfaltungsmöglichkeiten eine wesentliche Voraussetzung für Wohlstand gewesen seien. Der Kern jener Gestaltungsmöglichkeiten liege in der Privatautonomie bzw. konkret in der Freiheit, seine Rechtsverhältnisse selbst gestalten zu dürfen. Stärker als die vielfach im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Bereiche des Verfassungs- oder des Strafrechts bestimmten die Rechtssätze des Privatrechts Formen gesellschaftlicher Koordination und Konfliktlösung. Am Beispiel der Normen des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1900 und des heutigen Privatrechts zeichnet Rückert fünf Längsschnittentwicklungen für konkrete Sachbereiche von Privatautonomie nach. Während der Stand im Personenrecht wegfiel, avancierte der freie Vertrag im Bereich der Schuldverhältnisse zur juristischen Hauptfigur. Sach-, Familien- und Erbverhältnisse tendierten Rückert zufolge beim Problem 20 Raphael, Ordnungsmuster.

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der Privatautonomie zwar grundsätzlich in eine freiheitliche Richtung – so wurden Einschränkungen bei den Familienverhältnissen durch religiöse, sittliche, verwandtschaftliche, geschlechtsbezogene oder ständische Regeln inzwischen weitgehend aufgelöst  –, doch wurden hier auch neue Schranken eingezogen. An dieser Stelle wird das Nebeneinander von Ver- und Entriegelungsprozessen besonders deutlich. Es ist unmittelbar einsichtig, dass das Grundstücksrecht im Bereich der Sachverhältnisse auch heute noch keiner unbegrenzten Freiheit unterliegt, und auch Vererbung erfuhr durch eine stetig angehobene Erbschaftssteuer eine entscheidende Freiheitsbegrenzung. Die Privatautonomie war (und ist bis zur Gegenwart) folglich immer schon privatrechtlich begrenzt, und sie wurde zusätzlich durch die interventionistischen Einschränkungen des öffentlichen Rechts beschränkt. Auch wenn Anselm Doering-Manteuffel eine Engführung des Begriffs »Liberalismus« ablehnt und darauf verweist, dass verschiedene Elemente von Liberalismus in Raum und Zeit unterschiedliche Ausformungen annahmen, gehörte die persönliche Freiheit in Gesellschaft und Wirtschaft als Triebkraft des Fortschritts – in unterschiedlicher Ausprägung – zweifellos zu den liberalen Kernideen. Doch mit der Freiheit des Einzelnen oder der Freiheit des Marktes sei der Begriff noch nicht hinreichend bestimmt, vielmehr müsse er zu den Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft und eines Staats in seiner historischen Zeit in Beziehung gesetzt werden. Am Beispiel Deutschlands zeigt Doering-Manteuffel, dass der politische Liberalismus infolge der Entmachtung der liberalen Parteien im Kaiserreich verstärkt den Nationalismus in sich aufnahm und der deutsche Nationalliberalismus seine Rückbindung an liberale Grundsätze letztlich fast vollständig einbüßte. Der Liberalismus im Deutschen Reich war staatsfern – in dem Sinne, dass er den Staatsapparat nicht kontrollierte – und national zugleich, und er war individualistisch. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich auf der Grundlage staatsbürgerlicher Gleichheit hingegen das Postulat der demokratischen Gemeinschaft zum neuen Ordnungsmodell. Als die repräsentative Demokratie Ende der 1920er Jahre an gesellschaftlichem Rückhalt verlor, nahm die Bedeutung individualistischer Ideen weiter ab, während nationalistische und rassistische Gemeinschaftsformen eine abnorme Überhöhung erfuhren. In der frühen Bundesrepublik lebte dann das Ordnungsmodell von nationalpolitischer Gemeinschaft und staatsbürgerlicher Gleichheit der 1920er Jahre wieder auf. Unter dem Dach des demokratischen Verfassungsstaats fanden der US -amerikanische New Deal-Liberalismus und der deutsche Ordoliberalismus zueinander, bis sich die enge Verbindung von Liberalismus und Nationalstaat in den 1970er Jahren lockerte. Der »Neoliberalismus« räumte dem Individuum in einer Welt erweiterter ökonomischer Handlungsspielräume und entfesselter Märkte wieder eine herausgehobene Bedeutung ein. Oftmals waren es Regierungen, die die Bedingungen für jene Freiheit der Märkte schufen. Spätestens seit 2000 gingen auch die sozialdemokratischen europäischen Regierungen daran, die bestehende Sozialgesetzgebung den Bedingungen der neuen Marktökonomie anzupassen, um steigende Arbeitslosenzahlen zu bekämpfen. Doch anstatt die

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Krise zu überwinden, wirkten die Dynamisierung des Sozialen und die Förderung des Wettbewerbs vielfach spaltend und schufen damit nur neue Probleme. Erst mit der Finanzmarktkrise 2008 geriet das »neoliberale« Ordnungsmuster in eine Legitimationskrise. Ähnlich sieht auch Julia Angster den Konsensliberalismus ab etwa 1970 ins Wanken kommen, doch erst in den 1990er Jahren sei er und vor allem der nationalstaatlich gerahmte Gesellschaftsbegriff erodiert. Denationalisierungsprozesse justierten das Verhältnis von Staat und Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts neu. Das konsensliberale Ordnungsmodell, das auf den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise, des New Deal und des Zweiten Weltkriegs basierte und eine klare Abgrenzung von den totalitären Systemen des Nationalsozialismus wie des Kommunismus ermöglichte, wurde in der Bundesrepublik – hierauf verweisen Doering-Manteuffel wie Angster – von einem politisch breiten Spektrum getragen, das von der Christdemokratie bis zur Sozialdemokratie reichte. Während Staat und Gesellschaft in diesem Modell eng aufeinander bezogen waren, geriet der liberale Grundkonsens mit der Umbruchsphase nach dem Boom zunehmend unter Druck. Der nationale Denk- und Handlungsrahmen wie auch das repräsentative Demokratiemodell verloren in den 1990er Jahren zu Gunsten globalisierter neoliberal-individualistischer Wirtschafts- und marktkonformer Demokratiekonzepte ihre Selbstverständlichkeit und ihre Bedeutung als dominierendes Ordnungsmodell im transatlantischen Raum. Als Gegenentwurf zu dem im 19. Jahrhundert entstandenen liberal-kapitalistischen Ordnungsmuster verbreiteten sich in ganz Europa seit den 1890er Jahren Ideen, die auf Volk, Rasse und Gemeinschaft statt auf die Autonomie des Individuums setzten und nicht nur Antworten auf die politischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen der Hochindustrialisierung boten, sondern tendenziell eine weltanschauliche Grundlage zur Lösung aller Probleme und Irritationen der modernen Welt bereit hielten. Ulrich Herbert skizziert in seinem Beitrag zum radikalen Ordnungsdenken, wie im Umfeld des Ersten Weltkrieges zwei ideologisch konträre Radikalbewegungen an Bedeutung gewannen und sich schließlich in den 1930er und 1940er Jahren zu unvergleichlichen terroristischen Regimen entwickelten. Dabei versteht er unter »Weltanschauungseliten« diejenigen Gruppen, die aufgrund ihrer Bindung an jene Grundüberzeugungen ein politisch-ideologisches Wächteramt übernahmen und ihr eigenes Handeln hierdurch legitimierten.21 Im Unterschied zu Lutz Raphael, der eine breite Wirkung erschrockener Desorientierung um 1900 bezweifelt und stattdessen den steigenden Möglichkeitsüberschuss an Handlungsoptionen zu jener Zeit betont, verweist Herbert auf die als krisenhaft erfahrene Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels seit der Jahrhundertwende.22 Allerdings blieben jene 21 Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS -Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 165–193. 22 Herbert, High Modernity; Raphael, Ordnungsmuster.

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radikalen Antworten bis zum Ersten Weltkrieg Randerscheinungen, weil die Prozessgeschwindigkeiten erst jetzt in einem solchen Ausmaß zunahmen, dass der Möglichkeitsspielraum der Akteure extrem eingeschränkt wurde. Unter diesen Umständen gewann die Vorstellung an Plausibilität, dass die notwendigen, säkularen Korrekturen jetzt sofort und ohne jede Rücksichtnahme vorgenommen werden mussten. In europäischer und globaler Perspektive und im Anschluss an Überlegungen von Geoff Eley stellt sich die Frage, inwieweit die wechselseitige Beobachtung und der Wettstreit zwischen diesen beiden offensiv totalitären Entscheidungseliten und ihren Ordnungsideen zu einer Überbietungskonkurrenz im immer radikaleren Ausbuchstabieren ihrer vermeintlichen Lösungskonzepte für die Bewältigung der hochmodernen Herausforderungen führten.23 Damit ließe sich die Argumentationsfigur der als schockartig erfahrenen Dynamik der Basisprozesse um einen zusätzlichen Erklärungsfaktor erweitern. Erst mit dem Krieg wurden die Voraussetzungen zur Durchsetzung jener Ideen auf breiter Front geschaffen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging das rechtsradikale Konzept zur Ordnung der industriellen Welt unter. Damit verschwanden zwar auch die NS -Führungsgruppen aus den politischen Entscheidungspositionen, doch fand hier nur ein begrenzter Austausch der Elite statt, vielmehr wurden diese Gruppen überwiegend erfolgreich in die bürgerliche Gesellschaft der jungen Bundesrepublik und ihre demokratischen Spielregeln reintegriert. In der Sowjetunion gewann die kommunistische Option durch den Sieg über Hitler-Deutschland hingen massiv an Einfluss. Doch letztlich misslang eine flexible Anpassung an den globalen Aufstieg der Dienstleistungsund Konsumgesellschaft, so dass auch der linksradikale Ordnungsentwurf seine Legitimationskraft einbüßte. Während Herbert die starre Bindung der kommunistischen Idee an die traditionelle, schwerindustriell geprägte Industriegesellschaft betont und hierin eine wesentliche Ursache für ihren Niedergang sieht, beleuchtet Jakob Tanner das wechselhafte Verhältnis von Kartellen und modernen kapitalistischen Gesellschaften. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheinen Kartelle als ordnungsstiftende Organisation fast ebenso problematisch und antiquiert wie die vergangene Fokussierung auf die Schwerindustrie. Da Märkten heutzutage vielfach rationale und transparente Eigenschaften unterstellt werden, verbindet man mit Kartellen vor allem effizienzvermindernde Effekte. Doch diese Bewertung fiel in der Vergangenheit oftmals anders aus und verweist auf eine Verengung der Interpretationsoffenheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bis dahin überwog in den meisten europäischen Industrieländern ein positives Bild hinsichtlich der Organisationsfähigkeit von Kartellen, das von Unternehmern, aber auch von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung getragen wurde. Besonders in Deutschland setzte man sich mit dieser Position von den Zuständen in den USA 23 Geoff Eley / Jennifer L. Jenkins / Tracie Matysik, Introduction. German Modernities and the Contest of Futures, in: dies. (Hg.), German Modernities from Weimar to Hitler, London 2016, S. 1–30.

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ab, wo Kartelle als Ausgeburten eines monopolistischen Kapitalismus angesehen wurden, die im Gegensatz zu den demokratischen Gesellschaftsstrukturen standen. In Deutschland als dem »Land der Kartelle« wurde ihnen hingegen ein volkswirtschaftlicher Nutzen zugeschrieben. Erst mit der Durchsetzung US -amerikanischer, liberal-kapitalistischer Ordnungsvorstellungen nach 1945 wurden mit der Anti-Kartellgesetzgebung flächendeckend – und oftmals gegen beträchtliche Widerstände  – marktliberale Konzepte implementiert. Mit der Gründung der EWG wurde Wettbewerbspolitik gleichzeitig zu einer wichtigen Aufgabe europäischer Politik, auch wenn dies parallele protektionistische Maßnahmen nicht ausschloss. Besonders im Feld vieler Klein- und Mittelunternehmen wurde mit zahlreichen Kartellpraktiken aufgeräumt, wohingegen Großkonzerne weitgehend selbstständig entscheiden durften, wie groß sie werden wollten. Erst ab den 1980er Jahren änderte sich die Bewertung dahingehend, dass die Resilienz kleiner und mittlerer Unternehmen positiver beurteilt wurde. Unterdessen gingen nationale wie europäische Kartellbehörden schrittweise dazu über, auf das notorische Problem der Schattenexistenz von Kartellen mit einem Selbstoffenbarungsangebot (Bonusregelung / Leniency Programme)  zu reagieren. Die Einwände gegenüber Kartellen rissen nicht ab, vielmehr entstand in den 1990er Jahren mit dem Aufstieg des Shareholder-Value-Prinzips, das die Interessen der Anteilseigner zum exklusiven Unternehmenszweck aufwertete und intransparente Absprachen zwischen Managern als Fehlverhalten beurteilte, eine neue Form der Kritik. Den einschneidenden, mit der Durchsetzung des Shareholder-Value-Prinzips und der Liberalisierung der Kapitalmärkte verbundenen Veränderungen in den 1990er Jahren widmet sich auch der Beitrag von Paul Windolf. Die auf die Liberalisierung folgende staatliche Regulierungswelle habe demnach das lange Zeit für die deutsche Wirtschaft typische, von »Insidern« kontrollierte System hinweggespült und damit zu einem Paradigmenwechsel auf dem deutschen Finanzmarkt geführt. Zunächst wurden die Personal- und Kapitalverflechtungen zwischen Großunternehmen aufgelöst; anschließend trat an die Stelle jener korporatistischen Koordinierung eine Koordination durch den Markt, und schließlich musste staatliche Aufsicht das Vakuum mangelnder Koordinierung wieder füllen. Deregulierung war somit nur zum Preis neuer Verriegelungen zu haben. Besonders die Gruppe der institutionellen Investoren, deren Anteil seit Mitte der 1960er Jahre kontinuierlich angestiegen war, rückte in den Fokus der Gesetzgebung. Während der deutsche Kapitalmarkt – insbesondere der Aktienmarkt – unter der korporatistischen Kontrolle der Universalbanken und der großen Konzerne für außenstehende institutionelle Investoren bis in die 1990er Jahre weitgehend versperrt war, wurde er nun sowohl von konservativen als auch von rot-grünen Regierungen geöffnet, um die bisher vorbeiziehenden Kapitalströme ins Land zu locken und damit einen vermeintlichen Wettbewerbsnachteil auszugleichen. Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen schien dies dringend notwendig. Doch die neuen Finanzmarktgesetze regulierten die institutionellen Investoren nicht nur, sie legitimierten sie auch – und mit ihnen ihre Handlungsrationali­

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täten. Infolgedessen verloren feindliche Übernahmen ihren Ausnahmecharakter. Ab Mitte der 1990er Jahre führten Unternehmen dann verstärkt Aktien­ optionen für das Management ein, so dass sich der Interessengegensatz zwischen Managern und Aktionären in eine partielle Interessengemeinschaft wandelte. An die Stelle feindlicher Übernahmen und der Zerschlagung von Unternehmen trat nun die gemeinsam von Managern und Aktionären betriebene Maximierung des Aktienkurses – meist ohne die langfristige Entwicklung des Unternehmens zur Grundlage zu nehmen oder die Belange der Belegschaften in gleicher Weise zu berücksichtigen. Mit der Aufwertung marktorientierter Lösungskonzepte ging also oft eine Einhegung liberalisierter Märkte einher. Das liberal-kapitalistische Ordnungsmodell geriet hier regelmäßig an seine Grenzen. Schon das 1948 in Kraft getretene Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) verpflichtete seine Mitgliedsstaaten nicht nur zur Liberalisierung des Welthandels, sondern enthielt zugleich zahlreiche Ausnahmeklauseln, um protektionistische Maßnahmen fortzuführen. Das Welthandelsregime war folglich von einer Gleichzeitigkeit von Liberalismus und Protektionismus, von Ver- und Entriegelungen gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang kann Jan-Otmar Hesse zeigen, dass die bundesdeutsche Außenhandelspolitik der 1970er Jahre geradezu ein Abziehbild der ambivalenten internationalen Ordnung war. Die überschießende Rhetorik der Liberalisierung war vor allem auf den eigenen Export gerichtet, und so enthielt das 1961 erlassene Außenwirtschaftsgesetz trotz der Betonung der Handelsfreiheit bereits zahlreiche Einschränkungen. Auch in den 1970er Jahren erlag die Bundesregierung den Verlockungen eines »Neuen Protektionismus«, der sich nach der Währungs- und Ölpreiskrise 1973 weltweit ausbreitete. Im Bereich der Textilindustrie bestand angesichts des 1974 abgeschlossenen Multifaserabkommens noch lange ein liberaler Protektionismus fort, und auch die vom GATT tolerierten Freihandelszonen wie die EWG strebten nur einen vollständigen Zollabbau im Inneren an. Nach außen betrieb die EG hingegen vielfach eine diskriminierende und protektionistische Handelspolitik. Exportförderung mittels Steuer- und Kreditsubventionen und Handelsbeschränkungen durch Selbstbeschränkungsabkommen waren Teil jenes »Neuen Protektionismus«, der auch in den 1980er Jahren noch als politische Leitlinie der Bundesregierung diente. Nicole Mayer-Ahuja weist in ihrem Beitrag gleichfalls darauf hin, dass die ökonomische Konkurrenz zwischen Unternehmen in der Zeit nach dem Boom zunahm und parallel innerhalb der Unternehmen Marktmechanismen implementiert wurden, so dass die Grenzen zwischen Organisation und Markt immer weiter verschwammen. Dennoch warnt sie davor, die Widersprüchlichkeit der Boomjahre wie auch der Zeit seit 1975 zu unterschätzen. Zweifellos gehörten hohe Wachstumsraten, geringe Arbeitslosenzahlen und die Versuche vieler Unternehmen, ihre Beschäftigten langfristig an sich zu binden, zu den Epochenmerkmalen des Booms, doch war das aus der historisch neuartigen Verschränkung von Massenproduktion und Massenkonsum abgeleitete Normal­ arbeitsverhältnis alles andere als »normal«. Vielmehr war es Ausdruck einer

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spezifischen zeitlichen und räumlichen Konstellation im Rahmen eines liberalen Konsenses zwischen Kapital, Arbeit und Staat. Dass aktuell immer noch zwei Drittel aller Erwerbstätigen der Kategorie »Normalarbeit« zugeordnet werden, liegt keineswegs an einer Fehlwahrnehmung hinsichtlich der Ausweitung von Leiharbeit, befristeter Beschäftigung oder Teilzeitarbeit, sondern an der Umgestaltung des Mitte der 1980er Jahre formulierten Kriterienkatalogs. Ob damit allerdings schon ein sozialer Wandel von revolutionärer Qualität verbunden ist, sei zumindest fraglich, so Mayer-Ahuja, denn teilweise blieben institutionelle Formen stabil, während sich ihr sozialer Inhalt grundlegend veränderte; teilweise war das umgekehrte Phänomen zu beobachten. Insbesondere die Stabilität der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sei bemerkenswert. Letztlich könnten nur künftige Forschungen, die die Grenzen des Nationalstaates analytisch überwinden, diese Fragen überzeugend beantworten. Diese über den Nationalstaat hinausgehende Perspektive hinsichtlich des Bedeutungsgewinns von Marktmechanismen kennzeichnet auch den Beitrag von Hans Günter Hockerts und Winfried Süß, die am Beispiel der Bundesrepublik den Wandel des Sozialstaats in Relation zum Markt und zum Nationalstaat nach 1945 untersuchen. Stets verstand sich der Sozialstaat als Marktkorrektiv, um die durch die Marktkräfte hervorgerufenen sozialen Ungleichheiten einzuhegen und damit zugleich das liberal-kapitalistische Ordnungsmodell zu stabilisieren. Der Sozialstaat wirkte somit immer begrenzend wie auch ergänzend auf die Marktkräfte ein. Besonders in der Boomphase war die Bundesrepublik, aber auch andere westeuropäische Staaten bestrebt, die Marktabhängigkeit von Individuen und Haushalten einzuschränken. Hieraus entwickelte sich zwar kein einheitliches europäisches Sozialmodell, dennoch zeigen sich einige übergreifende Tendenzen. Mit der heraufziehenden Globalisierung in den 1970er Jahren und dem damit einhergehenden tiefgreifenden wirtschaftlichen Wandel stand der Sozialstaat überall vor großen Herausforderungen. Während der souveräne Nationalstaat die Regeln nationaler Solidarität noch in eigener Regie festlegen konnte, fanden aufgrund der wachsenden internationalen Verflechtung – insbesondere im Rahmen der europäischen Integration – auch im Bereich der Sozialpolitik zunehmend Transferprozesse statt. Dabei ist hervorzuheben, dass die meisten kontinentaleuropäischen Sozialstaaten ihr sozialpolitisches Kernstück, die Sozialversicherung, gerade nicht an den Status des Staatsbürgers, sondern an denjenigen des Arbeitnehmers knüpften. Die Schlagwörter Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung fanden angesichts des erhöhten Spardrucks auf die öffentlichen Haushalte und die Sozialetats immer breiteren Widerhall. Infolgedessen wandelte sich die herkömmliche standortgebundene Konkurrenz auf Absatzmärkten in eine Konkurrenz um die besten Standortbedingungen zwischen Staaten und dies betraf auch die Sozialleistungen. Hockerts und Süß zufolge lässt sich daher seit den 1980er Jahren von einer Vermarktlichung der Wohlfahrtsproduktion sprechen, die sich in vier Tendenzen niederschlägt, nämlich der Verlagerung von staatlicher Verantwortung auf private Eigenvorsorge, der Verstärkung von Marktlogiken in so-

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zialen Sicherungssystemen, der Privatisierung sozialer Dienste und Infrastrukturen, sowie einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Während die politischen Akteure damit die ökonomische Krise und den Anstieg der Arbeitslosigkeit überwinden wollten, führten die Maßnahmen gleichzeitig zu einer Aufspreizung sozialer Ungleichheitsverhältnisse. Insgesamt beurteilen Hockerts und Süß die Reformen in der Bundesrepublik jedoch nicht als marktradikal, vielmehr blieb der Staat trotz der Reduktion bestimmter Zuwendungen und der Verschärfung von Anspruchsbedingungen der wichtigste Garant sozialer Leistungen. Während rückläufige ökonomische Wachstumszahlen, steigende Energiepreise und der Anstieg der Arbeitslosigkeit in vielen westeuropäischen Staaten in der Zeit nach dem Boom somit auf einen ordentlich ausgebauten Sozialstaat trafen, der zwar nicht alle soziale Ungleichheiten ausgleichen, aber zumindest einige soziale Härten abfedern konnte, wurden zahlreiche afrikanische Länder von der Ölpreiskrise 1973/74 und ihren Folgen weitaus härter getroffen. Viele afrikanische Ökonomien waren von nur einem einzigen Exportgut im Rohstoffbereich abhängig, dessen Nachfrage nun vielfach einbrach, oder sie gehörten ohnehin zu den ärmsten Ländern der Welt, die sich die Verteuerung westlicher Industrieprodukte kaum mehr leisten konnten. Im Ergebnis stieg ihre Verschuldung bis in die 1980er Jahre massiv an, so dass sie oftmals gezwungen waren, den Gang zum Internationalen Währungsfond anzutreten und sich damit in eine neue Abhängigkeit begaben. Auf Prozesse der Ablösung und Entriegelung im Rahmen der Dekolonisation folgten somit alsbald neue Verriegelungen. Der Beitrag von Andreas Eckert verdeutlicht, dass sich das Wachstum in der verarbeitenden Industrie in Afrika im Anschluss an die erste Ölpreiskrise rapide verlangsamte und hier sogar Prozesse der Deindustrialisierung zu beobachten sind. Dabei hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch gar keine umfassende Industrialisierung Afrikas stattgefunden  – sie blieb gewissermaßen dauerhaft aus. Dies galt in besonderer Weise für die Regionen südlich der Sahara. Die längsschnittartige Darstellung von Eckert über die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas im 20. Jahrhundert demonstriert eindrucksvoll, dass sich dort im Grunde zu keiner Zeit ein nennenswerter industrieller Sektor etablierte. Dies lag auch daran, dass sich schon die europäischen Kolonialmächte in der ersten Jahrhunderthälfte mit Investitionen in ihre afrikanischen Kolonien zurückhielten und sich weitgehend auf die wirtschaftliche Ausbeutung im Rohstoff- und Agrarbereich beschränkten. Industrialisierungsansätze finden sich allenfalls in einigen größeren Siedlerkolonien; auch größere Infrastrukturprojekte verblieben meist in der Hand der Europäer. Lediglich im (Klein-) Handel gelang es Afrikanern, sich Nischen zu schaffen, wohingegen bei größeren Handelsgeschäften gleichfalls europäische Handelsunternehmen tonangebend waren. Zwar gab es unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkrieges einige Entwicklungsinitiativen, welche die Kolonien ökonomisch produktiver und politisch stabiler machen wollten, doch kaum einer der Kolonialexperten sprach sich für eine umfassende Industrialisierung Afrikas aus. Ebensowenig brachten die später eingeleiteten Maßnahmen einer importsubsituierten Industrialisierung zum Schutz junger

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Industrien den Durchbruch. Im Horizont der Theorie eines kapitalistischen Weltsystems, wie sie von Immanuel Wallerstein konzipiert worden ist, blieben die Positionen der afrikanischen Gesellschaften trotz zweier Weltkriege und der Dekolonisation wie zementiert.24 Zwischen den starken Staaten des kapitalistischen Zentrums und den Ge­ sellschaften der Semi-Peripherie und der Peripherie fanden unter anderem aufgrund der systemischen Unterentwicklungsprozesse kaum Positionswechsel statt. Zu Recht wurde diesem Ansatz ein gewisser Determinismus vorgeworfen. Allerdings war dieses Weltsystem während der längsten Zeit des 20. Jahrhunderts auch durch eine normativ-institutionelle Verriegelung auf der Grundlage liberal-kapitalistischer Normen, Werte und Ideen gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang zeigt Ursula Lehmkuhl, wie stark weite Strecken des 20. Jahrhunderts durch die Globalisierung westlicher Ordnungsvorstellungen und ihrer Institutionalisierung in internationalen Ordnungsstrukturen im »American Century« charakterisiert waren, bis in den 1970er Jahren infolge der Dekolonisation, der ökonomischen Ölpreiskrisen und der politischen Vertrauenskrisen Prozesse der Entriegelung einsetzten. Dies löste langjährige Abhängigkeitsverhältnisse nicht vollends auf, untergrub aber oftmals den Führungsanspruch westlicher Staaten – besonders der Hegemonialmacht USA . Um 1900 waren die Vereinigten Staaten zur führenden Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen und nahmen alsbald für sich in Anspruch, der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen, auch wenn isolationistische Kräfte noch lange eine hohe politische Deutungsmacht behalten sollten. Erst ein Vierteljahrhundert später übersetzten die USA ihre selbst auferlegte moralische Pflicht zur Intervention in weltpolitisches Handeln. Während Großbritannien zunehmend seine weltpolitische Ordnungsfunktion verlor, übernahmen die USA im Zweiten Weltkrieg endgültig die internationale Führungsrolle und legten mit der Gründung der Vereinten Nationen zugleich die Prinzipien und Vorstellungen für eine Nachkriegsordnung auf der Grundlage des »American Exceptionalism« fest. Ab den 1960er Jahren wurden die normativ-institutionellen Grundlagen der auf liberal-kapitalistischer Grundlage verfassten Weltgesellschaft durch die Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die Weiterentwicklung des Menschenrechtsregimes und die Partizipationsmöglichkeiten für die neuen Mitglieder der Vereinten Nationen zunehmend in Frage gestellt, doch entwickelten jene Vorstöße zunächst keine politische Durchschlagskraft. Die Wirkmächtigkeit der bipolaren Weltordnung überdeckte die aufgebrochenen Nord-Süd-Konflikte vorerst weiter und auch der Aufstieg Chinas und Indiens entfaltete erst nach dem Ende des Kalten Krieges seine Struktur verändernde Wirkung. Dies führte zu Abwehrprozessen gegen das westlich-liberale Ordnungssystem. Die langfristigen politischen Folgen der Entriegelungsprozesse der 1970er und 1980er Jahre zeigten sich daher erst am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts – nicht 24 Immanuel Wallerstein, The modern World System, 4 Bde. New York 1974–2011.

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zuletzt in Form fundamentalistischer Kräfte – und mündeten in den Niedergang des »American Century«. Gerade diese Zeit der beginnenden Erosion der amerikanisch-westlich dominierten Weltordnung sieht auch Jan Eckel in ideengeschichtlicher Perspektive als ein rund zehn Jahre währendes »Nicht-mehr-und-noch-nicht«. Denn wie Eckel zeigt, behaupteten zahllose Zeitdiagnosen jener Jahre das Ende der Moderne, der Arbeit, der Demokratie, des Nationalstaats, der Geschichte und von vielem anderen mehr. Eckel greift für seine Untersuchung dieser Ideen drei besonders prominente Fälle heraus: das Ende der Moderne (»Postmoderne«), das Ende der Geschichte, vorgetragen von Francis Fukuyama, und das Ende des Nationalstaates angesichts der Überforderung seiner Steuerungsfähigkeiten durch die internationalen Finanzmärkte und transnational agierende Unternehmen. Die in historischer Perspektive besonders hervorstehende Eigenschaft dieser Gegenwartsdeutungen, so Eckel, war ihre Folgenlosigkeit: Binnen eines Jahrzehnts hätten sie ihr intellektuelles Pulver verschossen. Einzig der These vom Niedergang des Nationalstaats vermag Eckel eine gewisse Ausstrahlungskraft in die Zukunft zuzugestehen, weil einige der hier beobachteten Triebkräfte später im Begriff der »Globalisierung« gefasst werden konnten. Kern des Problems aller genannten Ende-Debatten sei jedoch deren Unfähigkeit gewesen, »die gegenwärtige Situation aus sich selbst heraus zu bestimmen«. Waren die Auseinandersetzungen um die zahlreichen Postismen also nur weitere Kondolenzkarten auf dem großen Stapel der Todesanzeigen der Moderne? Oder signalisieren sie doch mehr, nämlich einen fundamentalen Wandel der politisch-ideellen Bezugspunkte, in dem die Berufung auf die Bewegungsrichtung der Moderne und der mit ihr verbundene Begriff des Fortschritts aufhörten, den politischen Kompass für »kritische«, »linke« Intellektuelle darzustellen – »fortschrittliche« Politik gab es seitdem nicht mehr –, und der Nationalstaat als zentraler Möglichkeitsraum eben dieser »progressiven« Politik zur Größe einer Alltagstristesse schrumpfte, mit langfristig umstürzenden Folgen für die Felder politischen Handelns. Der Paradigmenwechsel in den Zeitdiagnosen und Leitbegriffen seit den 1970er Jahren markiert einen zentralen Bezugspunkt für die Überlegungen von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael über die Veränderungen in der jüngsten Zeitgeschichte. Martin Endreß nimmt sich in seinem Beitrag aus soziologischer Sicht jenem Periodisierungsvorschlag und dem in Wechselwirkung zu soziologischen Vorschlägen stehenden Konzept über die Zeit nach dem Boom an. Für ihn findet hier eine Vermittlung von sozio- und polit-ökono­ mischen Anstößen einerseits und sozio-kulturellen, ideengeschichtlichen und wissensanalytischen Ansätzen andererseits statt, die letztlich an eine Integration der an Marx’ geschulten ökonomischen mit einer an Max Weber orientierten ideen­analytischen Perspektive erinnert. Besonders im jüngsten Buch von Lutz Raphael avancieren die Perspektiven von politischer Ökonomie und Wissensgeschichte zu Leitwährungen der Erzählung – letztere scheint bisweilen sogar in den Vordergrund zu rücken. Während die Frage, ob der Zeitraum zwischen

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1970 und 2000 als eine spezifische Übergangsperiode zu bezeichnen ist, an deren Ende aus einer primär industriell geprägten Gesellschaftsordnung eine deutlich pluraler strukturierte Sozialordnung hervorging, für Endreß im Grunde noch offen ist, sieht er den Gewinn der Epochenthese – vom Wandel revolutionärer Qualität  – darin, einen Idealtypus für konkrete zeithistorische Forschungsprojekte geschaffen zu haben, der allerdings stets am konkreten Gegenstand überprüft werden muss. Konzeptionell schlägt er zum einen vor, den Begriff der »Bahnungseffekte« aufzunehmen, um neben Geschichten über den tendenziellen Abstieg westeuropäischer Industriearbeit(er) in ausgeprägterem Maße einen offeneren, zukunftsorientierteren und innovationssensibleren Vorstellungshorizont zu eröffnen; zum anderen plädiert er in Anlehnung an Rainer Lepsius für eine Orientierung an der analytischen Trias von Interessen, Ideen und Institutionen, um die institutionellen Leitideen noch stärker zu konturieren. Letzten Endes erkennt Endreß in den Arbeiten von Lutz Raphael eine im Kern sich wechselseitig bekräftigende inter- wie transdisziplinäre Kooperation von soziologischer und zeithistorischer Forschung, für die es in beiden Fächern nur wenige Beispiele gibt – und die gerade deshalb so herausragend ist. Alle hier versammelten Beiträge demonstrieren nachdrücklich die Verdienste von Lutz Raphael um die Sozial- und Ideengeschichte der europäischen Moderne. Gerade seine Bereitschaft, Grenzen zu überwinden – räumlich, wie die des »nationalen Containers«, disziplinär, wie diejenigen zwischen Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie, methodisch, etwa zwischen Wirtschafts-, Sozial-, Ideen- und Historiographiegeschichte, oder auch zeitlich in Gestalt eherner Archivsperrfristen und Dekadologien  – haben zahlreiche Historikerinnen und Historiker, aber auch Soziologen und Soziologinnen und Forschende aus anderen Fächern angeregt und immer wieder aufs Neue herausgefordert. Dies gilt für das Nachdenken über die Entwicklung der Geschichtswissenschaft selbst ebenso wie für die reflektierte Verwendung von Sozialdaten als Quellen der Zeitgeschichte oder seine frühe Entdeckung der Konzepte Pierre Bourdieus für die Geschichtswissenschaft.25 Sein oftmals essayistischer und frageentwickelnder Stil wirkt dabei wie ein ständiger Motor der wissenschaftlichen Impulsgebung. Die Universität Trier verdankt Lutz Raphael viel. Sein Engagement in zwei Sonderforschungsbereichen (SFB 235 »Zwischen Maas und Rhein« und SFB 600 »Fremdheit und Armut«), im Forschungscluster »Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke«, im Forschungszentrum Europa sowie in zahlreichen weiteren interdisziplinären und internationalen Forschungsinitiativen 25 Lutz Raphael, Klassenkämpfe und politisches Feld. Plädoyer für eine Weiterführung Bourdieuscher Fragestellungen in der Politischen Soziologie, in: Klaus Eder (Hg.), Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Theoretische und empirische Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt am Main 1989, S. 71–110; ders., Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994.

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und nicht zuletzt die Auszeichnung mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis im Jahr 2013 dokumentieren dies eindrücklich. Studierende haben dies übrigens früh bemerkt und ihn mit dem Versprechen: »wir werden alle Raphaeliten!« erfolgreich davon überzeugt, den erhaltenen Ruf an die Universität zu Köln auszuschlagen. Dass seine Denkanstöße und seine breitgefächerte wissenschaftliche Aufmerksamkeit weit über die Universität Trier hinaus ausstrahlen und nachgefragt werden, bezeugen nicht nur seine Mitgliedschaften in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeitskreisen und Beiräten, sondern auch seine Tätigkeit im Wissenschaftsrat. Von seiner Form der wissenschaftlichen Durchdringung und Vermittlung historischer Gegenstände haben viele profitiert – Studierende, Doktoranden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie auch andere Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist dieses Buch Lutz Raphael zu seinem 65. Geburtstag gewidmet. Der Arbeit an diesem Band ging eine Tagung über »das kurze 20. Jahrhundert als verriegeltes Zeitalter« vom 17. bis 19. September 2015 im Schloss Herrenhausen in Hannover voraus, die großzügig von der Volkswagenstiftung ausgerichtet wurde. Auch ihr sei deshalb an dieser Stelle herzlich gedankt.

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Soziale Ungleichheit und Geschichte der Moderne »Die Entwicklung auch der deutschen Gesellschaft in den vergangenen beiden Jahrhunderten ist durch die Dauerhaftigkeit struktureller sozialer Ungleichheit grundlegend bestimmt. Sie ist vielleicht die Hauptfrage jeder historischen Sozialforschung, jeder Stratifikationsanalyse, jeder Sozialgeschichte – nicht zuletzt deshalb, weil damit die Lebenschancen der vielen Individuen notwendig in den Blick kommen.«1

1. Einleitung Soziale Ungleichheit und deren allmähliche sozialstaatliche Einhegung stellen wichtige Elemente in verschiedenen modernisierungstheoretisch inspirierten ›Meistererzählungen‹ der Geschichte des 20. Jahrhunderts dar.2 Für Hans-­Ulrich Wehler, den Doyen einer sich als historische Sozialforschung verstehenden Sozialgeschichte in Deutschland, war soziale Ungleichheit zudem auch theoretisch eine zentrale Perspektive auf die Geschichte von Gesellschaften. Sie durchziehe als »Fundamentalfaktum« alle Lebensbereiche und bestimme die »Lebenschancen der vielen Individuen«.3 Als Forschungsgegenstand sei soziale Ungleichheit daher besonders geeignet, um unterschiedliche Aspekte gesellschaftlicher Entwicklung zu bündeln. In gewisser Weise stelle der Abbau sozialer Ungleichheit einen Indikator für Modernisierung dar.4 Umgekehrt gefährdet wachsende 1 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, S. 16. 2 Für Deutschland gilt dies natürlich besonders für Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987–2008; ders., Das Deutsche Kaiserreich, ­1871–1918, Göttingen 1973. 3 Zur Bedeutung des »Fundamentalfaktums« der sozialen Ungleichheit in Wehlers Gesellschaftsgeschichte vgl. ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 6–12, 124–133. Wehler macht soziale Ungleichheit daher, neben den Weberschen Kategorien von Wirtschaft, Herrschaft und Kultur, zur vierten Leitkategorie seiner Darstellung. Mit besonderem Bezug auf die Zeitgeschichte und gegenüber dem letzten Band der Deutschen Gesellschaftsgeschichte zum Teil auch nochmals etwas zugespitzt ders., Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013. Mit ähnlicher theoretischer Ausrichtung, europäisch vergleichend Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2017. 4 Wehler, Umverteilung, S. 8 f.

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soziale Ungleichheit die wichtigsten Errungenschaften der Modernisierung wie Demokratisierung, die Ausdehnung von Bildung und sozialer und kultureller Partizipation und die Erhöhung von Chancengleichheit.5 In seiner Überblicksdarstellung »Geschichtswissenschaften im Zeitalter der Extreme« strich Lutz Raphael vor fast zwanzig Jahren heraus, dass die »großen Entwürfe« der Historischen Sozialwissenschaft, trotz ihrer insgesamt beeindruckenden Erfolgsbilanz und der »enormen Steigerung des sozialhistorischen Grundlagenwissens«, seit den 1980er Jahren überraschend schnell »veraltet« seien.6 Das hänge besonders mit der zunehmenden wissenschaftlichen Diskreditierung des teleologisch-fortschrittsoptimistischen und eurozentrischen Charakters der Modernisierungstheorien zusammen, die in der einen oder anderen Form das Rückgrat der meisten sozial- und gesellschaftshistorischen Großerzählungen gebildet hatten.7 Die Sozialgeschichte habe letztlich »keine integrierende Theorie oder Leitidee« mehr, die imstande sei, die divergierenden theoretischen Ansätze und vielfältigen sektoralen Forschungsinteressen der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte zusammenzubinden.8 Wehlers spezifische Verbindung Weberscher Kategorien mit dem Thema sozialer Ungleichheit schien dafür nicht mehr komplex genug. In ähnlicher Weise konstatierte auch Paul Nolte eine rasche Entwertung des Begriffs- und Theoriearsenals der Gesellschaftsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre aufgrund ihres modernisierungstheoretischen Bias. Nach Nolte kommt außerdem noch die Konzen5 Zu den Indikatoren der Modernisierung vgl. z. B. Peter Flora, Indikatoren der Modernisierung. Ein historisches Datenhandbuch, Wiesbaden 1975; Franz Rothenbacher, Soziale Ungleichheit im Modernisierungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1989. 6 Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 192. Selbstkritisch fragte auch einer der prominentesten Vertreter der Bielefelder Gesellschaftsgeschichte, Jürgen Kocka, im Rahmen einer kritischen Bestandsaufnahme: »Ist die Historische Sozialwissenschaft ein Auslaufmodell, dessen Zeit rasch vergeht?« Jürgen Kocka, Historische Sozialwissenschaft heute, in: Manfred Hettling u. a. (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 6. 7 Vgl. mit vielen Literaturnachweisen z. B. den Überblick bei Thomas Mergel, Modernisierung, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2011–04–27 (online: http://ieg-ego.eu/de/threads/modelle-undstereotypen/modernisierung/thomas-mergel-modernisierung, aufgerufen am 06.04.2020). Kurz und pointiert: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 57–61. 8 Raphael, Geschichtswissenschaft, alle Zitate auf S. 174. Ähnlich auch Paul Nolte, Abschied vom 19. Jahrhundert oder Auf der Suche nach einer anderen Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 22: Wege der Gesellschaftsgeschichte (2006), S. 103–132, hier S. 130: »Die in den sechziger und siebziger Jahren entwickelte bzw. in der Sozialgeschichte rezipierte Vorstellung von Modernisierung und von der ›modernen‹ Geschichte ist in den letzten zwei Jahrzehnten von Grund auf erschüttert worden. Das gilt nicht nur für ihren chronologischen ›Ankerplatz‹ im frühen und mittleren 19. Jahrhundert, sondern auch für theoretische Kategorien, Themenschwerpunkte und normative Absichten.«

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tration einer neuen Generation von Neuzeithistorikerinnen und -historikern auf das 20. Jahrhundert hinzu. Diese betrachte das 20. Jahrhundert als eine eigenständige, vom 19. Jahrhundert entkoppelte Epoche. Das von der neueren Forschung konstruierte Bild einer »paradigmatische[n] Moderne« ziele daher, so Nolte, »eher auf das Struktursyndrom von Modernität als auf den Prozess der Modernisierung«. Es sei in vielen und typischen Ansätzen der neueren Forschung »im weiten Sinne kulturell geprägt, nicht durch Ökonomie oder soziale Ungleichheit«.9 Inzwischen ist soziale Ungleichheit jedoch in der aktuellen Politik wie in den Geschichts- und Sozialwissenschaften wieder zu einem der meistdiskutierten Themen avanciert. Nicht erst seit Thomas Pikettys epochemachenden Untersuchungen erfährt die rasante globale Zunahme sozialer Ungleichheit eine Aufmerksamkeit, die dieses Thema vermutlich seit der ›sozialen Frage‹ des 19. und den Krisen des frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr erlebt hat.10 Heißt dies, dass sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Moderne schon wieder anders liest bzw. anders geschrieben werden muss? Und welcher Stellenwert kommt der Ökonomie und dem »Fundamentalfaktum« der sozialen Ungleichheit heute in einer »über eine »Ansammlung von Sektoralgeschichten hinausgehende Sozialgeschichte Europas in der Moderne« noch oder wieder zu?11 In einer Auseinandersetzung mit Ulrich Herberts Entwurf zu einer »Theorie der Hochmoderne« eröffnet Raphael zwei Perspektiven für eine Darstellung der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Sie sollen hier kurz aufgegriffen werden und stellen den Hintergrund für die folgenden Überlegungen zur Frage nach dem Stellenwert sozialer Ungleichheit dar: Zum einen vermutet Raphael, dass es gerade ein Kennzeichen der Moderne sei, dass sich keine einheitlichen gesamteuropäischen Entwicklungen im Sinne einer nationsübergreifenden kontinuierlich zunehmenden Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft feststellen ließen. Im Rückgriff auf Niklas ­Luhmanns Theorie der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften geht er mit Hans Ulrich Gumbrecht12 davon aus, dass das »Schlüsselproblem der 9 Nolte, Abschied, S. 130. 10 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014; ders., Die Ökonomie der Ungleichheit. Eine Einführung, München 2016. 11 Lutz Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ute Schneider / Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt am Main 2008, S. 73–91, im Folgenden zit. nach dem Wiederabdruck in Lutz Raphael, Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 133–154, hier S. 133. Vgl. zur Diskussion des Ansatzes von Ulrich Herbert auch die ausführliche Besprechung von Morten Reitmayer / Christian Marx, Geschichte Deutschlands in der Industriemoderne. Une critique raisonnée, in: Journal of Modern European History 14 (2016), S. 9–14. 12 Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131, hier S. 131.

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Eigendynamiken in den autonomen Handlungsfeldern bzw. Systemen wie Wirtschaft, Politik, Kunst, Bildung, Wissenschaft« nicht in der Anpassung an die Dynamiken der Basisprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft oder Technik bestehe, sondern in der Selektion aus einer Vielzahl konkurrierender Ordnungsentwürfe und politischer Handlungsoptionen.13 Es sei dieser »Möglichkeitsüberschuss« (Luhmann), der die Moderne präge. Deren Entwicklung sei »richtungs- und gestaltungsoffen«.14 Das impliziert, dass  – anders als bei Marx  – das Teilsystem der Wirtschaft nicht mehr als der allein strukturbildende Bereich einer Gesellschaft angesehen werden kann und dass es daher schwieriger wird, das Phänomen der sozialen Ungleichheit systematisch in größeren gesellschaftstheoretischen Theorieansätzen zu platzieren. Zum anderen gibt es für Raphael trotz der der von ihm konstatierten prinzipiellen Gestaltungsoffenheit der europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts einen Basisprozess, der alle europäischen Gesellschaften über alle politischen Regime hinweg ergriffen habe, die »Verwissenschaftlichung des Sozialen«.15 Sie habe sich unter anderem in der »Umstellung der Selbstbeobachtung aller europäischen Gesellschaften auf statistisch erhobene, sozialwissenschaftlichen Auswertungsverfahren zugängliche Indikatoren« niedergeschlagen. Die europäischen Gesellschaften verfügten dadurch inzwischen über ein »breites Fundament von Sozialdaten«, die es ermöglichen, sozialen Wandel, also auch die Entwicklung sozialer Ungleichheit in ihren jeweiligen regionalen und zeitlichen Kontexten zu erfassen.16 Raphael weist darauf hin, dass die Produktion dieser empirischen Daten eingelassen sei in die Geschichte von »Wissens- und Sozialordnungen«, von »Ideen, Metaphern und Diskursen«17 sowie von Gruppen (Experten), Institutionen und politischen Praktiken. Die Frage, wie soziale Ungleichheit sozialwissenschaftlich definiert, erfasst und bewertet wurde, ist für den Umgang der Geschichtswissenschaften mit diesen Daten ebenso grundlegend wie aufschlussreich. Auf dieser Metaebene lassen auch empirische und sozialtheoretische Analysen verbinden. Trotz ihres Konstruktionscharakters wird diesen Daten allerdings auch von Raphael ein gewisser ›Realitätsgehalt‹ nicht abgestritten und darauf vertraut, dass sich darüber – methodisch-hermeneutisch kontrolliert – wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandlungsprozesse als solche rekonstruieren lassen.18 13 Raphael, Ordnungsmuster, S. 147. 14 Ebd., S. 147. 15 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen – Wissens- und Sozialordnungen im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193, zit. nach Wiederabdruck in: ders., Ordnungsmuster und Deutungskämpfe, S. 13–50. 16 Raphael, Ordnungsmuster, S. 152. 17 So die Unter- und eine Zwischenüberschrift in Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 15. Vgl. dazu auch Martin Endreß, Zur Theorie der Deutung sozialer Ungleichheit, in: Oliver Berli / Martin Endreß (Hg.), Wissen und soziale Ungleichheit, Wiesbaden 2013, S. 23–53. 18 Wie dies aussehen kann, hat Lutz Raphael in eindrucksvoller Weise demonstriert. Vgl. ders., Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, besonders auch S. 92–142.

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Dieser Beitrag greift diese scheinbar unverbundenen Thesen Raphaels auf und bezieht sie aufeinander. Zwei Fragen sollen dabei im Hinblick auf die Bedeutung der Erfassung sozialer Ungleichheit im Kontext einer Gesellschaftsgeschichte der Moderne diskutiert werden. In einem ersten Schritt wird im Sinne von Raphaels Bezug auf Luhmann dem Status des Phänomens sozialer Ungleichheit in den gegenwärtigen sozialwissenschaft­lichen Theorien zur Analyse funktional differenzierter Gesellschaften der Moderne nachgegangen. Es ist eine selektive Bestandsaufnahme neuerer sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und ihrer Bedeutung für eine Gesellschaftsgeschichte der Moderne. In einem zweiten Abschnitt geht es um die Analyse der ›Konstruktion‹ von sozialer Ungleichheit in der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung und um die Diskurskoalitionen zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit anhand der Behandlung des Themas der sozialen Ungleichheit. Mit diesem doppelten Zugriff wird im Sinne einer reflexiven sozialwissenschaftlichen Forschung versucht, das Feld für eine systematischere Integration sozialer Ungleichheit in eine Gesellschaftsgeschichte der Moderne abzustecken.

2. Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit in den soziologischen Beschreibungen der Moderne Seit den 1980er Jahren war zumindest das medienwirksame Interesse der Soziologie an den Formen sozialer Ungleichheit gegenüber neuen Themen wie der Individualisierung der Lebensstile und der Herausbildung moderner konsumorientierter Milieus19 deutlich in den Hintergrund getreten. Bereits 1980 formulierte Ulrich Beck, dass »das Bild der Klassengesellschaft nur noch mangels einer besseren Alternative am Leben erhalten« werde – und wurde selbst zum eifrigsten Produzenten alternativer Entwürfe.20 In den letzten Jahren wird in der Soziologie jedoch wieder vermehrt über soziale Ungleichheit geforscht und sogar an prominenter Stelle die Frage nach einer möglichen »Wiederkehr«

19 Vgl. dazu v. a. die berühmten Milieu-Studien der SINUS Markt‐und Sozialforschung GmbH, Heidelberg / Berlin, die durchaus wissenschaftliche Standards gesetzt haben. 20 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt am Main 1986, S. 121. Zum Kontext auch ders., Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 35–74; vgl. auch Peter A. Berger / Stefan Hradil (Hg.), Lebenslagen – Lebensläufe – Lebensstile, Göttingen 1990; zur Debatte auch Peter A. Berger / Roland Hitzler (Hg.), Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert »jenseits von Stand und Klasse«, Wiesbaden 2010. Aus Perspektive der Ungleichheitsforschung auch Peter A.  Berger, Kontinuitäten und Brüche. Herausforderungen für die Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung im 21. Jahrhundert, in: Barbara Orth u. a. (Hg.), Soziologische Forschung: Stand und Perspektiven. Ein Handbuch, Wiesbaden 2003, S. 473–490.

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oder sogar »Wiedergeburt« der Klassengesellschaft diskutiert.21 Es geht also wieder um die Frage nach der Bedeutung der Positionierung sozialer Gruppen in den Produktionsverhältnissen für die Erfassung von Sozialstrukturen bzw. generell um die Prozesse vertikaler gesellschaftlicher Differenzierung. Selbstkritisch wird dabei von Soziologen gefragt, ob das angebliche Verschwinden der Klassen seit den 1950er Jahren nicht im Wesentlichen eine »Erfindung« der Soziologie gewesen sei, die »zu diesem trügerischen öffentlichen Bild einer egalitär-individualistischen Mittelschichtsgesellschaft ihren Teil beigetragen habe«. Das gelte »zeitdiagnostisch wie theoretisch«.22 Ein wesentlicher theoretischer Grund für diese selbstdiagnostizierte Blickverengung der Soziologie wird in der zunehmenden Attraktivität der von Luhmann ausgearbeiteten systemtheoretischen Variante der Theorie funktionaler Differenzierung für die Beschreibung der Moderne gesehen – also jenem von Raphael für die Gestaltungsoffenheit der Moderne herangezogenen Theoriekontext.23 Im Gegensatz zum Primat der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der daraus erwachsenen binären Klassenstruktur bei Marx und den an ihn anschließenden Theorietraditionen kennt die soziologische Systemtheorie Luhmanns keinen Primat irgendeines Teilsystems und auch keine davon ausgehenden klassen- oder schichtenbildenden Struktureffekte. Der individuelle Sozialstatus lasse sich in der Moderne nicht mehr »aus kollektiven Akteurslagen wie Klassen oder Schichten heraus ableiten«.24 Denn das einzelne Individuum ist aus systemtheoretischer Perspektive gleichzeitig und in unterschiedlichen Rollen in verschiedene Teilsysteme (Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft etc.) integriert. Der Zugang dazu werde nicht mehr über Kriterien sozialer Herkunft oder Schichtzugehörigkeit reguliert.25 Nicht kollektive Zugehörigkeiten, sondern individuelle Präferenzen steuern die Einnahme von Rollen in den funk-

21 Vgl. die Essener Tagung »Wiederkehr der Klassengesellschaft? Zum Verhältnis von Ungleichheitsforschung und Gesellschaftstheorie« der DGS -Sektionen Soziologische Theorie und Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse im Mai 2010 (zum Tagungsband unten Anm. 22); Thomas Meyer, Die Wiedergeburt der ›Klassengesellschaft‹, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 9 (2009), S. 43–45. 22 Hans-Peter Müller u. a., Editorial, in: Berliner Journal für Soziologie 21 (2011), H. 1: Wiederkehr der Klassengesellschaft?, S. 1–5, hier S. 1. 23 Ebd., S. 3. 24 Ebd., S. 2. 25 Politische Mitspracherechte z. B. können in modernen Demokratien daher nicht mehr aus dem Sachverhalt abgeleitet werden, werden, »dass man Mitglied eines bestimmten Standes ist und als Mitglied dieses Standes Anspruch auf eine Repräsentation im Politischen anmelden könnte«. Rudolf Stichweh, Politische Demokratie und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft. Zur Logik der Moderne (FIW Working Paper, Nr. 3), Bonn 2010, S. 16. Sehr interessant darin auch die theoretische Beschäftigung mit dem Auftauchen autoritärer Regime in der Moderne.

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tionalen Teilsystemen und befördern und erklären dadurch zugleich den Prozess zunehmender Individualisierung und Subjektivierung.26 Die Theorie der funktionalen Differenzierung stellt, so der Soziologe T ­ homas Schwinn, eine wirkliche »Herausforderung für die soziale Ungleichheitsforschung dar, weil sie ein umfassenderes Verständnis der Moderne anbietet  – gegenüber der Ökonomielastigkeit der Ungleichheitstradition.«27 Die Tatsache, dass sie nicht nur eine Strukturbeschreibung moderner Gesellschaften ist, sondern sich zugleich als eine historische Entwicklungstheorie28 versteht und dabei auch noch ohne den »Ballast« teleologischer Modernisierungsnarrative auszukommen scheint, macht sie eben auch für die Begründung einer »richtungs- und gestaltungsoffenen« historischen Beschreibung der Moderne attraktiv.29 Wenn ein weitgehender theoretischer Konsens darüber besteht, dass die Moderne durch eine Eigendynamik der funktional differenzierten Subsysteme gekennzeichnet ist, was ist dann der Ort, an dem soziale Ungleichheit produziert und reproduziert wird und welcher theoretische Status kommt ihr zu? In den letzten zwei Jahrzehnten ist darüber in der Soziologie eine komplexe Auseinandersetzung entstanden. Die Rede war vielfach von den »zwei Soziologien« – der Ungleichheitssoziologie und der Soziologie der funktionalen Differenzierung – die unverbunden nebeneinander gestanden hätten.30 Die Soziologie der sozialen 26 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 625: »Individuen müssen sich an all diesen Kommunikationen [der verschiedenen Funktionssysteme, A. G.] beteiligen können und wechseln entsprechend ihre Kopplungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment. Die Gesellschaft bietet ihnen folglich keinen sozialen Status mehr, der zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und Qualität ›ist‹.« Ders., Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 149–258, hier S. 252. Vgl. zum Gesamtzusammenhang auch Ulrich Bröckling, Regime des Selbst – Ein Forschungsprogramm, in: Thorsten Bonacker / A ndreas Reckwitz (Hg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt am Main 2007, S. 119–139. 27 Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit, Bielefeld 2007, S. 7. 28 Erwachsen aus den biologischen Evolutions- und Systemtheorien des 19. Jahrhunderts gingen soziologische Systemtheorien zunächst mit Herbert Spencer davon aus, dass Gesellschaften – wie Organismen – mit zunehmender Größe komplexer und in sich differenzierter werden und dass diese zunehmende Differenzierung primär eine Differenzierung nach (gesellschaftlichen) Funktionsbereichen ist. Mit Luhmanns kommunikationstheoretischer Zuspitzung autopoietischer Differenzierungsprozesse gehört gerade die Erklärung des historischen Wandels zum kompliziertesten und auch historisch nicht immer leicht zu verifizierenden Teil der Systemtheorie. Zur Theoriegeschichte sozialer Differenzierung noch immer instruktiv: Hartmann Tyrell, Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie 7/2, April 1978, S. ­175–193; ders., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie, Wiesbaden 2008; Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Wiesbaden 32007. 29 Raphael, Ordnungsmuster, S. 147. 30 Vgl. z. B. Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung. Wiederaufnahme einer Diskussion, in: Zeitschrift für Soziologie 27/1, Februar 1998, S. 3–17, hier S. 3: »Die Differenzierung von Menschen nach Kriterien sozialer Ungleichheit und

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Ungleichheit konnte jedoch, zumindest in Deutschland, nicht mit ähnlich elaborierten theoretischen Systemen kontern wie es Luhmanns Theorie moderner Gesellschaften darstellt. Inzwischen gibt es allerdings zahlreiche Versuche einer Verknüpfung dieser beiden Theoriestränge.31 Die Debatte ist für Histori­ kerInnen sowohl in ihrer Rolle als Beobachter der Produktion soziologischer Gesellschaftsbeschreibungen, als auch wegen ihres meist eklektischen Konsums des soziologischen Begriffs- und Theoriearsenals interessant. Es kann hier nicht darum gehen, diese inzwischen sehr umfangreichen soziologischen Auseinandersetzungen in ihrer ganzen Breite und theoretischen Verästelung nachzuzeichnen. Drei Aspekte scheinen besonders erwähnenswert: 1. Luhmanns oft provozierende Nonchalance gegenüber Fragen der sozialen Ungleichheit erschien vielen SoziologInnen auch theoretisch unbefriedigend, da es soziale Ungleichheit weiterhin gab, sie in globalem Maßstab sogar erneut dramatisch zunahm und soziale Lagen vielfach über Generationen vererbt wurden. Luhmann und seine Schüler haben auf diese Kritik verschiedentlich reagiert und versucht, das Problem extremer sozialer Ungleichheit mit den Mitteln der Systemtheorie zu adressieren. Zum einen wurde hervorgehoben, dass der Primat funktionaler Differenzierung nicht bedeute, dass es innerhalb der Systeme nicht zur Herausbildung sozialer Differenz und Statusformationen bzw. auch zu Exklusionen käme. Diese liegen jedoch – in der Sprache von Luhmanns Systemtheorie – auf der Ebene der Organisationen und Interaktionen in den jeweiligen Teilsystemen.32 Es wurde des Weiteren betont, dass sich dadurch nicht nur innerhalb von funktionalen Teilsystemen Hierarchien und »Cluster« in der Verteilung von Ressourcen herausbilden. Vielmehr könne es auch zu einer kumulativen Verkettung funktionsspezifischer Ressourcen (z. B. Geld, Bildung, Macht) über die einzelnen Teilsysteme hinweg kommen, so dass sich dadurch funktionsübergreifende Soziallagen herausbilden. Diese von Luhmann auch als Klassen bezeichneten Soziallagen seien aber ein deutlich »weniger zupackendes Ordnungsprinzip als die Strata stratifizierter Gesellschaften«.33 Durch eine extreme Verkettung in der Ungleichverteilung von Ressourcen könne es schließlich zu einer Verkoppelung von Exklusionen aus mehreren Funktionssystemen oder sogar »zu einer mehr oder weniger effektiven Gesamtexklusion aus der die funktionale Differenzierung von Ordnungen sind die beiden wichtigsten theoretischen Konzepte, die die Soziologie für eine möglichst umfassende Analyse moderner Gesellschaften anzubieten hat. Beide Theorien laufen jedoch relativ beziehungslos nebeneinanderher.« 31 Vgl. z. B. den Sammelband Thomas Schwinn (Hg.), Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung, Frankfurt am Main 2004. 32 Zum Status von Organisationen und Interaktionen vgl. z. B. Cornelia Bohn, Ungleichheit, Devianz und Differenzierung: Paradigmen der Inklusions- und Exklusionsforschung, in: Oliver Marchat (Hg.), Facetten der Prekarisierungsgesellschaft: Prekäre Verhältnisse, Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben, Bielefeld 2013, S. 71–90, hier S. 80. 33 Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klassen, in: ders. (Hg.), Soziale Differenzierung, Opladen 1985, S. 119–162, hier S. 131.

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Teilnahme an allen Funktionssystemen«34 kommen: »Große Teile der Welt­ bevölkerung finden sich aus allen Funktionssystemen so gut wie ausgeschlossen: keine Arbeit, kein Geld, kein Ausweis, keine Berechtigungen, keine Ausbildung, oft nicht die geringste Schulbildung, keine ausreichende medizinische Ver­ sorgung und mit all dem wieder: keinen Zugang zur Arbeit, keinen Zugang zur Wirtschaft, keine Aussicht, gegen die Polizei oder vor Gericht Recht zu bekommen.«35 Trotz dieser prinzipiellen Berücksichtigung auch sozialer Extremlagen und totaler Exklusionen wird sozialer Ungleichheit von Luhmann aber weiterhin keine eigenständige strukturbildende Kraft oder Funktion auf der Ebene der Ausdifferenzierung der Funktionssysteme zugesprochen.36 2. Der Soziologe Thomas Schwinn sieht daher weiterhin theoretische Pro­ bleme bei dem Versuch, »vertikale Differenzierung aus einem horizontalen, d. h. funktional-arbeitsteiligen Differenzierungsprinzip ableiten zu wollen.«37 Er entwickelt stattdessen ein an Max Weber angelehntes Modell von drei ineinander konvertierbaren Machtquellen: »ökonomische Ressourcen, politische Macht und symbolische Deutungskompetenz«, die »ihre Wirkung quer zu den differenzierten Institutionen« entfalten. Dahinter liegt die Annahme eines wechselseitigen Verhältnisses zwischen funktionaler Differenzierung und moderner sozialer Ungleichheit. Die modernen Funktionssysteme bringen neue Formen der Ungleichheit hervor. Die Theorie der funktionalen Differenzierung hilft gewissermaßen, diese zu ordnen, und sie »bietet eine genauere Erfassung der unterschiedlichen Kontexte und Lebensbereiche, deren institutionelle Leitkriterien darüber bestimmen, welcher Aspekt von sozialer Ungleichheit hier zählt«.38 Daneben bilden sich allerdings, so Schwinn, dennoch durchgehende Ungleichheitsstrukturen, die ihre »eigenständige Strukturierungskraft« keineswegs verloren hätten und deren »Eigendynamik […] nicht mehr aus den Bedingungen der institutionellen Kontexte« ableitbar seien.39 Damit ergibt sich in gewisser Weise 34 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 303. Zum neueren Stand der Forschungen zu Inklusion und Exklusion aus systemtheoretischer Perspektive vgl. v. a. Rudolf Stichweh / Paul Windolf (Hg.), Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Wiesbaden 2009; Rudolf Stichweh, Erzeugung und Neutralisierung von Ungleichheit durch Funktionssysteme, in: ders., Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, S. 163–177. 35 Luhmann, Religion, S. 242. Vgl. dazu auch mit interessanten Überlegungen zu Luhmanns zunehmender Akzeptanz der Dimension des Raums für Exklusionsprozesse Markus Schroer, Jenseits funktionaler Differenzierung? Räumliche Ungleichheiten in der Weltgesellschaft, in: Karl-Siegfried Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, Frankfurt am Main 2006, S. 862–876, hier besonders S. 868–871. 36 Eine interessante Weiterentwicklung des Inklusions / E xklusions-Mechanismus, die aber – trotz des Titels – nicht primär auf das Phänomen relativer sozialer Ungleichheit zielt, findet sich bei Bohn, Ungleichheit, v. a. S. 80–85. 37 Schwinn, Ungleichheit, S. 33. Zu seiner Kritik an dem Erklärungspotential der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion vgl. ebd., S. 47. 38 Ebd., S. 132. 39 Ebd., S. 133.

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wieder ein Primat der vertikalen Differenzierung. Welche Formen diese jedoch annimmt und welche Strukturen dadurch genau ausgebildet werden, wird auch bei Schwinn nicht wirklich ausformuliert. 3. Es ist interessant, dass die Dichotomie der »zwei Soziologien« zumindest in Deutschland dazu geführt hat, dass das Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu lange primär als ein Beitrag zur Ungleichheitsforschung gelesen und seine Anschlussfähigkeit an bzw. sein Beitrag zur Erforschung funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung unterbelichtet blieb.40 Inzwischen wird Bourdieus Theorie sozialer Felder auch als wichtiger Beitrag zur Theorie funktionaler Differenzierung rezipiert. Denn bei den sozialen Feldern handelt es sich zunächst auch um nach ihrem Gegenstands- und Funktionsbereich abgrenzbare, sachlich autonome Teilsysteme der Gesellschaft.41 Wie bei Luhmann so bilden auch bei Bourdieu Wirtschaft, Politik, Recht, Religion, Kunst eigenständige soziale Felder. Aber im Gegensatz zu Luhmann verknüpft Bourdieu diese sozialen Felder systematisch mit der Dimension sozialer Ungleichheit. Sie sind Austragungsorte von Machtkämpfen zwischen Individuen und Gruppen. »Jedes dieser Felder hat seine Herrschenden und Beherrschten, seine Kämpfe um Erhalt oder Umsturz, seine Reproduktionsmechanismen usw.«42 Die Chancen der Akteure im sozialen Feld werden wesentlich durch ihre Positionierung im Gesamtgefüge des sozialen Raums und ihre Verfügungsmöglichkeiten über Ressourcen (die bekannten Bourdieuschen Kapitalsorten) bestimmt. Anders als die Teilsysteme Luhmanns werden Bourdieus soziale Felder nicht über die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen auf der Sachebene definiert, sondern über soziale Praktiken, Kapitalverteilung und Strategien der Macht.43 40 Früh wurde dies vor allem von Cornelia Bohn und Alois Hahn gesehen. Zur Entwicklung der Debatte zwischen Systemtheorie und Bourdieuscher Soziologie vgl. mit Einzelnachweisen v. a. Daniel Witte, Zur Verknüpfung von sachlicher Differenzierung und sozialer Ungleichheit Perspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieus Theorie der Felder, in: Martina Löw (Hg.), Vielfalt und Zusammenhalt. Verhandlungen des 36. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bochum und Dortmund 2012, Frankfurt am Main 2014 (CD -Rom), S. 1–17, hier S. 1 f. 41 Vgl. z. B. Pierre Bourdieu, Das politische Feld: Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001; ders., Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000; ders., Das ökonomische Feld, in: ders. Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg 1998, S. 162–204. 42 Pierre Bourdieu, Die Logik der Felder, in: ders. / Loic Wacquant (Hg.), Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996, S. 137. 43 Dem Versuch André Kieserlings, für Bourdieu ebenfalls einen Primat funktionaler Differenzierung zu postulieren und von einer feldinternen ›Neutralisierung‹ der Klassengegensätze zu sprechen und deren Wirksamkeit lediglich auf der Ebene des Privatlebens und der Sphäre der Lebensstile anzusiedeln, widerspricht m. E. zu Recht Martin Petzke. Vgl. dazu die Kontroverse André Kieserling, Felder und Klassen: Pierre Bourdieus Theorie der modernen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), S. 3–24; Martin Petzke, Hat Bourdieu wirklich so wenig ›Klasse‹? Replik auf André Kieserlings Aufsatz »Felder und Klassen: Pierre Bourdieus Theorie der modernen Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S. 514–520.

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Es ist hier gewiss nicht der Ort, um die Details der Theorie Bourdieus weiter auszubuchstabieren. Es soll nur auf das Faktum hingewiesen werden, dass ­Bourdieu mit sozialem Feld und Sozialraum Konzepte entworfen hat, die geeignet sind, »sachliche und soziale Differenzierung in einem einzelnen konsistenten Bezugsrahmen« zusammenführen.44 Was Bourdieu allerdings nicht eindeutig beantwortet, ist, ob es neben dieser den sozialen Feldern inhärenten Auswirkungen sozialer Ungleichheit gleichzeitig noch ein besonderes Übergewicht des ökonomischen Feldes gibt. Bourdieu betont verschiedentlich, dass es »kein transhistorisches Gesetz des Verhältnisses zwischen den Feldern« gebe, meint aber auch, dass es schwierig sei, »nicht davon auszugehen, dass in den Indus­ triegesellschaften die Effekte des ökonomischen Feldes besonders stark« seien. Auch wenn es keine »(allgemeine) ›letztinstanzliche‹ Determinierung durch die Ökonomie«45 gibt, so geht Bourdieu, im Gegensatz zu Luhmann, doch davon aus, dass das ökonomische Feld die stärksten Effekte auf die anderen Felder und damit auf die Gesamtgesellschaft ausübe.46 Bourdieus Feldtheorie sei, so fassen Volkmann und Schimank ihre theoretische Systematisierung verschiedener Theoriebausteine Bourdieus zusammen, »von ihrer Grundanlage her eine differenzierungstheoretische Betrachtung der kapitalistischen Gesellschaft«. Alle Felder seien letztlich »in gewichtigen Teilen [ihrer] Produktion von der ›Logik des Kommerziellen‹« geprägt.47 Wenn man Bourdieus Theorie sozialer Felder also etwas in die Richtung der Luhmannschen funktionalen Teilsysteme ›streckt‹,48 wie es verschiedene theoretisch arbeitende SoziologInnen derzeit versuchen, dann kommt man zu einer außerordentlich interessanten Verbindung eines differenzierungstheoretisch 44 Witte, Verknüpfung, S. 13. Vgl. allgemeiner auch ders., Auf den Spuren der Klassiker. Pierre Bourdieus Feldtheorie und die Gründerväter der Soziologie, Konstanz 2014. 45 Pierre Bourdieu / Loïc Wacquant, An Invitation to Reflexive Sociology, Chicago 1992, S. 141, zit., nach Ute Volkmann / Uwe Schimank, Kapitalistische Gesellschaft. Denkfiguren bei Pierre Bourdieu, in: Michael Florian / Frank Hillebrandt (Hg.), Pierre Bourdieu. Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft, Wiesbaden 2006, S. 121–242, hier S. 121. 46 Vgl. Volkmann / Schimank, Gesellschaft, S. 229 f. mit ausführlichen Nachweisen. 47 Ebd., S. 231. Vgl. aus dieser Perspektive zu Bourdieus Engagement gegen Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus zusammenfassend: Uwe Schimank, Die »neoliberale Heimsuchung« des Wohlfahrtsstaats. Pierre Bourdieus Analyse gesellschaftlicher Exklusionstendenzen, in: ders. / Ute Volkmann (Hg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2000, S. 183–198. 48 Dies ist besonders bei den hier nicht weiter thematisierten Problemen der »Schließung« von Feldern notwendig, die im Gegensatz zu Luhmanns funktionalen Teilsystemen keine prinzipielle und universelle Inklusion kennen. Vgl. dazu den systematischen Überblick von Daniel Witte, Schließungsverhältnisse und Differenzierungskulturen. Überlegungen zur relationalen Formatierung von sozialem Ausschluss, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016 [online http://publikationen.soziologie.de//index. php/kongressband_2016].

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inspirierten Verständnis moderner Gesellschaften als Ungleichheitsgesellschaften. Darin muss dann der von Raphael mit Luhmann als Charakteristikum der Moderne angeführte »Möglichkeitsüberschuss« rivalisierender Ordnungsentwürfe, die in den funktionalen Teilsystemen »produziert« werden, zusammengedacht werden mit »dem Raum der Möglichkeiten«, den die jeweiligen sozialen Felder darstellen. Die Produktion von wissenschaftlichem Wissen über soziale Ungleichheit, zum Beispiel, ist dann auch abhängig vom »historischen Zustand« des sozialen Feldes Wissenschaft und den Zwängen, die für »jeden Produzenten [wissenschaftlicher ›Stellungnahmen‹] mit der jeweiligen Position im Feld verbunden sind«.49

3. Die Verwissenschaftlichung des Sozialen und sozialpolitische Diskurskoalition über soziale Ungleichheit Es gibt wohl keinen anderen Bereich im sozialen Feld der Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, in dem die Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Politik im Rahmen von durch Ministerien oder Parteien finanzierten Projektforschungen (die vielfach allerdings durch die wissenschaftlichen Experten selbst angestoßen wurden50) so eng sind wie im Bereich der Sozialpolitik und Sozialstaatsforschung.51 Dies trug wesentlich zu der von Raphael konstatierten »institutionellen Dichte der Arbeitsfelder dieser Experten des Sozialen« bei.52 Früh bildete sich hier zudem eine enge (Diskurs-)Koalition zwischen akademischer soziologischer Forschung und wohlfahrtsstaatlicher Sozialpolitik heraus. Im Gegensatz zur Kritik mancher Ökonomen des 19. und 20. Jahrhunderts an staatlicher Wohlfahrtspolitik hat deren Verteidigung durch die Soziologie im Prinzip bis heute Bestand. Die Analyse der sozialen Stratifikation der Gesell-

49 Zitate von Pierre Bourdieu in: Ders. / Lutz Raphael, Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 62–89, hier S. 85. 50 Man kann diese Verbindung der Sozialwissenschaften »mit den Verwaltern der Sozialen Welt« durchaus im Kontext der ›Theorieeffekte‹ sehen, mit denen »Bourdieu jene sozialen Sachverhalte und Handlungsfelder, die durch die Problemdefinitionen sozialwissenschaftlicher Beobachter entstanden oder geformt worden sind.« Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 192. 51 Vgl. in vergleichender Perspektive vor allem Madeleine Herren, Internationale Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Die Anfänge europäischer Kooperation aus der Sicht Frankreichs, Berlin 1993; Peter Wagner, Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870–1980, Frankfurt am Main 1990; Lutz Raphael, Zwischen Sozialaufklärung und radikalem Ordnungsdenken. Die Verwissenschaftlichung des Sozialen im Europa der ideologischen Extreme, in: Gangolf Hübinger / A nne Mittelhammer (Hg.), Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890–1970), München 2014, S. 29–50. 52 Raphael, Ordnungsmuster, S. 148.

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schaft und die präzise Erfassung der Dimensionen sozialer Ungleichheit stellt dabei eine wichtige Grundlage der Problembestimmung und der wohlfahrtsstaatlichen Intervention dar. Bereits die Soziologie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte sich intensiv mit der Frage befasst, wie die Kategorien von Klasse und Schicht in einer Weise neu gefasst werden könnten, damit sie der wirtschaftlichen und sozialen Dynamik der Hochindustrialisierung besser Rechnung tragen als die binäre Klassenkonstellation von Bourgeoisie und Proletariat bei Marx.53 Max Weber und Theodor Geiger sind die bekanntesten Autoren in diesem breiten Feld früher sozialwissenschaftlicher Ungleichheits- und Stratifikationsana­ lyse.54 Vor allem Max Weber systematisierte die soziale Stratifizierung moderner Gesellschaften in einem breiteren Tableau von durch ähnliche Klassenlagen bestimmten sozialen Klassen. Die wichtigsten sind dabei in der modernen Gesellschaft die »marktbedingten Erwerbs- und Besitzklassen«. Weber ergänzte allerdings diese letztlich an der wirtschaftlichen Lage und dem Kriterium von »Besitz oder Nicht-Besitz von Sachgütern« ausgerichtete Einteilung der sozialen Klassen noch durch die Dimension der »ständische Lage« von Personen und Gruppen. Damit bezeichnet er die mit der jeweiligen ökonomischen Position verbundenen kulturellen und politischen Privilegien bzw. Nachteile.55 Während Bourdieus Theorie der Kapitalsorten im sozialen Feld stark an Webers »ständische Lagen« anknüpfte und deren sozialkritisches Potential entfaltete, wurde diese Dimensionen in der frühen Ungleichheitsforschung der Bundesrepublik kaum aufgegriffen. Zudem wurde die Analyse traditioneller und neuer Besitzklassen stark zu Gunsten der Konzentration auf die marktbedingten Erwerbsklassen und deren Arbeitseinkommen vernachlässigt.56 Theoreme wie Schelskys ›nivellierte Mittelstandsgesellschaft‹, »die ebensowenig proletarisch

53 Vgl. zu sozialer Ungleichheit als Thema der Soziologie z. B. Heike Solga u. a. (Hg.), Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse, Frankfurt am Main 2009; Katharina Neef, Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform. Eine Fachgeschichte, Frankfurt am Main 2012; Hans-Peter Müller / Michael Schmid (Hg.), Hauptwerke der Ungleichheitsforschung, Wiesbaden 2003. 54 Es ist allerdings interessant, dass Theodor Geiger in den 1930er Jahren zunächst noch mit einem zwei Phasen-Modell der Entwicklung von Industriegesellschaften arbeitete. Danach folgte einer anfänglichen Tendenz zur binären Klassenpolarisierung erst im 20. Jahrhundert ein Prozess der Differenzierung innerhalb der Klassen mit einer zunehmenden Nivellierung der ökonomischen Lagen in der Gesamtgesellschaft. Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932; ders., Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949. Zu Geigers Schichtungssoziologie u. a. Rainer Geißler, Die Schichtungssoziologie von Theodor Geiger. Zur Aktualität eines fast vergessenen Klassikers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 387–410. 55 Vgl zu den Begriffen und theoretischen Konzepten von Max Webers Analysen sozialer Stratifikation die konzise Zusammenfassung bei Wehler, Ungleichheit, S. 27–35. 56 Vgl. dazu auch Wehler, Ungleichheit, S. 72–82.

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wie bürgerlich […], d. h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet« sei, begründeten dies auch inhaltlich.57 Andere Untersuchungen und theoretischen Entwürfe waren komplexer und kritischer gegenüber einem allzu sozialharmonischen Bild der deutschen Nachkriegsgesellschaft und auch anschlussfähiger an internationale Debatten über soziale Stratifikation und soziale Ungleichheit in modernen Industriegesellschaften, aber im Großen und Ganzen dominierte doch das »Streben zur Mitte«58 und das Zurücktreten der Differenzierung nach Klassen oder sozialen Schichten als primärem Strukturmerkmal moderner Industriegesellschaften.59 Auch wenn Schelsky von zahlreichen zeitgenössischen SoziologInnen Kritik erntete, so war dennoch die öffentliche Wirkung des Schlagworts von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« enorm. Ebenso entfalteten die Visualisierungen dieses Theorems in Hans Martin Boltes berühmter sozialer »Schichtungszwiebel« – »oben spitz, unten mit einem Rand, ansonsten nur dicke, breite Mitte«60 – oder auch in Ralf Dahrendorfs – bezüglich der Dominanz der Mittelschichten gar nicht so anderem – »Schichtungshäuschen«61 eine nachhaltige Wirkung. Sie fanden sich rasch in Medien, Schul- und akademischen Lehr-

57 Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart 1955, S. 218. Zu Schelsky und der Entstehung des Konzepts der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« vgl. noch immer prägnant Hans Braun, Helmut Schelskys Konzept der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und die Bundesrepublik der 50er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 199–223. 58 Vgl. dazu das Kapitel »Das Streben zur Mitte. Mittlere Schichten und soziale Nivellierung im ›Gesellschaftsbild‹« von Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung, München 2000, S. 318–350. Zu den Konzeptionen der gesellschaftlichen Mitte auch Daniel Gardemin, Soziale Milieus der gesellschaftlichen »Mitte«. Eine typologisch-sozialhistorische und multivariat-sozialstatistische Makroanalyse des Leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus und des Kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus. Hannover: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität, Diss., 2006 (online: https://doi.org/10.15488/6691, aufgerufen am 06.04.2020). 59 Selbst Ralf Dahrendorf, der in den 1950er Jahren – wie Marx, aber anders begründet – sozialen Wandel noch mit einem konflikttheoretischen Ansatz verband, sah sich zunehmend mit der Einsicht konfrontiert, dass dies zumindest für Deutschland mangels entsprechender Konfliktlagen ein Problem sei. Ralf Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957. Vgl. zu Dahrendorfs Konflikttheorie u. a. Peter Weingart, Beyond Parsons? A Critique of Ralf Dahrendorf ’s Conflict Theory, in: Social Forces 48/2 (1969), S. 151–165; Jörn Lamla, Konflikttheorie als Gesellschaftstheorie, in: Thorsten Bonacker (Hg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung, Opladen 2002, S. 207–229. 60 Müller u. a., Wiederkehr, S. 2. 61 Das »Dahrendorf Häuschen« ist schon in seiner Form ein deutsches Mittelschichtshaus. In der Realität wird aber z. B. Dahrendorfs Konstanzer Haushälterin eher unter dem Dach und die Familie in der ›belle etage‹ gewohnt haben. Vgl. die schönen und sprechenden Fotographien in Franziska Meifort, Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München 2016.

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büchern wieder.62 Insgesamt verwies dies auf die allgemeinere Tendenz eines veränderten Interesses der Schichtungssoziologie, der es eher um die differenziertere Beschreibung einer breiten und in ihrer Komposition veränderten Mittelschicht ging als um die detaillierte Analyse der Wirtschafts- und Machteliten am oberen Ende der Skala oder der Probleme der einkommensschwächsten und marginalisierten Schichten an ihrem unteren Ende. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Aufgrund der im westdeutschen Nachkriegsboom kontinuierlich steigenden Löhne sowie der bis Ende der 1970er Jahre ebenfalls ansteigenden (unbereinigten) Lohnquote, also des Anteils der Arbeitseinkommen aus unselbständiger Arbeit am gesamten Volkseinkommen, schien die Verteilungsgerechtigkeit in der Bundesrepublik kontinuierlich zugenommen zu haben. Beide Weltkriege hatten zudem auch zur Vernichtung vieler Vermögenswerte und besonders von Geldvermögen geführt. Politisch lag das Schwergewicht in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg in Deutschland daher auf der Förderung der Vermögensbildung der Unter- und Mittelschichten z. B. durch Sparanreize oder Steuerentlastung beim Immobilienerwerb. Dennoch hatte bereits in den 1950er Jahren eine massive Vermögenskonzentration in den Händen der Oberschicht eingesetzt. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre verfügten »1,7 Prozent aller westdeutschen Haushalte über 74 Prozent des Produktivvermögens und 35 Prozent des Gesamtvermögens.«63 Die heute sehr viel stärker beachtete extreme Ungleichheit in der Vermögensverteilung wurde damals aber nur sehr zurückhaltend erforscht und in der Politik primär im Kontext von Anreizen zur Vermögensbildung und kaum im Kontext einer aktiven Umverteilungspolitik diskutiert.64 Insgesamt wird die relativ geringe Beachtung, die dem Thema der sozialen Ungleichheit im wissenschaftlichen und sozialpolitischen Diskurs in Deutschland nach dem Krieg geschenkt wurde, auch deutlich, wenn man in die Verbundkataloge schaut. Bis in die 1960er Jahre taucht die Wortverbindung »soziale Ungleichheit« in Titeln deutschsprachiger monographischer Darstellungen nicht auf. Das frühe Standardwerk zum Thema von Bolte, Neidhardt u. a. erschien in den 1960er Jahren zunächst unter dem Titel »Soziale Schichtung« und 62 Die Geschichte der Visualisierung soziologischer Theorien als wesentlichem Link auch zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft findet in den letzten Jahren endlich das ihr gebührende wissenschaftliche Interesse. Vgl. z. B. Gerald Beck, Sichtbare Soziologie. Visualisierung und soziologische Wissenschaftskommunikation in der Zweiten Moderne, Bielefeld 2013; Felix Keller, Die Darstellbarkeit von Ordnung. Soziologischer Ikonoklasmus im 20. Jahrhundert, in: Christiane Reinecke / Thomas Mergel (Hg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 53–89. 63 Vgl. dazu mit zahlreichen Nachweisen: Wehler, Ungleichheit, S. 72–82, hier S. 73. 64 Vgl. zu den zeitgenössischen Diskussionen z. B. Gert Laßmann / Eberhard Schwark (Hg.), Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen. Grachter Symposion vom 8. und 9. März 1984, Berlin 1985; Hans-Günter Guski / Hans J. Schneider, Betriebliche Vermögensbeteiligung in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1977.

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erst ab der 3. Auflage von 1974 unter dem Titel »Soziale Ungleichheit«.65 Dieser Titelwechsel ist bezeichnend für die neue Aufmerksamkeit, die dem Thema ab den 1970er Jahren entgegengebracht wurde.66 Eine Abfrage mit google ngram viewer zum deutschsprachigen Schrifttum kommt praktisch zu einem identischen Ergebnis für »soziale Ungleichheit«, während die Begriffe Mittelstand und Mittelschicht deutlich andere Konjunkturzyklen hatten. Grafik 1: Soziale Ungleichheit, Unterschicht, Mittelschicht und Mittelstand im deutschsprachigen Schrifttum zwischen 1800 und 200867

Quelle: Google ngram viewer (https://books.google.com/ngrams). Relatives Vorkommen der Begriffe »Mittelstand«, »Mittelschicht«, »Unterschicht« und »soziale Ungleichheit« in von ­Google Books erfassten deutschsprachigen Veröffentlichungen der Jahre 1800 bis 2008 mit einem Glättungsgrad (smoothing) von 1. 65 Karl Martin Bolte u. a., Soziale Schichtung, Opladen 1966; dies., Soziale Ungleichheit, Opladen 1974. 66 Das war im angelsächsischen und auch im französischen Sprachraum anders. »Social inequality« stand zumindest bereits in den 1960er Jahren klarer im Blickfeld der Sozialwissenschaften. In England war ohnehin die öffentliche und sozialwissenschaftliche Selbstbeschreibung der Gesellschaft als Klassengesellschaft sehr viel stärker erhalten geblieben als in Deutschland. Vgl. für weitere zeitgenössische Literatur zu sozialer Ungleichheit: Walter Garry Runciman, Relative Deprivation and Social Justice. A Study of Attitudes to Social Inequality in Twentieth-Century Britain, London 1966. Zur Klassensprache in Großbritannien und Frankreich auch Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 102–106 sowie für Großbritannien nun auch speziell Morten Reitmayer, Die Elitensemantiken einer Klassengesellschaft. Großbritannien im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 45 (2019), S. 191–221, hier v. a. S. 197–203. 67 Auf die Darstellung des Begriffs Oberschicht wurde verzichtet. Er zeigte ein deutlich früheres Ansteigen als die Parallelbegriffe. Dies basierte aber primär auf historischen Veröffentlichungen zur römischen Oberschicht, dem fränkischen Adel usw. Bei den anderen Begriffen sind die Verzerrungen nicht so groß. Dennoch können derartige Grafiken nur mit höchster Vorsicht und allenfalls als gewisse ›Trendmarker‹ benützt werden.

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Die Distanz zum Thema der sozialen Ungleichheit ging einher mit einer Konzentration von Politik und wissenschaftlicher Politikberatung auf den Mittelstand.68 Durchsucht man die Debatten des deutschen Bundestages nach Begriffen wie »soziale Ungleichheit« so kommt man nochmals zu einem sehr ähnlichen Ergebnis. Von 1949 bis 1972 taucht der Begriff in Bundestagsdebatten genau drei Mal auf, z. T. im Kontext der Mitbestimmungsdebatten. Danach finden sich jedes Jahr ständig mehr Belegstellen. Inzwischen verweisen in jeder Legislaturperiode über 150 Referenzen auf dieses Problem. Der Stellenwert in Politik und Wissenschaft hat sich mithin deutlich verändert. Das spiegelt sich auch in den Konjunkturen des Themas in der sozialwissenschaftlichen Politikberatung und politiknahen Forschung wider.69 Mit dem Ende der Boomjahre und dem Aufkommen der als »Krise der Arbeitsgesellschaft« wahrgenommenen Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit rückten nicht nur der Sozialstaat, sondern auch dessen Ambivalenz verstärkt ins Zentrum der Forschung zur sozialen Ungleichheit. Der Sozialstaat baute soziale Ungleichheit nicht nur ab oder begrenzte sie, sondern, wie das Hans Günter ­Hockerts und Lutz Leisering und auch schon Niklas Luhmann pointiert hervorgehoben haben, er produzierte, konservierte und legitimierte sie zugleich.70 Trotz dieser Einsicht gab es eine gewisse Verfestigung der Ungleichheitsforschung, die bis Ende der 1980er Jahre primär durch die Perspektiven der Boomjahre, d. h. der Einkommensverteilung und der Einhegung sozialer Ungleichheit durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates geprägt war. Die volkswirtschaftlichen, sozialen und politischen Dynamiken der Vermögensformen und Vermögensstrategien der Spitzengruppe wurden dagegen nicht systematisch ins Visier genommen. Damit wurde jedoch lange ein internationaler Prozess der zunehmenden »ständischen Verfestigung« sozialer Ungleichheit ausgeblendet, der »allen modernen Versprechen von sozialem Ausgleich und sozialer Mobilität widerspricht«.71 68 Vgl. dazu Abdolreza Scheybani, Handwerk und Kleinhandel in der Bundesrepublik Deutschland. Sozial-ökonomischer Wandel und Mittelstandspolitik 1949–1961, München 1996. 69 Vgl. z. B. Ariane Leendertz, Die pragmatische Wende. Die Max-Planck-Gesellschaft und die Sozialwissenschaften 1975–1985, Göttingen 2010; Martin Geyer, Der »vermessene Sozialstaat«, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 6: 1974–1982, Baden-Baden 2008, S. 182–231. 70 Lutz Leisering, Wirklich die beste aller Welten? Die soziologische Kritik am Wohlfahrtsstaat, in: Karl Ulrich Mayer (Hg.), Die beste aller Welten? Marktliberalismus und Wohlfahrtsstaat als Konstruktionen sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2001, S. 113–133; Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 423 f.; Hans Günter Hockerts / Winfried Süß (Hg.), Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, München 2010. 71 Sighart Neckel, Die Refeudalisierung des modernen Kapitalismus, in: Heinz Bude / ​­Philipp Staab (Hg.), Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen, Frankfurt am Main 2016, S. 157–174, hier S. 157 (mit Bezug auf Thomas Piketty).

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Diese ständische Verfestigung sozialer Ungleichheit am oberen wie am unteren Ende der sozialen Schichthierarchie hat sich lange angekündigt. Aufgrund der Beschleunigung des Prozesses seit den 1980er Jahren ist die rasche Verschärfung von Ungleichheitsstrukturen seit etwa 20 Jahren wissenschaftlich und besonders im Gefolge der Arbeiten von Thomas Piketty nun auch medial wieder ins Zentrum der Ungleichheitsdebatten gerückt. Piketty richtet sein Augenmerk vor allem auf die Faktoren und Auswirkungen extremer Vermögensungleichheit, deren Zunahme er in seiner berühmten Formel »r > g« zusammenfasst, nach der Kapitaleinkünfte schneller wachsen als die Volkswirtschaften insgesamt und auch steigende Lohneinkommen nicht in der Lage sind, die rasch wachsende soziale Ungleichheit auszugleichen. Dafür bedarf es (steuer-)politischer Interventionen, die bisher jedoch unterblieben bzw. im Rahmen der neoliberalen Steuerpolitik und weltweiten Tendenz zur Senkung von Vermögenssteuern seit den 1980er Jahren genau in die gegenteilige Richtung wiesen.72 Dass die Sozialwissenschaften den Veränderungen an der Spitze der Einkommens- und Vermögensskala relativ wenig Aufmerksamkeit schenkten, führte dazu, dass über diese Gruppen wesentlich weniger konsistente sozialwissenschaftliche Daten verfügbar sind als für den Rest der Bevölkerung. Der Soziologe Karl Siegfried Rehberg spricht inzwischen davon, dass die Klassengesellschaft »unsichtbar« gemacht worden sei: »Während wir statistisch den letzten Arbeitslosen in Oldenburg ›kennen‹ und ihm wenigstens typologisch einen ›Fallmanager‹ in einem ökonomistisch flott als ›Agentur‹ bezeichneten Arbeitsamt zuzuweisen in der Lage sind, fehlt fast jeder Einblick in die Reichtumsverhältnisse«.73 Auch Piketty monierte, dass sich die »intellektuellen und politischen Diskussionen über die Verteilung der Vermögen aus vielen Vorurteilen und sehr wenig Fakten« gespeist hätten – und versucht mit seinem Werk die Debatte auf eine neue Faktengrundlage zu stellen.74 Inzwischen zieht die Reichtumsforschung trotz aller empirischen wie konzeptionellen Schwierigkeiten und Defizite sowohl in den gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften wie in der Geschichtswissenschaft große Aufmerksamkeit auf sich.75 Theoretisch wird in diesem Zusammenhang derzeit auch die

72 Piketty, Kapital, S. 644–678. 73 Karl Siegried Rehberg, Die unsichtbare Klassengesellschaft. Eröffnungsvortrag zum 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: ders. (Hg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1, Frankfurt am Main 2006, S. 19–38, hier S. 23. 74 Piketty, Kapital, S. 11 sowie das gesamte einleitende Kapitel »Eine Debatte ohne Quellen?«; zur mangelhaften Datenlage in Deutschland auch Claus Schäfer, Die »Gerechtigkeits­ lücken« können auch ökonomische Effizienzlücken werden, in: WSI Mitteilungen 10/1994, S. 598–623, hier S. 616. 75 Vgl. z. B. Dorothee Spannagel, Reichtum in Deutschland. Empirische Analysen, Wiesbaden 2013. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive z. B. Simone Derix, Die Thys-

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Frage diskutiert, ob man angesichts der zunehmenden Verfestigung der enor­ men Vermögensunterschiede sogar von einer Refeudalisierung der Gesellschaften sprechen kann, ein Konzept, das vor allem der Soziologe Sighard Neckel in die Debatte eingebracht hat.76 Thomas Piketty spricht in diesem Zusammenhang von der Rückkehr eines »patrimonialen Kapitalismus«.77 Die Patrimonialgesellschaft von heute, so fasst es Sieghart Neckel zusammen, »lässt dynastische Strukturen ökonomischer Macht entstehen, in denen Erbschaft […] Heirat und große Vermögen wieder eine überragende Rolle spielen und Erträge abwerfen, zu denen man es durch Bildung, Arbeit oder Leistung niemals bringen kann«.78 Neckels Konzept der Refeudalisierung geht über Pikettys patrimonialen Kapitalismus hinaus. Er ergänzt die Polarisierung der Soziallagen und die ständische Verfestigung von Ungleichheit durch weitere politische und kulturelle Dimensionen des Wandels des modernen Kapitalismus wie die Ersetzung des bürgerlichen Leistungsprinzips in den Spitzengruppen durch einen neuen »Pfründenkapitalismus« und den »Statuswert des eigenen demonstrativen Konsums und die prestigeträchtige Stellung an der Spitze der globalen VIP-Lounge-Kategorie«;79 die Vermachtung politischer Öffentlichkeit und Entscheidungsstrukturen

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sens. Familie und Vermögen, Paderborn 2016; Eva Maria Gajek u. a. (Hg.), Reichtum im 20. Jahrhundert, Göttingen 2019. Neben der auf die wirtschaftliche Macht ausgerichteten Reichtumsforschung gab und gibt es natürlich eine wesentlich breiter aufgestellte allgemeine soziologische und sozialhistorische Elitenforschung. Vgl. z. B. aus der Perspektive der Elitendiskurse Morten Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009; ders., Elitensemantiken; zu den unterschiedlichen Machtverflechtungen der Wirtschaftseliten vgl. z. B. Paul Windolf, Eigentum und Herrschaft. Elite-Netzwerke in Deutschland und Großbritannien, in: Leviathan 25 (1997), S. 76–106 oder auch Christian Marx / Karoline Krenn, Kontinuität und Wandel in der deutschen Unternehmensverflechtung. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus (1914–1938), in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 1–44. Zugleich ist in diesem Zusammenhang der Elitenforschung auch das sozialhistorische und soziologische Interesse am ›Überleben‹ des Adels wieder gewachsen. Einen guten Überblick über die europäische Forschung bietet Didier Lancien / Monique de Saint Martin (Hg.), Anciennes et nouvelles aristocraties de 1880 à nos jours, Paris 2007. Sighard Neckel, Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft. MPIfG Working Paper 10/6, Köln 2010; Jakob Tanner, Refeudalisierung, Neofeudalismus, Geldaristokratie. Die Wiederkehr des Vergangenen als Farce?, in: Giovanni Biaggini u. a. (Hg.), Polis und Kosmopolis. Festschrift für Daniel Thürer, Zürich 2015, 733–748. Piketty, Kapital, S. 452–457. Neckel, Refeudalisierung des modernen Kapitalismus, S. 171. Vgl. zu der hierzu bereits relativ breiten britischen Forschung Reitmayer, Elitensemantiken, v. a. S. 215 f. Vgl. Sighard Neckel, Refeudalisierung der Ökonomie, S. 21 sowie S. 9: »Was die Herrschaft der heutigen Managerklasse von ihren patrimonialen Vorgängern unterscheidet, ist allein, dass der Pfründen-Feudalismus keine Aufsichtsräte kannte, in denen die Ministerialen des Börsengewinns eigene Herrengewalt ausüben dürfen und sich ihre Pfründe selbst genehmigen und untereinander verteilen.«

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durch Beherrschung der modernen Medien;80 einen Abbau des Sozialstaates zugunsten von Spenden und privaten Charities oder die Wiederkehr unfreier Arbeitsformen.81 An der Spitze der Sozialstruktur, so Neckel, sei eine neue Reichtumsoligarchie entstanden, »die auf einem historisch einmaligen Vermögenszuwachs basiert. Dieser beispiellose Wohlstand geht nicht auf moderne ökonomische Prinzipien wie Leistungserbringung, Wettbewerb und Leistungserfolg zurück […], sondern auf Strategien der Privilegiensicherung, die ihren Ursprung in vorkapitalistischen Zeiten haben«.82 Dazu gehören auch Strategien wie Heiratspolitik und der gesamte Bereich der intergenerationellen Weitergabe von Reichtum und Status.83 Das Konzept der Refeudalisierung verweist mithin auf einen besonderen Entwicklungsmodus, nach dem neue Formen der Wirtschafts- und Sozialordnung nicht im Sinne einer linearen Modernisierung entstehen, sondern »im Vollzug eines sozialen Wandels, der Altes und Neues dadurch entstehen lässt, dass gegenwärtige Organisationsformen in Wirtschaft und Gesellschaft tradierte Muster der Sozialordnung in modernster Weise aktualisieren.«84 Jakob Tanner formuliert mit einer etwas anderen Argumentation: »Die Refeudalisierung geht […] dem Kapitalismus keineswegs ans Mark, sondern transformiert ihn in eine neue Form.«85 Dies ist eine interessante Perspektive für die konkrete Verknüpfung der gegenwärtigen ständischen Verfestigung sozialer Ungleichheit mit Bourdieus Theorie von Sozialraum und seinen sozialen Feldern. Bourdieu definiert die sozialen Felder als Arenen der Macht und der Kämpfe um ihre Reproduktionsmechanismen.86 Letztere sind auch durch die Geschichte des jeweiligen sozialen Feldes bestimmt. Definiert man die neue »Reichtumsoligarchie« des Finanzkapitalismus als ein soziales Feld, dann lässt sich die »Verschlingung von Altem und Neuem« (Neckel) sehr gut an einem besonders effektiven Mechanismus traditioneller Vermögens- und sozialer Positionssicherung studieren, dem

80 Neckel entlehnt den Begriff der Refeudalisierung von Habermas Theorie des Strukturwandels der Öffentlichkeit. Habermas sah in der zunehmenden Kommerzialisierung politischer Medienöffentlichkeit und ihrer Manipulation durch Werbung und politische Public Relations eine Rückkehr zu einem vorbürgerlichen Öffentlichkeitstyp, der als Machtinstrument in der Hand von Einzelnen manche Charakteristika mit dem von ihm als »repräsentative Öffentlichkeit« bezeichneten Öffentlichkeitstypus des Ancien régime aufweist. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990 [1962], S. 292 sowie Neckel, Refeudalisierung des modernen Kapitalismus, S. 158–160. 81 Vgl. Neckel, Refeudalisierung des modernen Kapitalismus, S. 162 f. 82 Ebd., S. 166. 83 Vgl. dazu v. a. Jens Beckert, Are We Still Modern? Inheritance Law and the Broken Promise of the Enlightenment. MPIfG Working Paper 10/7, Köln 2010; ders., Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts, Frankfurt am Main 2004. 84 Neckel, Refeudalisierung des modernen Kapitalismus, S. 161 85 Tanner, Refeudalisierung, S. 746. 86 Bourdieu, Logik, S. 137.

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Landbesitz – einer für die Diskussion von Refeudalisierung vielleicht ohnehin besonders prädestinierten Vermögensform. In vielen Ländern wurden über Landbesitz Ungleichheitsstrukturen im Vermögen aus dem 19. in das 20. Jahrhundert transferiert. Zugleich stellte Landbesitz immer einen wichtigen Transfermechanismus von ökonomischem in soziales und kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus dar. In vielen Ländern war damit auch im 20. Jahrhundert noch politischer Einfluss verbunden.87 Dies ist besonders deutlich in Großbritannien der Fall. Die Frage des Landbesitzes hat hier in den letzten Jahren zu interessanten öffentlichen Debatten und Forschungen über die Folgen der im Prinzip nie ganz gebrochenen feudalen Struktur des Landes geführt.88 Trotz Reformen im 17. Jahrhundert gibt es in Großbritannien weiterhin einen theoretischen feudalen Eigentumsvorbehalt der Krone.89 Auch wenn dessen reale wirtschaftliche Bedeutung gering sein mag, so ist dieser ständische Überhang im Landbesitz auch in der Gegenwart nicht ganz ohne politisches Interesse – nicht zuletzt für das Funktionieren der vielfach als internationale Steueroasen betriebenen Crown Colonies der britischen Krone. Bezüglich des realen Besitzes von Land im 20. Jahrhundert hatte der britische Historiker Francis M. L. Thompson 1963 in einem Buch über die »English Landed Society in the 19th Century« die These aufgestellt, dass in den ersten zehn Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in England aufgrund der starken Heranziehung des Grundbesitzes zu den Kriegslasten etwa ein Viertel des Grundbesitzes in England und Wales aus den Händen des Adels in den Eigenbesitz der Bauern gewechselt sei. Es sei der größte Landtransfer seit der Auflösung der Klöster unter Heinrich VIII. gewesen.90 Es habe also eine weitgehende Umverteilung 87 In der deutschen Ungleichheitsdebatte ist dieser Aspekt der längerfristigen Strukturen derzeit besonders stark unterbelichtet. Vgl. aber zur Wahrnehmung der verschiedenen Klassen jenseits von Bourgeoisie und Proletariat und v. a. zur Klasse der Grundbesitzer und den ›ständischen Überhängen‹ im 20. Jahrhundert noch immer den instruktiven Überblick von Gerd Hardach, Klassen und Schichten in Deutschland 1848–1970. Probleme einer historischen Sozialstrukturanalyse, in: Geschichte und Gesellschaft, 3/4 (1977), S. 503–524, hier v. a. S. 507 f. 88 Vgl. Kevin Cahill, Who Owns the World: The Hidden Facts Behind Landownership, Edinburgh 2006. In England wurden die Feudalrechte der Krone zwar vom Parlament 1660 eingeschränkt und die freie Veräußerbarkeit von Landbesitz garantiert, aber das hypothetische Obereigentum der Krone dadurch nicht in Frage gestellt. Nur Schottland schaffte im Jahr 2000 durch den »The Abolition of Feudal Tenure etc. (Scotland)  Act 2000« das feudale Landrecht insgesamt ab. Folgt man der hypothetischen feudalen Logik, besitzt das britische Staatsoberhaupt auch heute noch den feudalen Besitztitel über etwa ein Sechstel der Landfläche der Erde. 89 Das britische Kataster (Land Registry) notiert daher, so Kevin Cahill, auch sowohl den eigentlichen Grundbesitz (freehold) wie auch die sehr verbreitete Erbpacht (leasehold) immer mit dem feudalen Eigentumsvorbehalt als »tenure« nicht als »ownership«. Vgl. https://landregistry-deeds.co.uk/get-documents/ [zuletzt aufgerufen am 1.3.2020]. 90 F. M. L.  Thompson, English Landed Society in the Nineteenth Century, London 1963, S. 332.

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von Vermögen in Großbritannien stattgefunden. Inzwischen ist Thompson selbst der Meinung, dass dieser Einschnitt weit weniger drastisch ausgefallen ist und die »landed order« keineswegs am Ende ist.91 Wie vor allem Kevin Cahill und Guy Shrubsole92 gezeigt haben, hat sich in Großbritannien der Landbesitz im 20. Jahrhundert weit weniger dramatisch verändert, als Thompson zunächst angenommen hatte. Als 1872/73 eine Bestandsaufnahme des Grundbesitzes gemacht wurde (das sogenannte New Doomsday Book) war das Ergebnis, dass vier Fünftel des Landes im Vereinigten Königreich das Eigentum von weniger als 7.000 Personen waren. Heute besitzen in England – und die Zahlen für Schottland und Wales werden nicht viel anders sein – weniger als 5.000 Estates immerhin noch fast zwanzig Prozent der Grundfläche von England, andere Berechnungen zeigen dass im gesamten Vereinigten Königreich etwa ein Prozent der Landbesitzer, ca. 25.000 Personen, mindestens die Hälfte der gesamten Landfläche besitzen.93 Die soziale Zusammensetzung ist allerdings im Begriff, sich nun nochmals deutlich zu wandeln: Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Chance groß war, dass ein größeres Gut im Erbgang an die derzeitigen Besitzer kam, ist die Wahrscheinlichkeit dafür heute viel geringer. Während die Krone und der Hochadel weiterhin enorme Landflächen kontrollieren, sind nun Charities wie der National Trust, aber vor allem auch große Agrarunternehmen und Lebensmittelkonzerne sowie private Investoren hinzugekommen.94 Viele private Investoren kommen aus der Industrie und der Welt des Finanzkapitalismus. Viele davon sind – in der Sprache der Immobilienmakler – sogenannte lifestyle buyers, denen es vor allem um die Überführung von ökonomischem in soziales und kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus und um den Anschluss an die alten Eliten geht.95 Der russischstämmige amerika91 Vgl. F. M. L.  Thompson, ›English landed society in the twentieth century, I: Property ­Collapse and Survival‹, Trans. Royal Historical Society, fifth ser., 40 (1990), S. 1: »The death rattle of the landed order, like the death knell of capitalism, has clearly been heard dozens of times over the last hundred years and more. Yet there is suspicion that the sounds have been misheard or misinterpreted, for collapse and decomposition have never followed the symptoms of sickness and crisis.« Vgl. auch ders., English Landed Society in the Twentieth Century, in: Lancien / de Saint Martin (Hg.), Anciennes et nouvelles aristocraties, S. 15–28 und William D. Rubinstein, The Evolution of the British Aristocracy in the Twentieth Century. Peerage Creation and the Establishment, in: ebd., S. 214–224. 92 Guy Shrubsole, Who Owns England? How we Lost our Green and Pleasant Land and how to Take it Back, London 2019. 93 John Beckett / Michael Turner, End of the Old Order? F. M. L. Thompson, the Land Question, and the Burden of Ownership in England, c.1880–c.1925, in: Agricultural History Review 55 (2007), S. 269–288, hier S. 288; Shrubsole, Who Owns England? 94 Vgl. v. a. die genaue Aufnahme von großen Landbesitztiteln bei Shrubsole, Who Owns England? 95 Bourdieu betrachtet den Adel auch im Wesentlichen aus der Perspektive seines sozialen und symbolischen Kapitals (z. B. Herrenhäuser), weniger aus der Perspektive seiner wirtschaftlichen Macht. Vgl. Pierre Bourdieu, La noblesse: capital social et capital symbolique, in: Lancien / de Saint Martin (Hg.), Anciennes et nouvelles aristocraties, S. 333–343.

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nische Modezar Leon Max, der im Jahr 2008 ein Landgut in Nothamptonshire kaufte, brachte einem Journalisten gegenüber diesen Aspekt auf den Nenner: »I like the idea of being a country gentleman […] I am looking forward to shuffl­ ing to my atelier in my monogrammed slippers.«96 Landwirtschaftliches Land ist derzeit  – jenseits des lifestyle  – de facto allerdings auch eine extrem lukrative Anlageform mit hohen Raten des Wertzuwachses. Eine der größten Immobilienmaklerfirmen Großbritanniens wirbt um Käufer für landwirtschaftliche Güter mit dem Hinweis: »Over the past 100 years average UK farmland values have returned 6 per cent per annum. In real terms, this equates to just over 1 per cent compound annual growth rate over the same period.«97 In Zeiten unsicherer Kapitalanlage ist das eine gute und sichere Investition. Zugleich sind landwirtschaftliche Güter Empfänger beachtlicher staatlicher Subventionen.98 Schließlich sind in Großbritannien aktive landwirtschaftliche Betriebe sowohl von der Kapitalertragssteuer, vor allem aber von der Erbschaftssteuer befreit. Das macht den Erwerb von landwirtschaftlichen Gütern zusammen mit den dazugehörigen Herrenhäusern auch für die lifestyle buyers zu einer interessanten und auch wirtschaftlich sehr lukrativen Anlageform.99 Natürlich gibt es auch andere Gruppen in den Vermögens- und Einkommenseliten der europäischen Staaten, und die Boni der meisten Spitzenbanker lassen die Agrarsubventionen eines großen Teils der Landmagnaten weit hinter sich. Diese Vignette zur Frage des Landbesitzes im Kontext der neueren Refeudalisierungsforschung sollte lediglich zeigen, wie gerade an der Spitze der Gruppe der Reichen und Superreichen alte und neue Besitzstrukturen sich verquicken und »ständische Lagen« (Max Weber) der Vormoderne weit in die Gegenwart hineinreichen. Großgrundbesitz eröffnet den Newcomern vielfach den Zugang zu den alten Machteliten und lässt dadurch die Verquickung der Politik mit dem Erhalt sozialer Ungleichheit besonders deutlich hervortreten. Zugleich sollte mit dem Ausweichen auf Großbritannien darauf hingewiesen werden, wie schlecht die Datenlage für die Erfassung des Reichtums besonders 96 Tim Adams, Who owns our green and pleasant land?, in: The Guardian, 7. August 2011 [online unter: https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2011/aug/07/tim-adams-whoowns-britain, zuletzt aufgerufen am 1.3.2020]. 97 Savillls, Historic Average Land Values in the UK . Vgl. https://www.savills.co.uk/propertyvalues/rural-land-values.aspx [zuletzt aufgerufen am 1.3.2020]. 98 In Großbritannien liegen zwar Firmen wie Nestle und Tate & Lyle an der Spitze der Liste von Subventionsempfängern aus Brüssel, aber die Queen, der Duke of Westminster, der reichste Mann Großbritanniens, Prince Charles und viele andere adelige Landmagnaten stehen diesen nur wenig nach. Vgl. den Bericht des Deutschlandfunks: Agrarbeihilfen für die Queen. Großbritannien legt Agrarsubventionen offen [ http://www.deutschlandfunk. de/agrarbeihilfen-fuer-die-queen.795.de.html?dram:article_id=116326, zuletzt aufgerufen am 1.3.2020]. 99 Vgl. Kevin Cahill, The great property swindle: why do so few people in Britain own so much of our land? in: New Statesman, 11. März 2011; online: http://www.newstatesman. com/global-issues/2011/03/ land-queen-world-australia [aufgerufen am 1.3.2020].

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für die Bundesrepublik ist. Die traditionelle sozialwissenschaftliche Konzen­ tration auf die Unter- und Mittelschichten und das Erwerbseinkommen hat hier einen erheblichen ›blinden Fleck‹ der Beobachtung auch in der Datenerhebung entstehen lassen.100 Mit nur ungenauen Kenntnissen der wirtschaftlichen Macht und Diversifizierung von Vermögen (auch in globaler geographischer Perspektive)  sind politischer Einfluss und Machtoptionen, Lebensstilformen oder auch die intergenerationelle Verfestigung dieser Spitzenpositionen aber kaum verständlich.101 Die langjährige sozialwissenschaftliche und politische Verdrängung extremer Vermögensungleichheit könnte man geradezu als ein kognitives lock-in der wissenschaftlichen und öffentlichen Thematisierung und Bearbeitung sozialer Ungleichheit im 20. Jahrhundert ansehen, das weitreichende wirtschaftliche und politische Folgen für die Gegenwart besitzt.102

4. Fazit Am Anfang dieses Beitrags stand die Frage nach der Position des »Fundamentalfaktums« der sozialen Ungleichheit im Rahmen von Gesellschaftsgeschichten des 20. Jahrhunderts bzw. der Moderne. Dazu wurden im Anschluss an Überlegungen von Lutz Raphael zu der besonderen Bedeutung der Sozialwissenschaften für die Selbstbeobachtung moderner Gesellschaften zwei Beobachtungsfelder abgeschritten: die sozialwissenschaftliche Theoriebildung zum Problem 100 Für Deutschland liegen halbwegs verlässliche Zahlen ausschließlich für den Waldbesitz vor. Vgl. z. B. mit detaillierten Einzelnachweisen: Wem gehört der Wald? Erstellt von: Wald-Prinz on 03/Mrz/19: »Die größten deutschen Privateigner von Wald sind mit Ausnahme der Constantia Forst GmbH, der Bofrost-Stiftung und der Blauwald GmbH allesamt Adelsfamilien.« [online: http://www.wald-prinz.de/waldbesitzer-wem-gehortder-wald/665, aufgerufen am 5.3.2020]. 101 Das hat besonders klar Simone Derix, Die Thyssens herausgearbeitet. Bezüglich des Landbesitzes spielen adelige Investitionen in Güter und Wälder in Südamerika eine besondere Rolle. Als größter deutscher Waldbesitzer besaß z. B. die Familie Thurn und Taxis in den 1970er Jahren ca. 32.000 ha Wald in Süddeutschland (heute ca. 20.000 ha). Bereits in den 1950er Jahren haben sie jedoch Güter im Umfang von 56.000 ha in Brasilien aufgekauft. Vgl. zu den Wirtschaftsimperien des süddeutschen Adels: Hermann Bößenecker, Der süddeutsche Wirtschaftsadel (I), in: Die Zeit 5.1.1973. 102 Dieser Beitrag zu sozialer Ungleichheit geht auf die Tagung »Das kurze 20. Jahrhundert als »verriegeltes Zeitalter« im September 2015 in Hannover zurück. Das Konzept der lock-ins oder Verriegelungen wurde von dem Wirtschaftsgeographen Gernot Grabher Anfang der 1990er Jahre aus dem Bereich der technologischen und wirtschaftlichen Innovationsforschung in die breitere sozialwissenschaftliche Forschung über Pfadab­ hängigkeit regionaler Entwicklung exportiert. Grabher unterschied dabei drei unterschiedliche Formen des lock-in und sprach von »functional, cognitive and political lock-ins«, die sich in diesem Fall der wirtschaftlichen Stagnation des Ruhrgebietes gegenseitig verstärkten. Vgl. Gernot Grabher, The Weakness of Strong Ties. The lock-in of Regional Development in the Ruhr Area, in: ders. (Hg.), The Embedded Firm. On the Socio­economics of Interfirm Relations, London 1993, S. 255–278.

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der sozialen Ungleichheit in der Moderne und die empirische Datenerhebung zu diesem Bereich im Kontext der »Verwissenschaftlichung des Sozialen«. Die Argumentation ging davon aus, dass die von Raphael und anderen konstatierte Krise geschichtswissenschaftlicher ›Großerzählungen‹, die die Entwicklungsrichtung historischer Prozesse entlang marxistisch oder modernisierungstheoretisch fundierter Modelle konstruierten, auch dazu führte, dass die Bestimmung des Status sozialer Ungleichheit in historischen Narrativen unsicher wurde. Weder kann soziale Ungleichheit im Sinne des Marxschen Klassengegensatzes von Proletariat und Bourgeoisie mehr als zentrale Triebkraft historischer Prozesse angesehen werden, noch taugt ihr gradueller Abbau als Gradmesser gesamtgesellschaftlicher Modernisierung. Die Strukturen der Moderne werden vielmehr im Sinne der funktionalistischen Systemtheorie Luhmanns überzeugend über die horizontale Ausdifferenzierung autonomer Funktionssysteme (Wirtschaft, Politik, Recht usw.) bestimmt, die als solche jedoch soziale Ungleichheit weder notwendig produzieren noch durch das Phänomen nachhaltig irritiert werden. Dieses Modell der funktionalen Differenzierung erlaubt in der Tat eine plausible Beschreibung und Systematisierung vieler in der Gegenwart beobachtbarer sozialer Phänomene (z. B. Individualisierung), für die die Soziologie der sozialen Schichtung und Ungleichheit bislang wenig Gespür gezeigt und auch kein theoretisches Analyseinstrumentarium entwickelt hatte. Umgekehrt geriet das Thema der sozialen Ungleichheit erst spät ins Visier dieser Theorietradition und blieb ein theoretisch deutlich weniger anspruchsvoll bearbeitetes Gebiet. Daher sind neuere Ansätze, die die »zwei Soziologien« zusammenführen, besonders interessant. Am vielversprechendsten scheint der Versuch einer Fortentwicklung des theoretischen Ansatzes von Bourdieu, der es erlaubt, funktionale und vertikale Differenzierung sowie Handlung und Struktur in den sozialen Feldern von Wirtschaft, Politik, Kultur etc. in einer weiterführenden Weise aufeinander zu beziehen.103 Der zweite Teil ging von der empirischen Forschung aus und fragte nach der auffallenden Abstinenz sozialwissenschaftlicher Forschung besonders in Deutschland bezüglich der versteckten Dimension sozialer Ungleichheit. Sie hat sich besonders über Vermögensungleichheit aufgebaut, die zwar keineswegs neu war, aber lange Zeit durch die Konzentration der Sozialwissenschaften auf Einkommensverhältnisse und die soziale Differenzierung des »Mittelstandes« kaum adressiert wurde. Die Datenlage zum Reichtum der Oberschichten ist daher auch entsprechend schwierig und dünn. Seitdem der neoliberale Systemwechsel in der Steuerpolitik in rasanter Geschwindigkeit zu einer globalen sozialen Polari103 Lutz Raphael war einer der ersten deutschen Historiker, der auf die Bedeutung Bourdieus für die Gesellschaftsgeschichte aufmerksam gemacht hat. Hans Ulrich Wehler wurde später ebenfalls zu einem Bewunderer Bourdieus, machte aus ihm aber im wesentlichen einen Weberianer (»Wenn ein ENA Absolvent überhaupt auf den Schultern von Riesen stehen darf, steht Bourdieu auf Webers Schultern«), ohne auf das differenzierungstheoretische Interesse und Potential Bourdieus zu verweisen. Vgl. dazu Wehler, Umverteilung, S. 41–53, Zitat S. 47.

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sierung und zu unübersehbarer sozialer Ungleichheit auch in fortgeschrittenen Industriegesellschaften geführt hat, hat sich dies deutlich geändert. Inzwischen ist diese ›neue‹ soziale Ungleichheit ein Dauerthema in Wissenschaft, Medien und Politik. Die zunehmende Verfestigung neuer ständischer Lagen an beiden Enden des sozialen Spektrums hat Sozialwissenschaftler dazu gebracht, von einer »Wiederkehr der Klassengesellschaft« oder einer Tendenz zur »Refeudalisierung« in Wirtschaft und Gesellschaft zu sprechen. Das Konzept der Refeudalisierung meint nicht wirklich eine Rückkehr zu den feudalen Strukturen des Ancien régime. Es versucht jedoch, den Wandel moderner kapitalistischer Gesellschaften zu verstehen, indem es darauf verweist, dass sich der Prozess der zunehmenden ständischen Schließung der globalen Vermögenseliten über Strategien vollzieht, die den Machtstrategien des Ancien régime nicht unähnlich sind. Auch wenn man darüber streiten kann, ob es wirklich sinnvoll ist, in diesem Kontext von einer »Refeudalisierung« des Kapitalismus zu sprechen (HistorikerInnen und SoziologInnen werden dagegen rasch viele Einwände formulieren)104, kann der Begriff sicher als nützlicher Wegweiser für Analysen des sozialen Feldes der globalen Machteliten im Sinne Bourdieus dienen. Dies wurde oben durch einen kurzen Exkurs zur Bedeutung des Landbesitzes bereits angedeutet. Ein weiterer Aspekt ist, dass der Begriff der ›Refeudalisierung‹ auch auf ein sich veränderndes Verhältnis sozialer Gruppen und Schichten zueinander sowie auf grundlegende Veränderungen im Bereich der Arbeitsbeziehungen verweist. Es ist ein relationaler Begriff. Der Soziologe Sighard Neckel, der ihn in die gegenwärtige Debatte eingeführt hat, operiert bei den Arbeitsbeziehungen mit extremen Tendenzen in globalen Arbeitsverhältnissen. In vielen Bereichen würden sie sich zunehmend »von den Normen der Rechtsgleichheit entkoppeln«105 und zu neuen Formen von bonded labour, Zwangsarbeit und Ausbeutung (in Europa besonders im Bereich der häuslichen Dienstleistungen und der global care chain) führen. Der allgemeine Strukturwandel besonders der industriellen Arbeitswelt in Europa seit dem »Strukturbruch« der 1970er Jahre fügt sich weniger einfach in dieses Konzept. Lutz Raphael hat ihn in seiner großen vergleichenden Untersuchung zur »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom« untersucht und differenziert beschrieben.106 Die Tendenzen und Folgen der Deregulierung des Arbeitsmarktes werden hier durchaus sichtbar. Refeudalisierung ist aber sicher nicht der Begriff, der sich aus dieser Perspektive ›von unten‹ für die Beschreibung des Wandels aufdrängt. 104 Es kann natürlich diskutiert werden, ob der Begriff »Refeudalisierung« überhaupt kompatibel ist mit den Strukturen des modernen Finanzmarktkapitalismus, bei dem Investment-Fonds die eigentlichen Akteure sind. Vgl. dazu z. B. Paul Windolf, Was ist Finanzmarktkapitalismus?, in: ders. (Hg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005, S. 20–57. 105 Neckel, Refeudalisierung des modernen Kapitalismus, S. 163. 106 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Vgl. für das Abdrängen vor allem von Frauen in den oft tarifrechtlich weitgehend ungeregelten Dienstleistungssektor ebd., S. 86 f.

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Dennoch, das Konzept der Refeudalisierung verweist mit interessanten Perspektiven auf Prozesse, die sich am entgegengesetzten Ende der Gesellschaft abspielen: die Schaffung neuer, quasi-ständischer sozialer Lagen und damit neuer Prozesse der Erosion funktionaler Differenzierung, die über Luhmanns Perspektive der Verkoppelung von Exklusionslagen gerade nicht erfasst werden, für deren Analyse jedoch Bourdieu auch für HistorikerInnen ein hervorragendes Instrumentarium bereithält. Refeudalisierung verweist zudem auf einen Strukturwandel sozialer Beziehungen, indem soziale Ungleichheit sich – zumindest aus der Perspektive der Reichen – kaum mehr dem Zwang ausgesetzt sieht, über meritokratische Argumentationsformen legitimiert werden zu müssen. Damit verschiebt sich nicht nur ein Basiskonsens moderner demokratischer Gesellschaften, sondern dies berührt auch noch tieferliegende Schichten normativer Ordnung, besonders die enorme Bedeutung der Reziprozität sozialer Beziehungen, die auch Raphael für seine Geschichte der Arbeitswelt herausgearbeitet hat.107 Die intensive Aufmerksamkeit, die gerade dieses Thema derzeit auch in der Sozialphilosophie erfährt, konnte hier nicht thematisiert werden. Sie zeigt jedoch, dass soziale Ungleichheit und ihre Transformationen vermutlich die wichtigste Achse einer Gesellschaftsgeschichte darstellen, die versucht, die Lebenslagen von und den Wandel der Beziehungen zwischen Individuen und sozialen Gruppen, Schichten oder Klassen in einer Weise zu rekonstruieren, die den paradoxen Entwicklungen der kapitalistischen Moderne Rechnung trägt.

107 Zum Bezugsrahmen Raphaels (Honneth, Rosanvallon) vgl. ebd., S. 28.

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Klassen – Aufstieg und Niedergang eines Paradigmas 1. Hinführung »Soziale Ungleichheit gehört zu den universellen Strukturmerkmalen moderner Gesellschaften«, heißt es in einem beliebig herausgegriffenen soziologischen Werk zum Thema ›Sozialstruktur‹,1 und die meisten Gesellschaftswissenschaftler2 sind sich auch einig, dass die Ungleichheit seit den 1990er Jahren zunimmt. Vom Gini-Koeffizienten bis zum schlichten Umfrageergebnis deutet – angeblich3 − alles in dieselbe Richtung, woraus der Sozialhistoriker Hans-­U lrich ­Wehler kurz vor seinem Tode den apodiktisch formulierten Schluss gezogen hat: »Die Klassenkultur als Erbschaft der Vergangenheit ist keineswegs zerfallen, vielmehr außerordentlich präsent geblieben«.4 Abgesehen davon, dass soziale Ungleichheit in noch viel stärkerem Maße, weil »rechtlich sozusagen erbfest eingefroren«,5 Strukturmerkmal der vormodernen, besser: ständischen Gesellschaften Europas war,6 ja, dass, um mit Tönnies zu sprechen, soziale Ungleichheit überhaupt zu den Wesensmerk­malen von Gesellschaften im Unterschied zu Gemeinschaften zählt,7 sei auch der Hinweis erlaubt, dass das Verhältnis zwischen ›Wirklichkeit‹ und ›Wissen‹ ziemlich kompliziert ist, komplizierter jedenfalls als die sog. Abbild-Theorie des Marxis1 Patrick Sachweh, Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. Wahrnehmung und Legitimation gesellschaftlicher Privilegierung und Benachteiligung, Frankfurt am Main 2010, S. 16. 2 Hier wie in allen anderen Fällen ist die weibliche Hälfte der Menschheit natürlich stets mitgedacht. 3 Beispielhaft kommt Widerspruch von Lars P.  Feld / Christoph M.  Schmidt, Jenseits der schrillen Töne. Elemente für eine rationale Diskussion über die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in Deutschland, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 17 (2016), S. 188–205. Sie berücksichtigen neben der mittels des SOEP gemessenen auch die ›gefühlte‹ Ungleichheit. 4 Hans-Ulrich Wehler, Neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013, S. 66. 5 Ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: 1700–1815, München 1987, S. 133. 6 »Das Feudalsystem bedeutet eine nachhaltig wirksame soziale Differenzierung, einen weltgeschichtlichen Akt der Berufs- und Arbeitsteilung und damit den Anfang einer durchgreifenden. Klassenbildung«. Otto Hinze, Staatsverfassung und Heeresverfassung [1906], jetzt in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, Göttingen 31970, S. 62. 7 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Anhang § 4 [81935], Darmstadt 21988, S. 211 f.

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mus oder der ›Realisten‹ des einstmals so genannten bürgerlichen Lagers anzunehmen pfleg(t)en. Es müsste ja schon zu denken geben, dass Klassen, die gleichsam naturwüch­sig aus der sozialen Ungleichheit hervorgegangen sein sollen, in den europäischen Sprachen ganz verschieden bezeichnet werden. Als ›Klasse‹ werden nämlich die unterschiedlichsten Sozialformationen bezeichnet. Völlig unbefangen spricht man im Englischen noch heute von middle und working classes, im Italienischen von classe medie bzw. ceti medi und operai, im Deutschen hingegen von Bürgertum und Arbeiterschaft. Bürgertum ist unübersetzbar, erst recht sein Inbegriff Bildungsbürgertum, auch bourgeoisie ist etwas völlig anderes.8 Gäbe es für die Sozialgeschichte, was in der Philosophie existiert, nämlich einen Dictionnaire des intraduisibles,9 würde man sehen, dass zahlreiche Begriffe für soziale Großgruppen keine direkten Entsprechungen in anderen Sprachräumen haben.10 Das hat natürlich seine Gründe. Wenn also die Europäer von ›Klasse‹ sprechen, meinen sie unter Umständen ganz disparate Dinge11 – es sei denn, sie stützen sich auf Schulungsmaterial einer der untergegangenen kommunistischen Parteien. Reinhart Koselleck hatte erhebliche Vorbehalte gegen Urteile, wie sie sein Bielefelder Kollege Wehler zu fällen pflegte, weil er sich nicht nur für Statistiken, sondern auch für Semantiken interessierte. Obwohl zeitweise selber sozialhistorisch arbeitend, blieb er skeptisch: »Das Grundgesetz der Sozialgeschichte ist bekanntlich, daß die sozialen Verhältnisse, die sie analysiert, objektiv vorhanden sind«, und beweise das mit Statistiken und Graphiken, die häufig sogar von ihr selbst angefertigt worden seien.12 Diese Warnung aufnehmend, könnte man die eingangs zitierte Feststellung vorsichtiger formulieren und sagen, dass moderne Gesellschaften sich viel intensiver als ältere für soziale Ungleichheit zu interessieren pflegen, weil letztere nur noch in Grenzen als legitim gilt. ›Klassen‹ sind deshalb auch keine ›universellen Strukturmerkmale‹, sondern diskursiv 8 Einen der ganz seltenen, weil die Sprachgrenzen überschreitenden Vergleiche bietet der Sammelband von Reinhart Koselleck / K laus Schreiber (Hg.), Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994. 9 Barbara Cassin (Hg.), Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles, Paris 2004. 10 Doering-Manteuffel und Raphael sprechen von »ausgeprägt nationale[n] Idiome[n]«, die entsprechend Unterschiedliches betonen; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970, Göttingen 32012, S. 77. 11 Wer das beklagt, offenbart nur seine gesellschaftswissenschaftliche Naivität. Ein schon älteres, nur kurz nach Beginn der Hochkonjunktur der Soziologie als zentraler Deutungswissenschaft entstandenes Beispiel bietet Celia Heller, die »the general problem of a lack of a basic, standardized vocabulary in the field of stratifications studies« feststellt und beklagt, »that much energy in the sociological controversies is spent in argument over words«. Celia S. Heller, Unresolved Issues in Stratification, in: dies. (Hg.), Structured Social Inequality. A Reader in Comparative Social Stratification, London 1969, S. 487. 12 Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187–205, hier S. 201.

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erzeugte Ordnungsmuster der Moderne, die den Gesellschaften Orientierung bieten und ihnen damit helfen sollen, die komplexer und vor allem dynamischer werdenden Herausforderungen zu bewältigen und in die gewünschte Richtung zu steuern. Es ist diese Perspektive, die mir die angemessene zu sein scheint und die auch Lutz Raphaels Umgang mit sozialen Phänomenen kennzeichnet.13 Ich werde deshalb nach diesen einleitenden Bemerkungen im folgenden die Entstehung von ›Klasse‹ nachzeichnen (II), sodann ihre Wege in die Geschichtswissenschaft und die wechselhaften Konjunkturen ihrer Verwendung skizzieren (III), die sich aus der Konkurrenz zu anderen Deutungsmustern ergibt (IV), und abschließend die Ergebnisse auflisten (V).

2. Entstehung In weiten Teilen Europas kam in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus einer Vielzahl hier nicht näher zu schildernder Gründe die hergebrachte gesellschaftliche Ordnung in Bewegung, zunächst vor allem auf dem Lande. Es entstand, was ich an anderer Stelle »Übergangsgesellschaft« genannt habe – einen zeitgenössischen Begriff gibt es nicht ‒, die dadurch gekennzeichnet war, dass schon bis 1800 im damaligen Deutschland die Lohnarbeit enorm zugenommen hatte und deshalb jeder fünfte Beschäftigte aus der ständischen Ordnung herausgefallen war.14 Dieser Vorgang blieb natürlich nicht verborgen, sondern rief zahlreiche Beobachter auf den Plan und so wurde erstmals in der europäischen Geschichte die Sozialstruktur zum nun auch zunehmend empirisch gestützten Thema. Sofort zeigte sich, dass deren Beschreibung schwierig war, und zwar aus zwei Gründen: Erstens fehlten (noch) die geeigneten deskriptiven oder analy­ tischen Begriffe, zweitens aber – und das ist bis heute so ‒ liefern solche Begriffe immer auch normative Aussagen, d. h. Werturteile, und sind entsprechend umstritten. Denn letztlich repräsentieren sie Ordnungsmuster, d. h. sie enthalten »Meinungswissen über die soziale Welt«, aus dem Sinnhaftigkeit und Handlungswissen abgeleitet zu werden pflegen.15

13 Seine eigene Forschungsperspektive mit der »Vorliebe« für eine »konstruktivistische Grundposition« skizziert er im knappen Vorwort zu seinen gesammelten Aufsätzen. Vgl. Lutz Raphael, Vorwort: Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, in: ders. Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 7–10, hier S. 7 f. 14 Christof Dipper, Übergangsgesellschaft. Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800, in: Zeitschrift für Historische Forschung 23 (1996), besonders S. 67. 15 Morten Reitmayer, Politisch-soziale Ordnungsentwürfe und Meinungswissen über die Gesellschaft in Europa im 20. Jahrhundert, in: Lutz Raphael (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Geschichte im 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 37–64, hier S. 45.

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Das war schon am eben vorgestellten Beispiel zu verfolgen. Die Bevölkerungszunahme veränderte die hergebrachte gesellschaftliche Ordnung so sehr, dass sie in den Augen vieler ihre Legitimität verlor. Aus dieser Perspektive erwartete man darum von der nun entstehenden »Wissenschaft von der Gesellschaft«16 nicht bloße Beschreibung, sondern erhoffte sich von ihr zugleich Vorstellungen einer gerechten Sozialordnung samt den Wegen dorthin. Eine wertfreie Diskussion war damit erschwert und binnen weniger Jahrzehnte wurde aus dem Allerweltsbegriff ›Klasse‹ das Schlüsselwort einer radikalen Gesellschaftskritik, die in der berühmten Aussage des Kommunistischen Manifests gipfelte: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«.17 ›Klasse‹ war hier ein geschichtsphilosophischer Perspektivbegriff, der von nun an einer sachlichen Beschreibung der Sozialstruktur hinderlich sein konnte. Jedenfalls war seit Mitte des 19. Jahrhunderts ›Klasse‹ sowohl sozialwissenschaftlicher Fachterminus als auch sozialphilosophischer Kampfbegriff und an dieser doppelten Funktion arbeiten sich seither Generationen von Wissenschaftlern ab. Einstweilen aber sollte sich für den Umgang der Deutschen mit ›Klasse‹ die Zählebigkeit des staatsrechtlichen und kameralistischen Vokabulars bei den meisten Gelehrten und Ministerialbeamten bis ins frühe 19. Jahrhundert als folgenreiches Hindernis auf dem Weg der ›Klasse‹ vom Allerwelts- zum Grundbegriff erweisen. Erst in den 1840er Jahren begann mit den Schriften von Lorenz v. Stein und Karl Marx bzw. Friedrich Engels die neue Klassensemantik im Deutschen zu kursieren. Wie im einzelnen die moderne, also westeuropäische Klassensemantik den Weg nach Deutschland gefunden hat, liegt noch weithin im Dunkeln. Im Falle Steins, der von 1841 bis 1843 eineinhalb Jahre in Frankreich zugebracht hat, ist das praktisch nur den Fußnoten seiner Werke zu entnehmen, während wir bei Marx neuerdings über seine möglicherweise entscheidende Lektüre im Juli / August 1845 in Manchester – nirgends konnte man damals den Frühkapitalismus, die politischen Radikalismen aller Art und die fortgeschrittenste politische Ökonomie besser studieren ‒ genauestens informiert sind.18 Der kurze Manchester-Aufenthalt leitete die bis 1848 reichende formative Phase Marx’ ein, in der er sich von seiner »spekulativ-idealistischen«19 zugunsten einer strikt materialistischen Position verabschiedet hat. Von nun an steht die 16 Friedrich Buchholz, Hermes oder über die Natur der Gesellschaft, mit Blicken in die Zukunft, Tübingen 1810, S. 18 (im Original gesperrt). Sie sei »die notwendigste aller Wissenschaften«, versichert Buchholz in der von ihm herausgegebenen Neuen Monatsschrift für Deutschland, Bd. 16 (1825), S. 446 f. Auguste Comte prägte dafür 1839 den Begriff »sociologie«. 17 Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei [1848], jetzt in: MEW, Bd. 4, Berlin(Ost) 1956, S. 462. 18 Karl Marx / Friedrich Engels, Exzerpte und Notizen, Juli 1845 bis Dezember 1850, Berlin 2015 (MEGA 2, IV. Abt., Bd.5). 19 Zitiert nach Matthias Bohlender, Einführung, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Exzerpte und Notizen, Juli 1845 bis Dezember 1850, Berlin 2015 (MEGA 2, IV. Abt., Bd.5), S. ­337–367, hier S. 339.

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›Produktion‹ in deren Zentrum. 1852 legte Marx das Verhältnis von Rezeption und eigener Leistung offen: »Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft, noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu that war 1.) nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Production gebunden ist; 2.) daß der Klassenkampf nothwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3.) daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet«.20 Am wichtigsten hierfür war die Lektüre von John Francis Brays Labour’s wrongs and labour’s remedy von 1839, in dem der junge Angloamerikaner beschreibt, wie ein binärer Klassenantagonismus, entstanden durch ungleichen Tausch, bei den »produktiven« bzw. »Arbeiterklassen« die Erkenntnis reifen lässt, dass im Eigentum die Ursache ihres Elends liegt, dass sie dadurch Klassenbewusstsein entwickeln, sich entschließen, dass »die gegenwärtigen arrangements der Gesellschaft vollständig umgestürzt werden müssen«, und schließlich weltweit »Gütergemeinschaft« herstellen.21 Das ist im Kern schon die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Dieselben sozioökonomischen Sachverhalte führten bei Stein und Marx / Engels zu einem konträr ausgestalteten Ordnungsmuster namens ›Klasse‹: Stein entwickelte daraus den Appell an das »Königtum der socialen Reform«,22 Marx erwartete das Heil von Revolution und Diktatur des Proletariats.

20 Brief an Joseph Wedemayer, 5.3.1852. Zit. ebd., S. 338 [Hervorhebungen im Original]. 21 Marx / Engels, Exzerpte, S. 10, 25, 11, 55. Zu Recht hat jedoch Horst Stuke schon vor langem darauf hingewiesen, »daß Marx zwar auf der Grundlage seiner materialistischen Geschichtsauffassung generell ökonomische Kriterien als die für die Klassenbildung entscheidenden bezeichnet, aber weder direkt noch systematisch eine Klassenlehre entwickelt noch […] den Klassenbegriff einheitlich und konsistent verwendet hat«. Horst Stuke, Bedeutung und Problematik des Klassenbegriffs. Begriffs- und sozialgeschichtliche Überlegungen im Umkreis einer historischen Klassentheorie, in: Ulrich Engelhardt u. a. (Hg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Stuttgart 1976, S. 46–82, hier S. 63. 22 Lorenz Stein, Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 3, Leipzig 1850; zit. nach der Ausgabe München 1921, S. 41. Stein ging es primär um die Rettung der Monarchie, die Sozialreform hatte für ihn weithin instrumentellen Charakter.

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3. Wege in die Geschichtswissenschaft Die Begriffs- und Dogmengeschichte von ›Klasse‹ mag vielleicht als hinreichend erforscht gelten.23 Für den Umgang der Historiker mit diesem Ordnungsmuster gilt das nicht. Diese Lücke kann auch hier nicht geschlossen werden. Bruch­ stücke einer Gebrauchsgeschichte müssen einstweilen genügen. Robert von Mohl notierte es 1851 in einem Literaturbericht als »höchst auffallend«, dass es »itzt, d. h. seit etwa fünfzig Jahren« eine »Lehre der Gesellschaft« gebe,24 die es als ihre Aufgabe betrachte, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände kritisch zu prüfen und »Vorschläge zur Neubildung der Gesellschaft« zu machen. Mit der Geschichtsschreibung bzw. dem, was er darunter subsumiert – Bensen, Grün und Stein25 – war er besonders unzufrieden. Dort trete »der Übelstand vielleicht noch stärker hervor«, in der Gesellschaft nichts als ein durch Arbeit und Eigentum gestaltetes Verhältnis zu sehen. Missfielen dem Juristen die Staatsferne der vorgefundenen Gesellschaftsbilder und erst recht die dort zu lesenden Vorschläge zur Abhilfe, so sind wir Heutigen eher geneigt, die von Mohl genannten Werke nicht der Geschichtsschreibung zuzurechnen, auch wenn Wehler Lorenz von Stein in die von ihm herausgegebene Reihe Deutsche Historiker aufgenommen hat.26 In jedem Falle gab es aber schon 1851 eine Reihe auch deutscher Autoren, die sich der Gesellschaftsanalyse verschrieben hatten, weil sie sich vom Blick auf die Beziehungen sozialer Großgruppen zueinander neue Einsichten versprachen. Darum klingt es nicht unwahrscheinlich, wenn weitere 50 Jahre später Gustav Schmoller festgestellt hat, dass »eine große beschreibende und untersuchende Literatur seit hundert Jahren die Grundlage zu einer empirischen Klassenlehre gelegt« habe.27 Dass diese nicht immer den Ansprüchen sozialdemokratischer Theoretiker genügte, liegt in der Natur der 23 Neben Rudolf Walther, Stand / K lasse, Abschn. VIII–X , in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, ist zu nennen: Jenny Pleinen, Klasse, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 10.3.2015, URL: http://docupedia.de/zg/Klasse?oldid=106314 (12.8.2015). Auch Wehlers einleitender Überblick bietet wie immer beste Informationen: Wehler, Neue Umverteilung, S. 7–14. 24 Robert von Mohl, Gesellschafts-Wissenschaften und Staats-Wissenschaften, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 7 (1851), S. 3–71, hier S. 6, 5. Die nächsten Zitate S. 20 u. 21. 25 Er nennt Heinrich Wilhelm Bensen, Die Proletarier. Eine historische Denkschrift, Stuttgart 1847; Karl Grün, Die soziale Bewegung in Belgien und Frankreich, Darmstadt 1845; Stein, Geschichte. 26 Sie berücksichtigt nicht nur Universitätshistoriker, sondern auch »wesentliche Außenseiter«. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Vorwort, in: ders. (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 3. 27 Gustav Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 2 Teile, München 1900/04; zitiert nach Gerhard A. Ritter / K laus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 113, Anm. 3.

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Sache. Insofern belegt Eduard Bernsteins Klage aus dem Jahre 1905 nur, wie dogmatisch auch der vielfach angefeindete Revisionist dachte: Unzählige Menschen führten »heute die Worte Klasse und Klassenkampf im Munde und machen sie zum Gegenstand heftiger Erörterungen und Parteiungen. Fragt man sie aber, was sie denn unter diesen Begriffen verstehen, ersucht man sie, sie genau zu bestimmen, dann wird man gar manchen in Verlegenheit bringen, und von anderen sehr verschiedenartige Antworten erhalten.«28 Bernstein hatte damit weniger die Historiker im Blick, weil sie sich für dieses Thema schlechterdings nicht interessierten. Universitätsprofessoren zumal hätten damals ihre Reputation aufs Spiel gesetzt, wenn sie sich ernstlich mit dem Thema ›Klasse‹ und ›Klassenkampf‹ gewidmet hätten.29 Lorenz von Stein sah sich noch posthum dem Vorwurf ausgesetzt, dass mit seinen Ideen »eine gewisse Einseitigkeit in die historische Betrachtung gekommen« sei, der sich »die mehr oder weniger von Ranke beeinflußten Historiker nicht so schuldig gemacht« hätten. Und dann ließ Otto Hintze – ausgerechnet dieser für die Öffnung der Geschichtswissenschaft hin zur Soziologie plädierende Historiker – die Katze aus dem Sack: Stein habe den »ungeheuren Einfluß« übersehen, »den auf die Gestaltung der Staatsverfassungen die auswärtige Politik ausübte«.30 Der in der akademischen Historiographie damals und noch lange Zeit kanonisierte Primat des Politischen – »politisch« in engem Sinne verstanden – ließ Fragen wie ›Klasse‹ und erst recht ›Klassenkampf‹ gar nicht erst zu. So ist auch Hermann Onckens Lassalle-Biographie von 1904 in erster Linie politischer Natur, in deren Zentrum »Lassalles von Fichte geprägte idealistische Staatsauffassung« steht,31 der sozialistische Theoretiker hingegen ein vergiftetes Lob erhält.32 Bei diesem Thema ist es natürlich unmöglich, nicht von ›Klasse‹ zu sprechen, und so häufen sich stellenweise geradezu die zu diesem Wortfeld gehörigen Begriffe. Aber obwohl der Berliner Privatdozent ohne Berührungsängste gegenüber der Nationalökonomie, Marx und dem Kapitalismus war, blieb sein Wortgebrauch alltagssprachlich und theoriefrei. Arbeiterschaft, Arbeiterstand, Arbeiterklasse und Proletariat benützt Oncken deckungsgleich, ebenso 28 Eduard Bernstein, Klasse und Klassenkampf [1905], in: Bruno Seidel / Siegfried Jenkner (Hg.), Klassenbildung und Sozialschichtung, Darmstadt 1968, S. 102–112, hier S. 104 [Hervorhebungen im Original]. 29 Man kannte sich natürlich, denn es handelte sich um ein Fach mit nicht mehr als 64 Ordinarien im Jahre 1900. Matthias Middell, Germany, in: Ilaria Porciani / Lutz Raphael (Hg.), Atlas of European Historiography. The Making of a Profession 1800–2005, Houndmills 2010, S. 159–165, hier S. 160. 30 Otto Hintze, Ein sozialwissenschaftlicher Klassiker, in: Münchener Neueste Nachrichten, 28.11.1921; zitiert nach Dirk Blasius, Lorenz von Stein, in: Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 1, S. 25–38, hier S. 30. 31 Klaus Schwabe, Hermann Oncken, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 2, Göttingen 1971, S. 81–97, hier S. 84. 32 Lassalle »opferte der materialistischen Geschichtsauffassung weder seine idealistische Grundstimmung noch seinen organischen Staatsbegriff«. Hermann Oncken, Lassalle, Stuttgart 21912, S. 436.

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unbefangen verwendete er Klasseninteresse, Klassenbewegung und Klassenbewußtsein. Ja, selbst die Aussage, dass Lassalle es mit »einer Klasse ohne Klassenbewußtsein, ohne Zusammenhang in sich und ohne Einsicht in ihre Aufgabe« zu tun gehabt habe,33 veranlasste Oncken nicht zu weiteren, theoriegeleiteten Überlegungen. Das historische Urteil Onckens über Lassalle blieb negativ.34 Das verhinderte zwar nicht, dass dieses Buch 1933 auf dem Scheiterhaufen landete,35 aber auch nicht die Berufung seines Autors auf ein Ordinariat. Anders erging es Gustav Mayer, der nicht nur als Jude, sondern als offener Sympathisant des von ihm behandelten Gegenstandes, der Geschichte der frühen Arbeiterbewegung, weder im Kaiserreich noch später irgendeine Chance auf einen Ruf an die Universität hatte. Dabei stand auch bei Mayer die politische Seite seines Themas eindeutig im Vordergrund und wie Oncken bediente er sich einer theorie- und ideologiefreien Terminologie, wenn er von Klasse, Klassenstandpunkt, Klassenkampfpartei u. dgl. schrieb.36 Seine (von der Geschichtswissenschaft erst seit den 1960er Jahren rezipierten) biographischen Studien über Theoretiker des Sozialismus veranlassten den gelernten Historiker nicht zu Reflexionen über die sozialistische Theorie. Auf keiner Seite ist von den Arbeitern die Rede, die Eigentumsordnung wird nirgends berührt und erst recht natürlich findet sich nirgends eine Bemerkung zur sozialen Gestalt der deutschen Gesellschaft. Die Niederlage 1918, Versailles und Republikgründung verstärkten bei den deutschen Historikern nur noch das Festhalten am Primat des Politischen. Wer sich damit nicht zufrieden gab, bediente sich in aller Regel der rasch an Popularität gewinnenden völkischen Deutungsmuster, aber da diese ihre Attraktivität nicht zuletzt der Negierung von Klassenkonflikten verdankte, führte auch von hier aus kein Weg zur kritischen Gesellschaftsanalyse. Eine große Ausnahme bildete darum der Berliner Althistoriker Arthur Rosenberg, den die Revolution politisierte und der 1918 in die USPD, zwei Jahre später in die KPD ein(und 1927 wieder aus-)trat und deswegen trotz Habilitation keinerlei Chance auf einen Lehrstuhl hatte. »Ein Geschichtsforscher, […] der ernsthaft um das Verständnis der Vergangenheit oder seiner eigenen Zeit ringt, kann gar nicht anders, als nach den Hegel-Marxschen Ideen verfahren«, schrieb er 1940 im englischen Exil.37 Allerdings muss sein Versuch einer Umsetzung als misslungen bezeichnet werden, denn der Nachweis, »daß das Wesen aller Geschichte in 33 Ebd., S. 322. 34 Oncken bezeichnete Lassalle als »den größten Demagogen, den die deutsche Geschichte gesehen.« Ebd., S. 437. 35 Schwabe, Oncken, S. 84. 36 Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland, 1863–1870 [1912], in: ders., Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, 1969, S. 108–178. 37 Arthur Rosenberg, Was bleibt von K. Marx? [1940], in: ders., Demokratie und Klassenkampf. Ausgewählte Studien, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt am Main 1974, S. 131–138, hier S. 134.

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Klassen­kämpfen besteht« und sich das »gerade bei der Betrachtung des Altertums vollkommen« bestätige,38 bestand in der fast nur terminologischen Umdeutung der attischen Geschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr., womit er sich in die seit Theodor Mommsen in der Alten Geschichte oft praktizierte Tradition stellte, den Gegenstand in moderner Begrifflichkeit abzuhandeln. Sie wurde in das Prokrustesbett des Klassenkampfes gepresst, in dem das Proletariat schließlich auf der ganzen Linie gesiegt habe – ein »Proletariat«, von dem er keine Gewaltanwendung berichtete und das weder die Besitzverhältnisse umgestalten noch die Sklaven befreien, sondern einfach nur Diäten wollte, und ein einsichtiges »Bürgertum«, das sich schließlich »fügte«.39 Vom Klassenkampf als Leitgedanken war Rosenberg in seiner 1928 gedruckten Geschichte des Kaiserreichs dann bereits wieder abgekommen und vermutlich deshalb verkaufte sie sich durchaus gut. Zwar ist das Klassenvokabular stark präsent, bleibt aber oberflächlich. Soziale Ungleichheit ist ein Thema am Rande, gar von einer ihren geschichtlichen Auftrag erfüllenden (oder daran gehinderten) Klasse keine Spur.40 Außen- bzw. Geopolitik spielt eine untergeordnete Rolle, aber davon abgesehen entfaltet er seine Darstellung ganz traditionell, nämlich vorwiegend von Personen her: Bismarck am Anfang, Wilhelm II. im Mittelteil und (den durchweg positiv geschilderten) Ludendorff am Ende.41 Durch Max von Baden und dann Ebert ›kam es‹ »zu der wunderlichsten aller Revolutionen im November 1918«.42 Die 1935 in Karlsbad erschienene Fortsetzung war ebenso angelegt und wurde nach ihrer Wiederauflage 1955 zum Klassiker, weil sie der damals vorherrschenden ›tragischen‹ Sicht auf die Weimarer Republik widersprach und stattdessen ihr Ende auf 1930 vorverlegte.43 Überhaupt soll sein Anteil an der Revision des hergebrachten Geschichtsbildes nicht in Abrede gestellt werden, aber die Einbürgerung von ›Klasse‹ als maßgeblichem Element historischer Deutung ist Rosenberg misslungen – vielleicht weil »für den an Karl Korsch geschulten Kritiker des Kautskyanismus […] die materialistische Geschichtsauffassung keinerlei Handhabe für eine rationale 38 Rosenberg, Demokratie und Klassenkampf im Altertum [1921], ebd., S. 19–102, hier S. 23. 39 Ebd., S. 51. 40 Deswegen irritiert seine Rezension von »Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des Neuen Deutschen Kaiserreiches, Bd. 3, Frankfurt am Main 1930«, in der er bemängelte: »Die politischen Vorgänge sind nicht zu verstehen, wenn man nicht die gesellschaftlichen Kräfte zeigt, von denen sie gemacht werden«; zitiert nach Mario Keßler, Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen, Köln 2003, S. 143. 41 Eine wohlwollende Deutung dieses Umstandes bei Helmut Berding, Arthur Rosenberg, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 4, Göttingen 1972, S. 81–96, hier S. 85 f. 42 Rosenberg, Entstehung der Weimarer Republik [1928], hg. u. eingel. v. Kurt Kersten, Frankfurt am Main 121970, S. 225. Im Original war natürlich von der Deutschen Republik die Rede. Eine 2. Auflage erschien 1930. 43 Damit nahm er zugleich das Hauptergebnis von Brachers bahnbrechender Studie vorweg, die 1955 erschien.

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Konstruktion der Geschichte bieten« konnte44 und eine andere Klassentheorie ihm nicht zur Verfügung stand. Dass ausgerechnet Rosenberg die Dissertation Eckart Kehrs als für das große Publikum wenig geeignet kritisierte, überrascht, wenn man bedenkt, dass beide seit ihrer Wiederentdeckung in den 1960er Jahren durch die ›kritische Geschichtswissenschaft‹ stets gemeinsam erinnert werden. Aber Kehr45 zielte gar nicht auf Publikumswirkung, sondern strebte mit seiner Qualifikationsschrift eine Universitätskarriere an, die Rosenberg damals längst versperrt war. Dennoch hat Kehr im Schlachtflottenbau wie in etlichen seiner Aufsätze das Klassenargument zur Umdeutung der jüngeren Vergangenheit viel intensiver benutzt als Rosenberg und so tatsächlich eine höchst geistreiche Kritik des von ihm als »Klassenstaat« bezeichneten Kaiserreichs und zugleich der eigenen Disziplin46 vorgelegt.47 Er praktizierte einen undogmatischen Marxismus, was sich für ihn durchaus mit Hochachtung für Max Weber vertrug. Seine zentrale These lautete: Im Kaiserreich sei »Rüstungspolitik« weniger militärstrategisch denn als Folge ihrer »Klassengebundenheit« erklärbar, sie war »abhängig von der Lage des Hochkapitalismus«.48 Was für Tirpitz’ Flottenpolitik noch als Argument angängig sein mochte,49 kann für die Frage, ob das Offizierskorps auf Kosten 44 Berding, Rosenberg, S. 84. 45 Einzelheiten in der angenehm nüchternen biographischen Skizze bei Niels Grüne, Eckart Kehr, in: Helmut Reinalter (Hg.), Außenseiter der Geschichte, Würzburg 2015, S. 159–190. 46 Die eigene Disziplin, deren Verhältnis zu ihm »zu Beginn der 1930er Jahre von reservierter Toleranz in offensive Marginalisierung umschlug« (Grüne, Kehr, S. 179), kritisierte er in einem Vortrag in den USA 1933 scharf, weil sie jeden, der von »sozialen Klassen« spreche, umstandslos dem »Marxismus« zuschlage. Vgl. Eckart Kehr, Neuere deutsche Geschichtsschreibung [ungedr.], in: ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt am Main 1976, S. 254–268, hier S. 257. 47 Ders., Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930 [ND Vaduz 11965]. Dort fiel im letzten Satz (S. 448) die Formel vom »Primat der Innenpolitik« als unwillkürlicher Folge der »nur noch im Interesse einer Klasse« betriebenen Politik, die sich »hinter den ausgehöhlten Formen des Nationalstaats zu verbergen suchte«. 48 Eckart Kehr, Klassenkämpfe und Rüstungspolitik im kaiserlichen Deutschland [1932], in: ders., Primat, S. 87–110, hier S. 88. 49 Sie sei »Kampfmittel gegen das Proletariat«. Ders., Soziale und finanzielle Grundlagen der Tirpitzschen Flottenpropaganda [1928], in: ders., Primat, S. 130–148, hier S. 136. Näher an der Wirklichkeit war wohl die von Kehr zitierte Rheinisch-Westfälische Zeitung, für die die Flottenpolitik »im Interesse der Industrie, der Arbeiterschaft und der deutschen Kriegsflotte« war (11.1.1902); zit. ebd., S. 148. Grüne bezeichnete dies als »epochenspezifische Engführung auf das Verhältnis von Ständen und Klassen in der Zeit um 1900.« Vgl. Grüne, Kehr, S. 174. Ritter / Tenfelde nennen Kehr zwar in einer Fußnote, folgen aber mitnichten seiner argumentativen Linie und betonen stattdessen die Ambivalenz des Verhältnisses der Arbeiter (einschließlich der Sozialdemokraten unter ihnen) zu Militär und Militärzeit im Kaiserreich. Vgl. Ritter / Tenfelde, Arbeiter, S. 741.

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der sozialen Geschlossenheit vergrößert werden sollte oder nicht, eigentlich nicht gelten. Vom Nachweis eines Klassenkampfes keine Spur, und zwei Jahre zuvor hat er denselben Sachverhalt, nämlich den Elitenkonflikt zwischen Kriegsministerium und Generalstab, korrekt als »Militarismus« diagnostiziert.50 So scharfsinnig Kehr in vielen Hinsichten war, sein deterministisches Geschichtsbild machte die Verwendung des Klassenparadigmas nicht überzeugender.51 Für Fragen der gesellschaftlichen Stratifikation fühlte sich die noch junge Soziologie zuständig. Max Weber hat bekanntlich in Auseinandersetzung mit Marx eigene Vorstellungen entwickelt, wie Klassen beschaffen sind, aber sowenig wie jener eine systematische Abhandlung zur Klassentheorie vorgelegt.52 Weil für ihn die Wirklichkeit doppelt konstituiert ist – durch Lagen und Weltbilder ‒, enthält die Webersche moderne Gesellschaft mehrere Typen von Klassen. Empirische Erhebungen und deren Auswertung überließ er anderen. Unter diesen ragt zweifelsohne Geigers Schichtungsstudie, basierend auf der Volkszählung von 1925, hervor, in der aber von ›Klasse‹ so gut wie keine Rede ist, denn Geiger kombinierte ökonomische mit sozialen und mentalen Kriterien und das ließ sich, jedenfalls im Deutschen, 1932 nicht mehr als ›Klasse‹ fassen.53 Für die Historiker blieb dies alles unbeachtlich, ihr politiklastiges Geschichtsbild ging weder 1933 noch 1945 unter, sondern wurde ernsthaft erst in den 1960er Jahren erschüttert. Damals brach eine wahrhaft säkulare Wissenschaftstradition ab. Ganz vereinzelt war die Industriegesellschaft anstelle des Staates allerdings schon vorher in den Blick geraten und es sind tatsächlich die ›braunen Wurzeln‹, wenn man es boshaft formulieren möchte,54 die dem Thema ›Klasse‹ den Weg in die Geschichtswissenschaft wiesen. Es genügt, wenn hier der Name Werner Conze fällt, der 1950 einen Vortrag über »Die deutsche Stadt 50 Eckart Kehr, Zur Soziologie der Reichswehr [1930], in: ders., Primat, S. 235–243, hier S. 237 f. 51 Sein Fazit der »Klassengebundenheit der Rüstungspolitik« lautete: »Die Akteure glaubten zu handeln und taten doch nichts, als in ihren Intrigen auszuführen, was von den sozialen Machtverhältnissen vorgeschrieben war. Wie in der ökonomischen Ebene der Kapitalismus sich selbst aufhebt, so in der sozialen das militarisierte Bürgertum«. Ders., Klassenkämpfe, S. 110. Diese Aussage ist umso erstaunlicher, als Kehr eine Seite vorher noch Rankes Ablehnung zwangsläufiger Geschichtsverläufe zitiert hatte. 52 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive dazu am besten Hans-Ulrich Wehler, Max Webers Klassentheorie und die neuere Sozialgeschichte, in: Jürgen Kocka (Hg.), Max Weber, der Historiker. Göttingen 1986, S. 193–203. 53 Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932. Zu ›Klasse‹ terminologische Ausführungen S. 2–12. 54 Geradezu dialektisch sprach dagegen Koselleck davon, »daß auch politisch bedingte Erkenntnisinteressen zu theoretisch und methodisch neuen Einsichten führen können, die ihre Ausgangslage überdauern«. Reinhart Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Wolfgang Schieder / Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 1: Die Sozialgeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1986, S. 89–109, hier S. 108 f., Anm. 4.

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im Industriesystem« hielt und vier Jahre später den bahnbrechenden Aufsatz »Vom ›Pöbel‹ zum ›Proletariat‹« publizierte. Es dürfte nach 1945 der früheste Text eines deutschen Historikers sein, in dem die soziale Ungleichheit im Mittelpunkt steht, auch wenn ›Klasse‹ nur nebenbei auftaucht.55 Anders als bei Kehr, Arthur oder Hans Rosenberg fehlt bei Conze der Zusammenhang mit der politischen Geschichte fast völlig, es ist gewissermaßen ›reine‹ Sozialgeschichte, deren antihistoristisches Erbe in ihrer begriffsgeschichtlichen Aufmerksamkeit liegt. Sie öffnete den Weg in die semantisch kontrollierte Sozialgeschichte, für die später Heidelberg berühmt werden sollte.56 1962 führte dann Conze auf dem Duisburger Historikertag und später an prominenter Stelle mit seinem Aufsatz »Nation und Gesellschaft. Zwei Grundbegriffe der revolutionären Epoche« dem Fach vor Augen, dass es die neuzeitliche Geschichtswissenschaft mit zwei Hauptbestandteilen und eben nicht nur mit einem, der Nation, zu tun hat. Sie gelte es künftig zusammenzuführen.57 1965 dann trug Conze auf dem Internationalen Wirtschaftshistorikerkongress in München seine Überlegungen zur Klassenbildung der Arbeiterschaft vor. Auf der Grundlage begriffs- und sozialgeschichtlicher Recherchen teilte er die hochdifferenzierte Masse der »handarbeitenden Klassen« in sieben »große Schichten oder Klassen« ein, die sich durch Herkunft und Produktionsverhältnisse unterschieden, so dass nicht »›Proletarisierung‹, sondern […] soziale Differenzierung und unterschiedliche Arbeitsqualifizierung am Beginn der Bildung der industriellen Arbeiterschaft« stehen. Sie setze sich bis in die Gegenwart fort.58 Mit dieser Aussage stellte sich Conze bewusst in Gegensatz zur Marxschen Tradition und eröffnete der Sozialgeschichte eine neue Perspektive. Ganz anders geartet und wegen seines eindeutig kritischen Tonfalls breitere Wirkung entfaltend war das Werk des aus seinem amerikanischen Exil schon seit den 1950er Jahren periodisch nach Westdeutschland zurückkehrenden und dann vor allem an der FU lehrenden Hans Rosenberg. Er verkörperte geradezu den sich wandelnden Zeitgeist. Sein bahnbrechendes Buch über Große Depression und Bismarckzeit brachte Wirtschaftstheorie und allgemeine Geschichtswissenschaft zusammen. Deshalb stachen seine zahlreichen Aussagen zum Thema ›Klasse‹ viel weniger ins Auge, obwohl im Sachregister eine Fülle sozialer Klassen sowie die Stichworte »Klassenbewusstsein«, »Klassenjustiz«

55 Werner Conze, Vom »Pöbel« zum »Proletariat«. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland [1954], in: ders., Gesellschaft – Staat – Nation. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Ulrich Engelhardt u. a., Stuttgart 1992, S. 220–246. 56 So auch Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, Kap.V.3. 57 Werner Conze, Nation und Gesellschaft. Zwei Grundbegriffe der revolutionären Epoche [1964], in: ders., Gesellschaft, S. 341–354. Der Aufsatz erschien ursprünglich in der Historischen Zeitschrift. 58 Ders., Die Bildung der Klassen der industriellen Arbeiterschaft in Deutschland [1968], ebd., S. 262–267.

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und sogar »Klassenkampf« aufgeführt sind.59 Insofern spricht manches dafür, dass sein älterer und damals bereits zweimal nachgedruckter Aufsatz über Die [Pseudo]Demokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse in dieser Hinsicht mehr bewirkt hat. Es ist vermutlich der erste Text eines Historikers in deutscher Sprache, der die Webersche Vorstellung prägender historischer Konstellationen aufgegriffen und jene gerichteten Prozesse nachgezeichnet hat, die den Weg in die Moderne kennzeichnen: den Fortschritt zum (Agrar-)Kapitalismus, gekoppelt mit dem der Entstehung marktbedingter Klassen und, jedenfalls in PreußenDeutschland, die Herausbildung des bürokratisch-nationalen Anstaltsstaates.60 Der Name Marx fällt gar nicht, und das ist natürlich kein Zufall. Rosenberg hat nämlich die kathedersozialistische Deutung, die im östlichen Teil Deutschlands in marxistischer Terminologie fortgeschrieben wurde, in eine so elastische Geschichte des ›Obenbleibens‹ umgewandelt, dass sie, anders als sein Buch über die Große Depression, bis heute im wesentlichen Bestand hat. Vor allem auf Hans Rosenberg, um den sich in Berlin, später auch in Bielefeld ein Kreis junger Historiker (und bald auch Historikerinnen) versammelte, geht daher die Aufnahme des Klassenparadigmas in das Untersuchungsbesteck der (politischen) Sozialgeschichte zurück, während in dem um Werner Conze gescharten Heidelberger Kreis Schichtungsanalysen mit semantischen Kontrollen abgesichert zu werden pflegten und politische Ableitungen nur am Rande vorkamen.61 Daher tauchen im folgenden Heidelberger Autoren kaum noch auf und konzentriert sich die Darstellung fast ganz auf die Schüler Gerhard A.  Ritters, den wichtigsten Kontaktmann Rosenbergs in der Bundesrepublik, und auf die ›Bielefelder Schule‹, zwei Personenkreise, die sich naturgemäß stark überschnitten.62 59 Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967. In seiner 1932/33 geschriebenen Weltwirtschaftskrise war von sozialen Klassen, überhaupt von Handelnden nur ganz am Rande die Rede. Die, soweit ich sehe, einzigen Belege finden sich in: ders., Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859 [1934], Göttingen 21974, S. 14 f. 60 Ders., Die [Pseudo]Demokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse [1958/66], in: ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, S. 83–101. »Pseudo« fügte Rosenberg 1966 ein. 61 Koselleck sprach anfangs in Bezug auf die Begriffsgeschichte geradezu von deren »subsidiäre[m] Charakter für die Sozialgeschichte« als einer ihrer drei Funktionen. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme, Opladen 1973, S. 116–131, hier S. 121. 62 Insoweit folge ich hier Gerhard A. Ritter, Neuere Sozialgeschichte in der Bundesrepublik, in: Jürgen Kocka (Hg.), Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung, Darmstadt 1989, Abschn. IV (»Die neue ›kritische‹ Sozialgeschichte«). Um Missverständnisse bei der Lektüre von Wehlers anders gearteten, nämlich ›kontroverstheologisch‹ ausgerichteten, hier freilich nicht zitierten Verortungen von Bielefeld zu vermeiden, sei hinzugefügt, dass ›Heidelberg‹ und ›Bielefeld‹ im von Werner Conze und Theodor Schieder gegründeten »Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte« zusammenarbeiteten.

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Dass die Sozialgeschichte Bielefelder Prägung von ihren Initiatoren anfangs gerne als ein in Konflikten durchgesetzter Paradigmenwechsel bezeichnet wurde, hängt einerseits mit Wehlers »Glauben an das agonale Prinzip«,63 andererseits mit dem damals sehr populären Buch Thomas Kuhns über wissenschaftliche Revolutionen zusammen.64 Der stets um Ausgleich bemühte Ritter widersprach dieser Einschätzung mit dem Argument, »wissenschaftlicher Fortschritt im Fach Geschichte [werde] häufiger als durch Kontroversen durch überzeugende wissenschaftliche Leistungen vorangetrieben«.65 Die Leistungen waren in der Tat überzeugend. Ab 1969 erschienen in dichter Folge Bücher – und erst recht Aufsätze, auf die an dieser Stelle nicht auch noch eingegangen werden kann  –, wie man sie bis dahin in der Bundesrepublik66 nicht hatte lesen können. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien für die ersten zwanzig Jahre jene Titel genannt, in denen das Klassenparadigma eine prominente Rolle spielt: 1969 Wehlers Bismarck und der Imperialismus und Kockas Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens, 1972 Winklers Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, 1973 Kockas Klassengesellschaft im Krieg und Wehlers Kaiserreich, 1974 der von Winkler herausgegebene Sammelband zum Organisierten Kapitalismus, 1975 Puhles vergleichende Studie zu Politischen Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften, 1977 Kockas Aufsatzband Sozialgeschichte und Tenfeldes Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, 1979 der von Wehler organisierte Sammelband Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, 1980 Schönhovens Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Kaiserreich und Langewiesches Freizeit des Arbeiters und 1983 Kockas Lohnarbeit und Klassenbildung. 1984 schließlich begann das von Gerhard A. Ritter initiierte Großunternehmen zu erscheinen, die inzwischen auf 14 Bände angewachsene Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in der viele der vorgenannten Autoren wieder auftauchen, und 1987 Wehlers fünfbändige Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 63 So Jürgen Kocka im Interview »›Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft‹. Die Bielefelder Schule und die günstige Gelegenheit der siebziger Jahre«, in: Indes (2014), H. 3, S. 105. Vgl. Auch Paul Nolte, Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse, München 2015, Kap. IX (»Agonales Prinzip. Der öffentliche Intellektuelle«). 64 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen [engl. 1962], Frankfurt am Main 1967. Das Buch erschien 1996 in 13. Auflage und 2003 gab es der Verlag als Sonderausgabe zum 30jährigen Bestehen der Reihe Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft noch einmal heraus. 65 Ritter, Neuere Sozialgeschichte, S. 36. Hinzu kommt natürlich der kontingente Umstand des Hochschulausbaus ab Ende der 1960er Jahre, der die Steuerungsmöglichkeiten des Establishments stark eingeschränkt hat. 66 Zu den hier nicht weiter berücksichtigten Forschungen in der DDR sei wegen seines Ausnahmecharakters nur auf das Buch von Hartmut Zwahr hingewiesen: Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin (Ost) 1978, bes. S. 9–23. Nicht zufällig wurde Zwahr gleich 1990 in den »Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte« aufgenommen.

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Wehlers Bismarck und der Imperialismus handelt nicht von Klassen. Wenn das Buch hier dennoch kurz angesprochen wird, so, weil der Einfluss von Hans Rosenberg und in diesem Falle mehr noch von Eckart Kehr unverkennbar ist, weil, mit anderen Worten, Theoriebedürftigkeit mit kritischer Einstellung gegenüber der jüngeren deutschen Vergangenheit die beiden leitenden Gesichtspunkte sind. Sie fließen im Paradigma des Sozialimperialismus zusammen – ein auf Lenin zurückgehendes Deutungselement, das aber hier die unheilvolle Rolle und Kontinuität der alten Eliten in den Vordergrund rücken sollte und natürlich 1933 im Visier hatte. Dieselbe Botschaft sprach Wehler vier Jahre später noch viel deutlicher aus. 1973 erschien sein kleines Buch zum Kaiserreich, das von dieser Zeit ein so rundum tristes Bild zeichnete, dass ein englischer Rezensent ironisch kommentierte, man könnte den Eindruck bekommen, dass es damals auch unentwegt geregnet habe. Vielleicht spielte er damit auf das Bonmot an, dass ›Bielefeld‹ seine enorme Wissenschaftsproduktion nicht zuletzt den langen Schlechtwetterperioden am Rande des Teutoburger Waldes verdankt. Wie dem auch sei, Wehlers Anklageschrift schlug fast schon wie eine Bombe in den bundesdeutschen Kulturbetrieb ein, denn der Verfasser rechnete nunmehr radikal mit dem etablierten Blick auf die Vergangenheit ab und machte die kaiserzeitlichen Führungsschichten im Zeichen der hier nun prominent vorgetragenen Sonderwegsthese für das Dritte Reich verantwortlich. Marx und Engels werden häufig zitiert, aber nur als zeitgenössische Kommentatoren. Für seine Analyse setzt Wehler dagegen ganz auf Webers Trias Herrschaft, Wirtschaft und Kultur, wobei er unter ›Kultur‹ den »Kampf um Machtchancen« im Zeichen »handlungsbestimmender Ideologien« verstand67 und damit dem Buch entgegen seiner erklärten Absicht eine deutliche politikgeschichtliche Schlagseite verlieh. Von ›Klassen‹ ist zwar immer wieder die Rede, aber es sind bei ihm eher politische Bestimmungsgrößen, die sozialgeschichtlich nur oberflächlich definiert und beschrieben werden und die erst recht keine handelnden Kräfte darstellen.68 Merkwürdig: Unter Bismarcks dem Bonapartismus nachempfundener »Halbdiktatur« hat die »herrschende Klasse« nicht geherrscht,69 das gelang ihr erst im Zeichen der »Sammlungspolitik« in Verbindung mit dem »Sozialimperialismus«, der eine »konservative Antwort auf die Herausforderung klassengesellschaftlicher Probleme und anachronistischer Machtverteilung« war.70 Im Weltkrieg genügte das angesichts er67 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, S. 13. 68 Ganz andere Gründe hat es, dass beim Kolloquium 2007 über dieses Buch ›Klassen‹ als solche überhaupt keine Rolle mehr spielten und sozialgeschichtlich nur Wehlers Darstellung der ›Junker‹ und des Bürgertums Korrekturen erfuhren. Vgl. Sven Oliver Müller / Cornelius Torp (Hg.), Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009. Die Konferenz demonstrierte damit zugleich, wie sehr neue Fragestellungen inzwischen ein ziemlich anderes Bild jener Epoche zeichnen. 69 Zitate aus Wehler, Kaiserreich, Kap. III .1.2: »Das bonapartistische Diktatorialregime bis 1890«. 70 Ebd., S. 178.

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heblich verschärfter Klassenkonflikte nicht mehr, dann benötigte man »andere Integrationsideologien«: Burgfrieden, die ›Ideen von 1914‹ und die »Idee vom totalen Krieg«.71 Dieses Buch war fraglos ein Markstein für die deutsche Geschichtswissenschaft, zugleich aber auch so zeitgeistig, dass es heute eigentlich nur noch als historisches Zeugnis dient. Das gilt für andere Bücher jener Jahre weniger. Aus der Perspektive des Klassenparadigmas ist auch Kockas monumentale Dissertation über Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft eher ein Vorspiel, denn es geht um den Zusammenhang von Kapitalismus und großindustrieller Bürokratie. Im Kern zielt das Buch auf »die Bildung der Angestelltenschaft als gesamtgesellschaftliche Gruppe«72 und wie es ihr nach innen wie nach außen gelang, sich als ›neuer Mittelstand‹ und eben nicht als ›Klasse‹ zu gerieren; das 1911 beschlossene Gesetz zur Angestelltenversicherung belohnte die standespolitischen Bestrebungen dieser neuen Erwerbsklasse, freilich mit nachteiligen Folgen für sie selbst und auf lange Sicht für die Deutschen insgesamt. Kocka vermochte dabei eine wichtige Modifikation an Webers Universalanspruch seiner Bürokratiedefinition anzubringen: in Unternehmen geht es nicht in erster Linie um Herrschaft, sondern um »sachorientierte Organisation zu optimaler Leistungserfüllung«.73 Weil er ein »methodisches Experiment« versuchte, räumte Kocka in seinem 1973 erschienenen Weltkriegsbuch Theorie- und Methodenfragen ungewöhnlich breiten Raum ein; was bemerkenswert ist: die selbstkritischen Überlegungen kommen dabei nicht zu kurz. Um die »innere Struktur und das wechselseitige Verhältnis der gesellschaftlichen Klassen und Schichten« zu erkunden, entwickelte er ein stark an Marx angelehntes, also dichotomisches, aber um moderne Konflikttheorien erweitertes ›Klassenmodell‹; so wollte er das Prozesshafte, Klassenbildung und -entbildung, einfangen.74 Entsprechend viel ist von ›Klassengegensätzen‹, ›Klassenspannung‹ und ›Klassenkonflikt‹ die Rede. Wichtiger als die sachgeschichtlichen Ergebnisse ist im Blick auf das hier angeschlagene Thema der Umstand, dass seine an Marx orientierte Klassentheorie auch ihm nahestehende Historiker nicht überzeugte.75 Das Pendel sollte alsbald 71 Ebd., S. 207, 211. Kocka sprach in seinem gleichzeitig erschienenen Weltkriegsbuch differenzierter davon, dass im Verhältnis Staat-Gesellschaft der klassengesellschaftliche Moment »eher ab- als zu[nahm]«, während sich die binnengesellschaftlichen Fronten verschärften. Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918 [1973], Göttingen 21978, S. 118. 72 Ders., Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914, Stuttgart 1969, S. 516. 73 Ebd., S. 558. 74 Ders., Klassengesellschaft, S. 233, 96–104, 2, 150 f., Anm. 24. 75 Ritters Einwände in: Ritter, Neuere Sozialgeschichte, S. 51 f. Gottfried Schramm meinte gar, Kockas Modell passe eher auf Russland als auf Deutschland. Vgl. Gottfried Schramm, Klassengegensätze im Ersten Weltkrieg. Zu Jürgen Kockas Gesellschaftsmodell für die Endphase des Wilhelminischen Deutschlands, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (1976), S. 244–260, hier S. 248.

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zu Weber zurückschlagen, den allerdings im Ersten Weltkrieg vor allem herrschaftssoziologische Fragen interessierten. Noch war freilich die Attraktivität für Marx’ Klassentheorie nicht verschwunden, wie man an Hans-Jürgen Puhles Vergleich politischer Agrarbewegungen in drei Ländern76 sehen kann. Puhle optierte für Marx, weil er anders die im Kaiserreich beobachteten Konfliktlagen nicht glaubte erklären zu können, obwohl er einräumen musste, »daß die landwirtschaftlichen Produzenten in den hier zur Debatte stehenden Gesellschaften weder im Marxschen Sinne als eine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft für sich begriffen werden können, noch sich ohne weiteres jeweils teilweise anderen Klassen zuschlagen lassen, weil erhebliche Differenzen der ›Klassenlage‹ wie des Bewußtseins beidem entgegenstehen«.77 Puhle wollte Rosenbergs Thema der ›Rittergutsbesitzerklasse‹ gleichsam von unten her ergänzen, landete aber beim ›organisierten Kapitalismus‹,78 weil im Beobachtungszeitraum die schweren Konflikte der Anfangszeit in weitreichende Gemeinsamkeit der Interessen aller landwirtschaftlichen Produzenten mündete, was anders nicht erklärbar schien. Überhaupt bereiteten sich die Bielefelder mit ihrem Ziel, mit Marx auch die preußische Agrargeschichte (das Deutschland westlich der Elbe blieb ausgeklammert) besser deuten zu können, erhebliche Schwierigkeiten.79 Aus der selbstgestellten Falle entkamen sie nur durch Verzicht bzw. Umschwenken auf Webers elastische Klassentheorie, wie das später die bei Koselleck und Kocka angefertigte meisterliche Arbeit zu Westfalen durch Josef Mooser zeigen sollte.80 Dass Puhle beim Organisierten Kapitalismus landete, war kein Zufall. Für kurze Zeit ließ dieses vom Revisionisten Rudolf Hilferding zur Kritik der klas76 Der transnationale Vergleich war eine Seltenheit, nicht nur in Bielefeld. Aber dort wurde er kaum praktiziert, obwohl die hier Genannten alle zu Studienaufenthalten in den Vereinigten Staaten waren und sie die angelsächsische Geschichte als Modell eines geglückten Weges in die Gegenwart stets im Hinterkopf hatten. Näheres dazu bei Lutz Raphael, Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–37. 77 Hans-Jürgen Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich, Göttingen 1975, S. 294, Anm. 55; das Zitat ebd., S. 279, Anm. 26. 78 »Dieser vielschichtige und langwierige Prozeß wird hier als der Übergang zum ›organisierten Kapitalismus‹ bezeichnet«. Ebd., S. 15. 79 Das gilt auch für die bei Wehler angefertigte Dissertation von Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763–1847, Göttingen 1978. Sie entschied sich für Marx, aber in einer »restriktiven Definition« (S. 46), eben weil seine Klassendefinition für Bauern empirisch noch weniger einzulösen sei als bei anderen gesellschaftlichen ­Gruppen. 80 Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984. Mooser ergänzte den Weberschen Ansatz um Shanins Modell der ›peasant society‹ und das der Proto-Industrialisierung. Eingehend dazu Christof Dipper, Ländliche Klassengesellschaft 1770– 1848. Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von Josef Mooser, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), S. 244–253.

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senübergreifenden Zusammenarbeit im Ersten Weltkrieg entwickelte Konzept, das Winkler wiederentdeckt hatte, die Hoffnung wachsen, die offenkundigen Veränderungen des Kapitalismus auf den Begriff zu bringen. Es löste sofort entschiedenen Widerspruch bei vielen Wirtschaftshistorikern aus81 und erwies sich tatsächlich nicht als überlegen. Einen genuin sozialgeschichtlichen Anspruch vermochte ihm lediglich Kocka abzugewinnen, der von der »Formveränderung des Klassenkonflikts« nach 1914 sprach. Dabei hatte er natürlich sein Weltkriegsbuch in Blick, wo er freilich dieses Konzept nicht verwendet hatte, nun aber hinzufügte, dass der ›Organisierte Kapitalismus‹ im Unterschied zum »blassere[n] Konzept der ›Hochindustrialisierung‹«, das es »offenbar« erlaube, »von Klassen und Klassenspannungen völlig abzusehen«, die Historiker förmlich auf die sozialen Konflikte zu blicken zwinge, wenn sie Wirtschaftsgeschichte betreiben.82 Für Kocka gab es offensichtlich einen Primat des Klassenparadigmas, den er eng mit der Wirtschaftsgeschichte gekoppelt sah, während Wehler die Kombination mit der politischen Geschichte bevorzugte. Beide hatten inzwischen Marx hinter sich gelassen83 und orientierten sich nunmehr wesentlich an Max Weber. Deshalb bemühten sie sich, die von diesem hinterlassenen Lücken der Klassentheorie zu schließen.84 Das wichtigste Beispiel hierfür ist die auf dem Historikertag in Hamburg 1978 organisierte Sektion Europäische Sozialgeschichte im Vergleich, deren Buchausgabe sie den griffigeren Titel Klassen in der europäischen Sozialgeschichte gaben und Hans Rosenberg widmeten. Den Theoriebeitrag lieferte wie üblich Kocka, der zunächst die Klassentypologie ausbaute und anschließend den erweiterten Kategorienrahmen im zeitlichen Durchgang skizzierte bzw. erprobte. Zunächst ergänzte er Webers »Besitzklasse«, indem er die Lohnarbeiter zur »negativen Besitzklasse« machte, dann führte er die Kategorie der »Leistungsklassen« ein, die tatsächlich ein neues Phänomen und wichtiges Merkmal der kapitalistischen Industriemoderne darstellen. Was den zeitlichen Durchgang betrifft, so stellten sich Kocka zwei einander zuwiderlaufende Prozesse dar: Zum einen eine zunehmende »Kristallisation«, d. h. immer schärfere, marktbedingte Ausprägung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit, 81 Wegen seines umfassenden Erklärungsanspruchs sprach Feldman ironisch von der »paradigmatischen Superwaffe«. Vgl. Gerald D.  Feldman, Der deutsche Organisierte Kapitalismus während der Kriegs- und Inflationsjahre 1914–1923, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 150–171, hier S. 153. 82 Jürgen Kocka, Organisierter Kapitalismus im Kaiserreich?, in: Historische Zeitschrift 230 (1980), S. 613–631, hier S. 627 f., Anm. 20. 83 Einen letzten, wenn ich recht sehe, Vermittlungsversuch zwischen Marx und Weber hatte Kocka 1977 angekündigt. Vgl. Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen 1977, Vorbemerkung S. 5. Das Ergebnis blieb mir unbekannt. 84 »Insbesondere die Herausbildung, der Charakter und die Folgen ›marktbedingter‹ Klassen werfen zahlreiche Fragen auf, die theoretisch und empirisch alles andere als abschließend geklärt sind«. Hans-Ulrich Wehler im Vorwort zu: ders. (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 7.

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zum anderen Mechanismen, die diese »Kristallisation« zu bremsen vermochten, nämlich die relative Autonomie der Bürokratie und die staatliche Sozialpolitik (zu der er auch das Bildungswesen rechnet). Und nicht zuletzt konterkarieren der allmähliche Aufstieg der Leistungsklassen und ihre sich ausprägende kollektive Identität die beiden (!) Besitzklassenmuster.85 Grafik 1: Klassen, Arbeiterklasse, Bourgeoisie und Junker im deutschsprachigen Schrifttum zwischen 1800 und 2000

Quelle: Google ngram viewer (https://books.google.com/ngrams). Relatives Vorkommen der Begriffe »Klassen«, »Arbeiterklasse«, »Bourgeoisie« und »Junker« in von Google Books erfassten deutschsprachigen Veröffentlichungen der Jahre 1800 bis 2000 mit einem Glättungsgrad (smoothing) von 10.

Wie unschwer zu sehen, befand sich das Klassenparadigma nach seinem Senkrechtstart in den 1960er Jahren im folgenden Dezennium bei den Historikern auf dem Höhepunkt (vgl. Grafik 1). Niemals zuvor wurde die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft stärker empfunden86 und noch bildete dieser Gegenstandsbereich eine Einheit. Im folgenden Jahrzehnt sollte sich zeigen, dass der einheitliche Gegenstandsbereich im Zeichen der Sozialgeschichte in der Erweiterung87 zu zerfasern begann, so dass eine kurze Zwischenbilanz angebracht scheint. Erstens war nun die hundertjährige Vorherrschaft der politischen Geschichte zu Ende; sie fand sich plötzlich in der Defensive und daher unternahm gelegentlich einer ihrer Anhänger den Versuch, auch sie theoretisch zu begründen.88 Nachdem sich die Sozialgeschichte – zweitens − nun etabliert hatte, waren 85 Jürgen Kocka, Stand – Klasse – Organisation. Strukturen sozialer Ungleichheit in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Aufriß, in: ebd., S. ­137–165. 86 In Kosellecks gleichnamigem Aufsatz kommen allerdings sozialhistorische Fragen nicht einmal am Rande vor. Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichte [1972], in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 298–316. 87 Werner Conze, Sozialgeschichte in der Erweiterung, in: Neue Politische Literatur 19 (1974), S. 501–508. Die Erweiterung nahm seither noch erheblich zu. 88 Andreas Hillgruber, Politische Geschichte in moderner Sicht, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), S. 529–552. Wehler replizierte darauf mit einer wie üblich scharf formulierten

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auch ihre auf das ganze Fach abfärbenden Vorzüge sichtbar. Zu diesen zählen die perspektivische Erweiterung der gesamten Disziplin, die Anschlussfähigkeit und darum auch Kooperation mit Nachbardisziplinen, die Wiederentdeckung verschütteter Traditionen und nicht zuletzt der Vergleich als nunmehr eigentlich geradezu zwingender Bestandteil moderner Geschichtswissenschaft. Es gab aber auch Probleme. Unverkennbar war nämlich drittens die Tendenz zu ihrer Verengung auf Arbeiter-, wenn nicht gar auf Arbeiterbewegungsgeschichte. Das hatte nicht nur mit marxistischem Traditionsüberhang zu tun, sondern auch damit, dass die in der Terminologie Max Webers durch ständische Lagen definierten Sozialklassen – Adel, Bürgertum, Bauern − schon bisher kaum von der Geschichtswissenschaft untersucht worden waren und auch trotz Hans Rosenbergs Initiativen vorerst noch ausgeblendet blieben. Viertens aber produzierte die Sozialgeschichte auch fragwürdige Ergebnisse, die das Fach zeitweise deutlich beeinflussten. Gemeint sind hier nicht Irrtümer in Detailfragen, sondern vor dem Hintergrund der Modernisierungstheorie die plakative Verbindung von Klassenanalyse und Sonderwegsthese89 und die weniger zur Kenntnis genommene Verbindung mit einem angeblichen »preußischen Weg«, wie er von der Agrargeschichtsschreibung der DDR bis zu deren Ende energisch verteidigt worden ist.90 Bemerkenswert ist schließlich fünftens, dass die Sozialgeschichtsschreibung in Deutschland ihren Aufschwung nahm, als die empirische Soziologie gerade dabei war, sich zur Beschreibung der bundesdeutschen Gegenwartsgesellschaft vom Klassenparadigma zu verabschieden.91 Die Historiker blieben Kritik: »Moderne« Politikgeschichte oder »Große Politik der Kabinette«?, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 344–369. Es antworteten Klaus Hildebrand, Geschichte oder »Gesellschaftsgeschichte«? Die Notwendigkeit einer politischen Geschichtsschreibung von den internationalen Beziehungen, in: Historische Zeitschrift 223 (1976), S. 328–357, und nochmals Hillgruber, Methodologie und Theorie der Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 27 (1976), S. 193–210. Hier lehnte er »jede Art von theoretisch fundiertem Rahmen als tendenzielle Verzerrung der Realität ab«. Vgl. Winfried Loth, Einleitung, in: ders. / Jürgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000, S. IX . 89 Nicht zufällig kam der erste prominente und grundsätzliche Widerspruch von britischer Seite, denn die Sonderwegsthese kann man auch als Verzeichnung der angelsächsischen Geschichte verstehen. Vgl. David Blackbourn / Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1980. 90 Vgl. Georg Moll, »Preußischer Weg« und bürgerliche Umwälzung in Deutschland, Weimar 1988. 91 »Der Staatsbürger ist der Feind der Klassen, weil er keine Menschen zweiter Klasse neben sich duldet«, heißt es programmatisch bei Dahrendorf, der dann unter Rückgriff auf T. H. Marshall fortfährt: »Auch dies ist ein möglicher Begriff von Klasse, eine ›Hierarchie des Status, [in der] der Unterschied zwischen einer Klasse und einer anderen in gesetzlichen Rechten und etablierten Sitten, die den wesentlich verbindlicheren Charakter des Rechtes tragen, Ausdruck findet‹«. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland [1965], München 51977, S. 86. Zum Hintergrund Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, Kap. IV.4. Könnte es sein, dass Lothar Gall seine berühmt gewordene For-

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daher, ob sie es wollten oder nicht, auf die produktive Auseinandersetzung mit Marx oder Weber fixiert92 – übrigens auch im konflikthaften Dialog mit den dogmatisch gebundenen Forschern in der DDR93 ‒, bis dann ab Ende der 1980er Jahre Lepsius’ Kategorie des sozial-moralischen Milieus große Beachtung fand,94 während Bourdieus Klassenbegriff, weil eigentlich in die Mentalitätsgeschichte führend, auch im Zeichen des cultural turn kaum rezipiert wurde.95 Kocka und Wehler gingen nach 1980 beim Thema ›Klassen‹ unterschiedliche Wege, was deren Einbettung in die Gesamtgeschichte betrifft. In seiner Skizze, dem 1983 erschienenen Vorspiel zu den drei Bänden des später zu besprechenden Großunternehmens, das Gerhard A. Ritter zusammen mit der Friedrich-EbertStiftung organisiert hat, entwickelt Kocka die »Weberianische Verwendung eines Marxschen Klassenbegriffs«.96 Das hat zur Folge, dass im Vergleich zum zehn Jahre zuvor erschienenen Weltkriegsbuch der Konflikt als Grundbedingung geschichtlicher Prozesse zurücktritt, die sozialgeschichtliche Ermittlung umso wichtiger wird. Sein hier präsentiertes Modell von Klassenbildung hat vier Dimensionen: die allgemeinen Rahmenbedingungen, Lohnarbeit, Entstehung eines Bewusstseins von Gemeinsamkeit als Folge gleichartiger Strukturen von Arbeit, Wohnen, Lebensläufen und -stilen, Heiratsbeziehungen und Denkgewohnheiten, sowie Konflikte, sofern ein gesellschaftlich und politisch handlungsfähiges Kollektiv vorhanden ist.97 Dieses »Modell ist nicht teleologisch«, sondern kontingent bis zu dem Grad, dass es auch wieder zu einem »Prozeß der Klassen-Entbildung, der Devolution« kommen kann.98 Kocka spielt sein Modell an fünf Gruppen durch, dem Gesinde, den Land- und Heimarbeitern, mel von 1975, der vormärzliche Liberalismus habe eine »klassenlose Bürgergesellschaft ›mittlerer‹ Existenzen« angestrebt, dieser Zeitströmung verdankt? In den Quellen findet sie sich jedenfalls nicht. Vgl. Lothar Gall, Liberalismus und ›bürgerliche Gesellschaft‹. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland [1975], in: ders., Liberalismus, Königstein / Ts. 21980, S. 162–186, hier S. 176. 92 Dass Michels und Schumpeter übersehen bzw. ausgeblendet wurden, notieren Friedrich Lenger / Dietmar Süß, Soziale Ungleichheit in der Geschichte moderner Industriegesellschaften, in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 3–24, hier S. 9. 93 Beispielhaft für die Zeit des Kalten Krieges ist Klaus von Beyme, Art. Klassen, Klassenkampf, in: Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft, Bd. 3, Freiburg 1969, Sp. 633– 669. Von namhaften Beiträgen der Geschichtswissenschaft weiß der Artikel noch so gut wie nichts. 94 Dazu Gangolf Hübinger, »Sozialmoralisches Milieu«. Ein Grundbegriff der deutschen Geschichte, in: Sigmund Steffen (Hg.), Soziale Konstellation und historische Perspektive. Festschrift für M. Rainer Lepsius, Wiesbaden 2006, S. 297–327. 95 Bourdieus Klassenbegriff referiert Ingrid Gilcher-Holtey, Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 111–130, besonders S. 116–120, aber in ihren praktischen Ableitungen dominiert hier nicht zufällig die Kultursoziologie. 96 Jürgen Kocka, Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800–1875, Bonn 1983, Überschrift S. 21. 97 Ebd., S. 23–30. 98 Ebd., S. 28 f.

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Handwerksgesellen und Fabrikarbeitern, und kommt, was die soziale Klassenbildung betrifft, zu einem differenzierten Ergebnis: Erstens verengt sich der Begriff ›Arbeiter‹ zunehmend auf den Lohnarbeiter, was Folgen für die Rekrutierungschancen mindestens der ersten drei Gruppen hat. Zweitens nimmt der proletarische Erfahrungs- und Lebenszusammenhang zu und drittens verengen sich die Konflikte auf die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und verstärken so ebenfalls »das Fortschreiten des Klassenbildungsprozesses«, obwohl dieses »auch in den 70er Jahren sehr begrenzt« blieb.99 Von der Existenz einer Arbeiterklasse könne nur »in gewissen Hinsichten« gesprochen werden. Das Buch endet mit einem völlig konträr zu Marx’ Aussagen stehenden Paradoxon, dass nämlich damals Klassenbewusstsein umso leichter entstand, je stärker »vor-industriekapitalistische Traditionen« fortexistierten und vom Prozess der Industrialisierung herausgefordert worden sind.100 Diese Skizze hat Kocka seither in drei umfangreichen Büchern101 zu einem eindrucksvollen Gesamtbild der Arbeits- und Lebenswelt der deutschen Arbeiterbevölkerung zwischen 1800 und 1870 ausgebaut. Er belässt es beim klassenanalytischen Vorgehen, vermeidet aber vor allem durch ausgiebigen Rückgriff auf soziale und kulturelle Dimensionen jeglichen Determinismus. Vor allem letztere sind im Verhältnis zur Skizze ungemein erweitert und eine stillschweigende Absage an seine einstmals verlangte Entscheidung zwischen »Klassen oder Kultur«.102 Jetzt ist Differenzierung das Grundprinzip und diese wird sichtbar, weil sich Kocka anders als Wehler den seit den 1990er Jahren vorgetragenen Anregungen der neuen Kultur- wie Ideengeschichte nicht verschlossen hat. Mit seinem Riesenwerk Deutsche Gesellschaftsgeschichte versuchte Wehler die Überlegenheit der strukturalistisch angelegten Sozialgeschichte für den langen Zeitraum zwischen 1790 und 1990 zu demonstrieren, d. h. mittels ein und demselben Zugriff die von zwei industriellen Revolutionen durcheinandergeschüttelte Gesellschaft in ein Gesamtpanorama einzubetten.103 Beschränkt man sich bei der Analyse auf einen, der Vergleichsmöglichkeiten halber den dritten Band, der von 1849 bis 1914 reicht – alles andere sprengte den hier verfügbaren Raum −, so empfiehlt sich für das Thema ›Klasse‹ ein doppelter Vergleich: mit seinem Kaiserreich von 1973 und mit Kockas eben besprochenen Büchern. Denn Wehler trennt seine nunmehr vier Achsen Wirtschaft, Gesellschaft, Herrschaft und Kultur so deutlich, dass sie sich, anders als etwa bei Nipperdey, auch durchaus gesondert betrachten lassen. Im Vergleich zu 1973 fällt das Fehlen einer alles überwölbenden Hauptthese auf; dem sind auch zahlreiche andere 99 Ebd., S. 161. 100 Ebd., S. 201, 203. 101 Näheres siehe Anm. 110. 102 Jürgen Kocka, Klassen oder Kultur? Durchbrüche und Sackgassen in der Arbeitergeschichte, in: Merkur 36 (1982), S. 955–965. 103 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987–2008. Bei dieser Meisterleistung fällt darum unwillkürlich auf, wie sehr sich die Geschichtswissenschaft im Laufe der zwanzig Jahre verändert hat, die Wehler zum Schreiben benötigt hat.

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provokante Aussagen zum Opfer gefallen, etwa der ›Organisierte Kapitalismus‹ oder Bismarcks ›Halbdiktatur‹ (sie hat Wehler mit einer neuen ›paradigmatischen Superwaffe‹, dem Charisma, ersetzt). Die Klassengeschichte fällt für das Erscheinungsjahr 1995 ausgesprochen konventionell aus. »Die Expansion der marktbedingten Klassen […] war die mächtigste Grundtendenz der sozialstrukturellen Entwicklung«,104 lautet der Leitgedanke, und daher ist man überrascht, dass Wehler das Bürgertum mit dreißig Seiten enorm privilegiert, während dem »Industrieproletariat im Konstituierungsprozeß« nur siebzehn, den anderen Klassen noch weniger Seiten zugestanden werden.105 Wehler deklariert die Epoche nicht wie Wolfgang J. Mommsen als ›bürgerliches Zeitalter‹, sondern lässt das allenfalls Zeitgenossen sagen,106 behandelt sie aber jedenfalls quantitativ als solche. Was er zur sich homogenisierenden »sozialen Klasse« der Arbeiter berichtet, ist informiert, bleibt aber in der Differenziertheit naturgemäß weit hinter Kocka zurück und ist frei von Originalität. Alle nicht ›marktbedingten‹ Erscheinungen sind nur schwach konturiert, umso klarer die Ansage des sozialstrukturellen Trends zwischen 1849 und 1871/73: die »Bourgeoisie im Aufstieg«, das »Bildungsbürgertum in der Ausweitung«, das »Stadtbürgertum im Zerfall«, das »Industrieproletariat im Konstituierungsprozeß«, nur zu Adel, Bauern und ländlichen Unterschichten fällt Wehler kein Prozessbegriff ein.107 Im Abschnitt 1871–1914 entfällt dann selbst beim ›Industrieproletariat‹ der Prozessbegriff: »Die Klassen der Arbeiterschaft« heißt es da nur, aber im Text ist dann vom »anhaltenden Proletarisierungsprozeß« die Rede, Folge der »Ausbreitung der besitzlosen Lohnarbeit«; die Verdoppelung der Reallöhne in derselben Zeit stehe dem nicht entgegen.108 Das alles ergab ein »hohes Spannungspotential«, dem das Kaiserreich mit Reformbereitschaft immer wieder entgegenkam, bis dann die »erbarmungslose Druckkammer des Ersten Weltkriegs […] die gesellschaftlichen Antagonismen bis zu jener Gefahrenmarke« hochtrieb, dass »der revolutionäre Bürgerkrieg nicht mehr zu vermeiden war«.109 Dieses mechanistische Geschichtsbild klingt eindrucksvoll, ist aber unterkomplex.

104 Ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 106. 105 Teil 5, Kap. III . In Teil 6, Kap. III, sind die Relationen dieselben. Muss man auf das große Bielefelder Forschungsunternehmen zur Geschichte des Bürgertums als denkbare Ur­ sache noch eigens hinweisen? 106 Ebd., S. 189 (Stimmen), 195 (Viktor Hehn). 107 Teil 5, Kap. III: Überschriften. In Teil 6 (1871–1914), Kap. III, ist nun statt vom Stadtbürgertum die Rede vom »Kleinbürgertum in der Expansion«. 108 Ebd., S. 773, 775 f. 109 Ebd., S. 847.

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4. Der Niedergang des Klassenparadigmas Der Niedergang des Deutungsmusters ›Klasse‹ setzte − wie könnte es auch anders sein? − auf seinem Höhepunkt ein. Der Glanz der Sozialgeschichte, d. h. ihrer Repräsentanten und deren Deutungen, leuchtete weiterhin, er hielt sich vielleicht außerhalb der Universität noch stärker als innerhalb, weil etliche Jahrgangskohorten von Lehrern das im Seminar Gelernte weitergaben und die Schulbücher schon aus Kostengründen die alten blieben, aber auch weil mittlerweile der sozialhistorische Ertrag vielfach leicht fasslich in Handbüchern, Readern, Studienbüchern usw. aufbereitet war. Auch erschienen natürlich weiterhin bedeutsame Beiträge, am auffallendsten die großen Gesamtdarstellungen. Sie sind vielleicht das sichtbarste Zeichen einer in ihre Reife-, wenn nicht schon Spätphase eintretenden Disziplin. Zu diesem Genre zählt neben Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte die bereits genannte monumentale, von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierte Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.110 Zwangsläufig vertritt sie theoretisch einen durchaus irenischen Umgang mit dem Klassenparadigma. Kocka versuchte dort, wie beschrieben, die Formierungsphase der deutschen Arbeiterbewegung in Anlehnung an Max Weber mit den Begriffen Stand und Klasse zu analysieren, Ritter und Tenfelde entschieden sich für die Verwendung aller drei soziologischen Grundkategorien Stand, Klasse und Schicht, Winkler orientierte sich für die Weimarer Zeit einleuchtend an Geigers Schichtungsmodell, während schließlich Schneider im Blick auf die Klassenbildung bzw. -rückbildung im Dritten Reich sich explizit gegen die seinerzeit als Durchbruch gefeierte Studie Masons111 und für eine Kombination von Klasse als Gemeinschaft der Lohnabhängigen und sozialmoralischem Milieu entschied. Kleßmann und Hübner versuchen der Schwierigkeit, den »Arbeiter- und Bauernstaat« DDR angemessen zu beschreiben, mit den 110 Sie ist trotz inzwischen 14 erschienenen Bänden noch immer unabgeschlossen. Vgl. Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990; ders., Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990; ders. Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Bonn 2015; Jürgen Schmidt, Brüder, Bürger und Genossen. Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830–1870, Bonn 2018; Ritter / Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich; Heinrich August Winkler, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, 3 Bde., Bonn 1984–1987; Jürgen Schneider, Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933–1945, 2 Bde., Bonn 1999/2014; Christoph Kleßmann, Arbeiter im »Arbeiterstaat« DDR . Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945–1971), Bonn 2007; Peter Hübner, Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971–1989. Zwischen Fordismus und digitaler Revolution, Bonn 2014. 111 Tim Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1975. Mason betonte vor allem die Elemente der politisch motivierten Widersetzlichkeit, während Schneider Wert auf die Ambivalenzen legt.

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Kategorien Klasse und Milieu Herr zu werden und behelfen sich dabei gelegentlich mit distanzierenden Anführungszeichen. Umstritten ist die Sicht auf die jüngere Vergangenheit. Wehler riskierte beiläufig 1995 einen Ausblick auf die Zeit des sog. Wirtschaftswunders und attestierte der westdeutschen Arbeiterklasse als Folge der »Wohlstandsschübe […], des weitgespannten sozialen Sicherheitsnetzes und der Konsenspolitik eine tiefreichende Heterogenisierung und Entstrukturierung«.112 Damit befand er sich in Übereinstimmung mit dem common sense der Bundesbürger, aber auch mit der Soziologie, die im Zeichen von Wertewandel und anderen Indikatoren von ›Klassen‹ in der Bundesrepublik immer weniger zu sprechen geneigt ist.113 Mooser hatte das zehn Jahre vorher gänzlich anders gesehen, jedenfalls was die Arbeiter betrifft. Die Arbeiterklasse existiere auch in der Bundesrepublik. Sie sei einerseits in der Tat entproletarisiert, andererseits als soziale Klasse aber weitgehend homogenisiert, wobei drittens der gesellschaftliche Bedeutungsgehalt der Klassenzugehörigkeit verblasse. Es bestimmten jedoch »die grundlegende Kontinuität der Lohnarbeit« und die »Grenzen der Lebensmöglichkeiten« weiterhin den Gesamtzusammenhang der Arbeiterexistenz.114 Entschieden ist der Dissens bisher nicht. Axel Schildt sprach deshalb von »Pluralisierung der Perspektiven«. Die Forschung schwanke bei der Sozialgeschichte der Bundesrepublik zwischen der »mittlerweile selbstverständlichen Berücksichtigung unterschiedlicher Klassen, Schichten und Milieus« und »neuerdings« auch des Geschlechts und den von Soziologen wie Popitz und Berger übernommenen Aussagen zum Verschwinden des Klassenbewusstseins der Arbeiterschaft zwischen 1950 und 1970.115 Die »Pluralisierung der Perspektiven« könnte überhaupt als Motto für die Bilanz des Umgangs der Geschichtswissenschaft mit dem Klassenparadigma gelten. Niemand muss sich heute mehr rechtfertigen, dass er mit einem Klassenkonzept arbeitet, geschweige denn Sanktionen fürchten, aber auch niemand muss das tun. Auch das bedarf keiner Rechtfertigung, und dies zeigt vielleicht besser als vieles andere, wie wenig die Sozialgeschichte die deutsche Geschichts112 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 773. 113 Vgl. Wehlers Gewährsmann M. Rainer Lepsius, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland. Lebenslagen, Interessenvermittlung und Wertorientierung, in: Wehler (Hg.), Klassen, S. 166–209. 114 Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt am Main 1984, S. 235. Vgl. auch Moosers Aufsatz: Abschied von der »Proletarität«. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze / M. Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143–186. 115 Axel Schildt, Sozialgeschichte der Bundesrepublik, München 2007, S. 101, 20 f., 31–33. Er beruft sich auf Heinrich Popitz u. a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen 1957, und auf Peter A. Berger, Entstrukturierte Klassengesellschaft? Klassenbildung und Strukturen sozialer Ungleichheit im historischen Wandel, Opladen 1986.

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wissenschaft zu prägen vermocht hat. Sehr gut belegen das die Handbücher, wo ab den 1970er Jahren von ›Klassen‹, ›Klassenbewusstsein‹ und ›Klassenkampf‹ die Rede ist, jedoch meist referierend und nur ganz selten die Analyse leitend. Dazu passt, dass diese Begriffe ganz überwiegend in den Kapiteln oder Abschnitten zur Industriellen Revolution auftauchen.116 Zwar ist man überrascht, wenn man hin und wieder auf Überlegungen stößt, ob das Klassenkonzept gar auf die Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit anwendbar sei,117 doch ändert das nichts am Gesamteindruck, dass sich das Klassenparadigma − wie die Sozialgeschichte überhaupt – im Niedergang befindet. Nach den Gründen muss man nicht lange suchen. Sie hängen natürlich zusammen, werden aber aus analytischen Gründen hier getrennt. Zum einen liegen sie auf der Ebene der gesellschaftlichen Realitäten. Keinem aufmerksamen Beobachter entgeht, wie sehr die moderne Gesellschaft in raschem Wandel ist und wie sehr sich mit ihr die Facetten der sozialen Ungleichheit ändern, ohne dass einem selbst die Fachleute mit überzeugenden Deutungen helfen würden – und zwar desto weniger, je mehr wir uns der Gegenwart nähern. Die Vorschläge zur Kennzeichnung der Gesellschaft nach dem Strukturbruch der Moderne, d. h. ›nach dem Boom‹, die der Auflösung der sozialen Klassen Rechnung zu tragen versuchen, sind kaum noch zu überblicken. In der Soziologie wird seit einiger Zeit jedes Jahr eine neue Art von Gesellschaft ausgerufen, in der wir leben.118 Das wirkt nicht eben hilfreich. Im Grunde ist die Situation derzeit folgende: Dass seit dem Ende der Industrie­ moderne der soziale Wandel geradezu revolutionäre Qualität angenommen hat119 und die Ungleichheit (wieder) zunimmt, ist offensichtlich, aber dass die116 Hermann Aubin / Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 2, Stuttgart 1976; Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981; Friedrich Lenger, Industrielle Revolution (Gebhardt, 10. Aufl., Bd. 15), Stuttgart 2005. Wolfgang J. Mommsen, Erster Weltkrieg (Gebhardt, 10. Aufl., Bd. 17), Stuttgart 2002, und Rolf-Dieter Müller, Zweiter Weltkrieg (Gebhardt, 10. Aufl., Bd. 21), Stuttgart 2004, verwenden beiläufig ein- bzw. zweimal ›Klasse‹. In den ersten neun Auflagen des Gebhardt, deren letzter Band 1976 erschien, findet sich der Begriff überhaupt nicht. Ebensowenig in Wolfgang Zorns Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, München 1972; von Theorien ist dort nur im wirtschaftsgeschichtlichen Teil die Rede. 117 Eberhard Weis, Gesellschaftsstrukturen und Gesellschaftsentwicklung in der frühen Neuzeit, in: Karl Bosl / Eberhard Weis, Die Gesellschaft in Deutschland, Bd. 1, München 1976, S. 131–287, hier S. 131, 133; Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit (EDG , Bd. 34), München 22013, S. 56, 66, 77, 84. 118 Einige Beispiele werden vorgestellt in: Georg Kneer u. a. (Hg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997. Eine weithin andere Liste bei Armin Pongs (Hg.), In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich, München 2000. 119 Dies die Grundthese von Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 16 f. und Kap. 1. Ausführlicher und international vergleichend zuletzt Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, in dessen Zentrum der vielgestaltige »Abschied« steht.

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ser Vorgang mit dem Adjektiv ›sozial‹ angemessen erfasst wird, glauben immer weniger Menschen.120 Davon ist auch ›Klasse‹ betroffen, weil sie nur die vertikale Dimension der Struktur sozialer Ungleichheit anspricht und sich dabei auf Großgruppen beschränkt. ›Klasse‹ entstammt dem sozialpolitischen Begriffsarsenal des frühen 19. Jahrhunderts und ist im Deutschen außerdem sozialwissenschaftlich determiniert, die grundverschiedene Gegenwart verlangt andere Ordnungsmuster. Die Systemtheorie spricht von ›Exklusion‹, Castel von ›Entkoppelung‹, Reckwitz von der ›Gesellschaft der Singularitäten‹, Beck hingegen vom »Ende der traditionalen Großgruppengesellschaft«, denn er war skeptisch, ob sich ›die‹ Gesellschaft überhaupt noch unter einem Oberbegriff fassen lassen würde.121 Diese Skepsis ist nicht unberechtigt. Das Meinungswissen bevorzugt ›Schicht‹,122 und der Umstand, dass sich weder Sozialwissenschaft noch die Historiker heutigentags auf ein Beschreibungsmodell einigen können, lässt einstweilen nur den Schluss zu, dass wir die Phase der ›neuen Unübersichtlichkeit‹ (Habermas) noch nicht hinter uns gelassen haben. Der andere Grund liegt in der Geschichtswissenschaft selber, deren Deutungsangebote so zeitbedingt sind wie alles andere. Das in einer Frühphase der Industrialisierung entwickelte und von der modernen Sozialgeschichtsschreibung theoretisch angereicherte Klassenparadigma war Bestandteil einer Handvoll Großerzählungen, die mit der Krise bzw. dem Untergang dieser industriegeprägten Geschichtsepoche ab den 1960er Jahren zeitverzögert ebenfalls in die Krise gerieten. Schon 1963 beklagte Edward P. Thompson, »man neigt heute allenthalben zu der Annahme, Klasse sei etwas Konkretes, Reales«. Sie sei in Wahrheit aber »nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle Formation«, die deshalb ›von unten‹ rekonstruiert werden müsse, von den Erfahrungen aller Arten von Arbeitern aus.123 Thompson war daher einer der ersten, die sich vom »materialistischen Paradigma«124 befreit haben, und sein 120 Das ist mein Einwand gegen den ansonsten bemerkenswerten Aufsatz von Christoph Weischer, Soziale Ungleichheiten 3.0, Soziale Differenzierungen in einer transformierten Industriegesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 305–342. 121 Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237–264; Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 22008, S. 13; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017; Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, S. 120. 122 Reiner Geißler / Sonja Weber-Menges, »Natürlich gibt es heute noch Schichten!« – Bilder der modernen Sozialstruktur in den Köpfen der Menschen, in: Helmut Bremer / A ndrea Lange-Vester (Hg.), Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur. Die gesellschaftlichen Herausforderungen und die Strategien der sozialen Gruppen, Wiesbaden 22014, 106–131. 123 Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse [engl. 1963], Bd. 1, Frankfurt am Main 1987, S. 8, 12. Es ist in unserem Zusammenhang unerheblich, dass Thompsons Hauptthesen inzwischen auch schon wieder bestritten werden. 124 Detlev Mares, Abschied vom Klassenbegriff. Viktorianische Arbeiterbewegung, politische Sozialgeschichte und linguistic turn in England, in: Neue Politische Literatur 42 (1997), S. 378–394, hier S. 379.

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Beispiel, auf ›Gesellschaft‹ als von vornherein unzureichendem theoretischem Modell und damit auf Statistiken und Tabellen zu verzichten zugunsten der Fülle symbolischer Beziehungen, wurde zunächst von der alltagsgeschichtlich inspirierten Fraktion,125 später aber auch von manchem ›Bielefelder‹ und anderen Sozialhistorikern befolgt. Auf Dauer hat die Verbindung von ›Klasse‹ mit ›Kultur‹ dieser »Großgruppen-Doxa« nicht viel genützt, auch wenn sie ›nach dem Boom‹ nicht rundweg verschwunden ist.126 Seit den 1990er Jahren entwickelte die erneuerte Kulturgeschichte einen ähnlich hegemonialen Anspruch wie zuvor die Sozialgeschichte und brachte eine bis heute wohl unabgeschlossene Reihe von turns hervor. Von diesen erwies sich der linguistic turn in seiner radikal dekonstruktivistischen Variante als die größte Herausforderung (nicht nur) für das Klassenparadigma, da er eine Trennung zwischen ›Realem‹ und Sprache verwirft. Alles sei nur sprachlich konstruiert, auch soziale Kategorien und Identitäten, und folglich müssten »nicht gesellschaftliche Verhältnisse in ihren Strukturen, sondern die sprachlichen Konventionen über diese Verhältnisse, intertextuelle Strukturen, […] Gegenstand von Geschichte« werden.127 Das Soziale ist aus dieser Perspektive nur noch intertextuelles Beziehungsmuster. Ob die von Thomas Welskopp vorgestellten theoretischen Umorientierungen und methodischen Erweiterungen die Gesellschaftsgeschichte retten, muss abgewartet werden. Er immerhin ist zuversichtlich, dass sie dann »die Klassenstruktur moderner Gesellschaften in ihrem Formenwandel und in ihrer Formenvielfalt auf die jeweilige Bedeutung für die soziale Praxis befragen [wird] – nicht nur die Praxis der Arbeiter, sondern auch der professionellen Berufe, der Unternehmer und anderer Sozialgruppen« und so »wichtige Beiträge zu einer gesellschaftstheoretischen Neuorientierung« liefern kann.128

125 Eine scharfe, stellenweise selbstgerechte, allerdings nicht öffentlich gemachte Kritik der ›Bielefelder‹ Sozialgeschichte formulierten 1977 Alf Lüdtke und Hans Medick, Geschichte für wen? Grenzen und Notwendigkeit des Reformismus in der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in: Belinda Davis u. a. (Hg.), Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen, Frankfurt am Main 2008, S. 43–58. Der Hauptvorwurf lautete, ›Bielefeld‹ übersehe mit seiner Entscheidung für die Abstrakta ›Gesellschaft‹ und ›Klasse‹ die vielgestaltige Wirklichkeit. Blickt man auf die zitierten Berufungsinstanzen, so zeigt sich: Im Grunde streiten hier angelsächsischer Pragmatismus und französischer Poststrukturalismus, weshalb die Sache gar nicht zu entscheiden ist. Die zeitgenössische Reaktion auf dieses Papier referiert knapp Hans Medick, »Geschichte für wen?« Zu einem anstößigen Text von Alf Lüdtke und Hans Medick aus dem Jahr 1977, in: ebd., S. 29–43. 126 So jedoch Reitmayer, Ordnungsentwürfe, S. 62 f. 127 Thomas Welskopp, Klasse als Befindlichkeit? Vergleichende Arbeitergeschichte vor der kulturhistorischen Herausforderung, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. ­301–336, hier S. 307. 128 Ebd., S. 333 f.

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5. Schlussbilanz Eine knappe Schlussbilanz soll das hier Festgehaltene in sechs Punkten gewissermaßen auf den Begriff bringen. Erstens: Vorweggeschickt sei die Beobachtung, dass das hier Verhandelte von einem auffallenden Gender-Bias gekennzeichnet ist, der auch in der jüngeren Vergangenheit nicht abgenommen hat: Es handelt sich um eine offensichtlich eminent männliche Materie. Für die Sozialgeschichte insgesamt lässt sich das zum Glück nicht sagen, aber Frauen spricht jedenfalls das Klassenthema nicht an – auch nicht, seitdem sich im Zuge des cultural turn der Kreis der Fragen und der Quellen erweitert hat. Zweitens: Der zeitliche Verlauf deckt sich mit der für andere Länder beobachteten Periodisierung.129 Die an einer Hand abzählbaren Vorläufer im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts blieben krasse Außenseiter ohne Aussicht auf Chancen im akademischen Betrieb. Auch wenn die Ächtung der Sozial- und Arbeitergeschichte – lange Jahre waren beide Themen so gut wie identisch – im Deutschen Reich und dann in Westdeutschland schärfer ausgeprägt war als anderswo, ist hier keine epistemische Verspätung zu beobachten, musste doch überall die politische Geschichte ihren Primat erst im Rahmen der Sinnkrise der Nationalstaaten nach 1945 aufgeben. Generationsumbruch, Reformphase und Universitätsausbau taten ein Übriges zum Aufbruch der sozialgeschichtlichen Alternative, die bereits in den 1970er Jahren einen Hegemonialanspruch vertrat. Quantitativ konnte davon jedoch keine Rede sein und zwanzig Jahre später war, wie geschildert, von ›Klasse‹ selbst unter kulturgeschichtlichen Vorzeichen kaum noch die Rede. Die genannten Großdarstellungen ragen gewissermaßen wie Monumente vergangener Tage in die Wissenschaftslandschaft. Das historiographische Interesse wandte sich offensichtlich anderen Themen zu, von ›Klasse‹ erwartet sich heute die Geschichtswissenschaft kaum noch eine Antwort auf ihre Fragen. Drittens: Welche Erkenntnisfortschritte sind denn dem Klassenparadigma überhaupt zu verdanken? Sieht man vom dogmatisierten Marxismus ab, der im Deutschen ganz überwiegend auf die DDR beschränkt geblieben ist, wird man feststellen, dass eine von ›Klasse‹ strukturierte deutsche Geschichte nicht geschrieben worden ist. Am nächsten kommen ihr die Beiträge von Kehr, Hans Rosenberg, Wehlers Kaiserreich und Kockas Erster Weltkrieg, deren Schwerpunkt, vom letzten Titel abgesehen, auf Preußen liegt. Das hatte nicht nur soziale Gründe – kein deutscher Staat wies eine größere gesellschaftliche Vielfalt auf −, sondern hängt natürlich auch mit der politischen Rolle Preußens vor und nach der Reichsgründung zusammen. Preußen war das einzige Land, dessen Geschichte nach 1806, vor allem nach 1848/50 mit einiger Plausibilität 129 Vgl. dazu Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 22010, Kap. X.

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als Klassenkampf dargestellt werden konnte. Das war seit Marx’ und Engels’ Zeiten so, die Kathedersozialisten hatten dieselbe Perspektive und erst recht die Sozialdemokraten. Kurz: Die politische Schlagseite der Beiträge zur preußischdeutschen Klassengeschichte ist offensichtlich, denn neben ihrer analytischen verspür(t)en die Autoren immer auch eine volkspädagogische Mission. Im Klartext: Der Sonderweg war wichtiger als die Klasse, jedenfalls seit Eckart Kehr. − Wo es nicht um die preußisch-deutsche Geschichte ging, befasste man sich aus Klassenperspektive ganz überwiegend mit den Arbeitern. Auch das war seit Marx’ und Engels’ Zeiten so und deshalb ist es kein Zufall, dass die abstrakten Klassen(bildungs)merkmale am Beispiel der Arbeiter entwickelt wurden  – es sei denn, man interessierte sich wie Max Weber für soziale Klassen, wo dann auch die ständische Lage ins Spiel kommt. Jedenfalls sind Literaturproduktion und Erkenntniszuwachs zum Thema Arbeiterschaft mit Abstand am größten. Viertens: Das hat seine Gründe auch in dem Umstand, dass die Vorstellung, in einer Klassengesellschaft zu leben – und entsprechend zu handeln – in Deutschland selbst im Kaiserreich und der Weimarer Republik »nur innerhalb der organisierten Arbeiterschaft sowie unter einigen dieser nahestehenden und deshalb marginalisierten Sozialwissenschaftlern und Intellektuellen verbreitet« war.130 Da die organisierte Arbeiterschaft nie auch nur annähernd die Bevölkerungsmehrheit stellte, beschränkte sich die Selbstanerkennung als Klasse, wenn man die Familienangehörigen miteinbezieht, am Ende der Weimarer Republik auf ungefähr zehn Prozent der Deutschen.131 Nach 1945, im Zeichen der Sozialpartnerschaft und anderer befriedender Instrumente nahm die Neigung der Westdeutschen, sich als in einer Klassengesellschaft lebend zu empfinden, noch mehr ab. Angesichts sich drastisch verschärfender Ungleichheitsmerkmale, die die bundesrepublikanische Gesellschaft entschlossen ignoriert, attestierte der darüber empörte Wehler 2006, es handle sich bei ihr um eine »verschämte Klassengesellschaft«.132 Fünftens: Die Bürgertumsforschung hat von der Konjunktur des Klassenparadigmas kaum profitiert. Die großformatigen Forschungsprojekte in Frankfurt und Bielefeld entstanden wohl unabhängig davon und haben den Abstand zu ihm eher noch befördert. Das hat auch damit zu tun, dass diejenige bürgerliche Fraktion, die am ehesten als Klasse, marxistisch gesprochen also die ›Bourgeoisie‹, verstanden werden kann, dabei weitgehend ausgespart worden ist. Hinzu kommt die bekannte Neigung dieses Gesellschaftsteils zu emphatischen 130 Reitmayer, Ordnungsentwürfe, S. 46. 131 SPD und KPD hatten 1930 zusammen ca. 1,1 Millionen Mitglieder, bei großzügiger Schätzung kommt man samt Familienmitgliedern auf ca. 6,5 Millionen Menschen, was einem Bevölkerungsanteil von 10 % entspricht. Der als Unterschicht geltende Bevölkerungsanteil lag dagegen bei über 70 %. Parteiangehörige nach Winkler, Arbeiterbewegung, Bd. 3, S. 584, 595. Die Unterschicht berechnete Geiger, Schichtung, Übersicht I: ca. 45,8 Millionen; Geiger spricht hier vom »Proletariat« bzw. von »proletarischer Lage«. 132 Hans-Ulrich Wehler, Verschämte Klassengesellschaft, in: DIE ZEIT Nr. 48, 23.11.2006; https://www.zeit.de/2006/48/Unterschicht (aufgerufen am 25.1.2019).

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Selbstporträts, die dem Klassenparadigma nicht zu huldigen pflegen. Das deutsche Bürgertum kann sich also weiterhin mit der wissenschaftlich ›bestätigten‹ Tatsache beruhigen, eher keine Klasse zu sein. Es hat das ja nie sein wollen133 und dabei kam ihm die Semantik mehr als in anderen Sprachen zu Hilfe. Sechstens: Am Ende seien noch drei Bemerkungen zu (west)deutschen Besonderheiten angefügt: a. Die Rezeption des linguistic turn in Deutschland fiel eklektizistischer und theoretisch schwächer aus als anderswo. Die offensichtlichen Mängel kulturalistisch geprägter Vorstöße machten die Sozialgeschichte selbstzufrieden134 und darum auch weniger bereit, die eigenen Positionen kritisch zu überprüfen. Die modernisierungsaffine Klassentheorie Bielefelder Prägung wurde von ihren Hauptvertretern daher nur behutsam angepasst, so wie diese auch die Sonderwegsthese modifizierten, aber nicht aufgaben. Im internationalen Vergleich fiel darum spätestens seit den 1990er Jahren die deutsche Sozialgeschichte zurück. Ob das auch für das Klassenparadigma gilt, muss offen bleiben. b. Die deutsche Spaltung und als Folge zwei vollkommen unterschiedlich verfasste Geschichtswissenschaften in einem Land war eine im Westen einmalige Konstellation. Sie verstärkte bzw. legitimierte alte Berührungsängste gegenüber allem, was mit Kommunismus in Zusammenhang zu bringen war,135 und hatte ein bis zum Kontaktverbot mit ›bürgerlichen‹ Historikern reichendes Distanzgebot jenseits des Eisernen Vorhangs zur Folge. ›Klasse‹ und namentlich ›Klassenkampf‹ waren in der DDR offizielle Begriffe der Selbstdeutung und gerade deshalb zumeist floskelhaft gebraucht.136 Trotzdem herrschte in Westdeutschland ein verbreitetes Unbehagen, sich mit diesen Themen zu befassen. Zeitweise stand darum die gesamte deutsche Sozialgeschichte im Verdacht, ein linkes, wenn nicht gar linksradikales Projekt zu sein. Eine solche Situation war dem vorurteilsfreien Umgang mit ›Klasse‹ alles andere als förderlich. c. Stiefkind der (west)deutschen Klassenforschung sind die Bauern, deren Erforschung durch den ausgesprochen inhomogenen Charakter dieser Sozialgruppe erschwert ist, weshalb Bauern, Pächter und Landarbeiter oft zu133 Reitmayer, Ordnungsentwürfe, S. 48, vertritt sogar die These, dass das deutsche Bürgertum nur zwischen 1850 und 1950 zwar keine Klasse habe sein wollen, aber auch über kein alternatives Ordnungsmuster verfügte, und deshalb als Großgruppe nicht habe handeln können. Daher seine politische Schwäche in diesen hundert Jahren. 134 Welskopp, Klasse als Befindlichkeit, S. 311. 135 Das war kein neues Phänomen. Siehe Anm. 46. 136 Die Amalgamierung von ›Klasse‹ und ›Nation‹ war unter diesen Umständen in der DDR schwieriger als anderswo, kam aber im Zeichen der Debatte um die »frühbürgerliche Revolution« seit 1960 einen entscheidenden Schritt voran. Wesentlich daran beteiligt war Max Steinmetz, als Ritter-Schüler und SA-Mitglied Prototyp der von Raphael beschriebenen Anpassungsstrategie nationalgesinnter ›bürgerlicher‹ Historiker mittels dem nationalisierten Klassenparadigma. Vgl. Raphael, Geschichtswissenschaft, S. 57–59.

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sammengeworfen werden. Der Rückstand hat aber andere Ursachen. Es war die von der Zäsur von 1945 nur angeschlagene und alsbald ›weichgespülte‹ Bauerntumsideologie, die zusammen mit der verloren gegangenen Anschauung der ostelbischer Agrarverfassung die Vorstellung von Klassenverhältnissen auf dem Lande von vornherein behindert hat. ›Klassen‹ gehören zum Kapitalismus und was jemals in Deutschland über den Agrarkapitalismus geschrieben worden war, hat diesen noch bis vor kurzem fast stets aus dem Blickwinkel des Kathedersozialismus betrachtet und dementsprechend als Fehlentwicklung und dem Untergang bestimmte Erscheinungsform geschildert, die nur durch den Einfluss der ›Junker‹ am Leben gehalten worden sei. Hinzu kam, dass der Marxismus ein reichlich unzutreffendes Bild der Bauern entworfen hatte. So erklärt sich, dass in der DDR mit wenigen Ausnahmen137 ein wirklichkeitsfremdes, aber dogmatisch verfestigtes Bild der ländlichen Klassenverhältnisse und -kämpfe gezeichnet wurde, während in der Bundesrepublik die brillante Studie Moosers über die westfälischen Heuerlinge praktisch ohne Nachahmung blieb.138 Aus vielerlei Gründen pflegen die deutschen Agrarhistoriker, anders als ihre Kollegen namentlich in England und Italien, um das Thema ›Klasse‹ einen Bogen zu machen. Wer sie zum Inhalt macht, tut das nicht als Agrar-, sondern als Sozialhistoriker.139 So ist als Endergebnis festzuhalten, dass ›Klasse‹ als geschichtsphilosophischer Perspektivbegriff, d. h. als handlungsbestimmende Kategorie, ausgesprochen selten, eigentlich nur bei unorthodox-marxistisch bzw. weberianisch inspirierten Autoren auftaucht. Ihnen gelingt es damit, eine nicht nur von der wirtschaftlichen Entwicklung oder gar von soziologischen Großtheorien  – etwa Ausdifferenzierung − verursachte Bewegung in die Geschichte zu bringen. In der Mehrzahl der Fälle ist ›Klasse‹ jedoch von soziologischen Analysen übernommen und bezeichnet eine gesellschaftliche Teilmenge, einfach weil soziale 137 Zu ihnen zählen insbesondere die Bücher von Hartmut Harnisch. 138 Mooser, Ländliche Klassengesellschaft. 139 Das gilt auch für Conze, der als Sozialhistoriker allerdings kaum noch agrargeschichtliche Beiträge verfasst hat. 1954 referierte er beiläufig Bertram Stüves agrarpolitisches Reformschrift von 1832 als eine lange vor K. Marx und L. Stein entdeckte Zweiklassenschichtung auf dem Lande: »Es handelt sich hier also um den Kampf gegen die ständische Agrargesellschaft, die unter den Bedingungen der Zeit Klassencharakter anzunehmen im Begriff war«. Conze, Vom »Pöbel«, S. 227. Über Stüve hatte Conze 1947 noch im Duktus »der ihm gewohnten Volksgeschichte« geschrieben. Vgl. Dunkhase, Conze, S. 119. Ausgearbeitete Beiträge zur ländlichen Klassengesellschaft betreffen ausschließlich die Landarbeiter. Genannt seien nur: Jens Flemming, Die vergessene Klasse. Literatur zur Geschichte der Landarbeiter in Deutschland, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter und Arbeiterbewegung im Vergleich. Berichte zur internationalen Forschung, München 1986, S. 389–418; Gerhard Schildt, Die Landarbeiter im 19. Jahrhundert – eine unvollendete Klasse, in: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), S. 1–26; Bernd Kölling, Familienwirtschaft und Klassenbildung. Landarbeiter im Arbeitskonflikt: Das ostelbische Pommern und die norditalienische Lomellina, Vierow b. Greifswald 1996.

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Ungleichheit, wie eingangs zitiert wurde, zu den Strukturmerkmalen moderner Gesellschaften gehört. Dann pflegt es um sozialen Wandel zu gehen. Aber den kann man, wie ungezählte Beispiele zeigen, auch ohne Rückgriff auf ›Klasse‹ beschreiben. Warum also, so kann man am Ende fragen, soll das in Untiefen gelangte Klassenparadigma mit enormer Anstrengung wieder flottgemacht werden, wenn weder die damit Beschriebenen noch ihre Beschreiber sich selbst als Angehörige einer Klasse verstehen?

Christoph Weischer

Sozialstrukturanalyse und Sozialgeschichte 1. Einleitung In diesem Beitrag soll es um das Verhältnis von Sozialstrukturanalyse und Sozialgeschichte gehen, also um die Frage, wie Phänomene der sozialen Ungleichheit im Lichte verschiedener Disziplinen verhandelt werden. Es soll dabei nicht um eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung gehen; im Zentrum stehen eher die gegenwärtigen und künftigen Wechselbeziehungen und Synergie­ effekte. Dabei zeigt sich, dass es parallel in beiden Disziplinen zu einer Krise der klassischen Analysemodelle kommt, die dann auch recht ähnlich angegangen werden, indem neue Forschungsperspektiven, z. B. die der Geschlechter- oder der Migrationsforschung aufgenommen werden, indem transnationale und globale Perspektiven einbezogen werden oder indem der Bedeutung von kulturellen Praktiken für soziale Differenzierungsprozesse erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet wird. In beiden Disziplinen bietet sich heute die Konstellation, dass verschiedenste Forschungszusammenhänge und das so hervorgebrachte Wissen zu sozialen Ungleichheiten eher nebeneinander stehen. Zunächst wird es um die Entwicklung der (klassischen) Sozialstrukturanalyse in der Bundesrepublik Deutschland (1) und um die Kritiken und Erweiterungen in den letzten Jahrzehnten (2) gehen. Daran anschließend wird für die Sozialstrukturanalyse ein kategorialer Rahmen entwickelt, der es ermöglicht, die klassischen und die erweiterten Wissensbestände und Forschungswelten stärker aufeinander zu beziehen (3). Es folgt eine Skizze der jüngeren Entwicklungen in der Sozialgeschichte (4), um dann zu überlegen, inwieweit der für die Sozialstrukturanalyse skizzierte Forschungsrahmen auch für die Sozialgeschichte genutzt werden kann (5).

2. Entwicklung der klassischen Sozialstrukturanalyse Der Begriff Sozialstruktur wurde im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ganz unterschiedlichen Kontexten genutzt. So hat z. B. Tönnies 1904 in den USA einen Vortrag über die gegenwärtigen Probleme der Sozialstruktur gehalten. Auch in der Weimarer Zeit findet sich der Begriff verschiedentlich in Debatten z. B. auf den Soziologentagen wieder. Das Konzept hat aber in jener Zeit keine systematische Bedeutung gewonnen; im Handwörterbuch der Soziologie (1931) von Vierkandt findet sich kein entsprechender Eintrag. In den USA verlief die Entwicklung etwas anders; hier fanden sich in den 1930er und 1940er Jahren

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zunehmend Veröffentlichungen, die mit dem Sozialstrukturbegriff arbeiten; exemplarisch sei hier auf Robert K. Mertons ›Social Theory and Social Structure‹ aus dem Jahr 1949 verwiesen.1 In Westdeutschland setzte in den 1950er und 1960er Jahren die Akademisierung der Soziologie auf breiter Basis ein. Der Begriff der Sozialstrukturanalyse fungierte dabei als ein Etikett, unter dem sich Vertreter ganz unterschiedlicher Theoriekonzepte wiederfinden können: die Vertreter der Schichtungstheorie amerikanischer Provenienz, Vertreter der historischen Soziologie, so z. B. A. Weber oder Markmann, und schließlich die Vertreter von klassentheoretischen Konzepten, etwa Abendroth über die ›Die soziale Struktur der Bundesrepublik‹.2 Die Perspektiven der frühen Sozialstrukturforschung in Westdeutschland hingen in den 1950er und 1960er Jahren eng mit den Logiken der Akademisierung zusammen. Im Zentrum stand zum einen die boundary work gegenüber benachbarten Disziplinen: die Abgrenzung von der Ökonomie und von der Sozialpolitik. Zum anderen ging es darum, den Wissenschaftscharakter der Soziologie unter Beweis zu stellen: durch den Bezug auf die neuen Methoden der empirischen Sozialforschung oder die dominante amerikanische Soziologie etc. Was zu verschiedenen Zeitpunkten unter Sozialstrukturanalyse begriffen wurde, lässt sich gut an den Lehrbüchern zu diesem Thema aufzeigen. Nach Thomas Kuhn kommt solchen Darstellungen, mit denen die nachwachsenden Wissenschaftler_innen eingeführt werden, eine wichtige disziplin- und paradigmenbildende Funktion zu. Angesichts des eher diffusen Themenfelds wurde über die Lehrbücher ein gemeinsamer Nenner formuliert. In der frühen Bundesrepublik finden sich zunächst nur wenige Lehrbücher, die das Thema Sozialstrukturanalyse in der Breite angingen. Bereits 1949 war Geigers Klassengesellschaft im Schmelztiegel erschienen;3 1957 wurde dann Dahrendorfs Habilitationsschrift ›Soziale Klassen und Klassenkonflikt‹ veröf­ fentlicht. Sie erschien aber in Deutschland nur in einer Auflage, während die eng­ lische Fassung ab 1959 zu einem Bestseller mit weiteren Übersetzungen wurde.4 Mit dem Ausbau der Sozialwissenschaften in den 1960er und 1970er Jahren entstand dann ein großer Bedarf an Lehrbüchern: 1965 erschien die Sozialkunde von Claessens, Klönne und Tschoepe.5 Sie versteht sich eher als Unterrichtsbuch in der Tradition der Gemeinschaftskunden. Von daher finden sich drei gleichgewichtige Teile zum politischen, zum wirtschaftlichen und zum soziokulturellen System. 1966 erschien erstmals die Darstellung von Bolte ›Deutsche Gesellschaft im Wandel‹.6 Ursprünglich waren es vier Kapitel: zum sozialen 1 Robert K. Mertons, Social Theory and Social Structure, New York 1949. 2 Wolfgang Abendroth, Die soziale Struktur der Bundesrepublik und ihre politischen Entwicklungstendenzen, in: Politische Vierteljahrsschrift 4/2 (1963), S. 150–167. 3 Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949. 4 Ralf Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957. 5 Dieter Claessens u. a., Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland, München 1965. 6 Karl Martin Bolte, Deutsche Gesellschaft im Wandel, Opladen 1966.

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Wandel, zur Bevölkerung, zur sozialen Schichtung und zur Stadt- und Regionalstruktur. Einzelne Teile erschienen dann als separate Darstellungen; der Band soziale Ungleichheit wurde später von Hradil übernommen und überarbeitet. Im Jahr 1967 erschien Fürstenbergs ›Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland‹;7 er hatte sich auch zuvor systematisch mit dem Begriff Sozialstruktur befasst. Am Ende dieser Phase steht dann 1976 Schäfers ›Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland. Ein Studienbuch zur Sozialstruktur und Sozialgeschichte‹.8 Daneben finden sich zwei Beiträge, die der Klassentheorie verpflichtet waren, bzw. den Versuch einer ›gesamtgesellschaftlichen Analyse‹ unternahmen; so z. B. Maukes ›Die Klassentheorie von Marx und Engels‹ oder Jaeggis ›Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik‹.9 Nach dieser stürmischen Phase der Expansion folgte eine Phase, die aus der Perspektive der Lehrbuchproduktion eher ruhig verlief. Schaut man sich die theoretischen Debatten dieser Zeit an, so wurden die erwerbsbezogenen bzw. die vertikalen Konzepte der Sozialstrukturanalyse kritisiert; die Renaissance der Marxschen Klassentheorie neigte sich dem Ende zu. Es entstand die Lebensstilund die kulturalistische Milieuforschung; in den Ansätzen von Bourdieu oder Vester war dies mit einer Reformulierung des klassentheoretischen Programms verknüpft. Die Geschlechterforschung und später Teile der Migrationsforschung begannen sich für die Zusammenhänge von Klasse, Geschlecht und ethnischen Zurechnungen zu interessieren. Umfassende Darstellungen zu Fragen der Sozialstrukturanalyse erscheinen in dieser Zeit nur wenige; 1991 bzw. 1992 waren das Rainer Geißlers ›Die Sozialstruktur Deutschlands‹ und Reinhard Kreckels ›Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit‹.10 Kreckel hatte 1998 angesichts dieser Ausdifferenzierungen die Sorge vorgebracht, dass die »Kernthematik der soziologischen Ungleichheitsforschung […] geradezu vergessen werden könnte«. Der systematische Bezug auf den Prozess der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion war verloren gegangen. Das Gros der Publikationen wendete sich spezifischen Aspekten der Sozialstrukturanalyse zu. Johannes Berger kam 2004 nach einer Durchsicht der einschlägigen Literatur zu dem Fazit, »daß von der Existenz einer die soziologische Ungleichheitsforschung anleitenden Theorie der Einkommensungleichheit keine Rede sein kann.«11 Haller konstatiert, man könne für Deutschland (wie für die USA) von einer »Relativierung und Akzeptanz von Ungleichheit sprechen, die 7 Friedrich Fürstenberg, Die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland. Ein soziologischer Überblick, Opladen 1967. 8 Bernhard Schäfers, Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland, Stuttgart 1976. 9 Urs Jaeggi, Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1969; ­Michael Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, Frankfurt am Main 1970. 10 Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, Wiesbaden 1991; Reinhard Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt am Main 1992. 11 Johannes Berger, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Zur Vergangenheit und Gegenwart einer soziologischen Schlüsselfrage, in: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), Heft 5, S. 354–374, hier S. 361.

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man nicht nur als Übel, sondern als eine auch in modernen, postindustriellen Gesellschaften unvermeidliche, ja gesellschaftlich sogar notwendige Struktur sieht.«12 Karl Ulrich Mayer bescheinigt den Zeitdiagnosen der Sozialstrukturanalyse süffisant: »Die rasche Abfolge von Integration und Ausgrenzung, verschärften Klassenlagen und Zerfall der Klassengesellschaft, Entschichtung und Restratifizierung verweist auf ein Ausmaß an Diskontinuität, das für Sozialstrukturen ungewöhnlich wäre. […] Offenbar fehlt uns im Hinblick auf soziale Ungleichheiten ein Beobachtungsrahmen, der es erlauben würde, Stabilität und Wandel gleichermaßen in Blick zu nehmen und deren relativen Stellenwert zu bestimmen.«13 Die empirische Sozialstrukturanalyse spielte in dieser Phase eine eher marginale Rolle. Nach den Arbeiten der 1950er und 1960er Jahre verebbte die Forschung weitgehend;14 Schelskys ›nivellierte Mittelstandsgesellschaft‹ entbehrte einer zeitgenössischen empirischen Fundierung. Erst Mitte der 1970er Jahre entstand neben der an Marxschen Theoremen orientierten Forschung ein Forschungszweig, der soziale Ungleichheit »unter einer neoweberianischen Klassenperspektive oder aus einer machttheoretischen Perspektive analysiert.«15 Mit der Sozialindikatorenforschung und der Armuts- und Reichtumsforschung wurde ab den 1980er Jahren die Deskription sozialer Problemlagen und Differenzierungen verfeinert. Ausgehend von verschiedenen Lebensstil- und Milieukonzepten entstanden Forschungsarbeiten, die eher einer sozialstrukturellen oder eher einer kulturalistischen Lesart dieser Konzepte verpflichtet waren.

3. Entwicklungen seit den 1980er und 1990er Jahren In den 1980er Jahren setzten wie erwähnt Entwicklungen ein, die den klassischen Kanon der Sozialstrukturanalyse mittelbar und unmittelbar in Frage stellten. Formal betrachtet geht es um die ›sozialen Gruppen‹ (neben Klassen und Schichten insbesondere Geschlechter und Migrant_innen) und deren (De)Konstruktion; es geht um die räumlichen (Regionen, Nationalstaaten und transnationale 12 Max Haller, Kritik oder Rechtfertigung sozialer Ungleichheit? Die deutsche ›Sozialstrukturideologie‹. Vom Ende der Klassengesellschaft in historischer und vergleichender Perspektive, in: Gerd Nollmann (Hg.), Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse, Wiesbaden 2007, S. 107–159, hier S. 146. 13 Karl Ulrich Mayer, Sinn und Wirklichkeit. Beobachtungen zur Entwicklungen sozialer Ungleichheiten in (West-) Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit, Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS , Teil 2, Frankfurt am Main 2006, S. 1329–1355, hier S. 1337; vgl. auch Karl Ulrich Mayer, Empirische Sozialstrukturanalyse und Theorien der gesellschaftlichen Entwicklung, in: Soziale Welt 40 (1989), Heft 1/2, S. 297–308. 14 Heinrich Popitz u. a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchung der Hüttenindustrie, Tübingen 1957; Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968. 15 Haller, Kritik oder Rechtfertigung, hier S. 118 f.

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Zusammenhänge) und zeitlichen Horizonte (die Lebens- und Generationenzeit aber auch die historische Zeit), in denen Prozesse der sozialen Differenzierung beobachtet werden und in denen Rassismen, Sexismen bzw. Prozesse der (De-) Kolonisierung und Globalisierung untersucht werden. Schließlich geht es auch um eine Ausweitung der ungleichheitsrelevanten Phänomene (Fragen der Anerkennung und Diskriminierung, der Verwirklichungschancen). Mit diesen eher konzeptionellen Erweiterungen sind stets auch Erweiterungen der wissenschaftlichen Perspektive – der Fragestellungen, der Methoden und Methodologien – verbunden. Dabei wird dann auch deutlich, wie viele Querverbindungen es zwischen den Diskursen gibt. Die wohl weitreichendste Infragestellung rührt aus der (weltgeschichtlichen) Reflexion des Beobachtungsortes und der Beobachtenden selbst. D. h. die neuen inhaltlichen und thematischen Perspektiven sind verbunden mit neuen sozialen Bewegungen, neuen Generationen von Sozialwissenschaftler_innen und schließlich neuen theoretischen und methodischen Perspektiven. In der Lehrbuchlandschaft spiegeln sich diese Innovationen nur sehr bedingt wider, obwohl es im 21. Jahrhundert mit einem Generationswechsel in der Soziologie zu einer Welle von Neuveröffentlichungen kam und der bislang vorherrschende nationalstaatliche Horizont erweitert wurde. In kurzer Zeit erschienen in diesem Zusammenhang die ›Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich‹ von Hradil (2004), die ›Sozialstrukturanalyse‹ von Klein (2005), das Werk über ›Klassen, Schichten, Mobilität‹ von Groß (2008), die ›Sozialstruktur Deutschlands‹ von Huinink und Schröder (2008), die ›Einführung zur Sozialstrukturanalyse‹ von Rössels (2009), die ›Sozialstruktur Europas‹ von Mau und Verwiebe (2009), die ›Intersektionalität‹ von Winker und Degele (2009), die ›Sozialstrukturanalyse‹ von Weischer (2011) sowie schließlich die ›Neue Sozialstrukturanalyse‹ von Erlinghagen und Hank (2013).16 Im Folgenden sollen die verschiedenen Felder der Debatte um eine Erneuerung der Sozialstrukturanalyse genauer beleuchtet werden, um dann das innovative Potential gebündelt darzulegen.

16 Stefan Hradil, Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2004; Thomas Klein, Sozialstrukturanalyse. Eine Einführung, Reinbek 2005; Martin Groß, Klassen, Schichten, Mobilität. Eine Einführung, Wiesbaden 2008; Johannes Huinink / Torsten Schröder, Sozialstruktur Deutschlands, Konstanz 2008; Steffen Mau / Roland Verwiebe, Die Sozialstruktur Europas, Konstanz 2008; Gabriele Winker / Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009; Jörg Rössel, Einführung in die Sozialstrukturanalyse. Strukturierte Ungleichheit, Lebensstile und soziale Milieus, Wiesbaden 2009; Christoph Weischer, Sozialstrukturanalyse. Grundlagen und Modelle, Wiesbaden 2011; Marcel Erlinghagen / Karsten Hank, Neue Sozialstrukturanalyse. Ein Kompass für Studienanfänger, München 2013.

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3.1 Geschlechterforschung, Migrationsforschung und rassismuskritische Forschung Geschlechterforschung

Die Formierungsperiode der deutschen Soziologie fiel in eine gesellschaftliche Phase, in der angesichts der ökonomischen Prosperität und der stark gestiegenen Einkommen, das männliche Alleinernährermodell erstmals auch für ein breiteres soziales Spektrum realisierbar war; die Hochzeit der Industriegesellschaft ermöglichte eine späte Blüte patriarchaler Strukturen. Die Soziologie folgte dem dahinterstehenden Denken ungebrochen, wenn sie z. B. bei der Modellierung von Schichtungen den Beruf des ›Haupternährers‹ nutzte. Die sich seit Ende der 1970er Jahre institutionalisierende Frauen- und Geschlechterforschung hat neben den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen vor allem die Sozialwissenschaften verändert. »Sie brachen den Kanon der vermeintlich geschlechtsneutralen und allein für relevant erachteten Forschungsthemen ihrer Disziplinen auf und untersuchten stattdessen in ihrem Arbeitsgebiet die Unterdrückung von Frauen. Sie unterzogen das umfangreiche Methodenrepertoire der Sozial- und Kulturwissenschaften einer kritischen Prüfung, studierten neugierig die Methoden anderer Disziplinen und entwickelten hieraus neue Forschungsansätze.«17 Die Geschlechterforschung bzw. die Intersektionalitätsforschung haben die klassischen Paradigmen und Perspektiven der Sozialstrukturanalyse in verschiedener Weise beeinflusst: Erstens wurde Geschlecht neben Klasse als eine Strukturkategorie sozialer Ungleichheit begriffen. »In der neueren Ungleichheitsforschung hat die Kategorie Geschlecht eine bemerkenswerte Karriere vom sogenannten askriptiven Merkmal zur ›neuen‹ sozialen Ungleichheit durchlaufen und damit eine gewisse Anerkennung als horizontal strukturierende ›Dimension‹ sozialer Ungleichheit gefunden«.18 Zweitens geriet der Bereich des vermeintlich privaten Lebens in Beziehungen, Familien und Haushalten und alle Formen der hier geleisteten Arbeit systematisch in den Blick der Ungleichheitsforschung. Das Konzept der Hausfrauisierung verweist systematisch auf das Zusammenspiel kapitalistischer Erwerbsarbeit und haushaltlicher Produktion.19 Drittens wurden ausgehend von der Frage, wie die verschiedenen Ungleichheitsdimensionen aufeinander zu beziehen seien, neue Analysemodelle diskutiert. So 17 Christine Eifert, Entwicklung der Geschlechterforschung, in: H-Soz-Kult, 06.06.2003, www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-333 (aufgerufen am 15.03.2020); vgl. auch Daniela Heitzmann, Zwei Schritte vor, einer zurück. Zur Institutionalisierung der Frauenund Geschlechterforschung, in: soFid Frauen- und Geschlechterforschung 2010/1 (2010), S. 11–22. 18 Petra Frerichs, Klasse und Geschlecht. Bd. 1: Arbeit, Macht, Anerkennung, Interessen, Opladen 1997, hier S. 14 f. 19 Claudia von Werlhof u. a., Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit, Reinbek 1983.

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wurde auch das Konzept der Lebenslage wiederentdeckt: »Im Unterschied zu Klassen- und Schichtungsmodellen, denen ein vertikales Strukturmodell und eine ›Verberuflichung‹ des Klassenbegriffs zugrundelägen, sei das Konzept der Lebenslage mehrdimensional angelegt: es erfasse neue Ursachen sozialer Ungleichheit, sogenannte askriptive Merkmale, die Zeitdimension von Ungleichheit und die individuellen Handlungsspielräume«.20 Mit der intersektionalen Perspektive auf das Zusammenwirken von race, class und gender erfährt der Diskurs um das Geschlechterverhältnis eine veränderte Rahmung. Winker und Degele sehen »das Konzept der Intersektionalität auf dem besten Weg, zu einem neuen Paradigma in den Gender und Queer Studies zu avancieren«. Neben gender, class und race begreifen sie auch »Kategorien wie Sexualität, Alter, (Dis-)Ability, Religion oder Nationalität« als »prinzipiell integrierbar«.21 Der Blick auf die sozialen Binnendifferenzierungen von Männern und Frauen, allgemeiner auf die Intersektion von Ungleichheitskategorien, aber auch die »queere Identitätskritik« und die Kritik »binärer Ordnungskategorien« haben umgekehrt auch dazu beigetragen, den Charakter der Strukturkategorie Geschlecht (und anderer Kategorisierungen) zu hinterfragen.22 Migrationsforschung

Die akademische Verankerung der Soziologie in Deutschland fand in einer Phase starker Zuwanderungsprozesse (›Flüchtlinge‹ und ›Vertriebene‹, ›Gastarbeiter‹ und deren ›Familien‹) statt. Während die ersteren zum Gegenstand umfangreicher Forschungen wurden, wurden die letzteren als ein eher ›marginales‹ Phänomen, als ›Randgruppe‹, begriffen. Die blinden Flecken der Soziolog_innen unterschieden sich dabei kaum von denen der übrigen Gesellschaft. Zwar lassen sich in dieser Phase Anfänge der Migrationsforschung im deutschsprachigen Bereich ausmachen; die Herausbildung »einer eigenständigen Migrationsforschung« lässt sich aber »erst in den letzten 25 Jahren« beobachten.23 Mit der ›Entdeckung‹ der Migrant_innen werden diese mit immer neuen Begrifflichkeiten und Perspektiven zum Gegenstand politischer und sozialwissenschaftlicher Diskurse; anfangs dominieren theoretische Konzepte, die sich an der (amerikanischen) Assimililations- und Integrationsforschung orientieren. 20 Frerichs, Klasse, S. 27 f. 21 Winker / Degele, Intersektionalität, S. 10; vgl. auch Nina Degele, Intersektionalität. Perspektiven der Geschlechterforschung geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, in: Beate Kortendiek u. a. (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Bd.1, Wiesbaden 2019, S. 341–348. 22 Mike Laufenberg, Queer Theory. Identitäts- machtkritische Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht, in: Beate Kortendiek u. a. (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Bd. 1, Wiesbaden 2019, S. 331–340, hier S. 333, 338. 23 Julia Reuter / Paul Mecheril, Einleitung, in: dies. (Hg.), Schlüsselwerke der Migrationsforschung, Wiesbaden 2015, S. 1–7, hier S. 1.

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Die derzeitige kritische Migrationsforschung diagnostiziert dementsprechend das Problem, »dass sich das Gros auch der transnational orientierten Migrationsforschung allzu häufig als Forschung über Migrant_innen versteht und daher insgesamt – polemisch zugespitzt – kaum hinauskommt über eine nach Herkünften sortierte ›Migrantologie‹ unterschiedlicher Ethno-Communities.«24 Unter dem Label der ›postmigrantischen Gesellschaftsanalyse‹ finden sich dann ganz ähnliche Überlegungen wie im Kontext der Queer-Debatten. »Der Terminus postmigrantisch ist somit ein subversiver Verweis auf die Fluidität von Kultur und die Transformation kollektiver Identität […]. Postmigrantisch verweist auf eine stetige Hybridisierung und Pluralisierung von Gesellschaften. Diese Pluralisierung wird nicht nur durch Migration, sondern auch durch Debatten um geschlechtliche oder sexuelle Diversität erkennbar oder durch politische und klassenspezifische Ausdifferenzierungen oder konkurrierende Geschichtserzählungen.«25 Eine andere Irritation erfährt die Migrationsforschung durch die Analysen von transnationalen Lebensweisen, die unter dem Label der Transmigration gefasst werden.26 Rassismuskritische Forschung

Susan Arndt fasst Rassismus als den Glauben, »dass Menschen biologisch nach ›Rassen‹ unterteilt werden können. Dabei verbindet sich das historische Interesse daran, diesen Mythos am Leben zu erhalten mit der Macht, ihn global wirkmächtig und irreversibel zu machen. Bei Rassismus handelt es sich um ein paneuropäisches Projekt der Erfindung von Menschen›rassen‹, bei dem es im Kern darum geht, Europa und das ihm einverleibte Christentum als weiß und überlegen zu konstruieren, um weiße Macht herzustellen und zu garantieren. […] Rassismus hat sich von jeher als und im Orientalismus, Antisemitismus, Afrikanismus und Antiziganismus ausdifferenziert.«27 Im deutschsprachigen Diskurs wurde der Begriff ›Rassismus‹ bis in die 1990er Jahre zumeist vermieden; das war zum einen dem tödlichen Gebrauch der ›Rassenlehre‹ im Nationalsozialismus geschuldet. Zum anderen wurde Rassismus lange Zeit als ein 24 Manuela Bojadžijev / Regina Römhild, Was kommt nach dem »transnational turn«? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung, in: Labor Migration (Hg.), Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung, Berlin 2014, S. 10–24, hier S. 10. 25 Naika Foroutan, Was will eine postmigrantische Gesellschaftsanalyse?, in: Naika Foroutan u. a., Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, Frankfurt am Main 2018, S. 269–299, hier S. 269; vgl. auch Helma Lutz, Migration und Geschlecht. Die soziale Konstruktion von Differenzverhältnissen, in: Beate Kortendiek u. a. (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Bd.1, Wiesbaden 2019, S. 803–812. 26 Ludger Pries, Transmigration als ein Typ von Arbeitswanderern in plurilokalen sozialen Räumen, in: Soziale Welt 49 (1998), S. 135–150. 27 Susan Arndt, Rassismus. Eine viel zu lange Geschichte, in: Karim Freidooni / El Meral (Hg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, Wiesbaden 2017, S. 29–45, hier S. 33 f.

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historisches Phänomen begriffen, das im deutschsprachigen Raum keine Rolle mehr spiele. »Es gehört in die postnationalsozialistische Konstellation, dass Rassismus als analytische Kategorie zur Untersuchung gesellschaftlicher Segregationsprozesse in der Gegenwart abgewehrt wird, weil man in Deutschland nichts so sehr fürchtet wie die Diagnose, rassistisch zu sein. Bis heute fällt es besonders schwer anzuerkennen, dass Rassismus in der deutschen Gesellschaft alltäglich erlebt wird.«28 Anja Weiß hat systematisch untersucht, welche Rolle Rassismus als eine symbolisch vermittelte Dimension sozialer Ungleichheit spielt: »Die Spezifik des Rassismus besteht darin, dass er Menschen innerhalb eines sozialen Raumes dadurch schlechter stellt, dass er auf deren möglichen Ausschluss aus diesem Raum verweist. Dabei müssen rassistisch Dominierte nicht tatsächlich exkludiert werden. Damit sich die symbolische Delegitimierung in entsprechende Handlungsstrategien übersetzt und zu symbolischer Gewalt verfestigt, genügt es, dass ihr Anspruch auf Inklusion allgemein und situationsübergreifend als nicht oder weniger legitim angesehen wird.«29 3.2 Biographie- und Lebensverlaufsforschung

Unter den Labels Biographie- und Lebensverlaufsforschung sind in der Soziologie (und benachbarten Disziplinen) – trotz frühzeitiger Versuche der Zusammenführung30 – zwei Forschungsstränge entstanden, die sich entlang verschiedener methodischer Zugänge eher mit der äußeren und inneren Ordnung von Lebensverläufen befasst haben. Während die Biographieforschung typischerweise die Forschungen von Thomas und Znaniecki als Startpunkt begreift,31 sind die Anfänge der Lebensverlaufsforschung eher im Kontext der Sozialindikatorenforschung, der Mobilitäts-, der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung zu sehen.32 Eine wichtige Rolle spielen dann aber auch neue Datentypen und statistische Analyseverfahren.33 28 Astrid Messerschmidt, Rassismusthematisierungen in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus und seiner Aufarbeitung, in: Karim Fereidooni / Meral El (Hg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, Wiesbaden 2017, S. 855–867, hier S. 857 f. 29 Anja Weiß, Rassismus als symbolisch vermittelte Dimension sozialer Ungleichheit, in: dies. u. a. (Hg.), Klasse und Klassifikation. Die symbolische Dimension sozialer Ungleichheit, Wiesbaden 2001, S. 79–108. 30 Vgl. exemplarisch: Peter A. Berger / Peter Sopp (Hg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995; Wolfgang Voges (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987. 31 Werner Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, Wiesbaden 2005. 32 Karl-Ulrich Mayer, Lebenslaufforschung, in: Wolfgang Voges (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987, S. 51–73, hier S. 56. 33 Glen Elder / Avshalom Caspi, Persönliche Entwicklung und sozialer Wandel. Die Entstehung der Lebensverlaufsforschung, in: Karl Ulrich Mayer (Hg.), Lebensverläufe und sozialer Wandel, Opladen 1990, S. 22–57, hier S. 24.

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Mayer verweist darauf, dass Ungleichheiten, die in Wohlfahrtsverteilungen abgelesen werden können, auch »in der kollektiven Geschichte aufeinander­ folgender Generationen […] und in den kumulativen Ressourcen und Benachteiligungen der Lebensgeschichte«34 zu suchen seien. Berger und Sopp konstatieren: »Zum Muster positionaler Ungleichheiten, in denen sich die mehr oder weniger gleichmäßige Verteilung von Ressourcen und Belastungen, Rechten und Pflichten auf Positionen ausdrückt, kommen allokative oder Rekrutierungsungleichheiten, die sich auf die Zugänglichkeit unterschiedlich ausgestatteter Positionen bzw. auf die Chancen oder Risiken, in bestimmten Lagen verbleiben zu können oder zu müssen, beziehen.«35 Mit der Frage nach der Institutionalisierung des Lebenslaufs und nach Normalbiographien36 oder mit der Nutzung der Lebensverlaufsperspektive in der Geschlechterforschung37 entstehen Ansätze einer theoretisch reflektierten Analyse von Lebensverläufen. Auch in den Sozialraumanalysen Bourdieus spielt die Zeit als dritte Dimension eine wichtige Rolle, indem er sich nicht nur für die individuellen Wege (wie die Forschung zu sozialer Mobilität) durch den sozialen Raum interessiert, sondern auch für die kollektiven Auf- und Abstiege und deren Folgen.38 In der familiensoziologischen Forschung wird das Mannheimsche Konzept der Generationen neu gelesen.39 3.3 Transnationale und globale Forschungsperspektiven

Ausgehend von der weithin akzeptierten Kritik an den (nationalstaatlich abgegrenzten) Container-Modellen der Sozialstrukturanalyse setzen ab den 1990er Jahren Suchprozesse ein, die mit recht unterschiedlichen Horizonten arbeiten. Eine erste Reaktion findet sich in der international (meist europäisch) vergleichenden Ungleichheitsforschung  – hier werden verschiedene nationale Container gegenübergestellt.40 Erst nach und nach werden Modelle ausgearbeitet, 34 Mayer, Lebenslaufforschung, hier S. 56. 35 Berger / Sopp, Sozialstruktur, S.  14. 36 Martin Kohli, Der institutionalisierte Lebenslauf. Ein Blick zurück und nach vorn, in: Jutta Allmendinger (Hg.), Entstaatlichung und soziale Sicherheit, Opladen 2003, S. ­525–545. 37 Bettina Dausien, Biografieforschung: Theoretische Perspektiven und methodologische Konzepte für eine re-konstruktive Geschlechterforschung, in: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Opladen 2004, S. 314–325, hier S. 314. 38 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987. 39 Martin Kohli, Von der Gesellschaftsgeschichte zur Familie: Was leistet das Konzept der Generationen?, in: Frank Lettke / A ndreas Lange (Hg.), Generationen und Familien. Analysen – Konzepte – gesellschaftliche Spannungsfelder, Frankfurt am Main 2007, S. 47–68, hier S. 49. 40 Vgl. exemplarisch: Stefan Hradil / Stefan Immerfall (Hg.), Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997.

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die verschiedene europäische Entwicklungspfade unterscheiden: so entsteht ein Diskurs um multiple Europes41; Manow unterscheidet ausgehend von Rodriks Kompensationstheorie der Globalisierung verschiedene Konstellationen von Globalisierung und sozialer Sicherungspolitik.42 Boatcă vergleicht verschiedene theoretische Konzepte, die für die Analyse weltweiter Ungleichheitsbeziehungen genutzt werden können: die Weltsystem-Analyse Wallersteins, die Konzeption der postkolonialen Studien und des Orientalismus, die Konzepte der Dependenz-Theorie und schließlich die dekoloniale Perspektive, die systematisch die Schattenseite der Moderne in den Blick rückt.43 In etwas anderer Perspektive unterscheidet Walby varieties of modernity und stellt eher neoliberale und eher sozial demokratische Varianten gegenüber.44 Dementsprechend mahnt die globale Ungleichheitsforschung45 drei wesentliche Modifikationen an: »First, a shift from the focus on the nation-state as sole unit of analysis to a global focus encompassing worldwide centre-periphery relations […]; second, a systematic and explicit engagement with the theories of social change implicit in concepts of social inequality and the conclusions entailed for the corresponding definition of modernity and the modern; and third, an emphasis on the dynamics behind the emergence of categories along which inequality structures were historically constructed, i. e., on processes of othering such as gendering, racialisation, and ethnicisation, rather than on static categories such as gender, race, and ethnicity.«46 Neben diesen eher theoretisch orientierten Arbeiten der transnationalen Ungleichheitsforschung ist eine Vielzahl von zeitgenössisch und historisch orientierten empirischen Analysen zu Fragen der globalen Ungleichheit entstanden. Exemplarisch sei hier verwiesen auf Arbeiten, die in Anlehnung an Adam Smith nach Wohlstand (und Armut) der Nationen fragen.47 Andere wenden sich insbesondere der empirischen Analyse von Ungleichheitsdaten zu.48 Daneben finden sich auch Arbeiten, die sich mit spezifischen Aspekten der Globalisie-

41 Manuela Boatcă, Global Inequalities beyond Occidentalism. Global Connections, London, New York 2016, S. 210 f. 42 Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018, hier S. 43f; Dani Rodrik, Has Globalization Gone Too Far?, Washington D. C. 1997. 43 Boatcă, Global Inequalities, S. 3 f. 44 Sylvia Walby, Globalization and Inequalities. Complexity and Contested Modernities, London 2009, S. 278 f. 45 Vgl. Anja Weiß, Soziologie globaler Ungleichheiten, Berlin 2017. 46 Boatcă, Global Inequalities, S. 18. 47 Anthony B. Atkinson, Ungleichheit. Was wir dagegen tun können, Stuttgart 2016; Daron Acemoglu / James A. Robinson, Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt am Main 2013; Angus Deaton, Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen, Stuttgart 2017. 48 Roberto Patricio Korzeniewicz / Timothy Patrick Moran, Unveiling Inequality. A World Historical Perspective, New York 2009; Branko Milanović, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016.

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rung, so z. B. mit Möglichkeiten der Regulierung von Erwerbsarbeit befassen.49 Insbesondere die Prozesse der Finanzialisierung und schließlich die Vor- und Nachgeschichte der Finanzmarktkrise und der Eurokrise haben eine Vielzahl von Analysen hervorgebracht, die oft auch die sozialstrukturellen Implikationen dieser Entwicklungen beleuchtet haben. 3.4 Von Strukturen zu Prozessen bzw. Mechanismen

Das Strukturkonzept spielte, wie der Begriff zeigt, eine zentrale Rolle für das Verständnis von Sozialstrukturanalyse. Es ging um soziale Großgruppen, die über die Stellung im Produktionsprozess oder über die Verteilung von Ressourcen abgegrenzt wurden. Auch die Geschlechterforschung orientierte sich an solchen Strukturkonzepten, indem Geschlecht als eine weitere Strukturkategorie begriffen wurde. Umgekehrt gingen aber von der Geschlechterforschung auch wichtige Impulse für die Dekonstruktion dieser Strukturkategorien aus, wenn systematisch Prozesse des doing gender in den Fokus der Analyse rückten. Die Bedeutung sozialer Großgruppen wurde in der Sozialstrukturanalyse seit längerem (in ganz unterschiedlicher Perspektive) kritisch diskutiert. In einem eher beschreibenden Sinne werden Prozesse der Nivellierung (Schelskys nivellierte Mittelstandsgesellschaft) und der Individualisierung (Becks Risikogesellschaft) diagnostiziert. In einem eher analytischen Sinne wird E. P. Thompsons Term einer Klassengesellschaft ohne Klassen verwandt.50 Auch Bourdieus Unterscheidung von repräsentierten und wahrscheinlichen Klassen folgt dieser Argumentation.51 Brubaker wendet sich gegen ein nicht weiter hinterfragtes essentialistisches Verständnis von sozialen Gruppen in der Soziologie und in benachbarten Disziplinen;52 er diagnostiziert dieses Problem vor allem in Forschungen zu ethnischen, rassischen und nationalen Zurechnungen – in einer Fußnote wird dies aber auch auf Kategorisierungen nach Geschlecht oder anderen Merkmalen erweitert. Er kritisiert »die Tendenz einzelne abgegrenzte Gruppen als Grundkonstituenten des gesellschaftlichen Lebens, als Hauptprotagonisten sozialer Konflikte und als fundamentale Einheiten der Gesellschaftsanalyse zu betrachten« und die »Tendenz, die gesellschaftliche und kulturelle Welt als multichromes Mosaik darzustellen, das aus monochromen ethnischen, rassischen und

49 Ludger Pries, Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt. Theoretische Konzepte und empirische Tendenzen der Regulierung von Arbeit und Beschäftigung in der Transnationalisierung, Wiesbaden 2017. 50 Michael Vester, Klassengesellschaft ohne Klassen. Auflösung oder Transformation der industriegesellschaftlichen Sozialstruktur?, in: Peter A. Berger / Michael Vester (Hg.), Alte Ungleichheiten – Neue Spaltungen, Opladen 1998, S. 109–147. 51 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und ›Klassen‹, in: ders., Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon, Frankfurt am Main 1985. 52 Rogers Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg 2007.

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kulturellen Blöcken besteht.«53 Ausgehend von dieser Kritik gilt es, sich für das Relationale, Prozessuale, Dynamische und Wechselvolle solcher Gruppen und für Prozesse der Konstruktion und Organisation von Gruppen zu interessieren. In ähnlicher Weise fragt Wimmer nach Prozessen des Boundary making.54 Wie an Wimmers Konzept deutlich wird, werden in der Analyse von sozialen Ungleichheiten zunehmend verlaufsbezogene Perspektiven favorisiert. Die Identifizierung von ›Mechanismen‹ und ›Prozessen‹ steht in der jüngeren Soziologie jedoch im Kontext ganz unterschiedlicher theoretischer Perspektiven.55 Hedström und Swedberg gehen in Anlehnung an Mertons Konzept der Theorien mittlerer Reichweite davon aus, dass die Frage nach sozialen Mechanismen eine mittlere Analyseebene zwischen der Beschreibung von Phänomenen und der Entwicklung von sozialen Gesetzen eröffnet.56 In Anlehnung an Elster und Stinchcombe und mit engem Bezug auf Colemans Modell entwerfen sie eine Typologie von Mechanismen: situational mechanisms im Sinne der Makro-Mikro-Transition, individual action mechanisms auf der Mikroebene und schließlich transformational mechanisms im Sinne der Mikro-Makro-Transition. Sie verknüpfen die Analyse sozialer Mechanismen mit dem Prinzip der direkten Erklärung, dem Prinzip der begrenzten Reichweite und dem des methodologischen Individualismus. Charles Tilly favorisiert demgegenüber eine Analyse, die individuelle Prozesse in ihrem organisationalen Rahmen begreift.57 In ›Durable Inequality‹ geht es um die Frage, wie stabile Ungleichheiten in den Lebenschancen mit der sozialen Kategorisierung von Personen in Zusammenhang stehen; dabei unterscheidet er interior categorizations, die mit der Organisation von Unternehmen, Nationalstaaten und Haushalten in Zusammenhang stehen, von exterior categorizations nach »race, ethnicity, gender, and / or class«58. Tilly begreift – ausgehend von einer transaktionalen bzw. relationalen Perspektive–59 kategoriale Ungleichheiten als das Produkt verschiedener Mechanismen: mit Bezug auf die Marxsche Tradition spricht er von exploitation, nutzt den Begriff jedoch in einem recht weiten Sinn; bei Weber ist der Mechanismus des opportunity ­hoarding und der social closure entlehnt. Einen verstärkenden Effekt schreibt er zwei weiteren Mechanismen zu: Als emulation bezeichnet er die Nutzung 53 Ebd., S. 17. 54 Andreas Wimmer, Ethnic Boundary Making. Institutions, Power, Networks, Oxford 2013, S. 63–78. 55 Vgl. Rainer Schützeichel, Pfade, Mechanismen, Ereignisse. Zur gegenwärtigen Forschungslage in der Soziologie sozialer Prozesse, in: ders. / Stefan Jordan (Hg.), Prozesse. Formen, Dynamiken, Erklärungen, Wiesbaden 2015, S. 87–148. 56 Peter Hedström / R ichard Swedberg, Social Mechanisms, in: Acta Sociologica 39/3 (1996), S. 281–308. 57 Charles Tilly, Durable Inequality, Berkeley 1999, S. 35. 58 Ebd., S. 75. 59 Mustafa Emirbayer, Tilly and Bourdieu, in: The American Sociologist 41/4 (2010), S. ­400–422, hier S. 406 f.

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von anderweitig bewährten organisationalen Modellen; als adaption begreift er Prozesse der Anpassung an bestehende kategoriale Unterscheidungen in der alltäglichen Praxis. Darüber hinaus unterscheidet Tilly für die Analyse von Ungleichheiten im Kontext der Arbeit Rankingprozesse, in denen Jobs gegeneinander abgegrenzt werden und Sortingprozesse, in denen diese Jobs besetzt und mit exterioren Kategorisierungen verknüpft werden. Diese Unterscheidung hatte er in Zusammenarbeit mit Granovetter bereits früher ausgearbeitet.60 Verglichen mit der relationalen Perspektive Tillys rekurriert Therborn auf ein klassisches akteurszentriertes Handlungsmodell. »[I]nequalities are outcomes of action. They do not derive just from sources, whatever the argumentation. Inequalities are produced, reproduced, reduced, and dismantled by social interaction«. Therborn unterscheidet zum einen vier Basis-Faktoren, die zu Ungleichheiten führen: »natural endowments (of individuals, groups, territories), systemic arrangements of opportunities and rewards, the performance or productivity of actors, and individual and collective distributive action«. Zum anderen benennt er »mechanisms of interaction whereby inequality or equality are produced and sustained«.61 Zu den Ungleichheits-Mechanismen rechnet Therborn: distantiation, hierarchization, exclusion and exploitation; dem stellt er verschiedene Gleichheits-Mechanismen gegenüber: catching up, inclusion, organizational / institutional flattening, redistribution. 3.5 Innovative Ansätze der Sozialstrukturanalyse

Die wesentlichen Veränderungen bzw. Erweiterungen der Konzepte der Sozialstrukturanalyse können wie folgt zusammengefasst werden: – Trägergruppen und Merkmale sozialer Ungleichheit: Neben die sozioökonomisch abgegrenzten Gruppen treten Gruppen, die entlang verschiedenster Humandifferenzierungen auf Prozesse des Othering zurückgehen. Zudem sind in der transnationalen Perspektive auch Nationen bzw. Nationalstaaten als Einheiten der Ungleichheitsanalyse zu begreifen. Sie sind eine wichtige Einheit, die über die Wirtschafts- und Sozialpolitik Binnenverhältnisse sozialer Ungleichheit reguliert, die aber über die Außen- oder die Migrationspolitik auch die Außenverhältnisse sozialer Ungleichheit prägt. Damit erweitert sich zwangsläufig auch der Blick auf die ungleichheitsrelevanten Phänomene. Neben den ökonomischen und kulturellen Kapitalien geht es um Fragen der Anerkennung bzw. der Diskriminierung, es geht um staatsbürgerliche Rechte und die damit verbundenen sozialstaatlichen Leistungen und Partizipationsmöglichkeiten; das spiegelt sich auch in Sens Konzept 60 Mark Granovetter / Charles Tilly, Inequality and Labor Processes, in: Neil Smelser (Hg.), Handbook of Sociology, Newbury Park, Calif. 1988, S. 175–222. 61 Göran Therborn, Meaning, Mechanisms, Patterns, and Forces, in: ders. (Hg.), Inequalities of the World. New Theoretical. Frameworks, Multiple Empirical Approaches. London 2006, S. 1–58, hier S. 11 f.

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der Verwirklichungschancen.62 Therborn unterscheidet dementsprechend: (material and symbolic) resource inequality, vital inequality of life and health und existential inequality of freedom and respect.63 – Eine nicht-gruppistische, prozessorientierte Perspektive: Im Sinne der Gruppismuskritik Brubakers muss die Sozialstrukturanalyse die Konstrukte von sozialen Großgruppen (Klassen, Milieus, Geschlechter, Migranten) und deren Verknüpfung mit spezifischen Werten oder Normen, Kulturen oder Habitus kritisch reflektieren und sich für die Prozesse, in denen sich Gruppen formieren oder entformieren, in denen sich Werte und Normen, Kulturen und Habitus herausbilden, interessieren. Das bedeutet keineswegs, dass in solchen Analysen nicht auch soziale Gruppen eine definierte Rolle spielen können, als Beschreibungseinheiten, als empirisch nachzuweisende Interessengruppen oder als soziale Gruppen, denen sich Personen zurechnen. Neben den Prozessen, die die Herausbildung und Reproduktion sozialer Positionen und die Modi der Positionierung beschreiben können, geht es auch um Prozesse der Kumulierung im Lebens- und im Generationenverlauf.64 – Lebensverlaufsperspektive: Mit der Lebensverlaufsperspektive geraten die sozial differenzierenden Effekte der verschiedenen den Lebensverlauf strukturierenden Institutionen  – das Bildungssystem, das Erwerbssystem und schließlich die Haushalte  – in den Blick. Auch für die Verknüpfung von Sozialstrukturanalyse und Geschlechterforschung liefert die Lebensverlaufsperspektive wichtige Anstöße. »Zu Ungleichheitsbedingungen der Lebensführung durch Differenzen in den Lebenslagen der Herkunftsfamilien und zu akzidentiellen, konjunkturellen Arbeitsmarktentwicklungen treten also im weiteren Lebensverlauf ›Geschlecht‹ plus ›Familie‹ als Ungleichheit produzierende Kategorien hinzu.«65 – Doing difference als systematischer Bestandteil der Sozialstrukturanalyse: Sowohl die Geschlechterforschung wie die rassismuskritische Forschung – und die daran anschließenden Forschungen zur Intersektionalität – haben deutlich gemacht, dass die Herstellung von Differenz entlang verschiedenster Humankategorien als ein elementarer Bestandteil der Sozialstrukturanalyse begriffen werden muss.66 Dem liegt die Unterscheidung von kategorialen 62 Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2000. 63 Göran Therborn, The Killing Fields of Inequality, Cambridge 2013, hier S. 53. 64 Thomas A. DiPrete / Gregory M. Eirich, Cumulative Advantage as a Mechanism for Inequality. A Review of Theoretical and Empirical Developments, in: Annual Review of Sociology 32 (2006), S. 271–297. 65 Helga Krüger, Prozessuale Ungleichheit. Geschlecht und Institutionenverknüpfungen im Lebenslauf, in: Peter A. Berger / Peter Sopp (Hg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995, S. 133–154, hier S. 144. 66 Stefan Hirschauer, Humandifferenzierung. Modi und Grade sozialer Zugehörigkeit, in: ders. (Hg.), Un / doing Differences. Die Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist 2017, S. 29–54, hier S. 35.

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und relationalen Zugehörigkeiten zu Grunde. »Personen können kategorialen Klassen (wie Geschlechtern, ›Rassen‹ oder Blutgruppen) […] und sie könne sozialen Gebilden (wie Gruppen, Gemeinschaften, Organisationen) angehören«.67 Während sich über die Frage der Konstruktion und Genese von Anderen recht gut die ausgeprägten Ähnlichkeiten solcher Kategorisierungen aufzeigen lassen, offenbart die Frage nach der Verwendung solcher Kategorisierungen in sozialen Differenzierungsprozessen eine extreme Vielfalt von Konstellationen. – Wechselwirkung von Produktion, Regulierung und Haushalten: Im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung, in der sozialpolitischen Forschung68 und der familiensoziologischen Forschung69 ist es zu einer Wiederentdeckung der Haushalte und der Haushaltsproduktion gekommen.70 Auch im Kontext der Regulationstheorie wurde systematisch der Zusammenhang von (z. B. fordistischer) Produktions- und Lebensweise analysiert. Das impliziert ein erweitertes Verständnis der Vielfalt gesellschaftlicher Arbeit und ihrer Zusammenhänge; insbesondere die Zentrierung der Forschung auf die Industriearbeit (von freien Lohnarbeiter_innen) hat systematisch andere Formen von Arbeit, Arbeit in haushaltlichen oder zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen aber auch verschiedenste Formen von unfreier Arbeit, ausgeblendet. Die regulationstheoretische Perspektive wie auch die Varieties of CapitalismForschung haben den Blick systematisch auf die politisch (nationalstaatlich) hergestellten institutionellen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion und die darüber entstehenden Pfadeffekte gelenkt.71 In ähnlicher Weise macht auch die vergleichende Analyse von Wohlfahrtsstaaten und Globalisierungspfaden72 deutlich, wie eng die Zusammenhänge zwischen Produktionsweise und Regulierung sind.73 – Hinterfragung der räumlichen und zeitlichen Horizonte: Sowohl die räumlichen, wie die zeitlichen Horizonte von Sozialstrukturanalysen sind systematisch zu hinterfragen. Mit der Kritik des Container-Modells ist zum 67 Ebd., S. 30. 68 Vgl. exemplarisch: Gøsta Esping-Andersen, Social Foundations of Postindustrial Economies, Oxford 1999. 69 Vgl. exemplarisch: Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Familiale Vermittlung sozialer Ungleichheit vernachlässigte Probleme in alter und neuer Ungleichheitsforschung, in: Peter A. Berger / Peter Sopp (Hg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995, S. 155–177. 70 Wolfgang Glatzer, Haushaltsproduktion, wirtschaftliche Stagnation und sozialer Wandel, in: Wolfgang Glatzer / Regina Berger-Schmitt, Haushaltsproduktion und Netzwerkhilfe, Frankfurt am Main 1986, S. 9–50. 71 Vgl. auch Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus. Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019. 72 Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton, NJ 1990; Martin Schröder, Integrating Varieties of Capitalism and Welfare State Research. A Unified Typology of Capitalisms, New York 2013. 73 Elmar Rieger / Stephan Leibfried, Grundlagen der Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt am Main 2001; Rodrik, Globalization.

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einen eine Erweiterung der Perspektive auf transnationale und weltweite Ungleichheitsstrukturen verbunden. Damit verändert sich auch der Blick auf die Nationalstaaten, die neben ihrer sozialen Sicherungsfunktion eben auch die Zuwanderung (und damit die Möglichkeiten sozialer Mobilität) regeln. Schließlich erfordern Verhältnisse der Transmigration die Untersuchung von Migrationspfaden und Migrationsräumen. Die Doppelrevolution  – die bürgerlichen Revolutionen und die industrielle Revolution  – fungierte z. B. bei Wehler als ein wesentliches Moment der Abgrenzung ›moderner‹ Marktgesellschaften. Analog wird bei Marx der Übergang zwischen Feudalismus und bürgerlicher Gesellschaft (Kapitalismus) an der Herausbildung der freien Lohnarbeit festgemacht; dem folgte auch die ›Industrie‹-Soziologie, die auf die (männliche) Erwerbsarbeit im Industriebetrieb fokussiert. Demgegenüber ist bei Weber immer die Vorstellung angelegt, dass sich ständische und moderne Klassenstrukturen weitaus stärker überlagern können als gemeinhin unterstellt. Auch die weitreichende Geschichte der unfreien Arbeitsformen, die sich vielerorts an die Sklaverei und Leibeigenschaft anschlossen, verweist in diese Richtung. Nun stellt sich die Frage, wie man die ›alten‹ und ›neuen‹ Konzepte der Sozialstrukturanalyse (und die damit verbundenen theoretischen Perspektiven) sinnvoll zusammenbringen kann und auf welcher Ebene man eine solche Zusammenführung konzipiert. Im Folgenden wird ein kategorialer Rahmen – man kann auch im Sinne von Bader und Benschop von einer Protheorie sprechen74 – vorgestellt, der es ermöglicht, diese ganz verschiedenen Welten der Ungleichheitsforschung systematisch aufeinander zu beziehen.

4. Protheorie sozialer Differenzierung Die Protheorie sozialer Ungleichheit ist als Versuch einer Verdichtung der Perspektiven und theoretischen Konzepte der Sozialstrukturanalyse zu begreifen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Unterscheidung von sozialen Positionen und sozialen Lagen. Soziale Positionen

Der Begriff der sozialen Positionen, der typischerweise auf Positionen im Erwerbssystem bezogen wird, soll hier in einem weiteren Sinne begriffen werden, als Positionen im (nationalstaatlich regulierten) gesellschaftlichen Produktionsund Reproduktionsprozess. Der an Marx angelehnte Begriff der Produktion und Reproduktion soll die Gesamtheit der Arenen umfassen, in denen gesellschaft74 Veit Michael Bader / A lbert Benschop, Ungleichheiten. Protheorie sozialer Ungleichheit und kollektiven Handelns, Leverkusen 1989.

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liche Arbeit (arbeitsteilig) organisiert und reguliert wird. Soziale Positionen sind einerseits in der Arena der Erwerbsarbeit (z. B. Berufspositionen), in der Arena der Haushaltsproduktion (die Position von nichterwerbstätigen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen im privaten Haushalten) oder in der Arena des Sozialstaats (Empfänger_innen von sozialen Transferleistungen) lokalisiert. Andererseits sind soziale Positionen stets in einem bestimmten nationalstaatlichen Rahmen zu begreifen, in denen die Personen über (abgestufte) staatsbürgerliche und soziale Rechte verfügen. Die Qualität sozialer Positionen lässt sich über die damit verbundenen Kapitalien (im Bourdieuschen Sinne), über die soziale Anerkennung, über Rechte und Chancen und schließlich über Arbeits- und Lebenserfahrungen bestimmen. Soziale Positionen können im engeren Sinne als positionale Hüllen begriffen werden, die in Rankingprozessen in einer bestimmten Quantität und Qualität (Dotierung und Bewertung von Positionen) entstehen und reproduziert werden. Diese positionalen Hüllen werden im Rahmen von Sortingprozessen mit Personen, die in einer spezifischen Weise (nach verschiedenen Humankategorien) markiert wurden, besetzt. So entstehen soziale Positionen in einem weiteren Sinn. Eine solche Besetzung erfolgt bei Positionen der abhängigen Erwerbsarbeit und bei öffentlichen Transfers eher formalisiert; die Teilung der häuslichen Arbeit vollzieht sich eher in haushaltlichen Aushandlungsprozessen; bei selbstständigen Positionen im Erwerbssystem erfolgt die Besetzung (je nach Typ des Unternehmens) auf sehr unterschiedliche Weise. Auch die Positionen innerhalb eines Nationalstaats werden über das Geburtslotto75 oder über Prozesse der legalen oder der informellen Migration besetzt. Den Sortingprozessen gehen biographisch oftmals Qualifizierungsprozesse voraus (Presortingprozesse) und es sind biographische Entscheidungen (Selfsortingprozesse), die am Anfang einer spezifischen Qualifikations- und Erwerbskarriere stehen. Von zentraler Bedeutung für Sorting- aber auch für Rankingprozesse sind die Logiken, nach denen die Besetzung von Positionen erfolgt. Während in ständischen Gesellschaften bei solchen Zuweisungen die Geburt, die Herkunft, das Geschlecht aber auch ethnische und religiöse Merkmale ausschlaggebend waren, wird in ›modernen‹ Gesellschaften das ›Leistungsprinzip‹ in den Vordergrund gerückt. Die anderen Zuweisungslogiken verschwinden aber keinesfalls, wenn man das Staatsbürgerrecht, die Muster der geschlechtsspezifischen und ethnischen Arbeitsteilung oder die Reproduktion von ökonomischen und kulturellen Ungleichheiten betrachtet. Dementsprechend sind Ranking- und Sortingprozesse nicht selten auch verschränkt, wenn z. B. Positionen im Erwerbssystem bereits mit Blick auf die Besetzung mit spezifischen Personenkategorien geschaffen werden. Diese Logiken der Zuweisung spiegeln sich dann auch in den Selfsorting- und Presortingprozessen wider.

75 Ayelet Shachar, The Birthright Lottery. Citizenship and Global Inequality, Cambridge, MA 2009.

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Soziale Lagen

Soziale Lagen entstehen, indem Menschen in ihren praktischen Lebenszusammenhängen soziale Positionen kombinieren und sich so soziale und temporale Kumulierungen einstellen. Temporale Kumulierungen gehen auf Kumulierungen im Generationenverlauf (z. B. über die ›Vererbung‹ von Kapitalien, von Rechten, von Habitus, aber auch von Benachteiligungen) und im Lebensverlauf (z. B. über die Kumulierung von Einkommen oder Schulden, von guten oder schlechten Arbeits- und Lebenserfahrungen) zurück. Soziale Kumulierung entstehen im Haushaltszusammenhang (z. B. in dem Einkommen geteilt, in dem Güter und Leistungen gemeinsam genutzt werden). Analog zu den Merkmalen von sozialen Positionen lassen sich die sozialen Lagen über die Kumulation von Kapitalien, von Rechten, von Anerkennung oder von Erfahrungen beschreiben. Die Logiken der Zuweisung und des othering führen auf der Ebene der sozialen Lagen zu sehr unterschiedlichen Kumulierungseffekten. Im biographischen Verlauf entstehen über die vorherrschenden Muster der Arbeitsteilung eher männliche und eher weibliche Lebensverläufe. Die Lebensverläufe von Migrant_ innen zeichnen sich durch die Kombination von sozialen Positionen in mehreren nationalstaatlichen Welten und durch Prozesse der Kumulierung (aber auch der Entwertung) von Kapitalien, Rechten und Erfahrungen etc. aus. Über Prozesse der Homogamie werden einzelne Marker (Bildung, Ethnie) tendenziell verstärkt, andere abgeschwächt (z. B. in heterosexuellen Partnerschaften). Auch im Generationenverlauf haben die verschiedenen Humankategorisierungen ganz unterschiedliche Effekte. So werden z. B. phänotypische, aber auch habituelle Marker vererbt, während geschlechtliche Marker nicht vererbt werden. Schematisch kann das skizzierte Modell so visualisiert werden: Die »Welt« der sozialen Positionen: Analyse des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses und seiner nationalstaatlichen Regulierung

Die »Welt« der sozialen Lagen: Analyse von Haushaltsstrategien und Lebens- bzw. Generationenverläufen

Ranking- und Sortingprozesse

Sorting- und Kumulierungsprozesse

Die Logiken der Zuweisung: nach Humankategorisierungen (Geschlecht, Ethnie …), nach Leistung, nach ständischen Zuweisungsregeln bzw. Privilegien Quelle: eigene Darstellung

Wenn von einer ›Welt‹ der sozialen Positionen und der sozialen Lagen gesprochen wird, so soll das verdeutlichen, dass mit diesen beiden Konzepten zwei Sphären markiert werden, die zwar im Zusammenhang stehen, die aber völlig unterschiedlichen Logiken folgen. Die Welt der sozialen Positionen wird

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vorrangig bestimmt durch Unternehmen und Nationalstaaten, die die (weltweiten) Prozesse der gesellschaftlichen Produktion und ihre (nationalstaatliche) Regulierung organisieren. Über die Varietäten des Kapitalismus und die Varietäten seiner nationalstaatlichen und sozialpolitischen Regulierung entstehen ganz unterschiedliche soziale Positionssysteme. Mit Kolonialismus und Imperialismus und mit den postkolonialen und globalisierten politischen Ökonomien heutiger Zeit ist auf der weltgesellschaftlichen Ebene ein System von positional (fundamental) unterschiedenen Nationalstaaten entstanden. Neben diesen großen Akteuren sind aber auch die privaten Haushalte nicht zu unterschätzen, die einerseits gezwungen sind, sich den Veränderungen der Produktion und der Regulierung anzupassen, die aber anderseits auch als Akteure zu begreifen sind, die Arbeitskräfte bereitstellen und über die Haushaltsproduktion einen nicht geringen Teil der Sozialprodukte erwirtschaften. Sie sind in dem Sinne schwach, als dass sie kaum über zentralisierte Strukturen verfügen, wie Unternehmen und Nationalstaaten; sie sind aber stark, durch ihre schiere Masse und in entwickelten und demokratischen Industrieländern auch durch ihre Wählerstimmen und ihre Kaufkraft.76 Über die sich historisch verändernden Produktions-, Regulierungs- und Lebensweisen entstehen immer wieder veränderte Möglichkeitsräume: neue soziale Positionen entstehen, alte verschwinden und auch ihre Qualität verändert sich. Die Welt der sozialen Lagen ergibt sich gewissermaßen aus der Art und Weise, wie Menschen (unter sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und unter wechselnden historischen Rahmenbedingungen) im Laufe der Jahrhunderte diese (jeweils gegebenen) Möglichkeitsräume genutzt und wie sie sie verändert haben. Dabei wird dann auch deutlich, wie diese Welten in Zusammenhang stehen. Die Analyse sozialer Lagen muss sich letztlich für Individuen interessieren, die aber im Lebens- und Generationenlauf in verschiedensten haushaltlichen, nachbarschaftlichen, verwandtschaftlichen, regionalen und nationalen Zusammenhängen stehen. In der Generationenperspektive wird deutlich, dass es keinen Nullpunkt sozialer Differenzierung geben kann. Der Geburtsort und die damit ererbten Rechte und Leistungen, die soziale Herkunft und die damit ererbten Kapitalien und Habitus, die Zurechnung zu verschiedensten Humankategorien aber auch eher individuelle Dispositionen schaffen recht unterschiedliche Startbedingungen, die dann aber im Lebensverlauf verändert werden können, indem die sich verändernden (mehr oder weniger großen) Möglichkeitsräume genutzt werden.

76 Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017, S. 210.

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Mechanismen

Ausgehend von der Unterscheidung von sozialen Positionen und sozialen Lagen lassen sich verschiedene Prozesse gegeneinander abgrenzen, die auf ganz unterschiedliche Weise zu sozialen Ungleichheiten beitragen. Summarisch kann man soziale Ungleichheit als Phänomen begreifen, das sich über Ranking-, Sorting- und Kumulierungsprozesse in den verschiedenen Arenen des (welt- bzw. nationalgesellschaftlichen) Produktions- und Reproduktionsprozesses einstellt. Es sind die Ranking- und Sortingprozesse, die die Welt der ungleichen sozialen Positionen (im engeren Sinne) hervorbringen und es sind die in den Sorting-, Presorting- und Selfsortingprozessen wirksamen Zuweisungsmechanismen (z. B. nach Leistung, nach Humankategorien oder eher nach ständischen Regeln), die dann ungleiche Positionen im weiteren Sinne entstehen lassen. Für eine genauere Analyse von Rankingprozessen können Prozesse der exploitation (Therborn, Tilly), der distantation (Therborn) und der hierarchization Hierarchization (Therborn) untersucht werden. Bei der Analyse von Sortingprozessen sind die Konzepte des opportunity hoarding (Tilly) bzw. der exclusion (Therborn) bedeutsam. Darüber hinaus gilt es, wie Therborn ausführt, sich auch für die Mechanismen der Verringerung von Ungleichheiten zu interessieren.77 Soziale Lagen gehen somit auf temporale und soziale Kumulierungsprozesse zurück. Auch sie sind durch die Zuweisungsmechanismen und die dabei verwendeten Humankategorisierungen geprägt, in dem diese Kumulierungsprozesse eher verstärken oder eher abschwächen. Sozialstrukturen

Das Zauberwort der Sozialstrukturanalyse kann nun weiter aufgeschlüsselt werden. Man hat es mit Strukturen sozialer Positionen zu tun, die sich über Rankingprozesse einstellen: Das ist zum einen die Struktur ungleicher sozialer Positionen zwischen den Nationalstaaten, die sich z. B. in der zumeist relativen stabilen Ordnung der Sozialprodukte zeigt; das ist zum anderen die Struktur ungleicher sozialer Positionen innerhalb der Nationalstaaten, wie sie sich an den relativ stabilen Unterschieden zwischen den Einkommen aus selbstständiger und abhängiger Arbeit oder an den Binnendifferenzen der abhängigen Arbeit zeigt. Man hat es zudem mit Strukturen zu tun, die sich über Sorting- und Kumulierungsprozesse einstellen: Das ist die Struktur ungleicher sozialer Lagen, die in verschiedener Weise begriffen werden können: als differente Lagen von sozialen Gruppen im nationalen oder weltgesellschaftlichen Kontext, aber auch als differente Lagen von Personengruppen, die nach Geschlecht, Hautfarbe oder kulturellen Zuschreibungen abgegrenzt werden.

77 Therborn, Meaning, Mechanisms, Patterns, and Forces, S. 14; Tilly, Durable Inequality, S. 84–98.

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Man kann auch angesichts der Institutionen (und Regime), die Presortingund Sortingprozesse im Bildungs- und Erwerbssystem organisieren, von Strukturen sprechen: ein fein gliedertes Schulsystem, das in verschiedenste Segmente des Arbeitsmarktes und später der sozialen Sicherung führt. Mit diesen strukturellen Ungleichheiten sind auch je spezifische Machtstrukturen und Konflikte um den Bestandserhalts bzw. die Bestandsveränderung verbunden, die in den verschiedenen Arenen ausgefochten werden und um die sich je spezifische soziale Bewegungen herausgebildet haben. Die oben vorgeschlagene Differenzierung von verschiedenen ungleichheitsgenerierenden Mechanismen kann auch dafür genutzt werden, das Faszinosum gesellschaftlicher Machtverhältnisse weiter aufzuschlüsseln; so geht es um Machtverhältnisse zwischen den Nationalstaaten, um Machtverhältnisse innerhalb der Erwerbspositionen (der klassische Konflikt von Kapital und Arbeit), aber auch um die gestuften Machtverhältnisse innerhalb der abhängigen Arbeit, um Machtverhältnisse zwischen den Lagegruppen (Reiche, Besitzende, Prekäre und Arme) und schließlich um Machtverhältnisse zwischen Personengruppen (Männer und Frauen, Autochthone und Migrant_innen, ›Schwarze‹ und ›Weiße‹). Soziale Gruppen werden im Sinne der Protheorie der Analyse von Sozialstrukturen nicht vorausgesetzt; sie können aber als beschreibendes und ana­ lytisches Moment genutzt werden. So kann es sinnvoll sein, Gruppenkonstrukte zu nutzen, um Positions- und Lagedifferenzen zu beschreiben und zu ana­ lysieren. Auch für die Analyse von Machtdifferentialen und für die Analyse der Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen kann es sinnvoll sein, Interessen­ gruppen und ihre Verschränkung mit spezifischen Positions- oder Lagegruppen zu untersuchen.

5. Entwicklung der Sozialgeschichte Zwischen den Entwicklungen im Bereich der Sozialstrukturanalyse und der Sozialgeschichte zeigen sich vielerlei Parallelen – auch im Diskursverlauf zeigt sich ein sehr ähnliches Timing. In beiden Disziplinen sind die klassischen Konzepte in die Krise gekommen und es wurden ganz ähnliche Konzepte diskutiert, die zu einer Weiterentwicklung oder Revisionen des klassischen Kanons genutzt werden können. Diese Parallelen gehen weniger auf direkte Wechselwirkungen zurück, es ist eher die Einbettung in ein gemeinsames diskursives Universum. Das bezieht sich sowohl auf die Herausbildung eines klassischen Paradigmas wie auch auf die neueren Entwicklungen, die sich in ganz ähnlicher Weise in der Sozialstrukturanalyse wie in der Sozialgeschichte finden. Wohlwissend, dass die Sozialgeschichte auf eine weitaus längere Entwicklung zurückblickt78 und dass die Sozialgeschichte durchaus breiter aufgestellt 78 Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff, Entwicklung, Probleme, Göttingen 1986; ders., Sozialgeschichte in Deutschland seit 1945. Aufstieg, Krise und Perspektiven, Bonn 2002;

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ist79, konzentriert sich die folgende Darstellung auf den Bielefelder Ansatz der Sozialgeschichte. 5.1 Das Bielefelder Programm der Sozialgeschichte

Bei Hans-Ulrich Wehler werden Sozialstruktur und Gesellschaftsgeschichte in einen engen Zusammenhang gebracht. »Gesellschaftsgeschichte hat es wesentlich mit der Verfassung des Binnenbereichs einer Gesamtgesellschaft zu tun, ihn kann man auch ihre ›Sozialstruktur‹ nennen. Mit dieser Kategorie gewinnt man einen allgemeinen Sammelbegriff für das ganze innergesellschaftliche Gefüge, das bestimmt wird durch die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Lage der sozialen Schichten, die politischen Einrichtungen, auch durch gesellschaftliche Organisationen wie Parteien und Interessenverbände, durch Familie, Bildungssystem und Kirche – mit anderen Worten: durch eine Vielzahl von Institutionen und vorstrukturierten Handlungsfeldern, nicht zuletzt auch durch kulturelle Normen, religiöse Wertvorstellungen und die wechselnde Deutung der sozialen Lebenswelt. So gesehen ist Gesellschaftsgeschichte über weite Strecken Sozialstrukturgeschichte.«80 Mit Bezug auf Max Weber markiert Wehler politische Herrschaft, Wirtschaft und Kultur als »gleichberechtigte kontinuierlich durchlaufende Dimensionen von Gesellschaft«.81 Mit der Gleichrangigkeit setzt er sich gegen die Vorstellun­ gen von Hegel, von Stein und Marx ab, dass sich ein »sozioökonomischer Kernbereich des Gesamtsystems« ausmachen lasse. Neben den Zentralachsen Herrschaft, Wirtschaft und Kultur misst er auch dem »System der sozialen Ungleichheit […] eine […] hervorragende Bedeutung zu«. Diese begreift er als ein »Ergebnis des Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und kulturellen Entwürfen der Weltdeutung«.82 An anderer Stelle arbeitet Wehler die große Bedeutung einer reformulierten »historisch-komparativen Modernisierungsforschung«83 für die historische Sozialwissenschaft heraus. Das theoretische Programm ist trotz der ausgewiesenen Bezüge auf die Gesellschaftsanalyse Webers und seine Klassenkonzepte eher

79 80 81 82 83

sowie die Beiträge in: Lutz Raphael (Hg.), Von der Volksgeschichte zur Struktur­geschichte. Die Anfänge der westdeutschen Sozialgeschichte 1945–1968, Leipzig 2002. Jürgen Kocka, Wandlungen der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte am Beispiel Berlins 1949 bis 2005, in: Jürgen Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 11–31. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1: 1700–1815. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära, München 1987, hier S. 9 f. Ebd., S. 7. Ebd., S. 11. Hans-Ulrich Wehler, Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft, Göttingen 1980, S. 164.

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eklektischer Natur. So macht Osterhammel deutlich, dass das Webersche Werk aber auch die Ansätze Pierre Bourdieus eher als »›Goldmine‹« oder als »Werkzeugkasten« begriffen wurden und dass darüber hinaus eher »Bereichstheorien« (z. B. des demographischen Übergangs, des europäischen Heiratsmuster etc.) genutzt wurden.84 Ungeachtet des engen Zusammenhangs, den Wehler zwischen Sozial­struktur und Gesellschaftsgeschichte knüpft, finden sich keine dezidierten Bezüge auf die zeitgenössische Soziologie; das scheint eher einer Enttäuschung geschuldet: »Die Soziologie könnte vom System der sozialen Ungleichheit her eine umfassende Konzeption entwickeln, die weder ökonomische noch politische oder kulturelle Faktoren ausschlösse. […]. Dennoch gibt es bislang erst wenige überzeugende Versuche, vielmehr beherrschen zahlreiche Detailstudien mit völlig verschiedenen Begriffen und Zielen dieses Feld, das nur sehr selten als Ganzes behandelt wird« .85 Dies wird auch von Osterhammel bestätigt: »Es ist leicht einzusehen, dass die Hauptrichtungen der neueren systematischen US -Soziologie der Gesellschaftsgeschichte wenig zu bieten haben: Rational-Choice-Ansätze, Neo-Funktionalismus und eine eher beschreibend-impressionistische Kultursoziologie. In dem Maße, wie die deutsche Soziologie sich ins Fahrwasser dieser Strömungen begeben hat, wird auch von ihr wenig zu lernen sein.«86 Die Zeitstruktur der Gesellschaftsgeschichte ist klar konstruiert. Es ist zum einen das bei Hobsbawm adaptierte Modell einer politischen und industriellen »Doppelrevolution«; zum anderen erfolgt die Periodisierung vornehmlich entlang wichtiger zeitgeschichtlicher Ereignisse. Nathaus spricht von einer »Chronologie der politischen Systemwechsel in Deutschland«87. Die Erzählstruktur wird dann über die oben markierten Überlegungen begründet; mithin geht es in steter Ordnung um: Politik, Wirtschaft, Soziales und Kultur. Die Darstellung des Sozialen wird durch die Analyse sozialer Gruppen strukturiert; später dann um Abschnitte zu Frauen und Migranten erweitert. 5.2 Neuere Themen und Perspektiven der Sozialgeschichte

Hitzer und Welskopp benennen in ihrer Edition klassischer Texte der Sozialgeschichte neben der Begriffsgeschichte drei Herausforderungen, mit denen sichdie Vertreter des Bielefelder Ansatzes konfrontiert sahen: die Alltags­ geschichte, die Frauen- und Geschlechtergeschichte und schließlich die neue

84 Jürgen Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte und Historische Soziologie, in: ders. u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 81–102, hier S. 87. 85 Wehler, Gesellschaftsgeschichte Band 1, hier S. 27. 86 Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte, hier S. 82. 87 Klaus Nathaus, Sozialgeschichte und Historische Sozialwissenschaft, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 24.09.2012, S. 10 (http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.268.v1 (aufgerufen am 15.03.2020)).

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Kultur­geschichte;88 zu einer ähnlichen Ordnung kommt von Saldern.89 Darüber hinaus sind aber auch die sozialhistorische Migrationsforschung und vor allem Diskurse und Analysen zu Prozessen der Transnationalisierung und zur Geschichte des Kolonialismus, der Dekolonisierung und des Postkolonialismus zu benennen. Auf der einen Seite geht es dabei um eine (erhebliche) Erweiterung der Themenfelder, die für die Sozialgeschichte als bedeutsam erachtet werden; auf der anderen Seite ist damit aber stets auch eine Kritik an den (theoretischen) Perspektiven und dem Standort der Forschenden verbunden. Die thematischen Erweiterungen des Programms sind bereits verschiedentlich dargestellt worden – für die Geschlechterforschung90, für die Migrationsforschung91, für die Dekolonisierung92 – daher beschränke ich mich auf die theoretischen Debatten und die daran anschließenden Vorschläge. Welskopp hatte verschiedene theoretische Grundprobleme der Historischen Sozialwissenschaft ausgemacht: Die strukturalistische Schieflage, die insbesondere aus der Perspektive der Alltagsgeschichte kritisiert wurde, die unzureichende Berücksichtigung der hermeneutischen Dimensionen sozialen Handelns, die unzureichende Konzeptionierung kollektiven Handelns, die monolithische Vorstellung von Institutionen, die nur durch eine Soziologisierung der Politik und der Ökonomie aufgebrochen werden kann, eine fehlende relationale Vergesellschaftungsgeschichte als eine Geschichte sozialer Beziehungen, die Defizite des sozialhistorischen Klassenbegriffs, der die Existenz von Klassenbeziehungen vernachlässigt, die unglückliche Dichotomisierung von Gesellschaft und Kultur, die fortwährende modernisierungstheoretische Fixierung 88 Bettina Hitzer / Thomas Welskopp (Hg.), Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010. 89 Adelheid von Saldern, ›Schwere Geburten‹. Neue Forschungsrichtungen in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft (1960–2000), in: WerkstattGeschichte (2005), H. 3, S. 5–30. 90 Gisela Bock, Geschlechtergeschichte auf alten und neuen Wegen. Zeiten und Räume, in: Jürgen Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 45–66; Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick / A nne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, S. 15–55; Karin Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012; Julia Paulus u. a. (Hg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2012; Gabriella Hauch, Geschichtswissenschaften. Von einer Leitwissenschaft in der Frauen- und Geschlechterforschung zur institutionalisierten Disziplin, in: Beate Kortendiek u. a. (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechter­ forschung. Bd.1, Wiesbaden 2019, S. 521–530. 91 Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, in: ders. (Hg.), Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004, S. 13–25. 92 Jan C. Jansen / Jürgen Osterhammel, Dekolonisation. Das Ende der Imperien, München 2013.

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und die Fixierung auf die Sonderwegsdebatte. Zudem fordert er, an die Stelle eines ›instrumentellen Theoriegebrauchs‹ müsste »historische Theoriebildung zu einem Teil des historischen Forschungsprozesses selbst werden.«93 Welskopp resümiert: »Die Historische Sozialwissenschaft und die Gesellschaftsgeschichte zeigen Alterserscheinungen. Als Plattform für die innovative Weiterentwicklung der Sozialgeschichte haben sie sich aber nicht überlebt. […] Gefragt ist eine Entkernung ihres theoretischen Begriffsskeletts. Die oben skizzierte ›praxeologische‹ Wende, die auch ein Stück hermeneutische Wende einschließt, ist unerläßlich, die theoretische Neufassung des ›Strukturbegriffs‹ deren Grundbestandteil. Die Vermittlung von Mikro- und Makrogeschichte, das Verständnis von ›Gesellschaft‹ als je konkreter ›Vergesellschaftung‹, die relationale Integration der ethnischen, religiösen und Geschlechterdimensionen und eine genuin soziale Geschichte der Institutionen erwachsen aus diesem Grundschritt als produktive Potentiale. Auf dieser Basis kann auch die Modernisierungstheorie überwunden und zu einer erst noch zu entwickelnden ›Theorie der modernen Gesellschaft‹ aufgefächert werden. Gesellschaftsgeschichte kann sich zu Vergesellschaftungsgeschichte erweitern und Historische Sozialwissenschaft zu einer sprachsensiblen, kontextbewußten, kulturorientierten Historischen Gesellschaftswissenschaft mit eigenem theoretischen Selbstverständnis.«94 Dementsprechend favorisiert Welskopp, dass die Verbindungen von Ökonomie und Gesellschaft gestärkt und eine soziale Geschichte des Politischen entwickelt werden müsse; die Kulturgeschichte und das Interesse für ›Texte‹ mache nur im Zusammenhang einer Vergesellschaftungsgeschichte und einer praxeologischen Perspektive Sinn.95 Osterhammel konstatiert, dass der Theorieimport, der die Gesellschaftsgeschichte zunächst ausgezeichnet habe, abgeebbt sei;96 er macht dies z. B. am »Versiegen der transatlantischen Inspiration« deutlich, die Größen der historical sociology (z. B. Stein Rokkan, Michael Mann, Charles Tilly, Barrington Moore oder Theda Skocpol) seien zwar »mit einem pauschalen Kopfnicken gegrüßt«97 aber für die eigene Arbeit nicht erschlossen worden; er bezieht das aber auch auf die deutschen historischen Soziologen nach Max Weber (z. B. Werner Sombart, Alfred Weber, Karl Mannheim oder Joseph Schumpeter). Osterhammel verortet den Bielefelder Ansatz mit Bezug auf verschiedene Entwicklungs­ phasen der historical sociology; er folgt einem Vorschlag von Adams u. a., die drei

93 Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 169–194, hier S. 187. 94 Ebd., S. 189 f. 95 Thomas Welskopp, Unternehmen Praxisgeschichte. Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, Tübingen 2014. 96 Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte, hier S. 88. 97 Ebd., S. 82 f.

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Phasen der historischen Soziologie unterscheiden.98 Während die erste Welle der historischen Soziologie (z. B. Smelser, Eisenstadt) mehrheitlich an der Modernisierungstheorie orientiert war, arbeitete die zweite Welle (z. B. Skocpol, Stinchcombe oder Tilly) mit einer Synthese aus Marxscher und Weberscher Perspektive. Damit korrespondiert »a substantive interest in political economy centered on questions of class formation, industrialization, and revolution along with a (usually implicit) utilitarian model of the actor«.99 Die dritte Welle zeichnet sich durch neue thematische Schwerpunkte (»institutionalism; rational-choice; the cultural turn; feminist challenges and the scholarship on colonialism and the racial formations of empire«), veränderte Vorstellungen von sozialen Gruppen und Akteuren (»a greater appreciation of the range of variation in the historical and political constitution of political actors, with some loosening of strictly political-economic understandings of identities and preferences, interests or goals«) und veränderte Konzepte der historischen Entwicklung (»poststructuralism and post-modernist critiques of Enlightenment universalism and the grand narratives of modern historical development«) aus. Osterhammel sieht große Ähnlichkeiten zwischen dem Konzept der Gesellschaftsgeschichte und der zweiten Welle der historischen Soziologie. »Gemeinsam war beiden Richtungen vor allem eine evolutionäre (nicht: evolutionistische) Makroperspektive, die vielfaltig mit empirischen Details ausgemalt werden konnte, aber das Bedürfnis nach feineren Prozessbegriffen auf Meso- und Mikroebenen nicht aufkommen ließ. Man sprach von den verschiedenen großen Transformationsprozessen und entwarf Szenarien von Klassenkonflikten und Klassenallianzen. Die Akteure waren Großentitäten wie ›Eliten‹ und ›Staat‹, ›Adel‹ und ›Bürgertum‹.«100 Neben der vielfach unterstellten ›Raumblindheit‹ macht Osterhammel erhebliche Defizite in der Konzeptualisierung von Zeit aus; er macht dies an Problemen der Periodisierung, an Zeitskalen, Zeitschichten, Tempi und an der Bedeutung der Zeit für Prozesse der gesellschaftlichen Koordination fest.101 Zudem verweist Osterhammel auf Defizite in der Markierung der wesentlichen Wandlungsprozesse: »Im Vordergrund standen Industrialisierung, Klassenbildung (später weit gefasst als Strukturwandel sozialer Ungleichheit) sowie die Formierung eines deutschen Nationalstaates. Der Begriff der Modernisierung diente in manchen Zusammenhängen als bündelndes Kürzel. Andere Makroprozesse, für die sich die historischen Soziologen interessierten, wurden eher vernachlässigt oder erst später einbezogen: demographische Trends und Wanderungen, der Ausbau weltwirtschaftlicher Verflechtungen […], Säkularisierung, der Aufstieg der Massenkultur usw.«102 Dementsprechend mahnt er an, sich für »feinere Pro98 Julia Adams u. a., Introduction. Social theory, modernity and the three waves of historical sociology, in: dies. (Hg.), Remaking Modernity. Politics, History, and Sociology, Durham 2005, S. 1–72. 99 Ebd., hier S. 7. 100 Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte, hier S. 98. 101 Ebd., hier S. 90–95. 102 Ebd., hier S. 97.

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zessbegriffe«103 zu interessieren: Zyklen, Pfadabhängigkeiten, Wiederholungs­ strukturen oder Mechanismen. Schließlich gelte es auch, sich den neueren Diskussionen um historisch sozialwissenschaftliches Erklären zuzuwenden. Abelshauser macht deutlich, dass das Paradigma der industriellen Revolution als Ausgangspunkt der modernen Gesellschaftsgeschichte nicht länger tauglich ist.104 »Wenn es eine Renaissance des Modernisierungskonzepts gibt, so hat sie ihre Ursache vor allem in seiner Verlagerung auf die frühe Neuzeit und das Mittelalter«. Darüber hinaus gelte es, sich wesentlich stärker für die institutionellen Innovationen zu interessieren. »Besonders dankbare Objekte sollten dabei die Institutionen sein, deren Akkumulation auf dem langen Weg in die europäische Moderne – von der Hanse über Oberitalien, Oberdeutschland, nach den Niederlanden und schließlich nach England – den Modernisierungsprozess bestimmt haben. Moderne Institutionen wie neue Formen von Verfügungsrechten über Eigentum, politische Autonomie, wirtschaftliche und gesellschaftliche Selbstverwaltung, rationale, d. h. berechenbare und verläßliche Spielregeln auf Märkten oder kommerzielle Denkweisen in der Wirtschaft suchten und fanden die Organisationsformen, die ihren Charakter und ihre Funktionsweise am besten zur Geltung brachten.«105 Einige der hier angeführten Kritikpunkte wurden von den Vertretern der Sozialgeschichte aufgenommen; so konstatiert Kocka, die Sozialgeschichte habe manche Kritiken »selektiv angeeignet und verarbeitet: das Interesse an der Geschlechterdifferenz; die Frage nach Wahrnehmungen und Erfahrungen, Handlungs- und Verarbeitungsweisen […]; die Fähigkeit zur Einbeziehung der Deutungen und Deutungssysteme, der Symbole und symbolischen Praktiken […]; die Aufmerksamkeit für die Sprache und die Neigung zur begriffsgeschichtlichen Erweiterung, die methodischen Konsequenzen des Konstruktivismus, wenngleich nicht in seiner radikalen Form«.106 Er benennt dann jedoch einige Kernbestände einer modifizierten Sozialgeschichte; diese sieht er durch vier Merkmale gekennzeichnet: die »Zurückweisung eines strikten methodologischen Individualismus«, das »Interesse an Zusammenhangserkenntnis vor allem durch Betonung sozialer Strukturen und Prozesse«, die über »Wie-Fragen« hinausgehenden Fragen nach »Ursachen und Folgen«.107 Schließlich verwendet er sich gegen eine weitgehende Vernachlässigung der ökonomischen Dimension.

103 Ebd., hier S. 98. 104 Werner Abelshauser, Von der Industriellen Revolution zur Neuen Wirtschaft. Der Paradigmenwechsel im wirtschaftlichen Weltbild der Gegenwart, in: Jürgen Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 201–218, hier S. 203. 105 Ebd., hier S. 207. 106 Kocka, Wandlungen, S. 25. 107 Ebd.

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6. Potenziale der Sozialgeschichte im Lichte der Protheorie sozialer Differenzierung Die oben skizzierte Protheorie sozialer Differenzierung ist im Kontext der Sozialstrukturanalyse formuliert worden, um die verschiedensten Stränge einer ›erweiterten Sozialstrukturanalyse‹ aufeinander beziehen zu können. Angesichts der doch recht ähnlichen Diskurse, die sich um die Kritik und Erweiterung des klassischen Kanons in der Sozialstrukturanalyse wie in der Sozialgeschichte ausgebildet haben, ist es nicht ganz unplausibel zu vermuten, dass dieses Konzept auch im Kontext der Sozialstrukturanalyse dienlich sein kann. Verglichen mit den Vorschlägen, die Welskopp für eine Weiterentwicklung der Sozialgeschichte unterbreitet hat, finden sich manche Parallelen – die praxeologische Perspektive, die Akzentuierung der sozioökonomischen und sozialpolitischen Perspektive und die systematische Nutzung konstruktivistischer Perspektiven. Es lassen sich aber auch einige Spezifika ausmachen: – Im Zentrum der skizzierten Protheorie steht die Frage, wie sich soziale Ungleichheiten erklären lassen. Wenn man diese nun in historischer Perspektive verfolgt, ergibt sich daraus ein ambitioniertes Analyseprogramm, aber es bleibt deutlich unter der Komplexität und dem Erklärungsanspruch einer Gesellschaftsgeschichte. Es geht um eine (letztlich globale) Geschichte der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen, aber diese wird ganz spezifischen Fragestellungen unterworfen. D. h. es interessiert mithin nicht die Gesellschaftsgeschichte eines Nationalstaats; sondern es geht darum, wie sich diese Entwicklungen im Kontext politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in sozialen Positionen und sozialen Lagen (diesseits und jenseits von Nationalstaaten) niederschlagen. Diese Beschränkung des Erklärungsanspruchs birgt die Chance einer präziseren Analyse der Mechanismen, die auf den verschiedenen Ebenen soziale Ungleichheiten hervorbringen und reproduzieren. Die Wirtschaftsgeschichte und die politische Geschichte werden somit entlang der Frage rekonstruiert, wie sich wirtschaftliche und regulative Veränderungen auf die Struktur sozialer Positionen und sozialer Lagen auswirken. – Die Fokussierung auf die Frage der sozialen Ungleichheit geht mit einem Plädoyer für eine ›politisch-ökonomische‹ und ›sozioökonomische‹ Perspektive einher. Der Versuch einer (nicht deterministischen und institutionenökonomisch reflektierten) Rekonstruktion gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsprozesse und ihrer Regulierung bzw. die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Arenen, bieten weitaus bessere Chancen der Zusammenführung verschiedenster Wirklichkeitssphären als es die Abgrenzung von Teilsystemen oder Feldern leisten kann. Das impliziert die systematische Einbeziehung der Haushalts- bzw. Familienebene108, über 108 Tamara K. Hareven, Familiengeschichte, Lebenslauf und sozialer Wandel, Frankfurt am Main 1999, S. 206 f.

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die sich erst die Gesamtheit gesellschaftlicher Arbeit erschließt, und eine Reflexion der industrialistischen Perspektive.109 – Die Aufnahme der reflexiven Potenziale der ›Gruppismuskritik‹ Brubakers bedeutet, sich für Prozesse der Vergemeinschaftung, Gruppenbildung, der Organisation, für Institutionalisierungen und für Machtbeziehungen entlang verschiedenster Praktiken und Diskurse zu interessieren. Damit korrespondiert ein Interesse für die Analyse von Mechanismen und Prozessen, die sich hier erkennen lassen. Das impliziert auch eine systematische Aufnahme der intersektionalen Perspektive; die reflexiven Potentiale der Gruppismuskritik sind aber auch hier zu nutzen. Wie bereits angedeutet impliziert diese nicht-gruppistische Perspektive einen Blick auf die Pluralität von möglichen Gruppenkonstruktionen und -dekonstruktionen (nach sozialer Lage, nach Humankategorisierungen). – Das impliziert eine kritische Reflexion der Abgrenzungen und Periodisierungen, mit denen z. B. die Wehlersche Gesellschaftsgeschichte arbeitet: die ökonomische bzw. politische Doppelrevolution110, die Abgrenzung von Feudalgesellschaft und Kapitalismus (Industriegesellschaft, Marktgesellschaft), die Abgrenzung der freien Lohnarbeit von anderen Formen der Arbeit. Das muss sich dann auch bei der Analyse von Institutionen und bei der Konzeption von Sozialstrukturen fortsetzen. Hier gilt es, die Postulate Webers zu hinterfragen; umgekehrt kann aber auch sein Blick auf die Kontinuitäten von (z. B. ständischen) Sozialmustern produktiv genutzt werden. Dabei eröffnet die Unterscheidung von sozialen Positionen und sozialen Lagen differenzierte Analysepotentiale: Soziale Positionen sind weitaus enger an die sich (mitunter rapide) verändernden ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen gebunden; soziale Lagen sind demgegenüber weitaus träger und langlebiger. In diesem Sinne hat die historische Familienforschung »durch ihre Leugnung einer simplen Kausalbeziehung zwischen Industrialisierung und sozialem Wandel neue Fragen über einen ›stufenweisen‹ historischen Wandel im gesellschaftlichen Leben ausgeworfen.«111 Osterhammel unterscheidet zwischen einer »Gesellschaftsgeschichte Typ I als ›gesamtgesellschaftlich‹-nationaler Synthese-Matrix im Sinne von Hans-Ulrich Wehlers ›Deutscher Gesellschaftsgeschichte‹ und Gesellschaftsgeschichte Typ II als einer Geschichte des Sozialen in seinen weltweit realisierten Erscheinungsformen unter Einschluss transnationaler Wirkungen und Wechselwirkungen.«112 Der hier favorisierte Ansatz wäre dazwischen einzuordnen: Er erhebt nicht den weitreichenden Anspruch, der mit der Wehlerschen Gesellschaftsgeschichte 109 Gary B. Herrigel, Industrial Constructions. The Sources of German Industrial Power, New York 1996, S. 24. 110 Plumpe, Das kalte Herz, S. 157. 111 Hareven, Familiengeschichte, S. 207. 112 Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte, hier S. 85.

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verbunden ist, die Leitfrage nach sozialen Ungleichheiten ermöglicht weitaus gerichtetere Analysen; er bewegt sich aber auch unterhalb einer Weltgeschichte des Sozialen, indem sich Prozesse der sozialen Differenzierung durchaus auch in einem nationalstaatlichen Beobachtungsrahmen analysieren lassen. Die Protheorie impliziert eine Verschiebung von der Klassengeschichte zu poly­ zentrischen Ungleichheitsgeschichten und veränderte Fragen bzw. Muster des Erklärens sozialer Ungleichheiten. Insbesondere die Analyse sozialer Lagen erfordert aber auch neue empirische Zugänge und neue Muster des Darstellens und des Erzählens. Entlang der zentralen Unterscheidung der Protheorie lässt sich eine Geschichte der sozialen Positionen und eine Geschichte der sozialen Lagen unterscheiden. Geschichte der sozialen Positionen

Die Geschichte der sozialen Positionen kann auch als Geschichte des gesellschaftlichen Wandels begriffen werden. Es geht in letzter Instanz um den Wandel der Quantität und Qualität sozialer Positionen; man kann es auch als einen Wandel der sozialen Möglichkeitsräume begreifen, die sich verschiedenen sozialen Akteuren zu einer gegebenen Zeit (und in einem gegebenen räumlichen Kontext) bieten. Eine Geschichte der sozialen Positionen kann an etablierte Arbeitsfelder der Geschichtswissenschaft anknüpfen, an die Wirtschaftsgeschichte (inklusive der Geschichte der Reproduktion bzw. der Haushalte und der Geschichte wirtschaftlicher Institutionen), an die politische Geschichte, an die Geschichte der Sozialpolitik und an die Geschichte der politisch-sozialen Auseinandersetzungen und der darum entstehenden sozialen Bewegungen. Im Zentrum stehen die Handlungslogiken der ökonomischen und der politischen Arena und deren Akteure: Nationalstaaten, öffentliche Adminis­ trationen, große und kleine Unternehmen, Interessenverbände oder Positionsgruppen. Der Blick richtet sich auf Rankingprozesse; bedeutsam sind aber auch die Kategorisierungs- und die Sortingprozesse. Eine wichtige Rolle spielen wirtschaftliche und politische Institutionen und deren Konventionen als wesentliche Instanzen der Stabilisierung positionaler Ungleichheiten. So ist zu fragen: Wie entwickelt sich der gesellschaftliche Produktions- und Reproduktionsprozess und seine politische Regulierung? Was bedeutet das für die Qualität und Quantität von sozialen Positionen in den drei Arenen (Rankingprozesse)? Wie wird dabei die Arbeit geteilt? Wie verändern sich die Mechanismen der Positionszuweisung (Sortingprozesse)? Wie verändern sich wirtschaftliche Macht und politische Machtbeziehungen? Wie gestalten sich soziale Kämpfe, Kämpfe um den Sozialstaat und um die Regulierung? Wie entwickeln und institutionalisieren sich soziale Bewegungen? Wie gestalten sich die verschiedenen Verhältnisse gesellschaftlicher Arbeit und welche Erfahrungen sind damit verbunden? Die Zeitstruktur gestaltet sich komplex: entlang einer chronologischen Perspektive lassen sich die Kämpfe und die Entscheidungen der zentralen Akteure in den verschiedenen Arenen analysieren; weitaus schwerer ist es jedoch, die

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Reproduktion und den beständigen Wandel der darüber entstehenden Institutionen zu fassen, der sich dann letztlich in einer sich verändernden Quantität und Quantität sozialer Positionen, mithin im gesellschaftlichen Wandel, niederschlägt. Der Nationalstaat kann dabei als ein möglicher Beobachtungshorizont fungieren, aber Nationalstaaten, Unternehmen oder Haushalte müssen im Kontext weltgesellschaftlicher Zusammenhänge begriffen werden. Geschichte der sozialen Lagen

Die Geschichte sozialer Lagen  – man könnte auch von einer Geschichte des sozialstrukturellen Wandels sprechen – ist als eine Geschichte der wahrgenom­ menen und nicht wahrgenommenen Möglichkeiten zu begreifen. Es geht mithin um Individuen, um Haushalte und um soziale Gruppen (im Sinne von Lagegruppen) und um die Strategien des Überlebens oder die Strategien der Lebensführung. Es geht um Kapitalien und Rechte und um Erfahrungen, die im Lebensverlauf und Generationsverlauf sozial und temporal kumuliert werden, die schließlich auch inkorporiert und habitualisiert werden und als wichtige Instanz der Stabilisierung und Reproduktion von Lagedifferenzen fungieren. Im Zentrum stehen mithin Kategorisierungs- und Sortingprozesse, über die die Verknüpfung von sozialen Positionen und sozialen Lagen erfolgt, und vor allem die Kumulierungsprozesse. Die Analyse der Geschichte der sozialen Lagen kann an etablierte historische Arbeitsfelder anknüpfen: An die Geschichte spezifischer Milieus (im Sinne sozialer Lagen) der Arbeiterschaft, der Angestellten, des Bürgertums und damit an spezifische Aspekte der Kulturgeschichte; an die Geschlechtergeschichte und Migrationsgeschichte, die sich mit Lebensverläufen und Lebenszusammenhängen befasst; an die Biographie- und Familienforschung und schließlich an die Alltagsgeschichte. Der für die Analyse sozialer Lagen bedeutsame Haushaltszusammenhang ermöglicht es, Prozesse des Überlebens und des Konsumierens von (marktvermittelten und öffentlichen) Gütern und Leistungen weiter aufzuschlüsseln und im Sinne ganz unterschiedlicher Strategien und Zielsetzungen zu begreifen. So ist zu fragen: Wie agieren Individuen und Haushalte bzw. in verschiedener Hinsicht abgegrenzte soziale Gruppen (Lagegruppen, Personengruppen) auf die Veränderungen des Produktions- und Reproduktionsprozesses und seiner Regulierung? Wie gestaltet sich die Lebenslage von Individuen, Haushalten oder sozialen Gruppen und wie drückt sich das in ihren Ressourcen, Rechten und Erfahrungen aus? Wie verändern sich typische Lebenswege? Wie gestaltet sich die Differenzierung von Humankategorien und welche Rolle spielen diese Humankategorien in Ranking-, Sorting- und Kumulierungsprozessen? Inwieweit kommt es zur Reproduktion von Ungleichheiten und inwieweit lassen sich räumliche und soziale Mobilitäten beobachten? Auch hier hat man es mit komplexen Zeitstrukturen zu tun; die chronolo­ gische Zeit spielt eine wichtige Rolle, als damit soziale Positionen entstehen oder verschwinden, als sich zeitgeschichtliche Rahmenbedingungen verändern und

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als sich soziale Konstellationen (Haushalte) verändern. Aber all diese Veränderungen wirken im Kontext der Lebenszeit (und der Lebens- bzw. Generationenzusammenhänge) von Individuen und Haushalten stets vermittelt.113 Auch hier kann der Nationalstaat als eine Beobachtungseinheit genutzt werden, der als regulierende und sozialpolitische Instanz das haushaltliche Zusammenleben prägt; man hat es aber biographisch und generationell betrachtet mit Individuen und Haushalten zu tun, deren Lebenswege auch quer zu diesen nationalstaatlichen Grenzen verlaufen. Verglichen mit der Geschichte der sozialen Positionen, deren Quantität und Qualität sich immer auch in den Daten der amtlichen Statistik niederschlägt, ist die Geschichte der sozialen Positionen weitaus schwerer zugänglich. Summarisch können die Daten der Einkommens- und Vermögensverteilung gewisse Eckpunkte für die soziale Lage von Haushalten oder für einzelne Lage- oder Personengruppen liefern. Erheblich schwieriger ist es, die Entwicklung der durchschnittlichen Lebensverläufe zu rekonstruieren; hier liefern die Daten der Bevölkerungsstatistik allenfalls gewisse Eckpunkte: Daten zum Qualifikationserwerb, zum Erwerbsleben und zu den Haushalten oder in der Generationenperspektive Daten zur sozialen Mobilität. Eine erste Erweiterung bieten die Mikrodaten aus Haushaltspanels. Auch damit ist aber nur ein dürrer Rahmen für die Rekonstruktion sozialer Lagen gegeben. Hier gilt es, über die Biographieforschung oder die historischen Familienforschung Zusammenhänge herzustellen und über Ego-Dokumente die damit verbundenen Strategien, die Arbeits- und Lebenserfahrungen zu erschließen. Wie man eine Geschichte der sozialen Positionen und vor allem eine Geschichte der sozialen Lagen zu zusammenhängenden historischen Narrationen verdichten kann, vermag ein Soziologe nicht zu beantworten; die Arbeiten von Tamara Hareven oder von Selina Todd lassen aber den Raum des Möglichen erkennen.114

7. Fazit In diesem Beitrag wurde versucht, die jüngeren Debatten um eine Reorientierung der Sozialstrukturanalyse zu skizzieren. Dabei wurde deutlich, dass es viele Parallelen zu den Diskursen um die weitere Entwicklung der Gesellschafts- bzw. der Sozialgeschichte gibt. Der für die Sozialstrukturanalyse entwickelte Ansatz, die innovativen Perspektiven und Konzepte zu nutzen, ohne den klassischen Fundus gänzlich zu verabschieden, könnte auch für eine Reorientierung der Sozialgeschichte genutzt werden. Der hier favorisierte Ansatz birgt das Potential, 113 Charles Tilly, Family History, Social History, and Social Change, in: Journal of Family History 12 (1987), S. 313–330, hier S. 327. 114 Hareven, Familiengeschichte; Selina Todd, The people. The rise and fall of the working class 1910–2010, London 2014.

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unser Wissen um Phänomene der sozialen Differenzierung in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. ›Unterhalb‹ einer Gesellschaftsgeschichte geht es um Prozesse der sozialen Differenzierung, die sich auf verschiedenen Zeitebenen (der Kalenderzeit aber auch der Lebens- und Generationenzeit) und mit ganz unterschiedlichen Raumbezügen (Regionen, nationale und transnationale Räume) vollziehen. Ein solches Ansinnen mag angesichts der vorherrschenden disziplinären Ordnungen übergriffig erscheinen; in einer transdisziplinären Welt von Sozialwissenschaften könnte man sich aber auch fruchtbare Arbeitsteilungen vorstellen.

Adelheid von Saldern

Geschlechterordnungen im 20. Jahrhundert Ein Essay zu Deutschland und den USA

1. Einleitung: Zum Analysespektrum »Nur ein Mädchen«, dachten in den 1920er Jahren wohl viele Väter, die sich die Geburt eines Sohnes gewünscht hatten und dann doch »lediglich« eine Tochter bekamen.1 Das war jedoch eine rein biologisch grundierte, allein auf körperliche Merkmale gerichtete Beschreibung. Diese kennzeichnete das, was im Erwachsenenalter gemeinhin als Mann oder Frau zu gelten hatte.2 Die soziale und kulturelle Konstruktion von Gender blieb hierbei außen vor, und es bedurfte eindringlicher theoriegeleiteter Studien,3 um dieser Erkenntnis zum Durchbruch zu verhelfen und damit auch auf die Geschlechterpolitik einzuwirken. Geschlechtergeschichte ist zum einen ein eigengewichtiges, gesellschafts­ bezogenes Untersuchungsfeld, zum anderen eine gesellschaftliche Basiskategorie, die alle Gesellschaftsfelder durchzieht – von der Ökonomie bis zur Raum­ ordnung, von der Politik bis zur Privatsphäre, von realen Lebensformen bis zur medialen Repräsentation von Gesellschaften. Die folgenden Ausführungen wollen beide Zugriffe auf die Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts skizzieren.

2. Geschlechterordnung und Historiographie: Agency Im Kontext historiografischer Akteursforschung (agency) seit den 1980er Jahren wurden Frauen nicht mehr primär als Opfer, sondern auch als selbstständig denkende und handelnde Subjekte »entdeckt«. Besondere Aufmerksamkeit

1 Volkswille v. 12.7.1928. Es handelte sich um eine sozialdemokratische Zeitung. Für Hinweise und Kritik danke ich Uta C. Schmidt. 2 Zur theoretischen Auseinandersetzung über die Bedeutung des weiblichen Körpers siehe die divergierenden Positionen von Judith Butler und Barbara Duden. Vgl. Barbara Duden, Die Frau ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung, in: Feministische Studien 2 (1993), S. 24–33. 3 Siehe die ›klassische‹ Studie von Joan W. Scott, Gender. A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1985), S. 1053–1075; Karen Hagemann / Jean H. Quataert (Hg.), Gendering Modern German History. Rewriting Historiography, New York 2007.

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erlangten demzufolge die Erforschung ihrer jeweiligen Handlungsweisen, die Auslotung ihrer Spielräume und die Überschreitung von gesellschaftspolitisch gezogenen Grenzen. So wurden zum Beispiel in Forschungen zur NS -Geschichte Frauen als regimetreue Unterstützerinnen sowie als (Mit)Wisserinnen oder (Mit)Täterinnen von Unrechtshandlungen vermehrt in den Blick genommen.4 Ebenso haben in der Historiografie des Widerstands gegen den Nationalsozialismus Frauen größere Aufmerksamkeit als ehedem auf sich gezogen.5 Aufsehen erregte vor mehreren Jahren zum Beispiel die Dokumentation von Frauen aus der Berliner Rosenstraße, die gegen die Deportation ihrer Männer protestiert hatten.6 Frauen übten auch Macht aus – in der Regel über Schwächere. Empirische Forschungen zeigten zum Beispiel, wie Fürsorgerinnen in den 1920er Jahren bedürftige Familien, inklusive Väter und Söhne, nach bürgerlichen Verhaltensmaßstäben bewerteten  – mit großen Folgen für behördliche Entscheidungen über Unterstützungsgelder.7 Überdies kann Frauengeschichte nicht mehr ohne das Aufspüren von Grenzüberschreitungen geschrieben werden. Ein bekanntes Beispiel sind deutsche Kolonialfrauen.8 Der Frauenbund des Deutschen Kolonialvereins unter ihrer Vorsitzenden Adda von Liliencron propagierte im Kontext damaliger Rassentheorien die Zuwanderung von deutschen Frauen in die Kolonien.9 Auf diese Weise sollte nicht nur »deutsche Kultur« nach Afrika gebracht, sondern vor allem eine »Rassenmischung« vermieden werden.10 Die ausgewanderten weißen Frauen erhielten außerdem gegenüber den kolonisierten Afrikanern und Afrikanerinnen eine relativ große Machtfülle. Im Zuge des spatial turn gewannen die Beziehungen von Geschlecht und Raum ein neues Gewicht. Insbesondere kämpfte die Neue Frauenbewegung um

4 Angelika Ebbinghaus (Hg.), Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des National­ sozialismus, Frankfurt am Main 1997; Claudia Koonz, Mothers in the Fatherland. Women, the Familiy and Nazi Politics, New York 1987. 5 Bereits im Jahr 1983 erschien das Taschenbuch von Gerda Szepanska, Frauen leisten Wider­stand: 1933–1945, Frankfurt am Main 1983. 6 Wolf Gruner, Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der »Mischehen« 1943. Frankfurt am Main 2005. 7 David F. Crew, Germans on Welfare. From Weimar to Hitler, New York 2009; Angela Dinghaus / Bettina Korff, Wohlfahrtspflege im Hannover der 1920er Jahre. Kontinuitätslinien repressiver Armenpflege und sozialer Disziplinierung, in: Adelheid von Saldern (Hg.), Stadt und Moderne. Hannover in der Weimarer Republik, Hamburg 1989, S. 189–223. 8 Lora Wildenthal, German Women for Empire, 1884–1945, Durham 2002. 9 Als Einstieg: Katharina Walgenbach, Zwischen Selbstaffirmation und Distinktion. Weiße Identität. Geschlecht und Klasse in der Zeitschrift »Kolonie und Heimat« in: Andreas Hepp u. a. (Hg.), Medienidentitäten. Identität im Kontext von Globalisierung und Medienkultur, Köln 2003, S. 136–152. 10 Zu diesem Zweck wurden auch für die Kolonien »Mischeheverbote« erlassen.

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mehr Nutzungsmöglichkeiten des städtisch-öffentlichen Raums;11 Reisen in die Fremde verlockten immer wieder Frauen zu Grenzüberschreitungen dessen, was sich für sie »ziemte«,12 und Architektinnen versuchten, hausfrauenfreundliche Wohnungsgrundrisse durchzusetzen.13 Die Agency-Forschung beachtete vor allem die Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts, so auch die der 1970er Jahre. Eine im kollektiven Gedächtnis gebliebene Grenzüberschreitung erfolgte durch die Veröffentlichung der SternIllustrierten vom 6. Juni 1971. Alice Schwarzer schaffte es mit ihrer Reportage »Ich habe abgetrieben«, auf feministische Forderungen aufmerksam zu machen und eine Neue Frauenbewegung anzustoßen.14 Damals nahm auch der Diskurs über häusliche Gewalt an Fahrt auf und die Frauenhaus-Bewegung ihren Anfang. Kinderläden, Frauen-Cafés und Frauenbuchläden erfreuten sich unter Frauen eines großen Zuspruchs, und die neu eingerichteten Posten für Gleichstellungsangelegenheiten erhielten die Aufgabe, möglichst frauenfreundliche Veränderungen im öffentlichen Dienst durchzusetzen. Vor allem hinterfragte die Neue Frauenbewegung kritisch die Ansichten über das Leitbild der so genannten Normalfamilie. Es gelte, sich von einem Familienbild zu verabschieden, das den männlichen Normalverdiener vorsehe und eine unbezahlt arbeitende Hausfrau bzw. Mutter daneben stelle, die allenfalls einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen sollte, um größere Konsumwünsche erfüllen zu können.15 Kurzum, in der Geschlechterpolitik bewegte sich während der 1970er Jahre vor allem auf diskursiver Ebene zugunsten von Frauenrechten so viel wie nie zuvor,16 und es waren Frauen, die an vorderster Stelle agierten. Seither sind Geschlechterfragen phasenweise zum Dauerthema in Politik und Gesellschaft geworden. Die gesellschaftspolitische Stoßkraft der Neuen Frauenbewegung übertraf in Deutschland bei weitem jene der Alten Frauenbewegung, die seit der Jahr11 Siehe u. a. Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS) (2004) mit dem Schwerpunkt: Stadtraum und Geschlechterperspektiven; Kristine B. Miranne / A lma H. Young (Hg.), Gendering the City. Women, bounderies, and visions of urban life, Lanham / Maryland 2000; Susanne Frank, Stadtplanung und Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003. 12 Doris Jedamski u. a. (Hg.), »Und tät’ das Reisen wählen!« Frauenreisen  – Reisefrauen, Zürich 1994. 13 Siehe dazu u. a. Kerstin Dörhofer, Pionierinnen in der Architektur. Eine Baugeschichte der Moderne, Tübingen 2004; Ulla Terlinden (Hg.), City und Gender. International Discourse on Gender, Urbanism and Architecture, Opladen 2003. 14 Belinda Davis, The Personal is Political. Gender, Politics, and Political Activism in Modern German History, in: Hagemann / Quataert, Gendering Modern German History, S. 107–127. In den Jahren 1974 bzw. 1976 konnte ein liberaleres Abtreibungsverbot durchgesetzt werden. In den 1970er Jahren kamen zudem ein liberalisiertes Scheidungs-, Eheund Familienrecht sowie ein neues Namensrecht zustande. 15 Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948–1969, Göttingen 1999. 16 Dazu siehe Christopher Neumaier, Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken, Berlin 2019.

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hundertwende hierzulande, in den USA und in anderen Ländern verstärkt in Erscheinung trat.17 Sie hatte es in der wilhelminischen Öffentlichkeit besonders schwer, sich Gehör zu schaffen, war es Frauen doch erst seit 1908 erlaubt, sich politischen Vereinigungen anzuschließen, und die Vorstände von Frauenvereinen wurden in der Regel von Männern besetzt. Überdies war das Wahlrecht noch nicht erkämpft, und das Frauenstudium erst seit 1900 schrittweise eingeführt.18 Auf all diesen Gebieten konnten die alte bürgerliche sowie die sozialdemokratische Frauenbewegung gewichtige Erfolge verzeichnen. Insbeson­ dere erlangten sie infolge des politischen Umsturzes Ende 1918 das Wahlrecht und damit die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung als Staatsbürgerin. Auch öffneten sich in der Weimarer Republik die Türen für zahlreiche Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten.19 In den USA hatten sich Frauen größere Handlungsspielräume in der Gesellschaft bereits erkämpft, bevor auch sie 1920 das Wahlrecht erhielten. Allerdings unterschied sich die Alte von der Neuen Frauenbewegung gravierend durch ihre Vorstellung über die gesellschaftliche Ordnung, soweit das Geschlechterverhältnis betroffen war. Die Alte Frauenbewegung ging größtenteils von zwei Geschlechtersphären entlang der »Wesenheit« von Männern und Frauen aus,20 wobei die beiden Betätigungsfelder als gleichwertig betrachtet wurden. Solche Auffassungen waren selbst in der SPD der 1920er Jahren verbreitet.21 In den Endjahren der Weimarer Republik konnten auf dieser Basis Zustimmungen konservativer und (rechts-) liberaler Frauen zum NS -Regime erleichtert werden. Mit der Errichtung der NS -Diktatur wurden all jene Erweiterungen der Handlungsräume rückgängig gemacht, die die Weimarer Repu­ blik den Frauen bis dahin ermöglicht hatte, etwa den freien Universitätszugang oder höhere (Beamten-) Karrieren. Der NS -Staat war im Kern ein Männerstaat, die Frau in die weibliche Sphäre abgedrängt. Viele Zeitgenossinnen mögen die in der NS -Diktatur erfolgte Ausweitung des rein weiblichen Tätigkeitsbereichs allerdings durchaus als ein funktionales Äquivalent für die Einengung gesamtgesellschaftlicher Handlungsspielräume angesehen haben, etwa den ideologisch aufgewerteten Bund deutscher Mädel und den NS -Frauenbund. Das dominante 17 Siehe u. a. Jean Baker (Hg.), Votes for Women: The Struggle for Suffrage Revisited, Oxford 2002. 18 In den USA durften Frauen bereits seit 1833 studieren. 19 Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986, S. 152. 20 Siehe u. a. Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009. 21 Siehe zum Beispiel Christoph Rücker, Arbeiterkultur und Kulturpolitik im Blickwinkel des »Vorwärts« 1918–1928, in: Archiv für Sozialgeschichte 14 (1974), S. 115–155, hier S. 131 f.; Adelheid von Saldern, Modernization as Challenge: Perceptions and Reactions of German Social Democratic Women, in: Helmut Gruber / Pamela Graves (Hg.), Women and Socialism. Socialism and Women. Europe Between the Two World Wars, New York 1998, S. 95–134.

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Frauen-Leitbild war keineswegs allein das »Frauchen am Herd« und die Mutter von möglichst vier Kindern, sondern auch die Frau, die in ihrer Handlungssphäre ›ihren Mann steht‹, wo immer sie gebraucht wurde. Dies war ein attraktives Angebot für jene (jungen) Frauen, die aktiv die NS -Gesellschaft mitgestalten wollten und von Verbrechen wegzusehen lernten. Während in der NS -Zeit Frauen eine beträchtliche Einschränkung, Steuerung und Neuformierung ihrer Möglichkeitsräume hinnehmen mussten bzw. willig hinnahmen,22 hat die New Deal-Politik der 1930er Jahre die Handlungsspielräume für Frauen auf einigen Feldern sogar erweitert. So gewannen Frauen gute Positionen im Staatsapparat und in den Administrationen diverser Förderprogramme.23 Auch profitierten sie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in beträchtlichem Ausmaß von der staatlichen Subventionierung der Künste. In den USA formierte sich die Neue Frauenbewegung in den 1960er Jahren nicht nur wie die deutsche im Kontext der Studentenbewegung, sondern auch im Zusammenhang mit der damaligen antirassistischen Civil Rights-Bewegung24 sowie mit den Gegnern des Vietnam-Krieges. Ihre frauenbezogenen Anliegen verbanden sich folglich mit jener gegen Rassismus, Imperialismus und KlassenDominanz.25 Gleichwohl gelang es ihr, ein eigenes Profil und eine eigene Dynamik zu entwickeln. Ihre Dynamik richtete sich gegen jene gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen, die Frauen benachteiligten. Im Zentrum stand das staatlich gestützte Modell der allein vom Mann getragenen Ernährer-Familie als Norm und gesellschaftliches Leitbild. Die Neue Frauenbewegung erreichte tatsächlich eine breite Akzeptanz ihrer Forderungen und damit einen Wandel der gesamten amerikanischen Kultur, bis hin zu den Universitäten, die relativ zügig Gender-Studies einführten und damit für die Anliegen der Frauenbewegung in anderen Ländern, so auch in Deutschland, ein international beachtetes und wirksames wissenschaftliches Fundament schufen.

22 Dazu siehe u. a. Claudia Lenz u. a. (Hg.), Männlichkeiten – Gemeinschaften – Nationen. Historische Studien zur Geschlechterordnung des Nationalen, Opladen 2002, insb. die Einleitung, S. 9–22 sowie Gabriele Boukrif u. a. (Hg.), Geschlechtergeschichte des Politischen. Politische Entwürfe von Geschlecht, Nation und Gemeinschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2002. 23 Roger Biles, New Deal for the American People, DeKalb 1991, S. 200 f. 24 Als Einstieg siehe Norbert Finzsch u. a., Von Benin nach Baltimore, Hamburg 1999, vor allem S. 532–566; Gary Gerstle, American Crucible. Race and Nation in the Twentieth Century, Princeton 2001, 7. Kapitel. 25 Hierzu und zum Folgenden siehe: Nancy Frazer, Feminism, Capitalism, and the Running of History, in: Winfried Fluck u. a. (Hg.), Re-Framing the Transnational Turn in American Studies, Hanover / New Hampshire 2011, S. 374–390.

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3. Ordnung der Gesellschaft – Ordnung der Geschlechter Parallel zur Agency-Forschung hat sich eine Forschungsrichtung etabliert, die die Geschlechtergeschichte eng mit dem Ordnungsdenken verband, das den modernen Gesellschaften zu Grunde lag.26 Ein solches zu einem Regime verdichtetes Ordnungsdenken regulierte die Gesellschaft, und zwar nicht allein durch Rechtssetzungen, sondern auch durch kulturelle Ordnungsmuster mit samt den passenden Repräsentationsstrategien und Symbolsetzungen, die stets auch bestimmte geschlechterbezogene Verhaltensformen evozieren sollten. Zu denken ist beispielsweise an die Wirkmächtigkeit des regulativen Sozialfordismus in der Arbeits- und Lebenswelt sowie im Freizeit-, Sport- und im Kulturbereich.27 Ordnungsvorstellungen etablierten auch die sittlichen Werte und moralischen Maßstäbe der Reformbewegungen, deren Durchsetzung sich seit dem späten 19. Jahrhundert Frauen und Frauenvereine vor allem in Städten und Medien beider Länder zur Aufgabe gemacht hatten. Foucaults theoretische Überlegungen zu Gouvernementalität zeigen, welche Bedeutung dem Faktor Macht in der Gesellschaft zukommt und wie viele Arten und Möglichkeiten es gibt, Macht auszuüben – angefangen von Begrenzungen, Kontrollen und Steuerungen aller Art28 bis hin zu bestimmten Formen von Zwang und Exklusion sowie zu gesellschaftlich vermittelten Normsetzungen von Selbstregulierungen und Selbstoptimierungen.29 Observationen, Wissenschaftsdiskurse und Gutachten dienten den sich modernisierenden Gesellschaften als Grundlagen zur Legitimation gouvernementaler Ordnungen oder evozierten diese.30 Alle Bereiche des täglichen Lebens konnten von bewertenden Beobachtungen und Untersuchungen betroffen sein, angefangen von Raumnutzungen bis hin zu sonstiger Lebensführung diver26 Dazu siehe u. a. Gabriele Metzler / Dirk Schumann (Hg.), Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016. 27 Siehe u. a. Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009; Rüdiger Hachtmann / Adelheid von Saldern, Das fordistische Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History (2009), H. 2, S. 174–185; Adelheid von Saldern, »Alles ist möglich.«. Fordismus – ein visionäres Ordnungsmodell des 20. Jahrhunderts, in: Lutz Raphael (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 155–192. 28 Hier ist auch an Bauweisen, Architektur und Raumordnungen zu denken. 29 Michel Foucault, Analytik der Macht, Frankfurt am Main 2005; ders., Geschichte der Gouvernementalität, 2 Bde., Frankfurt am Main 2004. Gouvernementalität als eine Art Regulation des Verhaltens verbindet die Normen, die unsere individuelle Selbststeuerung bestimmen, mit jenen Machtformen, die dem Staat zur Verfügung stehen, um das Verhalten der Bevölkerung insgesamt zu steuern. 30 Früh wurde dies thematisiert von Robert A. Wiebe, The Search for Order 1877–1920, New York 1967.

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ser Bevölkerungsgruppen. Sowohl der »Frauen-Körper« als auch der gesamte »Volkskörper« erreichten den Status von häufig biologisierten Diskursobjekten.31 Neue Wissenschaftsschübe in den Natur-, Geistes- und Medizinwissenschaften stützten die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und verwissenschaftlichten soziale und kulturelle Entwicklungen und Probleme.32 Sexualität und Psyche, Gesundheit und Hygiene, Normverhalten und Kriminalität erlangten als Diskurs- und Politikthemen öffentliche Aufmerksamkeit. Ebenso entstanden zahllose Schriften mit Ratschlägen zur Selbstoptimierung, die die Menschen während des ganzen 20. Jahrhunderts begleiteten, indessen seit den 1970er Jahren, dem Jahrzehnt zunehmender Liberalität, an Zugkraft gewannen. Und hierbei lagen Geschlechterbeziehungen immer im Blickfeld. Stets ging es auch um Bewertungen von Lebensführungen. Hierfür dienten in den USA und in Deutschland Maßstäbe, wie sie (weiße) bürgerliche Mittelschichten vertraten. Dies führte oftmals zu einem Unverständnis für die Lebensweise unterer Schichten und anderer Ethnien  – beispielsweise jener von MigrantInnen oder African Americans. Bekanntes Beispiel für die Wirkkraft einer solchen Begutachtung ist der Bericht von Daniel Patrick Moynihan aus den 1960er Jahren. Der Assistant Secretary of Labor analysierte die »Negro Family«. Im Ergebnis konstatierte er den Niedergang der afroamerikanischen Familie und eine Krise afroamerikanischer Männlichkeit. Dies sei eine Folge der weitgehenden Abwesenheit zahlreicher Männer von ihren Familien. Denn dadurch hätten die Mütter eine dominante Position erreicht. Besonders gefährdet seien deshalb die Jungen, denen das männliche Vorbild fehlte. Und dieser Zustand wirke sich auf die ganze amerikanische Gesellschaft negativ aus. Seine Resultate stufte Moynihan als einen »Case for National Action« ein, wie dies allein der Titel der Schrift ausdrückte. Ein solches Fazit erweckte dementsprechend große öffentliche Aufmerksamkeit. Der Historiker Jürgen Martschukat erklärt diese Wirkung so: »After all, Moynihan’s interpretation became so powerful in contemporary discourse because it seized on the predominant stereotype of shiftless African American men, lacking family guidance and proper self-­ conduct.«33 Von einer solchen weißen Mittelschichtsnorm ausgehend, wurde den afroamerikanischen Vätern tendenziell die Fähigkeit abgesprochen, diese

31 Cornelia Usborne, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994. 32 Grundlegend: Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S. 165–193. 33 Jürgen Martschukat, »You be a man, if you can, Stan«: Family Life and Fatherhood in Charles Burnett’s Killer of Sheep (1977), in: Isabel Heinemann (Hg.), Inventing the Modern American Family. Family Values and Social Change in 20th Century United States, Frankfurt am Main 2012, S. 223–243. Siehe auch Norbert Finzsch, Gouvernementalität, der Moyhinan Report und die Welfare Queen im Cadillac, in: Jürgen Martschukat (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt am Main 2002, S. 257–282.

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Norm erfüllen zu können.34 Unberücksichtigt blieben dabei die gravierenden strukturellen Benachteiligungen, denen die meisten afroamerikanischen Familien ausgesetzt waren.35 Auch fehlte es an einem Verstehen-Wollen andersartiger Lebensführungen und Familienbeziehungen, soweit sie jenseits weißer Mittelschichtsnormen lagen. Ein anderes Beispiel für die Dominanz weißer Mittelschichtsnormen bezieht sich auf die Immigrantinnen und Immigranten, die vor und nach der Jahrhundertwende in die USA gekommen waren. Vielfach galten die EinwanderInnen insbesondere aus Süd- und Osteuropa als Angehörige minderwertiger »Rassen« (»degraded races«).36 Die neuetablierten Settlement Houses zielten vorrangig auf die Erziehung der eingewanderten Frauen zu richtigen Amerikanerinnen (true Americans) – entsprechend den dominanten Mittelschichtsnormen. Dabei wurden sie auch zur Reinhaltung der Wohnungen angehalten, in die Techniken moderner Hauswirtschaft eingewiesen und mit der amerikanischen Lebensweise vertraut gemacht. Die Propagierung und Durchsetzung von Ordnungsmustern bedurften stets der Medien als Vermittlungs- und Kommunikationsorgane. Besondere Frauenjournale, wie die überaus erfolgreiche Zeitschrift Ladies’ Home Journal verstärkten die Akzeptanz modernisierter geschlechterspezifischer Arbeitsteilung.37 Ebenso endeten unzählige Filmgeschichten mit Liebespaaren im Hafen einer arbeitsteiligen Ehe und Familie. Doch längst nicht alle Medien standen im Dienst von solchen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Oftmals verfolgten sie eigene (Markt-) Logiken und Interessen, soweit die (Selbst-) Zensur dies zuließ.38 Häufig offerierten sie Texte, Bilder und Töne, die auch subversiv gedeutet werden konnten.

34 Zur Repräsentation der Väter in den Medien, vor allem in Filmen, siehe Jürgen Martschu­ kat, Die Ordnung des Sozialen. Väter und Familien in der amerikanischen Geschichte seit 1770, Frankfurt am Main 2013; ders. / Olaf Stieglitz (Hg.), Väter, Soldaten, Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas, Bielefeld 2007; Eva Boesen­berg, Ökonomien der Männlichkeit im späten 20. Jahrhundert, in: ebd., S. ­371–388, hier S. 381. 35 Einführend: Douglas S. Masse / Nancy A. Denton, American Apartheid. Segregation and the Making of the Underclass, Cambridge / Mass. 1993. 36 Robert Julio Decker, The Transnational Biopolitics of Whiteness and Immigration Restriction in the United States, 1894–1924, in: Ursula Lehmkuhl u. a. (Hg.), Provincializing the United States. Colonialism, Decolonialization and (Post)Colonial Governance in Transnational Perspective, Heidelberg 2014, S. 121–152, hier S. 150 f. 37 Helen Damon-Moore, Magazines for the Millions: Gender and Commerce in the Ladies’ Home Journal and the Saturday Evening Post, 1880–1910, Albany 1994; Carolyn Kitch, The Girl on the Magazine Cover, Chapel Hill 2001. 38 In den USA entstanden 1930 die so genannten Hays Codes, die für eine Selbstzensur über Filminhalte sorgten. Hingegen wurde in Deutschland 1920 ein Filmzensurgesetz erlassen.

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In der Weimarer Republik war es das Bild der Neuen Frau, welches – wie jenes der New Woman in den USA – in den Medien vielfach vermarktet wurde39 – und dies mit großer Wirkmächtigkeit vor allem auf junge Frauen. Neuartiges Outfit, modische Tänze, lustbetonte Zeitgestaltung, sexuelle Freizügigkeit, sichtbare Homosexualität, nächtliches Glamour und sportliche Ambitionen: All das brachte vor allem die Großstadtgesellschaften in Bewegung. Allerdings handelte es sich dabei in erster Linie um ein Bilder-Konglomerat modern-modischer Verhaltensweisen und Erscheinungsformen, von denen meist nur Einzelkomponenten das reale Leben von Frauen bestimmten.40 Doch weist das medial verbreitete Leitbild der Neuen Frau auf Möglichkeiten hin, selbstbestimmt und selbstoptimiert die bestehenden gesellschaftlichen Grenzziehungen in verschiedene Richtungen hin ausweiten zu können (und zu wollen). Der Erwartungshorizont vieler Frauen erweiterte sich zusehends. Wie weit die Gestaltung der Gesellschaftsordnung in die Privatsphäre hineinwirkte, lässt sich besonders gut im Bereich der Hausarbeit nachzeichnen.41 Die diskursiv und medial immer wieder mit positiven Bewertungen abgestützten Familien- und Frauen-Leitbilder sorgten dafür, dass Hausarbeit weitgehend unbezahlte Frauenarbeit geblieben ist. Auf diesem Ordnungsmuster beruhte das Funktionieren der gesamten Gesellschaft. Da dieses Muster indessen durch die kulturelle und lebensweltliche Modernisierung der Gesellschaft tendenziell gefährdet war, geriet die Hausarbeit verstärkt in den Fokus der Gesellschaftspolitik. Domesticity hieß das positive ordnungsstiftende Hausfrauenleitbild in den USA, von Haus-Frauen und Häuslichkeit war in Deutschland die Rede.42 Mit Hilfe der Technik und der Rationalisierungswissenschaft erfolgten gravierende Neuerungen. Home economists nannten sich die neuen Reformer und Reformerinnen, und damit signalisierten sie ihre Nähe zu den gesellschaftlich angesehenen Ökonomen.43 Vielfach waren es amerikanische Frauen, die sich 39 Lynn Dumenil, Modern Temper. American Culture and Society in the 1920s, New York 1995. 40 Literatur zur Neuen Frau und New Woman siehe u. a. Katharina von Ankum (Hg.), ­Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley 1997; Katharina Sykora (Hg.), Die neue Frau. Herausforderungen für die Bildmedien des 20. Jahrhunderts, Marburg 1993; Jean Matthews, The Rise of the New Woman. The Woman’s Movement in America, 1875–1930, Chicago 2003; Elizabeth Otto / Vanessa Rocco (Hg.), The New Woman International. Representations in Photography and Film from the 1870s to the 1960s, Ann Arbor 2011. 41 Die folgenden Ausführungen beruhen zum großen Teil auf eigenen transatlantischen Studien. 42 Einführend: Steven Mintz / Susan Kellogg, Domestic Revolutions. A Social History of American Family Life, New York 1988. 43 Hierzu und zum Folgenden siehe Martina Heßler, »Mrs. Modern Woman«. Zur Sozialund Kulturgeschichte der Haushaltsrationalisierung, Frankfurt am Main 2001; Adelheid von Saldern, The Social Rationalization of Domestic Life and Housework in Germany and the United States in the 1920s, in: dies. (Hg.), The Challenge of Modernity. German Social and Cultural Studies, 1890–1960, Ann Arbor 2002, S. 134–163.

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seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für eine Rationalisierung und Technisierung der Hausarbeit engagierten, um die täglichen Routinearbeiten der Frauen zu erleichtern. Diese Bewegung aus den USA erreichte in Ansätzen auch das wilhelminische Deutschland. Doch der große Durchbruch erfolgte auf beiden Seiten des Atlantiks in den 1920er Jahren. Ein attraktives neues Marktsegment wurde entdeckt. Neue Geräte, wie Eisschrank, Staubsauger, Mixer und Elektroherde, kamen auf den Markt, und eine Einbauküche wurde entworfen. Darüber hinaus geriet die Hausfrau auch als Person in den Fokus. Ihr Körper fiel der genauen Vermessung anheim, ebenso ihre täglichen Arbeitsgänge, die grafisch visualisiert und rechnerisch optimiert wurden. Diese Messungen kreierten die »Durchschnittsfrau«, nach deren Maße die neuen Küchenmöbel ausgerichtet wurden. Die Mitarbeit des größeren Durchschnittsmannes war von vornherein nicht vorgesehen. In diesen hochgradigen und mit Verve betriebenen Rationalisierungs- und Funktionalisierungsprozessen wurde eine geschlechterspezifische Arbeitsteilung in die modernisierte Professionalisierung der Hauarbeit »eingeschrieben« und durch entsprechende hauswirtschaftliche Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen untermauert. Da jedoch in der Regel Professionalisierungsvorgänge in modernen Gesellschaften zu bezahlten Jobs führten, lief auch die Professionalisierung der Hausarbeit Gefahr, dass Hausfrauen solche Ansprüche erhöben. Um Diskussionen dieser Art von vornherein weitgehend abzuwürgen, wurde die Professionalisierung und Technisierung der Hausarbeit mit der Vorstellung verbunden, diese sei dadurch zu einer wenig belastenden Nebenbeschäftigung geworden – und zwar trotz der stark erhöhten Sauberkeits- und Hygiene-Anforderungen, die eine »ordentliche« Hausfrau zu befolgen hatte.44 Darüber hinaus sollten Hausfrauen die neuen zeitlichen Freiräume für eine engagierte und ebenfalls möglichst professionalisierte Erziehung ihrer Kinder einsetzen. Die Zeitersparnis sollte der Pflege ihres eigenen Geistes und Körpers dienen, um für den Ehemann attraktiv zu bleiben und so Ehe und Familie zu stabilisieren. Keinesfalls sollten (weiße) Mütter (vor allem mit kleinen Kindern) einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen. Insgesamt zeigt sich an dem hier gerafften Bild der Hausarbeitsreformen unter einem gouvernementalen Blickwinkel, wie erstens die Modernisierung des »Privatbereichs« gesamtgesellschaftliche sowie geschlechter- und familienbezogene Ordnungsmodelle betraf. Zweitens wird klar, wie es ungeachtet der unterschiedlichen politischen Staatsformen gelungen ist, die traditionell-arbeitsteilige Familienstruktur unter Mithilfe zahlreicher Frauen in neuen modernisierten Formen aufrechtzuerhalten. Weil sich das Wirtschaftssystem in beiden Ländern als flexibel erwies und schließlich Teilzeitarbeit für Frauen ermöglichte, konnte der in späteren Jahrzehnten angestiegene Veränderungsdruck abgefedert werden.

44 Ruth Schwarz Cowan, More Work for Mothers. The Ironies of Household Technology from the Open Hearth to the Microwave, New York 1983.

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Auch gehörte in den Augen gestaltungswilliger Reformer und Reformerinnen die Eugenik zum Optimierungsprogramm von Mensch und Gesellschaft. Die um die Wende zum 20. Jahrhundert immigrierten Frauen und Männer aus Süd- und Ost-Europa  – darunter zahlreiche Juden und Jüdinnen  – wurden bei ihrer Ankunft in den USA deshalb nach bestimmten Merkmalen genau untersucht und kategorisiert.45 Solche Aufzeichnungen standen im Zeichen moderner Gesellschaftswissenschaften und lieferten vermeintlich empirische »Belege« für Eugenik und Rassentheorie. Weiße amerikanische Mittelschichtsfrauen sollten im Sinne einer so genannten positiven Eugenik mehr Kinder zur Welt bringen und als Mütter keine außerhäusliche Berufstätigkeit ausüben. Arme (schwarze)  Frauen mit einem von der Norm abweichenden Verhalten, wie Promiskuität, sollten durch Sterilisierungen an der Fortpflanzung gehindert werden. Wohl ist es deshalb kein Zufall, wenn gerade in den USA in einzelnen Staaten (States) recht früh – in Indiana seit 1907 – Sterilisierungen legalisiert wurden,46 auch wenn die konkrete Umsetzung durch gerichtliche Verfügung vielfach außer Kraft gesetzt wurde.47 Im Jahre 1933 existierten in den USA immerhin in 41 (von damals 48) US -Staaten gesetzliche Eheverbote für »Geisteskranke« und in 30 Staaten Sterilisationsgesetze.48 Hier zeigt sich erneut der Zusammenhang zwischen Geschlechter- und Gesellschaftsordnung. Denn dabei ging es stets auch um den Erhalt der »Power of Whiteness« (Thomas Holt), ein Kontext, der in der amerikanischen Historiografie häufig ausgeblendet worden ist.49 In Deutschland wurde die Entwicklung der Eugenik in den USA sehr genau beobachtet. Vor dem Ersten Weltkrieg war die allgemeine Reaktion jedoch eher negativ. Lieber sollte die »positive« Eugenik gefördert werden.50 Gleichwohl bestärkte das amerikanische Vorpreschen auf diesem Gebiet auch in Deutschland die Vorstellung, die Entwicklung in den USA könne als ein »nachahmenswertes Vorbild« gelten.51 Dementsprechend veränderte sich allmählich die Diskursstruktur, bis schließlich die Sterilisationsfrage im Jahr 1932, also bereits vor der Machtübernahme Hitlers, sogar zum »Gegenstand administrativer Planungen« 45 Barbara Lüthi, Invading Bodies, Medizin und Immigration in den USA 1880–1920, Frankfurt am Main 2009, insb. S. 196–247. 46 Marc Pitzke, Die verdrängte Schande. Zwangssterilisation in den USA , in: Spiegel Online, 5.1.2012 (https://www.spiegel.de/panorama/zwangssterilisation-in-den-usa-dieverdraengte-schande-a-806709.html, aufgerufen am 5.5.2019). 47 Peter Weingart u. a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1992, S. 287. 48 Wikipedia-Artikel »Sterilisationsgesetze« (https://de.wikipedia.org/wiki/Sterilisations​ gesetze, aufgerufen am 6.5.2019). 49 Dies spaltete auch große Teile der amerikanischen Frauenbewegung des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts. Vgl. u. a. Nancie Caraway, Segregates Sisterhood. Racism and the Politics of American Feminism, Knoxville 1991, u. a. S. 155. 50 Weingart u. a., Rasse, S. 287. 51 Ebd., S. 288.

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gemacht wurde.52 Das NS -Regime konnte darauf zugreifen und seine Steri­ lisierungsmaschinerie zum Zwecke der radikal rassistisch ausgerichteten Qualitätsverbesserung der Bevölkerung auf- und ausbauen, wovon vor allem Frauen betroffen waren. Die weiteren Drehungen dieser vermeintlich zweckrational erscheinenden Eugenik- und Rassismus-Schraube blieben wegen ihrer rassistischen Radikalität singulär – ermöglicht durch Diktatur, Rechtlosigkeit und der staatlichen Legitimation von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

4. Wissensordnung und Geschlecht. Transatlantische Observationen und Diskurse Transnationale Austausch- und Beziehungsprozesse beinhalteten oftmals wechselseitige Beobachtungen und Bewertungen anderer Nationen. Konservative deutsche Publizisten verknüpften ihre Observationen meist mit einer grund­ legenden Amerika-Kritik und dem Ziel, Deutschland von den USA abzugrenzen und positiv herauszustellen. Dabei spielten Geschlechterbilder und Geschlechterordnungen eine bemerkenswert große Rolle. Denn solche Publizisten verwiesen bei ihrer Kritik häufig auf den Wandel der Geschlechterordnung in den USA . Moniert wurde vor allem, dass amerikanische Frauen das dortige öffentliche Kulturleben zunehmend beeinflussten. Und deutsche Frauen neigten angeblich zur Nachahmung. Eine Phalanx meist männlicher Kritiker formierte sich gegen den so genannten ›Kulturfeminismus‹ der USA . An der Spitze stand Adolf Halfeld, der diesen Begriff auch explizit gebrauchte. Der Journalist, der 1939 in die NSDAP eintreten sollte, überhöhte seine Polemik derartig, dass er sich zu der Auffassung verstieg, die kulturelle Selbständigkeit des Landes sei durch den weiblichen Einfluss zersetzt worden.53 Hinter solchen heutzutage abstrus klingenden Vorstellungen stand die Sorge vieler Männer hüben wie drüben, die traditionell-hierarchisierte Geschlechterordnung könnte sich ins Gegenteil verkehren. So klagte zum Beispiel der Lizentiat der Theologie Rudolf Hildebrand 1928: »Amerikas Zivilisation ist Frauenzivilisation in dem Maße, dass Zivilisation gleichgesetzt wird mit Feminismus.« Angeprangert wurde die vermeintliche »Zähmung des Mannes durch die Frau«.54 Auch das Familien­leben werde in den USA von der Frau beherrscht. Ein Publizist sprach gar von der Entmannung der

52 Ebd., S. 294. 53 Adolf Halfeld, Amerika und der Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers, Jena 1927, S. 222 f. Nicht alle waren so rigide in ihren Ablehnungen. Vgl. Earl R. Beck, Germany Rediscovers America, Tallahassee 1968, Kapitel VII . 54 Eiserne Blätter. Wochenschrift für Politik und Kultur 10 (1928), S. 260–261, hier S. 261. Diese Zeitschrift hatte einen erheblichen Einfluss im nationalen Lager. Sie wurde vom Pfarrer Traub, einem deutschnationalen Publizisten (DNVP), herausgegeben. Vgl. Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung, Stuttgart 1997.

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amerikanischen Nation durch die Frau.55 Sie dominierte, wie es hieß, nicht nur im Hause, sondern auch im Kulturleben. Selbst die Schuld für den Hass zwischen den USA und Deutschland während des Ersten Weltkrieges wurde auf die amerikanische Frau geschoben. So meinte der nationalistische Publizist Egon von Kapherr: »[…] das Weib hat’s bewirkt. Ihr ist zum größten Teil der sinnlose Hass, der sich während des Krieges auswirkte, zuzuschreiben.«56 Kapherr übersah völlig, dass sich auffallend viele (liberale und linke) Frauen in den USA und in Deutschland zum Pazifismus bekannt und sich im und nach dem Ersten Weltkrieg aktiv für Frieden eingesetzt hatten.57 Solche und ähnliche Äußerungen stammten vorrangig »nur« von nationalistischen, rechtskonservativen Publizisten: Sie sind keineswegs repräsentativ für all jene, die sich in den 1920er Jahren über die USA äußerten. Denn es gab auch zahlreiche positive Stellungnahmen und ebenso viele abwägende Einschätzungen. Doch die Figur der »amerikanischen Frau« war generell suspekt. Der besondere analytische Wert gerade der rechtslastigen Statements besteht in der Deutlichkeit, mit der in diesen Stellungnahmen die angeblich bedrohte Geschlechterordnung für alles Übel verantwortlich gemacht und dies auch so offen ausgesprochen wurde. Tiefliegende Ängste, hier werde den deutschen Männern die eigene Zukunft vor Augen geführt und noch tiefer liegende Ängste darüber, was dann aus ihrer Machtposition in Familie und Gesellschaft werden würde, sprachen aus solchen Worten und erklären die maßlosen Übertreibungen. In den USA wurde das 1903 veröffentlichte antifeministische Buch von Otto Weininger »Geschlecht und Charakter« bereits ein Jahr später in englischer Sprache publiziert und dort viel gelesen. Eine Reihe von Publizisten stimmte im Kern mit der Auffassung über die gesellschaftspolitische Schädlichkeit der Frauenemanzipation überein. Heim und Familie wurden hochstilisiert. Ein Stein des Anstoßes war vielen Publizisten auch in den USA die angebliche Feminisierung der Kultur, womit die relativ starke Präsenz von Frauen in den Kunstöffentlichkeiten und ihre dadurch ermöglichte indirekte Einflussnahme auf die Künste gemeint war.58 Dies brächte die Nation und die Bestrebungen um eine genuin nationale Hochkultur in Gefahr.59 Heftige Gegenreaktionen von Aktivistinnen blieben erwartungsgemäß nicht aus. Deren oftmals transatlantische Einstellung und Kontaktsuche hatten nicht zuletzt in solchen Diffamierungen

55 Alfred E. Günther, Amerika-Müde, in: Deutsches Volkstum (1926) II, S. 623–626, hier S. 626. 56 Egon von Kapherr, Die Amerikanerin, in: Die Sonne (1927), S. 289–292. 57 Siehe u. a. Linda K. Schott, Reconstructing Women’s Thoughts The Women’s International League for Peace and Freedom Before World War II, Stanford 1997. 58 Siehe u. a. Walter Kalaidjan, American Culture between the Wars. Revisionary Modernism & Postmodern Critique, New York 1993, S. 268. 59 So zum Beispiel der amerikanische Journalist Edgar Ansel Mowrer. Vgl. ders., Amerika. Vorbild und Warnung, Berlin 1928, S. 19.

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ihre Ursachen.60 Jedenfalls sollte in beiden Ländern den Remaskulinierungstendenzen begegnet werden. Denn die Maxime einer neu gestärkten Männlichkeit, die Theodore Roosevelt als New Masculinity bezeichnete, war mit einem New Nationalism verbunden, zu dem imperiale bzw. imperialistische Ambitionen gehörten. In beiden Ländern richtete sich das Leitbild neuer Männlichkeit gegen eine Verweichlichung resp. Verweiblichung des Mannes, der Kultur und der Nation, was wiederum die gesamtpolitische Relevanz von Geschlechterordnungen anzeigt.61 Allerdings werden bei näherem Hinsehen auch Unterschiede zwischen den beiden Ländern sichtbar. Denn während in den USA solche Remaskulinisierungs­ tendenzen weitgehend in liberalen Öffentlichkeiten integriert und in ihrem Restriktionsbegehren begrenzt waren, bemächtigten sich in Deutschland in starkem Maße auch die völkisch Denkenden solcher Bestrebungen. Sie nutzten den Remaskulinisierungstrend überdies, um die (angeblich unveränderbare) Verweiblichung bzw. Verweichlichung des jüdischen Körpers anzuprangern und die Diskrepanzen zum gestählten deutschen Mann herauszustellen. So wurde der kulturelle Antisemitismus weiter biologisiert und mit dem ebenfalls biologisierten Antifeminismus in enge Verbindung gebracht. Dementsprechend galten die Emanzipationsbestrebungen der Frauen ähnlich wie die rechtlich bereits emanzipierten Juden und Jüdinnen als eine Art Doppelbedrohung der christlich fundierten deutschen Nation.62 Auf der Basis der Erfahrungen im Ersten Weltkrieg hatte sich dann in der Weimarer Republik in rechtsnationalistischen Kreisen und gewaltbereiten Männerbünden die Leitfigur des Frontkämpfers als eines harten und stählernen deutschen Mannes festgesetzt. In dieser Kunstfigur verschmolzen deutsche Manneskraft, Nation und Krieg zu einer Einheit, die in der NS -Zeit nicht nur in Form staatstragender Bronzefiguren ausgedrückt wurde, sondern auch einen Kernpunkt des nationalsozialistischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses ausmachte. Die Vorherrschaft der amerikanischen Frau erkläre, wie der völkische Rassist Alfred Rosenberg notierte, das »auffallend niedrige Kulturniveau« der amerikanischen Nation.63 Und Rosenberg stand mit dieser Auffassung

60 Vgl. Genda Sluga, The Nation. Psychology and International Politics, Basingstoke 2006, S. 106–131. 61 Kristin L. Hoganson, Fighting for American Manhood. How Gender Politics Provoked the Spanish-American and Philippine-American Wars, New Haven 1998, vor allem die Zusammenfassung S. 200–208. 62 Claudia Bruns / Michaela Hampf, Transnationale Verflechtungen von Rassismen ab 1700. Versuch der Systematisierung eines Forschungsfelds, in: dies. (Hg.), Wissen – Transfer – Differenz. Transnationale und interdiskursive Verflechtungen von Rassismen ab 1700, Göttingen 2018, S. 9–63, hier S. 51. Die Autorinnen berufen sich auf Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000. 63 Alfred Rosenberg, Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltungskämpfe unserer Zeit, 23/24. Auflage, München 1934 [1927], S. 501.

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nicht alleine.64 Deutschlands Kultur, so sollte aus seinen Worten geschlossen werden, müsste eine Männerkultur bleiben und nicht zu einer verweiblichten Kultur nach amerikanischem Vorbild verkommen.65 Hier zeigt sich erneut, wie Geschlechterbilder auf gesamtpolitische Einstellungen des eigenen und eines anderen Landes einwirkten. Der Zusammenhang zwischen weiblichem Geschlecht und »verweichlichter« »Rasse« betraf nicht nur das Judentum, sondern auch die »Schwarzen«. Als normativer Maßstab diente in diesem Kontext der weiße Mann. In den USA zeigten vergleichende Messungen von Schädel und Gehirn der Immigrantinnen und Immigranten um 1900 angeblich zuverlässig, dass Frauen und Schwarze kleinere Gehirne hätten und so auch eine mindere Intelligenz besäßen. Auf diese Weise wurden nicht-weiße Menschen feminisiert und die Frauen aller Hautfarben als lower faces of gender positioniert.66 Untersuchungen über das Verhalten sowie über die Fähigkeiten der beiden Geschlechter und der diversen »Rassen« liefen bezeichnenderweise parallel. Und auch die Ergebnisse ähnelten sich. Sie lieferten die nunmehr vermeintlich wissenschaftlich unterstützte Gewissheit, dass die jeweiligen Unterschiede naturgegeben, also unveränderlich seien und eine entsprechende Hierarchisierung sowohl der »Rassen« als auch der Geschlechter die logische Folge dieses Sachverhalts darstelle. In diesen Kontext sind auch die echauffiert-abfällig wirkenden Äußerungen deutscher konservativer Männer über »die« amerikanische Frau einzuordnen. Sie dienten in erster Linie der (Re-)Stabilisierung des hierarchischen Geschlechterverhältnisses im eigenen Land. Während in den USA die konservativ-rassistischen Diskurse Frauen und Schwarze miteinander als von Natur aus niederrangige Wesen einstuften, stand in den deutschen Diskursen konservativer Männer eine ähnliche Verknüpfung von Frauen und Juden im Fokus. Doch sollte eine weitere Hierarchie-Komponente nicht übersehen werden: die weiße Frau stand über dem schwarzen Mann, und die nicht-jüdische, deutsche Frau über dem jüdischen Mann.67

5. Ordnungsmodell: geschlechtshierarchische Ökonomie Auf dem Arbeitsmarkt fungierten Frauen während des ganzen 20. Jahrhunderts vielfach als Manövriermasse – hin- und hergeschoben je nach Bedarf der Wirtschaft. Während in Kriegszeiten Frauen überall gebraucht und eingesetzt 64 Dazu siehe auch Gassert, Amerika, S. 70 f. 65 Dazu Gassert, Amerika. 66 Bruns / Hampf, Transnationale Verflechtungen, S. 47. Die Autorinnen berufen sich u. a. auf die Forschungen von Nancy L. Stepan, Race and Gender. The Role of Analogy in Science, in: David Theo Goldberg (Hg.), Anatomy of Racism, Minneapolis / London 1990, S. 38–57. 67 Das war nicht immer und überall so. So erhielten 1870 afroamerikanische Männer durch den 15. Verfassungszusatz das Wahlrecht, während weiße (und schwarze)  Frauen leer ausgingen. De facto wurden African Americans allerdings in den Südstaaten bis 1965 weitgehend am Wählen gehindert.

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wurden, waren die Arbeitsplätze von Frauen in Demobilmachungsphasen und bei schlechten Konjunkturlagen sowie bei betrieblichen Umstrukturierungen umso mehr gefährdet, je attraktiver ihre Jobs waren. Als während der Großen Wirtschaftskrise um 1930 die Arbeitslosigkeit um sich griff, wurde der Doppelverdienst von Ehepaaren ins Visier genommen. Wenn beide Ehepartner arbeiteten, sollte einer aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden. De facto waren dies »selbstverständlich« die Frauen mit ihren niedrigeren Löhnen. In den USA bestand ebenfalls ein solches Gesetz zwischen 1932 und 1937, was vielen Ehefrauen in den Administrationen des Staates den Job kostete. Auch in zahlreichen Fabriken wurde die Doppelverdiener-Kampagne in die Praxis umgesetzt.68 Aus dem Blickwinkel der entlassenen Frauen gab es dazu kein »funktionales Äquivalent«.69 Die strukturelle Vergeschlechtlichung der Arbeitswelt betraf primär die Tätigkeitsbewertungen: Wer heute im Zug sitzt und beobachtet, wie flink sich Männerhände über die Tastaturen ihrer Laptops bewegen, der oder die kann sich nur wundern. Denn bis zur Einführung der Computer war das Tippen auf Tastaturen eine reine Frauensache. Nur Frauenhände könnten diese Tätigkeit optimal ausüben, hieß es wieder und wieder. Sekretärinnen und so genannte »Schreibkräfte« wurden zu schlecht bezahlten Frauenberufen, und Männer stiegen zu Bürovorstehern auf. In den 1920er Jahren kamen allerdings psychologische Tests für Tätigkeitsbewertungen in Mode. Das Psychologische Institut in Hannover beschrieb beispielsweise in einem Bericht akribisch die hohen Fähigkeiten, die das Stenografieren erforderte und kam zu dem Schluss, »Es ist daher nicht ganz richtig, wenn man von den genannten Tätigkeiten als mechanische Arbeiten spricht und mit ihnen das Werturteil einer geringfügigen Arbeit verbindet.«70 Doch eine solche Evaluierung wurde geflissentlich überhört. In der Praxis rangierten die Stenotypistinnen in der Skala der Berufshierarchie ganz unten, hatten sich doch vorrangig Frauen diese Fertigkeiten angeeignet.71 Eigentlich genossen die neuen psychologischen Verfahren ein hohes Ansehen, galten sie doch als objektiv und wissenschaftlich fundiert. Und in der Regel akzeptierten die männlichen Gutachter die fundamentalen geschlechterbezogenen Grundannahmen auch. Gemeint ist die angeblich natürliche Begabung von Frauen für grazile Hand- und Fingerbewegungen, weswegen sich Frauen auch gut für Fließbandarbeit eigneten. Das Ergebnis war eindeutig: Mit Hilfe von Wissenschaft wurden feinmotorische Tätigkeiten im Vergleich zu all jenen, 68 Biles, New Deal, S. 202. 69 Die Frage nach den funktionalen Äquivalenten spielt in sozialwissenschaftlichen Forschungen eine große Rolle. 70 Festschrift Hannover. Zur Tagung des Deutschen Städtetages in Hannover. Sonderheft der Zeitschrift für Kommunalwirtschaft, Berlin-Friedenau 1924, S. 19. 71 Eine Ausnahme bildeten die Stenografen in den Parlamenten, die von Männern besetzt wurden.

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die körperliche Kraft erforderten, als viel geringwertiger eingestuft. Oder anders ausgedrückt: Das Fingerspitzengefühl galt weniger als die Körperkraft. Dementsprechend wurden in beiden Ländern hierarchisch geordnete Lohngruppen geschaffen. Die ebenfalls von Männern dominierten Gewerkschaften betrieben die Einführung abgestufter Tarife je nach Tätigkeitsform. In der untersten befanden sich jene, in denen Frauen zahlenmäßig überwogen. Niedrigere Löhne für Frauen im Vergleich zu Männern verstetigten sich auf diese Weise in struktureller Hinsicht – nun aber in einem rational-funktional erscheinenden Ordnungsmuster eingebunden, das die freie Lohnarbeit von Grund auf regelte. »Zweifellos ist für die vermehrte Verwendung der Frauen in der Massenproduktion der niedrige Lohn ausschlaggebend,« so der sozialdemokratische Volkwille im Jahr 1928. Im Falle eines hannoverschen Unternehmens für fein­ mechanische Erzeugnisse unterschieden sich die Stundenverdienste in den 1920er Jahren zwischen Facharbeitern, (männlichen) Arbeitern und Frauen wie 100 zu 80 zu 50.72 Die geschlechterbezogene Ungleichheit im Bereich der Erwerbsarbeit wirkte sich auch negativ auf Arbeitslosengeld und Rentenhöhe aus – bis heute: Das moderne Prekariat war und ist vielfach weiblich,73 ebenso die Armut, vor allem im Alter. Die unterschiedliche Bewertung von Männer- und Frauenarbeit erleichterte das Festhalten an traditionellen Familienstrukturen. Denn der Ehemann galt selbst in modernen Industriegesellschaften als hauptsächlicher Familienernährer, so auch in den USA . Die amerikanische Gewerkschaftsbewegung American Federation of Labor (AFL) war über viele Jahrzehnte nicht nur auf weiße Ethnien beschränkt, sondern auch auf das traditionelle Familienbild ausgerichtet. Diese Prägung war so stark, dass die AFL in den 1930er Jahren sogar staatliche Unterstützungsmaßnahmen ablehnte, weil diese das Bild des selbstständig erscheinenden männlichen (weißen) Arbeiters als Citizen und Familienernährer beeinträchtigt hätten.74 Ein solches Strukturmuster wurde durch eine Vergeschlechtlichung von Arbeitsplätzen und Berufssparten verfestigt. So genannte Pink color-Beschäftigungen lehnten amerikanische Männer in der Zwischenkriegszeit ab, weil diese als weiblich galten und schlechter bezahlt wurden.75 Deshalb kamen zwar Frauen eher zu solchen Jobs als Männer, dies verfestigte aber die geschlechtsbezogene Lohn- und Ansehenshierarchie von Arbeitsplätzen in Familie und Gesellschaft. Nicht nur Arbeitsplätze innerhalb von Unternehmen, sondern auch ganze Berufssparten oblagen diesem Prozess der Vergeschlechtlichung, etwa die So72 Volkswille v. 21.8.1928. 73 Nicole Mayer-Ahuja, Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen »Normalarbeitsverhältnis« zu prekärer Beschäftigung seit 1973, Berlin 2003. 74 Alice Kessler-Harris, Measures for Masculinity. The American Labor Movement and Welfare State Policy during the Great Depression, in: Stefan Dudink u. a. (Hg.), Masculinities in Politics and War. Gendering Modern History, Manchester 2004, S. 220–237. 75 Biles, New Deal, S. 203, 205.

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zialfürsorge. Im (späten) 19. Jahrhundert drangen Frauen aus den (weißen) Mittelschichten vermehrt in die (städtische) Öffentlichkeit und forderten, bei der Durchsetzung der Gesellschaftsnormen (auf meist ehrenamtlicher Basis) mitwirken zu können. Sie argumentierten, dies erweitere »nur« das häusliche Umfeld auf das städtische Gebiet, entspräche also durchaus dem weiblichen Wesen.76 So erschlossen sich Frauen sowohl in den USA als auch in Deutschland ein öffentlich relevantes Betätigungsfeld. Als in den 1920er Jahren die ehrenamtliche Fürsorgetätigkeit mehr und mehr professionalisiert und auch teilweise bezahlt wurde, entstanden Konkurrenzsituationen mit Männern, doch auf die Dauer gelang es Frauen, sich in diesem Berufsfeld (außer in Leitungsfunktionen) zu behaupten. Der Preis hierfür war die relativ geringe Entlohnung – ähnlich wie bei anderen Frauenberufen in der Gesundheits- und Altenpflege, in Kindergärten sowie in Volks- bzw. Grundschulen. Überall, wo Frauen die überwiegende Mehrheit ausmachten, blieben die Ausbildungsanforderung an die Berufsausübung relativ gering und demnach auch die Durchschnittsbezahlung niedrig.77 In beiden Ländern wurden die leitenden Funktionen weitgehend Männern überlassen – so in Wirtschaft und Wissenschaft, im Kultur- und Schulbereich, vor allem aber im Staatsapparat. Meist war dies ein »selbstverständlich« erscheinender Vorgang, der als das »Natürlichste der Welt« wahrgenommen wurde. Zwar gab es in der Weimarer Republik, wie erwähnt, einige Beamtinnen im höheren Dienst. Doch sobald diese Frauen heirateten, mussten sie ihren Job aufgeben. Eine solche »Zölibatsklausel« für Beamtinnen existierte sogar noch in der jungen Bundesrepublik. Nicht nur leitende Positionen und Berufe, die große Körperkraft erforderten, waren Männer-Domänen, auch Wissenschaft und Kunst gehörten dazu, Bereiche, in denen Intellektualität und Innovation erforderlich waren. Besonders hart traf Frauen in beiden Ländern die eingeschränkten Ausbildungsmöglichkeiten als angehende Künstlerinnen78 und deren Nichtbeachtung in der Kunstöffentlichkeit. »This is so good you wouldn’t know it was done by a woman«, soll der deutsche Künstler Hans Hofmann, der seit 1932 in den USA lehrte, über ein abstrakt-expressionistisches Bild der Künstlerin Lee Krasner ausgerufen

76 Carola Sachse, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Frankfurt am Main 1986. 77 Susanne Zeller, Volksmütter mit staatlicher Anerkennung. Frauen im Wohlfahrts­ wesen der zwanziger Jahre. Düsseldorf 1987; Nancy J. Hirschmann / U lrike Liebert (Hg.), Women and Welfare Theory and Practice in the United States, New Brunswick, NJ. 2001. 78 Siehe u. a. Georgia Brady Barnhill u. a. (Hg.), The Cultivation of Artists in Ninteenth-Century America, Worcester / Mass. 1997. Trotz der Einschränkungen bis 1919 belief sich der Anteil von Künstlerinnen an der Gesamtzahl der ausübenden Künstler in der Weimarer Republik auf 18,9 Prozent. Vgl. Wolfgang Ruppert, Künstler! Kreativität zwischen Mythos, Habitus und Profession, Wien u. a. 2018, S. 84.

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haben.79 Er hatte in den 1940er Jahren in New York die Entwicklung der abstrak­ ten Expressionisten vorangetrieben und war offensichtlich erstaunt, was eine Frau alles leisten konnte. Hinter seinem Erstaunen stand nicht zuletzt die Vorstellung, ein angehender Künstler müsse das Potenzial eines Genies haben, und Genies könnten eben nur Männer sein.80 Selbst das Bauhaus, das die Genialität des Künstlers hochhielt, schob Frauen in die Weberei-Abteilung ab,81 in der diese allerdings dann (für viele Männer wider Erwarten) hervorragende künstlerische Arbeiten vollbrachten.82 Die Vergeschlechtlichung bestimmter Berufssparten entsprach lange Zeit durchaus dem Wunsch vieler Frauen.83 Sozialisiert nach dem hegemonialen Frauenleitbild hatten Frauen sich selbst dafür ausgesprochen, dass die »weibliche Berufstätigkeit in diejenigen Bahnen gelenkt« werde, in denen »die Frau wirklich Eigenartiges, nur ihrem Geschlechte Erreichbares leisten kann«, wie etwa die zweite Vorsitzende des Frauenstadtbundes von Hannover in den 1920er Jahren meinte.84 In den USA entzweite sich die amerikanische Frauenbewegung in den 1920er Jahren über die grundsätzliche Frage, ob ihre Politikstrategien auf die Besonderheiten der Frauen oder auf die Erreichung der vollen Gleichberechtigung der Geschlechter in allen Berufen ausgerichtet sein sollten. Dies führte zur Spaltung der Organisation. Frances Perkins und die League of Women Voters lehnte die Forderung nach gleichem Lohn für Männer und Frauen ab. Die League fürchtete dann die allein für Frauen vorgesehenen Spezialprogramme zu verlieren, vor allem die besonderen Arbeitsschutzbestimmungen, die Mutterschafts­ hilfen und Mütterpensionen.85 Die National Women’s Party wollte hingegen eine durchgängige Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf allen Gebieten erreichen, wozu auch gleicher Lohn für Männer und Frauen gehört hätte. Doch

79 »A Brief History of Women in Art« (online: https://www.khanacademy.org/humanities/ art-history-basics/tools-understanding-art/a/a-brief-history-of-women-in-art, aufgerufen am 1.5.2019). 80 Silke Wenk, Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit, in: Kathrin Hoffmann-Curtius / ​ Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Hamburg 1997, S. 12–29, hier S. 12; Ruppert, Künstler! Über den Ausschluss von Frauen und die »Ersatzausbildungsmöglichkeiten« siehe ebd., S. 80–84. 81 Anja Baumhoff, The Gendered World of the Bauhaus. The Politics of Power at the Weimar Republic’s Premier Art Institute 1919–1932, Berlin 2011. 82 Hier sind vor allem Anni Albers und Gunta Stölzl zu nennen. 83 In der DDR hatte sich ein diesbezüglich offeneres Frauenleitbild etablieren können. 84 Karin Ehrich, Von Anstandsdamen, Gehülfinnen und Oberlehrerinnen. Lehrinnen im öffentlichen Schulwesen, in: Christiane Schröder / Monika Sonneck (Hg.), Außer Haus. Frauengeschichte in Hannover, Hannover 1994, S. 13–28, hier S. 24. Die Aussage könnte allerdings auch als Strategie gemeint gewesen sein. 85 Biles, New Deal, S. 196; Ulla Wikander u. a. (Hg.), Protecting Women. Labor Legislation in Europe, the United States, and Australia 1880–1920, Urbana 1995.

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konnte sie die Aufnahme eines solchen Equal Rights Amendment in die amerikanische Verfassung nicht durchsetzen.86 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das geschlechterbezogene Lohngefälle in Branchen und Betrieben Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaftsordnung gehabt hat. Denn auch nachdem Ehefrauen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vermehrt einer ganztägigen außerhäuslichen Arbeit nachgingen, schwächte das binnenfamiliale Lohngefälle ihre Position in der Familie und führte  – häufig auch aus finanziellen Zwängen  – zu konventionellen Entscheidungen darüber, wer die Erziehungs- und Hausarbeiten übernehmen sollte. Kurzum: Tradierte Ordnungsmuster in Politik und Gesellschaft basierten größtenteils auf tradierten Familienstrukturen, und diese beruhten wiederum nicht zuletzt auf den geschlechterhierarchisierten Berufen und Erwerbsarbeiten. Hinzu kommt die hohe Bedeutung, die Familien in den USA als männlich dominierte Unterstützungsgemeinschaften innehatten, vor allem bei Eingewanderten. Denn der Sozialstaat war im Vergleich zu Deutschland nur schwach entwickelt. Das allerdings genauso normbildende Leitbild »Familie« basierte in Deutschland deshalb wohl etwas weniger auf dem Druck, eine Unterstützungsgemeinschaft zu bilden, dafür umso mehr auf Tradition und Religion sowie auf der besonders stark ausgeprägten Idealisierung des Leitbilds der »deutschen Familie« als Bewahrerin deutscher Kultur und Sitte.87

6. Geschlechterordnung und empirische Forschung Wie in der Geschichtsschreibung üblich, bedarf die empirische transnationale Geschlechterforschung der jeweiligen Kontextualisierung. So müssen beispielsweise die familienfreundlichen NS -Verordnungen in den Kontext der damit verbundenen radikal-rassistischen Bevölkerungspolitik gestellt werden, um diese in das rechte Licht zu rücken. Auch die familienfreundlichen Maßnahmen in der Bundesrepublik sind im Zusammenhang mit der Stärkung traditioneller Familien- und Geschlechterordnungen in Westdeutschland zu sehen.88 In der DDR stand die populäre Devise der proklamierten Geschlechtergerechtigkeit im Berufsleben vielfach im Zusammenhang mit harten Arbeitsmarktinteressen und ökonomischen Notwendigkeiten.89 Zu denken ist auch an die absichtsvolle Vernachlässigung des Ausbaus von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen in der Bundesrepublik. Denn nach Auffassung der mächtigen Christdemokraten und der ebenfalls mächtigen Kirchen sollten Kinder weitmöglichst in Einzel86 Biles, New Deal, S. 205. Aufgeschlossener waren einige Bundesstaaten. 87 Hier könnte ein transatlantischer Vergleich anregend sein. 88 Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945–1960, Göttingen 2001; Friedrich Ebert Stiftung (Hg.), Frauen auf dem Weg zur Gleichberechtigung?, 2. Auflage, Bonn 1987. 89 Siehe u. a. Friedel Schubert, Die Frau in der DDR . Ideologie und konzeptionelle Ausgestaltung ihrer Stellung in Beruf und Familie, Opladen 1980.

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familien, also de facto bei ihren Müttern, aufwachsen. Wer sich nicht daran hielt, wurde zur »Rabenmutter« mit »Schlüsselkindern«.90 So konnte sich die Bundesrepublik lange Zeit auch auf diesem Feld von den »sozialistischen« Vergemeinschaftungsambitionen der DDR abgrenzen. Der Kalte Krieg verstärkte die Divergenzen zwischen den Ordnungsmustern beider Gesellschaften. Allerdings blieb bezeichnenderweise eine Komponente des Geschlechterverhältnisses in beiden Teilstaaten de facto bestehen: Gemeint ist die Verantwortung der Frau für Hausarbeit und Sorgetätigkeit. Eine andere Art von Kontextualisierung bringen die intersektionalen Zugriffe mit sich.91 Diese beruhen auf dem Wissen darüber, dass Diskriminierungen dann am stärksten sind, wenn diverse Attribute zusammenkommen, wenn gender mit race und class kombiniert sind. So hatten und haben im Allgemeinen jene Frauen, die einer unerwünschten Ethnie und dazu noch einer niedrigen Schicht angehörten, die geringsten Chancen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Das galt sowohl für die »Gastarbeiterinnen« und Migrantinnen in der Bundesrepublik92 als auch für nicht-weiße Frauen in den USA .93 Dementsprechend trafen beispielsweise die Restriktionen der Wohlfahrtspolitik während der 1970er Jahre in Kalifornien unter dem Gouverneur Ronald Reagan vor allem die unteren Schichten der African Americans, darunter insbesondere Frauen. Deren Lebensführung kontrollierten Behörden fortan genauer, die Annahme schlecht bezahlter Jobs sollte erzwungen werden.94 Zur neueren Geschichtsschreibung gehört ferner eine erweiterte Sicht auf die jeweilige imperiale Politik eines Landes.95 Imperiales Machtstreben und nationale Mobilisierung lautet der Tenor einer problemorientierten Überblicksdarstellung über die europäischen Gesellschaften, die Lutz Raphael 2011 veröffentlicht hat.96 Nicht mehr allein die formellen und realen Kolonien zählen, sondern auch der so genannte innere Kolonialismus (internal colonialism).97 Ein 90 Uta C.  Schmidt, »Das Problem heißt Schlüsselkind.« Die »Schlüsselkinderzählung« als geschlechterpolitische Inszenierung im Kalten Krieg. Einführende Überlegungen zu »Geschlecht« und »Kalter Krieg«, in: Thomas Lindenberger (Hg.), Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln 2006, S. 171–202. 91 Patricia Hill Collins / Sirma Bilge, Intersectionality. Malden 2016. 92 Siehe vor allem Monika Mattes, Gastarbeiterinnen in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt am Main 2005. 93 Für die 1930er Jahre: Biles, New Deal, S. 203. 94 Julilly Kohler-Hausmann, Getting Tough. Welfare and Imprisonment in 1970s America, Princeton 2017. 95 Für die USA : Amy Kaplan / Donald Pease (Hg.), Cultures of United States Imperialism, Durham 1991; Ann Laura Stoler (Hg.), Haunted by Empire. Geographies of Intimacy in North American History, Durham 2006. 96 Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011. 97 Sebastian Conrad, Internal Colonialism in Germany. Cultural Wars, Germanification of the Soil, and the Global Market Imaginary, in: Bradley Naranch / Geoff Eley (Hg.), German Colonialism in a Global Age, Durham 2014, S. 246–264.

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neues Forschungsfeld hat sich aufgetan, das vom amerikanischen »Siedlerimperialismus« (Finzsch)98 über die Germanisierung ehemals polnischer Gebiete in wilhelminischer Zeit99 bis hin zu Fragen reicht, wie Kolonialpolitik auf die innere Ordnung der imperialen Staaten rückgewirkt hat. Auch hier erlangen gender und race besondere Aufmerksamkeit.100 Schließlich werden im Gefolge der Postcolonial Studies mehr als bisher die großspurigen Projektionsflächen thematisiert, die im Kontext imperialer Politik entstanden sind und Männer wie Frauen ansprachen. In diesem Zusammenhang interessieren Phantastereien, Imaginationen und etwaige Veränderungen der Deutungsmuster, so zum Beispiel mit Blick auf die Native Americans.101 Nicht nur haben sich in der Geschlechtergeschichte zusehends die Forschungsfelder erweitert, sondern es gelang auch vermehrt, die Vielfältigkeit der Lebenswirklichkeiten ins Blickfeld zu nehmen. Dazu gehören auch die Diskrepanzen zwischen Realität und Rechtslage. Denn Unterlaufungen von geschlechterbezogenen Gesetzen und Normen gab es zuhauf. Zu denken ist etwa an jene Gesetze, die Abtreibungen, Homosexualität und Kuppelei (§ 180) unter Strafe stellten, deren Übertretungen gleichwohl Massendelikte waren.102 Gesetzlich verbriefte Rechte für Familienväter wurden ebenfalls unterlaufen. So verzichtete manch’ ein Ehemann bzw. Vater auf die Ausübung seiner Rechte als bundesrepublikanisches Familienoberhaupt der 1950er und 1960er Jahre zugunsten von gemeinsam getragenen Entscheidungen, etwa wenn es um die Ausbildung der Kinder ging oder bei der Frage, ob eine Ehefrau einer Erwerbsarbeit nachgehen durfte.103 Empirische Forschungen »entdeckten« außerdem die Figur 98 Gemeint ist der Zug der europäisch-amerikanischen Siedler gen Westen, die damit verbundenen, unerbittlichen Kämpfe gegen die Indianer samt den folgenden Landenteig­ nungen. Über die Besonderheiten dieses Imperialismus, der sich in Australien in ähn­ licher Weise abspielte, siehe Norbert Finzsch, »The aborigines … were never annihilated, and still they are becoming extinct«: Settler Imperialism and Genocide in Nineteenth Century America and Australia, in: A. Dirk Moses (Hg.), Empire, Colony, Genocide. Conquest, Occupation, and Subaltern Resistance in World History, New York 2008, S. 253–270. 99 Dazu siehe Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016, S. 65–90, 193–218; Conrad, Internal Imperialism, S. 248–254. Conrad macht jedoch auch die Unterschiede zur kolonialen Afrika-Politik deutlich. Vgl. ebd., S. 254. 100 Siehe die von Stoler herausgegebene Aufsatzsammlung: Stoler, Haunted by Empire. 101 Vgl. Birthe Kundrus (Hg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt am Main 2003; Geoff Eley, Empire by Land or Sea? Germany’s Imperial Imaginary, 1840–1945, in: ders. / Bradley Naranch (Hg.), German Colonialism in a Global Age, Durham 2014, S. 19–45. 102 Für 1931 belief sich die Schätzung auf rund eine Million Abtreibungen. Vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 182. Bis 1994 war Homosexualität verboten (§ 175). Der Kuppelei-​Paragraph galt bis 1969. 103 Das Ehe- und Familienrecht änderte sich zugunsten der Frauen sukzessive (1961, 1976, 1979). Die Grundlage schuf das »Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts« von 1958.

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des sanften Vaters104 als auch »sanfte« Formen männlicher Machtausübung in der frühen Bundesrepublik. Im politischen Bereich stimmten die rechtlichen Möglichkeiten mit den realen Verhältnissen ebenfalls häufig nicht überein. Zwar konnten Frauen Mitglieder von Parteien und des Weimarer Parlaments werden, doch blieben sie meist marginalisiert und wurden von ihren männlichen Kollegen als Fremdkörper angesehen, selbst in der SPD.105 Infolge der Übermacht männlicher Parteikollegen klaffte nicht zuletzt auf diesem Gebiet die Gleichberechtigung der Frauen mit ihrer marginalisierten Position im politischen Alltag und erst recht bei politischen Entscheidungen weit auseinander, wie sich sogar noch in der Geschichte der Bundesrepublik nachweisen lässt. Schließlich überraschen empirische Geschlechterforschungen immer wieder durch das Aufzeigen der Spannweiten, »in denen Männlichkeit und Weiblichkeit gelebt wurden« und werden.106 Queers-Studien konnten verengte Blickwinkel aufweichen.107 Zu den großen Spannweiten der Geschlechterbeziehungen gehört auch das einvernehmliche Handeln von Männern und Frauen. In ähnliche Sozialisations- und Weltanschauungskontexte eingebunden, arbeiteten sie auf zahlreichen gesellschaftspolitischen Feldern nicht selten mehr oder weniger zusammen, zum Beispiel in Bezug auf das Für und Wider von Abtreibungen und sogar in einer sehr maskulin geprägten Organisationen, wie dem Ku-Klux-Klan in den USA, dem auch Frauen angehörten. Kurzum, empirische Arbeiten zeigen vielfach Abweichungen und Varianten auf, die das oben grob gezeichnete Geschichtsbild erheblich differenzieren. Deshalb bedarf die Konturierung der Geschlechterordnungen des 20. Jahrhunderts aus der Vogelperspektive stets des Korrektivs empirischer Forschungen, in denen sowohl die Kontexte als auch die reale Vielfältigkeit der Geschlechterverhältnisse zum Tragen kommen. Ähnliches gilt auch für alle transnationalen Vergleiche.108 104 Siehe Till van Rahden, Sanfte Vaterschaft und Demokratie in der frühen Bundesrepublik, in: Bernhard Gotto / Elke Seefried (Hg.), Männer mit »Makel«. Männlichkeiten und gesellschaftlicher Wandel in der frühen Bundesrepublik, Berlin 2016, S. 142–156; Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt am Main 1996. 105 Renate Pore, A Conflict of Interest. Women in German Social Democracy, Westport / Conn. 1981, S.  33. 106 Kaspar Maase, Entblößte Brust und schwingende Hüfte. Momentaufnahmen von der Jugend der fünfziger Jahre, in: Kühne, Männergeschichte, S. 193–217, hier S. 208; vgl. auch Martin Lengwiler, Männer und Autos in den 60er Jahren. Technische Artefakte als Gegenstand der Geschlechterforschung, in: Therese Steffen (Hg.), Maculinities – Maskulinitäten. Mythos – Realität – Repräsentation – Rollendruck, Stuttgart 2002, S. 246–258. 107 Andreas Kraß, Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), Frankfurt am Main 2003; Brett Beemyn / Michele Eliason (Hg.), Queer Studies. A Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Anthology, New York 1996. 108 Siehe u. a. Adelheid von Saldern, Kunstnationalismus in transkultureller Perspektive. Die USA und Deutschland 1900–1945, Göttingen 2020.

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7. Zusammenfassung Wie erfreulich wäre es, die Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts als eine stetig fortschreitende Verringerung der geschlechterbezogenen Ungleichheiten erzählen zu können. Ein Blick auf die mittlerweile vielfältigen Lebensentwürfe von Frauen wie von Männern und auf den massiven Wertewandel mag ein solches Narrativ rechtfertigen.109 Doch wer auf das 20. Jahrhundert insgesamt blickt, sieht auch die Rückschläge und Gefährdungen dessen, was zuvor bereits erreicht worden war. Die NS -Zeit ist zweifellos der größte Einbruch in der deutschen Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts, von dem die AmerikanerInnen verschont geblieben sind. Doch offensichtlich führten die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges in beiden Ländern während der 1950er Jahre zu einem ­Revival des domesticity-Kults, häufig in neuen Vororten.110 Und auch später unter der Präsidentschaft von Ronald Reagan (1981–1989) versuchten Konservative unter dem Einfluss der Evangelikalen ihren traditionellen Familienvorstellungen wieder vermehrt in Öffentlichkeit und Politik Geltung zu verschaffen.111 Auch sollten die Einflusspotenziale nicht unterschätzt werden, die noch immer von den Protagonisten eines gesellschaftlich tradierten Männlichkeits­ entwurfes ausgehen, bei dem althergebrachte maskulin-dominante Geschlechter­ charaktere in nationalistisch-populistischer Rhetorik favorisiert werden.112 Und auch die konventionellen Frauen- und Familienvorstellungen konnten zwar mit modernen Konzepten ›überschrieben‹ werden, sind aber aus der Gesellschaft nicht verschwunden – nicht einmal aus der Politik.113 Breit angelegte Konfliktbereitschaft und visionärer Pragmatismus bleiben deshalb weiterhin notwendig. Die Me Too-Bewegung ist hierfür ein Beispiel. 109 Siehe dazu die umfassende Studie von Neumaier, Familie. 110 Zur Geschichtsschreibung über die Vorortskultur siehe als Einstieg: Kevin M. Kruse / ­​ Thomas J. Sugrue (Hg.), The New Suburban History, Chicago 2004. 111 Isabel Heinemann, Social Experts and Modern Women’s Reproduction. From »Working Women’s Neurosis« to the Abortion Debate, 1950–1980, in: dies. (Hg.), Inventing the »Modern American Family«. Family Values and Social Change in 20th Century United States, Frankfurt am Main 2012, S. 124–151, hier S. 151; dies., Wert der Familie. Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, insb. S. 421–423. 112 Über heutige Trends urteilt die Bochumer Soziologie-Professorin Katja Sabisch. Vgl. Benedikt Peters, Zurück an den Herd? Traditionelle Geschlechterrollen werden wieder beliebter, in: Der Tagesspiegel 5.10.2013 (online: http://www.tagesspiegel.de/welt​ spiegel/zurueck-an-den-herd-traditionelle-geschlechterrollen-werden-wieder-beliebter/​ 8888966.html, aufgerufen am 3.5.2019). Remaskulinierungstrends, die in diese Richtung weisen, gab es in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht nur während der 1950er und frühen 1960er Jahre, sondern auch in den 1980er Jahren. Vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 286 f. 113 Zu denken ist an das Steuer-Splitting und an die ungelösten Probleme hinsichtlich der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie.

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Das größte Problem für weitere frauenemanzipatorische Forderungen geht indessen vom neoliberalen, marktorientierten Wirtschaftswandel aus. Waren zuvor die Geschlechterautoritäten benennbar und fixierbar, so verflüchtigten sich seither die Verursacher der Ungleichheit von Frauen in den anonymen, globalen Märkten. Zwar entstanden mit der partiellen Umwandlung der Wirtschaftsstruktur in eine Dienstleistungsgesellschaft neue Job-Möglichkeiten für Frauen. Und traditionelle Autoritäten wurden demontiert. Zudem brachte der Postfordismus eine neue Flexibilität in die ökonomische Sphäre, die auch Frauen nutzen konnten. Frauen gelten jedoch nach wie vor als hauptverantwortlich für die Pflege der Kinder, und vielfach wollen sie das auch selbst. Dadurch erfahren sie jedoch erhebliche Nachteile auf dem Arbeitsmarkt, erhalten viel seltener Machtpositionen in Politik und Gesellschaft und vor allem verdienen sie weniger, wodurch sich nicht nur das Risiko für Altersarmut erhöht, sondern auch die tradierten Familienstrukturen mehr oder weniger erhalten bleiben.114 Die Politik ist deshalb nach wie vor gefordert.115

114 Frazer, Feminism. 115 Siehe u. a. Sibylle Raasch, Frauenquoten und Männerrechte, Baden-Baden 1991.

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Privatautonomie unbegrenzt? 1. Einleitung: Wozu dieses Thema hier? Privatautonomie als Recht – wozu das denn? Vermutlich interessiert daran gewissermaßen alles und nichts, und alles wäre zu viel, also bliebe nichts. Die Autonomie interessiert gewiss, aber die juristische Autonomie und gar die Privatautonomie? Sind das nicht nur Rechtsätze und keine Wirklichkeiten, noch dazu sehr abstrakte, unanschauliche Sätze? Schon eher locken wohl die Grenzen und erst recht das Fragezeichen. Denn dabei geht es dann um die fast stets zugleich mit der Privatautonomie verbundene Kritik an ihr als fatalem Instrument der real greifbaren Ausbeutungen.1 Aber natürlich haben auch Rechtsätze ihre Wirklichkeit und nicht nur als geschrieben im Gesetzblatt, sondern zumal in ihren gesellschaftlichen Effekten. Zwei Effekte erscheinen wesentlich für das Privatrecht: Koordination und Konfliktlösung. Vor allem die Rechtsätze des Privatrechts koordinieren unser laufendes Zusammenleben und zwar stillschweigend, geradezu unsichtbar, konkret also das Kaufen und Verkaufen, Tauschen, Schenken, Mieten und Pachten, Verleihen und Leihen, Kreditieren (Geld oder Sachen), Arbeiten und Verarbeiten, das pauschal Verreisen, Makeln, Beauftragen und Geschäfte besorgen, auch Überweisungen, Zahlungsverträge, Giroverträge ausführen, das Verwahren, das Gesellschaften (und Vereine) bilden, das Spielen und Wetten, Bürgen und Verbürgen, Sich-Vergleichen – das waren die 23, bzw. seit 2002 24, Einzeltitel des Rechts der Schuldverhältnisse im zweiten Buch des Bürgerlichen Gesetz­buches seit 1900. Die bloße Aufzählung zeigt plastisch: Das ganze tägliche Leben steht da drin. Diese Wirklichkeit wird durch Privatrecht koordiniert, dazu noch durch das Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, spezieller auch durch das Arbeitsrecht, Mietrecht, Wohnungsrecht, Versicherungsrecht, Patentrecht, Wettbewerbsrecht, Wechselrecht, usw. darin stecken 90 % unseres täglichen Lebens und die weit überwiegende Masse unseres Rechts – nicht etwa im allgemein viel aufmerksamer besprochenen öffentlichen Recht mit Verfassungsrecht oder im Strafrecht. Nur ein ganz kleiner Teil unseres Zusammenlebens muss dann 1 Privatautonomie unbegrenzt? – unter diesem Titel hatte man sich einen Beitrag zur Sitzung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte e. V. über »Kapitalismus und Recht« gewünscht. Der Beitrag hätte auch heißen können »Privatautonomie verriegelt – entriegelt – verriegelt«. Ich erlaube mir, Lutz Raphael diesen Text in leicht modifizierter Form als willkommene Gelegenheit zum Dank für bewährte Freundschaft gerade auch im Arbeitskreis zu widmen.

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doch durch rechtliche Konfliktlösungen bearbeitet werden. Dieser kleine Teil ist freilich – man muss fast sagen, leider – der sichtbarste oder besser: der meistbeäugte Teil, besonders in Gestalt der Strafprozesse.2 Letztere bilden nahezu den einzigen Rechtsbereich, der in der öffentlichen Kommunikation über Recht eine gewisse Rolle spielt (Presse, Rundfunk, Fernsehen). Privatrecht mag also interessieren, aber auch Privatautonomie?

2. Die Wichtigkeit der Privatautonomie? Die Antwort muss zunächst um einiges genereller sein als für Privatautonomie und Privatrecht. Sie betrifft die Rechtsfunktion überhaupt und war jahrhundertelang sehr kurz und einfach. Privatrecht war und ist wichtig für pax et iustitia. Inzwischen muss man ein Wort hinzufügen, auch für felicitas, also pax et iustitia et felicitas, Friedlichkeit, Gerechtigkeit und Glückseligkeit. Die »Glückseligkeit« schrieb man wenigstens einmal ausdrücklich in einen berühmten Rechtstext hinein. Dieser Text deklarierte ein Recht auf Glückseligkeit, und zwar by nature und als inherent right aller Menschen, ein Recht auf pursuing and obtaining happiness (and safety)  – Virginia Bill 1776. Happiness war die deutsche, aufklärerische Glückseligkeit. Das war das erste rechtlich fixierte Signal für grundsätzliche Privatautonomie, nicht etwa schon das römische Recht wie manchmal behauptet.3 Kraft Privatautonomie sollte nun jeder seines Glückes Schmied sein können, pursuing and obtaining happiness. Das ist nun fast 250 Jahre her und es blieb das wohl einzige Genuss- und Glückseligkeitsversprechen in einem Verfassungstext. Warum wurde das nur dieses eine Mal als Recht niedergeschrieben? Das hat mit den Grenzen zu tun. Es erwies sich immer wieder als zu schwierig, auch die Grenzen in so allgemeinen Grundsatzformulierungen in Verfassungen festzulegen. Die neuzeitlichen Verfassungen seit 1776 haben bekanntlich sehr vieles entriegelt, aber sie mussten auch sehr vieles zugleich möglichst präzise verriegeln. Das ist das unvermeidliche Problem der Neuzeit im Zeichen von gleicher Freiheit: Wie können die möglichst gleichen Freiheiten von vielen zugleich und miteinander genossen werden. Da bedarf es möglichst präziser Abgrenzungen und zumal im Rechtsbereich, wo am Ende die legale Staatsgewalt zur Durchsetzung verhilft. Das ge-

2 Dazu die Untersuchung von Oliver Castendyk, Rechtliche Begründungen in der Öffentlichkeit. Ein Beitrag zur Rechtskommunikation in Massenmedien, Wiesbaden 1994. 3 Die Freiheitskämpfe in den spanischen Niederlanden im 16. Jahrhundert bieten nur begrenztere Dokumente; in den spanischen Debatten um die Rechte der Indianer sprach Bartolomeo de Las Casas zwar von »derechos humanos«, aber das meinte nicht angeborene Rechte der Menschen, wie meist behauptet wird, sondern menschliche Rechte gemäß der eingeführten Trias ius divinum, naturale, humanum. Ich hoffe, eine Studie dazu noch einmal ausarbeiten zu können.

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lang so allgemein nicht, auch nicht den Philosophen, also schwieg man zu den Grenzen der happiness.4 Aber was hat die rechtliche Privatautonomie mit Glückseligkeit und Wohlstand zu tun? Ich behaupte dazu einfach: Privatautonomes Privatrecht ist die wesentliche Voraussetzung, ja eine nach aller historischen Erfahrung notwendige Bedingung für diese happiness und den gewissen Wohlstand, der dazu nötig ist, ein gewisser Wohlstand, wie ihn alle Nicht-Asketen und -Asketinnen, also die meisten Menschen, haben wollen. Nach aller historischen Erfahrung – das erfordert einen Blick wenigstens in die Neuzeit seit ca. 1800. Der beträchtliche Zuwachs an durchschnittlichem Wohlstand von damals bis heute dürfte unstreitig sein. Indizien dieses »Fahrstuhleffekts« oder »säkularen Aufwärtstrends« schon vor 1914, wie das sogar Wehler feststellte,5 sind die enorm gestiegene Lebenserwartung, das viel bessere Gesundheitsniveau, das viel bessere Ernährungsniveau, die kürzere Lebensarbeitszeit, der enorme Zuwachs an Freiheit und Freizeit, generell das höhere Bruttosozialprodukt usw. Das Weltbruttosozialprodukt soll heute fast einhundertmal höher liegen als 1820. Natürlich kam und kommt das nicht allen gleichermaßen zugute. Aber der allgemeine Wohlstandsgewinn hat auch den Ärmeren erhebliche Gewinne gebracht. Es wiederholte sich nach 1945. Wodurch kam dieser Wohlstand zustande? Welche Voraussetzungen hatte er, welche Bedingungen? In der Vormoderne beruhte Zuwachs an Wohlstand oft auf kriegerischen Raubzügen – nicht so seit 1800, dem hier relevanten Zeitraum, trotz aller furchtbaren Kriege seitdem. So wurden zwar nach 1871 mit dem reichlichen französischen Gold nicht nur Ludwig II. von Bayern für seine Schlösser, sondern auch das von Preußen annektierte Hannover und andere großzügig milde gestimmt, aber »Wie gewonnen so zerronnen« war das Ergebnis spätestens nach 1918 und 1945. Die Ludwig-Schlösser wurden immerhin zum Magneten. Oder brachte das moderne Verfassungsrecht seit 1789 den Wohlstand, vielleicht vor allem die Grundrechte, die heute vielen schnell einfallen, wenn es um Wohlstand geht? Man denkt dann an soziale Teilhabe, nicht an die klassische Eingriffsabwehr gegenüber der Staatsgewalt. Aber gerade die Grundrechte waren noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein ein reines Programmrecht ohne viel realen Effekt, Verfassungslyrik wie man in Weimar polemisch sagte. Es gab keinen individuellen Rechtsschutz auf Grundrechte, der etwas hätte bewirken

4 Genauer dazu: Joachim Rückert, Verfassungen und Vertragsfreiheit, in: Jean-François Kervégan / Heinz Mohnhaupt (Hg.), Gesellschaftliche Freiheit und vertragliche Bindung in Rechtsgeschichte und Philosophie, Frankfurt am Main 1999, S. 165–199; jetzt auch in ders., Ausgewählte Aufsätze. Bd. 1: Grundlagen, Geschichte, Bewältigungen, Stockstadt 2012, S. 261–292. 5 Siehe Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, München 1995, S. 708 u. 712, 707 für Aufwärtstrend, für die Zahlen unter Rückgriff bes. auf Sombart (S. 704 f.); erneut in Bd. 5 (2008), S. 119, für nach 1945 nun mit Verweis auf Sombart und Sorokin, aber ohne Nachweis in den Anmerkungen.

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können. Die happiness garantieren die Grundrechte bis heute gerade nicht. Das Recht auf Verfassungsbeschwerde stand selbst 1949 noch nicht im Grundgesetz, sondern erst seit 1969 (als Teil der sog. Notstandsgesetze) in Art. 93 I, zuvor war es nur einfachgesetzlich im Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 verankert. Da war das Privatrecht bereits 2000 Jahre alt. Oder war es die Ökonomie, konkreter die ökonomische Tüchtigkeit, die den Wohlstand brachte? Oder der Erfindungsreichtum der technischen Wissenschaften? Oder der Fleiß der tüchtigen Handwerker, Arbeiter, Ingenieure usw.? Oder die gute Erziehung in Schulen und Universitäten? Oder die einigermaßen reformerische Sozialpolitik, die die arbeitenden Klassen bei der Stange hielt? Oder? Gewiss waren und sind das alles wichtige Faktoren, aber ohne ein privatautonomes Privatrecht kommen sie gar nicht zur Entfaltung. Denn das privatautonome Privatrecht bildet den Kern, den Sockel, den Rahmen, das Fundament der vielen Aktivitäten, die erst den Wohlstand bringen. Rechtswohlstand ist natürlich noch kein Lebenswohlstand, aber ohne ihn geht es offenbar auch nicht. Der Kern dieser Entfaltungsmöglichkeiten, oder wie man sagen könnte Entriegelungen, ist normativ wie faktisch die Privatautonomie und d. h. konkret die Freiheit, seine Rechtsverhältnisse selbst gestalten zu dürfen. Auch das wurde 1776 positiv ausgesprochen: the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property and pursuing and obtaining happiness and safety (Virginia Bill of Rights v. 12.6.1776, sec. 1) – also erwerben und besitzen und erstreben und erlangen. Dies sind die hier wesentlichen Aktivitäten, und das sind schon fast alle wichtigen Wohlstandsgestaltungsfragen. Wenig später wurde diese liberty umfassend garantiert mit den Worten: La liberté consiste à pouvoir faire tous ce, qui ne nuit pas à autrui – die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet (Französ. Déclaration des droits v. 26.8.1789 und Constitution v. 3.9.1791, art. 4; erneut Juni 1793, art. 6). Das ist die juristisch sogenannte allgemeine Handlungsfreiheit, die bis heute die Grundlage der Rechtsgarantie der Privatautonomie bildet. In dieser Form wurde sie dann endlich 1949 auch in Deutschland in Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes festgehalten: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Die Normen beginnen also vor 1800 einzelne Freiheiten zu garantieren und gipfeln in Deutschland 1949 in der Garantie einer sehr allgemeinen Handlungsfreiheit – Entriegelung!?

3. Fünf doppelte Geschichten über Privatautonomie Diese Aussagen über die Privatautonomie sind gewiss irgendwie relevant, aber doch ziemlich abstrakt und noch dazu, wie man in der Rechtsgeschichte sagt, ziemlich dogmenhistorisch, d. h. bloß an den Rechtssätzen entlang orientiert. Aber ohne diese zu kennen, geht es auch nicht. Man muss sie wahrnehmen, um ihre Wirklichkeit erkennen zu können. Im Folgenden wird weniger abstrakt vorgegangen, indem die fünf konkreten Sachbereiche von Privatautonomie näher

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betrachtet werden. Privatautonomie wird relevant 1. beim Status der Personen im Personenrecht, 2. bei ihrem Handel und Wandel im Schuldrecht, 3. bei ihrem Umgang mit Sachen im Sachenrecht, 4. beim Familie-Gründen und FamilieHaben im Familienrecht und 5. beim Vererben und Erben im Erbrecht. Überall wird Privatautonomie sehr konkret relevant  – begrenzt oder unbegrenzt. Im Grunde müsste man nun fünf doppelte Geschichten aufmachen, nämlich fünf normative und fünf faktische. Dies wäre sehr reizvoll, ist aber nicht nur aus Platzgründen hier nicht möglich. Einen Überblick dieser Art existiert nicht, weder zur normativen Seite6, noch gar zur faktischen. Stattdessen folgen fünf plakativ zugespitzte Zeitreisen im Geschichtsjet. Als Ausgangspunkt nehme ich jeweils die Normen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 (ALR), als Zwischenhalt das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 (BGB) und als Endstation das heutige Privatrecht. Die reale Seite der Normen wird dabei einbezogen. 3.1 Der Bereich der Personen

Die normative Kurzgeschichte zu den Personenverhältnissen lautet: von der Standesperson zum Menschen. Weniger abstrakt und kühner könnte man auch den Satz wagen: vom Gesindedienst zum Minijob. Der Stand ist am Ende weg. Diese Geschichte führt, wie 1794 im ALR schon in der Gliederung ausgewiesen, vom Stand als Bauer (ALR II 7, 1 ff.), als Gutsherr und gebundener Gutsuntertan (II 7, 87 ff.), als Bürger, d. h. als Handwerker, Fabrikant, Brauer und Gastwirt, Apotheker, Kaufmann usw. (II 8), als Adeliger (II 9), als Staatsdiener (II 10) und als Kirchenangehöriger (II 11) mit einem großen Sprung zum Menschen im BGB 1900 – alles ohne Frauen. Diese stellte das ALR einerseits gleich (in I 1, 24), beschränkte sie aber doch als Ehefrauen (II 1, 184 ff.). Das lässt sich aufschlussreich

6 Interdisziplinär mag Folgendes interessieren: Eine neuere Bibliographie fehlt und ebenso ist die neuere Forschung kaum zusammengefasst. Für die nötige Kombination von allgemeineren und sehr konkreten Hilfen muss man sich behelfen mit institutionengeschichtlichen Gesamtdarstellungen zur Privatrechtsgeschichte wie vor allem der von Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, 1500–1914, 2 Bände, München 1985 u. 1989, dazu mit den faktenreichen Privatrechtsabschnitten bei Gerhard Köbler, Deutsche Rechtsgeschichte, München 62005, und den sehr knappen bei Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, München 3 2006; viel Einzelnes bietet jetzt der neueste Überblick von Steffen Schlinker u. a., Privatrechtsgeschichte. Ein Studienbuch, München 2019 (aber ohne Erbrecht). Der Historischkritische Kommentar zum BGB , hg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, 4 Bde. (bisher), Tübingen 2003–2019 (Bd. 1 Allgemeiner Teil (2003), Bd. 2 u. 3 Schuldrecht (2007 u. 2013), Bd. 4 Familienrecht (2019)) versucht einige Synthesen; daneben helfen Lexikonartikel im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 2 2008 ff., hg. von Albrecht Cordes u. a. (derzeit bis Buchstabe P). Die beliebten ideengeschichtlichen Werke, wie besonders Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 21967, sind hier ganz unergiebig. Sehr anregend bleibt Jean Gilissen, Introduction historique au droit, Brüssel 1979.

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dem ausführlichen Register unter »Frauenspersonen« und »Ehefrau« und in II 2, 67 ff. zu Säuglingen und Erziehung entnehmen.7 Der juristische »Mensch« von 1900 blieb unverändert bis heute. Denn 1900 hieß es gleich in § 1 des BGB: Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt, und fast genauso im ersten Entwurf 1888. Nur der Mensch zählt. Aus acht Ständen im Recht ist somit ein einziger geworden; der Naturstand hätte man seinerzeit gesagt. Die bemerkenswerte BGB -Begründung von 1888 und ebenso die anschaulich-lehrreichen Pflichten und Gebote im ALR , die die Freiheiten dieser Standespersonen zusätzlich banden, müssen hier übergangen werden. Nur zwei Sätze aus den 1888 veröffentlichten »Motiven« zum ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs müssen herausgegriffen werden: Die Rechtsordnung erfüllt, indem sie die Rechtsfähigkeit des Menschen ohne Rücksicht auf seine Individualität und ohne Rücksicht auf seinen Willen anerkennt, ein Gebot der Vernunft und der Ethik. Neben der Vorschrift des § 3 [zur Rechtsfähigkeit] bezeugt der Gesamtinhalt des Entwurfes diese von dem Rechtsbewusstsein der Gegenwart geforderte und als selbstverständlich betrachtete Anerkennung.8 Diese als »selbstverständlich betrachtete Anerkennung« war die systematisch erste und wichtigste Entriegelung im Recht und nicht nur im Privatrecht. Nun standen jedem Menschen die Türen des Rechts gleichermaßen offen. Selbstständig hindurch zu kommen war gleichwohl nicht so einfach. Grenzen gab es noch genug, vor allem für die Autonomie der Ehefrauen, so bekanntlich bis 1949 zum Art. 3 des Grundgesetzes und 1958 zum Gleichberechtigungsgesetz – und teilweise noch länger. Das betraf zwar nicht deren Rechtsfähigkeit, aber doch deren normativ und real sehr wichtige Fortsetzung, die Geschäftsfähigkeit, d. h. etwa die Möglichkeit, selbstständig Geschäfte zu tätigen (sog. Schlüsselgewalt, § 1357–1900), Berufe zu ergreifen und Arbeitsverträge einzugehen (§§ 104, 1354, 1358–1900). Als derzeit wohl letztes sehr signifikantes normatives Geschichtsstück dazu sollte die Betreuung erwähnt werden. Denn zur konsequenten Emanzipation möglichst aller Staatsbürger als rechtfähig fehlte vor allem bis 1992 die Abschaffung der Entmündigung und der Vormundschaft über Volljährige, was eine massive Einschränkung der Geschäftsfähigkeit (§§ 6, 1896–1908) bedeutete. Die Abschaffung geschah zugunsten der bloßen sog. Betreuung statt Vormundschaft (§§ 1896–1908 neu). Ebenfalls wurde die Stellung der Minderjährigen und der Kinder in der Ehe gestärkt. Sie wurden volljährig bereits mit 18 statt 21 Jah-

7 Siehe die amtliche Ausgabe: August F. Schering (Hg.), Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Im Auftrage des Justiz-Ministeriums mit Anmerkungen, 4 Bde., Berlin 2 1869, mit angebundenem Register von 188 Seiten. 8 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Amtliche Ausgabe, Bd. 1, Berlin 1888, S. 25 f.

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ren (§ 2 BGB neu) und selbstständiger für Erziehung und Ausbildung (§§ 1631 und 1631a BGB neu). Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Hinzugekommen im Privatrecht sind zwei Spezialmenschen, die Verbraucher und die Unternehmer. Für sie gilt das sog. Verbraucherrecht (in §§ 13 und 14 BGB 2000). Das ist nach 100 Jahren eine neue und hier sehr relevante Differenzierung, zumal für die alltägliche Wirklichkeit. Sie wird nicht selten als Rückfall in ständisches Recht und Verlust an Privatautonomie qualifiziert, von anderen dagegen als bloße Spezialisierung und Rettung gestörter Privatautonomie. In der Tat gibt es nun im Privatrecht wieder privilegierende Differenzierungen und nicht nur den Menschen. Aber das beruht auf einer besonderen Wirklichkeit. In den formularmäßigen Verbraucherverträgen ist die Vertragsparität oft real gestört, was normativ beispielsweise daran sichtbar ist, dass diese Verträge viele Rechte im »normalen« Vertragsrecht ausschließen. Rettung tut also Not, und diese Rettung geschieht durch Zwang, d. h. zwingendes Recht, statt durch Emanzipation, die auf eine Verbesserung der selbstständig nutzbaren Marktpositionen der Verbraucher hinausliefe.9 Rettung durch Zwang ist jedenfalls keine privatautonome Lösung, sondern eine objektiv-normative Begrenzung, die unterschiedslos alle trifft und auch begrenzt – insofern eine Verriegelung. Die normative Deutungs- und Lösungsfrage zum Problem Freiheitsrettung durch Zwang muss hier nicht entschieden werden. Sie verweist aber, wie schon erkennbar wurde, auf die angekündigte zweite Geschichte, also die Realgeschichte in Sachen Personenstatus und Privatautonomie. Das Recht reagiert nämlich mit dem Verbraucherschutz auf Defizite der Rechtswirklichkeit gegenüber seinem Programm, konkret mit §§ 13/14 auf Defizite in § 305–1900 bzw. § 311–2002. Es begrenzt real problematisch gewordene Privatautonomien der Überlegenen durch zwingendes Privatrecht. Diese Reaktion ist alt und ein konsequentes Kind der Freisetzung und Entriegelung in der Moderne. Sie begann Sektor für Sektor alsbald nach der Gewerbefreiheit (zuerst in Preußen 1811, dann 1845) bekanntlich mit dem Arbeiterschutz (schon 1815, 1817, dann 1839  – Kinder). Sie griff weiter aus seit 1869/71 mit Schutz für Frauen, dann auch Männer, und erweitert auf Arbeitszeit, Arbeitsgesundheit und Lohn / Truckverbot in der Gewerbeordnung. Sie erfasste seit 1894 mit dem Abzahlungsgesetz ein erstes Stück konkreten Verbraucherschutzes, schon zugleich mit dem BGB von 1900. Darin zeigte sich die fast immer verkannte, in der Rechtsgeschichte und noch mehr in der allgemeinen Geschichte, damals sehr bewusste gesetzgeberische Arbeitsteilung zwischen freisetzendem allgemeinem und gleichem Privatrecht und 9 Zum Grundproblem gut: Filippo Ranieri, Die Privatrechtsgesellschaft und die Angleichung des europäischen Privatrechts. Ein rechtsvergleichender Rückblick und eine rechtspolitische Diagnose, in: Karl Riesenhuber (Hg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, Tübingen 2007, S. 355–378; ein Überblick bei: Thomas Duve, Kommentierung zu §§ 1–14/20 BGB , in: Mathias Schmoeckel / Joachim Rückert / Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB , Bd. 1, Tübingen 2003, S. 167–232.

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differenziert schützendem Spezialrecht.10 Noch vor 1914 kam es zu einer sehr kritischen Diskussion über die Rechtswirklichkeit der Bauhandwerkersicherung und der Mietverträge mit allgemeinen Geschäftsbedingungen etwa in Großberliner Mietverträgen.11 Juristisch Ernst gemacht mit der Kritik wurde dann in Form einer allgemeinen Kontrolle der Angemessenheit von Verträgen durch die rechtsfortbildende Rechtsprechung seit den 1950er Jahren. Das mündete in das Gesetz über allgemeine Geschäftsbedingungen von 1977 und schließlich 2002 in die kodifikatorische Einfügung des nun sog. Verbraucherrechts in §§ 305 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Das heißt natürlich nicht, dass alle solche Defizite in Sachen Privatautonomie normativ oder gar realiter beseitigt wären. Aber es zeigt, und darum geht es hier, dass die Privatautonomie niemals unbegrenzt war, sondern stets in differenzierter, fallnaher Weise begrenzt wurde. Man muss also normativ wie faktisch diesen Differenzierungen nachgehen, um etwas über begrenzt und unbegrenzt oder entriegelt und verriegelt sagen zu können. Auch 1900 gab es außerdem schon nicht nur spezialgesetzliche Grenzen, sondern im BGB selbst gesetzliche Verbote wie »auffälliges Missverhältnis« der Leistungen (§ 138 Abs. 2, Hauptfall Wucher), Sittenwidrigkeit (§ 138 Abs. 1), un­ kündbare Dauerdienstverträge (§ 624), daneben schützende Formvorschriften bei unter Umständen sehr eingreifenden oder riskanten Geschäften (Hauptfall Immobilien § 313; Gesamtvermögen § 311), auch für Schenkungsversprechen (§ 518) und Bürgschaften (§ 766). Hinzu kamen weitere Spezialrechte, für Kaufleute (im Handelsgesetzbuch seit 1861), für Arbeitsverträge (bes. im Gewerberecht), besonders für das Gesinderecht (Art. 95 Einführungsgesetz BGB), für Heimarbeiter (1911) und einiges mehr. Privatautonomie war also nie unbegrenzt, es standen nie alle Türen offen, auch nicht in den sog. besten oder ­schlimmsten Zeiten der Privatautonomie vor 1914. Zuerst und vor allem wurde durch zwingendes Privatrecht für Leib, Leben und Existenzminimum auch gegen bestimmte Verträge gesorgt. Heute ist es zur Menschenwürde in Art. 1 Grund­gesetz generalisiert und durch die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte im Privatrechtsverkehr erweitert, die auch Unterdrückung unter Privaten grundrechtlich abwehren kann. Sehr historisch plastisch sind diese Ausführungen natürlich nicht. Immerhin lohnt dafür ein Blick auf etwas juristisch Ephemeres wie die Pfändungsgrenzen. Sie sind sehr aufschlussreich für die Rechtswirklichkeit, zumal sie schon seit 1869/71 in Gestalt des Lohnbeschlagnahmegesetzes reichsweit galten. An ihnen entlang ließe sich eine ungemein anschauliche Armuts- und Wohlstandsge10 Dazu zuletzt genauer am zentralen Beispiel Dienstvertrag: Joachim Rückert, Dienst- und Arbeitsvertrag, in: Mathias Schmoeckel u. a. (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB , Bd. 3, Tübingen 2013, S. 700–1230, hier S. 747 f., 766–773; zur komplementären Funktion des kollektiven Arbeitsrechts: Ders., Koalitionsrecht, Tarifverträge, kollektives Arbeitsrecht und ihr Prinzip in Deutschland, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 50 (2019), S. 515–578. 11 Dazu die auch empirische Studie von Paul Eltzbacher, Großberliner Mietverträge, Berlin 1913.

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schichte schreiben, vom Lohnminimum (1879: 1500 RM per anno, 1915: 2000, 1917: flexibel mit Sockel, 1950: rd. 1000  DM, usw.) bis zum Farbfernseher.12 Die alte persönliche Schuldhaft war damit abgeschafft (s. § 888 ZPO 1877) und das ebenfalls alte Konkursprivileg für Lohnforderungen war funktional ergänzt (1. Rang dieser Forderungen, § 54 Nr.1 KO –1877). Zweierlei macht diese erste doppelte Geschichte klar. Erstens war Privatautonomie nie unbegrenzt  – auch nicht im 19. Jahrhundert. Zweitens lassen sich keine klaren Phasen oder gar Epochen seit 1800 aufzeigen, sondern allenfalls Akzente benennen. 3.2 Der Bereich der Schuldverhältnisse

Für das Gebiet der Schuldverhältnisse gibt es schon eine sehr beliebte Kurzformel: From status to contract – vom Status zum Vertrag. So lautete das kühne Fazit des englischen Rechtshistorikers Henry Sumner Maine in seinem stark typisierenden Buch Ancient Law von 1861. Das Buch zielte sozialgeschichtlich auf its [d. h. des Rechts] connection with the early history of society and its relation to modern ideas, so der Untertitel. Die Formel From status to contract war aber nicht so allgemein wie sie klingt. Maine erläuterte sie wie folgt: Der Vertrag sei das Band zwischen Mensch und Mensch […] das nach und nach die Formen der Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten ersetzt, die ihren Ursprung in der Familie haben [also den Status ersetzt] […] [Dieses neue Band] ist der Vertrag (dt. Übers. 1997, S. 114). Das alte »Band« waren für Maine, wie er hinzufügt, die »in der Familie angesiedelten Machtbefugnisse und Privilegien« (ebd.), die nie ganz verschwunden seien. Familie war hier natürlich die alte Großfamilie in Haus und Hof, im »ganzen Haus« mit Otto Brunner, die familia, nicht nur die moderne eng verwandte Kleinfamilie. Diese täglichen Großfamilienbindungen verschwanden bekanntlich je nach sozialer Klasse im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Tat immer mehr. Der freie Vertrag avancierte damit zur juristischen Hauptfigur für alle Schuldverhältnisse des täglichen Lebens und darüber hinaus. Aber auch er hatte seine Grenzen. Nicht mehr erlaubt und nichtig wurden zuerst die alten Selbstveräußerungen in Knechtschaft, Untertänigkeit oder Schutzgewalt, die commendatio.13 Im ALR von 1794 war dies noch erlaubt; man wurde schon untertänig, wie es hier hieß, wenn man als Bauer ein entsprechendes Gut ohne schriftlichen Vorbehalt übernahm, denn die Untertänigkeit hing am Gut und erstreckte sich auf die Person: Personen des Bauernstandes, welche ein zu Untertänigkeit verhaftetes Gut ohne schriftlichen Vorbehalt ihrer persönlichen Freiheit übernehmen, 12 Grundlegend dazu: Marc Ludwig, Der Pfändungsschutz für Lohneinkommen. Die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Vorschriften zum Schutz vor Lohnpfändung in Deutschland, Diss. iur., Kiel 2001. 13 Siehe Bernhard Diestelkamp, Kommendation, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 22012, Sp. 1969–1971.

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treten dadurch in die Untertänigkeit der Gutsherrschaft. (ALR II 7, 106). Um jede Unklarheit zu vermeiden hieß es zudem: Personen adlichen Standes können keine persönliche Untertänigkeit übernehmen, oder dazu angenommen werden. (II 7, 109) Taten sie es dennoch, so verloren sie den Adel. Das geschah, … wenn Jemand von adlicher Geburt eine unehrbare oder auch nur eine solche Lebensart wählt, wodurch er sich zu dem gemeinen Volke herabsetzt. (II 9, 82) Personen weniger hohen Standes, also »Personen des gemeinen Bürger- und Bauernstandes«, konnten sich dagegen ohne weiteres durch schriftlichen Vertrag in die persönliche Untertänigkeit begeben. Das Recht befestigte somit noch einmal die ständische Gesellschaft, nicht nur im Personen- und Standesrecht, sondern auch bis ins Vertragsrecht hinein. Diese Bindungen wurden freilich mit dem berühmten Martini-Edikt vom Oktober 1807 beendet. Die französische Revolution war in Preußen angekommen; die militärische Niederlage von 1806 hatte die Finanzen zerrüttet. Folglich mobilisierte man alles  – vor allem das Personenrecht. § 12 des Edikts entriegelte die alten Türen und öffnete die Bahn: Mit dem Martini-Tage Eintausend Achthundert und Zehn (1810) hört alle GutsUntertänigkeit in unseren sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martini-Tage 1810 gibt es nur freie Leute […] bei denen aber, wie sich von selbst versteht, alle Verbindlichkeiten die Ihnen als freien Leuten vermöge des Besitzes eines Grundstücks, oder vermöge eines besonderen Vertrags obliegen, in Kraft bleiben. (1807 § 12). Hier findet sich also der »besondere«, d. h. der freie Vertrag von »freien Leuten«, der nun alle Bindungen ersetzte und die ständische Gesellschaft auflöste – soweit einige exemplarische Normen aus dem Vertragsbereich. In der hier gewählten zweiten Etappe, also um 1900, hätte sich dieses Problem der Selbstveräußerung und Untertänigkeit somit erledigt haben sollen. Aber auch ohne die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts aufzurollen, ist klar, dass es sich keineswegs erledigt hatte. »Der Arbeiter ist frei, aber vogelfrei« war eine am Ende des Jahrhunderts scharfe Formel vom Wiener juristischen Kathedersozialisten Anton Menger bis in die Gegenwart vom französischen Kommunisten Roger Garaudy bis zu bekannten Juristen wie Wieacker, Wiethölter, Wesel, Säcker,14 besonders für die Ungelernten, und dies galt nicht nur für »den Arbeiter«, sondern in milderer Form auch für das Gesinde in Stadt und Land. Jedenfalls wurde deutlich, dass sich Privatautonomie ohne Existenzgrundlage ad absurdum führt. Das eindrucksvolle Recht verschwindet dann in der prekären Realität. Das bürgerliche Recht hat darauf reagiert. An dieser Stelle soll nur eine sehr direkte Spezialität herausgegriffen werden. Das BGB von 1900 sichert die Staatsbürger gegen eine Art faktischer Selbstveräußerung. Die Privatautonomie sollte sich nicht selbst durch Verträge zerstören können. Inaliénable hatte deswegen die französische Deklaration von 1789 die Freiheitsrechte genannt; in der Präambel versprach sie les droits naturel, inaliénable et sacré de l’homme. Zu

14 Siehe die Nachweise in: Rückert, Dienst-und Arbeitsvertrag, S. 853 Fn. 140; ergänzt in ders., Koalitionsrecht, S. 567 Fn. 247.

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kleiner konkreter Münze verrechtlicht, und das ist am Ende immer die Aufgabe des Rechts, steht das auch noch im BGB in § 311. Dieser Paragraf verbietet es seit 1900, sein ganzes gegenwärtiges oder gar künftiges Vermögen wegzuversprechen und sich auf diese Weise seiner Existenzgrundlage zu berauben, warum auch immer. Solch ein Vertrag ist schlicht nichtig. In der Tat funktioniert Privatautonomie natürlich nur mit einigem Vermögen und mindestens einer Existenzgrundlage. An dieser Stelle wurde also eine ökonomische und soziale Achillesferse der Privatautonomie sichtbar, und man schützte sie durchaus zielstrebig. Inzwischen flankiert das Konkursrecht dieses Problem mit dem neu eingeführten Privatkonkurs, genauer dem Verbraucherinsolvenzverfahren von 1999 in der Konkursordnung und einem Spezialgesetz von 2013. Es bietet gegen persönliche Überschuldung ein spezielles Verfahren der sogenannten Restschuldbefreiung. Mit Maine und dem Problem der Selbstveräußerung habe ich die erste Station der Zeitreise zum Schuldrecht (ALR , 1794) schon teilweise übersprungen. Im Allgemeinen Landrecht gab es natürlich auch ein eigenes Kapitel über Verträge selbst (I 5, 1 ff). Eine entriegelnde Grundsatznorm für Vertragsfreiheit findet sich dort erwartungsgemäß nicht. Es gibt zwar im Einleitungsabschnitt die berühmte allgemeine Sentenz von den Rechten des Menschen: Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen auf die natürliche Freiheit, sein eigenes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines anderen suchen und befördern zu können. Auch ist der Anklang an das schon erwähnte pursuing happiness von 1776 und an pouvoir faire tous ce, qui ne nuit pas à autrui von 1789 in den Worten des ALR eigenes Wohl … suchen und befördern, natürliche Freiheit, und, ohne Kränkung der Rechte eines anderen, kaum zu überhören  – hier zeigt sich eine wichtige übernationale Dimension. Aber bekanntlich war das Allgemeine Landrecht janusköpfig, es blickte stark zurück und auch ein wenig nach vorn. Nach vorn weist die allgemeine Sentenz, zurück führte hingegen das dann folgende, vielfach beschränkende, ständisch festgezurrte Recht. Auch die Fülle der konkreten Vertragsbeschränkungen je nach Fähigkeiten, Stellung und Art der Personen, Gegenständen und Gemeinwohlaspekten ist eindrucksvoll und immer wieder lehrreich. Plastisch wird dies im ALR-Register unter dem Eintrag »Vertrag«.15 Ohne Grenzen kam wiederum auch die neue Vertragsfreiheit von 1900 und in der Reform 2002 nicht aus. Im BGB findet man die volle Vertragsfreiheit gemeinhin garantiert in § 305/1900, jetzt § 311/2002. § 305 verkündete 1900 in prominenter Position an der Spitze des Vertragsrechts: Zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich. Man muss hinzudenken: nur ein Vertrag. Aber 2002 stutzte die Schuldrechtsreform diese Prominenz, indem dieser Paragraf hinter das neu eingefügte Ver-

15 Siehe das Register in der amtlichen Ausgabe: August F. Schering (Hg.), Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Im Auftrage des Justiz-Ministeriums mit Anmerkungen, 4 Bde., Berlin 21869, mit angebundenem Register von 188 Seiten.

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braucherschutzrecht verschoben wurde. Die wesentliche Norm zur Begründung von Verträgen war fortan erst nach den beschränkenden Normen zum »Inhalt der Verträge« »insbesondere bei allgemeinen Geschäftsbedingungen« (§§ 241 ff. und 310), zu finden. Juristisch sind solche systematischen Verschiebungen der Anordnung nicht beliebig, sondern signifikant. Sie bedeuten, dass die Grenzen der Vertragsgründung wichtiger geworden sind als die freie Gründung. Man kann natürlich auch ausweichend sagen, Selbstverständliches wie die freie Gründung müsse das Gesetz nicht betonen. In jedem Fall war die Reihenfolge verdreht worden, nicht gerade logisch, aber doch gewissermaßen ideologisch gewollt. Ein geschichtlicher Blick verdeutlicht diese Wendung, denn er zeigt, dass diese normative Herabstufung der Privatautonomie im Vertragsrecht eine längere Geschichte hat. Schon in der Grundsatznorm von 1900 war die Vertragsfreiheit nicht unbegrenzt. Dazu muss ich auch das soeben eingesparte Schlussstück des § 305 BGB zitieren. Der Paragraf lautete nämlich vollständig: Zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. Es gab also ohne weiteres die Möglichkeit, den Grundsatz durch einfache Gesetze einzuschränken. In dieser Schlussklausel ist das gesamte zwingende Privatrecht versteckt und verankert, d. h. ganze große Lebensbereiche wie das Reisevertragsrecht, das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, der ganze Verbraucherschutz, große Teile des Wohnungsmietrechts, des Arbeitsvertragsrechts usw. Zudem war die Grundsatzgarantie schon 1900 in Wahrheit ziemlich matt formuliert, ganz ohne Freiheitspathos oder wenigstens Grundsatzpathos, wie es vor allem beim Eigentum noch durchschien. Dort sprach man aus, der Eigentümer könne »mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen« (§ 903). Das klang echt frei. Bei der Vertragsfreiheit wird nur ein »erforderlich« (»ein Vertrag erforderlich«) festgestellt, d. h. ein Tatbestandsmerkmal, aber kein freies Belieben, keine grundsätzliche Freiheit, kein Freiheitsprinzip. In der Sache war es freilich doch grundsätzlich gemeint, wie wieder ein Blick in die Motive zum BGB (II 1888, 2) verdeutlicht. Die Formulierung als besondere Einschränkung macht immerhin die Vertragsfreiheit zur Regel, wenn es heißt: Vermöge des Prinzipes der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Verkehrsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte einzelne absolute Gesetzesvorschriften entgegenstehen … Die Formulierung »nach ihrem Ermessen« betonte die volle Freiheit. Was somit 1900 selbstverständliche Regel war, war es 2002 nicht mehr. Dabei muss hervorgehoben werden, dass es normativ durchaus auf die Frage Grundsatz oder nicht ankommt, denn Grundsatzformulierungen steuern ganze Rechtsbereiche; sie geben ein Generalziel vor und leiten damit die Auslegung in Rechtsprechung, Verwaltung und Kautelarpraxis für die vielen Zweifels-

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fragen, die gar nicht alle genauer kasuistisch geregelt werden können. Jedenfalls hat man diese Art von Vollständigkeit ebenfalls seit dem Allgemeinen Landrecht mit seinen rund 20.000 Paragrafen aufgegeben. Juristisch erkennbar wird die Grundsatzbedeutung einer Norm neben ihrer Position im Gesetz an solchen unscheinbaren Einschränkungsformeln wie »soweit nicht …«. Das heißt, die Einschränkung soll Ausnahme bleiben. Das System gerät sonst in einen Wertungswiderspruch und wird juristisch unschlüssig. Es entsteht dann ein unerwünschtes rechtliches Pingpong am Einzelfall, also Richterrecht statt Gesetzesrecht. Diese Probleme mit dem Vertragsfreiheitspathos verweisen auf einen zweiten übergreifend-historischen Zusammenhang. Schon in der Weimarer Verfassung von 1919 war zur Vertragsfreiheit selbst das kleine BGB -Pathos des § 305 nicht nur klein, sondern ganz verschwunden. Die Weimarer Verfassung schwächte die Garantie in ihrem Art. 152 ab zu den Worten: Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze. Mehr Freiheit wollte man 1919 nicht. Die Vertragsfreiheit wurde nur für den Wirtschaftsverkehr erwähnt, und sie war ohne weiteres disponibel für die Maßgabe durch den einfachen Gesetzgeber. Hinzu kam, dass die Vertragsfreiheit zugleich einem sie klar begrenzenden Grundsatz im Artikel zuvor (Art. 151) untergeordnet wurde. Dort hieß es 1919: Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern. Gesetzlicher Zwang ist nur zulässig zur Verwirklichung bedrohter Rechte oder im Dienst überragender Forderungen des Gemeinwohls. Gerechtigkeit und Menschenwürde und Gemeinwohl waren damit ganz nach oben gerückt, vor die Freiheit. Eine allgemeine Handlungsfreiheit, die diese Verschiebung abgefangen hätte, war 1919 nicht garantiert. In diese betont kritische Linie in Sachen Privatautonomie stellt sich offenbar auch die Schuldrechtsreform von 2002 mit ihrem hinter die Inhaltskontrolle geschobenen § 311. Das mag als bloße Anordnungsfrage erscheinen. Doch damit nicht genug. Die Grundsatznorm wurde 2002 noch um einen wiederum begrenzenden Abs. 2 – eine Form der Verriegelung – erweitert. Darin wurden Schuldverhältnisse ohne Vertrag anerkannt; eine einst unmögliche Vorstellung. Was ist daran aufregend? Aus bloßen Vertragsverhandlungen und geschäftlichen Kontakten konnten jetzt volle Vertragshaftungen auf Schadenersatz bis hin zu Erfüllungsersatz entstehen. Hierbei handelte es sich um eine offenbare, durchaus gefährliche Verriegelung. Vertragshaftung ohne Vertrag, das war ein wahrhafter Systembruch gegenüber der Privatautonomie, die bis dahin allein Vertragshaftung hatte begründen sollen. Solch ein Systembruch erfolgte natürlich nicht ohne eine herausfordernde Realgeschichte. Die Rechtswirklichkeit und die Rechtsprechung waren dem späten Gesetz in der Tat längst vorausgeeilt. Schon 1861 hatte der berühmte Rudolf von Jhering sein Rechtsgefühl für solche außervertraglichen, nicht willentlich veranlassten Haftungen mobilisiert; ein bis heute als früher Zeuge eigener

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Haltungen gern bemühter Aufsatz (zum geltenden gemein-römischen Recht!).16 Das Reichsgericht hatte diese Auffassung bald nach 1900 aufgenommen, und die spätere Judikatur hatte sie verfestigt. Sie ist ein Indiz für eine im Geschäftsverkehr praktizierte Rechtswirklichkeit, die wiederum das Prinzip der Privatautonomie keineswegs unbegrenzt anerkannte  – was schließlich auch das Gesetz anerkennen musste. Allerdings war die Begrenzung nun keine Frage mehr von Gerechtigkeit, Menschenwürde und Gemeinwohl wie 1919, sondern vielmehr die eines etwas strengeren geschäftlichen Umgangs miteinander im Geschäftsverkehr. Auch dieser reale Faktor konnte folglich die Privatautonomie begrenzen. Ich breche an dieser Stelle den Blick auf das Schuldrecht ab. Es ließe sich noch viel sagen, etwa über neue Haftungen über die Verschuldenshaftung hinaus, die ebenfalls die privatautonome Bewegungsfreiheit begrenzen, nämlich sogenannte Gefährdungshaftungen auch ohne Fahrlässigkeit, etwa im Eisenbahn- und besonders alltäglich im Straßenverkehr, aber auch im Wasserhaushalt, bei Atomkraftwerken usw., oder über die Erfindung von Pflichten mit Haftungen, wie den sog. Nebenpflichten im Vertrag und den Verkehrssicherungspflichten im Deliktsrecht. Die unbegrenzte Privatautonomie erweist sich geradezu als Schimäre. Im großen und gesellschaftlich so wichtigen Bereich von Koalitionsrecht und Tarifverträgen z. B. musste sie erst einmal durchgesetzt werden – über einen langen Weg vom Straftatbestand für Vertragsbruch vor 1869 zum Grundrecht seit Weimar 1919, oder im Kreditbereich vom Familiendarlehen und Bürgenkredit zum Girokonto für jedermann. Die reale Werbung lockt schon wieder mit »Ein Konto fürs Leben« – also einer Einladung zur gründlichen Selbstbegrenzung. Vor alledem mussten zunächst einmal die Preistaxen fallen, besonders die Festpreise für Konsumgüter, wie für Brot oder in Bayern auch für Bier. Dies vollzog sich bis in die 1860er Jahre und dauert ausnahmsweise auch bis zur Gegenwart an (Oktoberfeste). Diese Blickrichtung zeigt, dass es nach wie vor in Wahrheit viele normative Grenzen und Verriegelungen gibt, zum Beispiel die Festsetzungen in Tarifverträgen, erst recht allgemeinverbindliche Grenzen in Mietzinsregeln, die Monopolverträge im Post-, Verkehr- oder Energiebereich, die sog. Gebührenordnungen bei Ärzten, Rechtsanwälten, Steuerberatern, Taxis, oder auch die Mindestpreise (Agrarmarkt, Mindestlöhne), Höchstpreise (Mietzins) und Preisbindungen (Bücher). Sieht man sich einmal um, so zeigt sich, dass die freie Vertragsbildung ziemlich oft begrenzt – verriegelt – wird. Wird die Ausnahme also zur Regel? Normativ könnte man das fast annehmen. Allerdings erweist sich die empirische Seite als schwierig. Die historisch so wichtige »reale« ökonomische und soziale Bedeutung dieser Grundsätze und Grenzen ist nicht gerade leicht einzuschätzen. Pauschalversuche dazu sind bekannt, z. B. wenn Arbeitsverträge wie erwähnt einfach als frei oder vogelfrei charakterisiert werden. Das befriedigt natürlich nicht. Aber konkret differen­ 16 Dazu zuletzt Joachim Rückert, Das Methodenorakel Rudolf von Jhering, in: Archiv für die civilistische Praxis 219 (2019), Heft 3–4, S. 457–487.

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zierende Studien gibt es wenige. Man müsste Grade von frei und unfrei bestimmen und die Faktoren gewichten, offenbar eine diffizile Aufgabe. Empirisch stehen am Ende fast immer erhebliche Differenzierungen, die nur begrenzte allgemeine Aussagen zulassen. Wie weit standen die Türen offen, waren sie schon entriegelt oder noch verriegelt? Der Grundsatz der Vertragsfreiheit hat gewiss mobilisiert, nicht nur am preußischen Martinitag 1810. Aber mit welchen Chancen und Risiken und für wen? Es kommt vor allem auf die Marktverhältnisse an, den Marktzugang, die dafür notwendigen Fähigkeiten, die Marktmacht, usw. Die Verhandlungs- und Organisationsmacht ist bekanntlich für unterschiedliche Gruppen und Märkte sehr verschieden. Es genügt zu erinnern an einige Hauptgruppen wie Wohnungsmieter in Stadt und Land oder gewerbliche Mieter, an Facharbeiter, Handwerker, ungelernte Arbeiter, Heimarbeiter, Stadtgesinde, Landgesinde, Landarbeiter, an produzierendes und verarbeitendes Gewerbe, an die unterschiedlichen Industrien, die Dienstleistungswelt der Angestellten usw. Muss und kann man dies für eine Gesamtbilanz alles strukturell, qualitativ und quantitativ verrechnen? Für eine differenzierte Darstellung fehlt an dieser Stelle sowohl der Raum als auch die notwendige Expertise des Autors. Jedenfalls macht Wohlstand die Gesellschaften plutokratisch (Franz Böhm 1966)17, und das allein macht vieles ungleich. Daher wurde im späten 19. Jahrhundert z. B. die progressive Einkommensteuer eingeführt (Preußen 1873, Reich 1906), die schon von Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der kommunistischen Partei von 1847/48 gefordert worden war. Damit sollen die Ausführungen zu Privatautonomie im Schuldrechtsbereich, oder wie man plastischer sagen könnte zur Sollensordnung der Verträge und Versprechen, genügen. Wie steht es um sie für die Sachen in der Habensordnung und für die Familien- und Erbverhältnisse in der Personenordnung? 3.3 Sachverhältnisse, Familienverhältnisse und Erbverhältnisse

Die drei Bereiche Sach-, Familien- und Erbverhältnisse lassen sich zusammenfassen, ohne die drei Stationen ALR , BGB und Gegenwart einzeln darzustellen, da sie zwar alle drei in verschiedener Weise mit dem Problem der Privatautonomie konfrontiert sind, dieses aber am Ende normativ ähnlich lösen, nämlich grundsätzlich frei, jedoch deutlich begrenzt. Beim Sachenrecht geht es um knappe Ressourcen, beim Familienrecht vor allem um Religion und Emanzipation, und beim Erbrecht wieder einmal um die Sippe und die lieben Verwandten.

17 Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 17 (1966), S. 75–151.

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Sachverhältnisse

Für die Sachverhältnisse wie Eigentum, Besitz, Nutzungsrechte, Kreditbelastungen, ist es besonders sinnlos und dysfunktional für die gemeinsame gleiche Freiheit, einfach alles freizugeben. Jedenfalls für das Bodeneigentum entsteht dann etwas wie ein kalifornischer Goldrausch, d. h. jeder versucht, möglichst viel Gold graben zu können. Am unfriedlichen Ende werden dann Claims geschaffen, d. h. rechtlich abgegrenzte Grundstücke und damit eine gewisse Friedlichkeit. Dies geschieht durch Sachenrecht. Eine Kurzformel dafür könnte lauten: vom heiligen Boden zur normalen Ware. Die Claims waren einmal wesentlich umfassender und strikter als heute. Ein Paradebeispiel ist die jahrhundertelange, teilungsfeindliche Ewig-Bindung des Bodens an die Sippe, die Großfamilie, an das Adelshaus mit Stammsitz, oder an die männlichen Angehörigen der Groß-familia. Für die Nichtadeligen bewirkte das die Figur des sog. geteilten Eigentums oder der Leiheverhältnisse.18 Dabei waren Substanzrecht und Nutzungsrecht getrennt, so dass Substanzveränderungen immer mühsam in Einig­keit von zwei Händen bewegt werden mussten. Bodenbindung bedeuteten nicht zuletzt die vielen Dienst- und Abgabenlasten für den gemeinen Mann auf bestimmten Gütern. Dies alles betraf die Masse des Landes und damit der Landwirtschaft, die ja bis etwa 1900 noch die Hälfte der Beschäftigten und die Masse der Grundeigentümer stellte. Diese Bindungen wurden erst durch die sogenannte Bodenbefreiung im 19. Jahrhundert langwierig beendet. Noch 1854 geißelte der auch ökonomisch scharf blickende Jhering dieses geteilte Eigentum mit den Worten: Der moralische Einfluss, den das Grundeigentum auf den Eigentümer ausüben kann und soll: das Gefühl der Sicherheit, Freiheit, Unabhängigkeit, die Liebe, die Anhänglichkeit an die Scholle, kann durch das einem Dritten zustehende Recht der Einmischung und des Einspruchs ganz verkümmert werden. Ein freier Mann ein freies Gut, ein unfreies Gut ein dauerndes Zerwürfnis des Besitzers mit seinem Besitztum, ein Verderb der Landwirtschaft … Der wahre Preis, um den das beschränkende Recht des Dritten erkauft wird ist ein verkümmertes, krüppelhaftes, moralisch und ökonomisch sieches Eigentum.19 Aber auch das heutige Grundstücksrecht ist alles andere als unbegrenzt frei. Man darf nicht jedes Grundstück kaufen und beliebig nutzen. Findet man ein Grundstück, folgen Grundsteuer und Grundverkehrssteuer, Erschließungs­ kosten, Feuerversicherung, Schornsteinkosten, usw. – alles Zwangskosten. Wenn man das Grundstück mit dem Grundbucheintrag sein eigen nennen darf, darf 18 Neueste Übersicht bei: Schlinker u. a., Privatrechtsgeschichte, S. 228 f., 255–251; Werner Ogris, Leihe, in: Cordes u. a., Handwörterbuch, Band 3, Berlin 22014, Sp. 813–819; Coing, Europäisches Privatrecht Band I, S. 293–299, 361–378. 19 So über römisches Eigentum als produktives Institut: Rudolph Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Teil, 1. Abteilung, Leipzig 1854, S. 233 (2., verbesserte Auflage, 1866, S. 213 f.).

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man darüber nicht vollkommen frei verfügen. Das Planungs- und Baurecht begrenzt die Nutzung; die Nachbarn haben Mitspracherechte; einen Kredit gibt es nur unter bestimmten Voraussetzungen (Hypothek oder Grundschuld), usw. Die zuletzt genannten sog. beschränkten dinglichen Rechte, die man zur Nutzung des Eigentums braucht, gibt es nur in begrenzter Zahl und Form; man spricht auch von einem numerus clausus dieser Rechte. Man ist hier nicht vollkommen frei, ob und wie man ein Pfandrecht, eine Hypothek, eine Grundschuld, einen Nießbrauch oder eine Reallast begründen und ausgestalten kann. Das Vollrecht Eigentum darf man freilich nicht mehr teilen nach Substanz und Nutzung, obgleich es dafür wirkungsähnliche Möglichkeiten gibt  – ganz abgesehen von der sozialistischen Datscha, die ausnahmsweise in vom Boden getrenntem »Privat«-Eigentum stand. Auch das verbreitete Wohnungseigentum ist begrenztes Eigentum. Wird neuerdings Wohnungsbesitz als Mieter dem Eigentum rechtlich gleichgestellt, wie es revolutionär durch die Rechtsprechung 1993 geschah mit dem Satz »das Besitzrecht des Mieters an der gemieteten Wohnung ist Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz«20, so ist an dieser Stelle wieder eine Begrenzung geschaffen, die dem alten geteilten Eigentum ähnelt – eine Form der Verriegelung. Die Privatautonomie kann andererseits auch am Gesetz vorbei Rechtsregeln in Gang bringen, zum Beispiel die ökonomisch sehr wichtige, dem BGB aber nicht gerade bekannte Sicherungsübereignung von beweglichen Sachen. Sie ist für den Vorschusskredit etwa an Firmengründer (start ups) unentbehrlich. Das stand als suspekt gar nicht erst im BGB. Es wurde aber von der Kautelarjurisprudenz und der Rechtsprechung ausgestaltet und durchgesetzt. Eine typische Konstellation mag dies exemplifizieren: Ein Firmengründer will in Maschinen investieren. Die Bank bekommt Eigentum zur Sicherung ihres Kredits, übernimmt aber nicht, wie beim Pfandrecht, die Sache selbst, denn die Maschinen braucht der Firmengründer. Er bleibt unmittelbarer Besitzer und kann benutzen und investieren, aber nicht veräußern. Die Pointe ist, dass Außenstehende nicht erkennen können, dass der Firmengründer gar nicht Eigentümer und demzufolge gar kein sehr sicherer Schuldner ist. Die Privatautonomie in Sachen Kredit wird somit zulasten der Außenstehenden gestärkt. Die Bankgläubiger sichern sich auf diese Weise für den Fall eines Konkurses mit dem Eigentumsrecht einen entscheidenden Vorteil. Die Frage lautet nun, ob dies als Verriegelung oder Entriegelung zu interpretieren ist? Der Unternehmer ist einerseits gefesselt, andererseits kann er nur so Chancen nutzen. Das Privatrecht und nicht nur dieses zieht auf diese Weise ständig wenig sichtbare Grenzlinien, die faktisch relevant sind und die Grenzen zwischen Entriegelungen und Verriegelungen immer wieder verschieben.

20 Urteil des BVerfG vom 26.05.1993, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 89, S. 1–8.

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Familienverhältnisse

Die Familienverhältnisse wurden seit etwa 1800 am massivsten umgestaltet, rechtlich wie faktisch. Die früher gängigen Einschränkungen durch religiöse, sittliche, verwandtschaftliche, geschlechtsbezogene, ständische und andere Regeln waren schon 1900 ziemlich weitgehend aufgelöst.21 Der Hauptschub fand allerdings erst nach 1949 statt. In Gang gesetzt wurde er durch das Gleich­ berechtigungsgebot im Grundgesetz Art. 3 und speziell Art. 117 für Frauen und nichteheliche Kinder.22 Gleichberechtigung wurde mehr und mehr zur gleichen Teilhabe am Eheerwerb (Zugewinnausgleich, Versorgungsausgleich). Das lief parallel zu einer gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung zu mehr individueller, persönlicher Emanzipation – neben der Familie und in ihr. Indikator dafür sind die nach 1950 stark steigende Scheidungsquote und die gegenüber anderen Lebensgemeinschaften sinkende Ehequote. Die »wilde Ehe« wurde zur »nichtehelichen Lebensgemeinschaft« und gewann etwa im Mietrecht normative Kraft (Eintrittsrecht des »Lebenspartners«, § 563 Abs. 1, seit 2015). Neu sind die eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft (Gesetz 2001) und seit 2017 die Ehe für alle, auch gleichgeschlechtlich; die nichteheliche Lebensgemeinschaft ist Produkt der Rechtsprechung, auch eine Annäherung an die Ehe – viel Entriegelung. Das alles betraf nicht die ohnehin seit 1900 schon garantierte Abschlussfreiheit in Sachen Ehe und Güterstandstyp (§§ 1363, 1414 f. BGB), sondern den gesamten Kontext von Familie. Unbegrenzt ist die Freiheit allerdings wieder nicht, zum Beispiel ist Bigamie weiterhin nicht erlaubt, und bemerkenswerterweise seit 2005 auch nicht bei Lebenspartnerschaft. § 1306 BGB wurde dafür 2005 ergänzt. Die Güterstände sind durch Typisierung begrenzt (Zugewinngemeinschaft, Gütergemeinschaft, Gütertrennung).23 Im Eherecht zeigen sich die realen Chancen, Risiken und Ambivalenzen der modernen Freisetzung und Autonomie besonders plastisch und bisweilen drastisch. Man kann sich leicht trennen, aber das kann sehr teuer werden. Bei einer Trennung werden nämlich erhebliche Ansprüche fällig: ein Anspruch auf Ausgleich des sog. Zugewinns in der Ehe, d. h. im Wesentlichen auf eine Halbteilung des Erworbenen, dazu oft beträchtliche Unterhaltsansprüche und vor allem auch ein Ausgleich der erworbenen Versorgungsansprüche (§§ 1378, 1569, 1587 BGB), 21 Einen guten Überblick gibt: Dieter Schwab, Wertewandel und Familienrecht, Hannover 1993. 22 Neuester Überblick bei: Anja Amend-Traut, Nichteheliche Kinder, in: Mathias Schmoeckel u. a. (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB , Bd. 4: Familienrecht, Tübingen 2018, S. 1113–1185 (zu §§ 1615a-n). 23 Den bisher fehlenden Überblick zu der komplexen Materie geben Matthias Maetschke, Eheliches Güterrecht (I) – Einführung: Regelungsgegenstand, -probleme und Lösungswege, in: Mathias Schmoeckel u. a. (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB , Bd. 4: Familienrecht, Tübingen 2018, S. 580–592, und Stephan Dusil, Eheliches Güterrecht (IV)  – Konkretisierungen, Systemverschiebungen und Europäisierung. Zur Entwicklung des Ehegüterrechts seit 1900, in: ebd., S. 791–825.

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alles beim Hauptfall des gesetzlichen Güterstandes, der im Zweifel gilt (§ 1363 Abs.1 »wenn nichts anderes vereinbart«). Nicht zuletzt davon profitieren neue Formen des Zusammenlebens. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft wurde in der Rechtsprechung teilweise anerkannt (punktuell gesetzlich auch für den Eintritt in Mietverträge, § 563 Abs.1), wie erwähnt, obwohl sie überkommenen Ehe- und Familienvorstellungen nicht entspricht. Freilich wurde sie bisher nicht eigens in die Kodifikation des bürgerlichen Rechts aufgenommen. Es entstehen somit auf anderen Wegen mehr Freiheitsräume, doch freilich wieder mit neuen Begrenzungen wie beispielsweise im Sozialrecht. Im schwierigen Punkt der Scheidung, beide Parteien wollen möglichst frei entscheiden und lastenfrei sein, war das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 sogar gewissermaßen moderner. Es sah die Ehe als Vertrag und kannte die reine Konsensscheidung bei Kinderlosigkeit (ALR II 1 § 716). Aber der Grund war überindividuell und ist uns suspekt, zumal er nach 1933 in der Diktatur wiederkehrte. Es war der staatliche Wunsch nach »Peuplierung«, d. h. nach Bevölkerungszuwachs, der zur Freigabe führte. Die im Alltag mächtigen Pastoren unterliefen diese Regelung freilich, indem sie als Vollzugs- und Beurkundungsorgane24 einfach die nötigen Bescheinigungen verweigerten, so ein brieflicher Hinweis Achims von Arnim an seinen Schwager Friedrich Carl von Savigny ca. 1815. In den 1840er Jahren versuchte die neue preußische Ehegesetzgebung die freie Trennung durch bloßen Konsens wieder abzuschaffen, doch blieb die Frage streitig und unerledigt bis 1900 zum wieder strengeren BGB.25 Die Bilanz zum Familienrecht sieht somit sehr nach weitgehender Entriegelung aus. Die Grenzen ergeben sich hier weniger aus einer Verriegelung als Eingrenzung zugestandener Freiheitsrechte, sondern aus der nötigen Abstimmung der gemeinsamen Freiheiten untereinander. Erbverhältnisse

Die Kurzformel könnte hier lauten: von der Sippenversorgung zur beliebigen Begünstigung. Einprägsamer und etwas drastisch könnte man auch sagen: vom Erbrecht als Brutpflege zum Erbrecht der Lieblinge. Die Sippenversorgung des ganzen Hauses war das Fundament der statischen alteuropäischen Adels- und Bauernherrschaft. Ihre Rechtsinstrumente waren das Verbot der Erbteilung durch Fideikommisse und Stammgüterbildung bzw. durch Erbhofbildung und 24 Dazu übersichtlich und präzise: Stephan Buchholz, Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 3 Teilbd. 2, Frankfurt am Main 1982, S. ­1627–1661, zu Preußen S. 1629–1638, hier S. 1635. 25 Siehe jetzt: Hannes Ludyga, Ehescheidungsgründe, in: Mathias Schmoeckel u. a. (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB , Bd. 4: Familienrecht, Tübingen 2018, S. ­841–892, zu Preußen S. 869–874, zum BGB 1900 S. 868 f.

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Anerbenrecht. Beides wurde in zähen Kämpfen, besonders seit 1849 (Pauls­ kirchenverfassung, § 179) abgeschafft bzw. stark abgeschwächt. Die Tendenz der Vermögenserhaltung wurde jedoch nicht wirklich gebrochen. Heutzutage bedient sie sich vor allem des Stiftungsrechts. Das freiere, seit 1900 und bis heute geltende Erbrecht entstand aus den Interessen der Kirche und der Städte. Als faktische oder echte juristische Personen brauchten sie kein Stammgut und keinen Erbhof, um die Todeszäsuren zu überbrücken. Die Stammgüter wurden 1900 ins Einführungsgesetz zum BGB abgedrängt, aber in Grenzen erhalten (Art. 59, auch Art. 216 Rittergüter) und erst 1939 (und bestätigt vom Alliierten Kontrollrat 1946) abgeschafft. Erbhöfe und Anerbenrecht wurden lediglich in einigen Bundesländern (z. B. Niedersachsen) fakultativ erhalten. In summa kann man sagen, dass die im BGB 1900 durchgesetzte Kombination von Testierfreiheit (§ 2064), gesetzlichem Erbrecht (§§ 1924 ff.) und Pflichtteilsanspruch (§ 2303) bis heute gilt. Sie zeigt wiederum eine sehr konkrete Mischung von Freiheit und Begrenzung. Im gesetzlichen Erbrecht haben die Ehefrauen (§§ 1371, seit 1957) und die nichtehelichen Kinder (seit 1998 u. 2009) erheblich hinzugewonnen. Der Erblasser ist einerseits grundsätzlich rechtlich frei, andererseits kann er aber seine Abkömmlinge nicht leicht ganz erblos stellen. Der sog. Pflichtteil kann nur bei massiven Problemen wie körperlichen Angriffen oder stark ehrlosem und unsittlichem Lebenswandel testamentarisch entzogen werden (§ 2333). Die reale Geschichte des Erbens und Vererbens wäre neben dieser recht­ lichen Regelung ein weites eigenes Feld, das hier nicht wirklich betreten werden kann. Eine entscheidende Freiheitsbegrenzung hat in jedem Fall die seit dem späten 19. Jahrhundert stetig angehobene Erbschaftssteuer bewirkt. In ihr liegt vermutlich der stärkste »reale« Veränderungseffekt.26 Die immer wieder aufflammenden Versuche, dieses Privaterbrecht grundsätzlich abzuschaffen oder einzuschränken, sei es direkt oder über eine konfiskatorische Steuer, wurden zum BGB gründlich diskutiert.27 Sie hatten nur kurz in der jungen Sowjetunion Erfolg (Abschaffung des Erbrechts 1918–1924).

26 Dazu besonders: Jens Beckert, Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts, Frankfurt am Main 2004; rechtshistorisch nach wie vor besonders der Überblick von: Gustav Böhmer, in: Julius von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, hier Bd. 5.1, Erbrecht Einleitung, 11. Aufl. 1954, § 7 (so seit der 10. Aufl. 1937, § 6, mit Verweis auf Georg Schnack, Studien zur Geschichte und Theorie der Erbschaftssteuer, in: FinanzArchiv 17 (1900), S. 1–62), auf den alle späteren Ausgaben zurückgreifen; dieser Teil zum Steuerrecht ist ab der völligen Neubearbeitung mit neuen Autoren in der 12. Auflage (1989) entfallen. 27 So informativ wie grundlegend bleibt Rainer Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts. Die Begründung einer Entscheidung des BGB -Gesetzgebers im Kontext sozialer, ökonomischer und philosophischer Zeitströmungen, Ebelsbach 1981.

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4. Ergebnisse 1. Die Privatautonomie war immer begrenzt und nie unbegrenzt, sowohl rechtlich wie faktisch. Entriegelung und Verriegelung begegnen im Wandel und zugleich. 2. Es kommt daher gewissermaßen auf das Mischungsverhältnis zwischen Grundsatz und Grenzen an. Wie weit standen die Türen offen? 3. Normativ ist die Privatautonomie auf der Ebene der geschriebenen Rechtssätze recht einfach einzufangen, da schon die Grundsatznormen selbst mit ihren unscheinbar gehaltenen Soweit-Einschränkungen die Lage anschaulich machen. Damit stellen sie die rechtlich nötige Hierarchie zwischen Regel und Ausnahme her. Die Rechtsprechung und Kautelarjurisprudenz durchbrechen dieses Prinzip bereichsweise, aber nicht grundsätzlich. 4. Dass die Grundsätze damit auch schon Wirklichkeit wären, wäre eine naive Vorstellung, die Juristen, aktuell wie historisch, schon aus Erfahrung nicht teilen, die aber gleichwohl nicht selten rechtskritisch vorgebracht wird. Es gehört gerade zum juristischen Geschäft, das Law in Action zu kennen und zu können. 5. Wie sich dann jeweils realiter, d. h. ökonomisch, sozial und gesellschaftlich die Freiheitsnormen mit ihren Chancen und Risiken auswirken, ist und bleibt eine Forschungsaufgabe von Sozialwissenschaften und Geschichtswissenschaft. Für brauchbare Antworten muss vor allem ziemlich genau differenziert werden. Die für einige Bereiche verbreitete Deutung der Privatautonomie als bloßes Ausbeutungsinstrument scheint jedenfalls ebenso schlicht naiv und eigentlich nichtssagend wie die als bloße Freiheitsapotheose. 6. Um die Grenzen der Privatautonomie zu verdeutlichen, wurden vor allem die schon privatrechtlich sichtbaren Grenzen aufgezeigt. Natürlich kommen die interventionistischen Einschränkungen des öffentlichen Rechts hinzu. Sie sind nicht erst ein Kind des späten 19. Jahrhunderts, wie gerne angenommen wird. Der Interventionsstaat wird dort nur etwas sichtbarer, besonders in der neuen Leistungsverwaltung. Diese Begrenzungen ändern allerdings nichts an der ent­scheidenden Frage der Mischungsverhältnisse zwischen Freiheit und ihren Grenzen, zwischen Entriegelung und Verriegelung. Das sieht man schon auf der normativen Ebene beim Blick in die Grundrechte, besonders bei der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 mit ihrer nicht gerade kleinen Schrankentrias (Rechte anderer, verfassungsmäßige Ordnung, Sittengesetz). Dass hier in der Wirklichkeit ein schwer zu bestimmendes Mischungsverhältnis herrscht, ist offensichtlich; es auszuloten, ist eine der großen Aufgaben der Geschichtswissenschaft. 7. In gewisser Weise haben die vorangegangenen Ausführungen einen Punkt ausgelassen, nämlich die Frage, woher die Grenzen eigentlich kommen oder genommen werden. Das wäre eine eigene weiterführende Untersuchung, die aber an anderer Stelle bereits weitgehend durchgeführt worden ist.28 28 Siehe die Pionierarbeiten von: Sibylle Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheore­ tische Diskussionen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2001; Tilman Repgen, Die soziale Auf-

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8. Scharfe Zäsuren kann ich für diese Rechtsgeschichte der Freiheiten und ihrer Grenzen seit um 1800 nicht erkennen. Es handelt sich vielmehr stets um Mischungen mit unterschiedlichen Akzenten. Hierin liegt gewissermaßen eine Kontinuität des Problems und der Lösungen im liberal-sozialen Zeitalter seit der Sattelzeit um 1800. 9. Aus dieser Kontinuität fallen ersichtlich die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts heraus. Sie vollzogen einen Systemwechsel in Sachen Freiheit und begründen daher doch eigene Epoche. Im Nationalsozialismus wie auch in der DDR galt kein Freiheitsgrundsatz, wie gemischt auch immer, sondern ein Politikvorbehalt gemäß der herrschenden Ideologie. Dieses Prinzip wurde auch rechtlich zum Ausdruck gebracht (Entwurf eines Volksgesetzbuchs 1942; Verfassung der DDR von 1974). 10. Kapitalismus blüht offenbar am besten mit diesem privatrechtlichen Entfaltungssockel. Er lässt aber nicht im Freiflug fliegen, sondern reguliert seine Dynamik höchst vielfältig und differenziert. Er hat hier also nicht ein Recht, und schon gar nicht ein bloß formales, sondern viele Rechte. Das ist vielleicht sein juristisches Geheimnis und begründet die Schwierigkeit, ihn historisch zu vermessen.

gabe des Privatrechts. Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2001; zusammenfassend Joachim Rückert, Das Bürgerliche Gesetzbuch – ein Gesetzbuch ohne Chance?, in: Juristen-Zeitung 58 (2003) Heft 15/16, S. 749–760; jetzt auch in ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2, S. 187*– 213*.

Anselm Doering-Manteuffel

Konjunkturen von Liberalismus im 20. Jahrhundert Das deutsche Beispiel

1. Einleitung Der Liberalismus ist wieder in die Diskussion geraten. Den Anlass bildete der Durchbruch des rechten Populismus in den Vereinigten Staaten und Groß­ britannien 2016. Nicht ohne Grund geht es in der aktuellen Debatte um eine »Krise des Liberalismus«, ebenso um die Frage nach einem »anderen Liberalismus«. Auf die Überlegungen über ein »Ende der Geschichte«, die Francis ­Fukuyama nach dem Zerfall des kommunistischen Blocks und dem vermeintlichen Sieg des liberalen Westens 1992 vortrug, folgt jetzt die Frage nach dem »anderen Ende der Geschichte« – die Frage nach den Bedingungen und Auswirkungen einer dreißigjährigen Entwicklung von illiberalen Handlungsprinzipien im Zeichen liberaler Ideologie.1 Wenn es heißt, dass der Liberalismus weltweit unter Druck stehe oder Wladimir Putin mit der Bemerkung zitiert wird, dass sich die »liberale Idee überholt« habe,2 meinen wir zu wissen, was mit »Liberalismus« gemeint ist: die globale Ökonomie des entfesselten Marktes. Aber dieses rein gegenwartsbezogene Verständnis trägt nicht, sobald man beginnt, historisch zu argumentieren. Der Begriff »Liberalismus« entzieht sich einer Definition, wenn man ihn nicht ausschließlich auf die Grundannahmen des 19. Jahrhunderts reduzieren will, auf die Freiheit des Einzelnen, auf das selbstbestimmte Handeln zum Nutzen des Fortschritts, auf die Freiheit des Marktes. Diese Begriffsbestimmung bleibt solange abstrakt, wie sie nicht zu den Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft und 1 Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, Kap. 5: »Die Krise des Liberalismus«; Jan-Werner Müller, Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus, Berlin 2019; Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992; Philipp Ther, Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation, Berlin 2019. Nach dem »Ende« wird in den amerikanischen Sozialwissenschaften nicht zum ersten Mal gefragt, weil damit die Frage nach der Geltung der eigenen politisch-ideologischen Überlegenheit verbunden ist. Im Jahr 1960, in Reaktion auf Chruschtschows Absage an den Stalinismus und auf den Durchbruch des liberal consensus in den Ländern des amerikanisch dominierten Westens, tat das Daniel Bell, The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, New York 1960. 2 Müller, Furcht und Freiheit, S. 9; der Autor widmet sich daher einer umsichtigen Herleitung des Verständnisses von Liberalismus, besonders S. 22–40; vgl. ders., Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013.

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eines Staats in einer historischen Zeit in Beziehung gesetzt wird. Erst der Blick auf den Zusammenhang von Gesellschaft und Staat in einer bestimmten Epoche der Geschichte eröffnet die Möglichkeit zur näheren Bezeichnung dessen, was »Liberalismus« ist. Beginnend im 19. Jahrhundert, waren Liberalismus und Staat aufeinander bezogen, alsbald war es der Nationalstaat, der den Rahmen für liberales Handeln in der Gesellschaft und der Politik umschrieb, und noch vor dem Ende des 19. Jahrhunderts wiesen Liberalismus und Nationalismus eine ideologische Verbindung auf, die den universalistischen Anspruch der Entstehungszeit in Nordamerika 1776 und Frankreich 1789 überformte. Mit dem Verständnis von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und den liberalen Kernideen der persönlichen Freiheit in Gesellschaft und Wirtschaft als Triebkraft des Fortschritts sind Grundüberzeugungen benannt, die in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten auch verschiedene Ausformungen erhielten und deshalb nicht leichthändig verallgemeinert oder gar in globalem Maßstab angewendet werden können.3 Die liberale Idee und der nationale Staat bilden einen für die historische Analyse maßgeblichen Zusammenhang, dessen transnationale Dimension im Einzelfall zu bestimmen ist. Deshalb konzentriere ich mich auf das deutsche Beispiel vom späten 19. bis ins frühe 21. Jahrhundert in den nationalen und transnationalen Bezügen.

2. Liberalismus und Bürgertum an der Jahrhundertwende (1880–1914/18) Im Deutschen Reich war dem politischen Liberalismus 1878 die Chance genommen worden, eine gestaltende Kraft im Parteienspektrum zu werden. Bismarcks konservative Wende galt nicht nur der Einführung von Schutzzöllen zum Nutzen der Landwirtschaft, sondern sie richtete sich auch gegen das Bestreben der Liberalen, die Parlamentarisierung der Reichsverfassung durchzusetzen und die Kontrolle der Reichsregierung durch die Reichstagsparteien zu gewährleisten. Der Bismarckstaat blieb eine konstitutionelle Monarchie mit einer krypto­ absolutistischen Verfassung, die die Herrschaft des Reichskanzlers den Einflüssen der Parlamentsparteien weitgehend entzog. Das machte bis zum Ersten Weltkrieg den Unterschied zu Großbritannien aus, das unter Premierminister William Gladstone zum Vorbild eines liberalen Staats geworden war. In Großbritannien gehörten Liberalismus und Nationalstaat zusammen, in Deutschland nicht. Hier entfaltete sich zwar das Postulat der Selbstbestimmung in den Wissenschaften und der Forschung, wo die liberale Kernidee vom Fortschritt und von der Freiheit des selbstbestimmten Individuums handlungsleitend wurde für die staatliche und industrielle Förderung der Wissenschaften und die ungehinderte Freisetzung von Forschungsenergien. Die politische Kultur hingegen 3 Vgl. Lutz Raphael, Schlusskommentar, in: Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 333–339.

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blieb vom Untertanengeist geprägt, eine parlamentarische Kultur konnte nicht entstehen. Das belastete die Geschichte des Deutschen Reichs über den Zusammenbruch des monarchischen Staats hinaus, wie Max Weber 1918 hellsichtig bemerkte.4 Die Entmachtung der liberalen Parteien im Staat und die wachsende Bedeutung des Liberalismus für den Fortschritt in den Wissenschaften, der Deutschlands Weltgeltung erst möglich machte, führten dazu, dass der politische Liberalismus verstärkt den Nationalismus in sich aufnahm. Der deutsche Nationalliberalismus büßte in der wilhelminischen Epoche seine Rückbindung an liberale Grundsätze fast vollständig ein und entwickelte sich bis 1914 zu einer Partei im Spektrum des nationalistischen Bürgertums. Parallel zu diesem Prozess wandten sich allerdings bürgerliche Gruppierungen, namentlich der Verein für Socialpolitik, seit den 1880er Jahren einem Gedankengut zu, das angesichts der Hochindustrialisierung eine Abkehr vom Primat des Marktes konzipierte und die soziale Abfederung der kapitalistischen Marktwirtschaft befürwortete. Im vorpolitischen Raum entstand ein Sozialer Liberalismus, der im britischen New Liberalism seine Entsprechung hatte: die industrielle Welt verlangte nach zeitgemäßen Antworten.5 In Deutschland war das Augenmerk darauf gerichtet, die Sozialordnung der entstehenden Industriegesellschaft gerecht und human auszugestalten, obwohl die Zielvorstellung nur begrenzt in praktische Politik übertragen werden konnte. Zugleich aber galt das Engagement bürgerlicher Interessengruppen und Vereine für die Besserstellung der Arbeiter und ihrer Familien dem klassengesellschaftlich wichtigen Ziel, als Bürger die Initiative für soziales Handeln und Sozialfürsorge in der Hand zu behalten. Darin äußerte sich der entschiedene Wille zur Bekräftigung der Trennlinie zwischen den Klassen: wer sich für die soziale Besserstellung und erhöhte Bildungschancen der Arbeiter einsetzte, bestätigte damit den eigenen höheren Stand in der Gesellschaft.6 Insgesamt also war der Liberalismus im Deutschen Reich staatsfern, aber national, er war regierungstreu, aber politisch machtlos, er war fortschrittsorientiert in den Wissenschaften und sozial engagiert in der Gesellschaft, und er war individualistisch. Das Prinzip der Selbstbestimmung des Einzelnen, seiner Eigenständigkeit, markierte die Grenze zum Sozialismus. Sozialer Liberalismus

4 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 51988, S. 306–443, hier S. 313, 319. 5 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988; Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978; Detlef Lehnert (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wien 2012. 6 Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart 1988, S. 15–45; Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und Deutschland 1880–1940, Göttingen 2009.

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und demokratischer Sozialismus bildeten Gegensätze und blieben durch die Klassenlinie voneinander geschieden. Im Ersten Weltkrieg wurde die klassengesellschaftliche Differenzierung durch die allgemeine Verarmung relativiert, und es zerfiel das individualistische Selbstverständnis der liberalen Ordnung im Bürgertum. Der Fortschritt büßte die humane Zielsetzung ein und erwies sich als Vorbedingung des industrialisierten Kriegs. Eine militaristische Koalition aus Armeeführung und industriellem Unternehmertum bildete sich heraus, und dagegen entstand eine zivile Koalition parlamentarischer Kräfte, in der die Klassenlinie nicht mehr maßgeblich war und die liberale Orientierung nicht länger mit den alten bürgerlichen Ordnungsvorstellungen, sondern neuerdings vor allem mit dem Prinzip des Parlamentarismus und der repräsentativen Demokratie verbunden war. Die Koalition aus Sozialdemokratie, linksliberalem Bürgertum und bürgerlichem Katholizismus war am Prinzip der Gleichheit aller Staatsbürger in der nationalen Gemeinschaft der Deutschen orientiert, das liberale Element in der Ordnungsidee einer repräsentativen Demokratie kam darin nur unauffällig zur Geltung.

3. Liberalismus als Tabu und der Untergang des Individualismus in der Zwischenkriegszeit Die Demokratiegründung der Weimarer Republik erfolgte aus dem Impuls dieser seit 1917 erprobten Koalition. Die Verfassung der Weimarer Republik gewährleistete das Recht auf freie Selbstbestimmung eines jeden Staatsbürgers und verankerte den liberalen Grundsatz der Freiheit des Individuums als Grundrecht. In der vom Krieg atomisierten Gesellschaft spielte die Vorstellung vom Primat des Individuums allerdings keine hervorstechende Rolle mehr. Stattdessen entwickelte sich das Postulat der demokratischen Gemeinschaft auf der Grundlage staatsbürgerlicher Gleichheit zum Ordnungsmodell des neuen Staats. Das Individuum wurde in die »Gesellschaft der Gleichen« inkorporiert, ohne dass damit der individualistische Anspruch des Einzelnen bestritten wurde.7 Nach 1919 verkörperten Demokratie und Verfassungsstaat die liberale Ordnung in Deutschland. Dem Grundsatz nach wurde damit Bismarcks Entscheidung gegen den Liberalismus und die parlamentarische Verfassung von 1878 revidiert und die deutsche Entwicklung in die Spur des europäischen liberalen Parlamentarismus von 1848 zurückgelenkt. Aber die Gesellschaft nahm diese Ordnung nicht an. Zu tief wurzelten die Prägungen aus dem Kaiserreich, zu stark wirkte der propagandistisch aufgestachelte Gegensatz zwischen »Deutscher Freiheit« auf der einen Seite und den demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen der Siegermächte auf der anderen. Im Nationalstaat der Deutschen konnte sich der Liberalismus weiterhin nicht ausbreiten, und die Einflüsse des »Wilsonian moment«, die auf Demokratie und 7 Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013.

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Freiheit mit dem Ziel der Sicherung des Friedens gerichtet waren, entfalteten nur außenpolitisch für begrenzte Zeit einige Wirkung. Die Koalition der demokratischen Parteien blieb ohne Mehrheit und ohne Rückhalt in der Gesellschaft.8 Die ehemalige Trägerschicht des Liberalismus, das Bürgertum in seinen nicht zum Konservativismus gravitierenden Teilen, war durch den Krieg aus seinen Verankerungen in der materiellen und sozialkulturellen Sekurität herausgehebelt worden. Die Bindung der Mehrheit an den Nationalliberalismus, der seit 1880 dem Nationalismus den Vorrang vor den liberalen Werten der Freiheit und individuellen Selbstbestimmung eingeräumt hatte, blieb nach 1919 zunächst noch erhalten, bevor die Wendung zum Radikalnationalismus der Deutschnationalen ein Mehrheitstrend wurde. Liberalismus wurde zum Tabu, das Wort »liberal« war schon 1918/19 aus den Namen der liberalen Parteien verschwunden. Sie näherten sich entweder dem nationalen Gemeinschaftsgedanken an wie die Deutsche Volkspartei (DVP), oder sie vertraten die Grundsätze freiheitlicher Verfassung wie die Deutsche Demokratische Partei (DDP). Je mehr die repräsentative Demokratie im späteren Verlauf der 1920er Jahre an gesellschaftlichem Rückhalt verlor und es möglich wurde, über die »Diktatur in den Grenzen der Demokratie« zu sprechen, desto mehr ging im Zeitklima eines anwachsenden Autoritarismus auch das individualistische Selbstver­ ständnis zurück. In der Vorstellung von Gemeinschaft, die seit Kriegsende die »Gesellschaft der Gleichen« prägte, nahm die Geltung des Individualismus ab, der ideelle Wert der Einzelperson verlor an Bedeutung. Um 1930 war der »Untergang des liberalen Individuums« manifest.9 Das hing mit dem Zerfall der Mitte im politischen System der repräsentativen Demokratie seit 1926/28 zusammen, den die Reichstagswahl vom Mai 1928 hatte deutlich werden lassen, und es hing mit dem Verlust des Sekuritätsgefühls im Bürgertum infolge von Krieg und Inflation zusammen, der im bürgerlichen Mittelstand besonders bitter empfunden wurde. Das Auseinanderdriften des großbürgerlichen Unternehmertums und der bildungsbürgerlichen Schicht förderte die Erosion der politischen Mitte und stimulierte den Wunsch nach einer straffen, von einem Führer geleiteten autoritären Staatsform. Das war vorerst noch unabhängig vom Nationalsozialismus und der Person des Parteiführers, aber die Abkehr von der repräsentativen Demokratie als Ordnungsform des freiheitlichen Gemeinwesens mit liberaler Verfassung war eingeleitet. Am Beginn der Weltwirtschaftskrise war die Sozialdemokratie die einzig verbliebene Repräsentantin des liberalen Postulats der Selbstbestimmung in 8 Adolf von Harnack / Friedrich Meinecke / Max Sering / Ernst Troeltsch Otto Hintze, Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, Gotha 1917; Adam Tooze, The Deluge. The Great War, America and the Remaking of the Global Order 1916–1931, New York 2014. 9 Alexander Rüstow, Diktatur in den Grenzen der Demokratie, zit. nach Waldemar Besson, Zur Frage der Staatsführung in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 87–102; Marcus Llanque, Der Untergang des liberalen Individuums. Zum fin de siècle des liberalen Denkens in Weimar, in: Karsten Fischer (Hg.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitenwende, Frankfurt am Main 1999, S. 164–183.

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der Demokratie. Dies bildete die ereignisgeschichtliche Grundbedingung dafür, dass seit 1930/32 in Deutschland eine Sozial-Demokratisierung der liberalen Ordnungsidee der 1920er Jahre – des Zusammenhangs von demokratischer Gemeinschaft und Gleichheit der Einzelpersonen im Verfassungsstaat – erfolgte und dass sich diese Ordnungsidee in der Untergangsphase der Weimarer Republik verfestigte und gleichsam eingekapselt wurde. Die nationalsozialistische Diktatur verfolgte eine rassistische Sozialpolitik, in der alle liberalen Elemente beseitigt waren, wie überhaupt der Anspruch des Regimes darin bestand, »das Zeitalter des Liberalismus« abzulösen: »Wir wollen die Weltanschauung des Liberalismus und die Anbetung der Einzelperson beseitigen«, äußerte Joseph Goebbels am 1. April 1933, [wir wollen] »die Umstellung vom Individualismus auf den Gemeinschaftsgedanken«.10 Als dieser Anspruch in der Apokalypse des Zweiten Weltkriegs gescheitert war, löste sich die Tradition der bürgerlichen Sozialpolitik und der kirchlich-konfessionellen Sozialfürsorge aus dem Kaiserreich, verbunden mit der Ordnungsidee von freiheitlicher Gemeinschaft und individueller Gleichheit, aus der Verkapselung.

4. Ordoliberalismus und New Deal-Liberalismus in der Nachkriegszeit (1948 bis 1975) In den Westzonen und der Bundesrepublik traten zuerst Bestandteile des bürgerlichen Ordnungsdenkens der 1920er Jahre und der wilhelminischen Tradition wieder in Erscheinung. Der Ordoliberalismus der »Freiburger Kreise« erlangte in Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft 1948 kanonische Geltung, wobei diese Wirtschaftsform auch »altverwurzelte Bestände« des Korporativismus aus der deutschen Tradition in sich schloss. Gleichwohl, mit dem Ordoliberalismus wurde die Freiheit als Grundsatz für die gesellschaftliche und politische Ordnung der Nachkriegszeit etabliert, Freiheit insbesondere für die Wirtschaft, für den Markt. Lange Zeit wurde übersehen, dass der deutsche Liberalismus der Freiburger Schule von Anbeginn unter den Einfluss des amerikanischen New Deal-Liberalismus geriet. Die Soziale Marktwirtschaft und der Aufbau des freiheitlichen Gemeinwesens galten als Verdienst der deutschen Politik, die von christdemokratischen und sozialdemokratischen Personen gestaltet wurden, die in der Weimarer Republik die Zerstörung der parlamentarisch-demokratischen Ordnung und das Scheitern der Sozialpolitik miterlebt hatten. Doch bereits vor der Gründung der Bizone und den Verfassungsberatungen des Parlamentarischen Rats hatten die Vereinigten Staaten die Voraussetzungen geschaffen, um den Wiederaufbau im amerikanischen Interesse zu steuern. 1947 ebnete der Marshall-Plan den Weg zur Rekonstruktion der zerstörten Infrastruktur in 10 Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1998, S. 160; Joseph Goebbels, Revolution der Deutschen, in: Hein Schlecht (Hg.), Goebbelsreden, mit einleitenden Zeitbildern, Oldenburg 1933, S. 154–161, hier S. 155.

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allen westeuropäischen Ländern, die am Krieg teilgenommen hatten; die ehemaligen Kriegsgegner waren gezwungen, gemeinsam über die Verteilung der Wiederaufbauhilfe zu beraten, damit die Feindschaft der Kriegszeit im Frieden überwunden werden konnte. Das war die Lehre, die aus den Erfahrungen mit dem Friedensvertrag von Versailles gezogen wurde. Die amerikanische Politik verfolgte aber ein weitergehendes Ziel, indem sie wirtschaftlichen Wiederaufbau und politisch-gesellschaftliche Reorganisation nach der NS -Herrschaft zusammenband und beide Ziele in einem Konzept liberaler Hegemonie zur Geltung brachte.11 Der atlantische Liberalismus der 1950er Jahre wies gewisse Rückbindungen an den amerikanischen Linksliberalismus des New Deal auf, aber er war seit 1947/48 angesichts des beginnenden Kalten Krieges deutlich nach rechts verschoben worden. Das war kein Linksliberalismus, sondern ein tendenziell konservativer Sozial-Liberalismus, und als solcher passte er in die westeuropäische Realität der 1950er Jahre hinein. Sei es in Großbritannien, wo auf der Grundlage des Beveridge Report der Wohlfahrtsstaat von einer Labour-Regierung ausgebaut wurde, bevor in den 1950er Jahren die Konservativen wieder an die Regierung kamen und die Tradition des New Liberalism als sozial-liberales Projekt der Gesellschaftspolitik aufgriffen und in die Gegenwart übertrugen. Sei es in Frankreich oder Italien, wo die Einflüsse christdemokratischer Parteien eine demokratische Politik des Sozialen ermöglichten. Sei es in Westdeutschland, wo »Weimar« im Guten wie im Schlechten als Modell diente – überall war eine soziale Ausrichtung der Politik vonnöten, die aber wegen des Ost-WestKonflikts nicht sozialistisch sein durfte, sondern demokratisch-sozial.12 Der amerikanische New Deal-Liberalismus und der deutsche Ordoliberalismus ergänzten sich in der Bundesrepublik unauffällig und effizient. Die Frontstellung gegen den Ostblock und die damit verbundene strikt antisozialistische Ausrichtung jeglicher Wirtschafts- und Sozialpolitik erlaubte es überdies, dass die zeitgemäße sozial-liberale Grundlinie von konservativen Regierungen verfolgt werden konnte, und die politische Hegemonie der Vereinigten Staaten im westlichen Bündnis schuf die Voraussetzungen dafür, dass sich die Entwicklung in der Bundesrepublik relativ parallel zu der in den anderen westeuropäischen Ländern vollzog. Von der Organisation über Europäische Wirtschaftliche Zu11 Hans Maier (Hg.), Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und Soziale Marktwirtschaft, Paderborn 2014; Dietmar Petzina (Hg.), Ordnungspolitische Weichenstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 1991; Hans Günter Hockerts, Konrad Adenauer – ein »Rheinischer Kapitalist«?, in: ders. / Günther Schulz (Hg.), Der »Rheinische Kapitalismus« in der Ära Adenauer, Paderborn 2016, S. 187–202, hier S. 189; Charles Maier (Hg.), The Marshall Plan and Germany. West German Development within the Frame­work of the European Recovery Program, New York 1991; Steve Fraser / Gary Gerstle (Hg.), The Rise and Fall oft he New Deal Order 1930–1980, Princeton 1989, S. 1–181. 12 John Gillingham, European Integration 1950–2003. Superstate or New Market Economy?, Cambridge 2003.

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sammenarbeit (OEEC) 1948 über die Montanunion (1950) und die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 bis zur Europäischen Gemeinschaft (1967) verlief eine Linie der politisch-ökonomischen Homogenisierung nach liberalen Grundsätzen. Parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft bildeten die Pfeiler, und die Ausgestaltung von beidem erfolgte unter der Anführerschaft konservativer Regierungen in einem spezifisch liberalen, sozial-liberalen, Verständnis. In der Bundesrepublik wurde das Ordnungsmodell von nationalpolitischer »Gemeinschaft« und staatsbürgerlicher »Gleichheit« der 1920er Jahre im Wiederaufbau der 1950er Jahre aktualisiert, mit dem demokratischen Verfassungsstaat verkoppelt und im Schulterschluss von bürgerlichen Regierungsparteien und sozialdemokratischen Gewerkschaftsführern stabilisiert.13 Die Zusammenarbeit von bürgerlichen und gewerkschaftlichen, christdemo­ kratisch-konservativen und sozialdemokratischen Kräften brauchte nicht von außen angestoßen zu werden, weil sie sich vor dem Hintergrund des Anti­ totalitarismus von selbst verstand. Die maßgeblichen Parteipolitiker und Gewerkschaftsführer der Wiederaufbauzeit waren Gegner des Nationalsozialismus, einige waren verfolgt worden oder hatten in die Emigration gehen müssen. Sie alle waren Antibolschewisten und Gegner der sowjetischen Politik im Ostblock und zumal in der DDR . Die zeitgenössische Auffassung, dass Nationalsozialismus und Bolschewismus zwei Spielarten eines Phänomens bildeten, welches die liberale Demokratie mit Todfeindschaft bedrohte, erleichterte in den 1950er und frühen 1960er Jahren häufig das lagerübergreifende gegenseitige Einvernehmen in Fragen der sozialen Sicherung und betrieblichen Mitbestimmung. Der Anti­totalitarismus schuf die Bereitschaft zum Konsens bei politischen Entscheidungen, die darauf angelegt waren, das westdeutsche Gemeinwesen gegen ideologische Einflüsse aus der DDR abzuschotten: der westdeutsche Sozialstaat sollte und musste dem ostdeutschen Sozialismus überlegen sein. Allein aus diesem Grund war die gesellschaftspolitische Stabilisierung der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« der Bundesrepublik von Anfang an ein sozialliberales Projekt. Hinzu kam der atlantische Einfluss des politischen und wirtschaftlichen »Konsenses«, der aus dem New Deal hervorgegangen und seit den 1950er Jahren mit dem Keynesianismus verbunden war. Dieser Konsens blieb bis in die 1970er Jahre eine Ordnungsvorstellung sowohl des Staats als auch der Gesellschaft, consensus liberalism und consensus capitalism gehörten zusammen. Der Begriff »Keynesianismus« allerdings bezeichnet weniger das theoretische Konzept von John Maynard Keynes, das auf die Steuerung der Wirtschaft durch Steuerung der Nachfrage gerichtet war, sondern beschreibt im zeithistorischen Sprachgebrauch die atlantische Spielart der deutschen Sozialen Marktwirtschaft: den »sozialen Konsens«. Dieser atlantisch-deutsche Hybrid wurde zum 13 Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018; Julia ­A ngster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB , München 2003.

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politökonomischen und gesellschaftlichen Bestimmungsmerkmal der westdeutschen Wiederaufbaujahrzehnte. Die Voraussetzung für das Funktionieren des konsenskapitalistischen Prinzips bestand darin, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in das Gehäuse des nationalen Staats eingebunden waren.14 Erneut zeigt sich hier der für die Geschichte des Liberalismus existentiell wichtige Konnex zwischen Nationalstaatlichkeit und liberaler Ordnung. Seit dem späten 19. Jahrhundert war der Liberalismus weit öfter eine politisch-ökonomische Ordnungsform im nationalen Rahmen der verschiedenen Staaten und weit weniger ein international wirksames Ordnungskonzept des freiheitlichen Universalismus im Sinne der Prinzipien von 1776 und 1789. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der »liberale Internationalismus« in Gestalt des Völkerbunds gegen den machtpolitischen Nationalismus im Staatensystem nicht durchsetzen können, denn der Wilsonismus war zu kurzlebig, um die Tradition des nationalen Liberalismus in Großbritannien oder Frankreich zu überwinden, ganz abgesehen von Deutschland.15 Daher konnte es in Deutschland damals auch keinen Einfluss aus der internationalen Politik auf die innere Entwicklung geben, die dazu hätte beitragen können, das liberale Ordnungssystem des parlamentarisch-demokratischen Staats zu stützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubte die hegemoniale Stellung der Vereinigten Staaten, dass eine international gültige Norm liberaler Ordnung durchgesetzt wurde. Die säkulare Bedeutung des Marshall-Plans zeigt sich auch in dieser Hinsicht. Dessen Verwurzelung im New Deal wirkte über 1947 hinaus bis weit in die 1950er Jahre hinein, und daran anknüpfend konnten dann die Grundprinzipien der fiskalpolitischen Globalsteuerung des Staats und der Unternehmensfreiheit der Wirtschaft in diesem Rahmen ihre Wirkung entfalten. Konjunktursteuerung war eine bilaterale Aufgabe für den Staat und die Wirtschaft. Sie konnte deshalb nur solange funktionieren, wie der klar umgrenzte nationale Staat den Rahmen dafür bot und die Industrie, zumal Kohle und Stahl, in diesem Rahmen produzierte und Arbeitsplätze bot.

5. Jenseits von Kohle und Stahl: Paradigmenwechsel in der Geschichte des Liberalismus In den 1960er Jahren lagen die Anfänge eines neuen Trends, seit Mitte der 1970er Jahre war er manifest: die enge Verbindung von Liberalismus und Nationalstaat lockerte sich, der Keynesianismus büßte seine Gestaltungskraft ein. Die Prin14 Hans Günter Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011; Angster, Konsenskapitalismus; Daniel Yergin / Joseph Stanislaw, Staat oder Markt. Die Schlüsselfrage unseres Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1999; Gerhard Willke, John Maynard Keynes, Frankfurt am Main 2002. 15 Frank Ninkovich, The Wilsonian Century. U. S. Foreign Policy since 1900, Chicago 1999; Robert Boyce, The Great Interwar Crisis and the Collapse of Globalization, Basingstoke 2009.

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zipien staatlich begrenzter Globalsteuerung funktionierten nicht mehr, wo die Industrieproduktion längst in eine transnationale Dimension hineingewachsen war und der Heimatmarkt seine vorrangige Bedeutung verlor. Heimische Kohle und Stahlprodukte wurden zu teuer, auswärtige Wettbewerber erwiesen sich als überlegen, Arbeitslosigkeit breitete sich aus. Die Montanindustrie war das prominenteste, aber keineswegs das einzige Beispiel für diese Entwicklung. Die Anfänge jenes neuen Trends finden sich u. a. in der Chemieindustrie, die die Emanzipation vom nationalen Rahmen früh und erfolgreich bewältigte, anders hingegen die Textilindustrie, deren Niedergang langsam, aber unaufhaltsam von 1970 bis in die 1990er Jahre vor sich ging.16 Mit der Ausweitung der EWG zur Europäischen Gemeinschaft seit Mitte der 1960er Jahre und im Zuge wachsender Verflechtung verschiedener Industriebranchen, mit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods 1971, das an den Dollar und den US -amerikanischen Staat gebunden war, verminderte sich die Bedeutung des Staats im marktwirtschaftlichen Rahmen. Wo ehedem feste Strukturen ihre Stabilität verloren, traten neue, andere Kräfte in Erscheinung, die das Alte beiseiteschoben und Neues gestalten wollten. Der Niedergang der nationalstaatlich definierten Traditionsindustrien aus der Hochphase der Industrialisierung, das Ende des Wirtschaftsbooms der Wiederaufbauzeit, die Staaten und Gesellschaften erfassende Integration der westeuropäischen Länder, wirtschaftliche Zusammenschlüsse und handelspolitische Kooperationen bewirkten in den 1970er Jahren einen Strukturbruch von revolutionärer Qualität, der auf den Arbeitsmarkt und die Konjunktur durchschlug, als die Ölpreiskrisen von 1973 und 1979 zu einer drastischen Verteuerung der Energiepreise führten. Vor dieser Herausforderung versagte das Instrument der fiskalpolitischen Globalsteuerung und einer antizyklischen Konjunkturpolitik. Deshalb steht der industriewirtschaftliche und -gesellschaftliche Strukturbruch in direktem Zusammenhang mit den Konjunkturen des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Es war kein Zufall, dass die Regierungsform der sozialliberalen Kabinette um 1980 endete und von konservativen Kräften abgelöst wurde. Was im Verlauf der 1980er Jahre als »Neoliberalismus« in Erscheinung trat, war eine Form von konservativer Politik.17 Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Helmut Kohl waren Konservative, François Mitterand war ein Sozialist. In ihrer Regierungszeit setzte sich ein neues Paradigma durch, das das Gefüge von Staat und

16 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019; Christian Marx, Der Aufstieg multinationaler Konkurrenz. Umstrukturierungen und Standortkonkurrenz in der westeuropäischen Chemieindustrie, in: Anselm Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 197–216; Stephan H. Lindner, Den Faden verloren. Die westdeutsche und französische Textilindustrie auf dem Rückzug (1930/45–1990), München 2001. 17 Siehe den Diskussionsbeitrag von Michael Freeden, in: Doering-Manteuffel / L eonhard (Hg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, S. 28 f.

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Markt, von liberaler Demokratie und wirtschaftlichem Liberalismus grundlegend veränderte. Seit 1974 kamen die Theorieangebote der Wirtschaftsprofessoren Friedrich August von Hayek und Milton Friedman zur Geltung, die in die 1940er Jahre zurückreichten, nach dem Krieg aber angesichts der Vorherrschaft ehemaliger Protagonisten des New Deal und des Keynesianismus scheinbar ohne Bedeutung geblieben waren. Anders als Keynes sah insbesondere Hayek im Staat nicht den Partner der Wirtschaft, sondern eher eine dienende Instanz, deren Aufgabe darin bestand, dem Markt alle Freiheit zur Entfaltung seiner Kräfte und Interessen zu geben. Hayek hatte biographische und zeitbedingte Gründe für seine ideologische Distanz zum Staat, da er, gebürtiger Österreicher vom Jahrgang 1899, die Entstehung und Ausbreitung des Faschismus erlebt hatte, und im Exil in Großbritannien und Amerika vor dem Kriegsende 1944 die wachsende Macht der Sowjetunion beobachtete. Staatlicher Einfluss auf die Wirtschaft war für ihn mehr oder weniger identisch mit »Sozialismus«, und sozialistische Herrschaft führte aus seiner Sicht in die Knechtschaft.18 Die von staatlichem Einfluss befreite Wirtschaft hingegen würde in jeder Gesellschaft und jedem Staat segensreich wirken, den größten Nutzen und Wohlstand erzeugen, weshalb es das Interesse des demokratischen Staats sein müsse, der Wirtschaft die Fesseln abzunehmen, die sie durch die fiskalpolitischen Regelungen des Keynesianismus an der freien Entfaltung hinderten. Hayek war kein Gegner von Sozialpolitik, anders als sein Partner an der Universität von Chicago, Milton Friedman, ein amerikanischer Ökonom vom Jahrgang 1912. Beide wurden allerdings zu Protagonisten einer Politik der Liberalisierung der Marktkräfte, und als sie 1974 und 1975 den Nobelpreis erhalten hatten, war der Neoliberalismus als Theorie grundlegender Reform von Wirtschaft und Gesellschaft sanktioniert worden. Im Zuge der wachsenden Internationalisierung von Industrieunternehmen und des Handels, was wir aus der Rückschau heute als Anfänge der Globalisierung wahrnehmen, stellte der Neoliberalismus ein theoretisches Konzept für die Ausgestaltung freier Märkte in globalem Maßstab dar.19 Innergesellschaftlich erwies sich der Neoliberalismus als neues Paradigma in der Geschichte des Liberalismus. Nach dem Ende der sozialliberalen Ära und dem Primat der Ordnungsidee von »Gemeinschaft und Gleichheit«, räumte der Neoliberalismus dem Individuum wieder eine herausgehobene Bedeutung ein. Das Interesse der Einzelperson, die Bedeutung des Subjekts, wurde höher gewertet als die Einbeziehung des Individuums in die »Gesellschaft der Gleichen«. Das »Ich« erhielt Vorrang vor dem »Wir«, der Wettbewerb um den persönlichen Erfolg zum Nachweis der individuellen Einzigartigkeit etablierte sich

18 Friedrich August von Hayek, The Road to Serfdom, Chicago 1944. 19 Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 52014; Nicholas Wapshott, Keynes  – Hayek. The Clash that defined Modern Economics, New York 2011.

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als Handlungsmuster.20 Das war neu, man mag sagen, es war  – im Rahmen der Liberalismusgeschichte  – revolutionär. Seit dem 19. Jahrhundert war der Individualismus immer mit dem Bürgertum verbunden gewesen, und er blieb auch noch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein Merkmal bürgerlicher Lebensform und bürgerlichen Selbstverständnisses. In der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft wurde der Individualismus konsequent unterdrückt, in der Wiederaufbaugesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Einbettung des Individuums in die »Gesellschaft der Gleichen« in der Tradition der 1920er Jahre der Maßstab. Jetzt, seit den 1980er Jahren, wurde der Individualismus zu einem Merkmal der postindustriellen Massengesellschaft, Masse und Individualität bildeten keinen klassengesellschaftlich konnotierten Gegensatz mehr, sondern ergänzten, ja bedingten einander. Die »Gesellschaft der Singularitäten« wertete jeden Einzelnen in der Massengesellschaft als Individuum und schrieb ihm alle Chancen auf Einzigartigkeit zu, wenn er oder sie nur den Willen zum Erfolg, zum siegreichen Bestehen eines jeden Wettbewerbs, zur Durchsetzung gegenüber allen anderen Individuen zeigte. Aufstieg und Erfolg oder Niedergang und Versagen, Smile or Die, wurden Handlungsmuster in der Marktgesellschaft.21 Der Neoliberalismus integrierte die Idee des Individuums in die vom (sozialen) Liberalismus geformte Massengesellschaft und eliminierte die Idee des Gemeinwohls aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die revolutionäre Qualität des Neuen resultierte allerdings nicht nur aus den erweiterten ökonomischen Handlungsspielräumen der Globalisierung und auch nicht allein aus dem Paradigmenwechsel des Liberalismus. Revolutionär neue technische Möglichkeiten kamen hinzu, um die Industriekultur der Hochmoderne und die darin eingebundene Gesellschaft zu überwinden. Digitalisierung und neue Kommunikationstechniken ermöglichten es jetzt, in der Spätmoderne, Grenzen gewissermaßen zu annullieren, Räume neu zu begreifen und »die Welt« als zusammenhängendes Handlungsfeld für jeden Einzelnen in der globalen Marktgesellschaft zu verstehen. Die Entwicklung zog sich von den Anfängen in den 1950er/1960er Jahren bis zur Einführung des ersten Personal Computer Mitte der 1970er Jahre, als Hayek und Friedman eben den Nobelpreis erhalten hatten, bis zur Etablierung des world wide web im Jahr 1995 hin.22 Aber das Zusammenfließen der technischen Revolution und des Paradigmenwechsels hin zur Verschmelzung von Massengesellschaft und Individuum wurde erst mit der Verfügbarkeit des iPhone (2007) für jedes Individuum weltweit zu einer gesellschaftlichen Praxis im globalen Maßstab. Individualität wurde zum Massenphänomen, zur Massenware.

20 Rosanvallon, Gesellschaft der Gleichen, S. 259–285; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 21 Barbara Ehrenreich, Smile or Die. How Positive Thinking fooled America and the World, London 2009. 22 Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge / Mass. 2011.

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Die Zeit von 1990 bis etwa 2010 lässt sich als Fortschrittsgeschichte beschreiben, die zunächst von der Digitalisierung gekennzeichnet war, darüber hinaus aber von weitreichender gesellschaftlicher Liberalisierung. Die Gleichstellung der Geschlechter, Gleichberechtigung von sexuellen Minderheiten und die Transformation der westlichen Lebensweise in die kosmopolitische Form eines neuen Lebensstils, den vor allem die junge Mittelklasse praktizierte, waren Erfolge des gesellschaftlichen Linksliberalismus, der sich zusammen mit dem politisch-ökonomischen Neoliberalismus ausbreitete.23 Dieser Fortschritt bildete allerdings nur die eine Seite des Paradigmenwechsels in der Geschichte des Liberalismus. Die andere Seite war (und ist) eine gewaltige Verlusterfahrung, deren Kosten seit 2016 mit der Wahl des antiliberalen Antidemokraten Donald Trump zum Präsidenten der USA und der Volksabstimmung in Großbritannien (anstelle einer Mehrheitsentscheidung des demokratisch legitimierten Parlaments) über den Ausstieg aus oder den Verbleib innerhalb der EU allenthalben fühlbar werden. Am frühesten und in besonders ausgeprägter Form machte sich diese Erfahrung in den Ländern des ehemaligen Ostblocks bemerkbar. Seit 1990 erfasste der entfesselte Markt die Staaten und Gesellschaften Ostmitteleuropas quasi über Nacht. Sie mussten sich nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus nicht nur an die gesellschaftliche Wirklichkeit des kapitalistischen Westens anpassen, sondern zeitgleich mit den westlichen Ländern auch die Marginalisierung staatlicher Zuständigkeit in der neuen Marktökonomie verkraften. Die ungebremste Entfaltung der Wirtschaftsinteressen brachte am Ende der 1990er Jahre Anzeichen der Enttäuschung, dann aufbegehrende Verzweiflung und tiefe Depression hervor, die aber nicht auf die Transformationsgesellschaften des Ostens beschränkt blieben, sondern sich bald nach 2000 ebenso im Westen in den Regionen der niedergehenden Montan- und Textilindustrien zeigten.24 Der gesellschaftliche Umbau wurde nicht allein von der Macht des Marktes erzwungen, sondern auch von den Staaten und Regierungen in allen Ländern, die sich dem neuen Paradigma geöffnet hatten. Es waren die Regierungen, die das wirtschaftliche Postulat der Marktfreiheit dergestalt umsetzten, dass der Staat die Bedingungen schuf für die Freiheit der Märkte. Deregulierung und Privatisierung begannen in den 1980er Jahren. Die öffentliche Hand veräußerte öffentliche Einrichtungen, beginnend mit den Rundfunkstationen, sodann Verkehrsbetriebe und andere Einrichtungen der Infrastruktur bis hin zur kommunalen Wasserversorgung an private Investoren, deren Interesse darin bestand, Gewinn zu erzielen, nicht aber das Funktionieren der Grundversorgung zu gewährleisten. Dies blieb gemäß dem gesetzlichen Auftrag eine staatliche Aufgabe. Die oftmals schon maroden Infrastrukturen wurden zunehmend schneller ver-

23 Reckwitz, Ende der Illusionen, S. 7–27. 24 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.

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schlissen, bis schließlich der Staat eingreifen musste. Die Kosten der Sanierung übertrafen nicht selten den seinerzeitigen Erlös aus der Privatisierung.25 Deregulierung und Privatisierung erfassten gleichermaßen die gewachsenen Strukturen der sozialen Sicherung in der industriellen Arbeitsgesellschaft. Die »Gesellschaft der Gleichen« hatte über ein relativ solides Fundament sozialer Absicherung verfügen können, das in den 1970er Jahren allerdings über das vertretbare Maß hinaus von sozialliberalen Regierungen und Gewerkschaften ausgeweitet worden war. Seit 2000 gingen die neoliberal gewendeten sozial­ demokratischen bzw. linksliberalen Regierungen in Großbritannien (Premier­ minister Tony Blair), in der Bundesrepublik Deutschland (Bundeskanzler ­Gerhard ­Schröder) und in den Vereinigten Staaten (Präsident Bill Clinton) daran, die bestehende soziale Gesetzgebung den Bedingungen der neuen Marktökonomie anzupassen, um die grassierende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Diese war im Westen durch die Schließung von Stahlwerken, Kohlezechen und zahlreichen Fabriken der Automobil-, Metall- und Textilproduktion stark angestiegen, im Osten führte die Privatisierung von Staatsbetrieben zu einer Entwicklung, die mit der Arbeitslosigkeit noch stärker als im Westen den kompletten Entzug des Lebensumfelds von Fabrik und Stadt mit sich brachte. Der Kampf der Regierungen gegen die Arbeitslosigkeit war ökonomisch sinnvoll, weil die neue Wirtschaftsform mit dem Vorrang des Markts vor dem Staat längst das Selbstverständnis der Politik beherrschte und ein Umsteuern gegen den marktradikalen Megatrend kaum vorstellbar war, aber die sozialkulturellen Kosten waren hoch. Indem der neue Liberalismus auf eine Dynamisierung des Sozialen setzte, den Wettbewerb förderte und die Differenz zwischen Leistungsfähigkeit und Leistungsschwäche akzentuierte, indem er die Entgrenzung im sozialen, ökonomischen und kulturellen Bereich förderte, wirkte die neoliberale Arbeitsmarktpolitik spaltend und diskriminierend. Singularisierung und die Wertschätzung des individuellen Interesses vor dem sozialen Interesse wirkten polarisierend, überdies förderten die Arbeitsmarktreformen die Ausweitung des Niedriglohn­ sektors, wo sich all die minderqualifizierten und sozial benachteiligten Menschen sammelten, die in der Wettbewerbsgesellschaft nicht mithalten konnten. Im Bildungssystem wurden die niedrigen Schulabschlüsse abqualifiziert und ein Profilierungswettbewerb in Gang gesetzt, der wiederum die Kinder aus bildungsfernen Schichten benachteiligte. Dem entsprachen die Lebensformen, die in der gut ausgebildeten Mittelklasse um das Postulat der Selbstverwirk­ lichung und den Vorrang des »Ich« gruppiert waren und die Angehörigen der traditionellen Mittelklasse mit Hauptschulabschluss und Mittlerer Reife sozial deklassierten. Die Gentrifizierung der Wohnareale in den Städten bediente die Bedürfnisse der Gewinner und vertrieb die Verlierer in die billigen Vorstädte. Die Gesellschaft klaffte auseinander. 25 Massimo Florio, The Great Divestiture. Evaluating the Welfare Impact of the British Privatizations, 1979–1997, Cambridge / Mass. 2004.

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Die sozialkulturellen und sozialpsychologischen Wirkungen der markt­ induzierten Polarisierung waren frühzeitig zu erkennen. Sie wurden allerdings zunächst ignoriert, insbesondere im Osten, und wurzelten sich als Ressentiment so tief ein, dass dieses durch korrigierende Maßnahmen einer neuen Sozial- und Infrastrukturpolitik nicht mehr überwunden werden konnte. In den Regionen mit traditionellen Industriebetrieben griff, von den Vereinigten Staaten über Großbritannien, das kontinentale Westeuropa, West- und Ostdeutschland bis nach Osteuropa ein Gefühl der Vergeblichkeit, der Zukunftslosigkeit um sich, das als negative Emotion sozial und politisch wirksam wurde. In den alten Industrieregionen, in denen die Schlote nicht mehr qualmten und kein Geld mehr zu verdienen war, wo zwar finanzielle Unterstützung vom Staat gewährleistet wurde, aber der Lebenssinn verloren war, ging auch die Selbstachtung der Menschen verloren. Die Reaktion äußerte sich politisch. Sie führte seit 2008/2010 dazu, dass das neoliberale Paradigma und damit auch der Liberalismus als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung angegriffen, bekämpft und seine Geltung bestritten wurde. Mit der Kritik an der politisch-sozialen Wirklichkeit ging die Kritik an den Grundlagen des liberalen Verfassungsstaats einher, weshalb infolge von Deregulierung, Arbeitsmarktreformen und wachsender gesellschaftlicher Spaltung in Gewinner und Verlierer des marktkonformen staatlichen Regimes auch die repräsentative Demokratie an Legitimität verlor. Auch hier wurde der Legitimitätsverlust der parlamentarischen Repräsentation wiederum von politischen Parteien und Regierungsvertretern mit vorangetrieben, indem das Postulat der Volksbefragung, der »direkten Demokratie«, zunehmend Unterstützung fand. Das war naheliegend und konsequent: Wo Individualismus und Massengesellschaft verschmolzen sind, kann, ja muss jede Einzelperson ihren Anspruch auf Mitsprache direkt geltend machen. Aber die protestierende Bevölkerung wollte nicht nur befragt, beteiligt werden, sondern sie wollte Geborgenheit zurückerhalten. Die Effekte von Globalisierung und Digitalisierung hatten entfremdend gewirkt, die Zuwanderung erst von Arbeitskräften aus Osteuropa in die westeuropäischen Länder, dann die Migration aus den Krisengebieten des Mittleren Ostens und Nordafrika verstärkten diese Wahrnehmung. Der Kampfruf der Brexiteers »take back control« brachte genau dieses Bedürfnis zum Ausdruck: etwas zurückhaben zu wollen, das verloren schien. Der Rechtspopulismus entstand aus dieser sozialkulturellen Ablehnung des Anonymen, und in die Ablehnung wurde das politische System einbezogen, dessen Repräsentanten die Entwicklung gefördert und als »alternativlos« bezeichnet hatten. Die AfD trägt die Antwort im Parteinamen. Sie versteht sich als »Alternative«, sie verkörpert einen Angriff auf die repräsentative Demokratie und deren Trägerschicht und stellt sie in Frage. Von den USA bis nach Osteuropa ist der Rechtspopulismus die bisher mächtigste, auch gefährlichste Reaktion auf die Begleiterscheinungen des radikalisierten Marktes, der sich den Staat untertan gemacht hat. Auf die Inhumanität des entfesselten Markts reagiert der Rechtspopulismus mit einem Nihilismus, der die gewachsene Struktur des liberalen Verfassungsstaats auszuhöhlen droht.

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6. Fazit Wie es aussieht, ist das vorherrschende Regime der radikalen Marktökonomie nicht reformierbar. Seit der Jahrtausendwende, spätestens seit der Finanzmarktkrise 2008 geriet das neoliberale Paradigma in eine Legitimationskrise, der rücksichtslose Finanzmarktkapitalismus wurde durch die Bereitschaft der Staaten zu verstärkter Intervention in den zuvor deregulierten Markt spürbar gemäßigt. Ob allerdings das politische System der repräsentativen Demokratie im freiheitlichen Rechtsstaat rekonstituiert werden kann, wenn die politische Gestaltungskraft des Neoliberalismus erschöpft ist, lässt sich bislang nicht erkennen. So könnte es sein, dass der Neoliberalismus als das historisch jüngste Paradigma in der Geschichte des Liberalismus in einem ganz anderen Sinn das »Ende der Geschichte« manifestiert.

Julia Angster

Das Ende des Konsensliberalismus Zur Erosion einer Werteordnung »nach dem Boom«

1. Einleitung In ihrem 2008 erschienenen und vielbeachteten Buch »Nach dem Boom« interpretieren Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael den Wandel der westeuropäischen Industriegesellschaften nach 1970 als tiefgreifende Zäsur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts.1 Sie zeichnen das Bild einer »Epoche des Übergangs« zwischen »einer stabilen Nachkriegsordnung«, die von 1947/48 bis in die 1970er Bestand hatte, und einer Epoche, die sich seit etwa 2000 etabliert hat und die charakterisiert ist durch »ein neues Produktions- und Wirtschaftsregime, das man als digitalen Finanzmarktkapitalismus bezeichnen kann«, als »neoliberale Wirtschaftsordnung«. Die Entwicklungen in dieser »janusgesichtige[n] Phase des Übergangs«, die dazwischen liegt und in der sich der unaufhaltsam erscheinende Übergang zu »einer anderen, neuen Gesellschaft« vollzog, werden beschrieben als »Strukturbruch, der sozialen Wandel von revolutionärer Qualität mit sich gebracht hat.«2 Der hier diagnostizierte Strukturbruch bezieht sich in erster Linie auf ökonomische und soziale »Basisprozesse« und Strukturen, vor allem auf den Übergang von der Industrie- zur postindustriellen Gesellschaft, von einer keynesianischen Steuerung zu einer Betonung des Markts. Dieser Wandel wirkte sich wiederum auf die Werteordnung und insbesondere den liberalen Grundkonsens der westeuropäischen Gesellschaften aus. Die »politökonomische[n] Normen und kulturelle[n] Orientierungsmuster« der Nachkriegsordnung hätten »spätestens seit dem Ende der 1970er Jahre keine selbstverständliche Ordnungskompetenz mehr« aufzuweisen gehabt.3 Allerdings hätten, so die Autoren im Jahr 2008, »bislang« einige Institutionen und Strukturen den Strukturbruch überdauert. Hierzu zählen sie den Sozialstaat sowie die Bildungs- und Forschungslandschaften, die Produkt der Reformpolitik der 1960er und 1970er Jahre waren. Vor allem 1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Vgl. auch Hans Günter Hockerts, Rezension von Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, in: sehepunkte 9 (2009), S. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/ ​2009/05/15019.html, 18.02.2019; und neuerdings: Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Geschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019. 2 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 10 f. (Hervorhebung im Orig.). 3 Ebd.

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aber hätten die demokratischen Institutionen, der liberale Basiskonsens und auch die Parteienlandschaft in den westeuropäischen Ländern »überraschende Züge der Kontinuität« aufgewiesen.4 Aus der Rückschau des Jahres 2019 wird jedoch deutlich, wie sehr mittlerweile auch die institutionellen und ideellen Strukturen der liberalen Demokratie und die ihnen zugrunde liegende Werteordnung von diesem Wandel betroffen sind. Seit spätestens 2016 ist die Rede davon, die liberale Demokratie – mit ihren Grundprinzipien des Parlamentarismus, der Repräsentation und des Rechtsstaats – befinde sich in einer Krise.5 Das in Westeuropa nach 1945 unhinterfragt gültige Modell politischer Ordnung, die parlamentarische Demokratie und ihre Wertewelt, wird in vielen westlichen Ländern von Teilen der Gesellschaft in Frage gestellt und abgelehnt. Paul Nolte spricht von einer Krise im Kern der westlichen Demokratie.6 Aber die Bedrohung der Demokratie scheint auch von außen zu kommen: Globalisierungsprozesse, zu denen die Integration des Welthandels, die Deregulierung und Digitalisierung der Finanzmärkte, die Kommunikationsrevolution und die ungeheure Zunahme an Mobilität gehören, führten nicht nur zu sozioökonomischem Wandel, sondern schränkten auch die Handlungsspielräume des Nationalstaats nach innen wie nach außen empfindlich ein. Die sozioökonomischen Veränderungsprozesse nach 1970 von der Industriezur postindustriellen Gesellschaft, von einer keynesianischen bzw. fordistischen zu einer »neoliberalen« Wirtschaftsordnung demontierten die strukturellen Grundlagen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des »Boomzeitalters«. Zugleich geriet die ihnen zugrunde liegende Werteordnung, der »Konsensliberalismus«, ins Wanken. Der Begriff des »Konsensliberalismus« steht hierbei als Chiffre für ein ganzes Bündel an Ordnungsvorstellungen, Regeln und Praktiken. Er bezeichnet eine Variante liberaler Ordnung, die in den 1960er und 1970er Jahren in Westeuropa dominierte und für die westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegsjahrzehnte prägend war.7 Sie verband das Konzept der repräsentati4 Ebd., S. 10. 5 Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München 2018; Florian Meinel, Vertrauensfrage – zur Krise des heutigen Parlamentarismus, München 2019; Andreas Wirsching, Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989, München 2015; Winfried Thaa / Markus Linden (Hg.), Krise und Reform politischer Repräsentation, Baden-Baden 2011; siehe auch die Beiträge von Chantal Mouffe und Paul Nolte im Aus Politik und Zeitgeschichte-Heft »Postdemokratie«: Aus Politik und Zeit­ geschichte 1–2 (2011), sowie Colin Crouch, Post Democracy, Cambridge 2004. 6 »[…]  a crisis at the heart of Western democracy itself.« Paul Nolte, Beyond Resilience, Beyond Redemption. Introducing a Complicated History of Transatlantic Democracy, in: ders. (Hg.), Transatlantic Democracy in the Twentieth Century. Transfer and Transformation, München 2016, S. 1–16, hier S. 3. 7 Zum Konzept des Konsensliberalismus siehe: Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB , München 2003; Anselm DoeringManteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Steven Fraser / Gary Gerstle (Hg.), The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930–1980, Princeton, NJ 1989, S. ix–xxv; Michael Hochgeschwender,

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ven, parlamentarischen Demokratie mit einem pluralistischen Gesellschaftsbild, einer keynesianischen Wirtschaftsordnung und einem interventionistischen Verständnis von Sozialstaatlichkeit. Seit den 1990er Jahren – also erst nach dem Strukturbruch – ist diese konsensliberale Ordnung jedoch erodiert. Die ihr zugrunde liegenden Konzepte von Staat und Gesellschaft werden seither in Frage gestellt. Ein nicht unwesentlicher Teil dieses ideellen Wandels besteht dabei in der Erosion der ›gedachten Ordnung‹ des Nationalen.8 Der nationale Rahmen hat für die Verbindung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft eine wesentliche Rolle gespielt. Seit den 1990er Jahren kam es jedoch zu Denationalisierungsprozessen, die das Verhältnis von Staat und Gesellschaft beeinflusst und insbesondere zu einer Erosion des national gefassten Gesellschaftsbegriffs geführt haben. Seit den 1990er Jahren ist dieser daher zum Gegenstand des Konflikts und der Aushandlung geworden.9 Der Bedeutungsverlust des nationalen Rahmens von Staat und Gesellschaft gehört meiner Meinung nach in das Bündel an Zäsuren, die seit den 1970er Jahren und verschärft noch einmal seit 1990 die liberale Ordnung ins Wanken brachten; eine Ordnung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas geprägt hatte – am meisten vielleicht die Bundesrepublik Deutschland. Die These vom »sozialen Wandel von revolutionärer Qualität« lässt sich daher mittlerweile fortschreiben; sie muss dazu jedoch tatsächlich in den ›kulturgeschichtlichen‹ Bereich ausgeweitet werden. Dieser Beitrag will zunächst die Bestandteile des konsensliberalen Ordnungskonzepts, den Prozess ihrer »Bündelung« und das Zusammenspiel dieser Komponenten behandeln; anschließend soll gezeigt werden, welche Rolle die nationale Rahmung von Staat und Gesellschaft für die konsensliberale Ordnung spielte. Abschließend soll es um die Erosion dieses Modells gehen und um die Ursachen und Folgen des »Entbündelns« dieser Konstellation.10



Freiheit in der Offensive? Der Kongress für Kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998. Zum Staatsverständnis siehe Alan Brinkley, The New Deal and the Idea of the State, in: Fraser / Gerstle, New Deal Order, S. 85–121. 8 Zum Begriff der gedachten Ordnung bzw. des sozialen Imaginären: Charles Taylor, Modern Social Imaginaries, Durham 2003; Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 21991; Manfred B. Steger, The Rise of the Global Imaginary. Political Ideologies from the French Revolution to the Global War on Terror, New York 2008, S. 1–15. 9 Zum Gesellschaftsbegriff neuerdings Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019. Außerdem u. a. ders., Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, Frankfurt am Main 2011; Friedrich Tenbruck, Emile Durkheim und die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologe, in: Zeitschrift für Soziologie 10 (1981), S. 333–350. 10 Den Begriff des Bündelns und Entbündelns habe ich bei Saskia Sassen entlehnt, die von »bundling« und »unbundling« (S. 2 f., 23, 340, 381) sowie von »assembling« und »dis­ assembling« (passim) spricht: Saskia Sassen, Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton 2006.

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2. »Bündeln«: Das konsensliberale Ordnungsmodell und seine Bestandteile Die ›liberale Basisordnung‹ der Nachkriegsjahrzehnte bestand aus einem ganzen Bündel von Normen, Institutionen und Praktiken, die erst in ihrer Verbindung zu der stabilen »wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie westlichen Zuschnitts« führten, die Westeuropa und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland seit 1960 prägte.11 Die Bestandteile dieses Bündels – oder, wie es Saskia Sassen auch nennt, dieser »Assemblage« – stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und sind schrittweise und zu verschiedenen Zeiten miteinander verbunden worden.12 Es resultierte in einer spezifischen Sichtweise auf Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, die im Rahmen einer liberalen Werteordnung miteinander verzahnt waren, und findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen in den westeuropäischen Staaten der 1960er und 1970er Jahre. Es fand in Frankreich seinen Ausdruck in der Praxis der »Planification«, einer in der unmittelbaren Nachkriegszeit etablierten Form wirtschaftlicher Rahmenplanung innerhalb marktwirtschaftlicher Strukturen. Das ›Commissariat général du Plan‹ gab die wirtschaftspolitische Richtung vor; über ›Modernisierungskommissionen‹ waren staatliche Stellen, Tarifparteien, Banken und wissenschaftliche Experten an der Planung der Wirtschaftspolitik beteiligt.13 In Großbritannien firmierte es unter dem Rubrum »consensus« und bezeichnete dort eine reformerische Ge­sellschaftspolitik unter starker Beteiligung der Gewerkschaften, eine keyne­ sianische Wirtschaftspolitik mit einem starken Staatsanteil und der Nationalisierung von Schlüsselindustrien sowie einen stark ausgebauten ›Welfare State‹. Dieses Modell spielte in der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle für die Inszenierung eines breiten Konsenses von Labour Party und den Conservatives und verlor erst in den 1970er Jahren an Zuspruch  – kollabierte dann jedoch vollständig.14 In Deutschland schlug sich das konsensliberale Modell in einer deutlich milderen keynesianischen Wirtschaftssteuerung und der Reformpolitik der Großen und sozialliberalen Koalition nieder.15 Insgesamt lässt sich in die11 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1998, S. 91–169, Zitat S. 94. 12 Sassen, Territory. 13 Émile Quinet, La planification française, Paris 1990; Vera C. Lutz, Zentrale Planung für die Marktwirtschaft. Eine Untersuchung der französischen Theorie und Erfahrung, Tübingen 1973. 14 David Dutton, British Politics Since 1945. The Rise, Fall and Rebirth of Consensus, Oxford 1997; Dennis Kavanagh, The Postwar Consensus, in: Twentieth Century British History 3 (1992), H. 2, S. 175–190; Richard Toye, From ›Consensus‹ to ›Common Ground‹. The Rhetoric of the Postwar Settlement and its Collapse, in: Journal of Contemporary History 48 (2013), H. 1, S. 3–23. 15 Vgl. das »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« vom Juni 1967, in dem die Ziele staatlicher Wirtschaftspolitik festgeschrieben wurden. Instrumente dieser Form von Steuerung waren die »gesamtwirtschaftliche Rahmenplanung«,

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sen Varianten ein gemeinsames westeuropäisches Ordnungsmodell ausmachen, das von angelsächsischen und insbesondere amerikanischen Vorstellungen der 1940er Jahre beeinflusst war. Diese Variante liberaler Ordnung hatte sich in den USA seit den 1940er Jahren in Reaktion auf die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise, des New Deal und des Zweiten Weltkriegs herausgebildet und bot eine attraktive Antwort auf die Erfahrungen und Probleme der Westeuropäer. Die amerikanische Regierung hatte in der Weltwirtschaftskrise zu staatsinterventionistischen Maßnahmen gegriffen, denen es jedoch um den Erhalt der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und um die Wiederherstellung des Status quo ante gegangen war. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Staatsinterventionismus jedoch deutlich ausgebaut, Wirtschaftssteuerung und Planung spielten eine größere Rolle. Die Eingriffe erhielten auch zunehmend gesellschaftsreformerische Züge: ›Social engineering‹, technokratisch-planerischer Umgang mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen, wurde zum normalen politischen Instrumentarium. Aus dem New Deal, den Reformprogrammen zur Krisenbewältigung der 1930er Jahre, entwickelte sich eine Werteordnung, die sogenannte »New Deal Order«: »a dominant order of ideas, public policies, and political alliances«,16 die von einem breiten Bündnis der Mitte getragen wurde und deren politisches Zentrum in der ›Democratic Party‹ und in den Gewerkschaften lag. Der wichtigste Einfluss auf den New Deal und die auf ihn folgende Ära sozialer Reformen war der Keynesianismus, der die Massenkaufkraft in das wirtschaftliche Denken miteinbezog. Wirtschaftliches Wachstum wurde nun als Mittel zur Lösung sozialer Probleme betrachtet. So erschien eine ideologiefreie Sozialreform möglich, die die politische Ökonomie des Landes unangetastet ließ und breiten Wohlstand in der Bevölkerung versprach, ohne die Besitzverteilung anzugreifen.17 Privateigentum blieb so ein Fundament individueller Freiheit.18 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Staatsinterventionismus jedoch rasch abgelöst durch fiskalpolitische Steuerung: Steuern und Ausgaben sollten die Instrumente sein, mit denen der Staat in das Wirtschaftsgeschehen eingriff, ohne aber die Institutionen der Wirtschaft selbst zu kontrollieren.19 Denn die Wirtschaft hatte sich im Lauf des Krieges erholt, und die Marktwirtschaft funktionierte nicht nur wieder selbständig, es setzte sogar ein massiver wirtschaftlicher Aufschwung ein. Wachstum rückte nun umso mehr ins Zentrum

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die wirtschaftliche »Globalsteuerung« und eine aktive, »vorausschauende Arbeitsmarktpolitik«. Für Westeuropa siehe Donald Sassoon, One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, London 21997. Fraser / Gerstle, New Deal Order, bes. die Einleitung, S. ix–xxv. Charles S. Maier, The Politics of Productivity. Foundations of American International Economic Policy after World War II, in: ders., In Search of Stability. Explorations in Historical Political Economy, Cambridge 1987, S. 121–152. Vgl. Todd Gitlin, The Sixties. Years of Hope, Days of Rage, New York 31993, S. 60. Brinkley, The New Deal and the Idea of the State.

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der Überlegungen. Erstmals erschien es denkbar, so viel zu erwirtschaften, dass ›genug für alle‹ da wäre. So träte Verteilung auf hohem Niveau an die Stelle von staatlicher Subvention oder gar von Umverteilung. We know that the road to the new democracy runs along the highway of a dynamic economy, to the full use of our national resources, to full employment, and increasingly higher standards of living. […] We stand on the threshold of an economy of abundance. This generation has it within its power not only to produce in plenty but to distribute that plenty.20

Der Fiskalpolitik kam von nun an die Aufgabe zu, Wachstum zu stimulieren, Wirtschaftsschwankungen auszugleichen und für Vollbeschäftigung zu sorgen. Der Reiz dieses Konzepts lag darin, dass es Lösungen für die Probleme des Kapitalismus bot, welche Veränderungen an der Struktur des Kapitalismus ebenso wenig nötig machten wie ein zu starkes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft. Wirtschaftswachstum wurde in dieser Sicht zum zentralen Movens des sozialen Fortschritts.21 Die Grundidee dieses wirtschaftspolitischen Konsenses war, dass Wachstum und Produktivität Klassenkonflikte obsolet machten und dafür sorgten, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften sich um die Anteile von Lohn und Gewinn nicht zu streiten brauchten.22 Seit den 1930er und 1940er Jahren erkannten Gewerkschaften und Unternehmer in den USA ihre jeweiligen Interessen als legitim an und verhandelten miteinander ohne Einmischung des Staates, der jedoch die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen kontrollierte. Die spezifische Form der Arbeitsbeziehungen, in denen Gewerkschaften und Unternehmer ihre jeweiligen Interessen als legitim anerkennen und ›Collective Bargaining‹ betreiben, wird als Konsenskapitalismus bezeichnet.23 Konsens­kapitalistische Arbeitsbeziehungen auf der Grundlage der freien Marktwirtschaft spielten in der konsensliberalen Ordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Rolle. Die Aufgabe der Gewerkschaften war es, durch hohe Lohnforderungen und eine starke Verhandlungsposition in den Tarifaus­einandersetzungen zur Verteilung des Wohlstands in der Gesellschaft beizutragen, während der Staat durch Fiskalsteuerung für stabiles Wachstum sorgte und die Unternehmer durch effiziente Produktion für hohe Gewinne, die als Löhne ausgeschüttet würden. Sie alle sollten auf diese Weise zur Auf-

20 Alvin Hansen / National Resources Planning Board, Resources Development Report 1943, zit in: Brinkley, The New Deal and the Idea of the State, S. 108. 21 Brinkley, The New Deal and the Idea of the State, S. 110. 22 Maier, Politics of Productivity; siehe auch ders., Hegemony and Autonomy within the Western Alliance, in: Melvyn P. Leffler / David S. Painter (Hg.), Origins of the Cold War. An International History, London 1994, S. 154–174, hier S. 158. 23 Angster, Konsenskapitalismus; Patrick Renshaw, American Labour and Consensus Capitalism, 1935–1990, London 1991; Karen Orren, Union Politics and Postwar Liberalism in the United States, 1946–1979, in: Studies in American Political Development 1 (1986), S. 215–252.

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hebung von Klassenkonflikten beitragen. Die Voraussetzungen dafür schuf der Wirtschaftsboom, der im Krieg eingesetzt hatte und entgegen aller Skepsis auch in der Nachkriegszeit anhielt. Das Vertrauen in die kapitalistische Wirtschaftsordnung, das in den 1930er Jahren gründlich erschüttert worden war, wuchs und mit ihm die Überzeugung, durch richtigen Gebrauch der keynesianischen Steuerungsinstrumente, durch einen begrenzten Wohlfahrtsstaat und durch ›Collective Bargaining‹ in den Arbeitsbeziehungen zugleich wirtschaftlichen Wohlstand und politische Demokratie fördern zu können. Der Weg zu sozialer Gerechtigkeit schien klar vorgegeben, soziale Probleme waren »un­ finished business«.24 Dieses Ordnungskonzept wurde seit 1947 aktiv nach Europa exportiert, u. a. vom State Department und den amerikanischen Gewerkschaften.25 Der Marshallplan ging davon aus, dass Produktivität und damit Wirtschaftswachstum auch die politischen und sozialen Probleme Europas lösen würden. Er übertrug dieses Denken auf die internationale Ebene, kann daher als dessen außen- und europapolitische Umsetzung interpretiert werden. Westeuropa sollte angesichts der stalinistischen Bedrohung politisch  – und dazu vor allem ökonomisch  – stabilisiert werden, um im Systemkonflikt des frühen Kalten Krieges die Sicherheit der USA zu garantieren. An die Kredite des Marshallplans war für die Westeuropäer die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen und liberaldemokratischen Ordnung als Bedingung geknüpft; zugleich stabilisierten diese Inves­ titionen – zumindest in der damaligen Perspektive – die liberalen Demokratien der Empfängerländer gegen die Bedrohung durch das kommunistische Ordnungsmodell in Zeiten des Stalinismus.26 Diese Strategie war erfolgreich. Von den USA aus verbreitete sich bis in die 1960er Jahre der Konsensliberalismus in den Ländern Westeuropas, nicht zuletzt durch eine aktive Politik des interkulturellen Transfers durch staatliche und vor allem durch gesellschaftliche Akteure. Er führte dort zu einer Annäherung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen. Dabei wurden jeweils nationale Traditionen beibehalten und modifiziert; eigene Antworten auf spezifische Problem­ lagen wurden durch Lösungsansätze des angelsächsischen Westens ergänzt. Das Ergebnis dieser multilateralen Transferprozesse war somit eben nicht eine 24 Für eine zeitgenössische Darstellung siehe: Seymour E. Harris, Saving American Capitalism, New York 1948. Vgl. auch Gitlin, The Sixties, S. 54–66, Zitat S. 61. 25 Angster, Konsenskapitalismus. 26 Michael Hogan, The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947–1952, Cambridge 1987; Maier, Politics of Productivity. Foundations of American International Economic Policy after World War II, in: ders., In Search of Stability. Explorations in Historical Political Economy, Cambridge 1987, S. 121–152; ders., Die konzeptuellen Grundlagen des Marshall Plans, in: Othmar N. Haberl / Lutz Niethammer (Hg.), Der Marshall-Plan und die europäische Linke, Frankfurt am Main 1986, S. 47–58; Angster, Konsenskapitalismus. Für eine wirtschaftshistorische Einschätzung der Wirkung des Marshallplans auf die westdeutsche Wirtschaftsentwicklung siehe: Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004.

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Übernahme US -amerikanischer Konzepte und Strukturen, sondern vielmehr die Herausbildung gemeinwestlicher Wertegrundlagen und ordnungspolitischer Strukturen.27 Das konsensliberale Ordnungsmodell war für die Regierungen und breite Teile der Gesellschaften Westeuropas äußerst attraktiv.28 Es ermöglichte zum einen die klare Abgrenzung von den »totalitären Systemen« des Nationalsozialismus wie des Kommunismus: Gegen die kommunistische Systemalternative zielte die emphatische Betonung der freien Marktwirtschaft und des Kapitalismus, aber eben auch der freien Gewerkschaften und der gleichberechtigten Arbeitsbeziehungen. Dies gilt besonders für die frühe Bundesrepublik: Hier wirkte insbesondere die Chance auf Integration in die Bündnisstrukturen und die Wertegemeinschaft des Westens attraktiv, ebenso die scheinbar post-ideologische Lösung für die Stabilisierung der jungen Demokratie.29 Die keynesianische Ordnung schuf die Möglichkeit zur staatlichen Planung und Steuerung der Wirtschaft, um in der Phase des Wiederaufbaus das Wachstum zu fördern und Wohlstand zu generieren, ohne dabei die Abgrenzung von der Planwirtschaft der DDR aufgeben zu müssen. Die Möglichkeit, den Klassenkonflikt durch Verteilung des Wohlstands aufzuheben und zugleich die marktwirtschaftliche Ordnung und das Privateigentum an Produktionsmitteln beizubehalten, war hier daher besonders anziehend. Klassenkonflikt wurde auch von den Gewerkschaften nicht mehr als zentrales Charakteristikum der Gesellschaft betrachtet. Sie teilten stattdessen den Glauben an Wachstum als Mittel zur Aufhebung sozialer Konflikte. Die Integration der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Gesellschaftsmodell im Lauf der 1950er und 1960er Jahre war in ökonomischer wie politischer Hinsicht ein besonders wichtiger Aspekt der Annäherung des europäisch-atlantischen ›Westens‹ in der Nachkriegszeit. Vor allem in der Bundes­republik entwickelte sich der Konsensliberalismus zu einem Ordnungsmodell, das über den Bereich der Wirtschaft und der Arbeitsbeziehungen weit hinausging und diesen mit einem spezifischen Gesellschaftsbegriff und Demokratieverständnis verband. Hier bildete sich eine ›liberale Basisordnung‹ heraus, die bis um 1990 Bestand haben sollte und zur Stabilisierung der westdeutschen Demokratie und insgesamt des ›Westens‹ als Bündnis und Wirtschaftsraum beitrug. In der Bundesrepublik Deutschland richtete sich das Bekenntnis zur Tradi­tion des angelsächsischen Liberalismus ganz explizit gegen die nationalsozialistische Vergangenheit und die gegenwärtige kommunistische Bedrohung. Die wesentlichen Elemente dieser Form des Liberalismus sind der Schutz der individuellen 27 Für die Geschichte der europäischen Integration, die ja nicht zuletzt auf der Basis dieser gemeinsamen Ordnungsvorstellungen möglich war, siehe neuerdings: Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018. 28 Sassoon, One Hundred Years of Socialism. 29 Daniel Bell, The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, ­Glencoe 1960.

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Freiheit und des Rechts auf Eigentum, der Pluralismus, der Glaube an universell gültige Werte, das vernunftbegabte, nach seinem freien Willen handelnde Individuum, das Vertrauen in die Vernunft anstelle der Tradition, die Rechtsstaatlichkeit, also eine Regierung, die den Gesetzen unterworfen ist, die Zustimmung der Regierten als Legitimationsgrundlage von Herrschaft, die Säkularität des Staates und der Freihandel. Im Zentrum steht die Freiheit, im Sinne der Freiheit des Einzelnen vom Staat, und nicht die Gleichheit, die Egalität wie in der französischen Aufklärung. Chancengleichheit meint die Möglichkeit aller zur Teilhabe, nicht aber die Ergebnisgleichheit. Aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit war das Wirtschaftswachstum natürlich für alle westeuropäischen Länder von großer Bedeutung; hier verbreitete sich rasch die Vorstellung einer Überwindung sozialer Konflikte durch wirtschaftliche Effizienz und hohe Produktion, durch Wachstum und dessen Verteilung  – die jedoch gerade nicht als Umverteilung gedacht war, sondern als eine Verteilung des erwirtschafteten Überschusses. Hier begann eine Ära des »staatlich regulierten Kapitalismus« (Donald Sassoon), die in den 1960er Jahren in allen westeuropäischen Ländern zu Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum, wachsenden Löhnen und Gewinnen führte. Die Vollbeschäftigung ermöglichte breiten Schichten der Gesellschaft Teilhabe am Wohlstand, Zugang zu Bildung und Kultur sowie die tatsächliche Ausübung ihrer politischen und sozialen Rechte. Der wirtschaftliche Überschuss wurde durch die Tarifpartner und den Staat verteilt und vor allem in sozialstaatliche Bereiche wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Alterssicherung, Mutterschutz und Kinderbetreuung investiert. Dies hatte zu hoher sozialer Stabilität geführt, die wiederum die Wirtschaftsordnung stabilisieren half.30 Allerdings wurden, bei aller Attraktivität des amerikanischen »Angebots«, die Ordnungsvorstellungen und Institutionen des amerikanischen ›New Deal Liberalism‹ und ›consensus liberalism‹ in Westeuropa nicht einfach übernommen, sondern an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst und umgebaut. Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland, wo der Effekt der »Westernisierung«, der Annäherung an eine westliche Wertegemeinschaft im frühen Kalten Krieg, sicher am weitesten ging.31 Diese Annäherung  – und damit der Westernisie30 Sassoon, One Hundred Years, S. 445 f.; für einen Überblick über die westeuropäischen Länder in den Boomjahren S. 277–322. 31 Zum Konzept der Westernisierung siehe: Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?; ders., Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt u. a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311–341; Philipp Gassert, Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses in Deutschland und Europa, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 531–561; Ariane Leendertz, Zeitbögen, Neoliberalismus und das Ende des Westens, oder: Wie kann man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), H. 2, S. 191–217.

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rungsprozess  – war jedoch in den frühen 1960er Jahren abgeschlossen; zum einen, weil die Bundesrepublik nun gesamtwestliche Entwicklungen aus eigener Logik mitvollzog, und zum anderen, weil in den USA zu dieser Zeit die Wertewelt des ›New Deal Liberalism‹ an Bedeutung verlor. In der Bundesrepublik wurden etwa, anders als in den USA, in den 1960er und 1970er Jahren sozialund interventionsstaatliche Elemente stark betont. Diese waren in den USA nur während einer kurzen Phase zwischen 1930 und 1948, also im Kontext des New Deal und der Kriegsplanung, akzeptabel gewesen.32 Das Maßnahmenpaket der »Great Society« der Johnson-Administration fand schon deutlich weniger Akzeptanz. Spätestens in den 1960er Jahren trennten sich daher die ordnungspolitischen Wege der Westeuropäer und ihrer amerikanischen ›Ideengeber‹ wieder. Die Wertewelt des Konsensliberalismus fand im Grunde ihre konkrete sozialstaatliche Umsetzung im Westeuropa der 1960er Jahre. So ist der »Westen« vor allem eine zeitgenössische Selbstbeschreibung und weniger ein tatsächlich einheitlicher Raum mit einer einheitlichen Ordnung. Als Idee zur Abgrenzung vom Ostblock und als Identitätsangebot und Deutungsmuster war dieses Konzept jedoch enorm wirkmächtig. Getragen wurde die konsensliberale Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland von einem Spektrum von liberalen politischen Positionen, die von der Christdemokratie bis zur Sozialdemokratie reichten. SPD und Gewerkschaften vollzogen die Hinwendung zum Konsensliberalismus 1959 bzw. 1963 nicht nur mit, sondern wurden zu aktiven Protagonisten dieses Modells. Die SPD löste sich vom Marxismus und wandelte sich von der Millieu- und Klassenpartei zur pluralistischen Volkspartei; auch die Gewerkschaften gaben ihre traditionellen Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschaftsordnung auf.33 Sie alle teilten seit den späten 1950er Jahren ein pluralistisches Gesellschaftsbild und Demokratieverständnis, das von der gegenseitigen Akzeptanz unterschiedlicher Interessen in Gesellschaft und Politik ausging und die repräsentative Demo­k ratie als einen Aushandlungsprozess dieser unterschiedlichen, aber gleichwertigen Interessen verstand. Ernst Fraenkels Bild vom »Parallelogramm miteinander ringender Kräfte« bringt diesen Mechanismus gut zum Ausdruck: Das Modell der repräsentativen Demokratie geht von einem pluralistischen Gesellschaftsbild aus, in dem Interessenkonflikte ›normal‹ und legitim sind und in dem sich die Individuen als rechtlich gleiche Staatsbürger begegnen. Sie tragen ihre Interessenkonflikte im Rahmen einer politischen Ordnung aus, in der die ›Spielregeln‹ des Konfliktaustrags bzw. Interessenausgleichs nicht verhandelbar, die jeweiligen Ergebnisse jedoch offen und reversibel sind. Das Gemeinwohl geht in dieser Konstruktion aus dem Aushandlungsprozess hervor und ist jeweils ergebnisoffen und in der folgenden Legislaturperiode wieder neu

32 Leendertz, Zeitbögen; Angster, Konsenskapitalismus. 33 Angster, Konsenskapitalismus.

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verhandelbar.34 Das Gemeinwohl ist dabei also nicht a priori vorhanden, sondern ist die »Resultante aus dem Parallelogramm der divergierenden ökonomischen, sozialen und ideellen Kräfte« und stellt »den optimalen Ausgleich der antagonistischen Gruppeninteressen« dar.35 Diese Gruppeninteressen und Konflikte werden vor allem ökonomisch gedacht, nämlich als Interessenkonflikte von Kapital und Arbeit. Akteure dieses gesellschaftlichen Interessenausgleichs sind neben den Verbänden vor allem die politischen Parteien. Volksvertreter, die als Vertreter von Parteien in einem offenen Wahlverfahren um Mehrheiten konkurrieren, werden durch die Wähler beauftragt, Macht auf Zeit auszuüben und den »Volkswillen« umzusetzen. Diese Beauftragung durch die Wähler ist ein Akt des Vertrauens, und die Parlamentarier müssen ihnen gegenüber bei den nächsten Wahlen Rechenschaft ablegen.36 Und auch wenn die repräsentative Demokratie im Grundgesetz verankert ist, musste sich das dahinter stehende pluralistische Gesellschaftskonzept in der Bundesrepublik Deutschland erst durchsetzen. Mit Beginn der 1960er Jahre war die »Liberalisierung« der westdeutschen Gesellschaft jedoch zunehmend greifbar.37 Das konsensliberale Ordnungsmodell entwarf eine neue Lesart des Liberalismus, die auf den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise, des New Deal und des Krieges basierte, und definierte sich in der Abgrenzung von den radikalen Ordnungsentwürfen des Nationalsozialismus bzw. Faschismus und des Kommunismus bzw. Stalinismus. Als Gegenentwurf zu deren homogenisierenden Gesellschaftsentwürfen – und natürlich zu deren menschenverachtender und -vernichtender Exklusion missliebiger Teile der Gesellschaft  – steht hier ein pluralistisches Gesellschaftsbild im Zentrum. Es geht in der Denkwelt des ›Konsensliberalismus‹ ja gerade nicht um Konsens in dem Sinne, dass Homogenität der Meinung und der Interessen angestrebt wird; vielmehr geht es um geregelte Austragungsformen gesellschaftlicher und ökonomischer Interessenkonflikte. Die konfligierenden gesellschaftlichen Gruppen müssen ihre jeweiligen Interessen dazu vor allem als legitim und sich gegenseitig zunächst als legitime Teile der gesellschaftlichen Ordnung anerkennen und sich auf die Regeln des Konfliktaustrags einigen. Der Begriff ›Konsens‹ meint im Kontext des Konsens34 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt am Main 1991, S. 48–67, Zitat S. 64; Winfried Thaa, Politische Macht in der repräsentativen Demokratie. Drei alternative Konzeptualisierungen und ihre Folgen für Gleichheit und Pluralität, in: Georg Zenkert (Hg.), Die Macht der Demokratie. Zur Organisation des Verfassungsstaates, Baden-Baden 2018, S. 45–66. 35 Ernst Fraenkel, Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 261–276, hier S. 273. 36 Zur repräsentativen Demokratie vgl. Winfried Thaa / Markus Linden (Hg.), Ungleichheit und politische Repräsentation, Baden-Baden 2014; Thaa, Politische Macht. 37 Ulrich Herbert (Hg.), Wandungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung, 1945–1980, Göttingen 2002.

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liberalismus also gerade nicht die Abwesenheit oder endgültige Überwindung von Konflikten.38 Die politisch jeweils aufs Neue ausgehandelte Verteilung von Wachstumserträgen erleichterte dabei allerdings die Entschärfung sozialer Spannungen. In den 1960er Jahren setzte sich so vor allem in der Bundesrepublik Deutschland ein Demokratieverständnis durch, das diese als »Selbststeuerung einer Gesellschaft« verstand.39 Die Rolle der Regierung ist dabei die des Instruments der Gesellschaft, die damit auf sich selbst einwirkt. Ziel dieses Einwirkens ist die »Gesellschaftsreform«, die die politischen und sozialen Teilhabechancen des Einzelnen verbessern soll. Neben Rechtsreformen und Infrastrukturmaßnahmen gehört hierzu der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, der durch das hohe und stetige Wirtschaftswachstum in der Boomphase möglich wurde: ein Wirtschaftswachstum, das durch industrielle Produktion generiert, durch die starke Stellung der Gewerkschaften in konsenskapitalistischen Arbeitsbeziehungen an die Arbeiterschaft verteilt und durch staatliche Steuerung und Planung dauerhaft gesichert werden sollte. Mit der Reformpolitik der Großen und der sozialliberalen Koalition begann in der Bundesrepublik Deutschland eine Phase der aktiven Gesellschaftspolitik und der Wirtschaftssteuerung. Dazu wurden der Sozialstaat massiv ausgeweitet und Instrumente der ›Planung‹, ›Programmierung‹ und ›Steuerung‹ in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, in der Sozialpolitik und Bildungspolitik, in der Raumordnung und Stadtplanung eingeführt.40 Sozialpolitik wurde dabei von sozialdemokratischen Reformern und Experten als Voraussetzung für Demokratie betrachtet. Jürgen Habermas bezeichnete 1998 das »Projekt der Verwirklichung einer ›gerechten‹ und ›wohlgeordneten‹ Gesellschaft« als die »dynamische Lesart« des demokratischen Prozesses, ja sogar als »sozialdemokratische[s] Projekt«. Dabei spiele der Sozialstaat eine wesentliche Rolle: Er verhinderte die systematische Benachteiligung unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen, denen die Chance zur Teilhabe am politischen Prozess nicht vorenthalten werden dürfe. »Aus der Dialektik von rechtlicher Gleichheit und faktischer Ungleichheit begründet sich«, so Habermas, »die Aufgabe des Sozialstaats.« Die Politik müsse Sorge tragen, »daß die sozialen Entstehungsbedingungen privater und öffentlicher Autonomie hinreichend erfüllt sind. Andernfalls ist eine wesentliche Legitimitätsbedingung der Demokratie gefährdet.«41 Erst »der sozialstaatlich 38 Auf den Unterschied zwischen ›liberalem Konsens‹ und ›Konsensliberalismus‹ macht Ariane Leendertz aufmerksam: Leendertz, Zeitbögen, S. 202–207. 39 Habermas, Postnationale Konstellation, S. 93 f. 40 Gabriele Metzler, »Geborgenheit im gesicherten Fortschritt«. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Matthias Frese u. a. (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 777–797, hier S. 786; dies., Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, Paderborn 2005, S. 314–327. 41 Habermas, Postnationale Konstellation, S. 93 f., 100 f.

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definierte Interventionismus erweitert die demokratische Selbstgesetzgebung der Bürger eines Nationalstaats zur Selbststeuerung einer nationalstaatlich definierten Gesellschaft.«42 Die nationalstaatliche Rahmung der »wohlfahrtsstaatliche[n] Massendemokratie westlichen Zuschnitts« ist für Habermas dabei zentral. Nur der Nationalstaat sei imstande, die »demokratische Selbststeuerung einer Gesellschaft« zu garantieren.43 Und es ist genau diese nationale Rahmung, die Habermas 1998 in Gefahr sah: »Unsere nationalstaatlich verfassten, aber von Denationalisierungsschüben überrollten Gesellschaften ›öffnen sich‹ heute gegenüber einer ökonomisch angebahnten Weltgesellschaft.«44

3. Die nationale Ordnung von Staat und Gesellschaft in der ›Hochmoderne‹ Die politische und gesellschaftliche Ordnung der »Boomphase« war, ungeach­ tet der deutschen Teilung und der europäischen Integration, eng an das Ordnungskonzept, das ›soziale Imaginäre‹, der Nation gebunden. Denn so transnational die Reichweite der konsensliberalen Ordnung auch war, so sehr war sie im nationalen Rahmen gedacht: Staatlichkeit, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur schienen nur im Rahmen des territorialen Nationalstaats denkbar. Nur wer Staatsbürger ist, hat Zugang zu sozialen und politischen Rechten, und die Staatsbürgerschaft wird über die Zugehörigkeit zur Nation konstruiert. Die keynesianische Steuerung setzt eine national begrenzte Volkswirtschaft voraus, die von der nationalstaatlichen Regierung steuerbar, also deren Fiskal- und Wirtschaftspolitik unterworfen ist, und deren Profite im nationalen Rahmen über Tarifabschlüsse verteilbar sind. Die Wurzeln dieser Grundannahmen über die nationale Rahmung von Staat und Gesellschaft liegen, wie auch jene des Interventionsstaats, im 19. Jahrhundert. Denn die konsensliberale ›Basisordnung‹ der »Boomzeit« beinhaltet nicht nur eine keynesianische Wirtschaftsordnung, sondern verbindet diese mit einem spezifischen Staatsverständnis und Gesellschaftsbild. Diese Verbindung ist das Ergebnis einer langen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert, einer vielschichtigen und transnationalen »Assemblage«, die, wenn man so will, zwischen 1960 und 1980 ihre Hochphase durchläuft. Aus dem 19. Jahrhundert stammen dabei zwei wesentliche Stränge dieses Amalgams: die Idee der Nation und der moderne Interventionsstaat der Hochmoderne. Für beide Aspekte war die eindeutige Bestimmung der Zugehörigkeit des Einzelnen zum Gemeinwe-

42 Ebd., S.10. 43 Habermas, Postnationale Konstellation; Charles S. Maier, Leviathan 2.0. Die Erfindung moderner Staatlichkeit, in: Emily S. Rosenberg (Hg.), Weltmärkte und Weltkriege, ­1870–1945, München 2012, S. 33–286. 44 Habermas, Postnationale Konstellation, S. 94–96.

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sen und die rechtliche Einheitlichkeit des Kollektivs wesentlich.45 Der moderne Interventionsstaat braucht die klare Bestimmung der Gesellschaft, für die er zuständig ist, und daher die eindeutige Zuordnung des Individuums zum Kollektiv. Es war der Nationsbegriff, der diese Lücke füllte und die Annahme einer »Kongruenz der sozialen und politischen Räume«46 ermöglichte. Zum einen auf der recht­lichen Ebene: Hier bestimmte die Institution der Staatsbürgerschaft die Kriterien für die Zugehörigkeit zum Staat, verband Staat und Individuum und band letzteres dadurch in die Gesellschaft ein, die sich aus denjenigen zusammensetzte, die über politische und soziale Teilhaberechte verfügten. Für die Bestimmung der Angehörigen dieser Gesellschaft wurde das Konzept der Nation zentral: »Die wichtigste und stabilste Verbindung zwischen Verwaltungsstaaten und Gesellschaften schufen«, so Lutz Raphael, »die Nationalkulte des 19. Jahrhunderts.«47 Die Vorstellung einer vorstaatlichen, homogenen Nation, die sich in einem Staat zusammenschließt, muss als ›gedachte Ordnung‹ gewertet werden. Diese bildet seit dem späten 19. Jahrhundert den Rahmen für Politik, Wirtschaft und Kultur. Der nationale Denkrahmen verband insbesondere den modernen Gesellschaftsbegriff eng mit dem Aufstieg des modernen Interventionsstaats.48 Die Idee der Nation trat seit dem späten 18. Jahrhundert allmählich an die Stelle ständischer kollektiver Identitäten und vormoderner Herrschaftslegitimation.49 Die Etablierung des nationalen Rahmens im Lauf des 19. Jahrhunderts lässt sich als ein »Höheraggregieren« lokaler und regionaler Zusammenhänge deuten, als Entgrenzung und De-Lokalisierung.50 Die Nation wurde rechtlich als politische Vergemeinschaftung gefasst, die sich aus der Gruppe der Staatsbürger zusammensetzte. Sie ist jedoch keine empirisch fassbare Einheit, »keine soziale Gruppe, sondern die gesellschaftliche Organisation und Institutiona-

45 Julia Angster, Staatsbürgerschaft und die Nationalisierung von Staat und Gesellschaft, in: dies. u. a., Staatsbürgerschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2019, S. 79–144; Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016. 46 Michael Zürn, Einleitung. Denationalisierung und die Krise des Regierens, in: ders. (Hg.), Regieren jenseits des Nationalstaats. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt am Main 1998, S. 9–32, hier S. 9–11. 47 Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 215. 48 Johann P.  Arnason, Nationalism, Globalization and Modernity, in: Mike Featherstone (Hg.), Global Culture. Nationalism, Globalization and Modernity, London 1990, S. ­207–236, hier S. 223 f. 49 Pierre Rosanvallon, Der Staat in Frankreich von 1789 bis in die Gegenwart, Münster 2000, S. 68. 50 »Die Lebenswelten der Menschen wurden weiträumiger, ihre Erfahrungen griffen über die lokalen und regionalen Lebensräume hinaus, die sozialen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen dehnten sich aus.« Dieter Langewiesche, ›Staat‹ und ›Kommune‹. Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 248 (1989), S. 621–635, hier S. 622.

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lisierung politischer Einheit«.51 Als »fiktionale Einheit« ist sie dennoch »ein wesentlicher, funktionaler Bestandteil der Selbstgründung und -begründung moderner Gesellschaften.«52 Seit dem späten 19. Jahrhundert setzte sich die Vorstellung durch, dass im nationalen Territorium der Raum, in dem das Recht seine Gültigkeit hatte und in dem politische Entscheidungen effizient durchzusetzen waren, in eins fiel mit jenem kulturellen Raum, auf den sich die nationale Identität der Bevölkerung bezog; dass nur dort, wo eine Bevölkerung siedelte, die sich als Teil der jeweiligen Nation verstand, auch effiziente Politik, Gesetzgebung und Rechtsprechung eines Nationalstaates möglich seien.53 Mit dem Übergang zum demokratischen Rechtstaat wird, so Jürgen Habermas, aus der reinen Staatsangehörigkeit, also der Unterstellung unter eine Staatsgewalt, die Mitgliedschaft von Bürgern, die an der Ausübung der politischen Herrschaft beteiligt werden. In dieser Regierungsform wirkt die nationale Gesellschaft als Urheber und Objekt der Gesetze auf sich selbst ein; hier sind die Adressaten des Rechts zugleich dessen Autoren.54 Zugleich bildete sich im späten 19. Jahrhundert, einer in Teilen der Forschung als Beginn der »Hochmoderne« apostrophierten Phase, der moderne Verwaltungs- und Interventionsstaat heraus, der die Gesellschaft als Objekt staatlichen Handelns erst ›entdeckte‹. Eine auf Kenntnis der Naturgesetze beruhende rationale Gesellschaftsordnung war das Ziel; die Datenerhebung, das Klassifizieren und Ordnen von Individuen und Gruppen nach wissenschaftlichen Kriterien und die staatliche Intervention waren die Mittel. Armengesetzgebung, Seuchenprävention, Mobilitätskontrolle, Einwohnermeldeämter, Finanzämter und Katasterkarten, der Reisepass sowie die Rolle wissenschaftlicher Experten im ›Social Engineering‹ sind Beispiele dafür, wie Gesellschaft Staatsaufgaben definierte, und wie umgekehrt Gesellschaft zum Produkt und Objekt staatlichen Handelns wurde.55 Dies war eng verbunden mit einem Pro51 Ulrich Bielefeld, Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2003, S. 28. 52 Ebd., S. 11. 53 Charles S. Maier, Transformations of Territoriality, 1600–2000, in: Gunilla Budde u. a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32–55. 54 Jürgen Habermas, Der europäische Nationalstaat. Zur Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1999, S. 128–153, hier S. 135 f.; Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt am Main 2008, S. 30 f. 55 Rosanvallon, Staat in Frankreich; James C.  Scott, Seeing Like  a State. How Certain ­Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998; Raphael, Recht und Ordnung; Thomas Etzemüller, Social Engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfs. Eine einleitende Skizze, in: ders. (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 11–39; John Torpey, The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000; Andreas Fahrmeir, Citizenship. The Rise and Fall of  a Modern Concept, New Haven 2007; Maier,

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zess des soziokulturellen Wandels. Das Selbstbild europäischer Gesellschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts betonte die »politische Modernität«.56 Hier hat der Modernisierungsdiskurs als Selbsterzählung der europäischen Gesellschaften seinen Ursprung. Ein solches interventionistisches Staatsverständnis und die Vorstellung, es sei Aufgabe des Staates, eine »neue Gesellschaft« bzw. eine moderne Gesellschaftsordnung zu schaffen, spielt auch in den radikalen, antiliberalen Ordnungsentwürfen des 20. Jahrhunderts, im Nationalsozialismus, Faschismus und Bolschewismus, eine zentrale Rolle.57 Als ›antitotalitäre‹, liberaldemokratische Neufassung nach 1945 stand auch das konsensliberale Ordnungsmodell der 1960er bis 1980er Jahre in dieser Tradition. Es deutete die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft in einer Perspektive, die den modernen bürokratischen Interventionsstaat zum Instrument gesellschaftlicher Neuordnung (»Reform«) machte. Staat und Gesellschaft sind hier eng aufeinander bezogen und bedingen sich gegenseitig: Gesellschaft ist Objekt und Produkt staatlichen Handelns; die Regierung wiederum ist im Rahmen einer repräsentativdemokratischen politischen Ordnung das Instrument, mittels dessen eine Gesellschaft auf sich selbst einwirkt.58 Die westeuropäische konsensliberale Ordnung der 1960er und 1970 Jahre lässt sich als liberaldemokratische Version eines interventionistischen Staatsverständnisses fassen. Insofern gehört sie durchaus in den konzeptionellen Rahmen und die zeitliche Epoche der ›Hochmoderne‹, die je nach Autor zwischen etwa 1870/80 und 1970/80 angesiedelt ist.59 Auch die konsensliberale Variante der Hochmoderne teilt die im späten 19. Jahrhundert in Europa etablierte Grundvorstellung, dass es Aufgabe des Staates sei, die Gesellschaft nach rationalen Kriterien zu ordnen. Sie teilt außerdem den Glauben an die wissenschaftliche Fundierung solcher Kriterien und an die »Lesbarkeit« der Gesellschaft, deren Eigenschaften in Statistiken und Karten erhoben werden können. Sie teilt insbesondere auch den Glauben an den Fortschritt. In den 1960er Jahren kam dazu nun noch der Glauben an die Planbarkeit des Fortschritts und an die Steuerbarkeit von Gesellschaft und

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­ eviathan 2.0; Wolfgang Reinhard, Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen L bis zur Gegenwart, München 2007, S. 440–458; Christof Mauch / K laus Kiran Patel (Hg.), Wettlauf um die Moderne. Die USA und Deutschland 1890 bis heute, Bonn 2008. Maier, Leviathan 2.0. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992; Scott, Seeing like  a State; Detlev Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, besonders S. 102–121. Rosanvallon, Staat in Frankreich; Habermas, Postnationale Konstellation, S. 101. Zum Konzept der Hochmoderne siehe: Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5–21; sowie die Kritik von Lutz Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ute Schneider / Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt am Main 2008, S. 73–91; grundlegend zur Hochmoderne außerdem: Scott, Seeing Like a State; Bauman, Moderne.

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Wirtschaft; überhaupt an ›Steuerung‹ als Instrument des Regierens.60 Auch die Modernisierungstheorie, die als Handlungsanweisung und ›Checkliste‹ auf dem Weg zur ökonomischen und zivilisatorischen ›Entwicklung‹ fungierte, gehört seit den 1950er Jahren in dieses Bündel an Ordnungsvorstellungen und Weltbildern. Das konsensliberale Ordnungsmodell stellt so gesehen die sozialliberale Version der ›Hochmoderne‹ dar und bildet zugleich ihren Abschluss.61

4. »Entbündeln«: Die Erosion eines Ordnungsmodells nach dem Boom Wie kam es zur Erosion dieses Ordnungsmodells? Welche Vorgänge trugen dazu bei, die einzelnen Bestandteile dieser Ordnung aufzulösen und damit die gesamte »Assemblage« zu »entbündeln«? Mein Argument ist, dass der »Wandel von revolutionärer Qualität« nicht auf die Deindustrialisierung, den Übergang zum Finanzmarktkapitalismus, die Beschäftigungskrise und die daraus folgende Zunahme sozialer Ungleichheit zwischen den 1970er und den 1990er Jahren beschränkt war, sondern sich spätestens seit 1990 auch auf die ›liberale Basisordnung‹ auswirkte. Diese Zäsur geht über den Strukturbruch der 1970er Jahre hinaus. Daher muss der Erklärungsansatz weiter gefasst werden: Um die Reichweite des Wandels zu erfassen, muss auch der Wandel der Deutungsmuster und Ordnungsvorstellungen nach den 1990er Jahren mit eingeschlossen werden. In den 1970er Jahren sanken in Westeuropa die Wachstumsraten des Brutto­ sozialprodukts, die Arbeitslosigkeit wuchs, die Produktivität ging zurück und die Preise stiegen. Dies erwies sich nach der zweiten Ölpreiskrise nicht als Konjunkturdelle, sondern als Beginn der »great worldwide stagflation«; es war das Ende der »trentes glorieuses«, des Nachkriegsbooms.62 Hier begann ein umfassender Prozess der Deindustrialisierung, der tiefgreifende Folgen für die Gesellschaften Westeuropas hatte. Diese Deindustrialisierungsprozesse in Westeuropa, den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und das Ende des Keynesianismus haben Lutz Raphael und Anselm Doering60 Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005; dies., Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 57–103. 61 Maier, Transformations of Territoriality; Gabriele Metzler, Probleme politischen Handelns im Übergang zur Zweiten Moderne. Krisendiskurse und die Neuausrichtung der Institutionen in den 1970er Jahren, in: Ulrich Beck / Martin Mulsow (Hg.), Vergangenheit und Zukunft der Moderne, Frankfurt am Main 2014, S. 232–272; Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt am Main 2016. 62 Jean Fourastié, Les trentes glorieuses ou la révolution invisible de 1946 à 1975, Paris 1979; Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014; Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl; Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom; Sassoon, One Hundred Years, S. 445–644, Zitat S. 446.

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Manteuffel beschrieben. Lutz Raphael hat zudem jüngst detailliert die konkreten Folgen dieser Entwicklung für die Arbeitsbeziehungen, den Arbeitsalltag und die Lebenswelt der Industriearbeiterschaft in Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Der Strukturwandel führte zu einer Beschäftigungskrise, zum Mitglieder- und Einflussverlust der Gewerkschaften und zu einem Rückzug der Arbeiterschaft »aus dem gesellschaftlichen und politischen Feld.«63 Die sozialdemokratischen Vorstellungen von der reformerischen Selbststeuerung einer Gesellschaft gerieten in eine Krise. Soziale Statussicherheit und soziale Gleichheit wurden als Ziele der Sozialpolitik allmählich wieder aufgegeben, die sozialen Leistungen abgebaut – wenn auch in der Bundesrepublik Deutschland zunächst deutlich zögerlicher als in Groß­ britannien.64 Die folgende Deregulierung der Waren- und Finanzmärkte und die zunehmende Konkurrenz auf dem Weltmarkt führten zum Ende des keynesianischen Interventions- und Wohlfahrtsstaats, an dessen Stelle der »neoliberale Wettbewerbsstaat« trat.65 Die sozialen Sicherungssysteme wurden umgebaut, der Wohlfahrtsstaat und seine »Solidarinstitutionen« ausgehöhlt.66 An die Stelle der Gesellschaft als Solidargemeinschaft sollte das Individuum und an die Stelle des Staates der Markt treten. Margaret Thatchers notorischer Ausspruch »There is no such thing as society«67 zielte ja genau auf dieses ›sozialinterventionistische‹ Verständnis von Gesellschaft. Die steigende Arbeitslosigkeit und die gleichzeitig nachlassende soziale Absicherung führten nicht nur zu einem Anstieg der materiellen Ungleichheit in den Gesellschaften Westeuropas, sondern auch zu ungleicher Teilhabe: Die Chancen zur tatsächlichen Ausübung der formalen sozialen und politischen Rechte und der Zugang zu Bildung und Kultur waren zunehmend ungleich verteilt.68 Lutz Raphael spricht von einer »Krise der Sozialbürgerschaft«. Das Ergebnis war die »Erosion demokratischer Beziehungsgleichheit«.69

63 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 243. 64 Dominik Geppert, Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der bri­ tischen Tories 1975–1979, München 2002; Almuth Ebke, The Party is over? Britische Wirtschaftspolitik und das Narrativ des »Decline«, Frankfurt am Main 2012. 65 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; Bob Jessop, The Future of the Capitalist State, Cambridge 2002, S. 55 f.; Eric Hobsbawm, The Age of Extremes. A History of the World, 1914–1991, New York 1994, S. 405. Zum Begriff des Neoliberalismus bzw. des »Wettbewerbsstaats« u. a.: Joachim Hirsch, Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin 1995; Wendy Brown, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2018. 66 Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013; vgl. auch die Rezension von Stephan Lessenich in: H-Soz-Kult, URL: , 26.11.2013. 67 Margaret Thatcher, Interview for Woman’s Own, URL: https://www.margaretthatcher. org/document/106689, 23.09.1987 (aufgerufen am 28.03.2020). 68 Sassoon, One Hundred Years, S. 448 f. 69 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 237–246, besonders S. 243.

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Diese Entwicklungen wurden seit den 1990er Jahren jedoch nicht mehr in erster Linie als volkswirtschaftliches Problem und als Folge nationalen Regierungshandelns erlebt. Vielmehr erschien der Staat hilflos gegenüber multinationalen Großunternehmen, die ihm keine Steuern mehr zahlten und nicht an die Tarife und Arbeitsrecht des Landes gebunden waren; ebenso gegenüber einem transnationalen, digitalen und damit ortlosen Finanzmarktkapitalismus, der von nationalen Regierungen nicht mehr kontrolliert werden konnte und keinerlei soziale Verantwortung mehr hatte. Der Wandel wurde als Folge der »Globalisierung« erlebt. Dieser Begriff bezeichnet grundsätzlich »Aufbau, […] Verdichtung und […] zunehmende Bedeutung weltweiter Vernetzung«.70 Spezifisch ist damit meist ein ganzes Bündel an ökonomischen und kulturellen Verflechtungsprozessen gemeint. Jan Eckel rät zu Recht dazu, dieses Faktorenbündel nicht pauschal als Globalisierung zu bezeichnen, sondern die strukturellen Veränderungen jeweils zu benennen, die durch die wachsende globale Verflechtung verursacht werden und die der Wahrnehmung von »Globalisierung« zugrunde liegen.71 Dazu gehören die Verlagerung bzw. Transnationalisierung von industrieller Produktion und Arbeitsplätzen, die wachsende Mobilität und die zunehmende Migration, die Deregulierung der Finanzmärkte sowie die Denationalisierung von Staatlichkeit und die Zunahme von Governance-Strukturen, in denen nationale Regierungen nicht mehr die alleinigen Akteure sind. Diese strukturellen Faktoren reichen zum Teil deutlich weiter zurück als die Rede von der »Globalisierung«.72 Zum andern bezeichnet »Globalisierung« jedoch einen Diskurs, d. h. den konzeptionellen Rahmen, innerhalb dessen dieser strukturelle Prozess des Wandels reflektiert wird und der seit den 1990er Jahren Verbreitung gefunden hat. Dieser Diskurs beerbt die gedachte Ordnung des Nationalen und ist selbst das Ergebnis des Wandels, den ich hier beschreibe.73 Seit den späten 1990er Jahren mehrten sich die Stimmen, etwa in der Politikwissenschaft, der Soziologie und vereinzelt auch unter Historikern, die beklagen, dass die Globalisierung den Nationalstaat bedrohe.74 Sie erscheint hier als 70 Jürgen Osterhammel / Niels Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 24; James N. Rosenau, The Study of World Politics, London 2006, S. 1. 71 Jan Eckel, »Alles hängt mit allem zusammen.« Zur Historisierung des Globalisierungsdiskurses der 1990er und 2000er Jahre, in: Historische Zeitschrift 307 (2018), S. 42–78. 72 Für die Vorgeschichte seit 1800 siehe: Christopher A.  Bayly, The Birth of the Modern World, 1780–1914. Global Connections and Comparisons, Blackwell 2004; ders., »Archaische« und »moderne« Globalisierung in Eurasien und Afrika, ca. 1750–1850, in: Sebastian Conrad u. a. (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, S. 81–108; Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013. 73 Jürgen Osterhammel, Globalisierungen, in: ders. (Hg.), Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart, München 2017, S. 12–41. Siehe auch Arnason, Nationalism, Globalization and Modernity; Paul James / Manfred B. Steger, A Genealogy of ›Globalization‹. The Career of a Concept, in: Globalizations 11/4 (2014), S. 417–434. 74 Habermas, Postnationale Konstellation, S. 94; ders., Jenseits des Nationalstaats? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung, in: Ulrich Beck (Hg.),

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von außen kommende Bedrohung, die zum Absterben der nationalstaatlichen Ordnung zu führen schien. Vor allem die wirtschaftliche Globalisierung, die Deregulierung der Waren- und Finanzmärkte und die Konkurrenz auf dem Weltmarkt schienen die nationalen Regierungen ihrer Steuerungsinstrumente zu berauben: Der Staat habe dadurch seine Handlungsfähigkeit verloren, sowohl auf der Ebene der internationalen Politik als auch in der Innen- und Sozialpolitik. Zugleich schien seine Integrationskraft gegenüber lokalen, regionalen und ethnischen Identitäten zu schwinden.75 Auch die Demokratie schien bedroht, die nur im Rahmen des Nationalstaats möglich schien.76 Tatsächlich handelte es sich weniger um einen Verlust an staatlichem Handlungsspielraum als um eine Transformation von Staatlichkeit, die genau diese Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen globaler Verflechtung erhalten sollte. Ein guter Teil dessen, was als ›Globalisierung‹ bezeichnet wird, ist das Produkt gezielten staatlichen Handelns.77 Iversen und Soskice argumentieren sogar, dass der kapitalistische demokratische Staat durch die Globalisierung gestärkt worden sei.78 Im Kern geht es hier auch gar nicht um den Verlust staatlicher Handlungsfähigkeit, sondern um die schwindende Bedeutung der nationalen Ebene: Es geht um wirtschaftliche und gesellschaftliche Denationalisierung. »Denationalisierung« sei, so Michael Zürn, der »präzisere[.] Begriff« für Globalisierung. Gesellschaftliche Denationalisierung »hebt generell die Kongruenz der sozialen

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Politik der Globalisierung, Frankfurt am Main 1998, S. 67–84; Edgar Grande, Globalisierung und die Zukunft des Nationalstaats, in: Ulrich Beck / Wolfgang Bonß (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt am Main 2001, S. 261–275; Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats; Maurizio Bach (Hg.), Der entmachtete Leviathan. Löst sich der souveräne Staat auf?, Baden-Baden 2013; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 32002, S. 535. Stephen D. Krasner, Power, The State and Sovereignty, London 2009; Fritz W. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, in: Beate Kohler-Koch (Hg.), Staat und Demokratie in Europa, Opladen 1992, S. 93–115; Gunnar Folke Schuppert / Michael Zürn (Hg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, Wiesbaden 2008; Robert Sykes u. a. (Hg.), Globalization and European Welfare States. Challenges and Change, New York 2001. Habermas, Postnationale Konstellation; Maier, Leviathan 2.0. Saskia Sassen, A Sociology of Globalization, New York 2006; dies., Territory. »Over time the advanced capitalist democratic state has paradoxically become strengthened through globalization […].« Torben Iversen / David Soskice, Democracy and Prosperity. Reinventing Capitalism through a Turbulent Century, Princeton 2019, S. 3; Linda Weiss, The Myth of the Powerless State. Governing the Economy in a Global Era, Cambridge 1998; Gunnar Folke Schuppert, Verflochtene Staatlichkeit. Globalisierung als Governance-Geschichte, Frankfurt am Main 2014; Stephan Leibfried / Michael Zürn (Hg.), Transformationen des Staates?, Frankfurt am Main 2006; Renate Mayntz, Die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats in Zeiten der Globalisierung, in: dies. (Hg.), Über Governance. Institutionen und Prozesse politischer Regelung, Frankfurt am Main 2009, S. 53–64; Georg Sørensen, The Transformation of the State. Beyond the Myth of Retreat, Houndmills 2004, S. 1–22.

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und politischen Räume auf.«79 So könnten Entscheidungen nicht mehr verbindlich umgesetzt werden; zugleich verringere die Schwächung des Sozialstaats die Chancen Einzelner zur Teilhabe an Gesellschaft und Demokratie. Die demokratische Legitimation von Herrschaft und die demokratische Willensbildung waren seit dem 19. Jahrhundert an den territorialen Nationalstaat gekoppelt gewesen. Seit den 1980er, und verstärkt in den 1990er Jahren, geriet der nationale Denk- und Handlungsrahmen, der Staat und Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert definiert und miteinander verbunden hatte, in eine Evidenzkrise. Daran hatten das Ende des Kalten Krieges mit seinen politischen, geostrategischen und ideellen Umbrüchen und die vertiefte europäische Integration seit dem Vertrag von Maastricht ebenso ihren Anteil wie die strukturellen, kulturellen und diskursiven Globalisierungserfahrungen. Jedenfalls hörte die Annahme, Staat, Gesellschaft und Wirtschaft seien nur im territorialen Rahmen des Nationalstaats, der Nationalgesellschaft und der Volkswirtschaft denkbar, seit 1990 auf, selbstverständlich zu sein. Die kulturelle Identität der Einzelnen wurde nicht mehr selbstverständlich über das Konstrukt der Nation definiert. Damit begann die ideelle Grundlage des Gesellschaftskonzepts und des Demokratieverständnisses zu erodieren, auf denen das Ordnungsmodell der ›Boomphase‹ beruht hatte. Ulrich Beck hat Globalisierung folgendermaßen definiert: »[Es wird] eine zentrale Prämisse der ersten Moderne umgestoßen, nämlich die Vorstellung, in geschlossenen und gegeneinander abgrenzbaren Räumen von Nationalstaaten und ihnen entsprechenden Nationalgesellschaften zu leben und zu handeln.«80 So erscheint die schwindende Gültigkeit und Erklärungskraft dieser Vorstellung  – die Denationalisierung des Staats- und Gesellschaftsbegriffs  – als das eigentliche Problem für das konsensliberale Ordnungsmodell, das Demokratie, Sozialstaat und Gesellschaft ausschließlich im nationalen Rahmen gefasst hat. Die konsensliberale Ordnung war geprägt durch eine enge konzeptionelle Verbindung von liberaler, repräsentativer Demokratie, keynesianischer Wirtschaftssteuerung, Sozialstaatlichkeit und territorialem Nationalstaat. Und es ist genau diese Verbindung, die sich auflöst. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Entwicklung waren dabei zuerst zu erkennen. Aber es handelt sich um eine Kaskade des Wandels, und die Auswirkungen haben mittlerweile die Ebene der Gesellschaftskonzepte und der politischen Ordnungsvorstellungen erreicht. Dies wirkt sich auf die Frage nach dem Wesen von Demokratie aus und darüber hinaus auch auf den Begriff der Gesellschaft und auf die Wahrnehmung der Konflikte, die es in einem Gemeinwesen auszutragen gilt. Trotz der Zunahme sozialer und materieller Ungleichheit sind Vorstellungen von Klassenkonflikten im Abnehmen. Stattdessen werden in vielen Ländern des Westens gesellschaftliche Konflikte als kulturell und ethnisch begründet wahrgenommen.81 Vor79 Zürn, Denationalisierung und die Krise des Regierens, S. 9–11. 80 Ulrich Beck, Was ist Globalisierung, Frankfurt am Main 1997, S. 44. 81 Für das britische Beispiel siehe Almuth Ebke, Britishness. Die Debatte über nationale Identität in Großbritannien, 1967 bis 2008, Berlin / Boston 2019.

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stellungen von ethnischer und kultureller Homogenität überlagern die ökonomisch gedachten Interessengruppen, von denen Fraenkels Pluralismustheorie der 1960er Jahre ausging. Auf die Debatte der 1970er und 1980er Jahre um die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft ist mittlerweile eine Debatte um die Bedeutung des Gesellschaftsbegriffs gefolgt, denn der national gefasste Gesellschaftsbegriff des Konsensliberalismus ist nicht mehr selbstverständlich. Dieser war ambivalent gewesen insofern, als der Nationsbegriff zwischen der politischen Gemeinschaft der Staatsbürgernation und einer ethnisch-kulturellen Abstammungsgemeinschaft nicht differenziert hatte; aufgrund einer im Grunde für selbstverständlich genommenen, aber nur postulierten, kulturellen Homogenität hatte er Spielraum für die liberale, pluralistische Auslegung einer Gesellschaft der Staatsbürger geboten, in der Interessengegensätze ökonomischer Natur waren und sich daher im Rahmen der parlamentarischen Repräsentation und der konsensualen Arbeitsbeziehungen aushandeln ließen. Dieses ›klassisch‹ liberale Gesellschaftsbild, das dem repräsentativen Demokratiemodell zugrunde liegt, wird in westlichen Gesellschaften jedoch zunehmend in Frage gestellt und durch alternative Auslegungen herausgefordert. Dazu gehört zum einen die Vorstellungen eines konsensdemokratischen »Volkswillens«: Sogenannte rechtspopulistische Parteien verfolgen Strategien, die den liberaldemokratischen, parlamentarischen Verfahren der politischen Willensbildung die Legitimation absprechen. Dieses Demokratieverständnis geht von der Grundidee eines »Volkswillens« aus, der in der politischen Entscheidungsfindung zum Ausdruck kommt und diese legitimiert.82 Klassischer Vorläufer ist die auf Rousseau zurückgehende ›Konsensdemokratie‹. Diese gründet die demokratische Willensbildung auf die Vorstellung eines einheitlichen Volkswillens (la volonté générale), der nicht durch Repräsentation im Parlament vermittelt werden könne, sondern unvermittelt, direkt zum Ausdruck gebracht werden müsse.83 Der Gesellschaftsbegriff, der diesem Demokratiemodell zugrunde liegt, geht von einer ethnisch oder kulturell homogenen Gesellschaft aus, die deswegen auch gleiche Interessen habe. Gesellschaftliche Konflikte werden hier als dysfunktional betrachtet und sollen (möglichst endgültig) überwunden werden. Die Regierung habe die Interessen »des« Volkes zu vertreten, die mit ihren eigenen identisch seien. Parlamentarischer Interessenausgleich und die Repräsentation der Wählerinnen und Wähler durch Abgeordnete werden von Vertretern populistischer Demokratievorstellungen dagegen als Entmündigung des Volkes und gegebenenfalls auch als Missachtung des Volkswillens, als »undemo­k ratisch« kritisiert. Eine davon deutlich verschiedene Variante demokratischer Herrschaftslegitimation ist zum andern die sogenannte Identitätspolitik: Hier wird der Topos 82 Michael Wildt, Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 22017. 83 Andreas Kost, Direkte Demokratie, Wiesbaden 2008; Iring Fetscher, Art. »Volonté géné­rale; Volonté de tous«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel ­1971–2007, Spalte 1141 f.

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der »Minderheit« in den Vordergrund der Gesellschaftsvorstellungen und der politischen Ordnung gestellt.84 Ausgehend von Erfahrungen der Diskriminierung und der Exklusion, zunächst vor allem in den USA seit den 1960er Jahren – im African American Civil Rights Movement, in der Frauenbewegung der 1970er und im Gay Movement der 1970er und 1980er Jahre – verfestigte sich der Eindruck, durch die Mehrheitsgesellschaft unterdrückt und ausgegrenzt zu werden. Gesellschaft wird als fragmentiert erlebt, das Gemeinwohl ist quasi atomisiert. Hier formierte sich ein Politikmodell, in dem Gruppen versuchen, der Regierung und der Mehrheitsgesellschaft die Zuerkennung ihrer politischen Rechte abzutrotzen. Eine zentrale Rolle in diesen Konzepten politischer Ordnung spielt der Begriff der Identität, die sich in dieser Lesart durch spezifische, unveränderliche Merkmale der Gruppenangehörigen konstituiert. Die politischen Ziele und das politische Handeln des Individuums leiten sich aus der Gruppenzugehörigkeit ab, die nicht frei wählbar oder veränderbar ist. Identitätspolitik lässt sich also als Versuch werten, Differenz innerhalb der politischen Ordnung abzubilden. Anstelle der parlamentarischen (Parteien-)Demokratie fordern die Vertreter dieses Modells daher eine andere Art von Repräsentation: einen Proporz oder eine Quote, die für angemessene Abbildung der eigenen Gruppe im politischen Willensbildungsprozess sorgt. Dies stellt jedoch ein Grundprinzip der liberalen Demokratie in Frage, da es sich nicht mehr um eine Aushandlung politischer Positionen auf der Suche nach dem Kompromiss handelt. Die im eigentlichen Sinne politische Auseinandersetzung, in der unterschiedliche Meinungen auf dem ›Markt der Meinungen‹ ausgehandelt werden, ist also stillgestellt.85 Beide Modelle demokratischer Willensbildung sind seit Mitte der 2010er Jahre in den westlichen Ländern im Aufschwung begriffen. Sie stellen Gegenentwürfe zum Konzept der pluralistischen Gesellschaft und zur repräsentativen Demokratie dar. Vor allem aber sind diese Entwürfe politischer Ordnung ein Symptom für einen Wandel des Gesellschaftsbegriffs. Zum einen wird hier Ungleichheit grundsätzlich anders gefasst als in der liberaldemokratischen Ordnung: Fragen der Teilhabe und Statusungleichheit innerhalb einer politischen Gemeinschaft werden nicht mehr in erster Linie auf materielle Ungleichheit zurückgeführt, sondern auf die Zugehörigkeit zu essentialistisch gefassten, kulturell oder ethnisch definierten Gruppen. Zum andern wird der Gesellschaftsbegriff losgelöst vom Konzept der Nation als Staatsbürgergemeinschaft, als 84 Winfried Thaa, Liberale Identitätspolitik und die Kulturalisierung sozialer Ungleichheit, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 10 (2018), S. 38–42; Artikel, identity politics, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/identity-politics/ (Version vom 23.3.2016), sowie das Aus Politik und Zeitgeschichte-Heft 09–11 (2019) zum Thema Identitätspolitik, hier besonders Jens Kastner / Lea Susemichel, Zur Geschichte linker Identitätspolitik, S. 11–17. Zur Kritik: Paul Gilroy, Against Race. Imagining Political Culture beyond the Color Line, Cambridge 2000. 85 Winfried Thaa, Die Repräsentation von Differenz als Voraussetzung politischen Handelns, in: Thorsten Thiel / Christian Volk (Hg.), Die Aktualität des Republikanismus, Baden-Baden 2016, S. 73–93.

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politische Gemeinschaft. Homogenitätsvorstellungen und die Ablehnung der liberalen Demokratie sind in der Geschichte des Nationalstaats nicht neu. Die Ambivalenz des Nationsbegriffs – als politische und als ethnische oder Abstammungs-Gemeinschaft – und das Streben nach Eindeutigkeit bei der Bestimmung der Zugehörigkeit zu Nation und Gesellschaft haben seit dem 19. Jahrhundert zu exklusiven und radikal antidemokratischen Varianten politischer und gesellschaftlicher Ordnung geführt.86 Die Phase des »Booms« in Westeuropa, insbesondere jedoch die Phase der konsensliberalen Ordnung der 1960er und 1970er Jahre, war von der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Stalinismus geprägt und bildete eine politische Ordnung aus, die versuchte, innerhalb eines Regelwerks aus Grundrechten und Formen des politischen Interessenausgleichs ein freies Spiel der Kräfte zu ermöglichen. Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft wurde als fehlende Teilhabechancen gesehen, die auf zuvörderst materieller, aber auch rechtlicher Differenz beruhten. Daher wurde versucht, die Teilhabechancen des Einzelnen durch Sozialpolitik und Gesellschaftsreform zu erhöhen. Zentral dafür war jedoch immer der nationale Rahmen. Und genau dieser verlor nach 1990 seine Selbstverständlichkeit und zunehmend auch seine Bedeutung als einzig denkbare Form staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung.

5. Fazit Auf den Strukturbruch der 1970er Jahre, den »revolutionären« Wandel der ökonomischen und sozialen Strukturen im Übergang von der Industrie- zur postindustriellen Gesellschaft,87 folgte seit den 1990er Jahren ein ebenso tiefgreifender Wandel der Werteordnung, der den liberalen Grundkonsens, die Normen und kulturellen Orientierungsmuster der westeuropäischen Gesellschaften in Frage stellte. Ein wesentlicher Aspekt dieses Wertewandels lag in der Erosion der nationalen Ordnung, die ein enorm wirkmächtiges ›soziales Imaginäres‹ war, dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert lagen und dessen liberaldemokratische Ausprägung just in der Zeit des »Booms« ihren Höhepunkt hatte. Diese gedachte Ordnung des Nationalen bestand in der »seit dem neunzehnten Jahrhundert so wirkungsmächtigen Vorstellung, Staatlichkeit, aber auch gesellschaftliche Existenz, wirtschaftliche Aktivität und Kultur seien in Gestalt des Nationalstaats, als Nationalgesellschaft, Nationalökonomie und Nationalkultur an die Idee, vor allem aber an den abgrenzbaren, den geschlossenen Raum einer Nation gebunden.«88 Diese Vorstellung verliert seit den 1990er Jahren an Evidenz. Dies 86 Angster, Staatsbürgerschaft; Bielefeld, Nation und Gesellschaft; Wildt, Volk. 87 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 10 f. 88 Eckart Conze, Nationale Vergangenheit und globale Zukunft. Deutsche Geschichtswissenschaft und die Herausforderung der Globalisierung, in: Jörg Baberowski u. a., Geschichte ist immer Gegenwart. Thesen zur Zeitgeschichte, München 2001, S. 43–65, hier S. 45.

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wirkt sich auf den nationalen Denkrahmen staatlichen Handelns aus, vor allem aber auf das Konzept von Gesellschaft als geschlossener, ethnisch und kulturell homogener Einheit politischen Handelns. Diese konzeptionellen Grundlagen der Werteordnung des Boomzeitalters erodieren aufgrund struktureller Entwicklungen; zugleich und in Reaktion auf diese wandelt sich das ›soziale Imaginäre‹: »Globalisierung« dient nun als Deutungsmuster des Wandels; sie wird als Bündel von wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren, als Entgrenzung und Entterritorialisierung von Wirtschaft und Kultur erlebt und als Bedrohung des nationalen Rahmens von Staatlichkeit und Gesellschaftsordnung gedeutet.89 Die gegenwärtigen Konflikte um Formen demokratischer Willensbildung und um Fragen der Zugehörigkeit zur Gesellschaft, wie sie etwa im Streit um die »offene« oder »geschlossene« Gesellschaft oder um die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie ausgetragen werden, machen Verunsicherungen und die Suche nach neuen, allgemeinverbindlichen Konzepten sichtbar. So lässt sich derzeit erneut eine Phase des Übergangs beobachten, in der die zentralen Ordnungsvorstellungen, die Spielregeln gesellschaftlicher Willensbildung und der Begriff von Gesellschaft selbst Gegenstand des Konflikts und der Aushandlung geworden sind.90

89 Eckel, »Alles hängt mit allem zusammen.«; Habermas, Postnationale Konstellation. 90 Nassehi, Muster.

Ulrich Herbert

Weltanschauungseliten Radikales Ordnungsdenken und die Dynamik der Gewalt

Im zeitlichen und politischen Umfeld des Ersten Weltkrieges entstanden in Deutschland und Russland zwei ideologisch konträre, wenngleich in Vielem auch ähnliche politische Radikalbewegungen, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg eskalierten und in den 1930er und 1940er Jahren zu terroristischen Regimen ohnegleichen wurden. Beide entstanden als Reaktionen auf die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg sowie auf die Krise und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft der aufsteigenden Industrieepoche, obwohl zumindest in Russland eine solche, von einzelnen Entwicklungsinseln abgesehen, real noch gar nicht existierte. Gemeinsam war ihnen, dass sie die vielfältigen und komplexen Herausforderungen und Problemlagen der modernen Industriegesellschaft auf ein dahinter liegendes Grundprinzip reduzierten und auf dieser Grundannahme ein ideologisches Gebäude errichteten, das mit dem Anspruch auftrat, die moderne Welt zu enträtseln und daraus verbindliche Leitlinien sozialen und politischen Handelns zu entwickeln, auf denen eine neue, vollständig andere Gesellschaftsordnung errichtet werden sollte. Als »Weltanschauungseliten« bezeichnen wir diejenigen Gruppen, die aufgrund ihrer Bindung an diese Grundüberzeugung ein politisch-ideologisches Wächteramt übernahmen und ihr eigenes Handeln durch den Bezug auf diese Grundwahrheiten legitimierten.1 Die Krise der bürgerlichen Gesellschaft in den entwickelten Industriestaaten des Westens kann um die Jahrhundertwende als eine der kräftigsten Empfindungen im Publikum begriffen werden. Dass die »moderne Gesellschaft« eine Sackgasse sei, dass sie Massenarbeitslosigkeit und Verelendung, Verstädterung und Kriminalität, Auflösung der tradierten Strukturen und Verbindungen, Individualisierung und Vereinzelung, Verlust der überkommenen Wert- und Moralvorstellungen mit sich gebracht habe, entsprach den Erfahrungen oder doch der Empfindung außerordentlich weiter Kreise, wenngleich die Erklärungen, die für diese fundamentalen Krisenerscheinungen gefunden wurden, sich manifest unterschieden.2 1 Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaften im NS -Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5–40. 2 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 25–58; ders., Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal

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Inwieweit aber sind die hier in Rede stehenden radikalen Bewegungen in Deutschland und Russland als Ausdrucksformen der Kritik an der bürger­ lichen Gesellschaft zu verstehen und auf dieser Ebene vergleichbar? Der Größe und Umfassendheit der durch die Industrialisierung hervorgerufenen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen entsprechend ging die sich hierbei entwickelnde Radikalkritik davon aus, dass der Entwurf der bürgerlichen Gesellschaft, der, verkürzt gesagt, auf den Ideen von 1789 und 1848 aufruht, vollkommen gescheitert sei und dass ihm ein vollständig neuer Entwurf entgegengestellt werden müsse. In stark abstrahierter Form könnte man sagen, dass der rechtsradikale Gegenentwurf zu 1789 auf dem Grundsatz von Abstammung und Nation beruhte und nicht das Individuum, sondern das »Volk« in einer Mischung aus »blutlicher« und kultureller Definition zum Subjekt der Geschichte erklärte. Demgegenüber basierte der linksradikale Gegenentwurf auf der Kategorie der sozialen Ungleichheit und des Internationalismus und erklärte die Klassen allgemein, aktuell die Arbeiterklasse zum Subjekt der Geschichte. Beiden gemeinsam war die Überzeugung, dass sie mithilfe dieses Instrumentariums nicht nur die Phänomene der Krise der bürgerlichen Gesellschaft zu erklären imstande seien, sondern darüber hinaus die diesen Phänomenen zugrundeliegenden geschichtlichen oder natürlichen Gesetze erkannt hätten. In Deutschland griff ein eskalierender Nationalkonservatismus seit den 1890er Jahren und dann vor allem nach der Jahrhundertwende diese Krisenphänomene auf – als Erfahrung des Verlusts vormoderner Identitäten und der Irritation durch die Dynamik des Industrialismus – und versuchte sie zu erklären: durch Rückgriffe auf vormoderne Leitbilder wie die ständisch-autoritäre Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, durch die Zuweisung von Schuld an einzelne ethnische oder politische Gruppen, durch die Beschwörung einer spezifisch deutschen, von derjenigen des Westens abweichenden Sonderentwicklung und anderes. Im Zuge der weiteren Entwicklung bis zur Jahrhundertwende erfuhren diese Einzelelemente allmählich eine ideologische Konsolidierung. Ein Prozess der Systematisierung und Verwissenschaftlichung setzte ein, den man als allmähliche Klärung und Vereinheitlichung ideologischer Grundpositionen der deutschen Rechten verstehen kann. Insofern ist die Aussage, die NS -Ideologie sei eklektisch und nicht originell, keine überzeugende Kritik. Die politischen Überzeugungsgehalte des Nationalsozialismus sind vielmehr als das Ergebnis eines langen ideologischen Konsolidierungs- und Radikalisierungsprozesses im Lager des radikalen Nationalkonservatismus zu verstehen und entfalteten von hier aus ihre Anziehungskraft.3 of Modern European History 5 (2007), S. 5–21. Erste Überlegungen zum Vergleich zwischen Stalinismus und NS -Regime: Ders., National Socialist and Stalinist Rule. The Possibilities and Limits of Comparison, in: Manfred Hildermeier (Hg.), Historical Concepts between Eastern and Western Europe, New York 2007, S. 5–22. 3 Gerhard Schulz, Der Aufstieg des Nationalsozialismus. Krise und Revolution in Deutschland, Frankfurt am Main 1975; Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland, 1918–1932, 2 Bde., Darmstadt 31989.

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In Russland verlief dieser Prozess anders insofern, als eine entfaltete bürgerliche Gesellschaft dort gar nicht gegeben war und die Essentials der marxistischen Kritik an ihr noch gar nicht griffen. Nun ist dies eines der Spezifika marxistisch-leninistischer Regimes im 20. Jahrhundert insgesamt, die sich ja nur in vormodernen Gesellschaften von Kuba bis China haben entwickeln können und in entfalteten Industriestaaten nicht oder nur als Besatzerregimes etabliert werden konnten. Die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft wirkte im Russland der Jahrhundertwende in gewissermaßen indirekter Weise, indem die Kritik an den autoritären feudalen und bürokratischen Strukturen, etwa des Zarismus, in die Form der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft gegossen wurde, dabei Forderungen des entstehenden städtischen Proletariats mit denjenigen der radikalen Bauernbewegungen verknüpfte und so jene eigentümlich radikale Form erhielt, die sie von den parallelen Entwicklungen in der westlichen Linken unterschied. Der praktische Bezugspunkt der linksradikalen Agitation in Russland war die Armut, das Elend, die Unterdrückung der Massen unter dem Zarismus. Der theoretische Bezugspunkt der russischen Revolution aber war die entfaltete bürgerliche Gesellschaft, war vor allem Deutschland, und die Frage Lenins »Dürfen wir die Revolution machen?« hat hier ihren Zusammenhang.4 Gleichwohl – der Ansatzpunkt der Bolschewiki ähnelte doch in vielem auch dem der Rechten in Deutschland; was angesichts der politischen Sozialisation der Führer der Bolschewiki im Gravitationsfeld der westlichen Intelligenz nicht überrascht. Die Überzeugung, dass es mit der bürgerlichen Gesellschaft westlichen Zuschnitts zu Ende gehe, speiste sich aus den ja auch von der Rechten wahrgenommenen Krisenerscheinungen in den westeuropäischen Gesellschaften, und hier vor allem der deutschen, in den drei Dekaden vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Und dass diese Krise so umfassend, so radikal sei, dass sie nur durch revolutionäre Umwälzungen von ähnlicher Wucht überwunden werden könne, wie sie die bürgerliche und industrielle Revolution selbst mit sich gebracht hatte, war hier wie dort eine gefestigte Überzeugung, die der Bereitschaft zur Gewalt, zur Rücksichtslosigkeit eine historisch-politische Legitimation verlieh. Anders als die Rechte im Deutschland der Vorkriegsjahrzehnte verfügte die Linke, auch die in der Sowjetunion, aber über einen theoretischen Gesamtentwurf in Form eines popularisierten Marxismus; und da die von Marx prognostizierte Zusammenbruchskrise der kapitalistischen Staaten spätestens mit dem Ersten Weltkrieg tatsächlich einzutreffen schien, wandelte sich der Marxismus, insbesondere in der von Lenin besorgten bolschewistischen Reduktion, endgültig von einer historisch-kritischen Theorie zu einer Welterklärungsmaschine mit außerordentlicher Suggestionskraft.

4 Ian Kershaw / Moshe Lewin, Afterthoughts, in: dies. (Hg.), Stalinism and Nazism. Dictator­ ships in Comparison, Cambridge 1997, S. 343–358; Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn 2006.

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Hier ist nun eingewandt worden, vor allem von Lutz Raphael, dass die Explosion der Moderne um 1900 keineswegs jenes breite Echo erschrockener Desorientierung hervorgerufen habe. Irritation und Wandlungsdynamik seien vielmehr nicht durch die Basisprozesse entstanden, sondern durch deren diskursive Thematisierung.5 Er folgt hier Luhmanns These, wonach weniger die Anpassungen an die Dynamik von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, sondern vielmehr der »Möglichkeitsüberschuss« an Handlungsoptionen in der Moderne die Zeitwahrnehmung und die Gestaltung der Ordnungen prägten. Der Beweis, ob es nur der Rauch oder nicht auch das Feuer gewesen ist, der Aufregung und Schock verursacht hat, ist schwer zu erbringen, und in der austarierenden Bewertung beider Faktoren scheinen mir derzeit kulturelle Aspekte jedenfalls eher zu stark als zu schwach betont zu werden. Betrachtet man aber nur die Größenordnungen, in denen sich zwischen 1880 und 1914 in Kontinentaleuropa westlich von Polen und nördlich des Balkan Landbevölkerung in städtische und industriell geprägte Bevölkerung verwandelte, ist der Einwand wenig plausibel. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung dieser Großregion, in vielen Gegenden mehr als die Hälfte, hat in diesen Jahren eine vollständige Verwandlung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen ebenso wie ihrer sozialen und kulturellen Verortung hinnehmen müssen. Die Anpassungsund Aushandlungsleistungen, die mit diesen Wandlungsprozessen verbunden waren, sind enorm und beschreiben das gesamte Feld der politisch-ideologischen Suche nach angemessenen, die fatalen Konsequenzen dieser Prozesse zumindest mildernden Ordnungskonzepten. Bei allen Eigendynamiken ideologischer Prozesse ist der Bezug auf diese grundstürzenden Entwicklungen jahrzehntelang als leitendes Motiv identifizierbar. Dass nicht die rabiate Veränderung der Lebensumstände von mehr als einem Drittel der Bevölkerung zu massiven Reaktionen geführt haben soll, sondern allein das Reden darüber, ist nicht schlüssig. Beiden Entwicklungen, derjenigen in Deutschland wie der in Russland, war aber eigen, dass die radikalen Antworten auf die Krise der jeweils vorgefundenen Gesellschaft in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg im Grunde Randerscheinungen geblieben waren. Zwar war in Russland die Unzufriedenheit mit dem zaristischen System weit verbreitet, aber die Bolschewiki blieben eine Minderheit, die sich im Januar 1918 nur durch die gewaltsame Zerschlagung der Nationalversammlung durchsetzte, bei deren Wahl sie nur drittstärkste Kraft geworden war. Zwar war in Deutschland das Krisengefühl geradezu ein vorherrschendes Kennzeichen der Jahre vor dem Krieg, aber die radikalen Antworten von links wie von rechts waren auch hier diejenigen von Minderheiten, wenngleich die nationalistische Rechte vor allem in den Führungsschichten des Landes Anknüpfungs- und Verbindungspunkte besaß. 5 Lutz Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ute Schneider / Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt am Main 2008, S. 73–91.

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Erst durch den Ersten Weltkrieg wurden die Voraussetzungen geschaffen, dass diese radikalen Randerscheinungen zu dominanten Bewegungen und schließlich zu diktatorialen Regimen werden konnten. In Deutschland sind dabei drei Aspekte herauszuheben: Zum einen die massenhafte Gewalterfahrung im Krieg, die diese (jedenfalls im Innern) im Grunde doch eher friedliche Gesellschaft und ihre Formen der Konfliktaustragung manifest veränderte. Zweitens die Einbeziehung der Massen als politischer Faktor ersten Ranges und drittens die Niederlage selbst. Sie vor allem schien die Morschheit des alten Regimes und die Kernaussagen des rechtsradikalen Weltbilds zu bestätigen: innere Klassengegensätze statt Volksgemeinschaft als Ursache der Niederlage; die Niederlage gegenüber dem »Westen«, der die undeutschen Prinzipien von Parteiendemokratie und Internationalismus nach Deutschland brachte und hier in Verbindung mit den einheimischen Vertretern der verschiedenen Formen des Internationalismus (Sozialisten, Kapital, Juden, katholische Kirche) gegen die autochthon deutschen Interessen vorging; die Abtrennung von Gebieten mit deutscher Bevölkerung als Bestätigung des völkischen Volksgedankens, symbolisch verdichtet im Versailler Vertrag – und immer auch Antisemitismus als Integrations- und Beschleunigungsfaktor der verschiedenen Einzelelemente. Der Krieg hatte in den Augen auch solcher, die den Rechtsradikalen, den »Völkischen«, zuvor fern gestanden hatten, deren Hauptaussagen eine quasi empirische Validität verliehen, und erst dies kennzeichnete den tief greifenden Unterschied der deutschen gegenüber der Entwicklung in den Staaten des Westens, wo die ja gleichfalls vorhandenen rechtsextremen Potentiale eben nicht durch die Erfahrung der Niederlage und des Zusammenbruchs ihre umfassende Aufwertung und Bestätigung erhielten.6 Auch in Russland wirkte der verlorene Krieg in mancher Hinsicht als quasi empirische Bestätigung der radikalen Theoreme, die schon vorher im Schwange waren; vor allem in Bezug auf die Überholtheit des Zarismus und die Notwendigkeit einer grundstürzenden Veränderung. Dass sich in diesem Zusammenhang die Bolschewiki durchsetzten, war jedoch nicht Ausdruck ihrer ideologischen, sondern ihrer organisatorischen Stärke, die freilich auf der Überzeugungsgewissheit der Kader aufruhte. Für die weitere Entwicklung entscheidend aber war hier der Bürgerkrieg und die schließliche Durchsetzung derjenigen politischen Kraft, die sich als organisatorisch geschlossenste, ideologisch radikalste und herrschaftstechnisch modernste erwies. Der Bürgerkrieg selbst wirkte ähnlich wie die Erfahrung des Weltkrieges in Deutschland entzivilisierend und verrohend auf die russische Gesellschaft insgesamt, auf die kämpfende Jugend im Besonderen, so dass die Erfahrung von Gewalt als Erfolg versprechendes Mittel in der politischen Auseinandersetzung eine ganze Generation nachhaltig prägte.7 6 Stanley Payne, The Impact of World War I, in: ders., A History of Facism, 1914–1945, Madison 1995, S. 71–79. 7 Vgl. Markus Wehner, Stalinismus und Terror, in: Stefan Plaggenborg (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 365–390.

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In Deutschland war in den Jahren nach dem Kriege aufruhend auf den tradierten und sich allmählich konsolidierenden Vorstellungen der Rechten seit den 1890er Jahren insbesondere bei der bürgerlich-akademischen Jugend in Deutschland ein Gegenmodell zur liberalen Welt entwickelt worden, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges als offensichtlich gescheitert angesehen wurde. Dieses Gegenmodell, das auf Volk und Rasse statt auf die Rechte und die Würde des Individuums, auf politische Biologie, Antisemitismus und territoriale Expansion statt auf Toleranz, Internationalismus und konsensualen Interessenausgleich abhob, bot eine gedankliche Grundlage, die nicht nur die jüngsten historischen Entwicklungen zu erklären imstande schien, sondern auch tendenziell alle Probleme und Irritationen der modernen Welt auf ein dahinter stehendes Grundmuster zurückzuführen versprach. Durch einen solchen ideologischen Gesamtentwurf schienen nicht nur alle Probleme lösbar, sondern schnell lösbar, wenn nur die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt waren. Die Überzeugung, durch die Teilhabe an einer solchen Welterklärungslehre im Einklang mit den Gesetzen der Natur und der Geschichte zu stehen, verlieh den Anhängern dieser Bewegungen eine messianische Gewissheit und der politischen Praxis nach 1933 eine solche Dynamik, zugleich aber auch jene kennzeichnende Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Denn diese weltanschauliche Grundüberzeugung vermittelte den Protagonisten das Gefühl, zu größerer Härte und Rücksichtslosigkeit nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet zu sein – verstieße man doch durch Weichheit und Zurückhaltung gegenüber inneren und äußeren, politischen wie biologischen Gegnern nicht nur gegen die Interessen des eigenen Volkes, sondern gegen die »Gesetze der Natur«. Spätestens mit Beginn des Krieges rückte diese, von Krieg und revolutionären Nachkriegswirren geprägte Generation der bürgerlichen Jugend in die Führungspositionen des Regimes ein und nahm hier insbesondere im Terrorapparat des NS -Regimes führende Positionen ein. Hierzu gibt es in Russland interessante Parallelen. Zum einen kam mit den Bolschewiki eine Bewegung an die Macht, deren Weltbild einerseits durch ein als in sich geschlossen empfundenes Weltbild geprägt war. Die Faszination, die von der marxistisch-leninistischen Lehre ausging, bestand ja vor allem darin, nicht nur auf alle anstehenden Probleme eine bündige, aus den Haupt­ widersprüchen und der Geschichte ableitbare Antwort zu besitzen, sondern auch die Zukunftstendenzen mit wissenschaftlicher Genauigkeit vorausbestimmen zu können. Die hieraus gewonnene Überzeugung, auf der Seite nicht nur des moralisch Besseren zu stehen, sondern auch den Bewegungsgesetzen der Geschichte zu folgen, muss als Stimulans von ganz außerordentlicher Kraft, aber auch als Schutzschild gegen alle durch Betrachtung der Wirklichkeit aufkommende Zweifel und nicht zuletzt als beständiger Radikalisierungsfaktor angesehen werden. Zum anderen war zwar die erste Führungsgruppe des Bolschewismus noch durch Exil und eigene Erfahrungen mit einer friedlichen Welt geprägt; die Trägergeneration des Stalinismus jedoch nicht mehr. Sie war vielmehr vor allem im Bürgerkrieg politisch sozialisiert worden, in dem die

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Kombination aus weltanschaulicher Heilsgewissheit und Gewaltanwendung den Erfolg gebracht hatte.8 Die Existenz eines generationell relativ homogenen, durch spezifische Erfahrungen im Kontext von Krieg und Bürgerkrieg geprägten und hochgradig ideologisch aufgeladenen Führungsnachwuchses, der sich durch besondere Brutalität bei der Erringung des politischen Zieles auszeichnen konnte, kann für beide Regimes als ein wesentlicher und insbesondere für die Analyse der jeweiligen Terror-und Vernichtungspolitik bedeutsamer Faktor herausgestellt werden. Diese Kader waren von der Überzeugung beseelt, nun in sehr kurzer Zeit mit einer enormen Anstrengung Entwicklungen einleiten zu können, die viele, wenn nicht alle gesellschaftlichen Probleme auf einmal und für lange Zeit, wenn nicht für immer, lösen würden. Aufgrund der Herrschaft des Bolschewismus in Russland, insbesondere seit dem Beginn der stalinistischen Phase, und der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland, besonders seit Kriegsbeginn, erhielten sie auch die Gelegenheit, diese Vorstellungen an einflussreicher Position in Praxis umzusetzen. Kennzeichnend war in beiden Fällen die Überzeugung, mit den vermeint­ lichen Urhebern wahrgenommener Probleme auch die Probleme selbst verschwinden lassen zu können. Bei den deutschen Radikalnationalisten basierte das auf der Gewissheit, dass der als kulturell-biologischer Organismus wahrgenommene deutsche »Volkskörper« zum einen durch innere Degeneration, zum anderen durch den Einfluss negativer Elemente von außen gefährdet sei. Nachdem nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die politischen Widersacher in kurzer Zeit aus dem Weg geräumt waren, wurden zunächst die als »Schädlinge« apostrophierten Volksangehörigen (chronisch Kranke, »Asoziale«, »Gemeinschaftsfremde«) eingesperrt, seit 1939 dann auch umgebracht. Anschließend und in weitaus größerem Umfang diejenigen, die als »blutliche Gefährdung« der Deutschen von außen betrachtet wurden, vor allem die Juden, aber auch Zigeuner und Slawen.9 Das war keinesfalls ein selbstläufiger Prozess oder Ausdruck politischer Rivalitäten in den Führungsgruppen. Es bedurfte dazu vielmehr einer klaren politisch und ideologisch begründeten Maßgabe, die unter Berufung auf Hitler, tatsächlich aber weitgehend selbstständig von den hier als Weltanschauungseliten apostrophierten Gruppen definiert wurde, die zudem die Möglichkeit besaßen, diese Maßgaben auch umzusetzen. In der Sowjetunion besaß diese Dynamik zunächst in Manchem durchaus vergleichbare Ausformungen. Die Ausschaltung der landbesitzenden Bauern vor allem in der Ukraine, der so genannten Kulaken, durch einen gesteuerten und dann selbstläufigen Aushungerungs- und Deportationsprozess, kann womöglich vom Ansatz her noch als programmatisch motivierte Maßnahme 8 Moshe Lewin, The Social Background of Stalinism, in: ders., The Making of the Soviet System, London 1985, S. 258–285. 9 Raphael, Radikales Ordnungsdenken; Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische »Lösung der Zigeunerfrage«, Hamburg 1996.

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apostrophiert werden, als Landreform durch Massenmord, – obwohl sich die Praxis des Massenmords an der bäuerlichen Bevölkerung vor allem der westlichen Regionen der Sowjetunion als vielfach ganz ungeregelter, willkürlicher, von den ursprünglichen Intentionen weitgehend abgelöster Prozess darstellte, mit langfristigen, katastrophalen Folgen für die sowjetische Wirtschaft wie der Versteppung riesiger ehemals landwirtschaftlich genutzter Regionen, der ReArchaisierung der bäuerlichen Produktion und der Entstehung eines Massenheeres unbehauster Flüchtlinge.10 Die Gewissheit der bolschewistischen Führungsgruppe und ihrer politischen Trägerschichten, dass die eigenen Überzeugungen wissenschaftlich begründet und im Kern unwiderleglich seien, hatte zur Folge, dass die vielfältigen Rückschläge des Regimes in verschiedenen Bereichen nicht auf die Maßnahmen des Regimes selbst oder die damit verbundenen Ziele und Mittel zurückgeführt werden konnten. Die Ursache dafür musste deshalb entweder in »Fehlern« bei der Umsetzung eines im Prinzip richtigen Zieles gesehen werden – oder im Wirken von Feinden und Verrätern, sei es von außen, sei es von innen. Und in der Regel wurde jeder innere Feind auch sogleich als Agent des äußeren Feindes erkannt.11 In dem Maße, wie sich die Misserfolge häuften, nahm auch der Terror zu, dem nun aber nicht mehr allein eindeutig definierbare soziale (oder ethnische)  Gruppen zum Opfer fielen, sondern von dem immer mehr Sowjetbürger bedroht waren, vor allem jene, die in irgendeiner Weise Verantwortung oder Leitungsaufgaben in der jungen Sowjetunion übernommen hatten – oder auch nur politisch aktiv waren. Wenn die Misserfolge des Regimes nicht auf »Fehler« oder »Feinde« hätten zurückgeführt werden können, hätte das Projekt der bolschewistischen Revolution selbst in Frage gestanden – dies und nicht allein Verhöre und Folter erklärt übrigens auch die Bereitschaft vieler angeklagter alter Bolschewiki, sich vor den Tribunalen selbst wider besseres Wissen der Verräterschaft zu bezichtigen.12 In beiden Fällen war mit dieser Überzeugung (in kurzer Zeit mit einer enormen Anstrengung Entwicklungen einleiten zu können, die die gesellschaftlichen Probleme auf einmal lösen würden) die Einsicht verbunden, diese Veränderungen nun mit größtmöglicher Schnelligkeit vorantreiben zu können, mehr noch: zu müssen. Zunächst definiert dieser Gedanke ja den Charakter revolutionärer Bewegungen schlechthin. Denn die Überzeugung, dass die als notwendig erachteten Veränderungen nicht auf mählichem Wege, durch Reformen und über lange Zeiträume hinweg möglich seien oder dass dies als zu 10 Sheila Fitzpatrick, Stalin’s Peasants. Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, New York 1994. 11 Gábor Tamas Rittersporn, Stalinist Simplifications and Soviet Complications. Social Tensions and Political Conflicts in the USSR , 1933–1953, Chur 1991, S. 101 ff.; ­William J. Chase, Enemies within the Gates? The Comintern and the Stalinist Repression, ­1934–1939, New Haven 2001. 12 Dieser Zusammenhang ist das Kernthema von Arthur Koestlers »Sonnenfinsternis«. Vgl. Arthur Koestler, Darkness at Noon, London 1940.

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langsam angesehen wurde, war ja die Voraussetzung der Entscheidung für eine schnelle, für eine revolutionäre Lösung, und der entscheidende Unterschied zu den Sozialdemokraten auf der einen, den Deutschnationalen auf der anderen Seite. In Deutschland war vor allem Hitler selbst davon durchdrungen, dass dieses Land die einmalige historische Chance, die ihm durch seine, Hitlers, Führerschaft gegeben sei, nutzen müsse. Aber auch unabhängig von der charisma­ tischen Führerfigur war der Gedanke, dass nun eine historisch vielleicht einmalige Chance gegeben sei, Veränderungen in großem, ja in weltweitem Maßstab durchzuführen, in der Führungsgruppe des Regimes ebenso wie bei der Anhängerschaft weit verbreitet. Nicht zuletzt daraus folgte eine außerordentliche Dynamik und Mobilisierungsfähigkeit des Regimes, die es bis zum Ende seiner Herrschaft auszeichneten. In der Sowjetunion steht, damit vergleichbar, vor allem die »Kampagne«, das kurzfristige Einsetzen aller Mittel für ein ansonsten nicht oder erst viel später erreichbares Ziel, für die Kurzfristigkeit und Dynamik des Regimes. Organische Prozesse nicht abzuwarten, sondern durch vor allem propagandistische Mobi­ lisierung Entwicklungssprünge vorzunehmen, ohne auf die damit verbundenen Opfer und Kosten zu achten, war kennzeichnend für die Agrarreform ebenso wie für die Elektrifizierung, den Aufbau neuer schwerindustrieller Agglomerationen oder die großen Kanal- und Eisenbahnprojekte. Die »Kampagne« kann als geradezu kennzeichnendes Element des Stalinismus angesehen werden. Auch hier war die Überzeugung verbreitet, dass nun die Gunst der Stunde, der historische Augenblick genutzt werden müsse, um irreversible Veränderungen der Gesellschaft durchzusetzen, allerdings im Vergleich zum Nationalsozialismus auf kennzeichnend unterschiedliche Weise: Denn während der Nationalsozialismus die günstige historische Konstellation vor allem auf das Erscheinen des charismatischen Führers bezog, war es in der Sowjetunion die Erringung der Macht durch die Bolschewiki, die ja nicht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich wussten, sondern als Diktatur einer im Grunde sehr kleinen Minderheit so schnell wie möglich solche Veränderungen in der Gesellschaft durchzusetzen versuchen mussten, die eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen unmöglich machte. Der Zeitdruck rührte insofern aus unterschiedlichen Konstellationen, war aber mithin kennzeichnend, ja geradezu grundlegend für beide Regimes und ein gewichtiger Faktor bei der Ingangsetzung der Massenverbrechen. Ian Kershaw hat darauf hingewiesen, dass Stalin aus dem Parteiapparat gekommen und immer ein Mann des Apparats geblieben sei; während Hitler nie in parteibürokratische Strukturen eingebunden oder gar davon bestimmt gewesen sei: »Stalin war das Produkt eines Systems, Hitler die Verkörperung eines solchen«.13 Das ist zutreffend, und es ist interessant, dies in Verbindung 13 Ian Kershaw, Totalitarianism Revisited. Nazism and Stalinism in Comparative Perspective, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 23 (1994), S. 23–40.

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mit dem Verhältnis der politischen Führungskader zur Existenz eines ausgebildeten Staatsapparates zu sehen. Stalin wie die bolschewistischen Eliten insistierten auf dem Machtanspruch der Parteizentrale, gegen die Autonomie der Peripherie, zumal ein tradierter omnipräsenter Staatsapparat gar nicht vorhanden war. Demgegenüber verkörperten Hitler und die nationalsozialistischen Weltanschauungseliten nicht den bestehenden und weit differenzierten Staatsapparat, sondern setzten sich davon ab und verfolgten die »Idee«, zu deren Verwirklichung sie den Staat benutzten. Schon der von Fraenkel entwickelte, tatsächlich aber von der Gestapo-Führung selbst entworfene Begriff der »Doppelherrschaft« verweist auf diesen Zusammenhang: Denn neben der Herrschaft des »Maßnahme-Staates«, der nach politisch-ideologischen Maßstäben vorging und die Rechtstraditionen außer Kraft setzte, gab es in Deutschland bis 1945 immer auch den »Normenstaat«, der nach allgemeinen und gleichen Maßstäben vorging und somit für ein umzirkeltes Gebiet und die definierte Gruppe des deutschen Volkes auch Rechtssicherheit garantierte. Demgegenüber hat, um in der Sprache Fraenkels zu bleiben, in der Sowjetunion ein tradierter »Normenstaat« zumal nach dem Bürgerkrieg nur in sehr begrenztem Maße bestanden, so dass es auch für viele unpolitisch scheinende Bereiche vorfindbare Formen und Institutionen des Konfliktaustrags nicht gab.14 Der Nationalsozialismus entfaltete sein Repressions- und Vernichtungspotential vorwiegend nach außen, viel weniger nach innen. Der Anteil der deutschen Staatsbürger inklusive der deutschen Juden unter den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik hat bis Kriegsende unter fünf Prozent aller Opfer des NS -Regimes gelegen. Von den sechs Millionen ermordeten Juden waren nicht mehr als 150.000 Deutsche. In den Konzentrationslagern lag bei Kriegsende der Anteil der deutschen Häftlinge unter vier Prozent. Dies entsprach der nationalsozialistischen Weltanschauung, die die Menschheit und die einzelnen Gesellschaften nicht horizontal (nach sozialen Gruppen oder Klassen), sondern vertikal (in Bezug auf die als naturgegeben angesehene Konkurrenz der einzelnen Völker und Rassen) differenzierte. Sieht man von der letzten Kriegsphase ab, so muss man feststellen, dass das gewalttätige Vorgehen der Nationalsozialisten dabei durch ein gewisses Maß an Binnenrationalität gekennzeichnet war. Innerhalb der deutschen Bevölkerung war relativ eindeutig, wer zu den verfolgten Gruppen zu zählen war: erstens diejenigen, die sich aus politischen Motiven aktiv gegen die Herrschaft des NS -Regimes auflehnten – ihre Zahl war spätestens seit 1936 sehr gering geworden. Zweitens diejenigen, die aus »rassehygienischen Gründen« verfolgt wurden, also Behinderte und sozial Unangepasste wie die so genannten »Asozialen« oder Homosexuelle. Drittens, wer zu einer als »schädlich« angesehenen »rassischen Minderheit« gezählt wurde, also vor allem die deutschen Juden sowie die »Zigeuner«. Wer nicht zu diesen Gruppen gehörte, die zusammen weniger als zehn Pro14 Ernst Fraenkel, The Dual State, New York 1941.

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zent der deutschen Bevölkerung ausmachten, lebte unter dem NS -Regime relativ sicher und ziemlich unbehelligt. Die Gewalt und die Massenvernichtungspolitik richteten sich vielmehr gegen die europäischen Juden sowie gegen die Bewohner der eroberten Gebiete insbesondere des Ostens. Demgegenüber hat sich der Terror der Stalinisten überwiegend gegen die eigene Bevölkerung gerichtet. Dabei nahm der Grad von Binnenrationalität der Verfolgungsmaßnahmen in dem Maße ab, wie sich die Misserfolge des Regimes häuften. Der Terror gewann eine sich selbst steuernde Dynamik – bis hin zur Etablierung und Erfüllung von Fangquoten durch die »Sicherheitsorgane«, die dann wahllos auf Menschenjagd gingen.15 Allerdings ist der Begriff der »eigenen Bevölkerung« in Bezug auf die Sowjetunion eine problematische Kategorie. Denn durchaus in der Tradition des zaristischen Imperialismus stand das stalinistische Regime zugleich ja auch für die Herrschaft der Russen über die übrigen im sowjetischen Reich versammelten Völker und Volksgruppen. Der Versuch der NS -Führung, die deutsche Herrschaft in Mittel- und Osteuropa durch Massendeportation missliebiger ethnischer Gruppen zu etablieren, war mit der Ingangsetzung der Massenmordprojekte insgesamt und der Vernichtungspolitik gegenüber den Juden aufs engste verknüpft. Hier sind die Parallelen zur Entwicklung in der Sowjetunion unübersehbar: Die mit unglaublicher Brutalität durchgeführten Deportationen solcher Volksgruppen und ethnischen Minderheiten, die im Süden und Westen der Sowjetunion als potentielle Kollaborateure der Deutschen, als politische Störenfriede oder auch nur als nicht domestizierbar angesehen wurden, verdeutlichen, dass der Archipel GULag nicht nur als Repressionssystem gegen politische und soziale, sondern auch gegen ethnische »Feinde« errichtet worden war.16 Auf der anderen Seite sind die Verfolgungssysteme des Nationalsozialismus und des Stalinismus selbst aber in voneinander zu unterscheidende Rationalitätszusammenhänge eingebunden. Das Zwangsarbeitssystem des GULag lag dabei durchaus in der Linie der stalinistischen »Kampagnenpolitik«. Ohne Rücksicht auf Verluste und Todeszahlen wurden hier bestimmte Projekte durchgeführt, auch wenn dies volkswirtschaftlich noch so unsinnig war. Der »Verbrauch« an Arbeitskraft konnte jederzeit nachgeliefert werden. Zu einer effizienteren und vor allem produktiveren Verwendung der einzelnen Arbeitskräfte war das stalinistische System, jedenfalls in Bezug auf die Zwangsarbeitslager, offenbar nicht willens, vor allem aber nicht fähig.17 15 Oleg Khlevnyuk, The Objectives of the Great Terror, 1937–1938, in: David L. Hoffmann (Hg.), Stalinism. The essential Readings, Malden 2003, S. 81–104. 16 Nikolaj Bugaj, Die Deportationen der Völker aus der Ukraine, Weißrußland und Moldavien, in: Dittmar Dahlmann / Gerhard Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, S. 567–581. 17 Elena A. Tjurina, Die Rolle der Zwangsarbeit in der Wirtschaft der UdSSR . Eine Quellenanalyse, in: Dalhmann / Hirschfeld, Lager, S. 267–278.

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Demgegenüber war der Arbeitseinsatz der KZ -Gefangenen und vor allem der Juden aus Sicht der nationalsozialistischen Regimeführung nur eine vorübergehende, kriegsbedingte Maßnahme. Die tatsächliche Bedeutung des Arbeitseinsatzes von Häftlingen war, sieht man von der letzten Kriegsphase ab, als die Untertageproduktion von Raketen und Flugzeugen mit KZ -Häftlingen betrieben wurde, volkswirtschaftlich durchaus unerheblich. Das Hauptziel gegenüber den KZ -Häftlingen blieb deren Ausschaltung und Erniedrigung; gegenüber den Juden deren Ermordung. Der millionenfache Tod der Häftlinge war im stalinistischen Gulag eine hingenommene Begleiterscheinung ihrer Verwendung als jederzeit ersetzbare Zwangsarbeiter. Die Ausbeutung eines Teiles der europäischen Juden bei der Zwangsarbeit (meist nur für eine kurze Zeit) war für die Nationalsozialisten kein Ziel, sondern ein kriegsbedingtes Zugeständnis, ein Umweg vor ihrer Ermordung.18 Am Ende des Zweiten Weltkriegs ging das rechtsradikale Konzept zur Ordnung der industriellen Welt mit der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands unter, und es hat bislang keine erfolgreichen Restitutionsversuche gegeben, sieht man von den Militärdiktaturen in Südamerika ab. Mit dem Regime verschwanden auch die NS -Führungsgruppen, die, wenn sie die Kriegsund Nachkriegsjahre überlebten, überwiegend in die bürgerliche Gesellschaft zurückkehrten. Diese Reintegration erstreckte sich auch auf die Kerngruppen der nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungspolitik, das Führerkorps von Gestapo, SD und Einsatzgruppen. Diese Männer waren jetzt um die fünfzig Jahre alt, meist akademisch, oft juristisch ausgebildet und besaßen die besten Beziehungen. Hatten sie die Nachkriegszeit überlebt, gelang es ihnen bis auf wenige Ausnahmen, nach ihrer Entlassung aus Haft oder Internierung in der Bundesrepublik beruflich wieder Fuß zu fassen. Je länger aber diese Entwicklung dauerte und je besser die eigene soziale Lage war, desto problematischer wurde für die einstigen NS -Funktionäre die eigene Vergangenheit, weil daraus ein Bedrohungspotenzial für die neugewonnene bürgerliche Sekurität erwuchs. Die eigene Vergangenheit abzutarnen, ja möglichst ganz vergessen zu machen, um die neue Zukunft nicht zu gefährden, wurde zum vordringlichen Interesse. Dieser Mechanismus führte im Ergebnis zu einer offenbar durchaus effektiven Einpassung von großen Teilen der NS Funktionäre in den neuen deutschen Staat und seine Gesellschaft. Die Aura der Welterklärungslehre, der sie anhingen, verschwand mit deren Misserfolg, zumal ihnen der Nationalsozialismus ja auch persönlich die größte Niederlage ihres Lebens beigefügt hatte. Die kommunistische Option hingegen gewann nach dem Krieg durch den Sieg der Sowjetunion erheblich an Einfluss und Perspektive. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre gab es im Westen, vor allem nach der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe und dem Sputnik, sehr ernsthafte Befürchtun18 Ulrich Herbert, Labour and Extermination. Economic Interests and the Primacy of »Weltanschauung« in National Socialism, in: Past and Present 138 (1993), S. 144–195.

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gen, dass sich die sowjetische Option dereinst technisch und gesellschaftlich womöglich doch als die überlegene Variante erweisen könnte. Aber die Bindung der kommunistischen Idee an die traditionelle Industriegesellschaft – mit ihrer Bevorzugung der Schwerindustrie, der ungelernten Massenarbeiter, der Orientierung auf Planerfüllung und Tonnenideologie – verhinderte eine flexible Anpassung an den Aufstieg der Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft. Mit der klassischen Industriegesellschaft verlor auch der kommunistische Ordnungsentwurf seine Legitimationskraft. Bemerkenswert am Untergang des sowjetischen Kommunismus war, dass es die Kommunisten selbst waren, die ihren Untergang mit herbeiführten – in der Sowjetunion unter Gorbatschow, und in den mitteleuropäischen Satellitenstaaten schon dadurch, dass die Herrschenden das Ende ihrer Herrschaft nicht mit Waffengewalt zu verhindern versuchten, sondern sich in erstaunlich kurzer Zeit zu linken Sozialdemokraten wandelten und offenbar auch froh waren, die Bürde der Verantwortung für das eigene, gescheiterte Ordnungsmodell nicht weiter tragen zu müssen. Wie so oft war der Wandel zuerst im Bereich der Kunst und Literatur erspürt worden: Die Poststrukturalisten, übrigens zu einem erheblichen Teil ehemalige Kommunisten oder Maoisten, brachen mit der vorgefundenen Orientierung auf ein klares Ziel, auf eine einlinige Abfolge von aufeinander aufbauenden, teleologisch ausgerichteten Schritten: Dem Aufbau des Sozialismus, dem Wachstum des Bruttosozialprodukts, der Verbesserung der Lebensumstände, der Eindeutigkeit der Entwürfe. Dem wurde eine Gleichzeitigkeit und Vielfalt von Entwürfen gegenübergestellt, und mit dieser Vielfalt zerbrachen auch die Hingabe und der Enthusiasmus des politischen Engagements – und mit ihnen der zukunftsgewisse Radikalismus der Vertreter jener radikalen Gegenentwürfe aus den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die dieses Jahrhundert auf so markante und schreckliche Weise geprägt haben. Insgesamt wird erkennbar, dass die Vorstellung, die Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft auf ein allen Widersprüchen zugrundeliegendes Prinzip, das des Klassenkampfs oder, auf der Rechten, den Kampf der Völker um Lebensraum, zurückzuführen, sowohl als Element ihres Erfolgs wie ihres Niedergangs zu erkennen ist. Angesichts der sich verkomplizierenden und pluralisierenden Gesellschaften wurden solche Konzepte immer stärker zum Anachronismus, und mit ihnen ihre Verfechter. Der Begriff »Weltanschauungseliten« wurde für die großen totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts geprägt. Gibt es sie auch in Demokratien? Wenn die Frage darauf abzielt, ob es nicht auch in Demokratien Vertreter ideologisch fixierter Konzepte gibt, die vorrangig aufgrund ihrer Interpretationsmacht Einfluss nehmen, so wird man das bejahen. Man mag hier an die Vertreter der katholischen Kirche und ihre Bedeutung während der 1950er Jahre in der Bundesrepublik, in Italien oder Österreich denken; womöglich auch an die europäischen Sozialdemokraten in den 1960er und 1970er Jahren. Natürlich bilden sich neue Welterklärungssysteme heraus und mit ihnen deren Protago-

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nisten. Aber in offenen, pluralistischen Gesellschaften ist ihr Einfluss doch begrenzt und wird durch die Existenz von Gegenpositionen relativiert. Der Begriff »Weltanschauungseliten« ist hier unpassend. So stoßen Erklärungsansätze, die komplette, einlinige Systeme propagieren, in der Gegenwart der westlichen Demokratien auf geringere Zustimmung oder Aufnahmebereitschaft. Ob das so bleibt, ist keineswegs sicher. Man könnte einerseits damit argumentieren, dass die Unübersichtlichkeit der neuen Welt des »digitalen Finanzkapitalismus«, der Globalisierung, der Individualisierung und Pluralisierung geradezu nach Entdifferenzierung, nach Bündelung und Eindeutigkeit schreit. Und gut möglich, dass populistische Bewegungen oder der sich radikalisierende Konservatismus in den USA und anderswo Vor­ boten solcher Entwicklungen sind. Zudem ist der eskalierende Nationalismus in nicht geringen Teilen der Welt, von China und Indien bis in die USA und die ost- und westeuropäischen Staaten ja nie oder nur kurz unterbrochen gewesen und gegenüber den trans- und supranationalen Utopien von der Auflösung oder dem Absterben des Nationalstaats doch die deutlich kräftigere und wohl auch zukunftssicherere Bewegung. Vor allem aber werden wir das Aufkommen neuer holistischer Ideen oder Weltanschauungen vermutlich gar nicht bemerken, weil sie wie immer im Gewand der Übereinstimmung mit den Geboten der Geschichte oder der Natur daherkommen und weil wir an ihrer Propagierung womöglich selbst beteiligt sein werden.

Jakob Tanner

Kartelle und Marktmacht im 20. Jahrhundert 1. Kartelle und Kapitalismus Als »Übereinkünfte« reichen Kartelle weit in die Geschichte zurück. Das Diminutiv »cartello bedeutet ein »kleines Papierstück«; noch im 18. Jahrhundert war ein »Kartellträger« einer, der die Aufforderung zum Duell überbrachte. Unter Kartellen wurden im weiteren Sinne Turnierregeln, aber auch Abmachungen zwischen Kriegsführenden verstanden. Im Bereich des Staatlich-Politischen nannte man die Kodifizierung von Grundregeln – wie z. B. die Magna Charta von 1215 – Kartelle. Diese machten unübersichtliche Verhältnisse überblick- und kalkulierbar. Sie regulierten Vorgänge, die ansonsten aus dem Ruder laufen und völlig konfus werden konnten. Sie stifteten Klarheit unter den Beteiligten. In der »Sattelzeit« der Aufklärung liess sich eine erste grundlegende Verschiebung in der Wortbedeutung von »Kartell« feststellen. Die historische Semantik zeigt, dass der Begriff nun immer stärker auf den Bereich der Wirtschaft bezogen wurde. Wenn fortan von »Kartellen« die Rede war, richtete sich der Blick auf mächtige Wirtschaftsakteure, die, mit Staatsmonopolen gewappnet, Überseehandel und Absatzmärkte kontrollierten. Solche Kartelle agierten in aller Regel mit staatlicher Unterstützung und so fielen unter diesen Begriff auch zwischenstaatliche Verträge, welche die kommerziellen Beziehungen einschränkten.1 Mit dem Theoretisierungsschub der Politischen Ökonomie im ausgehenden 18. Jahrhundert akzentuierte sich die Dichotomie zwischen Märkten und Monopolen.2 Marktverfechter wie Adam Smith qualifizierten Kartelle als schädliche Absprachen zwischen Anbietern. Sie schadeten jenem doux commerce, mit dem nicht nur der wohlstandsteigernde Warenaustausch, sondern auch das zwi1 Die These, es seien die Piraten gewesen, die diese überhandnehmenden Handelsmonopole, Zollregimes und Kartellorganisationen im Mittelmeer herausgefordert hätten, um so einer freieren Wirtschaftsordnung zum Durchbruch zu verhelfen, ist plausibel. Zu den Piraten als Kartellbrechern vgl. Franz Böni, Piraterie und Marktwirtschaft. Beitrag der Piraterie im westlichen Mittelmeer zur Schaffung einer Marktwirtschaft und Entwicklung späterer Wettbewerbsordnungen? Konstanz 2008. Einen historischen Überblick bietet der Sammelband Margrit Müller u. a. (Hg.), Regulierte Märkte. Zünfte und Kartelle, Zürich 2011. 2 Harald Enke, Kartelltheorie. Begriff, Standort und Entwicklung, Tübingen 1972; Harm G. Schröter, Cartels revisited: An overview on fresh questions, new methods, and surprising results, in: Révue économique 6 (2013), S. 989–1010. Einen Einblick in aktuelle Kontroversen gibt die Auseinandersetzung mit dem Werk von Holm A. Leonhardt, Kartelltheorie und Internationale Beziehungen, Hildesheim 2013, mit Beiträgen von Holm A. Leonhardt, Eva-Maria Roelevink und Volker Berghahn, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 61/1 (2016), »Aus aktuellem Anlass«, S. 107–126.

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schenmenschliche Verständnis gesteigert werden sollte.3 Der Freihandel, d. h. der uneingeschränkte Wettbewerb, der innerhalb und zwischen Staaten fair organisiert und frei zugänglich sein sollte, wurde zum Gegenprinzip der Kartellierung. Damit war eine neue Wahrnehmung verbunden: Auch wenn Kartellvereinbarungen das Wissen der Mitglieder erhöhten und den gewinnorientierten Durchblick durch eine opake Wirtschaft verbesserten, so wurden sie nun markttheoretisch mit dem Verborgenen assoziiert.4 Wer gegen die Marktkräfte konspirierte, bereicherte sich im Geheimen auf Kosten anderer. Eine solche Kollusion war illegitim und in vielen Ländern auch illegal. Umgekehrt galt: Alle Versuche, sich auf riskanten Märkten zu bewähren und der hier obwaltenden »unsicht­baren Hand« zu vertrauen, waren gemeinwohlförderlich und legitim. Mit diesem Idealbild eines »freien Marktes« lässt sich allerdings die wirtschaftliche Entwicklung von Industriestaaten und den von ihnen beherrschten Kolonien nur unzureichend beschreiben. In der »grossen Transformation« zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert bildeten sich Marktgesellschaften heraus, die neue ökonomische Handlungsräume eröffneten, zugleich aber mit Zwangselementen und protektionistischen Dispositiven durchsetzt waren.5 Die Aushöhlung etablierter Machtkomplexe und die Durchsetzung neuer Monopoltendenzen verliefen zeitlich parallel.6 Je nach Blickrichtung ist der Markt eine »soziale Errungenschaft«, welche vielen Wirtschaftsakteuren neue Chancen offeriert oder aber eine Einrichtung, die Menschen prekarisiert, in Ausbeutungsverhältnisse integriert und mit existenziellen Risiken konfrontiert.7 Wer Marktprozesse als undurchsichtig und in ihrem Funktionieren als irrational beschreibt, bekundet die Neigung, Kartelle als ordnungsstiftend und rational zu beurteilen. Wer umgekehrt den Märkten rationale und transparente Eigenschaften unterstellt, sieht in Kartellen undurchsichtige Absprachen mit effizienzverminderndem Effekt. Historische Ansätze, die vom Konzept des Kapitalismus ausgehen, gelangen ebenfalls zu einem gespaltenen Bild. Kartelle stellen hier auf der einen Seite 3 Vgl. dazu Albert O. Hirschman, Entwicklung, Markt und Moral. Abweichende Betrachtungen, Frankfurt am Main 1993, S. 210. 4 Michael Arthur Utton, Cartels and Economic Collusion. The Persistence of Corporate Conspiracies, Cheltenham 2011. Auch in der schweizerischen Eidgenossenschaft wurden die Anfang des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Kantonen (Zürich, Bern, Tessin) angedrohten Strafen gegen Kartellbildung allesamt mit der angestrebten »Freiheit des Handels und der Gewerbe« gerechtfertigt, die auch staatspolitisch als wichtig erachtet wurde. Vgl. dazu Andreas Thier, Schweizerische Kartellrechtstradition und ›more economic approach‹. Zur bundesgerichtlichen Rechtssprechungspraxis 1896–1960, in: Rolf Sethe u. a. (Hg.), Kommunikation. Festschrift für Rolf H. Weber zum 60. Geburtstag, Bern 2011, S. 621–645, hier S. 625. 5 Vgl. dazu Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main 1978 [1944]. 6 Fernand Braudel, La dynamique du capitalisme, Paris 1985. 7 Laurence Fontaine, Le marché. Histoire et usages d’une conquête sociale, Paris 2014 versus Polanyi, The Great Transformation; Braudel, La dynamique du capitalisme.

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einen wirksamen Hebel für die Durchsetzung kapitalistischer Machtinteressen dar, während sie auf der anderen Seite als Abwehrmittel der Schwachen gegen die Starken interpretiert werden. So »kartellieren« sich Klein- und Mittelunternehmen gegen das Großkapital oder Arbeiterinnen und Arbeiter organisieren sich in Gewerkschaften gegen die Zumutungen eines »freien« Arbeitsmarktes. Weil Kartelle sowohl eine positive wie eine negative Macht ausüben können, vermied die Gesetzgebung meist eine prinzipielle Pro-/Contra-Haltung und beschränkte sich auf die Bekämpfung von »Machtmissbrauch«. So hieß denn die erste deutsche Anti-Kartell-Regelung von 1923 »Verordnung gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen«. Diese Interpretationsoffenheit verengte sich in der Nachkriegszeit, in der Kartelle zwar nach wie vor in vielen Ländern eine wichtige Rolle spielten, nun aber primär als Problem wahrgenommen wurden. Für den deutschen Kartellrechtler Rudolf Isay sind Kartelle per definitionem das Gegenstück zum freien Wett­bewerb, d. h. sie stellen a priori Beschränkungen und mithin Versuche illegitimer Machtausübung oder schlicht des Machtmissbrauchs dar.8 Entsprechend verschob sich die Gesetzgebung von der Missbrauchsbekämpfung zum direkten Kartellverbot, welches das optimale Funktionieren freier Märkte unterstützen sollte. Die Kartellgeschichtsschreibung wird so zu einer Geschichte der Wettbewerbsregulierung ausgeweitet. David J. Gerber spricht von einer »competition law story«.9 Demgegenüber richtet ein »more economic approach« das Augenmerk auf die Wirkungen von Kartellen, wobei weniger Ordnungs- und Schutzfunktionen, als die Wachstumseffekte analysiert werden. Es kommt ein ökonomisches Effizienzkriterium zum Zuge, das Kartellierungstendenzen auf einen consumer surplus und andere Wohlstandgewinne hin bewertet.10 Unternehmerische Macht und Kartellabsprachen sind aus dieser Sicht nicht per se schädlich, sondern können unter bestimmten Bedingungen vorteilhaft sein. »Effizienz«, »Wohlstand« und »Wettbewerb« sind schillernde Begriffe, die in unterschiedlichsten Argumenten auftauchen, mit dem sich wiederum wirtschaftliche Partikularinteressen, politische Erwartungen und gesellschaftliche Wünsche und Ängste begründen lassen. Historische Untersuchungen tun gut daran, diese nicht aufhebbare Poly­ valenz und Multifunktionalität von Kartellen zum Ausgangspunkt zu nehmen, 8 Rudolf Isay, Die Geschichte der Kartellgesetzgebungen, Berlin 1955, S. 3 f. 9 David J. Gerber, Global competition. Law, markets, and globalization, Oxford 2010; Nicolas Charbit / David J. Gerber, Competition law on the global stage. David Gerber’s global competition law in perspective, New York 2014; Kiran Klaus Patel / Heike Schweitzer (Hg.), The Historical Foundation of EU Competition Law, Oxford 2013. 10 Vgl. dazu Thomas J. Miceli, The economic approach to law, Stanford C. A. 2004; Anne C. Witt, The more economic approach to EU antitrust law, Oxford 2016; Per Rummel, Rechtssicherheit bei der Anwendung des equally efficient competitor-Tests. Der more economic approach der europäischen Missbrauchsaufsicht auf dem Prüfstand, BadenBaden 2015; Thier, Schweizerische Kartellrechtstradition.

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um Formen und Wirkungen von Kartellen und die Auseinandersetzungen um ihre Bewertung und Legitimität. kontextspezifisch zu analysieren. Der vorliegende Aufsatz setzt im ausgehenden 19. Jahrhundert ein, als in Europa eine intensive wissenschaftliche und politische Debatte um Kartelle einsetzte. Er spannt einen Bogen über das 20. Jahrhundert hinweg, von den strukturellen Herausforderungen der Hochindustrialisierung in den Jahrzehnten um 1900 über die Kriegs- und Krisenjahre zwischen 1914 und 1945 bis hin zum Wandel der Industriemoderne der Nachkriegszeit. Dies ermöglicht es dann auch die Phase »nach dem Boom« – d. h. die Zeit nach dem wirtschaftlichen Einbruch Mitte der 1970er Jahre – in einem längeren Beobachtungszeitraum, der ein »langes 20. Jahrhundert« abdeckt, zu interpretieren. Eine neue Dynamik entsteht seit den 1980er Jahren durch das Wechselspiel von Kartellgesetzgebung und Globalisierung. Im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde die Semantik von »Kartell« zunehmend negativ aufgeladen. Umgangssprachlich schliff sich die Rede ein von den »Drogenkartellen« als des Inbegriffs des »organisierten Verbrechens«. Gegenläufig dazu wurde die in dem meisten Wirtschaftssektoren virulente Kartellfrage im Übergang zum 21. Jahrhundert mit den internetgestützten Leniency-Programmen pragmatisch entschärft. Alle diese Entwicklungen weisen einen hohen symptomatischen Wert auf, so dass die Kartellgeschichte auch als Sonde für die Analyse von Kontinuitäten, Bruchstellen und Spannungen innerhalb moderner kapitalistischer Wachstumsgesellschaften genutzt werden kann.

2. Kartelldebatten in Europa und in Deutschland Im Jahr 1883 legte der österreichische Nationalökonom Friedrich Kleinwächter sein Pionierwerk »Die Kartelle« vor. Der Autor entfaltete damals bereits das ganze Panoptikum von Kartellformen und -strategien, vom Preis-, Mengenund Produktions- über das Import-/Export- sowie Gebietskartell bis hin zum veritablen Syndikat (von dem sich in Frankreich die gewerkschaftliche Bewegung des Syndikalismus ableitet).11 Kleinwächter wertete Kartellabsprachen im Grundsatz positiv und sah darin eine Alternative zur Sozialisierungsforderung der Arbeiterbewegung: »Meines Erachtens ist die Ursache der unläugbar vorhandenen sozialen Übelstände, unter denen wir heute schwer leiden, weit weniger in der Institution des privaten Eigentums als im Mangel einer entsprechenden Organisation der Volkswirtschaft […] zu suchen, eine Besserung unserer Zustände daher nicht so sehr von der Einführung des Kollektiveigentums als vielmehr von einer Regelung der Volkswirtschaft […] zu erwarten.«12 Anfang des 20. Jahrhunderts hat auch Gustav Schmoller im Verein für Socialpolitik ein 11 Vgl. dazu: Brigitte Gruber, Entwicklung des Kartellrechts in Österreich und der Schweiz, St. Gallen 2016. 12 Zitiert nach Jan Greitens, Finanzkapital und Finanzsysteme. »Das Finanzkapital« von Rudolf Hilferding, Marburg 2012, S. 392.

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»uneingeschränkt positives Bild von Kartellen« gezeichnet und in ihnen »ein Glied in der Kette« gesehen, »die vom […] laissez faire zur gesellschaftlichen und staatlichen Organisation der nationalen Arbeit, vielleicht gar zur sozialistischen Staatswirtschaft führt.«13 Dieser Organisationsglaube, dessen Kehrseite die Angst vor Anarchie bildete, konkretisierte sich im Bedürfnis nach einer festeren Ordnung, und das wiederum verlieh der Idee einer umsichtigen Kartellierung der Wirtschaft in den meisten europäischen Industrieländern eine große Überzeugungskraft. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war in Deutschland die Rechtsprechung des Reichsgerichts sehr kartellfreundlich und Kartelle erhielten auch Unterstützung aus der Politik, so dass ein eigentliches Treibhaus für Kartellzusammenschlüsse entstand. Das war auch in der Schweiz der Fall, die im 20. Jahrhundert zu einem der »kartelldichtesten Länder« überhaupt aufrückte. Schon im fin de siècle herrschten hier kartellistische Strukturen vor und die Rechtsprechung des Bundesgerichts hat »diese Entwicklung stets gutgeheissen« – bis hin zum Versuch, »Kartelle zu Instrumenten der gerichtlichen Wirtschaftssteuerung im Interesse des Gemeinwohls zu machen«.14 In der Zwischenkriegszeit wurden Kartelle in widersprüchliche Wirkungszusammenhänge gerückt und entsprechend unterschiedlich beurteilt. Als ­Joseph A.  Schumpeter 1929 vor dem Kartellausschuss des Deutschen Reichstags als Experte auftrat, machte er sich für eine umfassende Sichtweise stark, welche »eigentlich sämtliche Monopole und monopoloiden Gebilde einbezieht«. Gleichzeitig insistierte er auf der Ambivalenz dieser Kartellierung, in der er auf der einen Seite ein »Mittel eines Produktionsfortschritts« und auf der anderen schlicht »Unfug« sah. So widersetzte er sich einem »festen Standpunkt für oder wider Kartelle«, weil dies »gar keinen Sinn« mache. Eine »einheitliche Behandlung der Kartelle [gleicht] der Praxis eines Arztes […], der ohne Rücksicht auf die Krankheit immer Antipyrin verordnet«.15 Dass trotz dieser Zweischneidigkeit von Kartellen ein positives Bild überwog, hing mit deren breiten Akzeptanz in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zusammen. Kartelle wurden hier zu einem projektiven Phänomen. Das Losungswort »Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!« nobilitierte einen politischen Organisationsgedanken, der die Kartelle mit umfasste. Auf Seiten der Linken war klar, dass aufgrund des strukturellen Machtantagonismus der kapitalistischen Produktionsweise die Kapitalkonzentration und die Gewerkschaftsorganisation diametral anders zu bewerten seien. Die Kritik an der ausbeuterischen Kapitalmacht war gleichbedeutend mit der Forderung nach einem legitimen, weil überlebensnotwendigen Zusammenschluss von Arbeiter / innen 13 Ebd., S. 393 f. 14 Thier, Schweizerische Kartellrechtstradition, S. 627, 632. 15 Joseph A. Schumpeter, Vernehmung zur Kartellpolitik [1930]. Hg. von Ulrich Hedtke, 2002, online: https://schumpeter.info/schriften/Kartellpolitik.htm (aufgerufen am 09.03.2020).

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auf Arbeitsmärkten. Gegenüber der unternehmerischen These, bei Gewerkschaften (syndicat industriel, trade union) handle es sich um kartellförmige Markteinschränkung, beharrte die Linke auf dem hart erkämpften Recht auf Assoziation. Vereinsfreiheit und demokratische Partizipationsrechte waren überall wichtige Forderungen. Der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit manifestierte sich so auch im Bereich der Kartelle. Mit Blick nach vorne – der »Genosse Trend« war der wichtigste Verbündete einer zahlenmässig erstarkenden Arbeiterbewegung – konnte die Kartellierung der Wirtschaft in die Fortschrittsperspektive der Sozialdemokratie integriert werden. Im Deutschen Kaiserreich griff nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 die Vorstellung um sich, »Organisation bedeute ein sozialistisches Element in kapitalistischer Umwelt oder führe sogar gänzlich in den Sozialismus« und dieser Glaube »musste auf die Arbeiterbewegung ideologisch bestärkend wirken«.16 In diesem Geiste war die breit rezipierte Studie des Sozialdemokraten Adolf Braun aus dem Jahre 1892 verfasst.17 Braun konstatierte einen mit dem Krach der Gründerjahre einsetzende »Kartellbewegung«, welche sich dem »Schutz der nationalen Industrie« und der »Aufhebung der Konkurrenz im eigenen Wirtschaftsgebiete« verschrieben habe. Für Braun sind Kartelle Boten des Fortschritts. Sie haben »die technisch und kapitalistisch höchst entwickelte Industrie zur Voraussetzung« und können deshalb »erst nach stattgehabter Revolutionierung der Technik und der Wirtschaft, somit also erst in der Gegenwart Bedeutung gewinnen«.18 Versuche ihrer rechtlichen Verhinderung sind aus seiner Sicht ein bloßes Rückzugsgefecht: »Es ist vergebliche Liebesmühe, eine naturnotwendige ökonomische Entwicklung durch Gesetzesparagraphen aufhalten zu wollen.« Denn: »So grundverschieden in ihren Zwecken Kartelle und Arbeiterbewegung sind, so gleichen sie sich doch in der Überwindung der ihnen entgegengestellten Hindernisse auf ein Haar. Beide, Kartelle wie Arbeiterbewegung, entstammen demselben Boden, der ihrem Höhepunkte zustürzenden Entwicklung der privatkapitalistischen Produktionsweise; unaufhaltsam entwickeln sich diese beiden ungleichen, derselben Mutter entstammenden Kinder.«19 Braun war felsenfest überzeugt, dass dieser Familienstreit zugunsten der organisierten Arbeit ausgehen würde. Denn der Kapitalismus, der nun im Zenit stehe, hätte es fertiggebracht, die Gesellschaft völlig zu scheiden »in wenig Dutzende alles Besitzender und in Hunderte Millionen nichts Besitzender.« Braun verfügte über ein robustes Vertrauen in eine Demokratie, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt zu gestalten in der Lage wäre. Die soziale Polarisierung würde diese Einsicht schärfen: »Der Kapitalismus wird 16 So Martin Höpner, Sozialdemokratie, Gewerkschaften und organisierter Kapitalismus, 1880–2002, Köln 2004, S. 18. 17 Adolf Braun, Die Kartelle, Berlin 1892. 18 Ebd., S. 10, 17. 19 Ebd., S. 28 f.

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jeden gesellschaftlichen Rückhalt verloren haben, leicht wird es sein, die Expropriateure zu expropriieren, an Stelle des Kapitalismus mit seinen Kartellen, wird das Kartell der Kartelle, die einheitlich organisierte, im Interesse der Gesamtheit wirkende, gemeinwirtschaftliche Ordnung treten.«20 Für Braun war Sozialismus eine Art potenziertes Kartell, eine Übersicht und Planungssicherheit schaffende Metainstitution. In Rudolf Hilferdings bahnbrechendem Werk »Das Finanzkapital« aus dem Jahre 1910 finden sich ähnliche Überlegungen. Kartelle erschienen auch hier als Ausdruck der Organisationstendenz des modernen Kapitalismus, der schließlich, wenn die Zeit dafür »reif« war, durch eine sozialistische Organisationsform der Gesellschaft abgelöst würde.21

3. Die amerikanische Herausforderung Dieses emanzipative Verständnis von Kartellen wurde gerade in Deutschland durch seine Absetzung von den Zuständen in den USA plausibilisiert. Für Autoren wie Gustav Schmoller ließ sich das gute Kartell ex negativo bestimmen als das Gegenteil von amerikanischen Geschäftspraktiken, die als Ausgeburten eines räuberischen Hyperkapitalismus betrachtet wurden.22 Im wirtschaftlich aufstrebenden, von Konzentrationsprozessen geprägten US -Kapitalismus bürgerte sich damals die Begriffsfolge Mergers & Acquistions ein. Aus diesen Unternehmenszusammenschlüssen gingen große, mächtige Trusts wie die 1870 von Rockefeller gegründete Standard Oil Company oder die 1901 als »Trust der Trusts« entstandene US Steel Corporation hervor.23 Auch in den USA ging es bei der Kartell- und Trust-Frage keineswegs nur um die Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung mit Mitteln des Rechts, sondern um das Grundproblem politischer Machtbeziehungen und des gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt, das schon immer imaginär überfrachtet war (und ist). Dabei drehten sich die Auseinandersetzungen in den USA weit stärker um zentrale Fragen einer demokratischen Gesellschaft. Deren Grundlagen wurden durch ungebremste ökonomische Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse erschüttert. In der politischen Kultur der USA fanden sozialistische Zukunftsvisionen einer vernünftig organisierten Gesamtwirtschaft weit weniger Resonanz als in Europa. Umso breiter abgestützt war der populistische Aktivismus »von unten«, der auf rasch wachsende Zahl von Trusts und Cartels mit Argwohn und Ablehnung reagierte und das Großkapital als Gefahr für eine auf Freiheit und Gleichheit gegründete Republik denunzierte. Den Auftakt

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Ebd., S. 48. Greitens, Finanzkapital und Finanzsysteme. Leonhardt, Kartelltheorien und Internationale Beziehungen, S. 35. Vgl. dazu die interessante Studie von Gustavus Myers, Geschichte der großen amerikanischen Vermögen, Berlin 1923.

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in die US -amerikanische Progressive Era bildete der Sherman Act von 1890.24 Diese erste Anti-Trust-Gesetzgebung unterschied noch zwischen guten und bösen Unternehmenskomplexen. In der Öffentlichkeit setzte sich jedoch, befeuert durch schrille Reportagen in der Yellow Press, ein negatives Bild des korrupten Big Business durch; häufig war dieses mit antisemitischen Stereotypen angereichert.25 Die Bedrohungsgefühle gegenüber Robber Barons wurden populär bebildert. Neben »reichen Geldsäcken«, welche Politiker kauften und einsteckten, waren böse Monster aus dem Tierreich eine beliebte Visualisierungsstrategie. Bis heute weithin bekannt ist der Standard Oil Octopus von Udo J. Keppler (später Joseph Keppler), der 1904 unter dem Titel »Next« veröffentlicht wurde. Der Oktopus mit den gierigen Augen greift mit seinen zahlreichen Tentakeln nicht nur Konkurrenten an, sondern verleibt sich andere Industriezweige (Stahl, Kupfer, Schifffahrt) und die Presse ein; den US -Kongress hat er bereits unter Kontrolle, als nächstes ist das Weiße Haus an der Reihe. Doch weit stärker als in Europa wird die demokratische, d. h. die konstitutionell-institutionelle Komponente ins Bild gerückt, die auch in der politischen Argumentation ausgeprägter war. So hält Rudolf Isay fest, beim Erlass des Clayton Act von 1914 – dem zweiten US -Antitrust-Gesetz – hätten »allgemeine rechtsstaatliche Ideen«  – insbesondere »der Gedanken der Gewaltenteilung (…) eine grosse Rolle« gespielt.26 In Deutschland  – und generell in Europa  – stand bei der Beurteilung von Kartellen hingegen die »volkswirtschaftliche Schädlichkeit oder Nützlichkeit« im Vordergrund, mit einem klaren Akzent auf »nützlich«.27 Im politisch Imaginären stand sich Amerika und Deutschland schroff gegenüber. Im Selbstverständnis war letzteres ein gemeinwohlverpflichtetes »Land der Kartelle« und bildete damit einen markanten Kontrast zum geldgierigen »Land der Trusts«. Diese gespaltene Ikonographie konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nachforschungen über Kartelle in den USA und Europa auf vergleichbare Schwierigkeiten stießen. Als das deutsche Reichsamt des Inneren zwischen 1903 und 1906 »Kontradiktorische Verhandlungen über deut24 Der Clayton Act von 1914 verschärfte die Regulierung und im Verlaufe des 20. Jahrhunderts, insbesondere mit dem Hart-Scott-Rodino Antitrust Improvement Act von 1976, erhöhten sich auch die Sanktionen für Zuwiderhandelnde. Während des ganzen 20. Jahrhunderts hielten allerdings Definitionsprobleme an. Seit 1974 wurden die rasch an Bedeutung gewinnenden unfriendly takeovers juridisch gefasst – nur: was genau wiederum darunter fällt, blieb nach wie vor unklar. Vgl. Thomas D. Morgan / R ichard J. Pierce, Cases and materials on modern antitrust law and its origins, St. Paul / Minnesota 2018. 25 Auf dieses Image konterten die Tycoons und Superreichen mit einem medial inszenierten Mäzenatentum. So finanzierte John D. Rockefeller 1890 die Gründung der University of Chicago wesentlich mit. 26 Isay, Geschichte der Kartellgesetzgebungen, S. 31. 27 Holm A.  Leonhardt, Zum Richtungsstreit in der Kartellgeschichtsforschung, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 61/1 (2016), S. 107–115, hier S. 110.

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Abb. 1: Standard Oil Octopus. Quelle: Wikimedia Commons.

sche Kartelle« durchführte, wurde bald deutlich, dass man es auch mit einem »Schweigekartell« zu tun hatte. Adolf Braun prangerte die »Geheimniskrämerei« der Kartelle an und bezeichnete sie als »wahre Geheimbünde«.28 Kartelle mieden die Öffentlichkeit, Industrielle plauderten keine Geschäfts­geheimnisse aus, Kartellaußenseiter fürchteten Repressalien und Kritiker waren sowieso nicht eingeladen. In den USA wurde der Begriff der conspiracy zentral. Dieser wies eine andere semantische Besetzung auf als in Europa und war vor allem rechtlich fixiert. Doch ungeachtet unterschiedlicher Auffassungen bestand beidseits des Atlantiks das Problem, dass die mediale Öffentlichkeit und die Behörden kaum Bescheid wussten über das Ausmaß und die innere »Mechanik« von Trusts und Kartellen. Diese Undurchsichtigkeit stellt auch ein Hindernis für die historische Forschung dar, denn die verfügbaren Quellen sind durch einen chronischen Informationsmangel geprägt, weil schon den Kartellanalysten und Rechtsgutachtern der Vor- und Zwischenkriegszeit der Blick in die Akten versperrt geblieben war, so dass sie nicht die Möglichkeit gehabt hatten, »die Kartelle aus ihrem inneren Zusammenhang heraus zu analysieren und zu bewerten«.29 28 Braun, Kartelle, S. 17. 29 Eva-Maria Roelevink, Warum weniger eine neue Theorie als vielmehr eine neue empirische Kartellforschung notwendig ist, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 61/1 (2016), S. 116–120, hier S. 117. Vgl. auch: Eva-Maria Roelevink, Organisierte Intransparenz. Das Kohlensyndikat und der niederländische Markt, 1915–1932, München 2015.

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4. Die Theorie des Kartells Das hat die Wirtschaftswissenschaften nicht daran gehindert, die empirische »Black Box Kartell«30 auf aufschlussreiche Weise theoretisch zu durchdringen. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass die Neoklassik die Existenz von Unternehmen nicht erklären kann. Auf einem vollkommenen Markt, der kostenfrei benutzt werden kann und auf dem keine Reibungsverluste auftreten, wäre es schlicht unrentabel, Wirtschaftsaktivitäten in einer Organisation zusammenzufassen. Die Neue Institutionenökonomie hat, ausgehend von Ronald H. Coases bahnbrechender Veröffentlichung »The Nature of the Firm«, eine effizienztheoretische Erklärung für die Emergenz der hierarchischen Organisationsform »Unternehmen« vorgeschlagen.31 Coase geht davon aus, dass Märkte nicht einfach »gratis« sind, sondern Transaktionskosten verursachen. Diese können mit den Verwaltungs- und Koordinationskosten, die eine Firma verursacht, verglichen werden. Mit einem einfachen Schema, in dem sich der Markt (spontane Transaktionen) und die Hierarchie (Unternehmen) gegenüberstehen, lässt sich das zentrale Argument von Coase verdeutlichen. In diesem idealtypisch formalisierten Modell gibt es einen Trade-off zwischen Marktkoordination und Unternehmensorganisation. Alfred D.  Chandler hat am Ende des 20. Jahrhunderts für die USA das plastische Bild der »sichtbaren Hand der Manager« verwendet, welche die »unsichtbare Hand des Marktes« substituieren kann.32 Beide »Hände« weisen unterschiedliche Kostenniveaus und -kurven auf. Unternehmen werden gegründet, wenn der bürokratische Aufwand unter den Transaktionskosten auf den jeweiligen Märkten liegt. Von dem Moment an, in dem dieser die »Marktkosten« übersteigt, verschwindet der relative Vorteil der Firma und es wird billiger, auf den Marktmechanismus abzustellen. In diesem Erklärungsmodell sind Großkonzerne nicht zwingend besser aufgestellt als kleine und mittlere Unternehmen, denn es gibt Bereiche, in denen die Marktkosten niedrig, der bürokratische Koordinationsaufwand demgegenüber hoch ist, so dass Einzelakteure oder Selbstständigerwerbende über einen kompetitiven Vorteil verfügen. In dieses binäre Modell kann nun eine dritte Spalte eingeführt werden: die Hybriden, welche Elemente von Unternehmen mit solchen von Märkten verbinden oder mischen. Metaphorisch gesprochen geben sich hier Einzelfirmen die Hand, d. h. sie sprechen sich ab, treffen Vereinbarungen, koordinieren ihre Geschäftsstrategien und schirmen sich gegen Konkurrenten ab. In diese Rubrik 30 Roelevink, Theorie, S. 117. 31 Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, in: Economia 6 (1937), S. 386–405; Oliver E.  Williamson, Markets and Hierarchies. Analysis and Antitrust Imperialism, New York 1975; ders., The Economic Institutions of Capitalism, New York 1985; ders. / Sidney G. Winter, The Nature of the Firm. Origins, Evolution and Development, Oxford 1991. 32 Alfred D. Chandler jr., The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business, Cambridge / Mass. 1997.

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gehören die Kartelle, die Markt-Preis-Mechanismen bürokratisch unterlaufen, ohne sich jedoch als neue Großorganisation mit eigener Rechtspersönlichkeit zu konstituieren. Tab. 1: Hierarchien – Hybride – Märkte Hierarchien

Hybride

Märkte

Firmen Unternehmen

Transaktionsverträge Kartelle [Trusts]

»spontane Ordnung«

»sichtbare Hand« Organisation Management

absichtsvolle Koordination Absprachen

»unsichtbare Hand« Markt-Preis-Mechanismus

Politisch werden solche transaktionstheoretischen Modelle ganz unterschiedlich interpretiert. Eine laissez faire-Haltung möchte es weitgehend den Wirtschaftsakteuren überlassen, ob sie sich als Firma oder als Kartell konstituieren oder aber »den Markt« spielen lassen wollen. Die Gegenposition geht davon aus, dass kapitalistische Unternehmen, wenn man sie einfach machen lässt, eine starke Tendenz zu oligopolistischen Kartellpraktiken und schlussendlich zu Monopolen entwickeln, wodurch einerseits die Interessen der Konsumenten verletzt und andererseits die Innovationsdynamik gedämpft wird. Die Funktionsbedingungen einer Marktwirtschaft müssen aus dieser Sicht politisch gesichert werden, unter anderem durch eine aktive Wettbewerbs-, Antimonopol- und Antikartellpolitik. Doch wie diese Zielvariablen operationalisiert werden und welche Regeln Staaten in Kraft setzen sollen, bleibt ebenso offen wie die Frage, wie Zuwiderhandlungen effizient sanktioniert werden können. Diese Unbestimmtheit resultiert nicht nur aus divergierenden wirtschaftlichen Interessen und oft polarisierten politischen Positionen, sondern auch daraus, dass eine ökonomische Wirkungsanalyse unterschiedliche Folgerungen zulässt, je nachdem, welches Zielbündel als maßgeblich erachtet wird. Kommt in diesem Bereich eine richterliche Auslegung von Rechtsnormen ins Spiel (was nicht immer der Fall ist), so erweist sich diese insbesondere im Bereich der »Hybriden« als äußerst flexibel. All diese Sachverhalte konfrontieren die Geschichtsschreibung mit beträchtlichen Problemen. So wichtig wirtschaftswissenschaftliche Theorien für die historische Hypothesenbildung sind, so wenig können sie die archivbasierte Forschung ersetzen. Diese steht dann vor der Aufgabe, die Argumente der Ökonomen in politischen Kraftfeldern zu situieren und sie so zu historisieren.

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5. Der Kampf gegen Kartelle in der Nachkriegszeit Gerade für die Entwicklung von Großunternehmen hat sich der Transaktionskostenansatz als nicht ergiebig erwiesen. Um die Veränderungen in der Unternehmenslandschaft und der Kartellgesetzgebung in der Nachkriegszeit zu untersuchen, muss eine Vielzahl von Dimensionen berücksichtig werden, welche Modellannahmen (wie die soeben skizzierten) sprengen. Die transatlantische Wirtschaftspolitik der drei Jahrzehnte nach 1945 war stark von der Blockkonfrontation des Kalten Krieges geprägt. Ebenso wichtig wie die ökonomischen und juridischen Konzepte, mit denen eine marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung abgesichert wurde, waren gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und geopolitische Machtstrategien. Mit dem European Recovery-Programme (Marshall-Plan) setzten die USA ab 1948 in starkem Maße ihre eigenen Vorstellungen einer Antitrust- und AntiKartellgesetzgebung durch. Marktliberale Konzepte wurden gegen beträchtliche Widerstände flächendeckend implementiert.33 Der Leitstern dieser wirtschaftspolitischen Maßnahmen hieß Effizienz. Daraus leitete sich eine Produktivitätssteigerungsstrategie ab, die eine kartellistische Verkrustung von Angebotsstrukturen mit niedrigen Zugangsschranken für neu gegründete Unternehmen zu verhindern trachtete.34 Diese Offenheit bedeutete allerdings keine eindimensionale Parteinahme für einen »freien Markt«. Sowohl der Ordoliberalismus in Deutschland als auch die in den 1950er Jahren über die USA hinaus dominierende »Chicago-Schule« und die bis in die 1970er Jahre hinein einflussreiche sog. »Harvard-Schule« wollten mit der Antikartellgesetzgebung ein ganzes Bündel von wirtschaftlich und gesellschaftlich relevanten Zielsetzungen erreichen. Es ging, neben der Verhinderung von Machtmissbrauch, um Innovationsförderung und um den Schutz kleiner und mittlerer Unternehmen. Die »Pax Americana«  – und damit der »freie Westen« insgesamt – verkörperte den Willen, die Weltwirtschaft durch den Abbau von Zoll- und Handelsschranken bzw. durch einen freien Güter- und Kapitalverkehr auf einen Wachstumskurs zu bringen. Dieser Kurs setzte sich vorteilhaft ab von der Großen Depression der 1930er Jahre. Nach 1945 versprachen ein koordinierter Kapitalismus bzw. die »soziale Marktwirtschaft« nicht nur Vollbeschäftigung und sichere Arbeitsplätze, sondern auch soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. Dies sprach in den meisten Fällen gegen, vereinzelt aber eben auch für Kartelle. 33 Lisa Murach-Brand, Antitrust auf deutsch. Der Einfluss der amerikanischen Alliierten auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) nach 1945, Tübingen 2004. 34 Volker Berghahn schreibt zu Recht, es sei dabei »um die Durchsetzung von in zwei Weltkriegen gegen Deutschland gewonnenen Einsichten« gegangen. Vgl. Volker Berghahn, Einige weiterführende Gedanken zu Holm A. Leonhardts Kartelltheorie und Internationale Beziehungen, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 61/1 (2016), S. 121–126, hier S. 125.

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Der Testfall für die europäische Integrationsbestrebungen war die Schaffung der Montanunion Anfang der 1950er Jahre. Als sich 1950 Gerüchte über eine deutsch-französische Zusammenarbeit in der Schwerindustrie ausbreiteten, schürte dies den Verdacht, hier werde ein privatwirtschaftliches Kartell geplant. Umgehend ging Jean Monnet, der Spiritus rector des Schuman-Plans und der erste Präsident dieser 1952 gegründeten Vereinigung, in die Offensive und regte die Schaffung eines gemeinsamen Kohle- und Stahlmarktes unter Supervision einer suprastaatlichen Hohen Behörde an, die sich gleichzeitig als Garant für Markt und Wettbewerb verstand.35 Mit der Gründung der EWG im Jahre 1957 wurden die Durchsetzung einer gemeinsamen Wettbewerbspolitik und der Kampf gegen Machtmissbrauch auf Märkten zu einer wichtigen Aufgabe der europäischen Politik erklärt. Trotz dieser allgemeinen »Freie-Markt«-Rhetorik, die während des Kalten Krieges im ganzen westlichen Lager angesagt war, praktizierte die EWG bzw. die EG allerdings einen »qualifizierten Liberalismus« mit einer selektiven Agenda, die staatliche Monopole und protektionistische Komponenten, insbesondere im Agrarbereich, mit einschloss.36 Wirtschaftliche Zusammenschlüsse und Antikartellpolitik passten auch dann gut zusammen, wenn es darum ging, die Wachstums- und Produktivitätsziele von Unternehmen zu unterstützen. Da kaum zwischen »freiem Unternehmertum« und »freiem Markt« unterschieden wurde, übten staatliche Wettbewerbsbehörden Zurückhaltung gegenüber vielfältigen Formen von Unternehmensmacht. In Deutschland lief die ganze Operation der »Dekartellierung« letztlich auf die Substitution des etablierten Modells einer regulierten Kartellwirtschaft durch das amerikanische Modell des oligopolistischen Wettbewerbs hinaus.37 D. h. die Entscheidungen von Firmen darüber, wie groß und stark sie werden wollten, wurden respektiert, wenn nicht gerade ein Super-Monopol zu befürchten war; im »mittleren Feld« der Hybride räumten die europäischen Behörden demgegenüber mit den Kartellpraktiken vieler Klein- und Mittelunternehmen auf, was deren Wettbewerbsfähigkeit eher stärkte als schwächte. Seit den 1970er Jahren legte es die zunehmend einflussreichere evolutorische Wettbewerbstheorie nahe, den Wettbewerb als dynamischen Prozess und Ausdruck organisierter Komplexität zu fassen.38 Der prinzipielle Antikartell-Reflex 35 Zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, wie die Montanunion offiziell genannt wurde, vgl. Matthias Kipping, Zwischen Kartellen und Konkurrenz. Der SchumanPlan und die Ursprünge der europäischen Einigung 1944–1952, Berlin 1996. Vgl. auch: Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018, S. 26–46, 299. 36 Dermot McCann, The Political Economy of the European Union. An Institutionalist Perspective, Cambridge 2010; Patel, Projekt Europa, S. 142, 239. 37 Berghahn, Gedanken, S. 124. 38 Uwe Cantner, Schumpeterian Perspectives on Innovation, Competition and Growth, Berlin 2009; Thomas Heidrich, Das evolutorisch-systemtheoretische Paradigma in der Wettbewerbstheorie. Alternatives Denken zu dem more economic approach, Baden-­ Baden 2009.

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wich pragmatischen Überlegungen, die von einer positiven Korrelation zwischen Firmengröße, Innovationsstärke und Disruptionspotenzial ausgingen. In den Economics of Scale and Scope wurde ein Wohlstandsfaktor gesehen. Je mehr Großunternehmen Märkte oligopolistisch organisierten, je mehr Großunternehmen und multinationale Konzerne – im Sinne der Schumpeterschen »kreativen Zerstörer« – über eine überlegende Marktmacht verfügten, desto stärker richtete sich die Antikartell-Politik nach unten, gegen die Selbständigkeitsbemühungen von Klein- und Mittelunternehmen (KMU), deren kartellistische Abwehrstrategien durchkreuzt wurden. Diese KMU gerieten – häufig über subcontracting – in die Abhängigkeit großer Unternehmen oder suchten sich zukunftsträchtige Produktions- und Absatznischen, in denen sich umgehend neue Kartellbestrebungen bemerkbar machten. Der Wildwuchs von Kartellformen und Konzentrationstendenzen gehörte weiterhin zur Signatur einer transnational und europäisch liberalisierten Marktwirtschaft. Dass das Kartellrecht häufig als Papiertiger bezeichnet wurde, hing zudem mit der richterlichen Rechtsauslegung zusammen, welche, im Einklang mit ökonomischen Überlegungen, die Interessen großer Firmen respektierte. In den USA waren solche Phänomene ebenfalls zu beobachten. Doch hier war die Anti-Kartell-Gesetzgebung traditionell griffiger und wurde in den 1970er Jahren nochmals verschärft. Im Jahr 1982 mündeten diese Bestrebungen in ein neues Gesetz, das die Reichweite der Antitrust-Laws auf nicht-amerikanische Unternehmen ausweitete, sofern diese für US -Märkte produzierten. Damit erhöhten die USA den transatlantischen Druck auf die EG, die sich ab Mitte der 1980er Jahre auf einen einheitlichen Binnenmarkt zubewegte und deren Wettbewerbsrecht nun neben privatwirtschaftlichen Kartellen auch verstärkt Staatsmonopole ins Visier nahm.39

6. Globalisierung, Shareholder Value und Antikartellpolitik Seit einigen Jahrzehnten – grosso modo seit den 1980er Jahren – haben sich die ökonomisch-theoretische Bewertung der Unternehmenslandschaft und der Umgang von Behörden mit Kartellen nochmals verändert. Und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen fand eine Industrieökonomik Resonanz, welche die Innovationsrate und die Resilienz kleiner und mittlerer Unternehmen weit positiver beurteilte, als dies früher der Fall war. Generell wird hier davon ausgegangen, dass in einem kompetitiven Markt mit einer großen Zahl von Wettbewerbern ein innovationsfreudigeres Klima existiert als in einem vermachteten Markt, der durch eine kleine Zahl von marktmächtigen Unternehmen dominiert wird. 39 Ernst-Joachim Mestmäcker, Towards a Concept of a Workable European Competition Law. Revisiting the Formative Period, in: Patel, Schweitzer (Hg.), The Historical Foundations of EU Competition Law, S. 191–206, hier S. 192; Patel, Projekt Europa, S. 124.

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Das Selbstmarketing der Großkonzerne kann nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass monopolistische Tendenzen wirtschaftliche Ineffizienz fördern und dass die Rolle des Staates für die Innovationsdynamik der Wirtschaft bisher stark unterschätzt wurde.40 Eine 2019 veröffentlichte Studie des Internationalen Währungsfonds (IMF), die auf Daten von einer Million Unternehmen aus 27 Industrie- und Schwellenländern basiert, zeigt für den Zeitraum 2005 bis 2015, dass jene zehn Prozent der Firmen, die ihre Preismargen – also das Verhältnis von Verkaufspreisen zu den Produktionskosten – am meisten gesteigert hatten, beunruhigend geringe Investitionen aufwiesen. Zudem hält die IMF-Studie fest, dass die gestiegene Marktmacht zum Sinken des Anteils der Arbeitseinkommen am nationalen Einkommen beigetragen hat. Eine Beschleunigung dieses Trends zu Markteintrittsbarrieren würde, so der IMF weiter, das Wirtschaftswachstum schwächen und die Ungleichheit erhöhen. Das Plädoyer für »gleich lange Spiesse« für alle und für »Chancengleichheit« auf Märkten richtet sich deutlich gegen oligopolistische Unternehmensstrukturen, gegen Kartelle und weitere Abschottungsmethoden.41 Eine anders gelagerte Kritik an Kartellen resultierte aus dem Aufstieg der Shareholder-Value-Maxime. Diese wurde 1986 vom US -amerikanischen Ökonomien Alfred Rappaport lanciert.42 In diesem Werk wurden andere Stakeholder immerhin noch erwähnt, doch in den 1990er Jahren rückten die Interessen der Shareholder zum exklusiven Repräsentanten des legitimen Unternehmenszwecks auf. So konterte der einflussreiche Schweizer Ökonom Karl Brunner, der ein enger Berater Margaret Thatchers gewesen war und die durchgreifende Deregulierung des Londoner Finanzplatz vorantrieb, die Kritik am »Nutzendiktat des Shareholders« mit dem Aufruf: »Was denn sonst?« Denn alles andere »wäre ja Betrug!«. Brunner wies das Konzept einer sogenannten »wertorientierten Unternehmung«, in der auch Arbeiternehmer / Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Kommunen und der Fiskus Ansprüche geltend machen können und in welcher der natürlichen Umwelt Rechnung getragen wird, schroff zurück. Seiner Meinung nach läuft »ein Stakeholder-Ansatz auf eine Kartellisierung von unberechtigten Interessen unter dem Vorwand willkürlich stipulierter Werte hinaus«.43 Zu diesen »Werten« zählt er den consumer surplus, den die EU-Kommission hochhält, und ebenso Forderungen nach Geschlechtergleichstellung, Arbeitnehmermitbestimmung und Umweltschutz, die alle negativ zu Buche schlagen müssen, weil die Steigerung des Shareholder Value das Haupt- und Exklusivziel 40 Mariana Mazzucato, The entrepreneurial state. Debunking Public vs. Private Sector Myths, London 2013. 41 IMF, World Economic Outlook. Growth Slowdown, Precarious Recovery, Washington DC 2019. 42 Alfred Rappaport, Creating Shareholder Value. The New Standard for Business Performance, New York 1986. 43 Konrad Hummler, Wer hat den Menschen besser erfasst? Unterschiedliche Menschenbilder trennten die beiden Schweizer Granden Robert Holzach und Karl Brunner, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. März 2019, S. 47.

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eines Unternehmens ist. Abgelehnt werden insbesondere Gewerkschaften, die aus dieser Sicht eine illegitime Kartellierung Arbeit betreiben.

7. Soft law und Leniency-Programme Unter diesen Bedingungen versuchen große, weltweit operierende Unternehmen, staatliches Recht durch Selbstregulation zu umgehen, indem sie auf soft law zurückgreifen.44 Diese Bezeichnung wird von strengen Rechtsverfechtern als contradictio in adjecto kritisiert und deutlich vom Völkerrecht unterschieden. Staatliche und wirtschaftliche Interessenvertreter weisen hingegen auf die lange Tradition von soft law innerhalb des Völkerrechts und auf die Vorteile dieses pragmatischen Rechtsinstruments für eine globale good goverance hin. Je stärker fragmentiert das internationale Wirtschaftsrecht ist, desto häufiger fallen die Begriffe diligence und speed. Um den Funktionsmodus des soft law zu verstehen, ist ein Blick auf die Finanzmarktregulierung hilfreich. Der Soziologe Sven Kette spricht vom Vormarsch einer »wissensorientierten Regulierung«, die Regulierungswissen nicht mehr einfach als Ressource der Regulierer betrachtet, sondern »als ein Medium, das Regulierungsinteraktionen steuert«.45 Der bisher geltende normative Ansatz, in dem vergangenheitsorientierte konditionale Entscheidungsprogramme mit einer »Wenn-dann«-Struktur vorherrschten, wird durch einen geschmeidigeren Ansatz verdrängt, der angestrebte Ziele und künftige Wirkungen ins Zentrum rückt, so dass Zweckprogramme die Grundlage für Entscheidungen schaffen. Die Bezeichnung soft law erhält hier eine wörtliche Bedeutung: Die Normen werden dehnbar und »weich«, weil sie nicht einfach durchgesetzt, sondern laufend neuen Erfordernissen und Einsichten angepasst werden. Sven Kette illustriert seine Überlegungen am soft law im Finanzsektor. Er analysiert die Regulierungswerke für die Finanzinstitute Basel I (1988), Basel II (2005) und Basel III (2010) – »Basel« steht hier für »Basler Ausschuss der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zur Regulierung von Banken«.46 Basel  I, das nur knapp über 50 Seiten umfasste, entsprach in seiner normativ-direkten 44 Soft law weist ein weites Anwendungsspektrum auf, von Migrations- und Klimapolitik bis hin zum internationalen Finanzsystem und weiteren Bereichen. Vgl. u. a. Pauline Westerman, Legal Validity and Soft Law, Cham 2018. Der Begriff soft law taucht im ­Google ngram-Viewer (der die relative Auftrittshäufigkeit von Buchstabenfolgen misst) im Deutschen (hier als eingebürgerter Anglizismus) und im Englischen in den ausgehenden 1970er Jahren auf und verzeichnet vor allem in den 1980er und 1990er Jahren einen fulminanten Zuwachs; im Deutschen gegenläufig zu »Völkerrecht« (letzter Zugriff April 2020). 45 Sven Kette, Refinanzierung als Organisationsproblem, in: Zeitschrift für Soziologie 46/5 (2017), S. 326–348, hier S. 339. 46 Vgl. dazu auch: Franziska Strauß, Soft Law als Steuerungsinstrument in der Bankenaufsicht. Eine Untersuchung im Völkerrecht, europäischen Unionsrecht und deutschen Verfassungsrecht am Beispiel der Basler Akkorde, Baden-Baden 2016.

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Ausrichtung noch den klassischen Formen nationalstaatlicher Bankenregulierung, die mit dem neuen Abkommen besser aufeinander abgestimmt, d. h. angeglichen werden sollten. Mit Basel II, einem mehrhundertseitigen Konvolut, wurde nun ein entscheidender Schritt gemacht, indem bankeigene Risikomodelle, -beobachtungen und -erwartungen im Regulierungsprozess anerkannt wurden, so dass der one-size-fits-it-all-Ansatz von Basel I einem menu approach wich. Nun ging man davon aus, dass Regulierer, die von außen kommen und die Firmen mit ihrer regulatorischen Messlatte konfrontieren, nicht mehr in der Lage seien, die Phänomene, die sie steuern möchten, überhaupt zu verstehen. Somit muss das Wissen, das Unternehmen selbst akkumuliert haben, in die Beurteilungslage integriert werden. Bei der der Angemessenheitsbeurteilung gelten keine ex ante definierten Kriterien mehr. Diese werden nun gemeinsam in Aushandlungen festgelegt. Das tendenziell endlose Seilziehen, bei dem nie so richtig klar ist, wer hier wen über den Tisch ziehen kann, wird dabei immer wieder durch Zwischenergebnisse unterbrochen. So kann der zeitlich und inhaltlich offene kooperativ-antagonistische Lernprozess als eine Reihe von »Entscheidungen« stilisiert werden, womit ein traditionelles Rechtssetzungsverfahren zumindest simuliert wird. Eine solche Praxis weicht stark ab von traditionellen Rechtsverständnis und läuft faktisch auf ein adjustment by doing hinaus, das eine starre »Buchstabe des Gesetzes«-Mentalität ablehnt und das die ratio legis für die fortgesetzte Umschreibung bzw. »Weichspülung« der Vorschriften nutzt. In den sogenannten Leniency-Programmen von Kartellbehörden ist eine analoge Logik am Werk.47 Auf das notorische Problem der Schattenexistenz und Intransparenz von Kartellvereinbarungen und dem auf diesem Gebiet herrschenden Erfindungsreichtum wird mit einem Selbstoffenbarungsangebot reagiert. Sünder gegen den freien Wettbewerb können ihre Geheimnisse im Austausch gegen eine milde, nachsichtige Behandlung ihrer Verstöße lüften. Wer die Kartellbehörden freiwillig, möglicherweise ethisch motiviert, über die Konstruktions- und Funktionsweise eines verdeckten, versteckten Kartells unterrichtet und die angewandten Tricks und Konstruktionen preisgibt, kann mit Straffreiheit (amnesty in den USA, immunity in Europa) rechnen oder die Strafe zumindest substanziell reduzieren. Voraussetzung ist, dass der Selbstanzeiger reuig, einsichtig und vor allem kooperationsbereit ist. Die Initiative muss zwingend im Vorfeld eines Strafverfahrens erfolgen; wer erst reagiert, wenn er vorgeladen ist, kann der Sanktion nicht mehr entgehen. Diese Programme nutzen also das Wissen der Beteiligten und offerieren ihnen einen institutionalisierten Whistleblower-Schutz. Dieser Ansatz wird seit der ersten Leniency Notice von 1996 auch von der Europäischen Union praktiziert. Hier hatte sich die Unfähigkeit der zuständigen Instanzen, das für eine speditive Umsetzung von Kartellrechtsverfahren und erst recht für die aktive Suche nach Wettbewerbsverstößen benötigte Personal 47 OECD (Hg.), Fighting hard-core cartels: harm, effective sanctions and leniency pro­ grammes, Paris 2002.

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bereitzustellen, weiter verschärft.48 Die Lancierung der Leniency-Programme versprach eine effektive Entlastung. Im Jahr 2006 präzisierte die EU die Anforderungen betreffend Zeitpunkt und Compliance für Leniency applicants. Es gehört zum psychologischen Design dieses Verfahrens, dass es nicht nur der Informationsgewinnung dient, sondern ganz explizit einen Verunsicherungs- und Abschreckungseffekt anstrebt. So lässt die Europäische Kommission auf ihrer Homepage verlauten: »The leniency policy also has  a very deterrent effect on cartel formation, and it destabilizes the operation of existing cartels as it seeds distrust and suspicion among cartel members.«49 Das Programm fügt einen firstmover advantage ins Kartell-Kalkül ein. Wenn jeder damit rechnen muss, dass möglicherweise ein Partner sich outet und den Vorteil zieht, so ist es attraktiv, das selbst zu tun und sich damit als »sauberer Akteur« zu präsentieren. Auf diese Weise wird eine Atmosphäre des Verdachts erzeugt, die Misstrauen sät und den Verrat fördert. Leniency-Programme wollen erreichen, dass in Kartell-Milieus Unbehagen und Stress entsteht, dass sich niemand mehr über den Weg traut. Sie bekämpfen Absprachen, indem sie Aussprachen belohnen. Einige Kommentatoren bezeichnen denn auch die schiere Existenz eines solchen Programms als einen veritablen game changer, der gerade dynamische und selbstbewusste Firmen ermutige, wohlstandsschädige Zusammenschlüsse mit kalkulierbaren Kosten zu offenbaren und zu verlassen. Eine Untersuchung aus dem Jahre 2016 zeigt, dass das Leniency-Programm der EU durchaus Wirkung zeitigt. Seit 2001 hat dessen Rolle, gemessen an der Gesamtzahl der Fälle, stark zugenommen.50 Insgesamt lässt sich feststellen, dass – nicht nur in der EU – ein immer größerer Teil der Verstöße gegen Kartellund Antitrustgesetze durch eine Art Partnerschaft zwischen Kartellisten und Behörden aufgedeckt wird. Im Hintergrund funktioniert nach wie vor der basale Tauschmodus Profit (Monopol- und Kartellrenten) gegen Bußzahlungen. Umgehend stellt sich hier die Frage, ob sich Bußen, die Kronzeugen anderen Firmen einbrocken, möglicherweise aus den vorher realisierten Gewinnen bezahlen lassen. Dies hat Einfluss auf den Zeitpunkt, zu dem Absprachen auffliegen. Wenn die Beteiligten genügend lange stillhalten, so schaffen sie eine Win-Win-Situation. Die Kartelle und die Kartellbehörden können Erfolge ausweisen; für die einen stimmt die Kasse, für die anderen der administrative Leistungsausweis. Dies fördert den moral hazard. Wir haben hier das Paradox einer public-­ private-partnership vor uns, die im Namen der Bekämpfung von Kartellen selbst wie ein intransparentes Kartell auszusehen beginnt und das den Unternehmen, wie häufig in einem solchen rechtlich informellen Spiel, aufgrund der nicht überwindbaren Informationsasymmetrien einen strukturellen Vorteil sichert. 48 Patel, Projekt Europa, S. 240. 49 European Commission, Competition. Cartels. Leniency, online: http://ec.europa.eu/ competition/cartels/leniency/leniency.html [aufgerufen am 09.03.2020]. 50 Wouter P. J. Wils, The Use of Leniency in EU Cartel Enforcement. An Assessment after Twenty Years, in: World Competition. Law and Economics Review 39/3 (2016), S. 327–388.

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Adolf Brauns »Kartell der Kartelle« von 1892 feiert mehr als ein Jahrhundert später unter entgegengesetzten politischen Vorzeichen in neuem Gewand eine Wiederauferstehung.51

8. Neukonfiguration des Kapitalismus Gegen eine solche kritische Sicht lässt sich einwenden, dass alternative Regulierungsmodi im Bereich der Kartelle wenig aussichtsreich sind. Weil die Internationalisierung von Großkonzernen und die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Klein- und Mittelunternehmen die Grenzen einer nationalstaatlich gerahmten Gesetzgebung auf flagrante Weise sichtbar gemacht haben, werden neue, supranationale und intergouvernementale Bekämpfungsmethoden zwingend nötig. Leniency-Programme hieven deshalb die rechtlichen Verfahren auf die europäische und internationale Ebene. Obwohl soft law nicht identisch mit dem Völkerrecht ist, stellt es dank seiner Anpassungsflexibilität eine wirksame Interventionsform dar, mit der sich die Aufgabe überhaupt angemessen stellen lässt. Kritiker rücken das soft law hingegen in einen größeren Zusammenhang und stellen fest, dass viele dieser rechtlich amorphen Eingriffsinstrumente und Lösungsmethoden dazu neigen, die Zuständigkeiten und die Machtbalance zwischen Unternehmen und Staat zugunsten privater Wirtschaftsmacht und auf Kosten einer demokratischen Entscheidungsfindung zu verlagern. Diese Beobachtung ist triftig und sie lässt sich auch in anderen Domänen dieses »weichen Rechts« machen. So weisen die Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, die aus den multilateralen Investitionsabkommen der 1990er Jahre hervorgegangen sind, eine ebensolche Schlagseite auf. Sosehr diese Vereinbarungen mit dem Anspruch antreten, faire Bedingungen für freien Wettbewerb über Ländergrenzen hinweg sicherzustellen, sosehr schanzen sie großen Firmen zusätzliche Rechte zu, vor allem jenes, Schadenersatzansprüche gegen Vertragsstaaten zu stellen. Wenn eine nationale Regulierung die Gewinnchancen eines Unternehmens und damit die von den Shareholdern erwarteten Vermögenszuwächse durch Steuergesetze oder Umweltauflagen beeinträchtigt, so sieht sich der Staat, der diese erlassen hat, möglicherweise mit Klagen konfrontiert. Es geht in diesen Abkommen also weniger um Freihandel als um den Schutz von Privilegien, die sich aus Eigentumsrechen ableiten. Freier Handel und freier Wettbewerb werden instrumentalisiert: Als Wohlstandsversprechen sollen sie ein dauerhaftes Ungleichheitsregime legitimieren.52 Wenn wir nochmals die heuristische Dreiteilung von Markt, Hybriden und Unternehmen (vgl. Tab. 1) aufgreifen, so zeigt sich, dass die entscheidenden 51 Michael Arthur Utton, Cartels and Economic Collusion. The Persistence of Corporate Conspitacies, Cheltenham 2011; Jörg Philipp Terhechte, International Competition Enforcement Law between Cooperation and Convergence, Berlin 2011. 52 Diese Interpretation schlägt Thomas Piketty, Capital et idéologie, Paris 2019, vor.

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Transformationen im Bereich hierarchisch organisierter, global operierender Unternehmen stattfinden. Es ist inzwischen nur noch beschränkt sinnvoll, von einem »Weltmarkt« zu sprechen, weil es mehr als der Hälfte der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Transaktionen zwischen Tochtergesellschaften und Filialen dieser Konzerne stattfinden. Dieser Intrakonzernhandel gehorcht nicht der Logik des Marktes, sondern globalen Optimierungsstrategien, die mittels Steuern (transfer pricing) und immateriellen Eigentumsrechten realisiert werden. Hierarchisch-bürokratische Organisationen sichern sich so einen strukturellen Vorteil gegenüber Märkten und hebeln die Transaktionskostentheorie aus. Die Politik bekämpft zwar nach wie vor (und immer wieder mit guten Gründen) »hybride« Organisationsformen wie Kartelle. Diese sind allerdings immer weniger »das« Problem, als das sie in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die ausgehenden 1970er Jahre dargestellt worden sind. Die Gründe für die Informationsasymmetrien, die das Wissensgefälle zwischen (wohlwissenden) privatwirtschaftlichen Akteuren und (häufig im Nebel stochernden) staatlichen Institutionen verursachen, sind heute in Unternehmen selbst und weniger in Absprachen zwischen ihnen zu suchen. Koordinationsanstrengungen zwischen Firmen sind nicht verschwunden, sie haben sich aber stärker auf das politische Lobbying verlagert, weil vorteilhafte staatliche Regulierungen ganzen Branchen zugutekommen. Das Ende des »großen Booms« markierte für diese Neukonfiguration des Kapitalismus, in dem auch die Finanzmärkte ein neues Gewicht erhalten haben, keine Zäsur.53 Der Umbau der Wettbewerbsordnung setzte erst in den 1980er Jahren ein. Allerdings ist er mit dem krisenhaften Umbruch der Prosperitätskonstellation Mitte der 1970er Jahre vielfältig verknüpft.

53 Zur Neukonfiguration von Gesellschaft und Wirtschaft seit den 1980er Jahren vgl. David Gugerli / Magaly Tornay, Das Zeitalter der Konfigurationen, 1980–2010. Ein Beitrag zur zeithistorischen Debatte, in: Historische Anthropologie 26/2 (2018), S. 224–244.

Paul Windolf

Von der korporatistischen Koordinierung zur staatlichen Regulierung Ein Paradigmenwechsel auf dem deutschen Finanzmarkt in den 1990er Jahren

1. Einleitung: Finanzmarkt-Gesetze Die deutsche Wirtschaft und insbesondere der Finanzmarkt galten noch bis vor wenigen Jahren als ein von »Insidern« kontrolliertes System.1 Die großen Aktiengesellschaften waren untereinander durch Personal- und Kapital­verflechtungen verbunden (Deutschland AG).2 Die deutschen Banken hielten noch bis Mitte der 1990er Jahre eine Mehrheitsbeteiligung an der Deutschen Börse.3 Sie hatten damit einen weitreichenden Einfluss auf die Organisation des Wertpapierhandels. Bis 1994 war Insider-Handel nicht strafbar.4 Insider-Handel wurde in einem Land, in dem die meisten großen Aktiengesellschaften von einem Mehrheitsaktionär kontrolliert wurden, nicht als Problem wahrgenommen.5 Dies hat sich inzwischen geändert. Seit den frühen 1990er Jahren beobachten wir auf dem Finanzmarkt eine staatliche Regulierungswelle, die es in dieser Form in Deutschland noch nicht gegeben hat und die das Bild eines von Insidern 1 Julian Franks u. a., The Origins of the German Corporation. Finance, Ownership and Control, in: Review of Finance 10 (2006), S. 537–585. 2 Vgl. Jürgen Beyer, Deutschland AG a. D. Deutsche Bank, Allianz und das Verflechtungszentrum großer deutscher Unternehmen, Köln 2002 (MPIfG Working Paper; 02/4); Martin Fiedler, Zur Rolle des Vertrauens in der ›Deutschland AG‹. Verflechtungen zwischen Finanz- und Nichtfinanzunternehmen im 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 46 (2005), S. 93–106; Ralf Ahrens u. a. (Hg.), Die »Deutschland AG«. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus, Essen 2013. 3 Private Banken hielten 54 %, öffentlich-rechtliche Kreditinstitute hielten 11,6 % des Aktienkapitals der Deutschen Börse AG . Vgl. Geschäftsbericht Deutsche Börse AG 1999, S. 100. 4 Insider-Handel ist in Deutschland erst seit dem 26. Juli 1994 strafbar (Zweites Finanzmarktförderungs-Gesetz). Der derzeit gültige Gesetzestext findet sich in § 14 Wertpapierhandels-Gesetz (WpHG). In den USA wurde der Insider-Handel 1942 durch die Regel 10(b) der SEC reguliert. Vgl. dazu Marco Ventoruzzo, Comparing Insider Trading in the United States and in the European Union. History and Recent Developments, Mailand 2014. 5 Von den 500 größten Aktiengesellschaften hatten 1992 ca. 80 % noch einen Mehrheitsaktionär, der 50 % oder mehr des Aktienanteils hielt. Vgl. dazu Paul Windolf / Jürgen Beyer, Kooperativer Kapitalismus. Unternehmensverflechtungen im internationalen Vergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47 (1995), S. 1–36.

Von der korporatistischen Koordinierung zur staatlichen Regulierung 

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verwalteten Finanzmarktes grundlegend geändert hat. Ausgangspunkt für den Übergang zu einem durch staatliche Gesetzgebung regulierten Markt waren vier Finanzmarkt-Förderungsgesetze (FMFG), die zwischen 1990 und 2002 in Kraft traten.6 Mit diesem Paradigmenwechsel wurden das Aktienrecht, das Börsengesetz, das Kapitalanlagegesetz und andere Finanzmarktgesetze novelliert.7 Hopt weist darauf hin, dass die Finanzmarkt-Gesetzgebung sich in Umfang und Komplexität der US -Finanzmarkt-Regulierung annähere.8 Er äußert Zweifel, ob man diese Entwicklung als »Fortschritt« bezeichnen könne, hält sie aber für unausweichlich, weil sie »durch den internationalen Wettbewerb und die Komplexität der Sachverhalte erzwungen« wird. Viele Gesetze wurden von der Europäischen Union vorgegeben, deren Ziel es ist, für Investoren und Finanzdienstleistungen einen europäischen Binnenmarkt zu realisieren.9 Das »neue« Paradigma eines durch staatliche Regulierung überwachten Finanzmarktes wurde in drei Schritten realisiert: Erstens wurden zahlreiche Gesetze und Verordnungen (darunter auch der corporate governance Kodex) verabschiedet, um die korporatistische Koordina­ tion der Finanzmärkte in Deutschland zu beenden. Die Personal- und Kapitalverflechtungen zwischen den Großunternehmen wurden aufgelöst.10 Die Banken haben ihre Anteile, die sie an der Deutschen Börse hielten, an institutionelle Investoren verkauft und damit die Kontrolle über den Wertpapierhandel an diese Akteure abgetreten.11 6 1. FMFG (22.2.1990); 2. FMFG (26.7.1994); 3. FMFG (24.3.1998); 4. FMFG (21.6.2002). In Großbritannien hat bereits einige Jahre zuvor mit dem »Big Bang« (1986) und dem Financial Services Act ein Paradigmen-Wechsel stattgefunden. Vgl. Michael Moran, The Politics of the Financial Services Revolution. The USA , UK , and Japan, London 1991. 7 Eine Liste ausgewählter Finanzmarkt-Gesetze findet sich am Ende dieses Beitrags in Anhang 1. 8 Klaus J. Hopt, Das Dritte Finanzmarktförderungsgesetz. Börsen- und kapitalmarktrechtliche Überlegungen, in: Jürgen Basedow u. a. (Hg.), Festschrift für Ulrich Drobnig zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 1998, S. 525–548, hier S. 526. 9 Thorsten Pötzsch, Reform der Europäischen Finanzaufsichtsstrukturen, in: Stefan Grundmann u. a. (Hg.), Festschrift für Klaus J. Hopt zum 70. Geburtstag. Unternehmen, Markt und Verantwortung, Berlin 2010, S. 2367–2384. 10 Zur Auflösung der Kapitalverflechtung vgl. Martin Höpner, Unternehmensverflechtung im Zwielicht. Hans Eichels Plan zur Auflösung der Deutschland AG , in: WSI Mitteilungen 53 (2000), S. 655–663; zur Auflösung der Personalverflechtung vgl. Paul Windolf, The Corporate Network in Germany, 1896–2010, in: Thomas David / Gerarda Westerhuis (Hg.), The Power of Corporate Networks. A Comparative and Historical Perspective, London 2014, S. 66–88. 11 Die Folgen dieses Verkaufs wurden 2005 sichtbar: Der Children Investment Fund TCI und der Atticus Fund, die zusammen ca. 19 % an der Deutschen Börse hielten, haben den Rücktritt der Vorsitzenden des Vorstands (W. Seifert) und des Aufsichtsrats (R. Breuer) erzwungen. Die »Kriegskasse«, die die Deutsche Börse angelegt hatte, um die London Stock Exchange zu übernehmen, wurde in Form von Sonderdividenden und Aktienrückkaufprogrammen an die Aktionäre ausgeschüttet. Vgl. Stefan Brass, Hedgefonds als aktive Investoren. Rechtliche Schranken und rechtspolitische Vorschläge, Frankfurt am Main 2010, S. 84–86.

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Zweitens trat an die Stelle der korporatistischen Koordinierung eine Koordination durch Markt und Konkurrenz im europäischen Binnenmarkt. Die EU hat zahlreiche Finanzmarkt-Richtlinien verabschiedet, die den ungehinderten Zugang von institutionellen Investoren und Finanzmarktprodukten im Binnenmarkt garantieren soll. Der Europäische Gerichtshof war ein weiterer Akteur, der mit zahlreichen Entscheidungen die Durchsetzung eines offenen Konkurrenzmarktes in der Europäischen Union gefördert hat.12 Die paradoxen Folgen einer Liberalisierung der Märkte zeigen sich drittens darin, dass Marktfreiheit nicht weniger, sondern mehr Regulierung erforderlich macht.13 Staatliche Aufsicht musste das Vakuum füllen, das der Zerfall korporatistischer Koordinierung hinterlassen hatte. Für Finanzmärkte, auf denen ständig neue Produkte erfunden werden (um bestehende Regulierungen zu umgehen), sind permanent Gesetzes-Novellierungen erforderlich, die das Komplexitätsniveau der Regulierung insgesamt ansteigen lassen.14 Im Fokus vieler Finanzmarkt-Gesetze, die während der vergangenen zwei Jahrzehnte verabschiedet wurden, stehen die institutionellen Investoren und die Produkte, die von diesen Akteuren angeboten werden. Zu den institutionellen Investoren zählen die Investment- und Pensions-Fonds, die Hedge-Fonds, private equity, Banken und Versicherungen. Die Gesetze regeln die Zugangsbedingungen, die Registrierungspflichten, das Eigenkapital und weitere Details, die für institutionelle Investoren von Bedeutung sind. Zu den Produkten zählt die große Zahl von Fonds und Derivaten, zwischen denen das Publikum inzwischen wählen kann (Aktienfonds, Immobilienfonds, Zertifikate, Optionen, etc.). Der nächste Abschnitt wendet sich der Frage zu, warum gerade diese Gruppe von Finanzmarkt-Akteuren im Fokus der Gesetzgebung stand.

12 Fritz Scharpf, The Double Asymmetry of European Integration, Or: Why the EU Cannot Be a Social Market Economy, Köln 2012 (MPIfG Working Paper; 09/12); Nina Bergmann, Niederlassungsfreiheit. Wegzug und Zuzug von Gesellschaften in der EU, in: Zeitschrift für europarechtliche Studien 15 (2012), S. 233–257. 13 Steven Vogel, Freer Markets, More Rules. Regulatory Reform in Advanced Industrial Countries, Ithaca 1996. 14 Beispiel: Bei den (gescheiterten) Übernahmen von Volkswagen (durch Porsche, 2008) und von Continental (durch die Schaeffler-Gruppe, 2008) haben die Angreifer die Meldepflichten für ihre Aktienanteile durch den Erwerb von Optionen und cash settled equity swaps umgangen. Der Gesetzgeber hat daraufhin das WpHG novelliert und im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts (7.4.2011) den § 25a in das WpHG eingefügt, der die Meldepflicht für derartige Instrumente vorsieht (bei Überschreiten der entsprechenden Schwellen). Vgl. Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts vom 7.4.2011, in: Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 14, 2011, S. 538–548.

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2. Der Aufstieg der institutionellen Investoren Seit Mitte der 1960er Jahre steigt der Anteil kontinuierlich an, den die institutionellen Investoren an den 1000 größten US -Aktiengesellschaften halten. Im Jahr 1965 betrug er 11 %, bis 2017 ist er auf 80 % gestiegen (Grafik 1). Die einzelnen institutionellen Anleger halten zwar an jedem Unternehmen nur relativ kleine Anteile, als Kollektiv können die institutionellen Investoren die Hauptversammlung der großen Aktiengesellschaften jedoch kontrollieren. Grafik 1 zeigt weiterhin, dass sich die durchschnittliche Haltedauer der Aktien gegenläufig verhalten hat. Die Haltedauer gibt an, wie lange die Aktionäre ihre Aktien halten, bevor sie ihre Anteile wieder verkaufen. Die Kleinanleger, d. h. die Personen und Familien, die in den 1960er Jahren noch die dominanten Eigentümer der Aktiengesellschaften waren, haben ihre Aktien im Durchschnitt 8,33 Jahre gehalten (1960). Die institutionellen Investoren halten ihre Aktien im Durchschnitt nur noch 18 Monate (2017). Sie sind instabile Eigentümer mit kurzem Investitionshorizont (short termism). Grafik 1: Institutionelle Investoren und durchschnittliche Haltedauer – USA ­(1960–2017).

Anmerkung: Aufsteigende Linie: Anteil des Aktienkapitals (in Prozent), den die institutionellen Investoren an den 1000 größten Aktiengesellschaften halten (rechte Y-Achse). Absteigende Linie: Durchschnittliche Haltedauer der Aktien in Jahren an der NYSE (linke Y-Achse). Quellen: Anhang 3, eigene Berechnungen.

Eine vergleichbare Entwicklung hat seit 2000 bei den großen deutschen Aktiengesellschaften stattgefunden, die im DAX gelistet sind. Institutionelle Anleger halten ca. 81 % des Aktienkapitals der Deutschen Bank; bei Siemens beträgt

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dieser Anteil 70 %, bei der Daimler AG 71 %, etc.15 Die durchschnittliche Haltedauer der 30 im DAX gelisteten Unternehmen betrug für die Jahre 2010/11 ca. 8 Monate.16 Welche sozio-ökonomischen Entwicklungen können den kontinuierlichen Aufstieg der institutionellen Investoren erklären? – Es hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine lang anhaltende wirtschaftliche Prosperität gegeben, die zum Vermögensaufbau nicht nur in der Oberschicht, sondern auch in der Mittelschicht beigetragen hat. Thomas Piketty hat in seinen historischen Untersuchungen nachgewiesen, dass sich das gesamte Vermögen, über das die entwickelten Gesellschaften des Westens verfügen, inzwischen wieder dem Niveau nähert, das vor dem Ersten Weltkrieg erreicht wurde (gemessen in Einheiten des Nationaleinkommens).17 – Piketty hat weiterhin gezeigt, dass dieses Vermögen nicht gleichmäßig verteilt ist. Seit den 1970er Jahren ist eine zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung zu beobachten, die zu einer Vermögenskonzentration in den Oberschichten geführt hat (Top–1 % der Vermögensbesitzer).18 Diese Gruppe hat eine deutlich höhere Sparquote  – verglichen mit den unteren 50 % der Gesellschaft. – Die reichen und entwickelten Gesellschaften sind alternde Gesellschaften. Wegen der gestiegenen Lebenserwartung hat sich die durchschnittliche Rentenbezugsdauer zwischen 1960 und 2010 annähernd verdoppelt (von zehn auf zwanzig Jahre). Daraus folgt, dass die Bevölkerung einen wachsenden Anteil des Einkommens für die Altersvorsorge spart.19 Dieses angesparte Kapital finden wir auf den Finanzmärkten als anlagesuchendes Kapital wieder, das – wie jedes andere Kapital – eine möglichst hohe Rendite anstrebt. Die Vermögens15 Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2017. Vgl. Daimler AG: Geschäftsbericht 2017, S. 80; Siemens AG: https://new.siemens.com/global/de/unternehmen/investor-relations/aktieanleihen-rating/aktionaersstruktur-stimmrechtsmitteilungen.html; Deutsche Bank AG: https://www.db.com / ir / de / a ktionaersstruktur.htm (Aufgerufen: Februar 2019). 16 Die Daten stammen aus einem Forschungsprojekt, das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. Vgl. dazu Paul Windolf, Verursachen institutionelle Investoren Finanz­marktkrisen? 22 OECD -Länder im Vergleich, 2000–2013, in: Leviathan 42 (2014), S. ­573–605. 17 Im Jahr 1910 entsprach das akkumulierte Vermögen in Frankreich und England dem 7-fachen des Nationaleinkommens; in Deutschland dem 6-fachen. 2010 entsprach das akkumulierte Vermögen in Frankreich und England dem 5,5-fachen des Nationaleinkommens, in Deutschland dem 4-fachen. In den USA entsprach das akkumulierte Vermögen zu beiden Zeitpunkten dem 4-fachen des Nationaleinkommens. Vgl. Thomas Piketty, Le capital au XXIe siècle, Paris 2013, hier S. 54, 243, 461. 18 Diese Ungleichverteilung ist besonders ausgeprägt in den USA . Vgl. Piketty, Le capital. 19 Carl Christian von Weizsäcker, Staatliches Gewaltmonopol. Staatsverschuldung und individuelle Vorsorge, St. Gallen 2011, hier S. 25. Weizsäcker spricht von »Anlagenotstand«, weil diesem anlagesuchenden Kapital keine entsprechende Nachfrage gegenübersteht. Er leitet aus der zunehmenden Rentenbezugsdauer die Notwendigkeit der Staatsverschuldung ab.

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masse, die für die Altersvorsorge angespart wird, ist vor allem in jenen Ländern hoch, in denen die Altersversorgung über kapitalgedeckte Renten gesichert wird (USA, NL , GB). Für Deutschland gilt: Wenn die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung den Umweg über die Finanzmärkte nehmen würden, ständen den institutionellen Investoren ca. 200 Mrd. Euro im Jahr zusätzlich zur Verfügung.20 – Darüber hinaus hat seit den 1960er Jahren eine sprunghafte Entwicklung der Finanzwissenschaft stattgefunden. Die institutionellen Investoren sind professionalisierte Finanzintermediäre, die für jedes Anlagebedürfnis und für jede Risikoneigung entsprechende Produkte entwickelt haben. Sie können dem Publikum eine breite Diversifizierung der Vermögensanlage anbieten, die (zumindest theoretisch) das Risiko reduziert. Aufgrund ihrer Vernetzung haben sie gegenüber dem Publikum einen Informationsvorsprung. Im Vergleich zu den institutionellen Investoren sind die meisten Kleinanleger Dilettanten. Professionalisierung und Informationsvorsprung sind wichtige Ursachen, die die Umschichtung des Aktienbesitzes von den Kleinanlegern zu den institutionellen Investoren erklären können. Es bleibt somit festzuhalten, dass es auf den globalen Finanzmärkten eine ständig wachsende Masse an vagabundierendem Kapital gibt, das eine möglichst hohe Rendite sucht. Die institutionellen Investoren sind das Sammelbecken für dieses Kapital. Ein Teil dieses Kapitals wird in Aktienfonds angelegt. Damit werden die institutionellen Investoren zu Eigentümern der großen Aktiengesellschaften. Als Eigentümer (Aktionäre) können sie alle Rechte geltend machen, die ihnen das Aktienrecht einräumt. Anders ausgedrückt: Die institutionellen Investoren sammeln other people’s money21 und transformieren es in property rights an den großen Aktiengesellschaften. Der deutsche Finanzmarkt – und insbesondere der Aktienmarkt – war ein geschlossener Markt unter der korporatistischen Kontrolle der Universalbanken und der großen Konzerne. Die Banken kontrollierten die Börse, die Konzerne waren untereinander durch Kapitalbeteiligungen verbunden. Dieser Markt war für institutionelle Investoren bis in die 1990er Jahre weitgehend geschlossen. Die Kapitalströme, deren Herkunft gerade aufgezeigt wurde, sind bis dahin am deutschen Finanzmarkt vorbei in andere Kanäle geflossen. Dieser Wettbewerbsnachteil und das wegen der hohen und andauernden Arbeitslosigkeit in Verruf geratene »Modell Deutschland« können erklären, warum sowohl CDU / FDP geführte Regierungen als auch die rot-grüne Regierung mit einer hyperaktiven Finanzmarkt-Gesetzgebung auf die lang anhaltende Wirtschaftskrise der 1990er Jahre reagiert haben. Die Kapitalströme sollten nicht länger nach Luxemburg oder Cayman Island fließen, sondern in deutsche Aktiengesellschaften investiert werden. Um dies zu erreichen, musste man den angelsächsischen 20 Vgl. Rentenversicherung in Zahlen 2015. Berlin 2015, S. 19, Einnahmen (201 Mrd. Euro ohne staatliche Zuschüsse). 21 Louis Brandeis, Other People’s Money and How the Bankers Use It, Boston 1995.

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institutionellen Investoren Bedingungen bieten, die denen in den USA vergleichbar waren. Die institutionellen Investoren werden durch Finanzmarktgesetze nicht nur reguliert, sondern auch legitimiert. Die Investoren müssen eine Vielzahl von gesetzlichen Vorschriften beachten. Aber indem sie in dieses Netz von Gesetzen eingebunden werden, können sie sich gegenüber dem anlagesuchenden Publikum als vertrauenswürdige und kompetente Vermögensverwalter legitimieren. Das Publikum investiert nicht mehr selbst, sondern lässt investieren (Fonds). Institutionelle Investoren werden durch Kompetenz (Professionalisierung) und Gesetz legitimiert. Weiterhin muss beachtet werden, dass die Adressaten der Regulierung – die institutionellen Investoren  – maßgeblichen Einfluss auf die Regulierung genommen haben. Die Regulierungsgesetze waren in vielen Fällen private interest legislation, die den Interessen der institutionellen Anleger entgegenkamen.22 Dieser Zusammenhang zwischen privaten Interessen und staatlicher Regulierung soll im Folgenden an drei Beispielen verdeutlicht werden: Feindliche Übernahmen (§ 33 WpÜG), Aktienoptionen für Vorstandsmitglieder (§ 192 AktG) und Aktienrückkaufprogramme (§ 71 AktG).

3. Feindliche Übernahmen Feindliche Übernahmen sind eine Innovation des Finanzmarktes. Während der 1980er Jahre waren fast Dreiviertel der im Standard & Poor’s 500 gelisteten ­ S -Firmen Objekt einer erfolgreichen oder versuchten feindlichen Übernahme. U In der Hand von aktiven Investoren23 wurden feindliche Übernahmen zu einem Instrument, mit dem vor allem drei Ziele verwirklicht werden konnten: – Feindliche Übernahmen haben das Ende der Managerherrschaft eingeläutet. Wenn die Übernahme erfolgreich ist, wird das amtierende Management in der Regel entlassen. Das Unternehmen wird in seine Einzelteile zerlegt und auf dem Markt für Unternehmenskontrolle verkauft.24 Häufig wird auch ein Teil der Belegschaft entlassen (Restrukturierung). – Feindliche Übernahmen haben zur Umstrukturierung und insgesamt zu einer höheren Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der US -Wirtschaft beigetragen. Mit Hilfe dieses Instruments wurden ineffiziente Konglomerate zer22 Zu den Begriffen »public interest legislation / private interest legislation (capture)« vgl. Thomas McCraw, Regulation in America. A Review Article, in: Business History Review 49 (1975), S. 159–183; Paul Mahoney, The Origins of the Blue-Sky Laws. A Test of Competing Hypotheses, in: Journal of Law and Economics 46 (2003), S. 229–251. 23 In den USA werden diese »aktiven« Investoren häufig als raider bezeichnet (Räuber, Plünderer). 24 Diese Übernahmen werden als bust-up hostile takeovers bezeichnet (Zerschlagungsübernahmen).

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schlagen, die in den 1960er und 1970er Jahren vom Management aufgebaut wurden.25 – Feindliche Übernahmen sind eine glaubwürdige Drohung, die Manager veranlasst, die Prinzipien des shareholder value in ihrem Unternehmen einzuhalten. Um ihre Wirkung zu entfalten, müssen feindliche Übernahmen nicht tatsächlich ausgeführt werden. Ihre Wirkung liegt vielmehr im Drohpotential, das sie entfalten.26 Manager antizipieren, dass sie mit einer feindlichen Übernahme rechnen müssen, wenn sie dauerhaft die Prinzipien des shareholder value verletzen. Feindliche Übernahmen sind ein starkes Sanktionsmittel, das die Folgebereitschaft der Manager gegenüber den institutionellen Investoren sichern soll. Feindliche Übernahmen sind in den USA kontrovers diskutiert worden. Ökonomen und Juristen, die feindliche Übernahmen befürworten, sehen darin ein wirkungsvolles Instrument, um ein inkompetentes Management zu disziplinieren. Die Gegner sehen in feindlichen Übernahmen nur ein Mittel, das der exzessiven Bereicherung der Finanzmarkt-Akteure dient.27 Nachdem im Juli 2001 ein einheitliches europäisches Übernahmerecht am Widerstand des europäischen Parlaments gescheitert war,28 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Übernahme-Gesetz, das im Januar 2002 in Kraft trat. Dieses Gesetz verbietet dem Vorstand der Zielgesellschaft, »Handlungen vorzunehmen, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte«.29 Mit diesem »Verhinderungsverbot« soll erreicht werden, dass die Aktionäre – und nicht das Management – über die Annahme oder Ablehnung eines (feindlichen) Übernahmeangebotes entscheiden. Das Gesetz gestattet Abwehrmaßnahmen, wenn diese zuvor vom Aufsichtsrat genehmigt wurden. Allerdings werden die Abwehrmaßnahmen, die das Management ergreifen kann, durch das Aktienrecht und andere Gesetze stark eingeschränkt.30 25 Gerald Davis u. a., The Decline and Fall of the Conglomerate Firm in the 1980s. The Deinstitutionalization of an Organizational Form, in: American Sociological Review 59 (1994), S. 547–570. 26 Zum Konzept der »glaubwürdigen Drohung« (credible threat) vgl. Daniel Klein / Brendan O’Flaherty, A Game-Theoretic Rendering of Promises and Threats, in: Journal of Economic Behavior and Organization 21 (1993), S. 295–314. 27 Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge in John C. Coffee u. a., Knights, Raiders and Targets. The Impact of the Hostile Takeover, Oxford 1988. 28 Der Kompromissvorschlag des Rats und der Kommission wurde am 4.7.2001 vom Europäischen Parlament (bei Stimmengleichheit) abgelehnt. Der Vorschlag scheiterte nicht zuletzt am Widerstand der deutschen Parlamentarier, die einen »Ausverkauf« deutscher Unternehmen befürchteten. Vgl. Stefan Maier, Pflichten der Leitungsorgane und Rechte der Aktionäre bei der Abwehr feindlicher Übernahmeangebote. Eine rechtsvergleichende Untersuchung des US -amerikanischen und des Deutschen Rechts, Hamburg 2009. 29 Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) § 33. 30 Die verschiedenen Abwehrmaßnahmen und ihre rechtliche Zulässigkeit werden diskutiert in: Stefan Erbach, Das WpÜG im europarechtlichen Kontext. Eine rechtspoliti-

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Im April 2004 stimmte das Europäische Parlament schließlich einer Richtlinie zu, die Übernahmen im Binnenmarkt einheitlich regeln sollen.31 Im Juli 2006 wurde diese Richtlinie in deutsches Recht übernommen (Novellierung des WpÜG). Wenn man die Abwehrmaßnahmen, die das europäische Recht den Managern gestattet, mit dem US -Übernahmerecht vergleicht, wird ein bemerkenswerter Unterschied deutlich: Die US -Manager verfügen über eine wirkungsvolle Abwehrmaßnahme, die deutsche Manager nicht einsetzen dürfen (poison pill): In den USA fällt das Aktienrecht (corporate law) in die Zuständigkeit der Einzelstaaten. Daher gibt es in den USA ungefähr so viele Aktiengesetze, wie es Einzelstaaten gibt.32 Die meisten Großunternehmen haben sich jedoch im Staat Delaware inkorporiert.33 Daher gilt für sie das Aktiengesetz des Staates Delaware. Dieses Gesetz enthält jedoch keine Regelung für (feindliche) Übernahmen. Das Übernahme-Gesetz ist weitgehend Richterrecht. Fast jede feindliche Übernahme wird von einer gerichtlichen Auseinandersetzung begleitet.34 Das höchste Gericht in Delaware hat in mehreren Entscheidungen eine Abwehrmaßnahme gebilligt, die als poison pill bezeichnet wird.35 Bisher war noch kein US -Unternehmen Opfer einer feindlichen Übernahme, das eine poison pill implementiert hatte. Wenn eine poison pill aktiviert wird, kann das Management neue Aktien zu einem Vorzugspreis an seine Aktionäre ausgeben. Von dieser Kapitalerhöhung ist der angreifende Großaktionär (der die feindliche Übernahme initiiert) ausgeschlossen. Die Abwehrmaßnahme führt also zu einer ungleichen Behandlung der Aktionäre, die von den Gerichten in Delaware genehmigt wurde, die vom deutschen Aktienrecht jedoch ausgeschlossen wird. Die Implementierung einer poison pill ist mit dem deutschen Aktienrecht nicht vereinbar.36

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sche Analyse am Beispiel der Übernahme der Hochtief AG durch ACS , Hamburg 2012, S. 94–100; Hartmut Krause, Prophylaxe gegen feindliche Übernahmeangebote, in: Die Aktiengesellschaft 47 (2002), S. 133–144. Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote. Vgl. dazu Christoph Seibt / K ristian Heiser, Analyse der EU-Übernahmerichtlinie und Hinweise für eine Reform des deutschen Übernahmerechts, in: Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht 34 (2005), S. 200–251. Das Aktiengesetz in den USA ist ein Beispiel für Institutionen-Konkurrenz. Die Einzelstaaten verabschieden unterschiedliche Aktiengesetze, die mehr oder weniger »aktionärsfreundlich« sind. Die Unternehmen entscheiden, wo sie sich inkorporieren (regime shopping). Im Staat Delaware sind ca. 58 % der börsennotierten US -Unternehmen inkorporiert. Vgl. Lucian Bebchuk / Assaf Hamdani, Vigorous Race or Leisurely Walk. Reconsidering the Competition over Corporate Charters, in: Yale Law Journal 112 (2002), S. 553–615, hier S. 564, 567. Leo Strine, The Story of Blasius Industries v. Atlas Corp. Keeping the Electoral Path to Takeovers Clear, in: Mark Ramseyer (Hg.), Corporate Law Stories, New York 2009, S. 243–291, hier S. 278 f. Die technischen Details der poison pill werden in Anhang 2 erläutert. »Aktionäre sind unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln« (§ 53a AktG).

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Das US -Finanzmarkt-Gesetz (Delaware)  gestattet den Managern also, Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, die sich als wirkungsvoll erwiesen haben und die es den Managern gestatten, sich erfolgreich gegen feindliche Übernahmen zu wehren. Das deutsche und das europäische Übernahme-Recht37 hingegen schließen diese Abwehrmaßnahmen aus. Die Manager deutscher Unternehmen sind auf Abwehrmaßnahmen angewiesen, die eine nur geringe abschreckende Wirkung haben.38 Es ist bemerkenswert, dass der deutsche und der europäische Gesetzgeber einen »offenen« Markt für Unternehmenskontrolle geschaffen haben, den es in dieser Form in den USA nicht gibt. Man könnte auch sagen, dass der europäische Gesetzgeber versucht hat, »neoliberaler« als die USA zu sein. Wenn man die Entstehungsgeschichte der Richtlinie verfolgt, wird deutlich, dass vor allem britische Finanzmarktakteure versucht haben, ihre Interessen bei der Begrenzung der Abwehrmaßnahmen zur Geltung zu bringen. Sie waren zumindest teilweise erfolgreich (private interest legislation). Die Übernahme-Richtlinie, die von der Europäischen Union verabschiedet wurde, orientiert sich am City Code on Takeovers and Mergers (London), der detaillierte Vorschriften über das Verhalten der Manager im Falle eines Übernahmeangebots enthält.39 Die Kommission (Takeover Panel), die die Einhaltung des Code überwacht und für die Weiterentwicklung zuständig ist, setzt sich aus 32 Mitgliedern zusammen. Der Vorsitzende ist Michael Crane, Partner in einer der führenden Rechtsanwaltskanzleien in London.40 Von den insgesamt 32 Panel-Mitgliedern kann man zwanzig dem Interessenkreis der Finanzwirtschaft zuordnen, drei Mitglieder kommen aus der »Real«ökonomie und es gibt einen Vertreter der Gewerkschaften.41 Die Zusammensetzung des Panel (62,5 % der Mitglieder vertreten die Interessen der Finanzwirtschaft) zeigt, in welcher Weise die Akteure des Finanzmarktes ihre Interessen mit Hilfe von Regulierungsgesetzen und Codes durchsetzen.

37 Die europäische Übernahme-Richtlinie (2004/25/EG) ist hinsichtlich der Abwehrmaßnahmen restriktiver als das deutsche Recht. Die Richtlinie wurde in deutsches Recht mit Hilfe der §§ 33a–c WpÜG umgesetzt. Die deutschen Aktiengesellschaften können in ihrer Satzung festlegen, ob für sie das restriktivere europäische Recht gelten soll. 38 Krause, Prophylaxe. 39 The Panel on Takeovers and Mergers: City Code (Fassung: Sept. 2016), insbesondere Section I (Conduct during the offer). Vgl. http://www.thetakeoverpanel.org.uk/the-code/ download-code (Aufgerufen: Februar 2019). Der City Code (London) gilt nur für Unternehmen, die an der London Stock Exchange notiert sind. 40 Michael Crane ist Queens Council (QC); er ist barrister in der Rechtsanwaltskanzlei Fountain Court Chambers (London). 41 Die Namen der Panel-Mitglieder finden sich auf der Internetseite des Takeover Panel. Vgl. http://www.thetakeoverpanel.org.uk/structure/panel-membership#membership (Aufgerufen: Februar 2019).

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4. Aktienoptionen für Vorstandsmitglieder Feindliche Übernahmen sind die Peitsche, Aktienoptionen sind das Zuckerbrot, mit denen Manager auf die Prinzipien des shareholder value verpflichtet werden sollen. In einem einflussreichen Aufsatz haben Jensen und Murphy argumentiert, Aktionäre sollten bereit sein, hohe Managementvergütungen zu akzeptieren, wenn damit die Interessen der Aktionäre durchgesetzt werden können.42 Seit Mitte der 1990er Jahre sind feindliche Übernahmen seltener geworden. In fast allen Unternehmen wurden Aktienoptionen für das Top-Management eingeführt, die zu einer enormen Einkommenssteigerung der Manager geführt haben. Grafik 2 zeigt die Entwicklung von drei Variablen im Zeitraum 1985–2017: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Kurssteigerung des DAX und die Gesamtvergütung der Mitglieder des Vorstands der 30 Unternehmen, die im DAX gelistet sind. Alle Zeitreihen wurden inflationsbereinigt, die Steigerungsraten sind also reale Wachstumsraten. Das BIP ist im Zeitraum 1985–2017 um 174 % gestiegen; der DAX ist um 457 % gestiegen, die durchschnittliche Vergütung der Vorstandsmitglieder ist um 448 % gestiegen. Wenn man die Gruppe der technischen Angestellten als Vergleichsmaßstab wählt, ergibt sich folgendes Ergebnis: 1985 verdienten die Mitglieder des Vorstands der 30 Dax-Unternehmen im Durchschnitt 13,5mal mehr als die technischen Angestellten der Leistungsgruppe II; 2017 verdienten sie 37,2mal mehr.43 Das Einkommen der Top-Manager hat sich also nicht nur vom Einkommen der unqualifizierten Arbeiter entkoppelt, sondern auch von einer Kerngruppe des qualifizierten Personals, das für den technischen Fortschritt in den Großunternehmen verantwortlich ist. Bemerkenswert an den Daten, die in Grafik 2 präsentiert werden, ist nicht nur die enorme Einkommenssteigerung der Vorstandsmitglieder und die Zunahme der sozialen Ungleichheit,44 sondern auch die hohe Korrelation zwischen dem Aktienindex und dem Einkommen der Top-Manager. Die Vorstandsmitglieder erreichen ein Spitzeneinkommen, wenn auch der Aktienindex Spitzenwerte erreicht. Es gibt für Manager somit einen starken Anreiz, den Aktienkurs mit allen Mitteln in die Höhe zu treiben.45

42 Michael Jensen / Kevin Murphy, Performance Pay and Top-Management Incentives, in: Journal of Political Economy 98/2 (1990), S. 225–264. 43 Vgl. Anhang 3. 44 Die Daten in Grafik 2 bestätigen die Analyse der »Super-Einkommen« (Top 1 % der Einkommensbezieher), die Piketty vorgelegt hat. Vgl. Piketty, Le capital, S. 471 ff. 45 Lucian Bebchuk / Jesse Fried, Executive Compensation as an Agency Problem, in: Journal of Economic Perspectives 17 (2003), S. 71–92.

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Grafik 2: Reale Wachstumsraten: BIP – DAX – Vergütung.

Anmerkung: Die Grafik zeigt drei Zeitreihen für den Zeitraum 1985–2017: Die Wachstums­ raten des Bruttosinlandsprodukts (BIP, untere Linie), des Aktienindex DAX (mittlere Linie) und der Gesamtvergütung der Mitglieder des Vorstands der 30 DAX Unternehmen (obere Linie). Alle Wachstumsraten wurden inflationsbereinigt und auf das Jahr 1985 (= 100 %) standardisiert. Y-Achse: Wachstumsraten in Prozent. Wachstumsraten bis zum Jahr 2017: BIP: 173,9 %; DAX : 457,2 %; Vorstandsvergütung: 447,7 %. Quellen: Anhang 3, eigene Berechnungen.

Dazu ein Beispiel: Die Top-Manager sind über ihr eigenes Unternehmen besser informiert als die Aktionäre (Informationsasymmetrie). Edmans u. a. zeigen in einer Studie, dass Top-Manager positive Informationen über ihr Unternehmen zu einem Zeitpunkt verbreiten, zu dem ihre Aktienoptionen fällig werden.46 Die positiven Informationen führen zu einer kurzfristen Kurssteigerung, die die Manager nutzen, um ihre Aktienoptionen einzulösen. Ein weiteres Mittel, den Aktienkurs kurzfristig zu steigern, sind Aktienrückkaufprogramme, die im nächsten Abschnitt analysiert werden. Aktienoptionen und die damit erreichte Abhängigkeit des Einkommens der Manager vom Aktienkurs ihres Unternehmens haben den Interessengegensatz zwischen Managern und Aktionären in eine partielle Interessengemeinschaft umgewandelt. An die Stelle feindlicher Übernahmen sind Aktienoptionen getreten, die dazu führen, dass sowohl Manager als auch Aktionäre ein Einkommensmaximum realisieren können, wenn die Kurse permanent nach oben getrieben werden. Mit der Novellierung des Aktiengesetzes im Mai 1998 wurden Aktien­ optionen – als variabler Bestandteil der Vorstandsvergütung – legalisiert. Die 46 Alex Edmans u. a., Strategic news releases in equity vesting months, Cambridge 2014 (NBER Working Paper No. 20476). Vgl. http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_ id=2489152 (Aufgerufen: Februar 2019).

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Hauptversammlung kann eine Kapitalerhöhung beschließen, um damit »Bezugsrechte« (= Aktienoptionen) für die »Mitglieder der Geschäftsführung« zu gewähren.47 Damit wurde eine Vergütungsform legalisiert und zugleich legitimiert, die in den USA schon länger praktiziert wird. Inzwischen haben alle DAX-Unternehmen Aktienoptionen als variable Vergütungsbestandteile für die Mitglieder des Vorstands eingeführt. Nach der Finanzmarktkrise von 2007/08 hat der Gesetzgeber versucht, die in der Öffentlichkeit als skandalös wahrgenommenen Vorstandsgehälter gesetzlich zu begrenzen.48 Das Aktiengesetz wurde wiederum novelliert, und zwar mit dem Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung.49 Der novellierte § 87 AktG hat jetzt folgenden Wortlaut: » [1] Der Aufsichtsrat hat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds … dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen. [2] Die Vergütungsstruktur ist … auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten. [3] Variable Vergütungsbestandteile sollen daher eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben; für außerordentliche Entwicklungen soll der Aufsichtsrat eine Begrenzungsmöglichkeit vereinbaren.« (Neu eingefügte Bestimmungen in Kursivschrift.) Es wird nicht spezifiziert, was unter einem »angemessenen Verhältnis« zwischen Vergütung und Leistung zu verstehen ist. Dass die variablen Vergütungsbestandteile (z. B. Aktienoptionen) sich an der langfristigen Entwicklung des Unternehmens orientieren sollen, ist eine Soll-Bestimmung. Ebenso der Hinweis, dass dem Aufsichtsrat die Befugnis eingeräumt werden soll, die Einkommen zu begrenzen. Grafik 2 zeigt, dass sich die die Einkommenssteigerung der Vorstandsmitglieder erst nach 2011 verlangsamt hat; bis 2017 hat sie sich an das Niveau der Kurssteigerung des DAX angepasst. Ob das »Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung« diese Reduzierung der Wachstumsraten der Vorstandsvergütung bewirkt hat, lässt sich allerdings empirisch nur schwer nachweisen.

47 Die Bestimmung wurde mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) zum 1.5.1998 eingeführt. Damit wurde das Aktienrecht novelliert. Die neue Bestimmung findet sich in § 192, Abs. 2, Satz 3 AktG. 48 Das Jahreseinkommen von Josef Ackermann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, belief sich 2007 auf 13,98 Mio. Euro. Davon waren 12,68 Mio Euro (= 90,1 %) »erfolgsbezogene Komponenten« und »Komponenten mit langfristiger Anreizwirkung«. Vgl. Finanzbericht der Deutschen Bank 2007, S. 45. Martin Winterkorn, Vorstandsvorsitzender von VW, hat von 2012 bis 2014 jeweils eine jährliche Gesamtvergütung von ca. 15 Mio. Euro erhalten (variable Bestandteile: ca. 90 %). Vgl. Geschäftsbericht Volkswagen 2014, S. 64. 49 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (Vorst AG) vom 31.7.2009, in: Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 50, 2009, S. 2509–2511.

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5. Aktienrückkauf-Programme Der US -amerikanische Ökonom Michael Jensen argumentiert, dass Manager dazu tendieren, die Gewinne ihrer Unternehmen einzubehalten und für unproduktive Investitionen zu verschwenden: »The problem is how to motivate managers to disgorge the cash rather than investing it at below the cost of capital or wasting it on organization inefficiencies.«50 Ein wichtiges Instrument, free cash flow an die Aktionäre auszuschütten, sind Aktienrückkaufprogramme. Mit Hilfe von Aktienrückkaufprogrammen kann der Aktienkurs eines Unternehmens (kurzfristig) gesteigert werden. Dies liegt sowohl im Interesse der Aktionäre (sie können ihre Aktien zu einem höheren Kurs verkaufen) als auch im Interesse der Manager, die ihre Aktienoptionen einlösen können. Zu Beginn der 1970er Jahre haben Manager dieses Instrument selten eingesetzt. Gustavo Grullon und Roni Michaely haben in einer Langzeitstudie gezeigt, dass die US -Unternehmen 1972 im Durchschnitt nur 3,6 % des Gewinns für Aktienrückkaufprogramme verwendet haben; 42,6 % der Gewinne wurden als Dividende ausgeschüttet. Bis 1985 stieg der Anteil des Gewinns, der für Aktienrückkaufprogramme verwendet wurde, auf 30 %, bis 2000 war der Anteil auf 42 % gestiegen. Die US -Großunternehmen haben also einen immer höheren Anteil ihres Gewinns für Aktienrückkaufprogramme ausgegeben. Zwischen 1972 und 2000 ist auch der Anteil des Gewinns, der insgesamt für Dividende und Rückkaufprogramme ausgegeben wurde, von 46 % auf 79 % angestiegen; damit ist der Anteil der einbehaltenen Gewinne, der für zusätzliche Investitionen und R&D zur Verfügung gestanden hätte, von 54 % auf 21 % zurückgegangen.51 Die Manager der großen US -Aktiengesellschaften haben also das »Problem« verstanden, auf das Michael Jensen hingewiesen hat. Sie haben einen immer höheren Anteil der Gewinne den Aktionären zur Verfügung gestellt. Ravi Jain hat gezeigt, dass institutionelle Investoren vor allem an solchen Unternehmen hohe Aktienanteile halten, die einen hohen Anteil des Gewinns für Aktienrückkaufprogramme verwenden. Allerdings lassen die Regressionen keinen Rückschluss auf die Kausalrichtung zu:52 Halten die institutionellen In50 Michael Jensen, Agency Costs of Free Cash Flow, Corporate Finance, and Takeovers, in: American Economic Review 76 (1986), S. 323–329, hier S. 323. 51 Vgl. Gustavo Grullon / Roni Michaely, Dividends, Share Repurchases, and the Substitution Hypothesis, in: Journal of Finance 57 (2002), S. 1649–1684, hier S. 1655, eigene Berechnungen. Vgl. dazu auch Laurie Bagwell / John Shoven, Cash Distributions to Shareholders, in: Journal of Economic Perspectives 3 (1989), S. 129–140, hier S. 131. Bei der Rechtsanwaltskanzlei Skadden, Arps, Slate, Meagher & Flom LLP kann eine detaillierte Auflistung der Rechtsvorschriften abgerufen werden, die US -Firmen bei Aktienrückkaufprogrammen beachten müssen (Corporate Finance Alert). Vgl. http://www.skadden.com/newsletters/ Corporate_Finance_Alert_Share_Repurchases.pdf (Aufgerufen: ­Februar 2019). 52 Ravi Jain, Institutional and Individual Investor Preferences for Dividends and Share ­Repurchases, in: Journal of Economics and Business 59 (2007), S. 406–429, hier S. 427.

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vestoren einen hohen Anteil des Aktienkapitals, weil das Unternehmen einen hohen Anteil des Gewinns für Aktienrückkaufprogramme verwendet? In diesem Fall wären die Manager die Initiatoren der Aktienrückkaufprogramme. Oder wird ein hoher Anteil des Gewinns für Aktienrückkaufprogramme verwendet, weil die institutionellen Investoren einen hohen Anteil des Aktien­ kapitals halten? Dann wäre davon auszugehen, dass aktive institutionelle Investoren Druck auf das Management ausüben, einen hohen Anteil des Gewinns für Aktienrückkaufprogramme zu verwenden. Einen Hinweis auf die Kausalrichtung gibt ein Artikel in der New York Times, in dem gezeigt wird, dass aktive institutionelle Investoren das Management drängen, Aktienrückkaufprogramme zu starten. Harry J. Wilson, der mit vier weiteren Hedge-Fonds kooperierte (acting in concert), hat z. B. General Motors veranlasst, mehr als fünf Mrd. US -Dollar für Aktienrückkaufprogramme auszugeben (2014).53 Carl Icahn hat mit einer erfolgreichen Medienkampagne Apple Inc. gedrängt, im Geschäftsjahr 2015 für Aktienrückkaufprogramme 140 Mrd. US -Dollar bereit zu stellen.54 In Deutschland war es den Aktiengesellschaften über einen langen Zeitraum nicht erlaubt, eigene Aktien zurückzukaufen. Die Erste Aktienrechtsnovelle vom 11.6.1870 legte in Artikel 215 fest: »Die Aktiengesellschaft darf eigene Aktien nicht erwerben.« Dieses grundsätzliche Verbot wurde 1884 in eine Sollvorschrift abgeschwächt. In Reaktion auf die Weltwirtschafts- und Bankenkrise Ende der 1920er Jahre wurde das strikte Verbot mit der Novelle vom 19.9.1931 wieder eingeführt.55 Im Aktienrecht vom 6.9.1965 wird in § 71, Abs. 1 eine Liste von Ausnahmesituationen aufgezählt, bei deren Vorliegen es der Aktiengesellschaft erlaubt ist, eigene Aktien zurückzukaufen, und zwar bis zu einer Höchstgrenze von 10 % des Grundkapitals. Zu diesen Ausnahmetatbeständen zählt z. B. »wenn der Erwerb notwendig ist, um einen schweren, unmittelbar bevorstehenden Schaden von der Gesellschaft abzuwenden.« Damit blieb das grundsätzliche Verbot des Aktienrückkaufs bestehen – abgeschwächt nur durch die Liste der Ausnahmen. 53 Harry J. Wilson (MBA Harvard) hat für die Blackstone Group und für Goldman Sachs gearbeitet. Er war Mitglied der von Präsident Obama eingesetzten Arbeitsgruppe, die die temporäre Verstaatlichung (bail out) von General Motors leitete. Vgl. »The Board Room Strikes Back«, in: New York Times, 21.4.2015. 54 Vgl. V.  Monga u. a., »As Activism Rises, U. S. Firms Spend More on Buybacks Than ­Factories«, in: Wall Street Journal, 26.5.2015. Carl Icahn (*1936) wurde 1985 durch die erfolgreiche feindliche Übernahme der US Fluggesellschaft TWA als corporate raider bekannt. Er besitzt (nach eigenen Angaben) 53 Mio. Apple-Aktien (ca. 0,9 % des Aktienkapitals). Die Daten, die im Artikel des WSJ verwendet werden, beruhen auf einer Studie der kommerziellen Datenbank Capital IQ. 55 Vgl. dazu Heinz-Dieter Assmann, Einleitung. Die Aktiengesellschaft und das Aktienrecht von den Anfängen bis 1945, in: Klaus J. Hopt u. a. (Hg.), Aktiengesetz. Großkommentar, Berlin 41992, S. 11–146, hier S. 42; Hans Joachim Kopp, Erwerb eigener Aktien. Ökonomische Analyse vor dem Hintergrund von Unternehmensverfassung und Informationseffizienz des Kapitalmarktes, Wiesbaden 1996, S. 19 f.

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Mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG, 5.3.98) wurde das Rückkaufverbot aufgehoben. Die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft kann das Management ermächtigen, eigene Aktien bis zu einer Höchstgrenze von 10 % des Grundkapitals zurückzukaufen. Die Ermächtigung gilt für höchstens 18 Monate und ist an keine Bedingung gebunden. Der Vorstand einer deutschen Aktiengesellschaft kann also ein Aktienrückkaufprogramm starten, wenn er dazu von der Hauptversammlung ermächtigt wurde. Da institutionelle Investoren in vielen deutschen Aktiengesellschaften, die im DAX / M DAX gelistet sind, die Mehrheit des Aktienkapitals halten, können sie auf den Hauptversammlungen eine Abstimmung über Aktienrückkaufprogramme erzwingen. Dazu zwei Beispiele (Deutsche Bank und Daimler): Die Deutsche Bank hat zwischen Juni 2002 und Mai 2008 mehrere Aktienrückkaufprogramme gestartet, die von der Hauptversammlung genehmigt worden waren. Insgesamt hat sie 223 Mio. eigene Aktien zurückgekauft und dafür 14,8 Mrd. Euro aufgewandt. Dies entspricht einem Durchschnittspreis von 66,40 Euro pro Aktie. Von den 223 Mio. Aktien, die die Deutsche Bank zurückgekauft hat, wurden 118 Mio. Aktien eingezogen (»vernichtet«), um das Eigen­kapital zu verringern. Die Verringerung des Eigenkapitals hat es Josef Ackermann erleichtert, die angestrebte Eigenkapitalrendite von 25 % zu erreichen. Nach der Finanzmarktkrise verbuchte die Deutsche Bank 2008 einen Verlust von 3,9 Mrd. Euro. Im September 2008 wurden 40 Mio. neue Aktien ausge­ geben, und zwar zum Preis von 55 Euro (Kapitalerhöhung). Im Jahr 2010 folgte eine weitere Kapitalerhöhung: Es wurden 308,6 Mio. neue Aktien zum Preis von 33 Euro ausgegeben. Die Deutsche Bank hat für den Rückkauf der eigenen Aktien also im Durchschnitt 66,4 Euro an die Aktionäre (überwiegend institutionelle Investoren) gezahlt, sie hat bei den Kapitalerhöhungen jeweils nur 55 Euro bzw. 33 Euro pro Aktie erhalten. Ein weiteres Faktum ist von Bedeutung: Der Anteil der institutionellen Investoren betrug 2007 noch 86 %, ein Jahr später war er auf 71 % gesunken. Viele institutionelle Investoren haben ihre Aktien also im Boom-Jahr verkauft und den durch das Aktienrückkaufprogramm verstärkten Aufwärtstrend der Kurse mitgenommen. Auch die Daimler AG hat vor und noch während der Finanzmarktkrise eigene Aktien zurückgekauft. In Ausübung der Ermächtigung der Hauptversammlung vom 4. April 2007 wurden in den Monaten Februar bis März 2008 insgesamt 49,8 Mio. eigene Aktien im Gegenwert von 2,7 Mrd. Euro zurückgekauft (ca. 54 Euro pro Aktie). Die Hauptversammlung hat am 9. April 2008 eine neue Ermächtigung zum Rückkauf von maximal 10 % oder ca. 96,4 Mio. der ausstehenden Aktien beschlossen. In der Zeitspanne von Juni bis Oktober 2008 wurden im Rahmen dieser Ermächtigung 37,3 Mio. Aktien im Gegenwert von 1,4 Mrd. Euro zurückgekauft (ca. 38 Euro pro Aktie). Das Programm wurde im Oktober 2008 eingestellt. Im Jahr 2009 musste Daimler einen Verlust von 2,6 Mrd. Euro verbuchen. Im gleichen Jahr erfolgte eine Kapitalerhöhung, bei der Daimler

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vom staatlich kontrollierten Investment Fonds Aabar (Abu Dhabi) 20,27 Euro pro Aktie erhielt.56 Man findet bei der Deutschen Bank und bei Daimler ein vergleichbares Muster: Aktien werden zu einem hohen Preis zurückgekauft; damit wird der free cash flow an die Aktionäre ausgezahlt. Gleichzeitig reduziert sich damit das Eigenkapital, d. h. bei einem gegebenen Nettogewinn steigt die Eigenkapitalrendite. Kurze Zeit darauf verbucht der Konzern einen hohen Verlust, der aus den Rücklagen nicht mehr gedeckt werden kann. Es folgt eine Kapitalerhöhung zu einem Ausgabekurs, der teilweise mehr als 50 % unterhalb des Kurses liegt, den das Unternehmen für den Rückkauf der eigenen Aktien bezahlt hat. In »früheren« Zeiten wäre der free cash flow den freiwilligen Rücklagen zugeführt worden, um damit Verluste in Krisenjahren auszugleichen. Im Zeitalter des shareholder value ist dies kaum noch möglich. Man kann die »Logik« dieser ökonomischen Transaktionen nur verstehen, wenn die kurzfristigen Strategien von Managern und aktiven Investoren berücksichtigt werden. Aktive Investoren selektieren ihre Anlageobjekte unter der Perspektive eines kurzfristigen spekulativen Gewinns. Sie kaufen sich in Unternehmen ein, die über einen free cash flow verfügen und versuchen, auf der Hauptversammlung eine Mehrheit für ihre Vorschläge zu erhalten (z. B. Aktienrückkaufprogramme). Da alle institutionellen Investoren dem gleichen Zwang unterliegen, eine maximale Rendite für ihre Kunden zu erwirtschaften, werden sie in der Regel die Initiative der aktiven Investoren unterstützen.57 Viele Manager sind willige Erfüllungsgehilfen der aktiven Investoren. Bei steigenden Aktienkursen können sie ihre Optionen einlösen und damit ihr Einkommen ebenfalls maximieren.

56 Vgl. »Das Ende der Aktienrückkauf-Programme«, in: FAZ , 26.3.2009; Jahresbericht der Deutschen Bank 2009, S. 27; Geschäftsbericht Daimler AG 2008, S. 37. Ein Vergleich der Aktienrückkaufprogramme in Deutschland und Frankreich findet sich in: Christopher Lantenois / Benjamin Coriat, Investisseurs institutionnels non-résidents, corporate governance et stratégies d’entreprise, in: Revue d’économie industrielle 134 (2011), S. 51–84, hier S. 71. Die verschiedenen Funktionen, die Aktienrückkaufprogramme erfüllen können, werden analysiert in: Thomas Chemmanur u. a., Why do firms undertake accelerated share repurchase programs?, Boston 2009 (vgl. https://papers.ssrn.com/sol3/papers. cfm?abstract_id=1570842 (Aufgerufen: Februar 2019)). 57 Aktive Investoren nutzen häufig die Strategie des empty voting, um ihren Einfluss auf der Hauptversammlung zu erhöhen. Vgl. Osterloh-Konrad, Christine, Gefährdet »Empty Voting« die Willensbildung in der Aktiengesellschaft?, in: Zeitschrift für Unternehmensund Gesellschaftsrecht 41/1 (2012), S. 35–80. Zur Erläuterung: Ein aktiver Investor (z. B. ein Hedge-Fonds-Manager) kann sich zum Zeitpunkt der Vollversammlung einer Aktiengesellschaft deren Aktien leihen und das damit verbundene Stimmrecht auf der Hauptversammlung ausüben (empty voting). Der Hedge-Fonds-Manager kann auf diese Weise das Abstimmungsergebnis beeinflussen, trägt aber nicht das damit verbundene wirtschaftliche Risiko, weil die Aktien nach Beendigung der Hauptversammlung zurückgegeben werden (moral hazard).

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6. Vom Anlegerschutz zur Systemstabilisierung Parallel zur zunehmenden Dichte und Komplexität der Finanzmarktregulierung hat sich in der Rechtswissenschaft ein neues Spezialgebiet ausdifferenziert, das als »Kapitalmarktrecht« oder »Finanzmarktrecht« bezeichnet wird.58 Die Vertreter dieses Rechtsgebiets weisen auf einen Zielkonflikt hin, der die Finanzmarktregulierung charakterisiert: Auf der einen Seite steht der Anlegerschutz, den der Gesetzgeber gewährleisten sollte. Auf der anderen Seite darf die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte durch einen zu weit reichenden Anlegerschutz nicht gefährdet werden. Zu viel Anlegerschutz beschränkt die Marktfreiheit der Akteure; völlig liberalisierte Finanzmärkte können keinen Anlegerschutz garantieren. Dieser Zielkonflikt ist nicht neu, sondern beschäftigte den Gesetzgeber schon bei der Zweiten Aktienrechtnovelle von 1884: In der Begründung für diese Novelle wird ausgeführt, dass die »Macht und Vielgestaltigkeit des wirth­ schaftlichen Lebens« nicht durch gesetzliche Vorschriften an ihrer Entfaltung gehindert werden sollte; vielmehr sollte »die wirthschaftliche Erscheinung in der juristischen Form ihren passenden Ausdruck finden.« Das Aktiengesetz sollte Unternehmer befähigen, die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben und Innovationen umzusetzen.59 Merrick Dodd hat dazu angemerkt: »A corporation act is not primarily a regulatory act but an enabling act.«60 Das Aktiengesetz soll eine rechtliche Form bereitstellen, die die Wirtschaftsakteure befähigt, ein neues Produktionsparadigma zu realisieren.61 In ähnlicher Weise können viele Finanzmarktgesetze, die in den vergangenen Jahrzehnten verabschiedet wurden, der Kategorie enabling law zugeordnet werden. Sie ermöglichten es den Finanzmarkt-Akteuren, ein neues Wirtschaftssystem zu etablieren, das durch die Dominanz der Finanzmärkte und die Ideologie des shareholder value geprägt ist. Der gesetzliche Rahmen, der für institutionelle Investoren geschaffen wurde, soll dazu beitragen, dass die auf globalen Märkten vagabundierenden Kapitalströme in der nationalen (und nicht in einer anderen) Volkswirtschaft investiert werden. Der Gesetzgeber hatte 1884 auch den Anlegerschutz im Auge, aber aus den Formulierungen wird deutlich, dass dies ein nachgeordnetes Ziel war. Im Vor58 Hanno Merkt, Kapitalmarktrecht, in: Stefan Grundmann u. a. (Hg.), Festschrift für Klaus J.  Hopt zum 70. Geburtstag. Unternehmen, Markt und Verantwortung, Berlin 2010, S. 2207–2245, hier S. 2207. 59 Vgl. Assmann, Einleitung, hier S. 45. 60 Merrick Dodd, Statutory Developments in Business Corporation Law, 1886–1936, in: Harvard Law Review 50 (1936), S. 27–59, hier S. 43. 61 Die Aktiengesellschaft war die adäquate Unternehmensform für ein neues Produktionsparadigma, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte (Massenproduktion, Großunternehmen). Hannah hat dafür die Bezeichnung »corporate economy« geprägt. Vgl. Leslie Hannah, The Rise of the Corporate Economy, London 1976.

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dergrund stand die Entwicklung rechtlicher Formen, die die wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen sollten. Mit dem Anlegerschutz war keine Bevormundung der Investoren intendiert, sondern er wurde als Hilfe zum Selbstschutz konzipiert: »Gegen Täuschung und Irrtum, Illusion und Leichtsinn muß wesentlich die eigene Sorgsamkeit des Betheiligten sichern. Das Gesetz hat dieser nur die Wege zu öffnen und ihr schützend zur Seite stehen.«62 Die Finanzmarktkrise von 2007/08 hat die Prioritäten verschoben. Die Finanzmarktakteure haben mit ihren opportunistischen Strategien nicht nur die Anleger getäuscht, sondern ganze Volkswirtschaften destabilisiert. Der Gesetzgeber ist gezwungen, Regulierungen zu verabschieden, die den Zusammenbruch des Gesamtsystems verhindern sollen. Das worst case scenario ist nicht mehr der Skandal, der durch den Betrug an tausenden von Kleinanlegern ausgelöst wird, sondern der ökonomische Kollaps einer ganzen Volkswirtschaft.63 Die Regulierung der Bankenaufsicht auf europäischer Ebene und die intensive Diskussion über das Problem »Too big to fail« sind Beispiele für diese Verschiebung der Prioritäten.64 Als der Gesetzgeber mit der Ersten Aktienrechtsnovelle von 1870 die Konzessionspflicht für Aktiengesellschaften aufhob, war ihm bewusst, dass die damit geschaffene Freiheit für Neugründungen zugleich Aktienschwindel und Betrug begünstigen würde.65 Der Börsencrash von 1873 und die sich daran anschließenden Konkurse von Eisenbahngesellschaften haben diese Befürchtung mehr als bestätigt. Die Begründungen für die Novelle lassen erkennen, dass der Gesetzgeber bereit war, diese Risiken in Kauf zu nehmen. Sie wurden als ein Problem der Güterabwägung wahrgenommen: Um die wirtschaftliche Prosperität Deutschlands zu fördern, wurde das Aktienrecht als ein enabling law konzipiert. Die Begründungen für die zahlreichen Finanzmarktgesetze, die nach 1990 verabschiedet wurden, lassen nicht erkennen, dass sich der Gesetzgeber der damit verbundenen Risiken bewusst war. Erst nach der Krise von 2007/08 wurde deutlich, dass Anlegerschutz nicht ausreichend ist, sondern dass Finanzmarktregulierung die Stabilitätsbedingungen des Gesamtsystems berücksichtigen 62 Vgl. Assmann, Einleitung, hier S. 45. 63 Vgl. dazu den Bericht über die Entstehung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes im Oktober 2008. Vgl. Ulrich Seibert, Deutschland im Herbst. Erinnerungen an die Entstehung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes im Oktober 2008, in: Stefan Grundmann u. a. (Hg.), Festschrift für Klaus J. Hopt zum 70. Geburtstag. Unternehmen, Markt und Verantwortung, Berlin 2010, S. 2525–2547, hier S. 2532 ff. 64 Thorsten Pötzsch, Reform der Europäischen Finanzaufsichtsstrukturen, in: Stefan Grundmann u. a. (Hg.), Festschrift für Klaus J. Hopt zum 70. Geburtstag. Unternehmen, Markt und Verantwortung, Berlin 2010, S. 2367–2384; Sandra Suárez / Robin Kolodny, Paving the Road to »Too Big to Fail«. Business Interests and the Politics of Financial Deregulation in the United States, in: Politics & Society 39 (2011), S. 74–102. 65 Vor 1870 musste die Gründung einer Aktiengesellschaft von einer staatlichen Behörde genehmigt werden (Konzessionspflicht). Vgl. dazu Assmann, Einleitung, hier S. 42.

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muss. »A ›macroprudential‹ approach recognizes the importance of general equilibrium effects, and seeks to safeguard the financial system as a whole. In the aftermath of the crisis, there seems to be agreement among both academics and policymakers that financial regulation needs to move in a macroprudential direction.«66

7. Zusammenfassung Sozio-ökonomische Krisen sind häufig ein Katalysator für sozialen Wandel und für den Wechsel eines Regulierungsparadigmas. Die geringen Wachstumsraten während der 1980er Jahre, die hohe und mit jedem Konjunkturzyklus weiter ansteigende Arbeitslosigkeit und der immer spürbarer werdende Verlust der sozialen Absicherung haben den Niedergang des »Modells Deutschland« eingeläutet. Angesichts der sich verschärfenden Krisensymptome verlor dieses Modell zunehmend an Legitimität. Ein in die Krise geratenes Paradigma wird nur dann abgelöst, wenn eine Alternative zur Verfügung steht. Das neue Paradigma hat sich seit Mitte der 1970er Jahren in den USA entwickelt (Neoliberalismus, shareholder value). Die USA konnten in den 1990er Jahren ökonomische Erfolge vorweisen, die in keinem Mitgliedsstaat der Europäischen Union erreicht wurden (Internet-Boom). Es gab intellektuelle Wegbereiter, die für das neue Paradigma nicht nur theoretische Analysen, sondern auch konkrete Handlungsanweisungen lieferten. Michael Jensen gehört z. B. zu den Vertretern einer neoliberalen Finanzwissenschaft, die die Unternehmensverfassung im Schema des principal-agent Konflikts interpretiert haben.67 Sie haben ein Feindbild entworfen, nämlich die Manager der großen Unternehmen, die ihre Innovationsfähigkeit verloren haben und ihre Unternehmen nur noch ausplündern. Dieser degenerierten »alten« ökonomischen Elite haben sie eine »neue« ökonomische Elite entgegengesetzt – die institutionellen Investoren. Sie haben zugleich die Werkzeuge geliefert, mit denen der Umsturz geplant und erfolgreich durchgeführt werden konnte (feindliche Übernahmen). Die Business Schools wurden zum zentralen Diffusionsinstrument des neuen Regulierungsparadigmas. Das vagabundierende Kapital, das auf globalen Finanzmärkten für Investitionen jeder Art zur Verfügung steht, ist seit den 1980er Jahren stetig gewachsen. Die globalen Finanzmärkte werden von den angelsächsischen institutionellen Investoren beherrscht. Die Finanzströme gehen an jenen Ländern vorbei, die das neue Paradigma noch nicht in ihre rechtliche und institutionelle Ordnung implementiert haben. Diesem Konkurrenzdruck konnten die »koordinierten« 66 Samuel G. Hanson u. a., A Macroprudential Approach to Financial Regulation, in: Journal of Economic Perspectives 25 (2011), S. 3–28, hier S. 3. 67 Michael Jensen, The Eclipse of the Public Corporation, in: Harvard Business Review 67 (1989), S. 61–74.

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Marktwirtschaften auf Dauer nicht standhalten. In einem beschleunigten Prozess nachholender »Modernisierung« hat Deutschland während der 1990er Jahre den rechtlichen Rahmen für das neue Paradigma geschaffen. Großbritannien verfügt in Europa über den am meisten entwickelten Finanzmarkt. Es hat die Europäische Union als Vehikel benutzt, um einen offenen Konkurrenzmarkt für institutionelle Investoren und für deren Produkte zu realisieren. Der City Code on Takeovers and Mergers (London) wurde zu einem Markstein, an dem sich die EU-Kommission und dann die Mitgliedsstaaten bei der Organisation eines »offenen« Marktes für Unternehmenskontrolle orientiert haben (Übernahmegesetz). Die staatliche Regulierung der Finanzmärkte ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedsländern seit den 1990er Jahren immer dichter und komplexer geworden. Dieser Prozess der Verrechtlichung der Finanzmärkte war eine Folge der vorangehenden Liberalisierung. Je mehr die Märkte »liberalisiert« werden (d. h. aus einer korporatistischen und quasi kartellartigen Kontrolle entlassen werden), umso mehr staatliche Regulierung wird erforderlich. »Freer Markets, More Rules.«68 Staatliche Regulierung begrenzt die Handlungsoptionen der FinanzmarktAkteure. Aber sie legalisiert damit zugleich ihre Produkte und Transaktionen. Staatliche Regulierung hat die »neue« ökonomische Elite als eine Gruppe von Akteuren legitimiert, die vorgibt, other people’s money kompetent und »mündelsicher« zu verwalten.69 Die Finanzmarkt-Akteure, die das Objekt der Regulierung sind, üben selbst den stärksten Einfluss auf die Regulierung aus. Dieses Paradox der Regulierung wird in der US -Politikwissenschaft seit Jahrzehnten beobachtet und unter dem Begriff »capture« analysiert. Es wurde hier an drei Beispielen illustriert (Übernahmen, Aktienoptionen, Aktienrückkaufprogramme). Die zunehmende Komplexität und Dichte der Finanzmarkt-Regulierung verhindern opportunistisches Verhalten und Betrug nicht. Es sieht eher so aus, als ob sie häufig eine Gelegenheitsstruktur für diese Strategien schaffen. Das folgende Beispiel verdeutlicht diesen Zusammenhang: Andrew Fastow war von 1998 bis 2001 Finanzvorstand von Enron und der »Architekt« der Bilanzfälschungen, die schließlich 2001 zum Untergang von Enron geführt haben. Fastow wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hielt er 2013 auf der Jahrestagung der Asso­ciation of Certified Fraud Examiners in Las Vegas einen Vortrag, in dem er auf die Chancen einer komplexen Regulierung hinwies: »Accounting rules and regulations and securities laws and regulation are ­vague,« Fastow explained. »They’re complex. […] What I did at Enron and what we tended to do as a company [was] to view that complexity, that vagueness […]

68 Vogel, Freer Markets, More Rules. 69 Daran haben die Finanzmarktkrisen von 2001 und von 2007/08 wenig geändert. Das investierende Publikum verfügt nur über ein Kurzzeitgedächtnis.

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not as a problem, but as an opportunity. The only question was do the rules allow it – or do the rules allow an interpretation that will allow it?«70

Anhang 1: Finanzmarktgesetze Die folgende Liste zeigt eine Auswahl von Finanzmarktgesetzen, die seit 1990 verabschiedet wurden. Deutschland: Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG), Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG), Wertpapierhandels-Gesetz (WpHG), Risikobegrenzungsgesetz (RisikoBegrG), Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts (Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz), Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (Vorst AG), Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz (KapAEG), Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG), Gesetz zur Vermeidung von Gefahren und Missbräuchen im Hochfrequenzhandel (Hochfrequenzhandelsgesetz), etc. Europäische Union: Übernahme-Richtlinie (2004-25-EG vom 21.4.04, Umsetzung: 14.7.06); Transparenz-Richtlinie (2004-109-EG vom 15.12.2004, Umsetzung: 5.1.07); Richtlinie über Märkte für Finanzinstrument (MiFID II, 201465-EU vom 15.5.14; Umsetzung bis 2017), Finanzmarktverordnung (MiFIR , 600-2014-EU vom 15.5.2014; gilt unmittelbar ab 2017).

Anhang 2: Poison pills (shareholder rights plan) Das höchste Gericht von Delaware hat in verschiedenen Urteilen eine Abwehrmaßnahme legalisiert, die vom Management gegen feindliche Übernahmen eingesetzt werden kann und die als poison pill in die Literatur eingegangen ist. Das Management verteilt an die Aktionäre Optionsscheine, die den Aktionär berechtigen, weitere Aktien des Unternehmens zu einem Vorzugspreis zu erwerben. Wir nehmen an, dass die Aktionäre pro Stammaktie eine Option erhalten. Die Option kann nur zusammen mit der Stammaktie an der Börse gehandelt werden und ist zunächst wertlos. Ihr Ausübungspreis liegt weit oberhalb des Kurswertes der Aktie (out of the money). Die Option wird aktiviert, wenn ein Aktionär 15 %71 des Stammkapitals erworben hat oder wenn ein aktiver Investor ein feindliches Übernahmeangebot publiziert. In diesem Fall können die Aktio70 Peter Elkind, The confessions of Andy Fastow, in: Fortune, 1.7.2013 (http://fortune. com/2013/07/01/the-confessions-of-andy-fastow/ (aufgerufen: Febr. 2019)). A. Fastow hat einen Master of Business Administration (MBA) der Northwestern University (USA). 71 Die Schwelle, die eine poison pill aktiviert, variiert zwischen den Unternehmen (10–25 %).

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näre ihre Option einlösen und sie erhalten eine weitere Aktie des Unternehmens zu einem Vorzugspreis (in der Regel 50 % unterhalb des aktuellen Tageskurses). Die Optionen können nur von den Kleinaktionären eingelöst werden; der Großaktionär (der 15 % des Stammkapitals erworben hat) oder aktive Investoren, die planen, die Aktiengesellschaft zu übernehmen, sind davon ausgeschlossen. Die rechtliche Problematik der poison pill liegt in der Ungleichbehandlung der Aktionäre: Kleinaktionäre können die Option einlösen, der aktive Investor kann dies nicht tun. Die Gerichte in Delaware haben in mehreren Urteilen entschieden, dass diese Ungleichbehandlung rechtmäßig ist und von der business judgement rule gedeckt ist. Für einen Investor, der eine feindliche Übernahme plant, ist eine poison pill ruinös. Die Einlösung der Optionen durch die Aktionäre führt zu einer massiven Kapitalerhöhung, von der der aktive Investor ausgeschlossen ist. Damit reduziert sich entsprechend der Wert des von ihm gehaltenen Aktienpakets.

Anhang 3: Quellenverzeichnis Grafik 1: Quellen für den Anteil der institutionellen Investoren und die durchschnittliche Haltedauer Carolyn Brancato, The 2008 Institutional Investment Report, New York 2008; Matteo Tonello / Stephan Rabimov, The 2010 Institutional Investment Report, New York 2010; Federal Reserve Board, Statistics and Historical Data. Flow of Funds Accounts of the United States, Z.1, 1965–2009; New York Stock Exchange, Fact Book 2000–2008; NYSE , Facts & Figures 2009–2010 (group turnover). Daten für die Haltedauer der Jahre 2010–2017: Unternehmensberatung CEIC: https:// www.ceicdata.com/en/united-states/nyse-turnover/annualized-turnover-ratenyse-group-year-to-date (Aufgerufen: Februar 2019). Eine etwas davon abweichende Schätzung, die aber die Tendenz bestätigt in: Michael W. Roberge u. a., Lengthening the Investment Time Horizon. MFS Investment Management Canada. White Paper Series 7–17, 2017, Exhibit 1. Daten für den Anteil der institutionellen Investoren am S&P 1500 Composite Index: Unternehmens­ beratung Pionline; Autor: Charles McGrath, April 2017. https://fred.stlouisfed. org/​series/DDEM01USA156NWDB (Aufgerufen: Februar 2019). Grafik 2: Quellen für das Jahreseinkommen der Vorstandsmitglieder (durchschnittliche Gesamtvergütung): Hoppenstedt, Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften (1985–2000), jeweils Gesamtvergütung aller Mitglieder des Vorstands (eigene Berechnungen). Durchschnittlicher Jahresverdienst der Vorstandsmitglieder, berechnet als Durchschnitt über alle 30 DAX Unternehmen, 1985: 410.013 Euro; 2017: 3,2 Mio. Euro (nominal, nicht deflationiert). Die Daten für die Jahre 2001–2011 wurden von der Unternehmensberatung Kienbaum (Gummersbach)

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zur Verfügung gestellt. Die Daten für 2012–2017 wurden Pressemitteilungen des jeweiligen Jahres der Unternehmensberatung Kienbaum entnommen. Quellen für das Jahreseinkommen der technischen Angestellten: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland (1987), Kapitel 21.7, S. 475; Monatsverdienst der technischen Angestellten in Leistungsgruppe II, Straßenfahrzeugbau, männlich, Jahresverdienst 35.941,80 Euro (nominal). Statistisches Bundesamt (2017), Fachserie 16, Reihe 2.3: Verdienste und Arbeitskosten  – Arbeitnehmerverdienste, Kapitel 4.5.1, S. 212, Arbeitnehmer der Leistungsgruppe II, Herstellung von Kraftwagen (C 291), männlich, Jahresverdienst: 86.682 Euro (nominal).

Jan-Otmar Hesse

Mit Hayek in der Handtasche Hat der Neoliberalismus die Welt verändert? Das Beispiel der bundesdeutschen Handelspolitik

1. Einleitung In der Regierungszeit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher kam es bekanntlich zu tiefgreifenden wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen. Die »eiserne Lady« verordnete dem Land eine regelrechte »Rosskur«, die von hoher Arbeitslosigkeit, Massenprotesten und heftigen innenpolitischen Kämpfen begleitet war. Für viele zeitgenössische Beobachter und auch für viele Historiker stellte ihr Amtsantritt am 4. Mai 1979 einen Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts dar, zumal unter Ronald Reagan in den USA seit 1981 und unter Helmut Kohl seit 1982 in der Bundesrepublik ein ähnlicher Politikwechsel stattfand (oder jedenfalls behauptet wurde):1 Der sozialpolitische Interventionsstaat der trente glorieuses wurde in vielen Staaten durch eine wesentlich striktere marktwirtschaftliche oder sogar »marktradikale« Politik ersetzt, für die heute üblicherweise der Begriff des »Neoliberalismus« verwendet wird. Dieser »Neoliberalismus« schien sich in den 1970er Jahren überall auf der Welt durchzusetzen: Berüchtigt waren die Wirtschaftsreformen des chilenischen Diktators Augusto Pinochet, die dieser nach einem Besuch des amerikanischen Nobelpreisträgers Milton Friedman im Sommer 1975 begann.2 Der Siegeszug des »Neoliberalismus« ergriff neben Europa und Südamerika später auch die Länder des zusammenbrechenden Ostblocks, vielleicht war er sogar deren Ursache.3 Heute wird der Neoliberalismus in vielen Ländern überall auf der Welt als die treibende politische Kraft angesehen, in Europa und den USA sowieso, aber auch in Afrika, Indien und Asien.4 Die Frage, wie in den letzten 40 Jahren eine anscheinend sehr gleichförmige Veränderung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf so nachhaltige Weise so viele Teile der Welt verändern konnte, schien insbesondere in der sozial1 Pars pro toto: Monica Prasad, The politics of free markets: The rise of neoliberal economic policies in Britain, France, Germany, and the United States, Chicago 2006. 2 Jeremy Adelman, International Finance and Political Legitimacy. A Latin American View of the Global Shock, in: Neill Ferguson u. a. (Hg.), The shock of the global. The 1970s in perspective, Cambridge 2010, S. 113–27. 3 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 32015. 4 James Ferguson, Global shadows. Africa in the neoliberal world order, Durham, NC 2006.

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wissenschaftlichen Diskussion aber auch in Teilen der Geschichtswissenschaften lange Zeit mehr oder weniger entschieden: Der Ausgangspunkt wurde in der Formierung einer besonderen »Ideologie« gesehen, die sich im Verlauf der 1970er Jahre als herrschender Konsens in der politischen Elite der entsprechenden Länder verbreitete. Dies gilt vor allem für die Reformpolitik von Thatcher, für die die folgende Geschichte in vielen Facetten erzählt wird. Als sich auf einer Parteiversammlung der britischen Torys ein Redner für eine moderatere Reformpolitik aussprach, soll ihn die »eiserne Lady« unterbrochen haben, indem sie aufstand, ein Exemplar von Friedrich Hayeks »Constitution of Liberty« aus ihrer Handtasche zog, es auf den Tisch knallte und rief: »This is what we believe!«5 Der Zusammenhang scheint also eindeutig  – wir haben hier sogar unmittelbar die »smoking gun« gefunden. Für die jüngere Geschichte der USA meinte eine Forscherin, dass von der historischen Forschung »Allianzen zwischen Ideengebern und Interessengruppen« sichtbar gemacht worden seien, »konzertierte Strategien des Ideenmarketings und der Popularisierung, die Lobbyaktivitäten von Firmen und Unternehmen und schließlich eine Neuordnung von Machtverhältnissen in der politischen Ökonomie«.6 Entgegen solcher Analysen, die vor allem die frühe Forschung zum Neoliberalismus bestimmt haben, ist die Diskussion der zeithistorischen Forschung über den Neoliberalismus heute sehr unübersichtlich. Ein regelrechter Wettstreit um die beste Deutung des Phänomens ist zwischenzeitlich ausgebrochen und hat allerlei Meta-Studien hervorgebracht, durch die der Begriff indes nicht klarer geworden ist. Längst gehört es zur zeithistorischen Allgemeinbildung, dass die gerne und wiederholt als »neoliberal« bezeichnete Politik der späten 1970er und 1980er Jahre keineswegs überall zu sinkenden Staatsquoten geführt hatte. Selbst in England stellte sich diese Folge erst wesentlich später ein.7 Die legendäre Senkung der Einkommenssteuer für die Reichen, die Ronald Reagan berauscht von der Theorie der Laffer-Kurve durchführte, erwies sich als so fatal für den amerikanischen Haushalt, dass sie nur zwei Jahre später revidiert wurde.8 Hatte die erste Welle der Kritik am Neoliberalismus noch auf den Rückzug des Staates, den Abbau des Sozialstaates und die von Wirtschaftseliten zusammen 5 Eugene F. Miller, Hayek’s the Constitutions of Liberty. An Account of Its Argument, London 2010, S. 13. Sie bezieht sich auf die Beschreibung des irischen Journalisten John Ranelagh. Vgl. John Ranelagh, Thatcher’s People. An insider’s account of the politics, the power and the personalities, New York 1991. 6 Ariane Leendertz, Zeitbögen, Neoliberalismus und das Ende des Westens, oder: Wie kann man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65/2 (2017), S. 191–218, hier S. 214. 7 Andreas Wirsching, Neoliberalismus als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell? Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren, in: Joachim Scholtyseck / Werner Plumpe (Hg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 139–151. 8 W. Elliot Brownlee, Tax Policy in the United States: Was There a ›Neo-Liberal‹ Revolution in the 1970s and 1980s?, in: Gisela Hürlimann u. a. (Hg.), Worlds of Taxation. The Political Economy of Taxing, Spending, and Redistribution since 1945, Cham 2018, S. 155–187.

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mit gewissenlosen Politikern befreite zügellose Kälte des Kapitalismus abgezielt, steht seit einigen Jahren die Subtilität des Neoliberalismus im Zentrum der Kritik, die den Menschen Wünsche und Ideen einhaucht, die gar nicht die ihren sind. Nicht marktwirtschaftliche Anarchie und Turbokapitalismus sei das Mantra der Herrschaftselite seit den 1980er Jahren, sondern die klandestine Durchsetzung eines Regelsystems, das die demokratische Willensbildung untergrabe und hierdurch ein System erschaffe, in dem nur die Interessen der Eliten bedient würden. Der beste Trick des Teufels sei es – so beginnt die am meisten verkaufte deutschsprachige Einführung in den Neoliberalismus von dem Soziologen Thomas Biebricher – dass er die Menschen Glauben gemacht hätte, es gäbe ihn gar nicht.9 Die fatale Wirksamkeit des Neoliberalismus liegt mithin gerade in seiner Unsichtbarkeit. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die geschichtswissenschaftliche Forschung mit einem solchen epistemologischen Konzept schwertut, plausible Quellenbelege für die Bedeutung des Phänomens zu finden. Der folgende Beitrag geht von der Überzeugung aus, dass es tatsächlich in den meisten Industrieländern in den 1970er und 1980er Jahren, »Jenseits von Kohle und Stahl«, zu einem tiefgreifenden Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft gekommen ist, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind. Allerdings halte ich den Begriff des Neoliberalismus für vollkommen ungeeignet, diesen Wandel angemessen zu erfassen. Denn zum einen (das wird im ersten Abschnitt des Kapitels ausgeführt) bezeichnet er schon seit der frühen Verwendung in den 1920er Jahren ein überaus heterogenes wirtschaftspolitisches Programm, das zu keinem Zeitpunkt zu einem konzertierten Vorgehen auch nur einer internationalen Bildungselite, schon gar nicht aber von politischen Eliten geführt hat. Zum anderen tut der Begriff allzu häufig so, als hätte der sozio-ökonomische Wachstumskonsens der trente glorieuses auf ewig konserviert werden können, als sei durch die Währungskrise, die Ölpreiskrisen und die darauf folgenden Verschuldungskrisen in den Entwicklungs- und Schwellenländern keine neue Sachlage entstanden – ganz zu schweigen von der technologischen Entwicklung, die beispielsweise die Mikroelektronik seit den 1970er Jahren angestoßen hat, und politischen Zäsuren, wie der Integration Chinas in die Weltwirtschaft seit Deng Xiaoping. Diese Veränderungen der globalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sollen in einem zweiten Abschnitt am Beispiel der bundesdeutschen Handelspolitik sehr grob und notwendigerweise oberflächlich skizziert werden, bevor in einem dritten Abschnitt wieder auf die Frage der vermeintlichen Wirksamkeit des Neoliberalismus zurückgekommen wird.

9 Thomas Biebricher, Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 22015, S. 10.

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2. Der »Neoliberalismus« und die »neoliberale Diskurskoalition« Zuweilen hat es den Anschein, als ob die Ideengeschichte des Neoliberalismus nicht zum Standardrepertoire der zeithistorischen Forschung gehört.10 Denn dass er in seinem ursprünglichen Sprachgebrauch eben kein marktradikales und anti-etatistisches Programm gewesen ist, das ist in einer umfangreichen wissenschaftshistorischen Forschung seit Jahrzehnten deutlich herausgearbeitet worden. Der Neoliberalismus entstand gerade in Kritik des klassischen Liberalismus im Kontext der Weltwirtschaftskrise. Der klassische Liberalismus habe durch seine grundsätzliche Missbilligung jeglicher Form des Eingriffs in die Wirtschaft die Auswüchse des Kapitalismus ungehindert geschehen lassen, mächtige Monopolunternehmen und die Arbeitsmarktkartelle der Gewerkschaften hätten zu Klientelismus und Interessenpolitik statt zu gesellschaftlichem Fortschritt geführt. Die Demokratie und die individuelle Freiheit sei dadurch in Gefahr geraten, so die zeitgenössische Diagnose des amerikanischen Journalisten Walter Lippmann in seinem Buch »The Good Society«, das als eine Art Initiationserlebnis für viele »Neoliberale« der ersten Stunde fungierte.11 Überzeugte Liberale forderten daher in den 1930er Jahren eine Veränderung des liberalen Programms: Der Liberalismus solle sich nicht mit politischen Maßnahmen zurückhalten, sondern die Freiheit und insbesondere die Wirtschaftsfreiheit verteidigen, wozu auch staatliche Intervention erlaubt sei. »Revisionistischen Liberalismus« nannte etwa Wilhelm Röpke dieses Programm. Sein Ausgangspunkt war dabei die Kritik am Kapitalismus, den er für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich machte, »durch seine Unstabilität [sic], durch seinen Mangel an Gerechtigkeit, durch den Raum, den er in steigendem Maße der monopolistischen Bereicherung und erpresserischer Interessenpolitik gewährt hat; durch das mangelhafte Funktionieren vieler Einzelmärkte, durch Proletarisierung, Kommerzialisierung, Konzentration und Machtzusammenballung, durch spekulative Übertreibungen und Kapitalvernichtungen«. Das sind durchaus Kritikpunkte, in denen sich auch heutige Kritiker des Neoliberalismus wiederfinden könnten  – weniger freilich in Röpkes wortgewaltigen Feldzügen gegen die »Vermassung«, den »Kollektivismus« und die »falsch verstandene Demokratisierung«, gegen die er letztlich die ländliche, kleinbäuerliche Siedlungsweise stellen wollte.12 10 So wird es in einem neueren Standardwerk als Erkenntnis verkauft, dass der Neoliberalismus der 1980er Jahre nicht neu gewesen sei, sondern »weitgehend an klassische Modelle wirtschaftsliberaler Politik aus den zwanziger und fünfziger Jahren des Jahrhunderts anknüpfte.« Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 964. 11 Walter Lippmann, An Inquiry into the principles of a good society, Boston 1937. 12 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 41942, S. 23 u. 36 (Zitat).

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Der »Neoliberalismus« der 1930er Jahre entstand also als Kritik am Kapitalismus und am Liberalismus. Röpkes Argumentationsmuster war dabei leitbildhaft, nicht nur für die im Pariser Colloque Walter Lippmann 1938 versammelten Liberalen, das auch Michel Foucault als Geburtsstunde des Neoliberalismus angesehen hat13, sondern auch für die deutschen »Ordoliberalen«. Im für die Geistesgeschichte der Bundesrepublik so zentralen Text von Alfred Müller-Armack, in dem der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft erstmals auftaucht, bevor er geschickt zu einer parteipolitischen Marke umgewandelt werden konnte14, wird die Analyse von Röpke letztlich übernommen, aber dann noch viel konkreter ein »interventionistischer Liberalismus« eingefordert. Es sei notwendig, »sich des technischen und partiellen Charakters der Marktordnungen bewußt zu werden« – schrieb Müller-Armack während seines ordoliberalen Selbstfindungsprozesses in einem katholischen Kloster in Vreden im Münsterland. Die marktwirtschaftliche Ordnung »ist nur ein überaus zweckmäßiges Organisationsmittel, aber auch nicht mehr, und es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, der Automatik des Marktes die Aufgabe zuzumuten, eine letztgültige soziale Ordnung zu schaffen.«15 Dies wollte er der Wirtschaftspolitik überlassen und nicht zuletzt einem starken, d. h. durchsetzungsfähigen Staat, der die Einhaltung der Marktregeln überwachen und soziale Härten ausgleichen sollte. Im Gegensatz zu Röpke und Rüstow, die vom türkischen bzw. schweizerischen Exil aus schrieben, ließen sich insbesondere bei den während der NS -Zeit in Deutschland tätigen Ordoliberalen (neben Müller-Armack auch Erwin von Beckerath und Walter Eucken) durchaus etatistische Aspekte herauslesen, weshalb Dieter Haselbach vor längerer Zeit den Begriff des »autoritären Liberalismus« für diese Strömung gebrauchte,16 was freilich nicht unwidersprochen blieb. Von Neoliberalismus war zeitgenössisch hingegen selten die Rede, auch wenn der Begriff bereits seit den 1920er Jahren verwendet wurde.17 Als sich 1947 in der Schweiz unter maßgeblicher Initiative von Friedrich A. Hayek und Wilhelm Röpke die Mont Pèlerin Society gründete, in der die Vertreter dieses modernisierten Liberalismus der 1930er Jahre eine intellektuelle Heimat fanden, war der Begriff vielmehr umstritten. Die Gruppe von amerikanischen und europäischen Intellektuellen, die hier zusammenkam, hatte zunächst überhaupt 13 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, Die Geburt der Biopolitik: Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt am Main 2004, S. 190 f. 14 Christian Ludwig Glossner, The Making of the German Post-War Economy. Political Communication and Public Reception of the Social Market Economy after World War  II, London 2010. 15 Alfred Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Bern 21976 [1946], S. 19–170, hier S. 109. 16 Dieter Haselbach, Autoritärer Liberalismus und soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1991. 17 Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004.

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keine gemeinsame wissenschaftliche oder wirtschaftspolitische Programmatik. Bei vielen Themen lagen die Akteure sogar sehr weit auseinander und Anfang der 1960er Jahre wäre es fast zur Spaltung der Mont Pèlerin Society gekommen, weil der deutsche Ordoliberalismus und der amerikanische Neoliberalismus nicht zusammenfanden.18 Hierbei waren neben persönlichen Eitelkeiten und Ressentiments nicht nur politische Haltungen gegenüber dem »Interventionismus« ausschlaggebend und insbesondere sehr unterschiedliche Meinungen zur Frage der Weltwährungsordnung, sondern auch eine regelrecht fundamentalistische Ablehnung der älteren kulturkonservativen Fraktion um Wilhelm Röpke gegenüber der »Mathematisierung« der Wirtschaftswissenschaft.19 Die Mont Pèlerin Society war also keineswegs der intellektuelle Ursprung des Neoliberalismus, sondern eher ein Beispiel für die Zerrissenheit und letztlich auch politische Marginalisierung wirtschaftsliberaler Positionen in den ersten beiden Nachkriegsdekaden. Dieser Befund wird auch nicht dadurch gestört, dass führende Mitglieder der Gesellschaft wie etwa Wilhelm Röpke durchaus Einfluss auf einzelne wirtschaftspolitische Entscheidungen hatten, insbesondere in der Bundesrepublik und der Schweiz. Was die Mont Pèlerin Society auszeichnete, war ihre bemerkenswerte Internationalität: Neben Hayek und anderen in die USA ausgewanderten »Österreichern« (Fritz Machlup, Gottfried Haberler und Ludwig Mises), sowie der frühen »Chicago School« (Aaron Director, Frank Knight, George Stigler und Milton Friedman) gehörten eine ganze Reihe von europäischen Intellektuellen dazu (Jacques Rueff und William Rappard) sowie einige Industrielle. Aktive Politiker wie Ludwig Erhard und Luigi Einaudi blieben hingegen Ausnahmen in der Mont Pèlerin Society. Schon weil sich ein homogenes »neoliberales Programm« nicht klar historisch identifizieren lässt, nicht einmal innerhalb der Mont Pèlerin Society, ist die Forschung zum »Neoliberalismus« der 1980er und 1990er Jahre immer mehr davon abgegangen, nach den intellektuellen Ursprüngen der für die Gegenwart so zentralen gesellschaftlichen Transformationsprozesse zu suchen. Stattdessen wurde nun betont, dass es sich beim Neoliberalismus nicht etwa um eine Selbstbezeichnung einer Gruppe von Intellektuellen handelte, sondern um eine Fremdzuschreibung durch die Kritiker neoliberaler Konzepte und Akteure. Allein hierdurch schien der Weg des Begriffs in den Götterhimmel der ganz großen sozialwissenschaftlichen Begriffe vorgezeichnet, denn sowohl »Merkantilismus«, dann vor allem aber »Kapitalismus« zeichneten sich bekanntlich dadurch aus, dass sie als Zuschreibung von den Kritikern einer bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geprägt wurden, mit dem Ziel, genau diese 18 Stefan Kolev u. a., Debating Liberalism. Walter Eucken, F. A. Hayek and the Early History of the Mont Pèlerin Society, in: The Review of Austrian Economics, 19. Februar 2019 (https://doi.org/10.1007/s11138-019-0435-x, aufgerufen am 13.03.2020); Philip Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der Mont Pèlerin Society, Stuttgart 2008. 19 Jan-Otmar Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft. Die Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2010.

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Ordnung abzuschaffen.20 Im Gegensatz zu diesen Großbegriffen wird aber mit Neoliberalismus in der sozialwissenschaftlichen und zeithistorischen Forschung häufig ein konkretes individuelles Akteurshandeln verbunden und gerade das macht seine Verwendung in den Geschichtswissenschaften so problematisch: Denn wenn der Neoliberalismus eine analytische Zuschreibung zum Zweck der Kritik von Handlung ist, die Zuschreibung aber nicht auf der Grundlage einer klar definierten inhaltlichen Programmatik erfolgt, dann wird sie willkürlich. Während ein solches Vorgehen für die sozialwissenschaftliche Gegenwartsanalyse unter Umständen Sinn macht, wird sie in der Geschichtswissenschaft zur Tautologie: eine Handlung wird auf die neoliberale Motivation zurückgeführt, welche selbst aber gar nicht identifiziert werden kann, weil sie sich durch die Handlung erst einstellt. Der Neoliberalismus sei keine Ideologie, so heißt es in der Einführung von Thomas Biebricher, sondern eine diffuse Ansammlung von Lehrsätzen, ein »heterogenes Phänomen«21 und »moving target«22. »Wir haben also eine Paradoxie. Der Neoliberalismus ist ein charakteristischer Modus der Vernunft, der Produktion von Subjekten, eine ›Führung des Verhaltens‹ und ein Bewertungsschema. Er bezeichnet eine historisch spezifische ökonomische und politische Reaktion gegen den Keynesianismus und den demokratischen Sozialismus, sowie eine allgemeine Praxis der ›Ökonomisierung‹ von Bereichen und Tätigkeiten. [Andererseits] nimmt der Neoliberalismus unterschiedliche Formen an und erzeugt unterschiedliche Inhalte und normative Einzelheiten, sogar unterschiedliche Idiome. Er ist zwar auf der ganzen Erde allgegenwärtig, doch uneinheitlich und nichtidentisch mit sich selbst im Raum und über die Zeit hinweg«.23 Philipp Ther vergleicht den »Neoliberalismus« mit dem Nationalismus im 19. Jahrhundert, eine Interpretation, die bei anderen Autorinnen und Autoren Widerspruch auslösen würde, die den Neoliberalismus als etwas historisch Neues und Einzigartiges ansehen. Der Nationalismus sei auch diffus gewesen und habe lediglich Rudimente von den unterschiedlichen Nationalstaatsbewegungen als kleinstem gemeinsamen Nenner enthalten, aber ebenso wie der Neoliberalismus eine große politische und gesellschaftliche Fernwirkung entfaltet. Der kleinste gemeinsame Nenner des Neoliberalismus seien das Primat der Ökonomie, eine grundsätzliche Kritik am (Interventions-)Staat und das Menschen-

20 Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019, S. 20; Lars Magnusson, The Political Economy of Mercantilism, New York 2017, S. 3. 21 Biebricher, Neoliberalismus, S. 17. 22 Dieter Plehwe, zitiert nach: Ther, Die neue Ordnung, S. 24; Philip Mirowski / Dieter Plehwe, Preface, in: dies. (Hg.), The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge, MA 2015, S. IX–XXIV. 23 Wendy Brown, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015, S. 20.

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bild des »homo oeconomicus«.24 Darüber kann man trefflich streiten. Wilhelm Röpke sprach sich bekanntlich dezidiert gegen das »Primat der Ökonomie« aus und ließ in einer langen kulturkonservativen Sottise die Werte der bäuerlichen Familie hochleben, gerade weil diese in der Lage seien, den »homo oeconomicus« und den Individualismus einzudämmen.25 Auch die Reduktion des Neoliberalismus auf den »homo oeconomicus« ist durchaus waghalsig, weil sich gerade die vielfach kritisierte neoklassische Wirtschaftswissenschaft zwischenzeitlich hiervon weitgehend befreit hat. Die moderne »behavioural economics« stützt sich heute auf eine Vielzahl von Verhaltensmodellen, die in empirischen Tests isoliert worden sind und Aspekte wie Empathie und Solidarität mit einbeziehen.26 Die zur Analyse gesellschaftlichen Wandels entwickelten Neoliberalismus-Definitionen sind daher – so habe ich den Eindruck – immer weiter verwässert worden. Das liegt aber nicht daran, dass sie etwa selbst einem Begriffswandel unterliegen oder sich auf andere empirische Phänomen beziehen. Sie operieren ja weiterhin mit Referenzen auf Friedrich Hayek und Wilhelm Röpke. Es liegt an der im Begriff verankerten analytischen Paradoxie. Weil ein ideologisches Programm des Neoliberalismus schlicht nicht zu greifen ist, sprechen Philip Mirowski und Dieter Plehwe lieber von einer »neoliberalen Diskurskoalition«. Damit wird einerseits zum Ausdruck gebracht, dass Neoliberalismus von den personellen Netzwerken des dahinter stehenden »Denkkollektivs« nicht losgelöst werden kann. Andererseits legt diese Perspektive nahe, dass der Neoliberalismus im Moment der Übertragung auf die Politik jeweils überhaupt erst entstehe, also eine Art »gelebte politische Praxis« ist und kein Programm.27 Für die Geschichtswissenschaft führt das allerdings in die Schwierigkeit des empirischen Quellennachweises. Inwieweit praxistheoretische Ansätze geeignet sind, diese Quellenproblematik zu überwinden, bleibt abzuwarten. Eine zusätzliche Schwierigkeit liegt dabei nicht zuletzt darin, dass die Erfolge des Neoliberalismus in der Vergangenheit überwiegend als Nationalstaatsgeschichten erzählt worden sind, als handele es sich um eine internationale Seuche, die – wie in der eingangs geschilderten Episode – von elitären Denkkollektiven in nationale Wirtschaftspolitik eingeschleppt wurde. Quinn Slobodian hat dieser Diskussion eine globalhistorisch erweiterte Interpretation hinzugefügt und damit die Aufmerksamkeit auf die durchaus interessante Frage gelenkt, wie sich der Neoliberalismus in Bezug auf die Weltwirtschaft verhält. Dies war bislang lediglich in Bezug auf die Währungspolitik thematisiert worden. Matthias Schmelzer hatte etwa die waghalsige These aufgestellt, dass das in Bretton Woods entstandene System fester Wechselkurse seit 24 Ther, Die neue Ordnung, S. 25. 25 Röpke, Gesellschaftskrisis, z. B. S. 24–27. 26 Zum Forschungsfeld der modernen »behavioral economics« siehe: Hanno Beck, Behavioral Economics, Wiesbaden 2014. 27 Mirowski / Plehwe, Preface, hier S. XI . Siehe auch: Dieter Plehwe / Matthias Schmelzer, Marketing Marketization. The Power of Neoliberal Expert, Consulting, and Lobby ­Networks, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2015), S. 488–499.

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den 1960er Jahren unter Kritik der sich international formierenden neoliberalen Ökonomen gestanden hätte und durch permanente akademische Beeinflussung der Regierungsverantwortlichen dann in den 1970er Jahren zerstört worden sei.28 Neben Milton Friedman wurde Fritz Machlup als einer der führenden Totengräber ausgemacht, sowie in Deutschland Herbert Giersch und Egon Sohmen. Gegen diese auch von Eric Helleiner geäußerte Überlegung lassen sich freilich vielerlei empirische Zweifel vorbringen: So ist es schlicht eine wirtschaftshistorische und allgemein anerkannte Tatsache, dass das Bretton WoodsSystem nie wirklich funktioniert hat und beispielsweise in der Bundesrepublik die vermeintlich von der Systemveränderung profitierenden Wirtschaftseliten sich gleichwohl vehement für die Beibehaltung des Festkurssystems eingesetzt hatten.29 In bester Tradition der frühen verschwörungstheoretischen Neoliberalismus-Forschung hat Slobodian aber nun eine Schule von »Globalisten« entdeckt, die ihre intellektuelle Wurzel am von William Rappard gegründeten Graduate Institute der Universität Genf hatten, wo neben anderen prominenten »Neoliberalen« Wilhelm Röpke lehrte und an das auch Ludwig von Mises floh. Die »Globalisten« seien nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich an der Umgestaltung der Weltwirtschaftsordnung beteiligt gewesen. Es sei ihnen darum gegangen, »die Weltwirtschaft gegen Demokratie und Nationalismus zu verteidigen«. Das »Projekt« des Neoliberalismus habe darin bestanden, »im Geist eines militanten Globalismus Märkte abzuschotten« (encase)  und eben nicht darin, den Staat oder die Nationalstaatsgrenzen abzuschaffen.30 Slobodians Ansatz, dass sich neoliberale Regulierung in den internationalen Organisationen am besten finden lassen müsste und diese der geeignetste Ansatzpunkt seien, ist plausibel. Er lenkt vollkommen zu Recht die Aufmerksamkeit auf die »Ordnungspolitik« und Wirtschaftsjuristen in der jüngeren Generation des europäischen Ordoliberalismus, auf die GATT-Juristen der 1980er Jahre, Jan Tumlir, Frieder Roessler, und Ernst-Ulrich Petersmann. Bei näherer Betrachtung erhebt sich dabei allerdings immer mehr die Frage, wie sich das »neoliberale Projekt« der »Globalisten« eigentlich von den keynesianischen Vorgängern unterschieden hat, denn auch diesen, die die Bretton Woods-Institutionen geschaffen hatten, 28 Matthias Schmelzer, Freiheit für Wechselkurse und Kapital. Die Ursprünge neoliberaler Währungspolitik und die Mont Pèlerin Society, Marburg 2010. 29 Vgl. zu dieser Diskussion und zu den Kontroversen in Deutschland in den 1960er Jahren: Jan-Otmar Hesse, Wissenschaftliche Beratung der Wirtschaftspolitik. Das Bundeswirtschaftsministerium und die Volkswirtschaftslehre«, in: Werner Abelshauser (Hg.), Das Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft. Der deutsche Weg der Wirtschaftspolitik, Berlin 2016, S. 391–481, insbesondere S. 450–475; Eric Helleiner, States and the reemergence of global finance. From Bretton Woods to the 1990s, Ithaca, NY 1994. Einen Überblick bietet: Barry J.  Eichengreen, Globalizing Capital. A history of the international monetary system, Princeton, N. J. 1996. 30 Quinn Slobodian, Globalists. The end of empire and the birth of neoliberalism, Cambridge 2018, S. 16, 266.

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ging es um die »Liberalisierung der Weltwirtschaft«, freilich mit dem Ziel der Vollbeschäftigung. Der junge Keynesianer Charles Kindleberger und der alte und stets übelgelaunte Turboliberale Ludwig von Mises flohen zu Beginn des Zweiten Weltkrieg aus der Höhle der Globalisten am Genfer Graduierteninstitut in demselben Bus.31 Der amerikanische Politologe John Ruggie hatte die ambivalente Mischung aus Liberalisierung und Intervention, die insbesondere das Währungsregime, aber letztlich die gesamte in Bretton Woods geschaffene Institutionenstruktur auszeichnete 1982 sehr treffend als »embedded liberalism« bezeichnet.32 Wenn also die nagende Wirkung des »neoliberalen Projektes« darin bestand, die Weltmärkte gegenüber der nationalen Beeinflussung zu imprägnieren, dann müsste zunächst einmal gezeigt werden, wie sich ihre Instrumente und politischen Aktivitäten und insbesondere das Ergebnis von denen der keynesianischen Regulierung unterschieden. Am Beispiel der bundesdeutschen Handelspolitik soll im Folgenden gezeigt werden, auf welche Schwierigkeiten ein solcher Nachweis im Konkreten stößt.

3. Die westdeutsche Handelspolitik und der Protektionismus der 1970er Jahre In der wirtschaftshistorischen Literatur besteht Konsens, dass das Wiederauf­ leben des Welthandels nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer raschen wirtschaftlichen Erholung beigetragen hat. Nach seinem vollkommenen Zusammenbruch in der Weltwirtschaftskrise und im Zweiten Weltkrieg wuchs der Welthandel über Jahrzehnte noch wesentlich stärker als das ebenfalls stark expansive Sozialprodukt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weisen die globalen Exporte ein jährliches Wachstum von fast 6 % auf. Für Industrieprodukte lagen die globalen Wachstumsraten vor 1973 sogar bei 9 %, während das Durchschnittswachstum des Bruttoinlandsproduktes selbst in den stark wachsenden Regionen in Westeuropa oder in Ostasien bei 4 % lag (mit freilich höheren Spitzen in Ländern wie der Bundesrepublik und Japan).33 Allerdings wird diese Entwicklung heute nicht mehr allein auf die Errichtung eines vermeintlich liberalen Handelsregimes zurückgeführt, das im Kontext der Bretton Woods-Konferenz als 31 Charles P. Kindleberger, The life of an economist. An autobiography, Cambridge 1991. 32 John Gerard Ruggie, International Regimes, Transactions, and Change. Embedded Libe­ralism in the Postwar Economic Order, in: International Organization 36/2 (1982), S. 379–415. 33 Ronald Findlay / Kevin H. O’Rourke, Power and Plenty. Trade, War, and the World Economy in the Second Millennium, Princeton, N. J. 62009, S. 505–508; Catherine R. Schenk, International economic relations since 1945, Abingdon 2011; Jan-Otmar Hesse / Sebastian Teupe, Wirtschaftsgeschichte. Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft, Frankfurt am Main 22019, S. 31 f.; Douglas A. Irwin, Clashing over Commerce. A History of US Trade Policy, Markets and Governments in Economic History, Chicago 2017, S. 507 f.

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zweite Säule neben der Währungsordnung installiert worden war. Das zunächst als »International Trade Organisation« geplante und dann als »General Agreement on Tariffs and Trade« beschlossene multilaterale Vertragssystem hatte sich einerseits zur Liberalisierung des Welthandels verpflichtet, »by entering into reciprocal and mutually advantageous arrangements to the substantial reduction of tariffs and barriers to trade and to the elimination of discriminatory treatment of commerce«.34 Andererseits enthielt das Vertragswerk von Beginn an zahlreiche Ausnahmeklauseln, die es ermöglichten, doch wieder protektionistische Handelspolitik anzuwenden. In der einschlägigen wirtschaftshistorischen Literatur wird das GATT daher heute nicht mehr als entscheidende Triebkraft beim Aufschwung des Welthandels nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen. Bereits vor dem Inkrafttreten des Vertrags waren bis 1947 viele Zölle gegenüber den phantastischen Spitzenwerten der 1930er Jahre deutlich reduziert worden. In den sieben GATT-Verhandlungsrunden bis 1964 konnten dagegen nur noch magere 10–20 % an Zollreduktionen erreicht werden. Mitte der 1960er Jahre lagen die handelsgewichteten Durchschnittszollsätze Großbritanniens immer noch bei 36 %, die Frankreichs bei 22 %. Niedrige Durchschnittszollsätze von 5 %, wie sie die USA, die Niederlande oder die Bundesrepublik Deutschland erhoben, stellten mithin kein zwangsläufiges Ergebnis des GATT dar.35 Auch die Tatsache, dass sich die Zahl der Mitgliedsländer des ursprünglich von 23 Staaten gegründeten Vertragswerkes bis 1994 auf 128 erhöhte, kann nicht ohne weiteres als Erfolg der Liberalisierung gewertet werden. Denn das GATT bezog sich bis 1990 eben nicht einmal auf den gesamten Welthandel. Vor allem aber enthielt der Vertrag zahlreiche »Ausnahmetatbestände«, die es den Mitgliedsländern letztlich ermöglichten, ihn auch in ganz anderer Richtung in Anspruch zu nehmen:36 Mit Bezug auf die Textilindustrie ist daher schon seit den 1980er Jahren von einem »liberalen Protektionismus« oder einem »selektiven Protektionismus« die Rede, wenn auf die durch den GATT ermöglichte Handelspolitik Bezug genommen wird.37 Die Artikel 11 und 12 des GATT erlaubten beispielsweise grundsätzlich die Verhängung von Einfuhrquoten im 34 Zitiert aus der GATT-Präambel nach: Findlay / O’Rourke, Power and Plenty, S. 490. 35 Der »handelsgewichtete Durchschnittszollsatz« teilt die gesamten Zolleinnahmen eines Landes durch den Wert der Einfuhr. Zur Diskussion dieses Maßstabs und zu anderen Maßstäben siehe: Chad P. Bown / Douglas A. Irwin, The GATT ’s Starting Point: Tariff Levels Circa 1947. NBER Working Paper 21782, Cambridge, MA 2015; Douglas A. Irwin, The GATT ’s Contribution to Economic Recovery in Post-War Western Europe, in: Barry Eichengreen (Hg.), Europe’s Postwar Recovery, Cambridge 1995, S. 127–150. 36 Alan O. Sykes, Protectionism as a »Safeguard«: A Positive Analysis of the GATT »Escape Clause« with Normative Speculations, in: The University of Chicago Law Review 58/1 (1991), S. 255–305. 37 Vinod K. Aggarwal, Liberal protectionism. The international politics of organized textile trade, Berkeley 1985; Jürgen Wiemann, Selektiver Protektionismus und aktive Strukturanpassung. Handels- und Industriepolitische Reaktionen Europas auf die zunehmende Wettbewerbsfähigkeit der Entwicklungsländer am Beispiel der Textilpolitik der EG , Berlin 1983.

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Bereich der Landwirtschaft und Fischerei sowie während »Zahlungsbilanzkrisen«. Entwicklungsländern wurden grundsätzlich besondere Bedingungen eingeräumt. Artikel 34 erlaubte ihnen die besondere Exportförderung. Tatsächlich kamen aber auch die Industrieländer in den Genuss von lukrativen Ausnahmen: Artikel 19 erlaubte »Emergency Action on Imports of Particular Products«, Produkte nämlich, die »inländischen Produzenten eines ähnlichen oder direkt im Wettbewerb befindlichen Produktes ernsthaften Schaden zufügen oder eine Bedrohung darstellen«. Der Artikel wurde in den 1950er Jahren dazu benutzt, die Einfuhr von Baumwollstoffen und -textilien aus Japan, später auch aus anderen asiatischen Staaten in die USA und nach Europa zu begrenzen. Den Importländern wäre nach dem GATT erlaubt gewesen, Einfuhrkontingente oder sogar Zölle zu verhängen. Um das zu vermeiden, einigten sie sich darauf, dass Japan die »Billigimporte« »freiwillig« reduzierte – der Beginn der »Voluntary Self-Restraint-Abkommen«, die den globalen Textilhandel bis vor einigen Jahren regulierten.38 Auch andere Sektoren wurden auf diese Weise reguliert – die Unterhaltungselektronik beispielsweise aber auch die Autoindustrie – wenn auch weniger nachhaltig und dauerhaft. Eine andere wichtige Ausnahme von der GATT-Regulierung stellten die Freihandelszonen dar. Sofern solche Zonen dazu führen würden, den Welthandel insgesamt zu liberalisieren, sollten sie von den im GATT zusammengeschlossenen Vertragsparteien toleriert werden, auch wenn kurzfristig hieraus Zollerhöhungen folgten. Die EWG war eine solche »Freihandelszone«. Bei ihrer Gründung strebte sie den vollständigen Zollabbau im Innern an. Hierzu mussten aber eben die Außenzölle zunächst schrittweise harmonisiert werden, was dazu führte, dass die im Durchschnitt mit 5 % Außenzoll agierende Bundesrepublik Deutschland sich dem 22 %-Zoll Frankreichs in einigen Produktgruppen annähern musste, so dass aus der EWG -Gründung eben auch Zollerhöhungen hervorgingen. Auf dem Gebiet der Eisen- und Stahlerzeugung und der Landwirtschaft war die EWG ohnehin ein Handelsblock nach Außen.39 Trotz der lautstarken Liberalisierungs-Rhetorik, die die Gründung des GATT und auch seine Präambel umgab – und von der sich auch manche Sekundärliteratur hat einfangen lassen – bot das westliche Handelsregime mithin zahlreiche Möglichkeiten der Handelsbeschränkung. Das war schon allein deshalb notwendig, weil andernfalls der Anspruch einer die gesamte westliche Welt umfassenden Handelsintegration rasch hätte aufgegeben werden müssen. Letztlich stellte das GATT genau wie das Währungsabkommen von Bretton Woods eine von den USA gestiftete und propagierte Ordnung dar, die für den Fall, dass sie zur Belastung des Hegemons werden sollte, auch die nötigen Hintertüren 38 Pietra Rivoli, The Travels of a T-Shirt in the Global Economy. An Economist Examines the Markets, Power, and Politics of World Trade, Hoboken, N. J. 22009. 39 Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, Berlin 2018, S. 125 f.; John Gillingham, European integration, 1950–2003. Superstate or new market economy?, Cambridge 2003.

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bereit hielt. Und genau diese wurden im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre zahlreich benutzt. Die amerikanische Diskussion um die »Mills-Bill« im Jahr 1970, eine Gesetzinitiative, mit der pauschal Handelsbeschränkungen für alle Importprodukte vorgesehen wurden, die einen inländischen Marktanteil von mehr als 15 % erreichten, markierte nach Douglass Irwin eine deutliche Zäsur: die Abkehr von der zuvor grundsätzlich liberalen amerikanischen Handelspolitik.40 Im Gegensatz zur institutionellen Neuausrichtung des Währungsregimes nach 1973 erlebte die Gestaltung des Welthandelsregimes keinen grundlegenden Strukturbruch, weder in den 1970er Jahren, noch in den 1980er Jahren, sondern war von Beginn an durch eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Liberalismus und Protektionismus gekennzeichnet, die sich bis in die Gegenwart fortschreibt. Wenn also eine Injektion des »neoliberalen« Projektes durch die Welthandelsordnung erfolgt sein soll, so müsste zunächst einmal deutlich gemacht werden, auf welche konkrete Reform sich das bezieht. Die bundesdeutsche Handelspolitik ist in gewisser Weise ein naturgetreues Abziehbild dieser ambivalenten internationalen Ordnung des Handels. Sie pflegte von Beginn an und insbesondere unter Wirtschaftsminister Ludwig ­Erhard eine überschießende Rhetorik der Liberalisierung, die sich aber mit einer durchaus pragmatischen Politik des »selektiven Protektionismus« verband. ­Erhard setzte sich nachhaltig und gegen Widerstände großer Teile der Indus­ trie für die »Liberalisierung« ein, wie Reinhard Neebe in seiner Studie über die deutsche Handelspolitik vor 1957 herausarbeiten konnte. Hierzu gehörten Zollsenkungen und Abbau von Handelsbeschränkungen, aber auch Erhards Feldzug für die Währungskonvertibilität. Neebe verweist aber eben auch auf Erhards politischen Pragmatismus: »Seit Mitte der fünfziger Jahre [wurde] immer deutlicher, daß die westdeutsche Außenwirtschaftspolitik und wohl auch Erhard unter freiem Welthandel bisher in erster Linie die Freiheit für die eigenen Exporte auf den Märkten der anderen verstanden hatten und auf den wachsenden Importdruck von außen zunächst auffallend restriktiv reagierten«.41 Deshalb waren einzelne Importprodukte auch in den 1950er Jahren noch immer sehr hohen Zollsätzen unterworfen. Auf Papier wurde ein Zoll von 30 Prozent, auf chemische Produkte von 25 % erhoben.42 Es gibt wenig Hinweise darauf, dass die außenhandelspolitische Konzeption Erhards und der Bundesregierungen sich in den 1960er und 1970er Jahren gravierend geändert hätten. Sie basierten weiterhin auf der Sicherung von hohen und steigenden Exporten, welche als notwendig erachtet wurden, um die mit dem Übergang zur Konsumgesellschaft steigenden Importe zu finanzieren. Die Liberalisierung der Einfuhr wurde vor allem als Maßnahme angesehen, mit der im Gegenzug der Absatz bundesdeutscher Exportprodukte auf den Märkten 40 Irwin, Clashing over Commerce, S. 533 f. 41 Reinhard Neebe, Weichenstellung für die Globalisierung. Deutsche Weltmarktpolitik, Europa und Amerika in der Ära Ludwig Erhard, Köln 2004, S. 387. 42 Ebd., S. 112–115.

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der Handelspartner erleichtert werden konnte.43 Die Einfuhrliberalisierung unter Erhard stand also von Beginn an in Verbindung mit der Förderung des bundesdeutschen Exportes, die nicht zuletzt durch die »Unterbewertung« der D-Mark durchgesetzt wurde. Hierdurch erhielten die bundesdeutschen Exporte auf vielen ausländischen Märkten einen währungstechnischen Preisvorteil.44 Während die wirtschaftshistorische Forschung für die 1950er Jahre bestritten hat, dass eine Unterbewertung vorliegt, lässt sich diese für die 1960er Jahre kaum widerlegen und wurde von den Ministerialbeamten des Bundeswirtschaftsministeriums, von bundesdeutschen Ökonomen und nicht zuletzt der Exportindustrie auch konzediert. Andernfalls hätte es auch gar keinen Grund gegeben, sich derart massiv gegen die Aufwertung der D-Mark zu wehren, wie es nicht nur Adenauer und seine großindustriellen Berater gegenüber Erhard taten, sondern auch die bundesdeutsche Geschäfts- und Bankenwelt, allen voran Hermann Josef Abs.45 Mit dem Beginn der Krise des Festkurssystems seit der Pfundabwertung von 1967 ging dieser währungspolitische Wettbewerbsvorteil der deutschen Industrie immer mehr verloren. Weil sich aber zwischenzeitlich die Abhängigkeit des Wirtschaftswunders von Exportüberschüssen sogar noch vergrößert hatte, hinter die »Liberalisierung des Welthandels« nach der »Kennedy-Runde« des GATT aber nicht mehr zurückgegangen werden konnte, suchte die Exportförderung seit den 1960er Jahren nach anderen Wegen. Das Ergebnis war der »selektive Protektionismus« der 1970er Jahre, gepaart mit einem deutlichen Ausbau auf dem Gebiet der steuerlichen Subventionen und der Exportversicherung bzw. -kreditierung. Die Außenhandelspolitik unter Erhard war von Beginn an eine pragmatische Mischung von Einfuhrliberalisierung und Exportförderung, von liberaler Rhetorik und pragmatischer Regulierung. Sehr deutlich wurde dies in den Diskussionen um das »Außenwirtschaftsgesetz« (AWG).46 Das AWG hatte ursprünglich

43 Abteilungsreferent des Bundeswirtschaftsministeriums, Mesenberg (VA2), hatte diese Grundsätze kurz nach dem Bruch der Koalition von CDU und FDP in seinem »Entwurf einer exportpolitischen Konzeption«, 31.10.1966 dezidiert festgehalten. Bundesarchiv Koblenz (BArch) B102/226530. 44 Ganz allgemein gilt eine Währung auf einem ausländischen Markt als unterbewertet, wenn ihre Kaufkraft höher ist als der nominale Wechselkurs. Zur diesbezüglichen Diskussion siehe: Linda von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren des westdeutschen Exports in den 1950er und 1960er Jahren, Dortmund 2003, S. 165–194. 45 Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen: Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005; Bernhard Löffler, Globales Wirtschaftsdenken vor der Globalisierung. Weltwirtschaftliche Ordnungsvorstellungen bei Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, in: Eckart Conze (Hg.), Die Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2010, S. 113–147. 46 Zur Geschichte des AWG gibt es leider keine solide historiographische Studie. Sehr oberflächlich behandelt wird es bei: Jürgen Bellers / Markus Porsche-Ludwig, Außenwirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland 1950–2011. Ein Handbuch zu Vergangenheit und Gegenwart, Münster 2011, S. 247–256.

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das Ziel, den Wildwuchs auf dem Gebiet der Devisenbewirtschaftung, der sich nach der Einführung 1931 und den verschiedenen Stadien der Alliierten Verordnungen auf dem Gebiet der Außenwirtschaft eingestellt hatte, zu strukturieren. Das Projekt wurde daher im Bundeswirtschaftsministerium zunächst noch mit dem Titel »Deutsches Devisengesetz« begonnen, dann aber schnell in Außenwirtschaftsgesetz umbenannt, um den Übergang zum Grundsatz des liberalen Außenhandels nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterstreichen.47 Allerdings sahen die Entwürfe nach wie vor erhebliche Interventionsmöglichkeiten in die Handelsfreiheit vor, denn mit der staatlichen Bewirtschaftung von ausländischen Zahlungsmitteln sind den Importaktivitäten der inländischen Industrie zwangsläufig enge Grenzen gesetzt. Angesichts der Fülle von Interventionsmöglichkeiten, die das Erhard-Ministerium im Übrigen sich selbst ausbedungen hatte – zum Teil in Abstimmung mit der Bundesbank – ernteten die Entwürfe ausgerechnet aus dem Finanzministeriums lautstarke Kritik: »Das Gesetz ist aus dem Grundgedanken der aussenwirtschaftlichen Freiheit zu entwickeln« so heißt es in einer für den ministeriellen Verkehr ungewöhnlich deutlichen Kritik. »Hierzu genügt es nicht, sie als Grundsatz einleitend herauszustellen. Wenn die Verwaltung im Wege der Rechtsverordnung letzten Endes jede aussenwirtschaftliche Betätigung verbieten und durch die Verbote Straftatbestände schaffen kann, so besteht keine Freiheit. Es wird vielmehr der Eindruck erweckt, es wäre dem Gesetzgeber nicht ernst um die Freiheit. […] Aussenwirtschaftliche Freiheit und das die geltenden Devisenbewirtschaftungsgesetze beherrschende allgemeine Verbotsprinzip sind miteinander unvereinbar.«48 Das nach langwierigen Diskussionen schließlich 1961 erlassene Gesetz folgte dennoch der ursprünglichen Logik und führte nach der Beteuerung des allgemeinen Grundsatzes der Handelsfreiheit unzählige Rahmenbedingungen auf, in denen die Einfuhr und Ausfuhr von Waren »genehmigungspflichtig« sei, zur »Abwehr schädigender Einwirkungen aus fremden Wirtschaftsgebieten« (§ 6) oder »um einer Gefährdung der Deckung des lebenswichtigen Bedarfs im Wirtschaftsgebiet … vorzubeugen« (§ 8).49 Die Grundlage des AWG bildeten die in Form eines Anhangs aufgenommenen »Einfuhrlisten«, die die genehmigungspflichtigen Güter aufführten, sowie »Länderlisten«, die festlegten, mit welchen Ländern tatsächlich unbeschränkter Handel aufgenommen werden sollte, wobei interessanterweise die USA nicht auf der »Länderliste A« der nicht diskriminierten Länder aufgeführt wurden. Den Akteuren im Bundeswirtschaftsministerium war bewusst, dass es für die Bundesregierung jederzeit notwendig werden konnte, Einfuhrbeschränkungen und sonstige Regulierungen zu verhängen,

47 Vermerk: »Der Stand der Arbeiten am Entwurf eines Außenwirtschaftsgesetzes«, 10.11.1956, BArch B102/212614. 48 Bundesminister der Finanzen, Leitsätze zur Neuordnung des Aussenwirtschaftsrechts, 5.7.1956, BArch B102/212610. 49 Außenwirtschaftsgesetz v. 28.4.1961, BGBl. Nr. 29 (1961), S. 481–495.

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um die inländische Wirtschaft gegenüber dem Weltmarkt abzuschotten. Immer wieder waren gerade diese Listen Gegenstand der Diskussionen im Rahmen der GATT-Verhandlungen.50 1968 unternahm ausgerechnet der Keynesianer Karl Schiller einen Versuch, die Länderlisten des AWG und die damit verbundene Diskriminierung abzuschaffen, um die handelspolitische Annäherung an den Ostblock zu vereinfachen – aber ohne Erfolg.51 Erst 1995 konnten die Länderlisten vollständig abgeschafft werden. Seit 1971 war das bundesdeutsche Außenwirtschaftsrecht zwar der gemeinsamen Handelspolitik der Europäischen Gemeinschaft nachgeordnet und besaß nur für bilaterale Handels­verträge der Bundesrepublik Relevanz sowie im »Passiven Veredelungsverkehr« und bei den Präferenzabkommen mit den AKP-Staaten. Auf diese Weise konnte aber gleichwohl eine eigenständige bundesdeutsche Handelspolitik entwickelt werden, welche Züge des »selektiven Protektionismus« trug und nicht etwa des Neoliberalismus. Mit dem Übergang der handelspolitischen Kompetenzen auf die Europäische Gemeinschaft, die in der Folge auch die Aushandlung von internationalen Handelsverträgen übernahm (freilich auf der Grundlage von zuvor durch die Mitgliedsländer ausgehandelten internen Beschlüssen), veränderten sich die Rahmenbedingungen deutlich, ohne dass die Bundesregierungen der 1970er und 1980er Jahre von der spezifisch ambivalenten handelspolitischen Konzeption abgegangen wären. Die Veränderungen in den europäischen Handelsströmen, die durch die erste Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft 1973 und den Bedeutungsverlust des EFTA-Raums ausgingen, sollen hier nicht diskutiert werden. Sie als Liberalisierungserfolge zu verbuchen geht aber sicher an der Sache vorbei. Für die Bundesrepublik Deutschland ergab sich aus den 1970er Jahren eine kaum bestreitbare steigende Bedeutung des regionalen innereuropäischen Handels, die gleichermaßen auf den vergrößerten zollfreien Binnenmarkt zurückzuführen ist, wie auf eine zunehmende Abschottung des europäischen Handelsblocks gegenüber der Weltwirtschaft.52 Während am prinzipiellen Ziel der Generierung hoher Exportüberschüsse in Politik und Wirtschaft weiterhin festgehalten wurde, änderten sich die Instrumente der Außenhandelspolitik: Direkte handelspolitische Diskriminierung konnte nur noch im Verein mit den europäischen Partnern gegenüber der Konkurrenz aus Asien, den USA und gegenüber dem Ostblock durchgesetzt werden. Währungspolitische Wettbe-

50 Ergebnisniederschrift einer Besprechung zwischen Helmut Schmidt BMWF und Generaldirektor des GATT, Olivier Long, 14.9.1972, BArch B102/165304. 51 Vermerk über die Hausbesprechung am 19. April über die Möglichkeiten zur Beseitigung der Länderliste B der Einfuhrliste AWG , 3.5.1968, BArch B102/165303. 52 Allgemein zu dieser Phase der Europäischen Integration siehe: Patel, Projekt Europa, S. 130–35 und die dort verwendete Literatur. Die zunehmende Bedeutung der europäischen Handelspartner wird gezeigt bei: Ludger Lindlar / Carl-Ludwig Holtfrerich, Geography, exchange rates and trade structures. Germanys export performance since the 1950s, in: European Review of Economic History 1 (1997), S. 217–246.

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werbsvorteile konnten höchstens noch gegenüber einigen europäischen Ländern realisiert werden, mit denen die Bundesrepublik feste Wechselkurse vereinbart hatte, während diese gegenüber den anderen Regionen schwankten. Vor diesem Hintergrund kam es unter den sozial-liberalen Koalitionen der 1970er Jahre zu einer Veränderung des handelspolitischen Instrumentenkastens, was auf den ersten Blick als eine Liberalisierungspolitik erscheinen könnte, zumal die freidemokratischen Wirtschaftsminister diese Rhetorik sehr gerne bemühten. Tatsächlich folgte aber auch die Bundesrepublik den Verlockungen des »neuen Protektionismus«, der sich nach der Währungs- und Ölpreiskrise 1973 in den meisten Ländern ausbreitete.53 Für die Bundesrepublik waren hierbei zwei Handlungsebenen relevant: Zum einen war sie Bestandteil der von Frankreich und Italien maßgeblich vorangetriebenen protektionistischen Handelspolitik der Europäischen Gemeinschaft, in der man sich als letzter Hort des Freihandels rhetorisch aufblasen konnte, letztlich aber alle diskriminierenden Handelspraktiken (Agrarpolitik, Selbstbeschränkungsabkommen) munter mitmachte. Zum anderen wurde in dieser weltwirtschaftlichen Großwetterlage steuerliche Instrumente zur Exportförderung zunehmend wichtig sowie eine weitgespannte Struktur von Exportversicherungen, Ausfallbürgschaften und Exportkrediten. Die diskriminierende Handelspolitik der EG ist neben der Gemeinsamen Agrarpolitik vor allem für die Teilnahme an den verschiedenen »Selbst­ beschränkungsabkommen« auf dem Gebiet der Textil- und Bekleidungsindustrie gut untersucht. Die »Selbstbeschränkungsabkommen«, die sich in den 1960er Jahren nur auf Baumwolltextilien bezogen, wurden auf die synthetischen Fasern ausgedehnt. Das »Multifibre-Abkommen« von 1974 beschränkte den Textil- und Bekleidungshandel mit natürlichen und synthetischen Fasern zwischen 50 Ländern, darunter auch die Europäische Gemeinschaft als eines der wichtigsten Absatzgebiete für die zunehmend in Schwellenländern hergestellten Erzeugnisse. Mit dem Abkommen unterlagen 75 % der Textil- und Bekleidungseinfuhren in die USA nun Handelsbeschränkungen. Anstatt die Einfuhrquoten langsam zu erhöhen, wie das Abkommen 1974 vorsah, um eine Tolerierung der GATT-Institutionen zu erreichen, wurden die Quoten im Zeichen der globalen Wirtschaftskrise 1977 sogar weiter reduziert.54 Die europäischen Absatzmärkte waren damit (wie auch die amerikanischen) für die Exportprodukte der Entwicklungsländer, hauptsächlich Bekleidung und Nahrungsmittel, faktisch versperrt. Im Verlauf der 1970er Jahre kamen sogar noch die Dumping-Exporte von Nahrungsmitteln aus der EG hinzu, was in einigen afrikanischen Agrarländern die Wirtschaft

53 So stagnierte beispielsweise der »Offenheitsgrad« (Exporte+Importe / GDP) faktisch in allen Weltregionen. Vgl. Findlay / O’Rourke, Power and Plenty, S. 507–509. 54 Jan-Otmar Hesse, The German textile puzzle. Selective protectionism and the silent globalisation of an industry, in: Business History Review 93 (2019), S. 221–246, hier S. 231; Rivoli, Travels, S. 193–207.

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vollständig ruinierte.55 Die europäischen Einfuhrbeschränkungen betrafen aber auch Kassettenrekorder aus Japan und Taiwan, für die Frankreich, Belgien und die Niederlande Selbstbeschränkungsabkommen durchsetzen konnten, auch wenn die Bundesregierung »mit Sorge« beobachtete, »daß der gemeinschaftliche Liberalisierungsstand für die Einfuhr elektronischer Erzeugnisse aus GATT-Ländern in Gefahr ist, durch Maßnahmen einzelner Mitgliedsstaaten ausgehöhlt zu werden.«56 Während sich die Bundesregierung einerseits gerne als letzter Verfechter des Freihandels gegen die protektionistischen Partnerländer inszenierte, schloss sie andererseits bilaterale Selbstbeschränkungsabkommen mit osteuropäischen Handelspartnern, die als Verstoß gegen Artikel 113 des EG -Vertrages von Brüssel gerügt wurden.57 Größere Handlungsspielräume verblieben der Bundesregierung (und auch den anderen europäischen Staaten) zunächst in der direkten Exportförderung, entweder durch Steuervergünstigungen, Kredite und Bürgschaften, aber auch – und nicht zu unterschätzen – durch Informationskampagnen. Die Instrumente waren keineswegs neu. Die wichtigsten Institutionen waren bereits in der Weimarer Republik geschaffen worden, wie beispielsweise die Hermes-Versicherungen und die Informationsstelle für Außenhandel.58 1952 trat noch die Ausfuhrkreditanstalt AG in Frankfurt hinzu, die staatlich subventionierte Exportkredite vergab, die die Vorfinanzierung von Exporten erheblich erleichterten. Mit einem AKA-Kredit, der über eine Hermes-Kreditversicherung abgesichert werden konnte und ggf. noch einer staatlichen Ausfallbürgschaft, versuchte die Bundesregierung, den Exporteuren das zum Teil erhebliche Risiko des Auslandsgeschäftes jedenfalls partiell abzunehmen. Zwar wandten auch andere Länder ähnliche Instrumente an und die Frage, ob bundesdeutsche Exporteure hinsichtlich des Ausfallsrisikos besser gestellt waren als ihre britischen, amerikanischen und japanischen Wettbewerber, ist gar nicht so leicht zu entscheiden. Dass diese Instrumentarien nicht nur von der Bundesrepublik in den 1970er Jahren gleichsam als Ersatz für den direkten Protektionismus verwendet wurden, zeigt schon das Bestreben der Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD), in der die Entwicklungsländer tonangebend waren, auch diese Praxis der Exportförderung zu »harmonisieren«.59 Die Bundesrepublik stand auf diesem Feld jedenfalls nicht an der Spitze der Liberalisierung des Weltmarktes, sondern ließ ihre Auslandsvertretungen noch 1983 wissen: »Die Grenze der

55 Kiran Klaus Patel, Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG , 1955–1973, München 2009, S. 427–452. 56 BMWi (Streit) an EG , 19.9.1973, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA  AA) B201/488. 57 Büro Brüssel an AA , 18.6.1976, PA AA B201/488. 58 Helmut Bethge, 75 Jahre Hermes Kreditversicherungs-AG: 1917–1992, Hamburg 1992; vgl. auch den Überblick bei: Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren, S. 96 f., 115–125. 59 Lautenschläger AA an Steeg BMWi, 29.1.1976, PA AA B201/505.

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Vertretbarkeit über Abnahme des Ausfuhrrisikos kann im Zweifelsfall weiter gezogen werden.«60 Ein weiteres Instrument in diesem Zusammenhang ist in der Förderung der »Produktionsverlagerung« zu sehen. Es würde hier zu weit führen, diese Strategie in allen Einzelheiten zu erläutern.61 Betont werden soll allerdings, dass die schon seit den 1960er Jahren angewandte Förderung des »offshoring« geringwertiger Produktionsschritte und des »outward processing« (wie die »passive Lohnveredelung« im internationalen Jargon heißt) handelspolitische Instrumente zur Verbesserung der Exportstärke darstellten und auch zeitgenössisch eindeutig vor diesem Hintergrund diskutiert wurden:62 Weil sich durch die Währungsturbulenzen die Einfuhren aus dem Dollarraum und auch Rohstoffimporte verbilligten und zugleich durch die inländische Inflation die Lohnkosten stiegen, propagierte und förderte die Regierung die »Produktionsverlagerung« der deutschen Industrie. Die Kapitalerträge von Auslandsinvestitionen sollten steuerbegünstigt repatriiert und ausländische Kapitalbeteiligungen im Inland steuerbegünstigt veräußert werden dürfen. Sofern die Auslandsinvestitionen Entwicklungsländer betrafen, sollten sie temporär vollkommen steuerbefreit bleiben dürfen. Mit der Förderung des Kapitalexports sollte die inländische Inflationsspirale unterbrochen werden, aber auch die Produktivität der im Inland verbleibenden Industrie gestärkt und nicht zuletzt ihre Exportstärke gefördert werden: Denn wenn Produktionsteile einer inländischen Industrie ins Ausland verlagert wurden, sanken die Produktionskosten und auch die Exportpreise. Zugleich verblieben im Inland die Beschäftigungsmöglichkeiten mit hoher Wertschöpfung und hohen Gehältern – so die Logik der »Produktionsverlagerung«, die Mitte der 1970er Jahre als zentraler Beitrag der industriellen Strukturpolitik entdeckt wurde.63 Weniger aufgrund der Förderung durch die Bundesregierung  – die sich ohnehin in erster Linie an mittelständische Unternehmen richtete, für die die Informationsbeschaffung über Auslandsinvestitionen schwierig war – sondern eher aufgrund der allgemeinen ökonomischen Rahmenbedingungen lässt sich ein deutlicher Anstieg des Auslandsengagements deutscher Unternehmen in den 1970er Jahren beobachten. Die jährlichen ausländischen Direktinvestitionen hatten im Verlauf der 1960er Jahre kaum einmal die Marke von 2 Mrd. D-Mark 60 Auswärtiges Amt an alle Botschaften: »Exportgewährleistungspolitik der Bundesregierung, Kabinettsbeschluss«, 21.3.1983, PA AA B201/131210. 61 Vgl. hierzu ausführlich: Hesse, German textile puzzle, sowie die klassische zeitgenössische Studie von: Folker Fröbel u. a., Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer, Reinbek bei Hamburg 1977. 62 Vgl. auch Friederike Sattler, Herrhausen. Banker, Querdenker, Global Player Ein deutsches Leben. München 2019, S. 195. 63 Vgl. die Diskussionen im Außenwirtschaftsbeirat des BMWi, insbesondere: Langer (Referat VC5) an Abt. VA1, zum Thema »Produktionsverlagerung«, 11.2.1974, BArch B102/139771.

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erreicht. Mit der Aufwertung der DM stiegen sie 1971 auf fast 4 Mrd. D-Mark und lagen seit 1984 dauerhaft über 10 Mrd.  DM .64 Im Einzelfall waren die Auslandsaktivitäten auch eine Folge der Handelsrestriktionen, die auf diese Weise umgangen werden konnten. Selbst ein Unternehmen, das sich zuvor mit Auslandsinvestitionen eher zurückgehalten hatte, wie BMW, begann in den 1970er Jahren mit der systematischen Übernahme der ausländischen Vertriebspartner und baute schließlich Anfang der 1980er Jahre in Südafrika seine erste ausländische Produktionsstätte.65 Die deutschen Großbanken vollzogen faktisch eine parallele »Internationalisierung«, zum Teil weil sie in die Finanzierung der Auslandsgeschäfte der Unternehmen einbezogen waren, mehr aber noch als eigenständige Geschäftsstrategie, um von den mit der Ölpreiskrise explodierenden Euro-Dollar-Märkten zu profitieren.66 Dies alles  – die Förderung der »Auslandsverlagerung« von Teilen der Produktion, die Exportförderung mittels Steuer- und Kreditsubvention und die direkte Handelsbeschränkung durch die Aushandlung von Selbstbeschränkungsabkommen – war Teil eines »Neuen Protektionismus«, der in den 1980er Jahren von den außenwirtschaftspolitischen Akteuren der Bundesregierung zwar wiederholt beklagt, aber handelspolitisch gleichwohl fortgesetzt wurde.

4. Vom neuen Protektionismus zum Neoliberalismus? »Ich teile die Besorgnis des Deutschen Industrie- und Handelstages über die sich innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft in jüngster Zeit verstärkenden protektionistischen Tendenzen«, so schrieb Außenminister Hans-Dietrich Genscher 1977 an den Geschäftsführer des DIHT. »Es wäre in der Tat verhängnisvoll, wenn angesichts der gewachsenen weltwirtschaftlichen Belastungen das Heil im Interventionismus gesucht würde. Die resultierende Wohlstandsminderung würde nicht nur die Exportländer, sondern alle am Welthandel beteiligten Länder treffen.«67 »Als größte Welthandelspartner tragen EG, USA und Japan 64 Zahlungsbilanzstatistik nach den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank. Div. Jahrgänge. Bezieht sich auf den jährlichen »outflow« von ausländischen Direktinvestitionen. Vgl. auch: Harm G. Schröter, Außenwirtschaft im Boom. Direktinvestitionen bundesdeutscher Unternehmen im Ausland 1950–1975, in: Hartmut Kaelble (Hg.), Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa. Opladen 1992, S. 82–106. 65 Annika Biss, Die Internationalisierung der Bayerischen Motoren Werke AG . Vom reinen Exportgeschäft zur Gründung eigener Tochtergesellschaften im Ausland 1945–1981, Berlin 2017, S. 479–508. Zur Chemieindustrie siehe auch: Christian Marx, Die Internationalisierung der Chemieindustrie als Herausforderung für die Deutschland AG , in: Ralf Ahrens u. a. (Hg.), Die »Deutschland AG«. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus, Essen 2013, S. 247–273. 66 Edoardo Altamura, European Banks and the Rise of International Finance after Bretton Woods (1973–1982), Uppsala 2015. 67 Gentscher an Paul Broicher, Hauptgeschäftsführer DIHT, 23.8.1977, PA AA B201/489.

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besondere Verantwortung für die Aufrechterhaltung eines freien multilateralen Welthandels,« so ein Redemanuskript, das im Außenministerium vier Jahre später anlässlich des Besuchs des französischen Außenministers Claude Cheysson vorbereitet worden war. Dies richtete sich gegen die von Frankreich vorgeschlagenen Zölle auf japanische Automobilimporte, führte aber letztlich zu einem grundlegenden Plädoyer für den Freihandel: »Die Gemeinschaft darf im Textilbereich ihren Markt für Importe aus Entwicklungsländern nicht weiter verschließen«, so sollte Genscher auf seinen französischen Kollegen einwirken, und müsse »glaubwürdiger Partner der Länder der Dritten Welt bleiben«.68 Genscher vertrat diese Prinzipien auch nach dem Regierungswechsel zu Helmut Kohl und beklagte 1984 die starken protektionistischen Tendenzen in der Weltwirtschaft, selbst in den prosperierenden Ländern wie den USA . »Für eine dauerhafte Wiederbelebung des Welthandels sind dringend substanzielle Liberalisierungsfortschritte notwendig, die nach unserer Auffassung letztlich nur im Rahmen umfassender Handelsverhandlungen zu erzielen sind.«69 Derartige Plädoyers für den liberalen Welthandel lassen sich in einer interessanten historischen Kontinuität bei letztlich allen bundesdeutschen Regierungen der Nachkriegszeit finden, unter christdemokratischen und sozialdemokratischen Wirtschaftsministern genauso wie unter FDP-Politikern. Die handelspolitische Praxis spricht über alle parteipolitischen Unterschiede hinweg eine gänzlich andere Sprache. Eine vollkommen liberale Außenwirtschaftspolitik wurde von keiner Bundesregierung vertreten. Vielmehr folgten sie seit den 1950er Jahren einer fast obsessiven Förderung der deutschen Exportindustrie, die bis heute als Garant des westdeutschen Wohlstands gilt. Allerdings änderten sich angesichts volatiler weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen die Instrumente des »liberalen Protektionismus«: Während der bundesdeutsche Export in den 1960er Jahren am meisten von der unterbewerteten Währung profitierte, traten in den 1970er Jahren die Selbstbeschränkungsabkommen, Exportsubventionen und Kreditinstrumente sowie die Produktionsverlagerung in den Vordergrund. Eine gravierende institutionelle und politische Zäsur, die auf die Wirkmächtigkeit eines »neoliberalen Projektes« in der bundesdeutschen Außenwirtschaftspolitik hindeutet, lässt sich  – jedenfalls für den hier untersuchten Zeitraum bis zur Mitte der 1980er Jahre – auf diesem Feld indes nicht ausmachen. Die Analyse müsste nun freilich noch auf die Finanzmärkte ausgedehnt werden – was hier aus Platzgründen unterblieb. Es spricht einiges dafür, dass der »neue Protektionismus«, der sich im Welthandel mit der Ölpreiskrise immer deutlicher abzeichnete, gleichsam die Kehrseite der »Liberalisierung« des Kapitalverkehrs darstellte. So konnten Eduardo Altamura und William Gray einen tiefgreifenden Meinungsumschwung unter den europäischen Regierungen nachweisen, die zuvor den Kapitalverkehr noch zunehmend unterbinden 68 Aktennotiz: Gesprächsvorschlag für den Besuch des neuen französischen Außenministers Cheysson in Bonn, 1.6.1981, PA AA B201/131210. 69 Aufzeichnung Gemeinsame Handelspolitik der EG , 13.4.1984, PA AA 131211.

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wollten und sich nun in der Lage sahen, den Kapitalimport erleichtern zu müssen, um ihre negativen Leistungsbilanzsalden auszugleichen. Das »Petrodollarrecycling« und die Leistungsbilanz-Sterilisierung war Gegenstand von Europäischen Kommissionen und nationalen Expertenrunden.70 Die internationalen Kapitalmärkte wurden dabei aber weniger von einer »neoliberalen Diskurskoalition« gegenüber den nationalen Regierungen abgeschottet, sondern vielmehr von diesen Regierungen selbst überhaupt erst geschaffen.71 Weil sie die inländischen Wirtschaftskrisen mit einer Expansion der Staatsausgaben bekämpften und zugleich aber die Petrodollars nicht auf die inländischen Kapitalmärkte lassen wollten (hier spielten Ängste vor der »Überfremdung« der Wirtschaft und Inflationssorgen eine Rolle), ermöglichten sie es den Großbanken, die auf den Eurodollarmarkt strömenden Gelder in die Staatsfinanzierung der Schwellenländer umzuleiten. Die Weltschuldenkrise ging hieraus hervor – das lässt sich beispielsweise mit den Forschungen von Laura Rischbieter sehr gut zeigen.72 Welche Rolle »der Neoliberalismus« dabei allerdings gespielt hat ist nach meinem Dafürhalten weiterhin eine offene Frage. Was am Beispiel der Bundesrepublik sehr deutlich wird, ist die Tatsache, dass die Liberalisierungsrhetorik der frühen 1980er Jahre vor dem Hintergrund des »neuen Protektionismus« im Welthandel der 1970er Jahre gesehen werden muss. Tatsächlich hatten die Industrieländer nach der Währungs- und Ölpreiskrise 1973 ihre Liberalisierungsambitionen stark zurückgefahren und im Übrigen auch die Entwicklungshilfe stark reduziert, was insbesondere die afrikanischen Entwicklungsländer, die eben nicht vom Ölgeschäft profitierten, entweder in den Ruin oder die Verschuldungskrise trieb. Die Wiederherstellung oder Verbesserung eines freien Zugangs zu den Absatzmärkten in den Industrieländern war vor diesem Hintergrund sicher keine ganz unvernünftige Idee und wurde daher vor allem – hieran hat nicht zuletzt Quinn Slobodian erinnert – von den Entwicklungsländern vertreten. Der von einer internationalen Expertenkommission unter Willy Brandt verfasste UN-Bericht zur »Neuen Weltordnung« nahm 1980 genau hierauf Bezug. In dieser komplizierten globalen Gemengelage von liberaler Rhetorik bei handelspolitischem Neoprotektionismus in den Industrieländern, Handelsliberalisierung in den Schwellen- und Entwicklungsländern sowie der Schaffung internationaler Kapitalmärkte als Lösungsstrategie die Wirksamkeit eines »neoliberalen Projektes« einer kleinen globalen »Diskurs­ koalition« zu entdecken, dürfte für die historische Forschung wenig produktiv 70 Altamura, European Banks; William Glenn Gray, Learning to ›Recycle‹: Petrodollars and the West, 1973–75, in: Elisabetta Bini u. a. (Hg.), Oil shock. The 1973 crisis and its economic legacy, London 2016, S. 172–197. 71 Das ist das zentrale Ergebnis der Untersuchung von: Greta R. Krippner, Capitalizing on crisis the political origins of the rise of finance, Cambridge 2011. 72 Laura Rischbieter, Risiken und Nebenwirkungen. Internationale Finanzstrategien in der Verschuldungskrise der 1980er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft 41/3 (2015), S. 465–493.

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sein. Im Gegensatz verstellt die penetrante Suche nach einem solchen Projekt derzeit allzu häufig den Blick für eine differenzierte Betrachtung der Frage, in welcher Weise genau die weltwirtschaftlichen Zäsuren der 1970er und 1980er Jahre Wirtschaft und Gesellschaft verändert haben und ob hieraus vielleicht tatsächlich neue »Handlungslogiken« und »Motivstrukturen« hervorgegangen sind. Für diese müssten dann sinnvolle analytische Begriffe erst noch gefunden werden.

Nicole Mayer-Ahuja

Wandel von Arbeit nach dem Fordismus – arbeitssoziologische Perspektiven 1. Einleitung Es ist eine Herausforderung, in einer Festschrift für Lutz Raphael über Veränderungen der Arbeitswelt nach jenem »Strukturbruch« Mitte der 1970er Jahre zu schreiben, der spätestens seit seiner gemeinsamen Veröffentlichung mit Anselm Doering-Manteuffel1 nicht nur unter ZeithistorikerInnen lebhaft diskutiert wird. Dass nun eine Monographie von Raphael erschienen ist, in der er den (überzeugenden) Versuch unternimmt, eine »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom« anhand der Veränderungen von Arbeit und speziell von Industriearbeit »jenseits von Kohle und Stahl« zu entwerfen,2 macht die Ausgangslage für vorliegenden Text nicht einfacher. Die großen Linien der Entwicklung werden in diesem Band skizziert, die wichtigsten Debatten angesprochen, viele zeitgenössische Befunde sozialwissenschaftlicher Forschung produktiv in eine weitere historische Perspektive eingeordnet. Was also bleibt zu tun? Im Folgenden soll es darum gehen, einige Überlegungen für eine künftige Diskussion über Veränderungen von Arbeit seit 1975 zu skizzieren und dabei insbesondere darauf einzugehen, welchen Beitrag die Arbeitssoziologie zu den interdisziplinären Debatten leisten kann, die auf Basis der jüngsten Veröffentlichungen (so ist zu hoffen und zu erwarten) weiter Fahrt aufnehmen werden. Der folgende Text ist das, was im Kolloquium des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) unter einer »Einlassung« verstanden wird: eine Wortmeldung, angeregt durch die Lektüre von Publikationen des Jubilars, die diese teilweise kommentiert, teilweise weiterführende Überlegungen auf Basis eigener Forschung anstellt, und die vor allem dazu gedacht ist, kritische Diskussionen anzuregen. Die Argumentation gliedert sich in zehn Punkte.

1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970. Göttingen 32012. 2 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.

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2. »Fordismus« – eine geeignete Vergleichsfolie für Veränderungen der Arbeitswelt? Lutz Raphael weist zurecht darauf hin, dass die Soziologie sich im Allgemeinen eher mit Gegenwart und Zukunft auseinandersetzt als mit der Vergangenheit. Entsprechend warnt er speziell die gegenwartsnahe Sozialgeschichte davor, allzu engen Umgang mit soziologischen Perspektiven zu pflegen: es sei eine häufig auftretende »Berufskrankheit«, »dem soziologischen Blick auf zukunftsweisende Trends zu folgen und auf diese Weise vor allem die Anfänge des Neuen in den sozialen Phänomenen der jüngsten Vergangenheit zu entdecken. Dahinter steht letztlich eine Obsession für Fortschritts- bzw. Wachstumserzählungen, während Prozesse des Schrumpfens, gar Verschwindens sozialer Gruppen oder Gebilde tendenziell mit Schweigen oder Desinteresse belegt werden.«3 Trotz dieser schwer zu leugnenden sozialwissenschaftlichen Konzentration auf Gegenwart und Zukunft jedoch spielen in der Arbeitssoziologie Fragen nach der Veränderung der Arbeitswelt im Zeitverlauf eine zentrale Rolle. Immerhin setzt bereits die Rede von einer »Arbeit der Zukunft« voraus, dass man ein (wenn auch grobes) Bild vergangener bzw. vergehender Standards von Arbeit zeichnet – und hier kommt in vielen Fällen der Begriff des »Fordismus« ins Spiel. Gemeint ist damit zumeist jene Periode, die Eric Hobsbawm als die »Golden Years«4 oder Robert Castel in Anlehnung an Jean Fourastié als die »Trente Glorieuses«5 bezeichnen, d. h. die Jahrzehnte von etwa 1950 bis etwa 1975, die von VertreterInnen der Regulationsschule als eine spezifische kapitalistische Formation beschrieben worden sind.6 Wie viele sozialwissenschaftliche Konzepte mag auch das Konzept des Fordismus aus Sicht historischer Forschung als allzu statisch erscheinen, weil es davon lebt, dass bestimmte Merkmale, die den Charakter des Modells unterstreichen, betont werden, während Erscheinungen, welche ihm widersprechen, als »nicht typisch« und somit weniger relevant bewertet werden. Dennoch haben die Auseinandersetzungen mit der wirtschaftlichen Boom-Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, die unter der Überschrift »Fordismus« geführt werden, insofern einen wichtigen Beitrag zur Analyse der Vorgeschichte der Gegenwart geleistet, als sie jene »regional bzw. national eigensinnigen Kopplungseffekte zwischen Ökonomie, Politik, Kultur und Gesellschaft«7 auszuleuchten helfen, deren Erforschung auch Lutz Raphael einfordert. 3 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 13. 4 Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994. 5 Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000. 6 Vgl. etwa: Michel Aglietta, A Theory of Capitalist Regulation. The US Experience, London 1979. Argumentiert wird zumeist, dass der Fordismus seit den 1930er Jahren in den USA Gestalt annahm, bevor er sich dann mit einiger zeitlicher Verzögerung auch in Europa und Japan durchsetzte. 7 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 16.

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Für die Bundesrepublik Deutschland, der sich die Arbeitssoziologie hierzulande fast ausschließlich widmet, haben etwa Joachim Hirsch und Roland Roth den Versuch unternommen, die Verschränkung und gegenseitige Verstärkung von Entwicklungstendenzen zu rekonstruieren, die dazu geführt haben, dass die fraglichen Jahrzehnte als eine in sich bemerkenswert stabile Entwicklungsetappe des Kapitalismus erscheinen konnten.8 Im Einzelnen beschreiben Hirsch und Roth drei eng miteinander verkoppelte Sphären: Im Bereich der fordistischen Produktionsstrukturen bzw. des Akkumulationsmodells gewann in dieser Phase tayloristische Massenproduktion an Bedeutung. Abgesehen von den Kon­ sequenzen für die Arbeitsorganisation in tayloristisch produzierenden Fabriken (bis ins Extrem getriebene Arbeitsteilung, etwa an Fließbändern; erweiterte technische Kontrollmöglichkeiten usw.) weisen die wesentlichen Neuerungen in mehrerer Hinsicht über die Fabrikgrenzen hinaus: Zum einen wurde Rationalisierung zum Signum der Epoche. »[D]ie Volkswirtschaften, die Gesellschaften, die Städte und die Menschen [sollten] analog zu den maschinengesteuerten Prozessen in den Fabriken rationalisiert werden, um eine größtmögliche Effizienz zu erzielen«.9 Zum zweiten wurde erstmals verstärkt für den Massenkonsum produziert. Statt Investitionsgütern wurden Konsumgüter gefertigt, und dies hatte weitreichende ökonomische Konsequenzen. So gewann die Höhe von Löhnen und Gehältern an gesamtgesellschaftlicher Relevanz, weil die (Inlands-) Nachfrage in bislang ungekanntem Maße darüber entschied, wie sich Wirtschaft und Arbeitsmarkt entwickelten. Zum dritten hatten die Neuerungen im Bereich industrieller Produktion direkte Auswirkungen auf das Alltagsleben, denn die massenhafte Verbreitung von Fernseher und Kühlschrank, Staubsauger und Lebensmittelkonserven beeinflusste nicht zuletzt die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Die damit verbundenen Zeitersparnisse bei der Hausarbeit trugen dazu bei, dass die »fordistische Hausfrau«, die gerade erst als Begleiterin des fordistischen Vollzeit-Beschäftigten mit »Normalarbeitsverhältnis« das Licht der Welt erblickt hatte, schon bald wieder an Bedeutung verlieren sollte. Insofern ist die Verbreitung tayloristischer Produktion ein wichtiger Einschnitt – selbst wenn sie, wie etwa in der alten Bundesrepublik, nie die gesamte und teilweise sogar nur einen recht kleinen Ausschnitt der wirtschaftlichen Dynamik ausmachte, weil andere Formen der Industrieproduktion (wie diversifizierte Qualitätsproduktion, etwa im Maschinenbau), kleine und mittlere Unternehmen oder die vielfältigen betrieblichen Konstellationen im Dienstleistungssektor sich tayloristischer Standardisierung entzogen. Dass die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, wie auch Raphael ausführt, durch schnelle wirtschaftliche Expansion, geringe Arbeitslosenzahlen und Versuche vieler Unternehmen 8 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Joachim Hirsch / Roland Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus, Hamburg 1986, S. 46–77. 9 Adelheid von Saldern / Rüdiger Hachtmann, Das fordistische Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 6/2 (2009), S. 174–185, hier S. 174.

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(speziell von Großunternehmen der Industrie und des öffentlichen Dienstes) geprägt waren, Arbeitskraft möglichst langfristig an sich zu binden, hat insofern durchaus mit der historisch neuartigen Verschränkung von Massenproduktion und Massenkonsum zu tun, die sich in dieser Periode herausbildete. Fordismus als ökonomische Neuerung kam damit weit jenseits von (im engeren Sinne tayloristisch produzierenden) »fordistischen Betrieben« zum Tragen. Eng verbunden mit der Sphäre der Produktion ist aus Perspektive der Regulationsschule die Sphäre der Reproduktion von Arbeitskraft. Wenn Hirsch und Roth von »fordistischer Vergesellschaftung« sprechen, so umfasst dies die Raphaelschen Kategorien »Gesellschaft« und »Kultur«. Sie haben dabei (teilweise gegenläufige) Prozesse im Blick, die letztlich in dem von Raphael beschriebenen »Abschied von der Proletarität«10 kulminierten. Lohnarbeit verallgemeinert sich, auch wenn sie längst nicht alle potentiell verfügbaren Personen erfasst, und zugleich differenziert sich die Gruppe der Lohnabhängigen aus. Gesellschaftlicher Status bemisst sich, wie Robert Castel schreibt, nicht mehr am Faktum der Lohnarbeit, sondern daran, welche konkrete Position man innerhalb der »Lohnarbeitsgesellschaft« einnimmt.11 Zudem sprechen auch Hirsch und Roth von einer Veränderung der Vergesellschaftungsformen (Stichworte: Verstädterung, Auflösung von Arbeitermilieus, die Verbreitung von bürgerlicher Kleinfamilie und Hausbesitz selbst in der Arbeiterschaft usw.) sowie von ersten Ansätzen dessen, was später Subjektivierung genannt werden sollte, weil Rationalisierung und damit einhergehende Arbeitszeitverkürzung erstmals auch für »einfache« Arbeiter und Angestellte neuartige Freiräume für Konsum und »Selbstverwirklichung« schufen. Damit untergrub der Fordismus, so Hirsch und Roth, genau jene Arbeitstugenden, auf denen er letztlich beruhte. Die dritte Säule der fordistischen Formation schließlich umfasst staatliche Politik, bei Hirsch und Roth als »keynesianischer Korporatismus« bezeichnet. Um den eigenen Standort konkurrenzfähig zu machen, griff der Staat direkt in Wirtschaft und Gesellschaft ein: durch den weiteren Ausbau eines Wohlfahrtsstaates, der als Antwort auf die Verallgemeinerung der mit Lohnarbeit verbundenen Existenzrisiken und zugleich als Versuch interpretiert wird, die sinkende Arbeitsmoral zu heben und Arbeitende zu disziplinieren, etwa indem soziale Sicherung an dauerhafte, ununterbrochene Vollzeitarbeit gebunden wurde.12 Auch Konjunktur- und Beschäftigungspolitik, die staatliche Organisation und Expansion von Bildung sowie der Ausbau einer institutionalisierten Sozialpartnerschaft werden als politische Aktivitäten gewertet, die einerseits wirtschaftliche Dynamik nicht zuletzt dadurch ankurbelten, dass sie eine gewisse Um­verteilung zugunsten von Lohnabhängigen bewirkten und deren Konsum sicherten, und andererseits spezifische Formen des Zusammenlebens in Haushalt und Gesellschaft gegenüber anderen stärkten, wie etwa die wohlfahrts10 Hirsch / Roth, Das neue Gesicht, S. 53. 11 Castel, Metamorphosen, S. 283–335. 12 Hirsch / Roth, Das neue Gesicht, S. 67.

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staatliche Privilegierung des Allein- bzw. Hauptverdienermodells nahelegt. Die wirtschaftliche Dynamik wiederum machte es möglich, wachsende Teile der Gesellschaft durch Konsum, vor allem aber durch das Versprechen von steigendem Lebensstandard und sozialem Aufstieg zu integrieren. Kurz: Unter der Überschrift Fordismus entsteht das Bild einer politökonomischen Konstellation, in der Entwicklungstendenzen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft / Kultur ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken, wobei Hirsch und Roth durchaus darauf hinweisen, dass die spezifische Ausprägung, die diese verschränkten Dynamiken in verschiedenen nationalstaatlichen Kontexten jeweils annehmen, auf komplexe Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten sozialen Akteuren zurückzuführen ist, deren Ergebnis sich keineswegs unter Verweis auf eine abstrakte kapitalistische Logik vorweg bestimmen lässt. ArbeitssoziologInnen haben dieses Bild von fordistischer Arbeit bzw. Arbeitswelt nun häufig genutzt, um den Neuigkeitswert der von ihnen in späteren Jahren untersuchten Phänomene zu betonen – neu war, was sich von der Vergleichsfolie »Fordismus« unterschied. Dabei wurde die inhärente Dynamik der früheren Konstellation oft ebenso ausgeblendet wie der Umstand, dass viele Erscheinungen (etwa: die Erwerbsarbeit von Frauen, prekäre Beschäftigung, Kleinbetriebe des Dienstleistungssektors usw.) keineswegs neu waren, sondern mit Blick auf die Jahrzehnte vor 1975 schlicht als »nicht modellbildend« wahrgenommen und folglich kaum diskutiert wurden. Oftmals verglich man ein (teilweise sehr schematisch geratendes) Modell der Vergangenheit mit einer dann umso bunter und vielfältiger erscheinenden Gegenwart. Entsprechend skeptisch äußert sich Lutz Raphael bezüglich der Erklärungskraft von Verweisen auf »fordistische Arbeitsbeziehungen«.13 Und doch kann man Lehren aus den Diskussionen über Arbeit im Fordismus ziehen, die für die Erforschung von Veränderungen der Arbeitswelt nach 1975 in hohem Maße nützlich sind. Arbeitssoziologische Perspektiven können zu diesem Zweck teilweise genutzt, teilweise müssen sie verändert werden, um Arbeit nach dem Fordismus angemessen zu analysieren.

13 »Erstens wurden die politischen Grundlagen bereits zu einem Zeitpunkt gelegt, als die fordistische Produktion eher die Ausnahme als die Regel darstellte. Zweitens liegen die politischen und sozialen Motive und Intentionen jenseits des fordistischen Betriebs. Drittens blieb der Facharbeiter [… und nicht der ungelernte Arbeiter; NMA] Hauptadressat, Hauptträger und Hauptgewinner dieser Regelungen […]. Viertens ist dieser generalisierte ›Lohnarbeiterstatus‹ (statut salarial), wie ihn Robert Castel genannt hat, keine Erscheinungsweise, die im Schlepptau sich global ausbreitender fordistischer Produktionsformen überall zu beobachten war, sondern er war im Wesentlichen auf Europa beschränkt.« Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 210.

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3. Arbeit im Betrieb im Spannungsfeld von Ökonomie, Politik, Gesellschaft Einer der wesentlichen Vorzüge der Raphael’schen Annäherungen an eine Gesellschaftsgeschichte von Westeuropa im Zeichen der veränderten Bedeutung von Industriearbeit liegt darin, dass er (ganz ähnlich wie Studien, die sich dem Fordismus widmen) einen integrierten Blick auf Ökonomie, Politik und Gesellschaft bzw. Kultur wirft. Damit geht er deutlich über den Zugriff hinaus, den die Arbeitssoziologie gemeinhin nutzt. Im Rahmen klassischer arbeitssoziologischer Fallstudien, wie sie etwa am SOFI seit fünf Jahrzehnten durchgeführt werden,14 wird meist der Fokus auf ausgewählte Unternehmen oder Betriebe, in vielen Fällen zudem auf einen konkreten »Umstellungsfall« (im Sinne technologischer und / oder organisatorischer Rationalisierung) gerichtet. Dieser »Fall« wird aus möglichst vielen Perspektiven beleuchtet, indem man Dokumente auswertet, Interviews mit Beschäftigten sowie VertreterInnen von Management und Betriebsrat führt, Gruppendiskussionen initiiert und eigene Beobachtungen (etwa von Arbeitsprozessen) anstellt. Die Zusammenhänge zwischen innerbetrieblichen Dynamiken einerseits und größeren Veränderungen im Bereich von Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft andererseits spielen dabei oft eine eher geringe Rolle. Dies ist in vieler Hinsicht ein Erbe der Boomjahre, als Betriebe deutlich stärker als in der Gegenwart als stabile, in sich abgeschlossene Mikrokosmen wahrgenommen werden konnten. Letzteres hatte in Hinblick auf wirtschaftliche Dynamiken einen doppelten Hintergrund: Zum einen wurden die organisatorischen Logiken von Arbeitskraftnutzung bis weit in die 1980er Jahre hinein vor allem als Folge von Entscheidungen des Managements betrachtet, auf die nach weit verbreitetem Verständnis der (außerhalb der Organisation verortete) Markt nur geringen und allenfalls indirekten Einfluss hatte. Nach dem Boom hingegen nahm die ökonomische Konkurrenz zwischen Unternehmen nicht nur faktisch zu, sondern Marktmechanismen wurden auch innerhalb der Unternehmensgrenzen aktiv hergestellt bzw. simuliert (indem man etwa Profitcenter gegeneinander antreten ließ, Zielvorgaben für Teams oder sogar einzelne Beschäftigte aus Unternehmenszielen ableitete usw.). Die Grenzen zwischen Organisation und Markt wurden weniger klar erkennbar.15 Zum anderen führte die Tendenz vieler Unternehmen, neben ihrer stabilen Stammbelegschaft »flexible« Randbelegschaften (aus LeiharbeiterInnen, befristet Beschäftigten oder WerkvertragsnehmerInnen) aufzubauen, dazu, dass der interne Arbeitsmarkt faktisch 14 Klaus Peter Wittemann u. a., SOFI-Fallstudien-Ansatz im Wandel. Exemplarische Empirie zur Entwicklung von Industriearbeit, in: Hans J. Pongratz / Rainer Trinczek (Hg.), Industriesoziologische Fallstudien, Berlin 2010, S. 73–117. 15 Dieter Sauer, Vermarktlichung und Vernetzung der Unternehmens- und Betriebsorganisation, in: Fritz Böhle u. a. (Hg.), Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2010, S. ­545–568.

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sehr viel enger mit dem externen verbunden wurde. Entsprechend geriet die Zunahme prekärer Beschäftigung zu einer arbeitspolitischen Herausforderung für Stammbelegschaften und ihre VertreterInnen, da die neue Konkurrenz den Spielraum für Verhandlungen mit dem Management reduzierte.16 Unter diesen Bedingungen lassen sich innerbetriebliche Dynamiken kaum noch erforschen, ohne Veränderungen auf (externen) Produkt-, Finanz- oder Arbeitsmärkten in den Blick zu nehmen. Das Beispiel prekärer Beschäftigung verweist zudem darauf, dass auch staatliche Politik zunehmend direkten Einfluss darauf hat, wie Arbeit in Unternehmen gestaltet wird. Haben doch diverse staatliche Politiken der Prekarisierung (von arbeitsrechtlich erweiterten Spielräumen für Befristungen oder Leiharbeit über die schrittweise Erhöhung der Verdienstgrenzen im Rahmen von nicht sozialversicherten »Minijobs« bis hin zu dem mit den sogenannten Hartz-Reformen steigenden Druck von Arbeitsagenturen auf Arbeitslose, auch Stellen unterhalb des früheren Einkommens- und Qualifikationsniveaus anzunehmen) dazu beigetragen, dass Zahl und Anteil der Beschäftigten, die unterhalb der Standards des sogenannten »Normalarbeitsverhältnisses« tätig sind, seit Mitte der 1970er Jahre immer weiter zugenommen haben.17 In jüngster Zeit wird der Einfluss staatlicher Regulierung nicht zuletzt in Bezug auf migrantische Beschäftigte untersucht, da etwa die Frage, wie mit dem Aufenthaltsrecht und der Arbeitsberechtigung von Geflüchteten umgegangen wird, maßgeblichen Einfluss darauf hat, inwiefern diese betrieblich integriert und qualifiziert werden können. Entsprechend breit werden aktuell die Fälle von Geflüchteten diskutiert, die entgegen anderslautender rechtlicher Vorgaben aus einem Ausbildungsverhältnis heraus abgeschoben werden.18 Zu guter Letzt haben Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Geschlechtern, Generationen und sozialen Klassen direkte Auswirkungen auf die Organisation von Arbeit in Unternehmen. So weist etwa Bosch19 darauf hin, dass die Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen mit betreuungsbedürftigen Kindern oder zu pflegenden Angehörigen sowie die Verlängerung von Ausbildungszeiten, die den Kreis jobbender Studierender erweitert hat, dazu beitragen, dass eine wachsende Gruppe von Arbeitenden nicht für eine langfristig stabile Vollzeitbeschäftigung zur Verfügung stehen, sondern (in bestimmten Lebensphasen) Interesse an Teilzeit oder zeitlich und örtlich 16 Klaus Dörre, Prekarität – eine arbeitspolitische Herausforderung. Subjektive Verarbeitungen, soziale Folgen und politische Konsequenzen, in: Klaus Pape (Hg.), Arbeiten ohne Netz. Prekäre Arbeit und ihre Auswirkungen, Hannover 2007, S. 13–34. 17 Nicole Mayer-Ahuja, Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen »Normalarbeitsverhältnis« zu prekärer Beschäftigung, Berlin 2003. 18 Peter Birke u. a., Arbeit als Black Box. Migration zwischen Prekarisierung und betrieblichem Konflikt, in: Moritz Altenried u. a. (Hg.), Logistische Grenzlandschaften. Das Regime mobiler Arbeit nach dem »Sommer der Migration«, Münster 2017, S. 115–142. 19 Gerhard Bosch, Konturen eines neuen Normalarbeitsverhältnisses, in: WSI-Mitteilungen 4, 2001, S. 219–230.

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flexiblen Aushilfsarrangements haben. Dies hat direkte Konsequenzen für die innerbetriebliche Arbeitsteilung, für Standards von Kooperation und Kontrolle, für betriebliche Arbeitsmärkte und Aufstiegswege etc. Kurz: arbeitssoziologische Betriebsfallstudien müssen zunehmend Dynamiken im Umfeld des betreffenden Unternehmens in den Blick nehmen, um Veränderungen von Arbeit im Betrieb analysieren zu können. Eine Rückbesinnung auf die integrierte Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen »großen Entwicklungen« und betrieblichen Konstellationen, wie sie nicht nur die Regulationsschule, sondern auch Zeithistoriker wie Lutz Raphael vorschlagen, ist daher überfällig.

4. Betriebliche Arbeitskraftnutzung als Brennspiegel für Veränderungen der Arbeitswelt Umgekehrt lassen sich Veränderungen von Arbeit nach dem Boom kaum diskutieren, ohne über Arbeitsprozesse und betriebliche Arbeitsorganisation zu sprechen. Tut man dies, so ist man heute noch stärker als unter Bedingungen des Fordismus mit einer Vielzahl von Konstellationen konfrontiert, die sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Während in manchen Bereichen (durchaus auch im Dienstleistungssektor) Einfacharbeit geleistet und tayloristische Kontrolle perfektioniert wird,20 wird andernorts Arbeit technisch anspruchsvoller und mit mehr Freiräumen versehen – die von Horst Kern und Michael Schumann in den 1980er Jahren konstatierte Polarisierung von Qualifikation wirkt fort.21 Arbeitsbedingungen und Vergütungen werden in jenen Unternehmen, die Wolfgang Schröder als »erste Welt« der Arbeitsbeziehungen bezeichnet, weiterhin von starken Gewerkschaften und Betriebsräten kollektiv ausgehandelt, während zugleich mitbestimmungsfreie Zonen wachsen.22 Selbst innerhalb eines Unternehmens haben die Konditionen, unter denen Beschäftigte der Stammbelegschaft arbeiten, oft wenig mit den Arbeitsrealitäten prekär beschäftigter Randbelegschaften oder der Belegschaften von Subunternehmen gemein, an die Teile der Produktion oder Dienstleistungserbringung einschließlich der damit verbundenen Tätigkeiten ausgelagert wurden.23

20 Philipp Staab / Oliver Nachtwey, Die Digitalisierung der Dienstleistungsarbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18–19 (2016), S. 24–31; Hartmut Hirsch-Kreinsen, Industrielle Einfacharbeit, in: Christian Schilcher / Mascha Will-Zocholl (Hg.), Arbeitswelten in Bewegung, Wiesbaden 2012, S. 211–237. 21 Horst Kern / Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, München 41990. 22 Wolfgang Schröder / Manuel Greef, Struktur und Entwicklung des deutschen Gewerkschaftsmodells. Herausforderung durch Sparten- und Berufsgewerkschaften, in: Wolfgang Schröder (Hg.), Handbuch Gewerkschaften, Wiesbaden 22014, S. 123–146. 23 Dörre, Prekarität.

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Um aus Veränderungen betrieblicher Konstellationen Aussagen zu übergreifenden Tendenzen abzuleiten, braucht es demnach eine differenzierte »Landkarte« der Arbeitswelt – doch eine solche ist angesichts aufwändiger empirischer Erhebungen schwer herzustellen. Umso verdienstvoller ist es, dass Raphael betriebliche Sozialordnungen in seine »Gesellschaftsgeschichte« einbezieht. Auch die in den letzten Jahren vorangetriebene Sekundäranalyse arbeits­soziologischen Materials24 eröffnet hier die Chance, ein umfassenderes Bild der Veränderung von Arbeit in Unternehmen zu zeichnen, als es im Rahmen einzelner Betriebsfallstudien am notorisch unbeständigen »aktuellen Rand« jemals möglich wäre. Es ist zu hoffen, dass so endlich die Diagnose einer »neuen Unübersichtlichkeit« überwunden werden kann, die seit Mitte der 1980er Jahre in Bezug auf die bezeichnenderweise bis heute als »Zeit nach dem Fordismus« (Post-Fordismus) titulierten Jahrzehnte vertreten wird.25 Selbst ein Überblick über die Vielfalt betrieblicher Konstellationen (und deren statistische Verbreitung)26 würde allerdings nicht ausreichen, um Veränderungen von Arbeit nach dem Boom angemessen zu erfassen, solange die erwähnten Wechselwirkungen zwischen ihnen und breiteren Dynamiken in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik nicht systematisch in den Blick genommen werden. Dies gilt umso mehr, als letztere sich im Betrieb wie in einem Brennspiegel niederschlagen und daher dort »in a nutshell« untersucht werden können.27 Zu klären bleibt, ob ökonomische, politische und gesellschaftliche Veränderungen auch nach dem Boom so eng miteinander verschränkt sind, dass es sinnvoll ist, trotz aller Vielfalt von einer neuen kapitalistischen Formation zu sprechen. Dies schließt – wie Studien zum Fordismus gezeigt haben – die Analyse widersprüchlicher Entwicklungen ausdrücklich ein.

24 Ergebnisse der seit 2012 unter Leitung des SOFI arbeitenden Projektverbünde re:SozIT und eLabour finden sich etwa in: Wolfgang Dunkel u. a. (Hg.), Blick zurück nach vorn. Sekundäranalysen zum Wandel von Arbeit nach dem Fordismus. International Labour Studies, Frankfurt am Main 2019. 25 Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985. 26 Siehe zu ersten Ansätzen einer Analyse segmentierter Betriebslandschaften etwa: Holger Alda, Betriebliche Arbeitsnachfrage und Beschäftigung, in: Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung (Hg.), Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Zweiter Bericht: Teilhabe im Umbruch. Wiesbaden 2012, S. 387–416. 27 Vgl. zu diesem methodologischen Vorgehen: Nicole Mayer-Ahuja, Grenzen der Homogenisierung. IT-Arbeit zwischen ortsgebundener Regulierung und transnationaler Unternehmensstrategie, Frankfurt am Main 2011.

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5. Veränderungen der Arbeitswelt zwischen Trenddebatte und empirischer Realität In jeder der Sphären, die für eine umfassende Analyse der Veränderungen von Arbeit nach dem Boom zu betrachten wären, steht man zudem vor der Herausforderung, die Wechselwirkungen zwischen Deutungsmustern und Ordnungsmustern, zwischen Ideologie und Empirie, zwischen zeitgenössisch breit diskutierten Trends und konkreten Veränderungen von Arbeitsrealitäten zu ergründen – und gerade hier kann zeithistorische Forschung von den Befunden der Arbeitssoziologie profitieren. Selbstverständlich lassen sich allzu visionäre Großerzählungen auch mit Mitteln historischer Analyse dekonstruieren, wie es Fred Cooper meisterhaft mit dem Begriff der »Globalisierung« getan hat.28 Für die Analyse von Veränderungen der Arbeitswelt im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert dürften jedoch jene arbeitssoziologischen Studien besonders hilfreich sein, die aktuelle gesellschaftliche Debatten über (angebliche) Umbrüche in der Arbeitswelt aufgreifen und untersuchen, inwiefern sich letztere in verschiedenen betrieblichen Konstellationen empirisch nachweisen lassen. So haben etwa Michael Faust und Jürgen Kädtler eindrücklich beschrieben, dass der Finanzmarkt und die Interessen von Shareholdern selbst in Unternehmen, die nicht an Finanzmärkten gelistet sind, als Begründung für Unternehmensentscheidungen angeführt werden, während sie in anderen Unternehmen nur »gebrochen« auf der Arbeitsebene ankommen, weil etwa die Konkurrenz zwischen verschiedenen Managementfraktionen Einfluss darauf hat, welche Bedeutung finanziellen gegenüber organisatorischen oder technischen Prioritäten zugesprochen wird.29 Auch die Diagnose, dass »die Digitalisierung« im Jahr 2018 zwar in aller Munde, aber bislang nur in wenigen Unternehmen angekommen war,30 mag zweierlei verdeutlichen: Zum einen sollte man selbst allgegenwärtige Trendaussagen nicht mit der Realität verwechseln – die Diskussionen über Digitalisierung etwa lehren mehr über die erfolgreiche Kampagnenführung von Industrie­ verbänden als über konkrete Veränderungen von Arbeitsprozessen. Zum anderen bedeutet dies ausdrücklich nicht, dass gesellschaftliche Debatten über Veränderungen von Arbeit keine praktischen Auswirkungen zeitigen. Furcht und

28 Fred Cooper, Was nützt der Begriff der Globalisierung? Aus der Perspektive eines Afrikahistorikers, in: Sebastian Conrad u. a. (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, S. 131–161. 29 Michael Faust / Jürgen Kädtler, The (Not Entirely) Financialized Enterprize – A Conceptual Proposal, in: Historical Social Research 44/1 (2018), S. 285–307; dies., Die Finanzialisierung von Unternehmen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 70/1 (2018), S. 167–194. 30 Hartmut Hirsch-Kreinsen, Arbeit 4.0: Pfadabhängigkeit statt Disruption. Soziologisches Arbeitspapier 52, Technische Universität Dortmund 2018.

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Ohnmachtsgefühle in Anbetracht anonymer Finanzmärkte und digitaler Technologien, die den eigenen Arbeitsplatz, die eigene Lebensplanung zu bedrohen scheinen, tragen derzeit erheblich zur Disziplinierung von Belegschaften bei und haben damit direkte Konsequenzen für betriebliche Arbeitsgestaltung – selbst dort, wo Aktien oder Leichtbauroboter, Datenbrillen, Serviceplattformen und künstliche Intelligenz (bislang) keine Rolle spielen. Sozial- wie geschichtswissenschaftliche Forschung kann den Einfluss solcher (oft von interessierter Seite initiierter) Debatten verstärken oder ihn durch empirische Reflexion dämpfen. Insofern ist die Herangehensweise von Lutz Raphael, beides  – ideologische Trenddiskussionen und empirische Veränderungen – in die Untersuchung von Dynamiken der Arbeitswelt nach dem Boom einzubeziehen, unbedingt zur Nachahmung zu empfehlen.

6. Bedeutung politischer Regulierung – zwischen Norm und Normalität Die »Krise der Sozialbürgerschaft«, die Raphael in Frankreich, Großbritannien und der (alten) Bundesrepublik gleichermaßen konstatiert, ist seiner Auffassung nach nicht zuletzt auf eine Neujustierung politischer Regulierung zurückzuführen.31 Will man den Wandel der Arbeitswelt in dieser Dimension analysieren, so ist man allerdings mit der Herausforderung konfrontiert, Normen von Arbeitsregulierung einerseits, deren reale (und veränderliche)  Bedeutung für die Arbeitswelt andererseits sowie die Wechselwirkungen zwischen beiden in den Blick zu nehmen. Deutlich wird dies etwa am Beispiel des bundesdeutschen »Normalarbeitsverhältnisses« (NAV). Mitte der 1980er Jahre, als das NAV »entdeckt« wurde, war man sich weitgehend einig, dass diese spezifische Variante der Kopplung von Lohnarbeit und sozialer Sicherung u. a. eine dauerhafte (im Idealfall von der Ausbildung bis zur Rente reichende) Vollzeitbeschäftigung für einen einzigen »Arbeitgeber«, vollen Schutz durch Sozialversicherung und Arbeitsrecht, regelmäßige und planbare Arbeitszeiten, eine existenzsichernde und kontinuierlich steigende Entlohnung, die Vertretung durch Betriebsrat und Gewerkschaft, betriebliche Aufstiegswege und diverse Senioritätsrechte umfasste. »Normalarbeit« in diesem Sinne war offenkundig schon deshalb alles andere als »normal«, weil sie Ausdruck einer spezifischen zeiträumlichen Konstellation war: sie war im Zeichen von Wirtschaftsboom und Systemkonkurrenz, von Arbeitskräftemangel und forcierter technologischer wie organisatorischer Rationalisierung in Westdeutschland teils im Rahmen des »liberalen Konsenses zwischen Kapital, Arbeit und Staat«32 verhandelt, teilweise durch starke Gewerkschaften erkämpft

31 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 205–246. 32 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 34.

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worden. Trotzdem galt das NAV, wie Ulrich Mückenberger betont hat,33 in einem doppelten Sinne als normal: zum einen wurde Lohnarbeit, die den oben genannten Kriterien entsprach, zunehmend zur »statistischen Normalität«, weil ein stetig wachsender Anteil der Erwerbsbevölkerung abhängig beschäftigt war und zugleich immer mehr abhängig Beschäftigte unter NAV-Bedingungen tätig wurden. Zum anderen fungierte das NAV allerdings auch als allgemein anerkannte Norm von Arbeitsregulierung, was darin zum Ausdruck kam, dass es nicht nur gesellschaftliche Vorstellungen von einer »normalen, guten Arbeit« abbildete, sondern auch der volle Schutz von Arbeitsrecht, Sozialversicherung und vieler tariflicher Regelungen nur denjenigen zugute kam, die ihr gesamtes Arbeitsleben lang nach NAV-Standards abhängig beschäftigt waren. Auch bei der Analyse des Wandels von Arbeit nach dem Boom geht folglich kein Weg daran vorbei, Veränderungen von Normen der Arbeitsregulierung und »statistischer Normalität« gemeinsam in den Blick zu nehmen.34 Üblicherweise kommt allerdings vor allem oder gar ausschließlich die quantitative Dimension zur Sprache. So haben nach Erkenntnissen des Statistischen Bundesamtes Beschäftigungsverhältnisse, die nicht den Standards des NAV entsprechen (also vor allem Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Teilzeit, Minijobs und Alleinselbständigkeit), seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich zugenommen – trotzdem leisten aktuell etwa zwei Drittel aller Erwerbstätigen nach wie »Normalarbeit«. Die Veränderung ist also, so die frohe Kunde der Statistiker, weniger gravierend, als es die weit verbreitete Wahrnehmung einer massiven Zunahme unsicherer Arbeitsverhältnisse nahelegt. Diese Entwarnung erscheint allerdings weniger überzeugend, wenn man zugleich die Normen von Arbeitsregulierung in den Blick nimmt. So stellt Lutz Raphael fest, dass »die Arbeitsmarktpolitik aller drei [von ihm untersuchten] Länder […] in unterschiedlichem Maße, aber letztlich wirksam die arbeits- und sozialrechtlichen Optionen für eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse [eröffnete]«.35 Tatsächlich wurden in der Bundesrepublik (beginnend mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985) die rechtlichen Spielräume für Leiharbeit und befristete Beschäftigung über Jahre hinweg schrittweise erweitert, die Verdienstgrenzen für »geringfügige Beschäftigung« (die von der Sozialversicherung ausgenommen ist) immer weiter erhöht, »Restriktionen« des Arbeitszeitgesetzes reduziert usw. Wie tiefgreifend die Veränderungen tatsächlich waren, wird jedoch erst deutlich, wenn man Raphaels Empfehlung folgt, die jeweiligen Besonderheiten der statistischen Erfassung sozialer Phänomene als Ausdruck der Verfassung einer Gesellschaft zu betrachten. Tut man dies in Bezug auf das NAV, so 33 Ulrich Mückenberger, Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?, in: Zeitschrift für Sozialreform 7 (1985), S. 415–434, 457–475. 34 Siehe zum folgenden Abschnitt: Nicole Mayer-Ahuja, »Normalarbeitsverhältnis«. Ein langer Abschied oder: Zeit für einen neuen Aufbruch?, in: A. Doris Baumgartner / Beat Fux (Hg.), Sozialstaat unter Zugzwang. Zwischen Reform und radikaler Neuorientierung, Wiesbaden 2019, S. 165–186. 35 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 244.

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stellt man fest, dass der Mitte der 1980er Jahre formulierte Kriterienkatalog inzwischen auf einen kläglichen Rest zusammengeschmolzen ist. So definiert das Statistische Bundesamt ein NAV seit 2009 als unbefristete, sozialversicherte Vollzeitbeschäftigung (außerhalb der Leiharbeit) mit mehr als 21 Stunden Arbeitszeit pro Woche. Die Frage, ob das Einkommen existenzsichernd, die Tätigkeit dauerhaft, die kollektive Vertretung von Interessen gesichert oder die Arbeitszeit beeinfluss- und planbar ist, wird damit nicht mehr gestellt. Wer 21,5 Stunden pro Woche für Niedriglohn, auf Abruf und in ständiger Erwartung der Kündigung in einem Unternehmen ohne Betriebsrat Zimmer reinigt oder Burger brät, leistet der offiziellen Statistik zufolge »Normalarbeit«. Dies erklärt nicht nur den weiterhin überraschend hohen NAV-Anteil, sondern verdeutlicht, wie wichtig es ist, Veränderungen in der offiziellen Selbstbeschreibung von Gesellschaften zu erfassen, wie sie etwa in amtlichen Statistiken zum Ausdruck kommen. Das Auseinanderklaffen von Norm und Normalität kann dabei unterschiedliche Formen annehmen. In Hinblick auf das NAV wäre etwa zu diskutieren, ob tatsächlich trotz aller Veränderungen, wie Raphael meint, »die rechtlichen Grundlagen des alten Modells intakt« geblieben sind.36 Vieles spricht dafür, dass in diesem Fall durchaus Regulierungsnormen verändert wurden und parallel dazu (wenn auch nicht unbedingt in unmittelbarem zeitlichen oder kausalen Zusammenhang) die spezifische Ausprägung sozialpolitisch regulierter Lohnarbeit, die in der Bundesrepublik um 1985 als NAV bezeichnet wurde, auch quantitativ an Bedeutung verlor. Es lassen sich jedoch durchaus auch Beispiele für ein Weiterbestehen von Regulierungsstrukturen benennen, die ihre soziale Substanz verändert haben. Obwohl etwa die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes, die Tarifautonomie oder die Dualität von betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretung weitgehend unangetastet fortwirken, haben sich, wie erwähnt, unterschiedliche Welten der Arbeitsbeziehungen herausgebildet,37 und formal bestehende Rechtsansprüche werden nicht länger kollektiv durchgesetzt, wo Stammbelegschaften vor allem ihren Status Quo gegen Randbelegschaften verteidigen, während LeiharbeiterInnen oder befristet Beschäftigte vor allem auf Wohlverhalten setzen, um eine Festanstellung zu erreichen.38 Zu guter Letzt ist auch der umgekehrte Fall zu verzeichnen, dass Veränderungen in den Regulierungsnormen kaum Einfluss auf soziale Praktiken haben. Dies war etwa anhand der Einführung eines einkommensabhängigen Elterngeldes (2007) zu beobachten. Obwohl damit auf weit verbreitete Wünsche nach einer gleichmäßigeren Verteilung von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern reagiert wurde, war dieser Regulierungsimpuls nur halb erfolgreich: in der Tat wurde die Erwerbstätigkeit von (speziell hoch qualifizierten) Frauen gefördert, doch der gesetzliche Anreiz für Väter, sich stärker um die Kinderbetreuung zu kümmern, ist weitgehend verpufft – sie be36 Ebd. 37 Schröder / Greef, Struktur und Entwicklung. 38 Dörre, Prekarität.

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schränken sich meist weiterhin auf die Inanspruchnahme der im Volksmund so bezeichneten drei »Vätermonate«.39 Normative Neuregulierung trifft hier auf eine bemerkenswerte Beharrungskraft im Bereich der sozialen Strukturen und Beziehungen.

7. Arbeit und Klassenstrukturierung – eine überfällige Rückbesinnung Die Perspektive von Lutz Raphael auf die Gesellschaftsgeschichte nach 1975 ist auch deshalb interessant, weil er im Kapitel »Abschied von Klassenkämpfen und festen Sozialstrukturen« die Frage aufwirft, welche Zusammenhänge zwischen Veränderungen im Bereich von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Beschäftigung (konkret: dem Bedeutungsverlust von Industriearbeit) einerseits, der Strukturierung von Gesellschaft und sozialer Ungleichheit andererseits bestehen. Diese Frage ist nicht neu, stand sie doch bereits im Zentrum der Überlegungen von Karl Marx zur Funktionsweise von Kapitalismus als Wirtschaftssystem und Klassengesellschaft. Allerdings weist Raphael zurecht darauf hin, dass gerade in der Bundesrepublik bemerkenswert wenig über die gesellschaftsstrukturierende Wirkung von Veränderungen der Arbeitswelt diskutiert wurde. Helmut Schelskys Behauptung, dass sich nach 1945 eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« herausgebildet habe,40 wurde gerade in jenem Land dankbar aufgegriffen, in dem die Arbeiterbewegung durch die NS -Regierung gerade zerschlagen worden war.41 Raphael weist darauf hin, dass in der Bundesrepublik nicht zuletzt amtliche Statistiken Klassenfragen schwer diskutierbar machten (unterschieden wurde und wird vor allem zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten), während die »Konventionen der politischen Sprachen […] es ganz bewusst vermieden, die Existenz von Klassengegensätzen und sozialer Ungleichheit durch entsprechende Kategorisierungen zu betonen« – zu studieren etwa am Konzept der als »klassenübergreifend« verstandenen Volkspartei.42 39 Annette Henninger u. a., Geschlechtergleichheit oder »exklusive Emanzipation«? Ungleichheitssoziologische Implikationen der aktuellen familienpolitischen Reformen, in: Berliner Journal für Soziologie 18/1 (2008), S. 99–128; Claire Samtleben u. a., Elterngeld und Elterngeld Plus, in: DIW Wochenbericht 35 (2019), S. 607–613. 40 Helmut Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft, in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf 1965 [1953], S. 31–36. 41 Ob Klasse, wie Raphael argumentiert, in der DDR ebenso wenig thematisiert wurde wie in der Bundesrepublik Deutschland, weil »[d]ie beiden deutschen Teilstaaten […] alles daran [setzten], den Gegensatz zwischen (Arbeiter-) Klasse und Nation nicht wieder aufleben zu lassen« (Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 104), wäre zu diskutieren, war doch etwa die »positive Diskriminierung« von Arbeiterkindern im Bildungswesen der DDR ein zentraler Aspekt staatlicher Politik, der explizit klassenpolitisch begründet wurde. 42 Ebd., S. 109–110.

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Die Arbeitssoziologie, die in ihrer bundesrepublikanischen Ausprägung ohnehin dazu neigte, eher betriebliche als gesamtgesellschaftliche Dynamiken zu analysieren, trug in den Nachkriegsjahrzehnten wenig dazu bei, die Zusammenhänge zwischen Arbeit und Klassenstrukturierung zu erhellen. Zwar liegen durchaus entsprechende Studien vor, darunter etwa Burkhard Lutz’ Ausführungen zum »kurze[n] Traum immerwährender Prosperität«, in denen er die Ausweitung von Lohnarbeit auf diejenigen, die zuvor in Landwirtschaft, Handwerk oder Einzelhandel selbständig gewesen waren, als Teil einer übergreifenden Tendenz kapitalistischer Landnahme darstellte.43 Spätestens in den 1980er Jahren jedoch verschwanden Fragen von Klassenstrukturierung auch aus arbeitssoziologischen Studien, und wenn man den Blick überhaupt über die Grenzen des jeweiligen betrieblichen Falles hinaus richtete, so tat man dies in Anlehnung an Thesen der Individualisierung, wie sie etwa Ulrich Beck formulierte.44 In jüngster Zeit scheint das Interesse an Veränderungen in der sozio­ ökonomischen Struktur der Arbeitsgesellschaft allerdings allmählich auf die wissenschaftliche Agenda zurückzukehren. Begriffe wie »Wissensarbeiter«,45 »Arbeitskraftunternehmer«46 oder »Prekariat«47 dienen zwar in erster Linie als Provokationen, weil sie auf die Herausbildung neuer Klassenfraktionen oder eine angebliche Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit anspielen, ohne dies immer solide empirisch zu untermauern. Die große Aufmerksamkeit, die man mit derlei Provokationen erregen kann, verweist allerdings auf ein weit verbreitetes Unbehagen darüber, dass es kaum empirisch gesicherte Erkenntnisse über die Neustrukturierung der Gesellschaft im Zeichen der massiven Umbrüche der Arbeitswelt gibt, die seit Mitte der 1970er Jahre zu verzeichnen sind. Man muss Oliver Nachtweys These von einer »Abstiegsgesellschaft«48 nicht überzeugend finden, um zum Beispiel die Frage aufzuwerfen, ob sich tatsächlich aktuell eine (in sich weitgehend homogene und nach außen abgrenzbare) Gruppe von Arbeitenden herausbildet, die dauerhaft prekär beschäftigt sind und sich als Teil eines dadurch definierten Kollektivs verstehen – denn genau diese Assoziationen weckt der Begriff des »Prekariats« mit seiner sprachlichen Nähe zum »Proletariat« der Industrialisierung. Auch mag man vermuten, dass in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Söhne und Töchter jener Arbeiterschaft 43 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt am Main 1989, S. 186–236. 44 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. 45 Helmut Willke, Organisierte Wissensarbeit, in: Zeitschrift für Soziologie 27/3 (1998), S. 161–177. 46 G. Günther Voß / Hans Pongratz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50/1 (1998), S. 131–158. 47 Guy Standing, The Precariat. The New Dangerous Class, London 2014. 48 Oliver Nachtwey, Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Frankfurt am Main 2016.

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in prekäre Jobs gelangt und dauerhaft auf diese festgelegt worden sein könnten, die in den Boomjahren durch die immer stabilere Verknüpfung von Lohnarbeit und sozialer Absicherung, steigende Vergütungen und Konsumstandards einen sozialen Aufstieg nicht nur vor Augen hatten, sondern (etwa durch Zugang zu höherer Bildung) für sich und ihre Kinder teilweise tatsächlich realisieren konnten. Derlei Vermutungen ersetzen jedoch keine empirischen Analysen. Daher ist die Einladung von Lutz Raphael, Veränderungen im Betrieb im Zusammenhang mit Tendenzen gesellschaftlicher Neustrukturierung zu analysieren und dabei gerade auch die Wechselwirkungen zwischen Veränderungen in der Arbeitswelt und den sozioökonomischen Trennlinien in den Blick zu nehmen, welche die bundesrepublikanische Gesellschaft auch im frühen 21. Jahrhundert durchziehen, für die Arbeitssoziologie eine produktive Herausforderung.

8. Vom Arbeiter- zum Arbeitsbewusstsein – und zurück? Indem die Arbeitssoziologie zunehmend darauf verzichtete, veränderliche Klassenstrukturen wissenschaftlich zu ergründen, erlosch um 1980 auch das Interesse an Fragen des Klassenbewusstseins. Noch Mitte der 1950er Jahre hatten etwa Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt eine großangelegte Studie zum Bewusstsein von Arbeitern in der westdeutschen Hüttenindustrie durchgeführt. Sie trafen dort auf eine klare sozialstrukturelle Selbstverortung (»wir hier unten«) und das Bewusstsein, mit harter körperlicher Arbeit maßgeblich zum Wiederaufbau des Landes nach 1945 beizutragen, doch beides war kaum noch mit politischem Selbst- oder Sendungsbewusstsein verbunden. Die Arbeiterklasse existierte, so der Befund, sah sich selbst jedoch nicht mehr als »revolutionäres Subjekt« – letzterem hatten die Nationalsozialisten durch Betriebsgemeinschaftsideologie und die Ermordung der TrägerInnen sozialistischer Politik in Parteien und Gewerkschaften ein vorläufiges Ende gesetzt. Auch die Arbeitssoziologie hörte in den Folgejahren (abgesehen von einer kurzen Renaissance in den 1970ern)49 nach und nach auf, Veränderungen des Arbeiterbewusstseins zu thematisieren, obwohl diese aus marxistischer Perspektive (die in der Disziplin weit verbreitet war) als die subjektive Seite von Verschiebungen in »objektiven« Klassenstrukturen immer mitgedacht wurden. Als in den 1980er Jahren nicht zuletzt die neuen sozialen Bewegungen Bewusstseinsfragen zurück auf die politische und wissenschaftliche Agenda katapultierten, richtete die Arbeitssoziologie den Fokus nicht länger auf das (sozialstrukturell wie politisch konnotierte) Arbeiterbewusstsein, sondern vielmehr auf das »Arbeitsbewusstsein« von Beschäftigten. Fortan stand der oder die Einzelne im Zentrum des Interesses, die Individualisierung von (Erwerbs-)​

49 Vgl. etwa: Horst Kern / Michael Schumann, Industrie und Arbeiterbewusstsein, Frankfurt am Main 1977.

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Biographien, Familienstrukturen und Lebensstilen wurde nun auch zum Thema einer Arbeitssoziologie, die weiterhin vor allem betriebliche Konstellationen untersuchte, sich aber nun zunehmend für individuelle Arbeitshaltungen interessierte. In Studien zur Subjektivierung von Arbeit, wie sie etwa Martin Baethge Anfang der 1990er vorlegte,50 ging das Interesse am strukturellen Machtgefälle zwischen Arbeit und Kapital zwar nicht ganz verloren. Unter der Überschrift der »doppelten Subjektivierung« wurde durchaus diskutiert, dass der Impuls, verstärkt individuelle Fähigkeiten, Kreativität und »Herzblut« in die Erwerbsarbeit einzubringen, eben nicht nur von Beschäftigten ausging, die sich am Arbeitsplatz selbst verwirklichen wollten, sondern zugleich Teil neuer Unternehmensstrategien war, die mit Hilfe von indirekter Steuerung (etwa im Rahmen von Projektarbeit und Zielvereinbarungen) den Zugriff auf Arbeitskraft weit intensiver und effektiver gestalteten, als es durch das klassische System von Befehl und Gehorsam möglich war. Das Ergebnis war »mehr Druck durch mehr Freiheit«.51 Trotzdem ist kaum zu leugnen, dass die zunehmende Konzentration der Arbeitssoziologie auf das arbeitende Individuum und dessen Haltung zum Arbeitsgegenstand kritische Perspektiven auf die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit nicht unbedingt förderte. Stattdessen kam auch in der Arbeitssoziologie der von Lutz Raphael beschriebene »Trend hin zu einer ›Verflüssigung‹ des Sozialen und zur ›Subjektivierung‹« zum Tragen, der es von den Vereinigten Staaten aus »über den großen Teich geschafft« hatte und sich »nicht nur aus orthodox liberalen Überzeugungen speiste, sondern auch aus libertären Strömungen, linkssozialistischen Kritiken an der Wohlstandsgesellschaft und der organisierten Konsenskultur sowie aus grün-alternativen Vorstellungen von Leben und Wirtschaften«.52 Diese Neuausrichtung der Arbeitssoziologie, die (etwas bösartig formuliert) ähnlich wie Margret Thatcher zunehmend keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch Individuen kannte, hatte durchaus auch produktive Seiten – so legte es die Hinwendung zum Individuum etwa nahe, Erwerbs- und Privatleben stärker integriert zu betrachten und Fragen der Reproduktion von Arbeitskraft zu thematisieren, die von der Arbeitssoziologie lange vernachlässigt worden waren. Aus dem Blick gerieten allerdings die Zusammenhänge zwischen Bewusstseinsfragen einerseits und strukturellen Veränderungen der Arbeitsgesellschaft andererseits. Erst seit kurzem gewinnen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik wieder Diskussionen darüber an Bedeutung, ob die gesellschaftliche Dynamik im frühen 21. Jahrhundert tatsächlich durch den Verweis auf Differenzierung 50 Martin Baethge, Arbeit, Vergesellschaftung, Identität. Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit, in: Soziale Welt 42/1 (1991), S. 6–20. 51 Frank Kleemann u. a., Subjektivierung von Arbeit. Ein Überblick zum Stand der Diskussion, in: Manfred Moldaschl / G. Günter Voß (Hg.), Subjektivierung von Arbeit, München 2 2003, S. 57–114; Wilfried Glißmann / K laus Peters, Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen, Hamburg 2001. 52 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 97.

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und Individualisierung ausreichend beschrieben ist, oder ob die (bis heute fortschreitende)  Verallgemeinerung von Lohnarbeit eine Basis für ein »Lohnabhängigenbewusstsein« schafft, das unterschiedliche Gruppen von Arbeitenden verbindet.53 Abgesehen davon, dass inzwischen die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Erfahrung teilt, von Lohnarbeit und der daran geknüpften sozialen Sicherung ein Leben lang abhängig zu sein, sehen sich nach Erkenntnis aktueller Studien derzeit auch viele Beschäftigte mit Arbeitsbedingungen konfrontiert, die Legitimationsprobleme in der Erwerbsarbeit entstehen lassen. So wird es offenbar angesichts einer strikten Orientierung vieler Unternehmen an ökonomischen Kennziffern immer schwerer, professionellen Standards gerecht zu werden – Pflegekräfte können Patienten nicht mehr ausreichend versorgen, Ingenieure Werkstoffe nicht mehr ausreichend prüfen.54 Insgesamt kommen über Unternehmen und Branchen hinweg tiefgreifende Verletzungen von Gerechtigkeitsansprüchen zum Ausdruck. E. P. Thompson haben ähnliche Befunde einst motiviert, »the making of the working class« zu erforschen.55

9. Grenzüberschreitender Strukturbruch? Lutz Raphael attestiert der Periode, die um 1975 begann, »soziale[n] Wandel von revolutionärer Qualität«,56 und dem würden viele ArbeitssoziologInnen unter Verweis auf das Ende des Fordismus zustimmen. Was aber macht diese revolutionäre Qualität aus? Wenig überzeugend wäre die Annahme, dass die sozioökonomische Konstellation der Nachkriegsjahrzehnte durch eine unerschütterliche Verschränkung von ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen und Regularien charakterisiert gewesen sei und die »Revolution« darin bestanden habe, dass die Erstarrungen und Verkrustungen dieser Zeit ab Mitte der 1970er Jahre durch eine Liberalisierung der Märkte, einen Rückzug des Staates und Tendenzen der Individualisierung schlagartig aufgebrochen und beseitigt worden seien. Eine solche Sichtweise würde zum einen der Widersprüchlichkeit und inhärenten Dynamik der Nachkriegsjahrzehnte nicht gerecht. Wie widersprüchlich die Entwicklung der Arbeitswelt war, zeigt etwa ein Blick auf die Frauenerwerbstätigkeit: die goldenen Jahre der fordistischen Hausfrau waren zugleich eine Periode, in der immer mehr Frauen einen immer längeren Teil ihres Lebens in 53 Vgl. etwa: Bernd Riexinger, Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen, Hamburg 2018; Nicole Mayer-Ahuja, Klasse: Vom Elefant im Raum zum Schlüssel politischer Mobilisierung?, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 116 (2018), S. 15–25. 54 Nick Kratzer u. a., Legitimationsprobleme in der Erwerbsarbeit. Gerechtigkeitsansprüche und Handlungsorientierungen in Arbeit und Betrieb, Baden-Baden 2015. 55 E. P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 2002 [1963]. 56 Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl, S. 15.

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abhängiger Beschäftigung verbrachten, die (etwa in Gestalt sozialversicherter Teilzeitarbeit) zudem immer näher an die (zu dieser Zeit schrittweise etablierten) Standards des »Normalarbeitsverhältnisses« heranrückte.57 Inhärent dynamisch war diese historische Periode allein schon deshalb, weil (wie erwähnt) die Verknüpfung von Lohnarbeit und sozialer Sicherung schrittweise ausgebaut wurde, was keineswegs immer im Einvernehmen zwischen Arbeit, Staat und Kapital erfolgte, sondern teilweise in harten Auseinandersetzungen durchgesetzt werden musste. Zum anderen trägt die These eines »Befreiungsschlages« um 1975 nicht unbedingt dazu bei, die folgenden Jahrzehnte angemessen zu analysieren. »Revolutionärer Wandel« kann, wie oben argumentiert, sehr Unterschiedliches beinhalten: teilweise bleiben institutionelle Formen stabil, während sich ihre soziale Substanz grundlegend verändert; teilweise ist das umgekehrte Phänomen festzustellen. Selbst wo auf den ersten Blick »nur« eine relative Bedeutungsverschiebung zwischen bereits bekannten Mustern zu erkennen ist, kann revolutionärer Wandel stattfinden. So wurde etwa im Rahmen der Sozioökonomischen Berichterstattung herausgearbeitet, dass seit den 1950er Jahren bis weit in das 21. Jahrhundert hinein kein einziges »Ernährermodell« verschwunden oder neu entstanden ist. Auch die häufigste Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der Familie hat sich nur wenig verändert: war in den 1950er Jahren das Modell »Alleinverdiener mit Hausfrau« vorherrschend, ist es inzwischen das Modell »Hauptverdiener mit Zuverdienerin«. Die Stabilität der Verhältnisse ist in der Tat bemerkenswert: so kann die Zuverdienerin des frühen 21. Jahrhunderts (wie mindestens zwei Generationen von Frauen vor ihr) davon ausgehen, dass die geringeren Bruttostundenlöhne, mit denen Teilzeitarbeit meist vergütet wird, im Haushaltskontext durch den Verdienst des Ehemannes und die daraus abgeleiteten Sozialversicherungsleistungen für Familienangehörige ausgeglichen werden und dass dieses Modell steuerlich gefördert wird (Ehegattensplitting) – dies ist der »Lohn« dafür, dass sie sich wie ihre Vorgängerinnen für Haushaltsführung, Kinderbetreuung und Altenpflege hauptzuständig erklärt. Hinter dieser stabilen Fassade hat sich jedoch tiefgreifender Wandel vollzogen: Immerhin haben heutige Zuverdienerinnen im Durchschnitt ein deutlich höheres Niveau schulischer und beruflicher Bildung erreicht, sind sich der nachlassenden Stabilität von Ehen und Haushaltsstrukturen bewusst und erleben in ihrer Umgebung zunehmend Alternativrollen, weil die Gruppe vollzeitbeschäftigter, hoch qualifizierter und entlohnter Frauen mit anspruchsvollen Tätigkeiten wächst. Zugleich können sie sich nicht länger darauf verlassen, dass ihr eigener Lebensstandard und der ihrer Kinder fast automatisch steigt, weil eine stabile Erwerbsbiografie bei Männern zwar noch immer weit verbreitet, aber bei weitem nicht mehr selbstverständlich ist und die Einkommensentwicklung vieler Beschäftigter (speziell in den mittleren Einkommensgruppen, aus denen sich die »Normalfamilie« 57 Mayer-Ahuja, Wieder dienen lernen?, S. 34–92.

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der Nachkriegsjahrzehnte vor allem rekrutierte) seit einigen Jahren stagniert.58 Kurz: Der »Zuverdienst« von Frauen ist heute ein grundlegend anderes Phänomen als in den 1950er Jahren. Eine Vermessung des »Strukturbruchs«, der um 1975 einsetzte, muss demnach systematisch nicht nur (wie Lutz Raphael angesichts der Innovationsrhetorik der Sozialwissenschaften zu Recht fordert) das Alte im Neuen, sondern gerade auch das Neue im Alten in den Blick nehmen. Einen integrierten Blick auf Ausprägungen des Strukturbruchs in verschiedenen nationalstaatlichen Konstellationen, dessen Vorteile Raphael so überzeugend demonstriert, kann die Arbeitssoziologie allerdings nur in Ansätzen voranbringen, denn bislang ist der Fokus dieser Disziplin (nicht nur in Deutschland) vorwiegend auf den eigenen Nationalstaat gerichtet. Dies ist teilweise verständlich, wenn man bedenkt, dass die Regulierung von Arbeit und sozialer Sicherung nach wie vor in erster Linie nationalstaatlich organisiert ist. Dennoch haben bereits Hirsch und Roth darauf hingewiesen, dass Entwicklungen im Rahmen staatlicher Grenzen umfassender analysiert werden können, wenn man sie in einem größeren, trans-nationalen Kontext verortet. Ganz ähnlich wie Raphael, der für die Jahrzehnte nach 1975 ein widersprüchliches bzw. »eigensinniges« Verhältnis zwischen übergreifenden Entwicklungen und national- bzw. regionalspezifischer Ausprägung konstatiert, betrachten diese Autoren bereits den Fordismus als »eine globale Formation, die ihre allgemeinen Strukturmerkmale gerade durch die Wechselwirkung national ungleicher und ungleichzeitiger Entwicklungen hindurch ausprägt.«59 Tatsächlich kann auch die Arbeitssoziologie davon profitieren, dass transnationale Perspektiven einen wertvollen Verfremdungseffekt bewirken, der nicht nur das Fremde vertrauter, sondern auch das Vertraute fremder und weniger selbstverständlich erscheinen lässt. Daher erstaunt es nicht, dass ArbeitssoziologInnen durchaus mit transnationalen Perspektiven experimentiert haben – etwa in Hinblick auf die Einflüsse von Herkunfts- und Niederlassungskontexten auf die Business Systems und Praktiken von Arbeitskraftnutzung bei grenzüberschreitend operierenden Unternehmen.60 Auch das Spannungsverhältnis zwischen regulativer Norm und gesellschaftlicher Normalität, das oben in Bezug auf »Normalarbeits­verhältnis« und prekäre Beschäftigung thematisiert wurde, kann als Ansatzpunkt für die Transnationalisierung von Forschungsperspektiven dienen. Immerhin ist die Etablierung von sozialpolitisch abgesicherter Lohnarbeit ein Phänomen, das nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs nur im »Globalen Norden« zu beobachten war, und auch die Abkehr von den damit verbundenen Standards wird weltweit diskutiert, obwohl die wissenschaftlichen Debatten über Prekarisierung 58 Nicole Mayer-Ahuja u. a., Teilhabe im Umbruch – Zur sozioökonomischen Entwicklung Deutschlands, in: Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung (Hg.), Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Zweiter Bericht: Teilhabe im Umbruch, Wiesbaden 2012, S. 15–39. 59 Hirsch / Roth, Das neue Gesicht, S. 47. 60 Vgl. etwa: Arndt Sorge, The Global and the Local. Understanding the Dialectics of Business Systems, Oxford 2005; Mayer-Ahuja, Grenzen der Homogenisierung.

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(v. a. im »Globalen Norden«) und Informalisierung (im »Globalen Süden«) nicht umstandslos zusammenzubringen sind.61 Um Weltregionen verbindende Konjunkturen politischer Regulierung zu erklären, ist es notwendig, jene Einflüsse zu identifizieren, die über die nationalstaatliche Regulierung von Arbeit hinausweisen – seien es weltweit wirksame ökonomische Dynamiken (wie die Wirtschaftskrise von 2008ff, durch die unterschiedlichste Staaten in Finanznot gerieten und darauf mit Austeritätspolitiken antworteten, die direkte Konsequenzen etwa für soziale Sicherungssysteme hatten); seien es grenzüberschreitend wirtschaftende Unternehmen, die Arbeitende in verschiedenen Weltregionen in direkte Kooperations- und Konkurrenzverhältnisse setzen; oder seien es Politikkonzepte (wie das neoliberale Mantra von Privatisierung, Flexibilisierung und Individualisierung), die Regierungen dazu bewogen, ausgehend von ihren jeweils spezifischen Standards letztlich ganz ähnliche Politiken der Prekarisierung anzuwenden. Von zentraler wissenschaftlicher wie politischer Bedeutung ist es in diesem Zusammenhang, weltweit geführte Debatten über »Globalisierung«, »Finanzmarktkapitalismus« oder »Digitalisierung«, die als Gründe für Veränderungen der Arbeitswelt angeführt werden, nicht umstandslos als Faktenbeschreibung zu akzeptieren. Vielmehr ist nach den Akteuren zu fragen, die derlei Weltdeutungen vertreten (und davon ausgehend Veränderungen durchsetzen), nach den Strukturen, die diese Veränderungen begünstigen oder behindern, und nach der Reichweite der behaupteten Dynamiken. Eine enge Kooperation von Arbeitssoziologie und Zeitgeschichte ist hier mehr als naheliegend.

10. Fazit: Wandel der Arbeitswelt erforschen – wozu? Damit schließt sich in vieler Hinsicht der Kreis. Eingangs wurde Lutz Raphaels Einschätzung zitiert, dass die Sozialwissenschaften eher mit Gegenwart und Zukunft als mit der Vergangenheit befasst seien. Das ist unzweifelhaft richtig – und doch kann die Arbeitssoziologie (wie hoffentlich überzeugend argumentiert wurde) durchaus einen produktiven Beitrag zur interdisziplinären Erforschung von Arbeit nach dem Boom leisten. Zwar neigen viele arbeitssoziologische Studien in der Tat dazu, eine »fordistische« Vergangenheit als allzu glatte Vergleichsfolie zu konstruieren, von der sich die Vielfalt gegenwärtiger Entwicklungen deutlich abhebt, um den Neuigkeitswert des jeweils aktuellen Untersuchungsgegenstandes zu betonen. Die grundsätzliche Bereitschaft, auch für die Zeit »nach dem Boom« die komplexen Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft integriert in den Blick zu nehmen, ist jedoch ein Desiderat, an dem sich zeithistorische wie arbeitssoziologische Forschung messen lassen muss. Ein großer Vorteil der Arbeitssoziologie besteht dabei darin, dass sie 61 Nicole Mayer-Ahuja, Die Globalität unsicherer Arbeit als konzeptionelle Provokation. Zum Zusammenhang zwischen Informalität im Globalen Süden und Prekarität im Globalen Norden, in: Geschichte und Gesellschaft 43/2 (2017), S. 264–296.

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über ein ausgefeiltes Instrumentarium verfügt, um Arbeit im Betrieb als Brennspiegel nutzbar zu machen, in dem sich Veränderungen in allen drei Sphären und in den Beziehungen zwischen ihnen niederschlagen und besonders gut studieren lassen. Dass man dabei sorgfältig zwischen Trenddebatte und empirischer Realität unterscheiden muss, zeigen aktuelle Studien der Arbeitssoziologie, etwa zu Digitalisierung oder Finanzialisierung, ist aber sicherlich im historischen Rückblick noch besser zu erkennen. In Bezug auf politische Regulierung trifft das Raphael’sche Plädoyer, die jeweiligen Besonderheiten der statistischen Erfassung sozialer Phänomene als Ausdruck der Verfassung einer Gesellschaft zu betrachten, auf soziologische Analysen, die ähnliche Akzente setzen. So zeigt etwa die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Normen von Arbeitsregulierung und »statistischer Normalität«, gerade in Bezug auf das »Normalarbeitsverhältnis«, wie sinnvoll eine solche Perspektive sein kann. Die wichtigste Anregung, die aus dem jüngsten Werk von Lutz Raphael für arbeitssoziologische Analysen zu gewinnen ist, besteht jedoch sicherlich darin, Veränderungen im Bereich von Arbeit, Beschäftigung, Arbeitsorganisation usw. systematisch auf sozialstrukturelle Entwicklungen zu beziehen. Immerhin sind speziell in der Bundesrepublik sowohl in Hinblick auf »Klassenstruktur«, als auch in Hinblick auf »Klassenbewusstsein« hochrelevante Fragen zur Entwicklungsdynamik der Arbeitsgesellschaft über Jahrzehnte weitgehend unthematisiert geblieben, und es ist das Verdienst Raphaels, diesen »Elefant im Raum« (hier: mit Fokus auf die Industriearbeiterschaft) mit Hilfe zeithistorischer Forschung sichtbar zu machen. Inwiefern wir es seit Mitte der 1970er Jahre mit einem sozialen Wandel von revolutionärer Qualität zu tun haben, ist schließlich eine Frage, die künftige Forschung anregen dürfte und sollte – besonders deshalb, weil sie nicht beantwortet werden kann, ohne die Grenzen des Nationalstaates analytisch zu überwinden. Der Vergleich zwischen verschiedenen europäischen Staaten ist ein guter Anfang, doch im nächsten Schritt wird die Perspektive über den Globalen Norden hinaus und hin zu trans-national wirksamen (Organisations-) Strukturen und Prozessen (wie etwa Konjunkturen der politischen Regulierung von Arbeit) zu erweitern sein. Es ist also viel zu tun, und es bleibt zu hoffen, dass Arbeitssoziologie und Zeitgeschichte das hier skizzierte thematische Feld zunehmend gemeinsam oder zumindest in engem Austausch miteinander bestellen werden. Die teilweise unterschiedlichen Akzentsetzungen können dabei anregend, die angedeuteten Unterschiede müssen nicht trennend wirken. Tatsächlich fokussiert sich arbeitssoziologische Forschung in der Regel stärker auf Gegenwart und Zukunft und erhebt einen unmittelbareren Gestaltungsanspruch als die Geschichtsschreibung. Die Monographie »Jenseits von Kohle und Stahl« zeigt jedoch eindrücklich, dass auch von Seiten der Zeitgeschichte eine kritische, in wissenschaftlicher wie politischer Hinsicht aufklärerische Auseinandersetzung mit den komplexen Veränderungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft möglich ist, die sich »nach dem Boom« vollzogen haben und deren Zeitzeugen Forschende aus Arbeitssoziologie und Geschichtswissenschaft gleichermaßen sind. Angesichts der weit verbreiteten Strategie, Globalisierung, Digitalisierung

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und vieles andere als anonyme Kräfte darzustellen, die wie Naturgewalten über die Menschheit hereinbrechen, stehen beide Disziplinen, ob sie dies schätzen oder nicht, in der gesellschaftspolitischen Verantwortung, derlei Veränderungsimpulse als Projekte gesellschaftlicher Akteure zu analysieren, die mit spezifischen Machtressourcen konkrete Interessen durchzusetzen suchen. Wenn Lutz Raphaels Analysen zu Veränderungen der Arbeitswelt seit 1975 eines zeigen, so dies: Trotz aller anderslautenden Behauptungen waren sie alles andere als alternativlos.

Hans Günter Hockerts / Winfried Süß

Markt und Nation Über zwei Relationen des Sozialstaats und ihren Wandel in Zeiten von Globalisierung und Europäisierung

1. Einleitung Der Sozialstaat ist ein großer »Relationierer«.1 Denn er beeinflusst so stark wie kaum eine andere politische Ordnungsinstanz die sozialen Beziehungen im Gefüge moderner Gesellschaften. Aber er ist auch seinerseits auf Relationen angewiesen – im Sinne von Rahmenbedingungen, die er nicht oder nur zum Teil selbst steuern kann. Unser Essay fasst zwei dieser Bezüge ins Auge, die für die historisch variable Gestalt des Sozialstaats von besonderer Bedeutung sind: das Verhältnis zu den dynamischen Kräften des Marktes und die Verankerung im Nationalstaat. Unser Blick konzentriert sich auf die Zeit nach 1945 und rückt das deutsche Beispiel in den Vordergrund, an dem sich auch Grundprobleme der europäischen Entwicklung diskutieren lassen. Anders als die sozialistischen Staaten im ehemaligen Sowjetimperium, die den Markt weitgehend ausgeschaltet und durch Planvorgaben ersetzt haben, kalkulieren die westeuropäischen Sozialstaaten unablässig mit Chancen und Risiken des Marktes. Chancen – weil Märkte als effizientes System der Allokation und Koordination wirken und sich mit freiheitlichen Wertideen verbinden können. Risiken – weil die Eigendynamik der Marktkräfte, insbesondere das Spannungsverhältnis von Kapital und Arbeit, auch soziale Ungleichheit und Unsicherheit hervorbringt. Der Sozialstaat verstand sich daher stets als Marktkorrektiv, indem er regulierende Elemente der Sicherung und des Ausgleichs einbaute, Umverteilungen eigener Art in Gang setzte und damit die »öffentliche Gewährleistung auch marktexterner Existenzformen« übernahm.2 In der Zurückdrängung der Macht des Marktes lag und liegt jedoch nur die eine Seite jener »Doppelstellung der Sozialpolitik«, die Eduard Heimann – der bedeutendste Analytiker der Sozialstaatsentwicklung in seiner Zeit – 1929 präg­ nant erkannt hat.3 Die andere zielt auf die institutionelle Unterstützung und Sta1 Vgl. das Kapitel »Relationierung« in: Stephan Lessenich, Theorien des Sozialstaats, Hamburg 2012, S. 47–52. Der deutsche Begriff des Sozialstaats und die in der internationalen Wissenschaftssprache übliche Bezeichnung »Wohlfahrtsstaat« werden im Folgenden synonym verwendet. 2 Lessenich, Theorien, S. 37. 3 Eduard Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus (1929). Nachdruck mit einem Vorwort von Bernhard Badura, Frankfurt am Main 1980, S. 168.

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bilisierung einer kapitalistisch strukturierten Marktwirtschaft. Die Sozialversicherung bietet ein offensichtliches Beispiel: Sie fängt Neben- und Folgekosten auf, die mit der freien Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit verbunden sind, aber nicht in die Kostenrechnung der Marktlöhne eingehen, insbesondere die Kosten der Gesundheits- und Alterssicherung. Auch das kollektive Arbeitsrecht, das der deutsche Sozialstaat stark institutionalisiert hat, lässt sich ambivalent deuten. So kann zum Beispiel die betriebliche Mitbestimmung als Begrenzung von Arbeitgebermacht, aber auch als »erfolgreicher Faktor des Krisenmanagements« gesehen werden.4 Der Sozialstaat leistet somit immer beides: Begrenzung und Ergänzung der Marktkräfte, und je nach der historischen Konstellation verschiebt sich der Akzent von der einen zur anderen Seite. Als Gøsta Esping-Andersen 1990 seine Typologie der »Worlds of Welfare ­Capitalism« veröffentlichte, wandte er seine ganze Sympathie der zuerst genannten Seite der Sozialpolitik zu: Er zählte »politics against markets« zu ihren obersten Gütekriterien.5 Aber gerade diese Gewichtungsfrage bildet einen immerwährenden Streitpunkt im politischen Diskurs: Wo verläuft die Grenze zwischen erwünschter Korrektur und unerwünschter Störung von Marktprozessen? In der »Boomphase« der europäischen Sozialstaaten, die Lutz Raphael mit Blick auf die Jahre 1948 bis 1973 beobachtet hat,6 gab es bemerkenswert viel Auftrieb für »politics against markets«. Dann aber drehte sich der Wind. Spätestens in den 1980er Jahren gewannen Konzepte einer Sozialpolitik »with markets« auf breiter Front an Boden. Im Folgenden werfen wir einige Schlaglichter auf den zeittypischen Kontext, in dem sich diese Drehung vollzogen hat. Zuvor ein Blick auf das zweite Grundverhältnis. »Sozialpolitik ist Nationalpolitik«, hielt Eduard Heimann fest, das sei »immer schon selbstverständlich« gewesen.7 »Who says welfare state says nation-state«, pflichtete der britische Soziologe Anthony Giddens 1994 bei.8 In der Tat: Gerade auch in der Boomphase haben die westeuropäischen Staaten die Sozialpolitik zu einer Domäne der nationalen Souveränität ausgestaltet. Dazu waren sie in der Lage, weil sie die Stellgrößen des nationalen Wirtschaftsraums zu kontrollieren vermochten. Denn die Liberalisierung des westlichen Weltmarkts nach dem Zweiten Weltkrieg war in eine internationale Regelungsstruktur eingebettet, die wichtige Hebel der Konjunktursteuerung und der Wachstumspolitik in der Hand 4 Mit exemplarischem Hinweis auf das »Komanagement der Betriebsräte« im VW-Konzern: Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 392 f. 5 Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. 6 Lutz Raphael, Europäische Sozialstaaten in der Boomphase (1948–1973). Versuch einer historischen Distanzierung einer ›klassischen Phase‹ des europäischen Wohlfahrtsstaats, in: Hartmut Kaelble / Günther Schmid (Hg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004, S. 51–73. 7 Heimann, Theorie, S. 179. 8 Anthony Giddens, Beyond left and right: the future of radical politics, Cambridge 1994, S. 137.

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der nationalen Regierung beließ. Diese konnte sich außerdem darauf stützen, dass »der Faktor Kapital« großenteils im nationalen Kontext »eingebettet« war und sich »weitgehend national« verhielt.9 Der Begriff des »embedded liberalism«10 hebt diese Kombination von liberalisiertem Welthandel und autonomen nationalen Spielräumen anschaulich hervor. Noch griffiger ist die Sentenz, dass die Nationalstaaten in der Boomphase »Smith abroad« und »Keynes at home« verknüpfen konnten.11 Auch in der Gegenwart ist die Sozialpolitik großenteils nationalstaatlich gerahmt. Dafür liefern die Massenproteste ein Beispiel, die im Herbst 2019 das öffentliche Leben in Frankreich lahmlegten, als Präsident Emmanuel Macron daran ging, am Besitzstand des »système de retraite« (mit 42 Rentensystemen für verschiedene Berufsgruppen und einem im europäischen Vergleich sehr frühen Renteneintrittsalter von nur 62 Jahren) zu rütteln. Die Brexit-Aktivisten verknüpften National- und Sozialpolitik, als sie im Referendum 2016 den zugkräftigen Slogan lancierten: »We send the EU £ 350 million a week. Let’s fund our NHS instead. Vote Leave.« Die Zahl war zwar – wie es sich für Demagogen gehört – falsch berechnet, aber das Versprechen, die wöchentlich gesparten Millionen in den ebenso populären wie unterfinanzierten National Health Service (NHS) zu lenken, verfehlte seine Wirkung nicht. Andererseits ist unverkennbar: Der nationale Sozialstaat ist längst nicht mehr souverän, sondern in verschiedene Formen der Trans- und Supranationalisierung eingebunden, insbesondere im Rahmen der europäischen Integration. Auch darauf verweist – im Gegenzug – das britische EU-Austrittsbegehren. Unser Essay fragt im Folgenden nach Verschiebungen im Verhältnis des Sozialstaats zum Markt (2.) und zum Nationalstaat (3.), wohl wissend, dass damit keineswegs alle Produzenten von Wohlfahrt angemessen in den Blick kommen. Denn hierzu gehören nicht zuletzt auch die Familien bzw. die Haushalte sowie die Assoziationen, die im zivilgesellschaftlichen Raum zwischen Staat, Markt und Familien aktiv sind. Ein kurzes Fazit schließt sich an (4.).

9 Hans F. Zacher, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, Baden-Baden 2001, S. 333–684, hier S. 591. 10 Vgl. John Gerard Ruggie, International Regimes, Transactions, and Change: Embedded Liberalism in the Postwar Economic Order, in: International Organization 36 (1982), S. 379–415. 11 Martin Seeleib-Kaiser, Der Wohlfahrtsstaat in der Globalisierungsfalle. Eine analytischkonzeptionelle Annäherung, in: Zentrum für Europa- und Nordamerikastudien (Hg.), Standortrisiko Wohlfahrtsstaat?, Opladen 1997, S. 73–106, hier S. 86.

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2. Zwischen Markteinhegung und Vermarktlichung Im »sozialpolitischen Dauerhoch«12 der Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg war das Bestreben stark, die Marktabhängigkeit von Individuen und Haushalten einzuschränken und die soziale Sphäre außerhalb des freien Marktgeschehens auszuweiten. Dieser Trend lässt sich als europäische Antwort auf das Scheitern des Marktliberalismus in der Zwischenkriegszeit, als Reaktion auf Diktaturerfahrung und Kriegsfolgen, aber auch als ambitionierter Gegenentwurf zu dem staatssozialistischen Ordnungsmodell jenseits des Eisernen Vorhangs verstehen.13 Ermöglicht vom gesamteuropäischen Wirtschaftsboom, wurde die sozialstaatliche Expansion von der Parteien- und Verbandskonkurrenz sowie der erhöhten Organisationsfähigkeit von Arbeitnehmerinteressen vorangetrieben. Es wäre zwar missverständlich, von der Konvergenz zu einem einheitlichen »europäischen Sozialmodell« zu sprechen. Dafür ist die »komplexe Eigensinnigkeit« der nationalen Arrangements viel zu groß.14 Doch lassen sich einige übergreifende Tendenzen ausmachen, die Lutz Raphael als »partielle Befreiung von arbeitsmarktinduzierten Risiken« bezeichnet hat.15 Dazu zählt der Ausbau allgemein zugänglicher sozialer Dienste und Infrastrukturen. Der »sorgende Staat« hat in diesem Zusammenhang auch einen neuen Typus besonders gut gesicherter Arbeitsplätze geschaffen, der vielen Arbeitnehmern den Aufstieg in die Mittelschichten ermöglichte.16 Die Netze der sozialen Sicherung wurden weiter gespannt, dichter geknüpft und mit einer neuen Leitidee verbunden: Das sozialpolitisch regulierte Transfereinkommen soll den im Erwerbsleben erworbenen Lebensstandard, den relativen sozialen Status, dauerhaft gewährleisten. Diese neue Ansatzhöhe des Sicherungsniveaus zeigte sich bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bei der Ausgestaltung des Arbeitslosengelds, vor allem aber bei der Alterssicherung. In der Bundesrepublik strebte die Einführung der lohnbezogenen dynamischen Rente (1957) eine solche Statussicherheit im Alter an.17 Staaten, die sich für eine vom Markt abgekoppelte, am Status des Staatsbürgers anknüpfende Grundsicherung entschieden hatten, richteten entsprechende Zusatzprogramme ein.

12 Raphael, Sozialstaaten, S. 64. 13 Christoph Boyer, Lange Entwicklungslinien europäischer Sozialpolitik im 20. Jahrhundert. Eine Annäherung, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 25–62, hier S. 33. 14 Franz-Xaver Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, Baden-Baden 2001, S. 799–989, hier S. 979. 15 Raphael, Sozialstaaten, S. 54. 16 Berthold Vogel, Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S. 116–161. 17 Hans Günter Hockerts, Wie die Rente steigen lernte: Die Rentenreform 1957, in: ders., Der Deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 71–85.

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Es ist bemerkenswert, dass der Sozialstaat in der Zeit der Prosperität nicht nur soziale Rechte erweiterte und mit neuen Hilfs- und Fördersystemen die Chancengleichheit zu erhöhen suchte, sondern auch die Verantwortung übernahm, wirtschaftlichen Strukturwandel vorausschauend oder nachsorgend zu bewältigen. Mit Blick auf die Bundesrepublik ist das 1969 verabschiedete, proaktiv angelegte Arbeitsförderungsgesetz bezeichnend. Es verbesserte den individuellen Schutz von Arbeitnehmern gegenüber der vom Strukturwandel hervorgerufenen Arbeitslosigkeit, sah aber auch eine Reihe von Maßnahmen vor, um die berufliche und regionale Mobilität zu erhöhen.18 Eine wichtige sozialpolitische Neuerung lag in der europaweit ausstrahlenden Erfindung des »Sozialplans« in der Strukturkrise des deutschen Steinkohlenbergbaus, die Ende der 1950er Jahre einsetzte. Die Räson bestand darin, das Schrumpfen eines Industriesektors möglichst sozialverträglich zu gestalten. Daher wurden Abfindungen, Übergangszahlungen für ältere Arbeitnehmer bis zum Renteneintritt sowie Umschulungsbeihilfen bereitgestellt. Seither spielten Sozialpläne als Instrumente der nachsorgenden Krisenbewältigung beim Management des ökonomischen Strukturwandels eine zentrale, wenngleich umstrittene Rolle, ab 1990 gerade auch in den neuen Bundesländern. Dem politischen Ziel, Arbeitslosigkeit zu begrenzen, stand hier die Kritik der Kapitalseite entgegen: Sie begriff die Sozialpläne als Beschränkung der unternehmerischen Dispositionsfreiheit und zusätzliche Belastung in einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld, wodurch Anpassungen an veränderte Marktbedingungen letztendlich erschwert würden.19 Eine oft genutzte Marktaustritts-Option lag in der Frühverrentung, die seit Mitte der 1970er Jahre im Zeichen beginnender Massenarbeitslosigkeit von vielen kontinentaleuropäischen Staaten praktiziert wurde. Mit öffentlich subventionierten Brückenkonstruktionen sollten ältere Arbeitnehmer in den Ruhestand übergeleitet werden, statt sie in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. In der Bundesrepublik stützten sich solche Programme auf eine korporatistische Akteurskoalition, die für die Arbeitsbeziehungen der Bonner Republik charakteristisch war: Die Gewerkschaften unterstützten sie, weil damit überschüssige Arbeitskraft stillgelegt wurde, die sonst auf das Lohnniveau gedrückt hätte. Großunternehmen profitierten, weil sie ihre Belegschaften im Zuge von Rationalisierungen auf Kosten der Sozialkassen reduzieren konnten. Und der Staat subventionierte dieses Arrangement, weil es soziale Konflikte dämpfte und die Arbeitslosenstatistik etwas gefälliger aussehen ließ. Allerdings hat der massive Ausbau der Frühverrentungsmöglichkeiten den Sozialkassen sehr hohe Kosten

18 Georg Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 2004. 19 Gerhard A. Ritter, Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 99–106.

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aufgebürdet, so dass diese Strategie der Problembewältigung selbst wieder als Problemerzeuger auf den Plan trat.20 Zieht man Ende der 1970er Jahre einen Bilanzstrich, so wird deutlich: Der Ausbau der sozialen Sicherung hat die Prägekraft der Märkte an vielen Stellen eingehegt und zum Teil auch zurückgedrängt. Freilich verweist die Entwicklung der marktergänzenden Sozialpolitik auch darauf, dass die Marktbezüge von Sozialpolitik, die Eduard Heimann mit dem Begriff der »Doppelstellung« akzentuiert hatte, im Zuge dieser Expansion keineswegs verlorengingen. Über den steigenden Anteil lohnbezogener Beiträge an der Finanzierung sozialer Leistungen wurden Marktbezüge besonders in Sozialversicherungsstaaten sogar weiter gestärkt. Lutz Raphael spricht daher mit Blick auf die Boomphase von einer »Verzahnung von industrieller Arbeitsgesellschaft und Sozialstaat im Zeichen von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung«.21 Für den tiefgreifenden Wandel der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der in den 1970er Jahren einsetzte, ist der Begriff der Globalisierung üblich geworden. Weltweite Verflechtungen vielfältiger Art gewannen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine »zuvor ungekannte Dynamik«.22 In unserem Zusammenhang sind vor allem die rasante Internationalisierung der Wertschöpfungsketten und die globale Entfesselung der Finanzmärkte von Belang. Zwar ist die Frage nach den Folgen für die sozialstaatlichen Arrangements umstritten, zumal man es je nach dem Typ und der Reaktionsweise des jeweiligen Wohlfahrtsregimes mit durchaus unterschiedlichen Wirkungen zu tun hat.23 Ein übergreifender Gesichtspunkt liegt jedoch in der Verwandlung der herkömmlichen »standortgebundenen Absatzkonkurrenz« in eine »Standortkonkurrenz zwischen Staaten«. Damit ist die Tendenz bezeichnet, das »gesamte nationale Regelsystem«, also auch den Sozialhaushalt und die Verteilung der sozialen Lasten, unter dem Aspekt der Attraktivität für das mobile Kapital und die unternehmerische Aktivität in die »Konkurrenz der Standorte« hineinzuziehen.24 Zugespitzt gesagt: Waren zuvor Märkte in Staaten eingebettet, so nunmehr Staaten in Märkte.

20 Bernhard Ebbinghaus / Isabelle Schulze, Krise und Reform der Alterssicherung in Europa, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 269–296, hier S. 282–289. 21 Raphael, Sozialstaaten, S. 62. 22 Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 227. 23 Vgl. Duane Swank, Globalization, in: Francis G. Castles u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of the Welfare State, Oxford 2010, S. 318–332; Peter Starke / Jale Tosun, Globalisierung und Diffusion, in: Herbert Obinger / Manfred G. Schmidt (Hg.), Handbuch Sozialpolitik, Wiesbaden 2019, S. 181–201. Zu den vier Grundmodellen der »Worlds of Welfare« vgl. die einschlägigen Beiträge (Nordic Countries, Continental Western Europe, English-­ Speaking Countries, South European Countries) in Castles u. a., Handbook, S. 586–642. 24 Schlussbericht der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft, hg. v. Deutschen Bundestag, Opladen 2002, S. 226.

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Zur Begleitspur der Globalisierung gehört der Aufstieg des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses.25 Kenner warnen zwar zu Recht davor, den Neoliberalismus als ein in sich geschlossenen Gedankengebilde zu verstehen; dafür waren die Diskussionen zwischen seinen Protagonisten zu heftig. Auch muss zwischen neoliberaler Rhetorik und Abweichungen in der Praxis unterschieden werden.26 Aber im Kern ging es um die »Triade Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung«. Mit anderen Worten: mehr Markt, weniger Staat, verbunden mit dem Primat der Ökonomie und erhöhtem Spardruck auf die öffentlichen Haushalte und die Sozialetats.27 Von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA vorangetrieben, von mächtigen internationalen Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds mit dem Versprechen von Effizienzgewinnen verbreitet, gewann das neoliberale Ordnungsdenken in den 1990er Jahren eine weltweite Hegemonie. Auch die Europäische Kommission, die den Binnenmarkt für den steigenden internationalen Wettbewerb stärken wollte, betrieb eine Politik der Marktöffnung und Deregulierung, die in der 2000 verabschiedeten »LissabonStrategie« mündete.28 Aus alldem ergibt sich: Seit den 1980er Jahren kann man, Lutz Raphaels Formel von der Verwissenschaftlichung des Sozialen abwandelnd, von einer zunehmenden Vermarktlichung des Sozialen sprechen. Dieser Trend hat so gut wie alle OECD -Staaten erfasst, am stärksten in den Bereichen Verkehr, Medien und Kommunikation, aber auch – national unterschiedlich in Tempo, Reichweite und Intensität – in Kernbereichen der sozialen Sicherung.29 Dabei treten vier Tendenzen hervor: (1) die Verlagerung von staatlicher Verantwortung auf private Eigenvorsorge, (2)  der Einbau beziehungsweise die Verstärkung von Marktlogiken in sozialen Sicherungssystemen, (3)  die Privatisierung sozialer Dienste und Infrastrukturen sowie (4) eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die ihren Hauptakzent auf die »employability« der Bürger setzt. 25 Zu den Ursprüngen, Erscheinungsformen und Wirkungen: Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2016. 26 Ebd., S. 25; das folgende Zitat ebd., S. 23. 27 Neben dem »exogenen« Druck ist freilich auch »endogener, selbst produzierter Veränderungsdruck« auf den Sozialstaat zu beachten. Erst das Ineinandergreifen beider Faktorenbündel erklärt den Wandel hinreichend. Vgl. Christine Trampusch, Der erschöpfte Sozialstaat. Transformation eines Politikfeldes, Frankfurt am Main 2009, S. 27 f., die ihrerseits den Schwerpunkt auf die endogenen Prozesse legt. 28 Näheres zur marktstärkenden Politik der EU siehe unten in Teil 2. Doch sollte nicht übersehen werden, dass die Europäische Kommission mit einer ganzen Reihe von Handelsabkommen europäische Anbieter auf dem Binnenmarkt zumindest temporär und partiell vor den Folgen der Globalisierung schützte. Vgl. Raphael, Kohle, S. 41 f. Noch weniger passt die Gemeinsame Agrarpolitik in das verbreitete Bild der EU als »Liberalisierungsmaschine«. 29 Martin Höpner u. a., Liberalisierungspolitik. Eine Bestandsaufnahme des Rückbaus wirtschafts- und sozialpolitischer Interventionen in entwickelten Industrieländern, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63 (2011), S. 1–32.

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Die beiden zuerst genannten Tendenzen lassen sich mit Blick auf den Siegeszug der Idee »Privatizing Pensions« verdeutlichen. Die Weltbank startete 1994 eine Kampagne zur kapitalbasierten (Teil-)Privatisierung der öffentlichen Alterssicherungssysteme.30 Im globalen demografischen Wandel, so argumen­tierte sie, ziehe eine »old age crisis« herauf, die außer Kontrolle zu geraten drohe, wenn die Alterssicherung sich primär auf das staatlich geregelte Umlageverfahren stütze. Notwendig sei daher eine Ausweitung der kapitalbasierten Altersvorsorge. Diese sei demografisch resistenter, zudem könne das Deckungskapital hohe Renditen erwirtschaften, mit denen sich die Last der Sozialabgaben verringern lasse. Beide Argumente beruhten auf wackligen Voraussetzungen, wurden aber im Stil fester Gewissheit präsentiert.31 Besonders stark betonte die Weltbank die Vorzüge einer internationalen Streuung des Deckungskapitals, so dass der Zusammenhang des Konzepts mit der Globalisierung der Finanzmärkte offensichtlich wird. Es verwundert nicht, dass die Weltbank ihrerseits von einem Think-Tank großer europäischer Versicherungskonzerne beeinflusst wurde.32 Initiativen von Seiten der OECD in Paris und der Europäischen Kommission in Brüssel zielten in eine ähnliche Richtung. Dieses veränderte Diskursklima wirkte sich auch in der Bundesrepublik aus. Es gab all jenen Akteuren Auftrieb, die den Beitragssatz zur Rentenversicherung dauerhaft deckeln wollten, um den Anstieg der Lohnnebenkosten zu dämpfen. Dass die interessengeleitete Reformpolitik eine große Durchsetzungschance besaß, hing freilich mit einem besonderen Umstand zusammen: Sie konnte an eine Wertidee andocken, die damals im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand. Gemeint ist die Idee der Generationengerechtigkeit – in der hegemonialen Deutung, dass mehr kapitalgedeckte Privatvorsorge, verbunden mit einer Absenkung des beitragsfinanzierten Rentenniveaus, die nachwachsende Generation entlasten werde. Eben diese Lesart machte nicht zuletzt auch die Grünen zu Parteigängern des »Bringing Private Insurance Back In«.33 Das Ergebnis war die mit dem Namen Riester verknüpfte Rentenreform 2001, ergänzt um das »Nachhaltigkeitsgesetz« 2004.34 In unserem Zusammenhang ist festzuhalten: 30 Mitchell A.  Orenstein, Privatizing Pensions. The Transnational Campaign for Social Security Reform, Princeton / New Jersey 2008. 31 Inzwischen gilt als sicher, dass die demografische Entwicklung zu den Treibern absinkender Realzinsen zählt. Vgl. die Ausführungen von Philip R. Lane, Chefvolkswirt der EZB , 28.11.2019: https://www.bis.org/review/r191129a.htm (aufgerufen am 29.03.2020). 32 Matthieu Leimgruber, Bringing Private Insurance Back In. The Geneva Association as a Transnational Insurance Think Tank (1973–2000s), in: Friederike Sattler / Christoph Boyer (Hg.), European Economic Elites. Between  a New Spirit of Capitalism and the Erosion of State Socialism, Berlin 2009, S. 473–495. 33 Wie ihre rentenpolitische Sprecherin, Katrin Göring-Eckardt, in der Schlussberatung der Riester-Reform hervorhob, hätten die Grünen sogar noch mehr Umgewichtung zugunsten der privaten Vorsorge mitgetragen. Vgl. Stenographische Berichte des Bundestages, 14. Wahlperiode, 26.1.2001, S. 14424. 34 Vgl. zu dieser im Ganzen recht komplizierten Mischung aus Abbau, Umbau und Ausbau der Alterssicherung: Hans Günter Hockerts, Abschied von der Dynamischen Rente. Über

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Mit der Riester-Reform verabschiedete sich die deutsche Politik von dem Ziel, den Statuserhalt der Versicherten allein mit den Mitteln der gesetzlichen Rente zu sichern. Um die Absenkung des Rentenniveaus auszugleichen, wurde ein neuer (staatlich gerahmter) Vorsorgemarkt geschaffen, auf dem kapitalmarktabhängige Alterssicherungsprodukte gehandelt werden. Bisher wurden rund 17 Millionen Verträge auf diesem Markt abgeschlossen. Somit werden Rentner nun auch Rentiers (falls die Kapitaldeckung die versprochenen Erträge denn auch wirklich erwirtschaftet). Damit hat die Riester-Rente das Weltbild des Kapitalanlegers popularisiert und Klienten des Sozialstaats zu Kunden von Finanzdienstleistern gemacht. Das Beispiel der Riester-Rente illustriert also nicht nur die Privatisierungstendenz, sondern auch die Bildung einer neuen Mischform von staatlicher und marktlicher Steuerung, für die sich der Begriff des Wohlfahrtsmarkts eingebürgert hat. Märkte dieses Typs werden politisch konstituiert, sie beziehen private Anbieter in die Produktion und Verteilung von Gütern und Diensten ein, die der Sozialstaat bisher selbst erbracht oder staatsnah organisiert hat, und sie werden in sozialpolitischer Absicht reguliert (Deregulierung zieht insoweit Reregulierung nach sich), so dass die Handlungsoptionen der privaten Akteure entsprechend beschränkt sind.35 Hat die Sozialpolitik sich damit Kräfte des Marktes dienstbar gemacht? Oder haben umgekehrt Markt-Akteure die Sozialpolitik gekapert? Darüber kann man streiten. Was die Privatisierung sozialer Dienste und Infrastrukturen betrifft, die dritte oben genannte Tendenz, so kann beispielsweise auf die Öffnung des Marktes für private Pflegedienstleistungen hingewiesen werden, die 1994 gleichzeitig mit der Einführung der Gesetzlichen Pflegeversicherung erfolgte, ebenso auf eine Privatisierungswelle im Bereich der Krankenhäuser.36 Im deutschen Gesundheitswesen waren schon immer marktnahe Elemente (wie die Vergütung freiberuflich tätiger Ärzte in der ambulanten Versorgung) und marktferne Elemente (wie regulierte Preise und das Prinzip der bedarfsgerechten Versorgung) miteinander verbunden. Die Reformpolitik seit den 1990er Jahren setzte die gesundheitspolitischen Akteure unter starken Effizienz- und Regulierungsdruck, ohne das Verhältnis von Markt und Staat grundlegend neu zu justieren. Allerdings bewirkten Renditeerwartungen der wachsenden Zahl privater Leistungsanbieter in Verbindung mit einem anhaltend starken Kostendruck und neuen Abrechnungsformen, die in der Sphäre des Helfens vermehrt Elemente der Rechenhaftigkeit etablierten, dass sich der Arbeitsalltag medizinischer den Einzug der Demografie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung, in: ders., Sozialstaat, S. 294–324. 35 Frank Nullmeier, Sozialpolitik als marktregulative Politik, in: Zeitschrift für Sozialreform 47 (2001), S. 645–667. 36 Hans Günter Hockerts, Vom Wohlfahrtsstaat zum Wohlfahrtsmarkt? Privatisierungstendenzen im deutschen Sozialstaat, in: Norbert Frei / Dietmar Süß (Hg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 70–87.

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Berufe tiefgreifend veränderte. Er ist seither in zunehmendem Maße durch Arbeitsverdichtung, Taylorisierung und einen Zuwachs dokumentierender Arbeit zu Lasten patientenorientierter Tätigkeiten geprägt. Kommen wir zur vierten Tendenz: Bei der Umpolung von »welfare« zu »workfare« gingen Tony Blair und New Labour voran – mit Anthony Giddens als soziologischem Vordenker. So wird erkennbar, dass wir es hier mit einem Konzept der Modernisierer in der europäischen Sozialdemokratie zu tun haben, das in die Beschäftigungspolitik der EU und in die Hartz-Reformen der rot-grünen Koalition (2002–2005) ausstrahlte. Unter dem Druck einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und in Reaktion auf die globalisierte wirtschaftliche Umwelt versuchten sie, einen »Dritten Weg«37 zu finden, der sich sowohl vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat als auch vom Neoliberalismus unterschied, wie er etwa von der strikt angebotsorientierten Arbeitsmarktpolitik der OECD Job Study von 1994 repräsentiert wurde. Um die Eigeninitiative von Transferempfängern bei der Arbeitssuche zu erhöhen, sollten Anreize und Pflichten stärker miteinander verkoppelt werden. Vor dem Hintergrund einer zunehmend wissensbasierten Ökonomie wollten die Reformer damit sowohl die individuelle Erwerbsfähigkeit Arbeitssuchender als auch die nationale Wettbewerbsfähigkeit in der globalen Standortkonkurrenz verbessern. Auf den Verkehrsschildern des »Dritten Weges« liest man »aktivierender Staat« und »Sozialinvestitionsstaat«. Dies verweist auf ein verändertes Verständnis gesellschaftlicher Teilhabe, das Inklusion nicht mehr in erster Linie als Teilhabe am Wohlstand und öffentlichen Leben, sondern als Arbeitsmarktteilhabe definierte. Somit kam nur ein Teilaspekt des umfassender angelegten Begriffs der Teilhabegerechtigkeit zur Geltung. In der Realität zeigte diese Reformstrategie ein Janusgesicht – je nachdem, ob die disziplinierende (wie oft in Wohlfahrtsstaaten englischsprachiger Länder) oder die befähigend-emanzipatorische Komponente (wie beim nordischen Flexicurity-Modell) die Oberhand gewann, konnte die aktivierende Arbeitsmarktpolitik Drohkulisse oder Chance sein. Auch beim Paradebeispiel der rot-grünen Reformagenda kann man dieses Janusgesicht sehen. »Fördern und Fordern« hieß die entsprechende Formel der Hartz-Reformen: neue Förderinstrumente wie Eingliederungsverein­ barungen und die Öffnung von Fortbildungsprogrammen für die Bezieher von Grundsicherung einerseits und andererseits deutlich verschärfte Zumutbarkeitsregeln bei der Arbeitsaufnahme, erweiterte Mitwirkungspflichten der Leistungsempfänger, sanktionsbewehrte Kontrollen und Überführung der lebensstandardbezogenen Arbeitslosenhilfe in eine existenzminimale Grundsicherung mit Bedürfnisprüfung und geringem Vermögensschutz.38 Kritiker beklagen, Arbeitssuchende würden damit dem Imperativ marktbestimmter

37 Anthony Giddens, The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge 1998. 38 Anke Hassel / Christof Schiller, Der Fall Hartz IV. Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frankfurt am Main 2010, S. 26–50.

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Selbst­optimierung unterworfen.39 Richtet man den Blick allein auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, so mag sein, dass die Hartz-Reformen erfolgreich waren. Unterstützt durch eine wieder anziehende Konjunktur und für die deutsche Wirtschaft günstige Bedingungen im Euro-Raum, gelang der stärkste Abbau von Arbeitslosigkeit seit dem Beginn des »Wirtschaftswunders«. Auch wenn die Wirkungszusammenhänge kontrovers diskutiert werden, lässt sich wohl festhalten, dass »Hartz IV einen spürbaren Beitrag zum Arbeitsmarktaufschwung geleistet«40 hat, gerade auch im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit. Allerdings sind Intention und Wirkung nicht unerheblich auseinandergedriftet. Die Reformer gingen von der Devise aus, dass nahezu jede Arbeit besser sei als Arbeitslosigkeit. Sie lockerten daher den arbeitsrechtlichen Schutz und förderten Beschäftigung an den Rändern des Arbeitsmarkts. Dabei unterschätzten sie jedoch das ganze Ausmaß der Lohnkonkurrenz nach unten, der sie damit Vorschub leisteten. Zahlreiche Unternehmen ergriffen die Gelegenheit beim Schopf und ersetzten reguläre durch prekäre, atypische Beschäftigungsverhältnisse, um Kosten zu sparen. Man kann in den Hartz-Gesetzen somit auch eine Triebfeder für die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors sehen, die soziale Ungleichheitsverhältnisse aufspreizt und über ein sinkendes Beitragsaufkommen die Finanzierungsbasis der Sozialkassen langfristig untergraben kann. Ein wichtiges Glied dieser Wirkungskette lag darin, dass es den Gewerkschaften seit den 1990er Jahren immer weniger gelang, den Flächentarifvertrag durchzusetzen. Inzwischen ist allerdings auch wieder eine Markteinhegung zu beobachten: Mit dem 2015 eingeführten Mindestlohn drängt der Staat den Markt wieder etwas zurück, weil sich erwiesen hat, dass die Tarifautonomie die Aufgabe der Mindeststandardsetzung nicht mehr alleine meistern kann.41

3. Im Zeichen von Globalisierung und Europäisierung Der souveräne Nationalstaat konnte die Regeln nationaler Solidarität in eigener Regie festlegen. Dabei galt die Staatsangehörigkeit als »Grund und Grenze sozialer Garantien«.42 Allerdings haben die Sozialstaaten des kontinentaleuropäischen Typs den exklusiven Bezug zur Staatsbürgerschaft schon bemerkenswert früh 39 Dies ist der Tenor bei Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008. 40 Ulrich Walwei, Hartz IV  – Gesetz, Grundsätze, Wirkung, Reformvorschläge, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44–45 (2019), S. 12–21, hier S. 18. Wesentlich kritischer fällt die Bilanz von Christoph Butterwege aus, der soziale und regionale Disparitäten akzentuiert, Christoph Butterwege / Rainer Hank, Deutschland nach Hartz IV: Zwei Perspektiven, in: ebd., S. 4–11, hier S. 4–7. 41 Dietmar Süß, »Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk«? Überlegungen zu einer Geschichte des Mindestlohns, in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 125–145, hier S. 144 f. 42 Julia Angster u. a., Staatsbürgerschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2019, S. V.

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gelockert. Denn ihr Kernstück, die Sozialversicherung, knüpfte gerade nicht am Status des Staatsbürgers, sondern dem des Arbeitnehmers an. So waren ausländische Arbeitsmigranten in der deutschen Sozialversicherung von Beginn an versicherungspflichtig und leistungsberechtigt. Das schloss zwar Elemente einer »nationalistischen Überformung der Sozialversicherung«43 nicht aus, gipfelnd im Diskriminierungs- und Exklusionsregime des Nationalsozialismus. Bilaterale Sozialversicherungsabkommen, die den sozialen Schutz für »Wanderarbeiter« über Staatsgrenzen hinweg regelten, zählen jedoch zur ältesten Schicht des internationalen Sozialrechts. Nach 1945 entfaltete sich die Internationalisierung der Sozialpolitik auf vielen Ebenen. Unter dem Dach der Vereinten Nationen etablierte sich eine Reihe intergouvernementaler Organisationen, um länderübergreifende soziale Probleme durch internationale Zusammenarbeit anzugehen: die UNESCO mit einem bildungspolitischen Auftrag, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die (bereits 1919 gegründete) Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Viele Programme dieser Organisationen zielten eher auf die Dritte als auf die Erste Welt, und sie litten im Systemkonflikt des Kalten Krieges unter Blockaden. Gleichwohl trat gerade die ILO mit dem Anspruch auf, zentrale Fragen internationaler Sozialpolitik unter Einbeziehung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu verhandeln.44 Ihr wichtigstes Instrument besteht in der Ausarbeitung globaler sozialer Standards, die dann, soweit sie von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden, den Status internationaler Verträge erhalten. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die 1961 gründete Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verfolgen wirtschaftspolitische Ziele. Ihre marktöffnende Politik hatte jedoch erhebliche Folgen für die sozialen Sicherungssysteme, von denen bereits im Kontext der Riester-Rente die Rede war. Während ILO, WHO und OECD nur über kleine Budgets verfügen, steht der Weltbank und dem IWF durch die Möglichkeit, Kreditnehmer zu Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben und zu Privatisierungsanstrengungen zu verpflichten, ein wirkmächtiges sozialpolitisches Einflussinstrument zur Verfügung. International aktive Nichtregierungsorganisationen (NGOs) identifizieren grenzüberschreitende sozialpolitische Probleme, wie etwa Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechte in transnationalen Wertschöpfungsketten mitunter schneller als Regierungsorganisationen und gehen durch die Mobilisierung großer, oft globaler Öffentlichkeiten dagegen vor. Man kann darin eine Form zivilgesellschaftlicher »Globalisierung von unten« sehen, die eine zunehmend wichtige Rolle bei der Etablierung weltweiter Sozialstandards spielt und dabei Funktionen übernimmt, die in nationalstaatlich geprägten Handlungsräumen 43 Stefan Stegner, Zwischen Souveränität und Ökonomie. Zugehörigkeitskonstruktionen durch die Sozialversicherung im deutsch-polnischen Verhältnis 1918–1945, Baden-Baden 2018, S. 115. 44 Daniel Maul, The International Labour Organization. 100 Years of Global Social Policy, Berlin 2019.

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von älteren sozialen Bewegungen wie den Gewerkschaften wahrgenommen wurden. An beide Organisationstypen lagerten sich Expertennetzwerke an, »epistemic communities«, deren Mitglieder fachspezifische Normen, Kausalannahmen und Problemlösungsansätze teilten. Deren Reformempfehlungen, vor allem aber Formen kommunikativer Sozialpolitik wie bewertende Berichte zu einzelnen Ländern und Handlungsfeldern, »best practice-reports« sowie die Bereitstellung valider Datensätze konstruieren den sozialpolitischen »Wissensraum«45 als globales Handlungsfeld. Seit den 1990er Jahren sind NGOs als öffentlichkeitswirksames Gegengewicht zu neoliberal geprägten Globalisierungsprozessen hervorgetreten. Gewaltsame Unruhen, wie anlässlich der WTO -Konferenz in Seattle 1999 verweisen darauf, dass der vermutete Einfluss internationaler Organisationen auf die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung längst einen Ausgangspunkt weltumspannender Protestbewegungen bildet. Allerdings sind die empirischen Grundlagen dieser Wirkungsvermutung nicht durchweg belastbar. Einerseits steht die treibende Rolle der Weltbank und des Internationen Währungsfonds bei der Privatisierung von Altersversorgung, Gesundheitsdiensten und sozialen Infrastrukturen nach dem Ende des Kalten Krieges außer Frage. Es ist daher plausibel, in internationalen Organisationen »wichtige Impulsgeber für die Ausgestaltung nationaler Sozialpolitiken, für die Entwicklung globaler Regulierung« und in jüngerer Zeit auch zunehmend für die »Definition globaler sozialer Rechte« zu sehen.46 Andererseits gibt es wenig Evidenz für die These, dass internationale Organisationen eine globale Homogenisierung nationaler Sozialpolitiken bewirkt hätten.47 Wie kann man diesen Befund erklären? Ein Ansatzpunkt ergibt sich aus der Art und Weise, wie internationale Sozialstandards rechtlich implementiert werden. Das internationale Sozialrecht adressiert in erster Linie Staaten. Es begründet also, anders als EU-Recht, in der Regel keine individuell einklagbaren Ansprüche. Wichtiger noch: Multilaterale Vereinbarungen werden erst nach Zustimmung der nationalen Parlamente verbindlich und bedürfen der Überführung in nationales Recht.48 Diese Ausstiegsoption im Falle von Zielkonflikten mit nationalem Recht führt dazu, dass sich das internationale Sozialrecht auf Prinzipielles und Programmatisches beschränkt, wie das für die Konventionen der ILO typisch ist. Internationale Organisationen wie die ILO bleiben auch bei 45 Lessenich, Theorien, S. 130. 46 Martin Heidenreich u. a., Europäische und internationale Politik, in: Marius R.  Busemeyer u. a. (Hg.), Wohlfahrtspolitik im 21. Jahrhundert. Neue Wege der Forschung, Frankfurt am Main, S. 74–87, hier S. 76. Die Trendwende »against the targeting and privatising view«, und eine »renewed emphasis on universalism« seit Mitte der 2000er Jahre betont Bob Deacon, Global Social Policy & Governance, Los Angeles 2007, S. 171. 47 Klaus Armingeon, Intergovernmental Organizations, in: Castles u. a. (Hg.), Handbook, S. 306–317, hier S. 314. 48 So ist die wichtige ILO -Konvention Nr. 102 über soziale Mindeststandards bisher nur von 55 der 187 Mitgliedstaaten ratifiziert worden (Stand 2019).

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der Umsetzung auf die Mitwirkung ihrer Mitgliedstaaten angewiesen. Sie verfügen trotz ausgefeilter Kontrollverfahren kaum über Sanktionsmöglichkeiten und gelten daher manchem als »zahnloser Tiger«.49 Zudem spielt das nationale Bedingungsgefüge, in das internationale Organisationen hineinwirken, eine wichtige Rolle. In den verwundbaren Staaten Lateinamerikas und Osteuropas entfalteten Weltbank und IWF durch die Konditionen ihrer Kreditvergabe eine massive Hebelwirkung, die letztlich zu mehr Markt und weniger öffentlicher Daseinsvorsorge führte. Im stabilen Akteursgefüge des deutschen Sozialstaats konnten ähnliche Reformvorschläge der OECD hingegen kaum Einfluss gewinnen.50 Offenbar stößt die Überführung von Reformvorschlägen internationaler Organisationen in nationale Politik auf einen erheblichen »Eigensinn« nationaler Akteure. Diese nutzen Reformempfehlungen pragmatisch zur Legitimation ihrer Politik oder auch zur Delegation der Verantwortung für unpopuläre Schritte.51 Auch scheint es, dass in europäischen Wohlfahrtsstaaten Reformstrategien weniger durch internationale Organisationen vermittelt werden, als durch »policy borrowing« von einzelnen Ländern, deren Problemlösungen auf bestimmten Feldern als besonders erfolgreich gelten. Schließlich gilt ganz generell, dass die Effekte »weicher« Steuerungsformen schwer zu messen sind.52 Wohlfahrtsstaaten sammeln Informationen und produzieren Wissen im europäisch-atlantischen und zunehmend auch im globalen Beziehungs- und Kommunikationsraum. Richtung und Intensität solcher Informationsströme lassen sich vergleichsweise gut erfassen, besonders dort, wo staatliche Administrationen eigene Beobachtungspunkte aufbauen, oder die Sozialstaatsbeobachtung wissenschaftlich institutionalisiert wird, wie dies 1980 mit der Gründung des Münchner Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht geschah. Allerdings folgt aus einer geschärften Wahrnehmung nicht notwendig eine Übernahme sozialpolitischer Programme, so dass weitere Informationen darüber notwendig wären, welche Rolle zum Beispiel Wissenschaftler und andere sozialpolitische Experten bei der Übersetzung solcher Beobachtungen in politische Programme spielten.53 Beim derzeitigen 49 Angelika Nußberger, Die Implementierung der sozialrechtlichen Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation und des Europarats in: Ulrich Becker u. a. (Hg.), Die Implementierung internationaler Sozialstandards. Zur Durchsetzung und Herausbildung von Standards auf überstaatlicher Ebene, Baden-Baden 2006, S. 57–76, hier S. 76. 50 Reimut Zohlnhöfer / Jan Zutavern, Too many rivals? The OECD’s influence on German welfare policies, in: Klaus Armingeon / Michelle Beyeler (Hg.), The OECD and European Welfare States, Northampton / M A 2004, S. 126–138, hier S. 136 f. 51 Armingeon, Organizations, S. 314, 317. 52 Klaus Armingeon, Inter- und supranationale Herausforderungen der nationalen Sozialpolitik, in: Obinger / Schmidt, Handbuch, S. 515–536, hier S. 527. 53 Eine solche Figur ist z. B. Hans Matthöfer, der Ende der 1950er Jahre als Gewerkschaftsvertreter in Washington und Paris arbeitete und später eine wichtige Rolle bei der bundesdeutschen Rezeption der Diskussion über die Humanisierung der Arbeit spielte. Werner Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer, Bonn 2009.

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Informationsstand bleibt daher nur zu konstatieren, dass der Einfluss von internationalen Organisationen auf die Sozialpolitik der entwickelten Wohlfahrtsstaaten West- und Nordeuropas eher »beschränkt« und »hochgradig situationsabhängig« war.54 Wenden wir uns nun dem Prozess der europäischen Integration zu, der die internationale Verflechtung der Sozialpolitik besonders stark forciert hat. Bekanntlich ist die EU als Projekt der Marktintegration entstanden: Der 1957 geschlossene EWG -Vertrag führte die Mitgliedstaaten mit dem Ziel eines »Gemeinsamen Marktes« zusammen, und die Einheitliche Europäische Akte (1986) gab der Vergemeinschaftung unter der Bezeichnung »Binnenmarkt« bzw. »Raum ohne Binnengrenzen« einen neuen Schub. Damit war die sukzessive, vor allem vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vorangetriebene Durchsetzung der sogenannten vier Grundfreiheiten verbunden, und gerade diese Triebkraft, also die freie Bewegung von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und Personen – in gewissem Maße auch das europäische Wettbewerbsrecht – veränderte die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt und öffnete den nationalstaatlichen ›Container‹. So entstand eine komplizierte Melange von »National and European Social Policy«.55 Mit einigem Mut zur Vereinfachung kann man folgende fünf Modi der sozialpolitischen Europäisierung unterscheiden: (1) Am Anfang stand das koordinierende Sozialrecht. Ursprünglich auf »Wanderarbeitnehmer« gemünzt, später auch auf Selbständige ausgedehnt, sollte es verhindern, dass soziale Rechte verloren gehen, wenn Erwerbstätige von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen. Daher verknüpfte dieser Regulierungsmodus die nationalen Sozialleistungssysteme so miteinander, dass Erwerbs­tätige nicht mit nachteiligen Folgen rechnen müssen (aber auch keine doppelten Leistungen erhalten), wenn sie unionsweit zu- und abwandern. Auf etliche Verordnungen und eine lange Serie von EuGH-Urteilen gestützt, ist somit im Lauf der Zeit ein ausgefeiltes Regelwerk entstanden, das den »bis heute am weitesten fortgeschrittenen Teil der EU-Sozialpolitik« bildet.56 Die administrative Umsetzung funktioniert bemerkenswert gut, so dass man leicht die Leistung unterschätzt, 54 Heidenreich, Politik, S. 82. 55 Manfred G. Schmidt, National and European Social Policy, in: Daniel Beland u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of the Welfare State, Oxford 22020 (i. E.). Aus der Fülle der Literatur: Stephan Leibfried / Paul Pierson, Soziales Europa. Bilanz und Perspektiven, in: Hans-Dieter Klingemann / Friedhelm Neidhardt (Hg.), Zur Zukunft der Demokratie. Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2000, S. 321–362; Ulrich Becker, Der Sozialstaat in der Europäischen Union, in: ders. u. a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 313–335. 56 Eberhard Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa. Von der »sozialen Frage« bis zur Globalisierung, München 2007, S. 101. Ein weites, noch wenig erforschtes Feld ist die Sozialgeschichte der innereuropäischen Wanderung. Als Eckdaten 2017: Von 201 Millio­ nen Beschäftigten in der EU arbeiteten rund 16 Millionen längere Zeit oder dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat; 1,7 Millionen überquerten täglich eine Grenze. Vgl. Europäische Kommission, Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas, COM (2017) 206 final, S. 11, 18. 

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die von den nationalen Verwaltungen in dieser Hinsicht erbracht wird. Die Koordinierungsregeln wirken insofern entgrenzend, als bestimmte Sozialrechtspositionen  – insbesondere die mit Beiträgen erworbenen Anwartschaften  – nicht mehr auf das nationale Staatsgebiet beschränkt werden können. Bisher ist wenig untersucht worden, ob und wie diese Folgewirkung in das Kalkül der nationalen Sozialpolitik eingeht – wo sie durchaus hemmend wirken kann. So scheiterte beispielsweise die Idee einer Grundrente in der Bundesrepublik 1987 nicht zuletzt an dem Einwand, dass EG -Ausländer diese Leistung exportieren könnten, »wodurch ein erhebliches Ausgabenrisiko entstünde«.57 In der aktuellen deutschen Grundrentendebatte spielt dieser Gesichtspunkt anscheinend keine gewichtige Rolle mehr. (2) Für eine weitere Form europäischer Sozialpolitik hat sich der Begriff der negativen Integration eingebürgert. Diese zielt darauf, die Marktvereinbarkeit sozialpolitischer Arrangements zu erhöhen (wobei der ›negativ‹ wertende Unterton verrät, dass sich hier der Sprachgebrauch von Marktskeptikern durchgesetzt hat). In dieser Hinsicht tritt der EuGH als Hauptakteur hervor: Das europäische Höchstgericht neigt dazu, die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht als Liberalisierungsgebote auszulegen und hat daher mit vielen Beschlüssen darauf hingewirkt, ›beschränkende‹ nationale Regelungen marktfreundlich anzupassen. So rüttelte das Gericht zum Beispiel 1991 am Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit, woraufhin – freilich nicht ohne Zutun einer von der Regierung Kohl eingesetzten »Deregulierungskommission« – auch private Vermittler zugelassen wurden. Eine ganze Heerschar von Kritikern hat die negative Integration ins Visier genommen, weil sie darin nur oder vor allem eine »destruktive Wirkung« sieht.58 Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass der Abbau nationaler Einhegungen des freien Marktgeschehens ohne Aufbau eines supranationalen Äquivalents die »soziale Dimension« der EU gefährdet. Zum ganzen Bild gehören jedoch auch Aspekte wie diese: Lohnfindung, Koalitions- und Streikrecht, mithin Grundelemente des demokratischen Sozialstaats, sind aus der Zuständigkeit der EU ausgeklammert.59 Da der betrieblichen Mitbestimmung eine »hervorragende Bedeutung« für die »Verankerung unserer Demokratie im beruflichen Alltag« zukommt, sei hinzugefügt: Der EuGH hat 2017 eine Klage abgewehrt, die sich aus der Unterschiedlichkeit nationaler Regelungen zur Unternehmensmitbestimmung ergab – und diese somit geschützt.60 Die Mitgliedstaaten haben es zudem weitgehend in der Hand, ihre Sozialleis57 Winfried Schmähl, Alterssicherungspolitik in Deutschland. Vorgeschichte und Entwicklung von 1945 bis 1998, Tübingen 2018, S. 802. 58 Fritz W. Scharpf, Weshalb die EU nicht zur sozialen Marktwirtschaft werden kann, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 7 (2009), S. 419–434, hier S. 434. 59 Allerdings ist die sogenannte Viking / Laval-Rechtsprechung des EuGH (2007), die es mit ungewöhnlich komplex gelagerten Fällen zu tun hatte, auf heftige Kritik gestoßen, weil darin Übergriffe auf das Feld der kollektiven Arbeitsbeziehungen gesehen wurden. 60 Lutz Raphael, Von der Revolution zur Routine? 100 Jahre Demokratie in Deutschland, in: Neues Trierisches Jahrbuch 59 (2019), S. 207–222, hier S. 215. Das EuGH-Urteil vom

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tungssysteme so auszugestalten, dass sie dem Wettbewerbsrecht entzogen sind.61 So war die Bundesrepublik zum Beispiel nicht verpflichtet, den Internet-Versandhandel mit rezeptpflichtigen Medikamenten zuzulassen; mit der Erlaubnis hat sie sich jedoch in den Geltungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts hineinmanövriert. Und was die sozialpolitisch motivierten Beschränkungen der Grundfreiheiten betrifft, so unterzieht der EuGH sie im Streitfall zwar einer Art Rechtfertigungstest (was die Beweislast sonderbar umkehrt), anerkennt aber wesentliche Gründe. Zu bedenken sind auch Anzeichen eines Umdenkens im Zeitverlauf. Der jüngeren EuGH-Rechtsprechung wird die Tendenz attestiert, »wirtschaftliche Freiheit und soziale Rechte und Ziele prinzipiell gleich zu gewichten«.62 Dabei spielt der richterliche Bezug auf die Europäische Grundrechtecharta eine Rolle, die 2009 für die Organe der Union (und für die Mitgliedstaaten, wenn sie EU-Recht umsetzen) bindend wurde und im Kapitel »Solidarität« auch soziale Grundrechte enthält. Doch schon 2003 war erkennbar: »More and more frequently, policy measures are taken to correct the outcomes of market integration and to contain negative integration«.63 (3) Dies führt uns zum Aspekt der positiven Integration. Einer marktkorrigierenden Logik folgend, passt sie durchaus nicht in das Bild der EU als »Liberalisierungsmaschine«.64 So ließen sich hier viele Beispiele für wirksame europäische Verordnungen im Arbeitsschutz, auch im Verbraucher- und Umweltschutz, anführen. Die »Entsenderichtlinie« schränkt die Dienstleistungsfreiheit ein, um den nationalen Arbeitsmarkt vor einem Ansturm ausländischer Billigkonkurrenz zu schützen: Sie erstreckt den nationalen Kernbestand kollektivvertrag­ licher Absprachen auf ausländische Arbeitnehmer, die in einen Mitgliedstaat entsandt werden. Als Paradebeispiel für die Erfolgsgeschichte positiver Integration gilt indes die Anti-Diskriminierungspolitik, mit der die EU jedes gegenläufige nationale Recht aushebelt. Sie begann mit dem Gebot der Lohngleichheit für Mann und Frau, wurde dann generell auf Geschlechtergleichheit »im Arbeitsmarkt« ausgeweitet und erfasst inzwischen nicht weniger als 18 Antidiskriminierungstatbestände. Man kann darin mit Recht das »weltweit stärkste rechtliche Antidiskriminierungsprogramm« sehen,65 freilich auch darüber nachsinnen,

61 62 63 64 65

18.7.2017: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE /SUM /?uri= CELEX :62015CJ0566 (aufgerufen am 29.03.2020). Becker, Sozialstaat, S. 323. Anuscheh Farahat / Christoph Krenn, Der Europäische Gerichtshof in der Eurokrise. Eine konflikttheoretische Perspektive, in: Der Staat 57 (2018), S. 357–385, hier S. 376. Adrienne Héritier, Containing Negative Integration, in: Renate Mayntz / Wolfgang Streeck (Hg.), Die Reformierbarkeit der Demokratie. Innovationen und Blockaden, Frankfurt am Main 2003, S. 101–121, hier S. 102. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 32018, S. 190. Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 550.

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ob die besonders starke Expansion gerade dieses Regulierungsfelds damit zusammengehängt, dass es die Staaten zumeist nichts kostet. Anders als die negative Integration, die als akzessorisches Anhängsel des Binnenmarkts betrachtet werden kann, geht die positive Integrationslogik einen entscheidenden Schritt weiter: Sie löst soziale Bürgerrechte vom Kriterium der Erwerbstätigkeit und zielt somit auf eine »Verselbständigung transnationaler sozialer Rechte«.66 Das ist schon an der massiven Ausweitung der Antidiskriminierungspolitik erkennbar, aber auch an Entwicklungen, die mit den Stichworten Gesundheitsleistungen und Unionsbürgerschaft hier nur kurz angedeutet werden können. Der EuGH hat in den späten 1990er Jahren bewirkt, dass Gesundheitsleistungen grenzüberschreitend in Anspruch genommen werden können, etwa »Brillen aus Luxemburg und Zahnbehandlung in Brüssel«.67 Während beitragsabhängige Geldleistungen im Rahmen der Koordinierung schon immer exportiert werden konnten, sind seither auch medizinische Dienst- und Sachleistungen im Unionsraum entgrenzt. Dass dabei zwischen ambulanter und stationärer Behandlung unterschieden wird, hat einen guten Grund: Damit nimmt die EU Rücksicht auf den Planungshorizont und das finanzielle Gleichgewicht der nationalen Kostenträger.68 Die mit dem Maastrichter Vertrag (1992) eingeführte Rechtsfigur der Unionsbürgerschaft – sie tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ist von ihr abgeleitet, ersetzt sie aber nicht – entkoppelt die Freizügigkeitsrechte ganz grundsätzlich von wirtschaftlichen Bezügen.69 Damit kam eine brisante Frage auf die Tagesordnung, die alle Beteiligten bis heute in Atem hält: Inwieweit öffnet die vom Marktgeschehen losgelöste Freizügigkeit der Unionsbürger, kombiniert mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, die Tür zu den sozialen Rechten des Einwanderungslands? Dabei stehen wohlgemerkt nicht die beitragsabhängigen Leistungen in Frage, die ja auf eigenen Vorleistungen beruhen – umso mehr aber die steuerfinanzierten Transfers, die einen Anreiz für den Zuzug mittelloser Migranten bilden können. Eine Weile sah es so aus, als ob der EuGH eine extensive Auslegung bevorzugen würde. Berühmt ist das Urteil im Fall eines französischen Clochards, dem der EuGH im Jahr 2004 den Anspruch auf Sozialhilfe in Belgien zusprach, wo er sich rechtmäßig, aber

66 Thorsten Kingreen, Epochen der Europäisierung des Sozialrechts, in: Peter Masuch u. a. (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Berlin 2014, S. 313–331, hier S. 318. 67 Diesen Titel trägt der erläuternde Beitrag von Ulrich Becker, Brillen aus Luxemburg und Zahnbehandlung in Brüssel  – Die Gesetzliche Krankenversicherung im europäischen Binnenmarkt, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht 7 (1998), S. 359–364. 68 Die Kostenübernahme für stationäre Behandlungen im EU-Ausland dürfen Krankenkassen bzw. nationale Gesundheitsdienste von einer Vorabgenehmigung abhängig machen – sonst liefe das supranationale Recht Gefahr, die Funktionsbedingungen des nationalen sozialen Schutzes zu untergraben. 69 Zur Unionsbürgerschaft und ihren Rechtsfolgen vgl. Gosewinkel, Schutz, S. 601–629.

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ohne Bezug zum Arbeitsmarkt in einem Obdachlosenheim aufhielt. Dieser Herr hatte, gewitzt gesehen, das »Zeug zum Vorzeigeeuropäer«, weil er so gar nicht zu dem immer wieder gezeichneten »Zerrbild einer marktfundamentalistischen Union« passte.70 Ein nicht minder berühmter Fall aus dem Jahr 2016 markiert jedoch eine deutliche Wende: Nun hielt der EuGH es für gerechtfertigt, dass einer rumänischen Frau, die sich nicht zur Arbeitssuche in Deutschland aufhielt, die Sozialhilfe verweigert wurde.71 Zweifellos spielte bei dieser Kehre die Befürchtung eine Rolle, dass die Armutsmigration in die wohlhabenden EU-Staaten zu stark zunehmen könnte. Bei der Eindämmung half die kunstvolle Unterscheidung zwischen dem Recht »auf« und den Rechten »im« Aufenthalt. Mit der Stellschraube des Aufenthaltsrechts können die Mitgliedstaaten die Inanspruchnahme sozialer Leistungen großenteils selbst steuern. Die »Aufenthaltsrichtlinie« der EU (2004) nimmt sie nur wenig an die Kandare, denn dort wird bei einem längeren Aufenthalt als drei Monate verlangt, dass der Unionsbürger »für sich und seine Familien­angehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen«. Das wiederum gilt aber nicht, sofern der Aufenthalt zum (nicht immer eindeutig nachweisbaren) Zweck der Erwerbstätigkeit genommen wird. Insgesamt ist das Zusammenspiel von Unionsbürgerschaft, Aufenthalts- und Sozialrecht so kompliziert, auch widersprüchlich, dass selbst ausgefuchste Sozialrechtsexperten von Unübersichtlichkeit, Konfliktlinien und Unklarheiten sprechen – zum Trost für Zeithistoriker, die in diesem Labyrinth nur schwer einen roten Faden finden.72 Insgesamt ist festzuhalten: Die Rechtsfigur der Unionsbürgerschaft changiert einstweilen eher unentschieden zwischen den Merkmalen der Sozialund der Marktbürgerschaft. Oder anders gesagt: »Der volle Genuss der sozialen Rechte bleibt den Staatsbürgern eines Mitgliedstaats vorbehalten«.73 (4) Bisher war von bindenden rechtlichen Vorgaben die Rede: Verordnungen, Richtlinien, Richtersprüche. Hartmut Kaelble hat indes betont, dass der »intensive transnationale Austausch zwischen Experten, Politikern, Administratoren, Intellektuellen und zivilgesellschaftlichen Organisationen über Konzepte und Politiken der öffentlichen sozialen Sicherung« eine wichtige, gleichwohl oft

70 Thorsten Kingreen, Das Europa der Wohlfahrtsstaaten und die Schwierigkeiten eines sozialen Narrativs für die Europäische Union, in: Claudio Franzius u. a. (Hg.), Die Neuerfindung Europas. Bedeutung und Gehalte von Narrativen für die Europäische Union, Baden-Baden 2019, S. 131–146, hier S. 135. 71 Walter Frenz, Europarecht, Berlin 22016, S. 125–128. 72 Ulrich Becker, Die Europäische Union, die Freizügigkeit und das deutsche Sozialleistungssystem – zur (Er-)Klärung schwieriger Verhältnisse, in: Sozialrecht aktuell, Sonderheft 2015, S. 1–7. 73 Gosewinkel, Schutz, S. 621.

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übersehene Seite der Entwicklung des europäischen Wohlfahrtsstaats sei.74 So lässt sich auch die europäische Sozialpolitik als Konstruktion eines grenzüberschreitenden »Wissensraums« begreifen. Parallel zur sozialrechtlichen Integration entstand im Umfeld der EWG -Kommission und des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften ein Europa der Begriffe und Zahlen, die Formate der Welterfassung bereitstellten, Handlungsbedarf artikulierten und gemeinsame Problemformulierungen eng mit Vorstellungen über mögliche Problemlösungen verbanden.75 Insofern war auch die Statistik »Wegbereiter einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik«76, die vor allem dort Bedeutung erlangte, wo andere Wege der Integration nicht zur Verfügung standen. Seit dem Amsterdamer Vertrag (1996) ist daraus das Steuerungsinstrument der »Offenen Methode der Koordinierung« (OMK) hervorgegangen. Hier geht es – jedenfalls der Intention nach – um wechselseitiges Lernen. Dabei hat sich der Akzent in der Nutzung statistischer Informationen von der Beschreibung sozialer Verhältnisse hin zur Evaluation von Politik verschoben. Ein geregeltes Verfahren führt Akteure auf europäischer und nationaler Ebene zusammen, damit sie sich auf dem Weg des Informationsabgleichs, des »Benchmarking« und der Suche nach »best practices« über Reformkorridore verständigen. Es wird somit angestrebt, über »kognitive Konvergenz« in den Verhandlungsräumen politischer Planer und Experten zu »politischer Konvergenz« zu gelangen.77 Ob die OMK sich auf dem Feld der Sozialpolitik als wirkungsvolles Instrument erwiesen hat, ist umstritten. Manches spricht dafür, dass sie ihre wirksamste Zeit als Bestandteil der Lissabon-Strategie hatte. Damals hat sie die Politik der »Aktivierung« und der kapitalgedeckten Teilprivatisierung der Rentenversicherung doch recht deutlich mit europaweiter Tendenz bestärkt, wenngleich die unmittelbare Verantwortung in der Hand der nationalen Regierungen und Parlamente blieb. Inzwischen ist die OMK in den Schatten anderer Steuerungsansätze getreten, die im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise ausgebaut worden sind.

74 Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 355. 75 Dazu zählen etwa Bemühungen um ein europäisches Sozialbudget, das 1974 erstmals vorgelegt wurde. Seine Geschichte verweist allerdings auch auf die enormen Schwierigkeiten der Harmonisierung solcher Kategorien. Erst seit 2010 ist die Darstellung im deutschen Sozialbudget identisch mit der des EU-Sozialbudgets. 76 Mariette Fink / A nne Lammers, Ungleichheiten harmonisieren. Ungleichheit und Sozialstatistiken in den Europäischen Gemeinschaften (1957–1978), in: Karim Fertikh u. a. (Hg.), Ein soziales Europa als Herausforderung – L’Europe sociale en question. Von der Harmonisierung zur Koordination sozialpolitischer Kategorien, Frankfurt am Main 2018, S. 117–139, hier S. 134. 77 Hans-Jürgen Wagener / Thomas Eger, Europäische Integration. Wirtschaft und Recht, Geschichte und Politik, München 22009, S. 562.

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(5) Last but not least muss von indirekt wirkenden Anpassungszwängen die Rede sein. Hier ist zunächst der tiefe Einschnitt zu betonen, den die Europäische Währungsunion im Gefolge des Maastrichter Vertrags bewirkt hat. Damit entfielen zum einen die Hebel einer nationalen Wechselkurs- und Zinspolitik. Umso mehr kommen seither die Lohnkosten und die »lohnnahen Sozialkosten« als Faktoren der makroökonomischen Steuerung in den Blick, was die Tarifparteien entsprechend stärker belastet.78 Zum anderen verlangen die Maastrichter Stabilitätskriterien, fortgeschrieben mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997, von den Mitgliedstaaten eine hohe Budgetdisziplin, was sich gerade auf den größten Haushaltsposten – zumeist also die soziale Sicherung – restriktiv auswirken kann. Im Strudel der Euro- und Staatsschuldenkrise, die von der internationalen Finanzkrise ausgelöst wurde, kam es ab 2010 zu einem weiteren Schub an Regelungen und Kontrollverfahren, mit denen die nationale Haushaltsdisziplin gesteigert und makroökonomische Ungleichgewichte verhindert oder behoben werden sollen. So verpflichtet der Europäische Fiskalpakt von 2012 dazu, bestimmte Schuldenbremsen in den nationalen Rechtsordnungen zu verankern, andernfalls drohen Sanktionen. Insolvenzgefährdete Staaten, die sich unter den europäischen »Rettungsschirm« begeben haben, bekamen es mit harten Sparauflagen zu tun – infolge der dominanten, aber hoch umstrittenen Austeritätspolitik der EU. Hinzu kamen auch neue Instrumente zur »weichen« Einflussnahme, so das Europäische Semester, ein verbindlich vorgegebener Rahmen, in dem die Kommission und der Rat die haushaltspolitisch und makroökonomisch relevanten Vorhaben der Mitgliedstaaten im Vorhinein prüfen und länderspezifische Empfehlungen geben. Diese betreffen auch die Sozialpolitik, soweit ihr fiskalisches und / oder wirtschaftliches Gewicht beigemessen wird. So monierte die Kommission 2017 mit Blick auf die Bundesrepublik unter anderem die beitragsfreie Mitversicherung von Ehegatten in der gesetzlichen Krankenversicherung, denn diese Vergünstigung könne von der »Aufnahme einer Erwerbstätigkeit« abhalten.79 Allerdings sind die Empfehlungen nicht rechtsverbindlich, so dass auch in diesem Fall kommen kann, was Beobachter andernorts festgestellt haben: »Staaten pfeifen auf Brüsseler Empfehlungen«.80 78 Florian Rödl, Die dialektische Entwicklung des Sozialen im Prozess der europäischen Integration. Die Dimension der kollektiven Arbeitsbeziehungen, in: Masuch u. a., Grundlagen, S. 539–556. 79 Vgl. Empfehlung des Rates zum nationalen Reformprogramm Deutschlands 2017: http:// data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9296-2017-INIT/de/pdf (aufgerufen am 09.03.2020). 80 Staaten pfeifen auf Brüsseler Empfehlungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.6.2014, S. 19. Generell zum beträchtlichen Ausmaß der Verzögerung und Umgehung von EU-Vorgaben: Tanja A. Börzel / Moritz Knoll, Quantifying Non-Compliance in the EU. A Database on EU Infringement Proceedings, Working Paper on European Integration, Nr. 15, Berlin 2012.

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4. Fazit und Ausblick Die Weltfinanzkrise, die nach 2008 in eine Staatsschulden- und Eurokrise überging, ist nicht von einem Übermaß an Sozialstaatlichkeit ausgelöst worden. Verantwortlich war vielmehr ein entfesselter Finanzmarktkapitalismus. Diese Erfahrung hat den markigen Ton des Marktliberalismus in Europa leiser werden lassen und die Bedeutung des Staates als Schutzinstanz wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Wie ein Lehrstück konnte die deutsche Krisenreaktion aufgefasst werden: Mit dem Mittel der staatlich subventionierten Kurzarbeit und dem konzertierten Zusammenwirken der Tarifparteien überstand die Bundesrepublik die Folgen der 2008 einsetzenden Rezession deutlich besser als andere Staaten.81 In den drei Dekaden zuvor hatte, wie wir sahen, die Triade Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung einen epochalen Trend zur Vermarktlichung des Sozialen bewirkt. Dieser löste einen Anpassungs- und Reformdruck aus, der sich im deutschen Beispielsfall vor allem in den Bereichen Alterssicherung und Arbeitsmarkt bemerkbar machte. Unser Beitrag rückte daher zum einen die Teilprivatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung und die Entstehung eines neuen Typs von »Wohlfahrtsmarkt« in den Blick, zum anderen die ›aktivierende‹ Arbeitsmarktpolitik, zu deren Repertoire der Abbau von arbeits- und sozialversicherungsrechtlichem Schutz gehörte. Dieser Abbau betraf weniger die Kern- als die Randbelegschaften, was zu einer Aufspaltung des Arbeitsmarkts beitrug: hier relativ gut geschützte Insider, dort die »Flexibilitätsreserve« der atypisch Beschäftigten. Zu betonen ist jedoch auch: Die am deutschen Beispiel betrachteten Reformen waren nicht marktradikal. Sie rüttelten nicht an den Grundpfeilern des Sozialstaats. Auch in der Alterssicherung – dem relativ größten Ausgabenblock – blieb der Staat der wichtigste Garant. Das ist schon daran zu erkennen, dass für die gesetzliche Rentenversicherung ein fünffach höherer Prozentsatz des Arbeitslohns abgezweigt wird als für die (ihrerseits staatlich subventionierte) Riester-Rente. Der Trend zur Vermarktlichung des Sozialen hat auch nicht zu einem Absinken der Sozialleistungsquote geführt, sondern den zuvor sehr starken Ausgabenanstieg lediglich abgebremst. Insgesamt ergibt sich das Bild einer Neujustierung, die drei unterschiedliche Ansätze miteinander kombinierte: einerseits Rückbau (wie die Reduktion sozialer Leistungen oder die Verschärfung von Anspruchsbedingungen), andererseits Umbau (wie z. B. die Stärkung von Elementen der Grundsicherung bei geringerer Garantie des Statuserhalts), aber auch Ausbau. Vor allem die familien- und frauenrelevante Sozialpolitik hat sich als Ausbau81 Zur Kurzarbeit als »flagship of the German stimulus package« vgl. Waltraud Schelke, Policymaking in Hard Times. French and German Responses to the Eurozone Crisis, in: Nancy Bermeo / Jonas Pontusson (Hg.), Coping with Crisis. Government Reactions to the Great Recession, New York 2012, S. 130–161, hier S. 137.

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sektor erwiesen. Darin kommt eine neue Relationierung der Familien im Gefüge der Wohlfahrtsproduktion zum Ausdruck: Ein wachsender Teil der Sorgearbeit, die zuvor familienintern (zumeist unentgeltlich von Frauen) geleistet wurde, wird nun in sozialstaatliche Regie überführt, insbesondere in die (für private Anbieter geöffnete) Pflegeversicherung und die außerhäusliche Betreuung von Kindern. Dafür gibt es mehrere Gründe. In unserem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass es dabei auch um die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen geht oder zugespitzt gesagt: um die Kommodifizierung bislang nicht marktförmig verwerteter Arbeitskraft. Erweitert man den Blick auf das Ensemble der OECD -Staaten, so ist ein kurzes Fazit viel schwieriger zu ziehen. Denn die länderspezifischen Unterschiede sind groß – je nach dem Sozialstaatstyp und dem Grad der weltwirtschaftlichen Exponiertheit wie auch im Maße der »Filterung externer Herausforderungen« im innenpolitischen Prozess.82 Doch so viel steht fest: Der im Globalisierungsdiskurs befürchtete (oder erhoffte) »race to the bottom« hat nicht stattgefunden. In den entwickelten Wohlfahrtsstaaten sind die öffentlichen Sozialausgaben in der Regel nicht abgesunken, eher moderat gestiegen, was zum Teil mit automatisch wirkenden Kostentreibern wie dem Altern der Bevölkerung zusammenhängt.83 Zwar haben viele Staaten die Anspruchsbedingungen enger an die Erwerbstätigkeit geknüpft und mit einer »Liberalisierung atypischer Beschäftigung« verbunden, was die Verwundbarkeit auf dem Arbeitsmarkt erhöhte und die Einhegung sozialer Ungleichheit markant abschwächte.84 Die untersten Netze der sozialen Sicherung wurden jedoch tendenziell verstärkt, und der Rückbau sozialer Leistungen in einzelnen Bereichen ging mit selektivem Ausbau auf anderen Feldern einher – ähnlich wie beim deutschen Beispiel, wenn auch in unterschiedlichen Mischungen. Alles in allem ist zu bilanzieren, dass der Sozialstaat »im Gesamtbild des staatlichen Handelns seit den 1980er Jahren keineswegs an Gewicht verloren hat«.85 Das zentrale Stichwort der einschlägigen Sozialstaatsforschung ist daher inzwischen nicht mehr so sehr »retrenchment«, als vielmehr »resilience«. Bei der Suche nach den Gründen stößt man vor allem auf die Wählerstimmenmacht der Sozialstaatsklientel, aber auch auf Berufsfelder und Anbieterinteressen, die der Sozialstaat selbst geschaffen hat. In einem gewissen Maße finden wohl auch Professionen Gehör, die im Zuge der Verwissenschaftlichung des Sozialen über den Sozialstaat nachdenken und ihn mit kritisch-solidarischem Blick begleiten. Und wie verhält es sich mit der zweiten Dimension des sozialstaatlichen Gestaltwandels  – der Denationalisierung? Wie gezeigt, kann durchaus von der 82 Armingeon, Herausforderungen, S. 523. 83 Herbert Obinger, Ausgaben und Finanzierung des Sozialstaates, in: ders. / Schmidt, Handbuch, S. 539–559; Silja Häusermann u. a., Sozialpolitik in Hard Times, in: Obinger / ​ Schmidt, Handbuch, S. 33–54. 84 Häusermann u. a., Sozialpolitik, S. 43. 85 Ebd., S. 41.

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»Entwicklung des europäischen Rechtsraums als sozialpolitischer Anspruchsraum« gesprochen werden.86 Damit ging eine Verminderung nationaler Autonomie einher, so dass Stephan Leibfried und Paul Pierson den Begriff des »semi-souveränen« Sozialstaats geprägt haben.87 Der Europäisierungsgrad ist jedoch auf den einzelnen Sozialpolitikfeldern unterschiedlich hoch. Um ihn zu messen, hat Manfred G.  Schmidt eine rangskalierte Fünfer-Skala entwickelt, die von rein nationalstaatlichen Entscheidungsprozessen (Rang 1) bis zur vollständigen Europäisierung (Rang 5) aufsteigt. Im Stichjahr 2017 lagen demnach das Freizügigkeits-Sozialrecht und die Antidiskriminierungspolitik bei 4 und der Arbeitsschutz bei 3. Hingegen kommen die redistributiven Kernzonen der Sozialpolitik – Alterssicherung, Gesundheitsversorgung und Schutz bei Arbeitslosigkeit – nicht über die Stufen 1 und 2 hinaus.88 Zu Recht folgert Schmidt daraus, dass das Attribut »semi-souverän« die Machtverteilung nicht ganz treffend wiedergibt. Denn der Nationalstaat hat nach wie vor den Primat im Schlüsselbereich der sozialen Sicherung. Wie geht es weiter mit der »sozialen Dimension« Europas? Niemand kann das heute verlässlich prognostizieren. In einem »Reflexionspapier« hat die Europäische Kommission 2017 festgehalten, dass der EU-Sozialhaushalt (mithin die Gesamtsumme der von der EU selbst finanzierten Programme) nur 0,3 Prozent der öffentlichen Sozialausgaben im EU-Raum ausmacht. So werde deutlich, »dass Sozialleistungen vor allem eine Sache der Mitgliedstaaten sind und bleiben werden«.89 Für die soziale Zukunft Europas fasst diese Diskussionsvorlage drei sehr unterschiedliche Optionen ins Auge. Erstens verweist sie auf Stimmen, die dezidiert für einen Rückbau plädieren – im Sinne einer Begrenzung der sozialen Dimension auf den freien Personenverkehr. Zweitens hält sie eine intensivere Zusammenarbeit der »Willigen« für möglich. Dies spielt auf die sogenannte Club-Lösung an, also die 1999 eingeführte Möglichkeit zur verstärkten Zusammenarbeit, wenn sich mindestens neun der 27 Mitgliedstaaten zu einer konzertierten Reform bereitfinden. Dieses Verfahren ist bisher allerdings nur im Scheidungs- und Patentrecht erfolgreich gewesen; aktuell wird es mit Blick auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer erprobt. Als dritte Option 86 Monika Eigmüller, Die Entwicklung des europäischen Rechtsraums als sozialpolitischer Anspruchsraum. Raumdimensionen der EU-Sozialpolitik, in: Ulrike Jureit / Nikola Tietze (Hg.), Postsouveräne Territorialität. Die Europäische Union und ihr Raum, Hamburg 2015, S. 255–272. 87 Stephan Leibfried / Paul Pierson, Semisovereign Welfare States. Social Policy in a Multitiered Europe, in: dies. (Hg.), European Social Policy. Between Fragmentation and Integration, Washington D. C. 1995, S. 43–77. 88 Schmidt, Policy. Allerdings erfasst diese Messung nicht die indirekten Effekte, die sich insbesondere aus der Fiskalpolitik der EU ergeben. In den komplizierten Wechselwirkungen des »Mehrebenensystems« der EU können Ursachen und Folgen zudem leicht ihre klaren Unterscheidungsmerkmale verlieren. 89 Europäische Kommission, Reflexionspapier, S. 28.

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nennt die Kommission die gemeinsame Vertiefung der sozialen Dimension im Konsens aller Mitgliedstaaten. Welche dieser Optionen dominieren wird, ist eine offene Frage. Sicher ist nur: Auf absehbare Zeit wird es nicht zu einer umfassenden Harmonisierung des Sozialrechts kommen. Dafür sind die Unterschiede in der Wirtschaftskraft und den Sozialsystemen der Mitgliedstaaten – von Finnland bis Portugal, von Bulgarien bis Irland – viel zu groß und die Konsenshürden zu hoch. Vermutlich wird es also auf ein pragmatisches »Muddling-Through« hinauslaufen. Gerade deshalb wäre die EU gut beraten, wenn sie nicht durch ein Übermaß an idealistischen Deklarationen zu große Erwartungen wecken und umso mehr Enttäuschung provozieren würde. So ist nicht recht ersichtlich, warum nach der »Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer« (1989) und der 2009 in Kraft getretenen »Charta der Grundrechte der europäischen Union« (mit einem Kapitel über soziale Grundrechte) nun auch noch eine mit viel Pathos verkündete »Europäische Säule sozialer Grundrechte« (2017) notwendig wurde. Wirksamer als feierliche Deklarationen, die weit über den Mühen der Ebene schweben, wären konkrete Schritte der Kohäsionspolitik. In diese Richtung zielt die seit Jahren kontrovers diskutierte Idee, den Europäischen Sozialfonds zu einer europäischen Rückversicherung gegen Arbeitslosigkeit auszubauen. Schon in den ersten Anfängen der Währungsunion hatte eine von der Kommission eingesetzte Expertengruppe erkannt, dass es fatal sein könnte, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur Wechselkursanpassung zu nehmen, ohne dafür einen hinreichenden Ausgleich zu schaffen – wie eben eine solche Rückversicherung.90 Angesichts der erschreckend hohen Arbeitslosigkeit in Teilen der EU spricht nach wie vor viel für diesen Vorschlag, dessen Ausgestaltung freilich keine Prämie für Staatsversagen bieten dürfte. Die innereuropäischen Spannungen haben im Zuge der Erweiterungsrunden, der Schuldenkrise und der anhaltenden Migrationskrise im Mittelmeerraum zugenommen. Ein Klima der Renationalisierung greift um sich und wird von populistischen Parteien geschürt. Dennoch ist unbestreitbar: Im Zeitalter der Globalisierung sind die großen Herausforderungen längst transnational geworden und können nicht mehr allein in den Grenzen und mit den Mitteln des Nationalstaats bewältigt werden. Während wir diese Zeilen schreiben, breitet sich die Corona-Krise aus, deren soziale, politische und ökonomische Folgen schwer abzusehen sind. Sie bestätigt indes auf dramatische Weise, wie eng die transnationalen Verflechtungszusammenhänge in unserer Gegenwart sind. Daher kann zwar die angemessene Aufgabenverteilung im europäischen »Mehr­ ebenensystem« strittig sein. Die Europäisierung bietet ja bei weitem nicht immer einen Mehrwert gegenüber nationalen, regionalen oder lokalen Handlungs-

90 Zum Vorschlag eines »community unemployment benefit scheme« im Marjolin-Bericht (1975), auf den der MacDougall-Bericht (1977) aufbaute, wohingegen der Europäische Rat diesen Vorstoß (1978) blockierte, vgl. Becker, Sozialstaatlichkeit, S. 33 f.

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möglichkeiten. Aber generell gilt, dass die EU nicht nur im Hinblick auf eine einheitliche Finanzmarkt- und Bankenregulierung gefordert ist, sondern auch die Chance hat, im Blick auf sozialpolitische Standards ein »Referenzmodell« für grenzüberschreitende Solidarität und eine »faire Globalisierung« zu werden.91

91 So der DGB -Vorsitzende Reiner Hoffmann, Für eine soziale Zukunft Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.6.2016.

Andreas Eckert

Jenseits von Stahl und Kohle Wirtschaftlicher Wandel und Industrialisierung in Afrika seit der Kolonialzeit. Eine Skizze

1. Einleitung Standen wirtschaftshistorische Studien zu Afrika und speziell zur Periode des Kolonialismus bis in die frühen 1980er Jahre noch sichtbar auf der historiographischen Agenda, verfiel das Interesse danach zunächst rapide. Dieses Schicksal teilte die Wirtschaftsgeschichte mit der Geschichte der Arbeit, und dieser Niedergang bzw. diese Krise betraf keineswegs nur Afrika.1 In den letzten Jahren hat sich dies erneut gewandelt, es ist gar von einer Renaissance der Wirtschaftsgeschichte Afrikas die Rede.2 Die Gründe dafür liegen etwa im Aufstieg einer »Global Economic History«, die zunehmend Perspektiven aus und Entwicklungen in nicht-europäischen Regionen als relevant für wirtschaftshistorische Forschung wahrnahm.3 Überdies regte der vermeintliche wirtschaftliche Boom Afrikas seit den 2000er Jahren Fragen nach der historischen Einordnung dieser Entwicklung an. In der rapide wachsenden Literatur zum Kapitalismus bleibt der Kontinent noch weitgehend außen vor.4 Ökonomen interessieren sich zunehmend für historische Perspektiven auf Afrika, machen sich jedoch häufig einer »compression of history« schuldig, indem sie etwa Daten zum Sklavenhandel mit gegenwärtigen Konstellationen korrelieren, ohne die Veränderungen

1 Vgl. etwa Dieter Ziegler, Die Zukunft der Wirtschaftsgeschichte. Versäumnisse und Chancen, in: Geschichte und Gesellschaft 23/3 (1997), S. 405–422; Marcel van der Linden (Hg.), The End of Labour History?, Cambridge 1994. 2 Gareth Austin / Stephen Broadberry, Introduction: The renaissance of African economic history, in: Economic History Review 67/4 (2014), S. 893–906. Parallel erlebt auch die Geschichte der Arbeit in Afrika einen Aufschwung, wobei die neueren Forschungen den einstigen Fokus auf Lohnarbeit und Proletarisierung durch eine beträchtliche Erweiterung des Arbeitsbegriffs ergänzen und Aspekte wie Haus- und Familienarbeit, Kinderarbeit oder informelle Arbeit verstärkt ins Zentrum rücken. Vgl. Stefano Bellucci / Andreas Eckert (Hg.), General Labour History of Africa. Workers, Employers and Governments, 20th–21st Centuries, Woodbridge / Suffolk 2019. 3 Tirthankar Roy / Giorgio Riello (Hg.), Global Economic History, London 2019. 4 Andreas Eckert, Capitalism and Labor in Sub-Saharan Africa, in: Jürgen Kocka / Marcel van der Linden (Hg.), Capitalism. The Reermergence of a Historical Concept, London 2016, S. 165–185.

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zwischen dem 18. und frühen 21. Jahrhundert genauer in den Blick zu nehmen.5 Insgesamt ist die neue Wirtschaftsgeschichte Afrikas stark geprägt von der Nutzung ökonomischer Analysekategorien, der Anwendung quantitativer Methoden sowie der Suche nach bisher ungenutzten Quellen. Der folgende Aufsatz kann keines dieser drei Kennzeichen für sich beanspruchen. Anlass, einige Grundzüge der Wirtschaftsgeschichte Afrikas seit Beginn der Kolonialzeit zu skizzieren, war vielmehr zum einen ein laufendes Vorhaben einer Gesamtdarstellung der Historie des Kontinents seit 1850, die ökonomischen Aspekten angemessenen Raum geben will. Zum anderen gab der Titel von Lutz Raphaels fulminanter Gesellschaftsgeschichte Westeuropas seit 1970 die entscheidende Anregung.6 Mit der Metapher »Jenseits von Kohle und Stahl« markiert er den industriellen Strukturwandel und die relativ sinkende Bedeutung des Industriesektors in England, Frankreich und Deutschland. In nahezu allen Regionen des subsaharischen Afrikas entwickelte sich hingegen zu keiner Zeit ein nennenswerter industrieller Sektor. »Jenseits von Kohle und Stahl« scheint daher ein passendes Emblem für eine Wirtschaftsgeschichte Afrikas zu sein, die in weiten Teilen des 20. und 21. Jahrhunderts geprägt war von einer Industrialisierung, die nicht stattfand.

2. »Nützliches Afrika«. Wirtschaftliche Entwicklungen bis zum Zweiten Weltkrieg Die wirtschaftliche Ausbeutung der afrikanischen Kolonien stellte ohne Zweifel ein wichtiges Motiv der europäischen Präsenz auf dem Kontinent dar. Freilich blieb die Bereitschaft, in Kolonien zu investieren, bis nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise gering und beschränkte sich weitgehend auf den Minensektor sowie den Bereich der Großagrarwirtschaft, vornehmlich in Siedler­ kolonien.7 In den meisten Regionen Afrikas begnügten sich die Kolonialherren lange Zeit damit, von der Überschussproduktion afrikanischer Bauern und der oft mit Zwangsmitteln verbundenen Gewinnung von begehrten Rohstoffen zu zehren. Die Mehrzahl der afrikanischen Kolonien verfügte allerdings weder über signifikante Bodenschätze noch über für profitable Exportlandwirtschaft 5 Diese Kritik findet sich etwa bei Gareth Austin, The ›reversal of fortune‹ thesis and the compression of history: perspectives from African and comparative economic history, in: Journal of International Development 20 (2008), S. 996–1027; Anthony G. Hopkins, The new economic history of Africa, in: Journal of African History 50/2 (2009), S. 155–177. Eine scharfe Polemik zu wirtschaftswissenschaftlichen Studien zu Afrika: Morten Jerven, Africa. Why economists get it wrong, London 2015. 6 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019. 7 Dazu bereits S. Herbert Frankel, Capital Investment in Africa. Its Course and Effects, Oxford 1938; Frederick Cooper, Africa in the World. Capitalism, Empire, Nation-State, Cambridge / Mass. 2014, S.  22.

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geeignete Böden. Sie waren daher nicht für eine größere Zahl europäischer Siedler geeignet, noch waren ihre Ökonomien durch dynamische afrikanische Agrarunternehmer und eine signifikante bäuerliche Produktion charakterisiert. Sie hingen vom saisonalen Export von männlichen Arbeitern in die Industrieund Plantagenregionen und dem Anbau von weniger lukrativen Cash Crops wie Baumwolle und Erdnüssen ab, deren Anbauzeiten häufig mit denen von Nahrungspflanzen kollidierten. Nicht selten waren Hungersnöte die Folge.8 Die insgesamt eher bescheidene Dimension der Kolonialwirtschaft in Afrika war für die europäischen Regierungen solange hinnehmbar wie die Verwaltungskosten in den Territorien niedrig blieben. Oft erwiesen sich die Kolonien für den Staat jedoch rasch und nicht selten dauerhaft als Zuschussgeschäft, was beträchtliche Gewinne einzelner europäischer Unternehmen nicht ausschloss.9 Das Bestreben des kolonialen Staates, seine Kontrolle systematisch zu erweitern, kollidierte mit seiner Tendenz, Kosten zu sparen. Zugleich kollidierte das Bestreben des Kapitals, Strukturen zu etablieren, welche langfristige Returns on Investment sicherten, mit seiner Tendenz, möglichst schnelle Gewinne einzustreichen.10 Die Kapazität des kolonialen Staates, Steuern einzutreiben, blieb daher zumeist begrenzt. So schien das Fiskalsystem in Teilen Britisch-Afrikas eher der Logik anzuhängen, den Aufwand zu minimieren anstatt die Einkünfte zu maximieren.11 Allerdings gibt es für das französische Kolonialreich in Afrika Berechnungen, die besagen, dass die Regierung in Paris insgesamt mehr Steuern aus seinen Besitzungen südlich der Sahara einnahm als sie dort an Steuergeldern investierte.12 In jedem Fall mussten die Regierungen in den jeweiligen Kolonien erhöhte Ausgaben durch vor Ort erzielte erhöhte Einkünfte finanzieren. In der Goldküste konnte Gouverneur Guggisberg in den 1920er Jahren dank der sprudelnden Steuereinnahmen durch die gestiegenen Kakaoexporte Krankenhäuser, Schulen, einen neuen Hafen und die Verlängerung der Eisenbahnlinie finanzieren, doch die bald wieder fallenden Weltmarktpreise verhinderten nach wenigen Jahren weitere Investitionen13 Weltumspannende Imperien wie das britische und französische gaben sich wohl letztlich damit zufrieden, auf einige wenige Regionen mit wertvollen Ressourcen zu fokussieren, was jene Teile 8 Michael Watts, Silent Violence. Food, Famine, and Peasantry in Northern Nigeria, Berkeley 1983. Zur saisonalen Migration Dennis Cordell u. a., Hoe and Wage. A Social History of a Circular Migration System in West Africa, Boulder 1998. 9 Klassisch dazu: Jacques Marseille, Empire colonial et capitalisme français. Histoire d’un divorce, Paris 22005. 10 Bruce Berman / John Lonsdale, Coping with the contradictions. The development of the colonial state in Kenya, 1895–1914, in: Journal of African History 20 (1979), S. 487–506. 11 So argumentiert Ewout Frankema, Colonial taxation and government spending in British Africa, 1880–1940. maximizing revenue or minimizing effort?, in: Explorations in Economic History 48/1 (2011), S. 136–149; ferner: Leigh Gardner, Taxing Colonial Africa. The Political Economy of British Imperialism, Oxford 2012. 12 Patrick Manning, Francophone Sub-Saharan Africa, Cambridge 21998, S. 123–125. 13 Anthony G. Hopkins, An Economic History of West Africa, London 1973, S. 190.

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Afrikas einschloss, die ein französischer Bankier in den 1930er Jahren als »nützliches Afrika« bezeichnete: im Falle Frankreichs zum Beispiel die Erdnussregionen in Senegal oder die Kakaoanbaugebiete in der Elfenbeinküste.14 Am stärksten auf harsche Ausbeutung setzten Konzessionsgesellschaften etwa in Mosambik, in Belgisch-Kongo oder in Französisch-Äquatorialafrika bei der Extraktion von Produkten wie Kautschuk oder dem Zwangsanbau von Baumwolle. Charakteristisch für diese Aktivitäten waren vor allem die massive Brutalität und das Streben nach kurzfristigem Gewinn, weniger der Versuch, systematisch menschliche und natürliche Ressourcen weiterzuentwickeln.15 Afrika war vor dem Beginn der europäischen Kolonisierung in die Weltwirtschaft primär als Lieferant von Rohstoffen integriert. Diese Rolle setzte sich in der Kolonialzeit fort und verstärkte sich noch. Neben ökologischen Bedingungen fielen dabei nicht zuletzt politische Konstellationen ins Gewicht. In den Teilen West- und Ostafrikas, wo geeignete Böden den Anbau lukrativer Cash Crops wie Kakao und Kaffee ermöglichten, spielten etwa ideologische Konflikte und vor allem die Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Interessensgruppen eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Agrarproduktion. So verzichteten die Kolonialregierungen in den am stärksten prosperierenden »Bauern«-Kolonien in Westafrika auf direkte Steuern und Zwangsanbau und ließen – wie in Nigeria – Aktivitäten von britischen Pflanzern entweder gar nicht zu oder sahen – wie in der Goldküste – von Interventionen zugunsten britischer Agrarunternehmer ab. Diese konnten sich dann gegen ihre afrikanischen Konkurrenten nicht durchsetzen.16 In der britischen Siedlerkolonie Kenia, aber auch in der von Frankreich beherrschten Elfenbeinküste unterstützte die Verwaltung hingegen massiv europäische Pflanzer gegen einheimische Wettbewerber, vor allem bei der oft mit Zwang verbundenen Rekrutierung von Arbeitskräften. Aber selbst in Kenia, wo die Verwaltung stark mit den Interessen der Siedler sympathisierte, war die Regierung nicht bereit, afrikanische kommerzielle Landwirtschaft, die 1913 immerhin drei Viertel der Exporteinnahmen der Kolonie produzierte, gänzlich zu unterdrücken.17 Das koloniale Vertrauen in die Anstrengungen afrikanischer 14 Zit. nach Cooper, Africa in the World, S. 21. 15 Vgl. zu Mosambik: Eric Allina, Slavery by Any Other Name. African Life under Company Rule in Colonial Mozambique, Charlottesville 2012; aus einer Vielzahl von einschlägigen Studien zum Belgischen Kongo: Jean-Luc Vellut, La Violence Armée dans l’État Indépendant du Congo. Ténèbres et Clartés dans l’Histoire d’un Etat Conquérant, in: Cultures et Développement 16/3 (1984), S. 671–707; zum Französischen Kongo: Catherine CoqueryVidrovitch, Le Congo au Temps des Grandes Compagnies Concessionnaires 1890–1930, Paris 1972. 16 Gareth Austin, Mode of production or mode of cultivation. Explaining the failure of European cocoa planters in competition with African farmers in colonial Ghana, in: William G. Clarence-Smith (Hg.), Cocoa pioneer fronts since 1800. The role of smallholders, planters and merchants, Basingstoke 1996, S. 154–175. 17 Bruce Berman, Control & Crisis in Colonial Kenya. The Dialectics of Domination, London 1990, Kap. 2 u.3.

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Kleinkapitalisten und Bauern beim Anbau und der lokalen Vermarktung von Exportfrüchten zahlte sich in Nigeria und der Goldküste in Gestalt der mehr als zwanzigfachen Steigerung des tatsächlichen Wertes des Außenhandels für den Zeitraum von 1897 bis 1960 aus. Davon profitierten britische Handelsinteressen sowie dank der Zolleinnahmen das Londoner Schatzamt.18 Bescheidene Industrialisierungsansätze fanden sich vornehmlich in den wichtigsten Siedlerkolonien. In Südafrika entdeckte man im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kurz hintereinander die weltweit größten Diamanten- und Goldvorkommen. Kimberley und Witwatersrand entwickelten sich rasch zu großen Minenzentren, die, kontrolliert von wenigen Konzernen, ein umfassendes System der Wanderarbeit errichteten. Weitere substantielle Bergbauregionen etablierten sich u. a. in Katanga im Belgischen Kongo und in der Zwischenkriegszeit im Kupfergürtel in Nordrhodesien.19 Weiße Siedler artikulierten nachdrücklich ihren Willen zur Industrialisierung, verbunden mit dem politischen Bestreben, die Autonomie ihrer jeweiligen Kolonien zu steigern. Ab den 1920er Jahren verfolgten Südafrika und kurz darauf Südrhodesien vor allem auf Druck der weißen Wählerschaften die Förderung einer importsubstituierten Industrialisierung mithilfe von Zöllen und staatlichen Investitionen in Elektrizität und Stahlproduktion. Südafrika blieb im Verlauf des 20. Jahrhundert das Flaggschiff verarbeitender Industrie im subsaharischen Afrika. Obwohl der Anteil dieses Bereichs am Bruttoinlandsprodukt bereits 1946 größer war als der der Landwirtschaft und der Minen, vermochte Südafrika es nicht, von einem bescheidenen regionalen Exporteur von Fabrikwaren (vor allem in die Nachbarländer) zu einem Global Player aufzusteigen. Die Vorteile des Zugriffs auf billige, ungelernte Arbeitskräfte relativierten sich zunehmend durch die mangelnde Kaufkraft eines großen Teils der (schwarzen) Bevölkerung sowie durch die hohen Kosten für Facharbeiter, beides Effekte der Apartheid.20 Andernorts verfielen im Bereich des Handwerks mit der Kolonialherrschaft zahlreiche alte Gewerbezweige, andere konnten sich halten oder wurden durch neue ersetzt. In einigen Gegenden Westafrikas bestand die Heimweberei fort, in den wachsenden Städten gewann die Schneiderei an Bedeutung. Im expandierenden Bau-

18 Gareth Austin, Resources, techniques and strategies south of the Sahara. Revising the factor endowments perspective on African economic development, 1500–2000, in: Economic History Review 61/3 (2008), S. 587–624, hier S. 612. 19 Charles Feinstein, An Economic History of South Africa. Conquest, Discrimination and Development, Cambridge 2005. Für die Geschichte eines großen Minenkonzerns: ­Duncan Innes, Anglo American and the Rise of Modern South Africa, Johannesburg 1981. Zu Katanga: Jean-Luc Vellut, Les Bassins Minières de l’Ancien Congo Belge. Essai d’Histoire Economique et Sociale (1900–1960), in: Les Cahiers du CEDAF 7/2 (1981), S. 2–70. 20 Gareth Austin u. a., Patterns of Manufacturing Growth in Sub-Saharan Africa. From Colonization to the Present, in: Kevin H. O’Rourke / Jeffrey Gale Williamson (Hg.), The Spread of Modern Industry to the Periphery since 1871, Oxford 2017, S. 362 f.

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sektor entstanden neue Handwerkszweige wie Blechschmieden, Fahrrad- und Autowerkstätten.21 Zwangsarbeit und zum Teil unmenschliche Arbeitsbedingungen prägten häufig die Errichtung einer kolonialen Infrastruktur. Die im Kontext des ­Scramble for Africa so nachhaltig formulierte Notwendigkeit, den afrikanischen Kontinent kommerziell zu »öffnen«, war eng an den Ausbau einer Verkehrs­ infrastruktur, an den Bau von Straßen und Eisenbahnen gekoppelt. Ein Großteil dieser Maßnahmen war staatlich finanziert, nur in einigen Fällen – etwa in den deutschen, belgischen und portugiesischen Kolonien – kam es zu privaten, freilich durch staatliche Garantien geförderten Investitionen.22 Ein Blick auf die Eisenbahnverbindungen im kolonialen Afrika ist höchst aufschlussreich. Es gab lediglich eine geringe Zahl von Linien, zumeist schmalspurige Stichbahnen, die einige Regionen im Hinterland mit Hafenstädten verbanden. Mit der Ausnahme des südlichen Afrikas entstand nirgendwo auf dem Kontinent ein Eisenbahnnetz, das mehrere Kolonien oder innerhalb einer Kolonie mehrere Regionen verband. Hintergrund dieser Entwicklung war die enge Ausrichtung auf europäische ökonomische Bedürfnisse: dem Abtransport von Bodenschätzen und Cash Crops aus den Minen und Plantagen an die Küste. Zudem spielten häufig militärische und strategische Motive eine Rolle, zentral etwa beim Bau der Uganda-Bahn (1896–1902). Gleichwohl ergaben sich auch in diesem Fall wirtschaftliche Effekte, denn die Bahn erschloss eine Inlandregion mit einem großen kommerziellen Potential. Die Kosten für den Transport von Baumwolle und Kaffee an die Küste reduzierten sich überdies beträchtlich. Der Bahnbau ging jedoch fast nie mit dem Ausbau von Industrieanlagen vor Ort einher. Maschinen, Eisenbahnschienen und andere Stahlprodukte, aber auch Ingenieure und Fachkräfte wurden aus Europa importiert. Afrikaner hingegen dienten in hoher Zahl als ungelernte Arbeiter beim Schienenbau, oft mit Zwang rekrutiert, schlecht bezahlt, wie im Falle der Konstruktion der Linie von Brazzaville zur Atlantikküste bei Pointe Noire in Französisch-Kongo (1921–1934) über lange Zeiträume weit entfernt von ihren Heimatregionen, einem ungewohnten Klima und unbekannten Nahrungsmitteln ausgesetzt, unter katastrophalen sanitären Bedingungen. Viele von ihnen starben wie die Fliegen.23 Einmal errichtet, boten Eisenbahn und auch Häfen vergleichsweise gut bezahlte und dauerhafte Beschäftigung für eine kleine Zahl von Afrikanern, die 21 John Iliffe, Geschichte Afrikas, München 1997, S. 287 f. Für die Kontinuität eines vorkolonialen Handwerks: Trevor Marchand, The Masons of Djenné, Bloomington / I N 2009. 22 Ralph A. Austen, African Economic History, London 1987, S. 126–129. 23 Die Schrecken des Eisenbahnbaus im Kongo wurden bereits von Zeitgenossen beschrieben. Großes Aufsehen erregte André Gide, Voyages au Congo, Paris 1927. Vgl. ferner Gilles Sautter, Notes sur la construction du chemin de fer Congo-Océan (1921–1934), in: Cahiers d’Études Africaines 7/2 (1967), S. 219–299. Zu den Arbeitsbedingungen beim Bahnbau in Nigeria vgl. Michael Mason, Working on the railway: forced labor in Northern Nigeria, 1907–1912, in: Peter C. W. Gutkind u. a. (Hg.), African Labor History, Beverly Hills 1978, S. 56–79.

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sich ab den 1930er Jahren auch verstärkt politisch mobilisierten.24 Für afrikanische Unternehmer und Händler eröffnete die Eisenbahn demgegenüber wenig Perspektiven, da der Besitz entsprechender Unternehmen oder selbst Dienstleistungen für sie jenseits ihrer Möglichkeiten lagen und ihnen zuweilen wie in der Goldküste sogar auf Druck europäischer Handelshäuser die Benutzung der Bahn zum Warentransport untersagt wurde.25 Die Kolonialverwaltungen waren darauf bedacht, Eisenbahnen prioritär zu behandeln, um ihre hohen Investitionen zu schützen, daher intensivierte sich der Transport über Straßen nur langsam. Lastkraftwagen erwiesen sich trotz der Probleme des Straßenbaus und der Überschwemmungen in der Regenzeit jedoch als flexibles Transportmittel und boten den Vorteil, lokale Märkte leichter erschließen zu können. Vor allem in Nigeria und Ghana gelang es Afrikanern, in der Warenbeförderung durch Lastwagen insbesondere im Binnenhandel eine wichtige Rolle zu spielen.26 Im Handel vermochten sich Afrikaner diverse Nischen zu schaffen, wobei sich der kommerzielle Sektor im kolonialen Afrika insgesamt gegenläufig zu den während des Scramble formulierten Erwartungen entwickelte.27 Die damalige Annahme, dass die koloniale Herrschaft die Kontrolle afrikanischer Staaten über den Handel mit dem Hinterland bald brechen und vielen europäischen Händlern endlich freie Bahn gewähren würde, verkehrte sich im Laufe der Kolonialzeit nahezu ins Gegenteil. Denn bald dominierten einige wenige große europäische Unternehmen den Markt, und der koloniale Staat intervenierte in Handelsangelegenheiten in einem weit größeren Maße als dies seine lokalen afrikanischen Vorgänger getan hatten. Das Handelsvolumen wuchs während der Kolonialzeit beträchtlich. Damit einher gingen diverse Möglichkeiten vor 24 Dazu grundlegend: Frederick Cooper, On the African Waterfront. Urban Disorder and the Transformation of Work in Colonial Mombasa, New Haven 1987. 25 Franz Ehrler, Handelskonflikte zwischen europäischen Firmen und einheimischen Produzenten in Britisch-Westafrika: die »Cocoa Hold-Ups« in der Zwischenkriegszeit, Zürich 1977. Für eine wirtschaftshistorische Analyse der Effekte der Eisenbahn am Beispiel des frühkolonialen Britisch-Westafrika vgl. Isaías Chaves u. a., Reinventing the Wheel. The Economic Benefits of Wheeled Transportation in Early Colonial British West Africa, in: Emmanuel Akyeampong u. a. (Hg.), Africa’s Development in Historical Perspective, New York 2014, S. 321–365. Die Autoren argumentieren, dass die Eisenbahn ökonomisch effizient war, aber aus einer Reihe von Gründen von Afrikanern nur begrenzt angenommen wurde, etwa aus der Furcht, Eisenbahnen könnten die koloniale Eroberung beschleunigen, aber auch, weil die Kolonialmächte eine stärkere Einbindung afrikanischer Unternehmer blockierten. 26 Simon Heap, The development of motor transport in the Gold Coast, 1900–39, in: Journal of Transport History 11/2 (1990), S. 19–37; Elizabeth Wrangham, An African Road Revolution: The Gold Coast in the Period of the Great War, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 32/1 (2004), S. 1–18; Jennifer Hart, Ghana on the Go: African Mobility in the Age of Motor Transport, Bloomington 2016. Allgemein Hélène D ­ ’Almeida-Topor u. a. (Hg.), Les Transports en Afrique, XIX–XXè Siècles, Paris 1992; Jan-Bart Gewald u. a. (Hg.), The Speed of Change. Motor Vehicles and People in Africa, 1890–2000, Leiden 2009. 27 Austen, African Economic History, S. 129–132.

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allem für europäische Handelsunternehmen, die zugleich aber nicht nur von Schwankungen der Weltmarktpreise und den Unwägbarkeiten des Transportwesens, sondern auch von lokalen politischen Konstellationen und Interessen abhängig waren. Nicht allein afrikanische Zwischenhändler, sondern auch viele europäische Handelsunternehmen verschwanden von der kommerziellen Bildfläche. Nach dem Ersten Weltkrieg prägten drei riesige Konglomerate den Handel in Westafrika: die Compagnie Française de l’Afrique Occidentale (CFAO), die Société Commerciale de l’Ouest Africain (SCOA) sowie die British United Africa Company (UAC).28 Dieser Konzentrationsprozess erklärt sich u. a. daraus, dass, erstens, der durch die Eisenbahnen erleichterte Handel mit den Regionen im Landesinnern der Kolonie solche Unternehmen privilegierte, die in der Lage waren, die nun aufwändigeren Verwaltungsstrukturen, die komplexere Lagerung von Waren und die Kalkulation von langfristigen Handelsbedingungen zu leisten. Zweitens erschwerten die beständigen Fluktuationen der Weltmarktpreise für afrikanische Handelsgüter zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Weltwirtschaftskrise das Überleben gerade kleinerer Firmen, denen es oft an Kapital fehlte, Krisenperioden zu kompensieren. Und drittens bevorzugten die Kolonialverwaltungen und die wenigen im Afrikageschäft tätigen Banken große, etablierte Firmen, deren Kreditwürdigkeit leichter attestiert werden konnte.29 Afrikaner fanden Geschäftsmöglichkeiten vor allem in den Bereichen, die europäischen Firmen wenig attraktiv erschienen: Kleinhandel in den Städten und Export-Import-Geschäfte in ländlichen Zentren fernab der zentralen Verkehrswege. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Westafrika so präsenten afrikanischen »Händlerprinzen« verlegten ihr Geschäft entweder in die Cash Crop-Produktion, oder investierten verstärkt in den städtischen Grundstücksmarkt und die Ausbildung ihrer Kinder für Tätigkeiten in der Verwaltung oder für größere europäische Unternehmen.30 Die Rolle der Zwischenhändler übernahmen zunehmend Migranten aus dem nicht-afrikanischen Raum: Libanesen, vereinzelt auch Griechen in Westafrika, Südasiaten in Ostafrika. Der beträchtliche kommerzielle Erfolg dieser Gruppen resultierte aus der Kombination verschiedener Faktoren: Im Prozess der Migration etablierten diese Einwanderergruppen Kontakte und Netzwerke mit Landsleuten und Verwandten, die sich bereits in Handelszentren in Europa oder den Kolonien etabliert hatten. In Afrika selbst gab es außer Handelstätigkeiten für sie wenig 28 David Fieldhouse, Merchant Capital and Economic Decolonization. The United Africa Company 1929–1987, Oxford 1994. 29 Zu Banken und Krediten vgl. Gareth Austin / Chibuike Uche, Collusion and Competition in Colonial Economies. Banking in British West Africa, 1916–1960, in: Business History Review 81 (2007), S. 1–26. 30 Ein gutes Beispiel dafür sind afrikanische kommerzielle Eliten in Douala und Lagos. Vgl. Andreas Eckert, Grundbesitz, Landkonflikte und kolonialer Wandel. Douala 1880–1960, Stuttgart 1999; Kristin Mann, Marrying Well. Marriage, Status and Social Change among the Educated Elite in Colonial Lagos, Cambridge 1985.

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Alternativen – mit der Ausnahme Ostafrikas, wo asiatische Migranten auf den unteren Rängen der Kolonialverwaltung tätig sein konnten, freilich ohne bedeutende Aufstiegsmöglichkeiten  –, so dass sie bereit waren, die Mühsal des ambulanten Handels und des Betreibens kleiner Dorfläden auf sich zu nehmen. Alle zur Verfügung stehenden Aktivposten, von Bareinkünften über den Zugang zu Familienarbeit bis hin zu Dienstleistungen von neu ankommenden Migranten, wurden in das Handelsgeschäft investiert, oft verbunden mit dem in der Regel unrealistischen Ziel, den Lebensabend wieder in der Heimatregion zu verbringen.31 Das koloniale Wirtschaftssystem bot schließlich auch beträchtlichen Raum für die Expansion muslimischer Handelsnetzwerke, die sich vor allem auf lokal produzierte und konsumierte Güter wie Kolanüsse, afrikanische Stoffe, Vieh, Salz und Fisch konzentrierten. Muslimische Kaufleute waren für diese Tätigkeiten nicht von europäischen Krediten und kolonialer Patronage abhängig und zeigten selbst wenig Interesse, sich als Angestellte der kolonialen Bürokratie zu etablieren.32

3. Entwicklungsära und Industrialisierungsprojekte In den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg begannen die Kolonialmächte in Afrika, vor allem England und Frankreich, ihre Sozial- und Wirtschaftspolitik zu überdenken. Diese Wendung war eng verknüpft mit einer Krise kolonialer Ideologien, die wiederum von zwei Entwicklungen forciert wurde. Zum einen kam vielen Verwaltern und Experten zunehmend die Einsicht, dass ihre bisherigen Haltungen und Praktiken in Afrika zu verstärkter Stagnation in einer Welt führen würden, in der »Entwicklung« immer mehr zu einem zentralen Gebot geriet. Zum anderen forcierten zahlreiche Streiks seit den 1930er Jahren die Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen.33 Überdies erforderte die wachsende Betonung von »Selbstbestimmung« als universales Prinzip von den Kolonialmächten verstärkt eine Begründung, warum Herrschaft über andere immer noch notwendig sei. Der Zweite Weltkrieg offenbarte insgesamt mit aller Deutlichkeit, dass die Kolonialmächte auf der einen Seite koloniale Ressourcen dringender brauchten denn je, auf der anderen Seite ihre Macht und Legitimität beständig schwanden.34 Eine neue Rhetorik von »Wohlfahrt« und 31 Robert G. Gregory, South Asians in East Africa. An Economic and Social History, 1890– 1890, Boulder 1993. 32 Vor diesem Hintergrund haben einige Historiker die These von einer »islamischen Sphäre« innerhalb der kolonialen Ordnung entwickelt. Vgl. Robert Launay / Benjamin Soares, The Formation of an »Islamic Sphere« in French Colonial West Africa, in: Economy and Society 28 (1999), S. 497–519. 33 Dazu detailliert Frederick Cooper, Decolonization and African Society. The Labor Question in French and British Africa, New York 1996. 34 Zur zentralen Bedeutung des Zweiten Weltkriegs für die Geschichte Afrikas vgl. Judith A. Byfield u. a. (Hg.), Africa and World War II, New York 2015.

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»Entwicklung« hielt Einzug, die verdeutlichen sollte, dass die koloniale Mission weder bereits beendet war noch einen Fehlschlag darstellte. Entwicklungsinitiativen sollten die Kolonien in den turbulenten Nachkriegsjahren ökonomisch produktiver und politisch stabiler machen. Die zuhauf nach Afrika geschickten »Experten« traten an, um den Bauern neue Wege des Anbaus zu weisen und den Arbeitern neue Formen der Arbeit nahe zu legen.35 Erstmals stellten die Regierungen in London und Paris umfangreiche finanzielle Mittel bereit, um die afrikanischen Kolonien »in das 20. Jahrhundert zu expedieren«.36 In Großbritannien wurde 1940 der Colonial Development and Welfare Act aufgelegt; mit der Gründung der Colonial Development Corporation sieben Jahre später sollten verstärkt Projekte gefördert werden, die raschen Gewinn für die britische Staatskasse versprachen. Gleichzeitig galt es, durch politische, administrative und soziale Reformen die Kooperation zumindest von Teilen der Bevölkerung zu erheischen, um auf diese Weise eine Revolution zu verhindern und aufkommende nationalistische Bewegungen in Schach zu halten. In Frankreich erblickte 1946 der Fonds d’Investissement et de Développement Économique et Social (FIDES) das Licht der Welt und stellte in den folgenden Jahren größere Summen für koloniale Entwicklungsprojekte zu Verfügung.37 Kaum jemand von den Kolonialexperten sprach sich jedoch zunächst für eine rapide und umfassende Industrialisierung in Afrika aus. Auf der Konferenz in Brazzaville 1944, wo die Nachkriegsordnung für die französischen Kolonien skizziert wurde, gab es zahlreiche Vorbehalte gegen jegliche Industrialisierungsprogramme, die auf Kosten der agrarischen Entwicklung gehen und ein potentiell gefährliches »schwarzes Proletariat« schaffen würden. Demgegenüber blieben Stimmen, die den »erzieherischen Wert« von Industriearbeit priesen, in der Minderheit. Eine britische Kommission, welche die Gründe der »Accra Riots« in der Goldküste 1948 untersuchen sollte, tat Forderungen afrikanischer Nationalisten nach verstärkter Industrialisierung als »vages Verlangen nach etwas, das Reichtum und höheren Lebensstandard verspricht« ab.38 Zugleich herrschte die Überzeugung, dass die Arbeiterschaft modernisiert werden musste, um die Ressourcen der afrikanischen Besitzungen, zumal nach dem weitgehenden Zerfall der asiatischen Kolonialreiche, besser ausbeuten zu können. Das neue Zauberwort hieß »Stabilisierung«. Dahinter verbarg sich eine

35 Joseph M. Hodge, Triumph of the Expert. Agrarian Doctrines of Development and the Legacies of British Colonialism, Athens / OH 2007; Frederick Cooper, Modernizing Bureaucrats, Backward Africans, and the Development Concept, in: Ders. / Randall Packard (Hg.), International Development and the Social Sciences. Essays on the History of Politics and Knowledge, Berkeley 1997, S. 64. 36 So ein britischer Kolonialbeamter in Tanganyika, zit. nach Nicholas J.  Westcott, The Impact of the Second World War on Tanganyika, 1939–1949, unveröffentl. PhD. Thesis, Cambridge 1982, S. 239. 37 Cooper, Decolonization. 38 Ebd., S. 179, 256.

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Arbeitspolitik, die sich zum Ziel gesetzt hatte, einen eher kleinen, von der traditionellen Produktion getrennten Bereich der städtischen Lohnarbeit zu schaffen. Dabei musste vor allem sichergestellt werden, dass die Reproduktion der lohnarbeitenden Klasse nicht durch die vermeintliche »Rückständigkeit« des dörflichen Afrika kontaminiert werden würde. Die Mitglieder der neuen Arbeiterklasse in Afrika sollten gleichsam aufhören, Afrikaner zu sein, und stattdessen zu modernen Arbeitern werden.39 Die Vorstellungen kolonialer Verwalter von einer modernen, vom »traditio­ nellen Rest« getrennten modernen afrikanischen Arbeiterklasse blieben reine Fantasie. Afrikaner in regulärer Lohnarbeit hörten nicht auf, Afrikaner zu sein. Sie lösten sich nicht von dem komplexen Netz sozialer und kultureller Beziehungen, zu dem auch ihre Heimatdörfer gehörten. Und sie optierten häufig für familiäre Arrangements, die keineswegs dem Modell des monogamen männlichen Ernährers mit abhängiger Frau und Kindern entsprachen.40 Zugleich entwickelten sich zunehmend spezifische urbane Gesellschaften mit neuen Formen der Soziabilität, der Freizeit, des Konsums und der sozialen Kämpfe.41 Afrikanische Nationalisten setzten derweil, wie zunehmend auch internationale Experten, auf Industrialisierung als Ausweg aus dem Dilemma, vom Export eines schmalen Sets von Agrarprodukten und der Notwendigkeit, Fabrikwaren aus dem Ausland zu erwerben, abhängig zu sein. Vertreter der Modernisierungstheorie priesen die Industrialisierung als unausweichlich, der Triumph des »industriellen Menschen« sei auch für noch weitgehend »primitive Gesellschaften« wie die Afrikas nur eine Frage der Zeit.42 Nicht zuletzt der Bau von großen Staudämmen schien den Weg für den Aufbau eigener Industrien in Afrika zu weisen. Nicht nur auf diesem Kontinent standen Dämme darüber hinaus für den tiefen Glauben an wissenschaftlichen Fortschritt und Technologie und verkörperten das, was James Scott »high modernism« genannt hat.43 Dieser begann partiell bereits vor dem Zweiten 39 Frederick Cooper, African Labor History, in: Jan Lucassen (Hg.), Global Labour History, Bern 2006, S. 91–116. 40 Vgl. dazu etwa Lisa Lindsay, Working with Gender. Men, Women, and Wage Labor in Southwest Nigeria, Portsmouth / N H 2003. 41 Vgl. aus der Fülle der einschlägigen Literatur Phyllis Martin, Leisure and Society in ­Colonial Brazzaville, Cambridge 1995. 42 Zu den interessanteren und komplexeren zeitgenössischen Studien zu dieser Thematik gehören Wilbert E. Moore, Industrialization and Labor. Social Aspects of Development, Ithaca 1951 und Clark Kerr u. a., Industrialism and Industrial Man, Cambridge / M A 1960. 43 James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 4, definiert »high modernism« wie folgt: »a strong, one might even say muscle-bound, version of the self-confidence about scientific and technical progress, the expansion of production, the growing satisfaction of human needs, the mastery of nature (including human nature), and above all, the rational design of social order commensurate with the scientific understanding of natural laws«. Vgl. auch Julia Tischer, »Whose Power?« Energie und Entwicklung in der Spätkolonialzeit am Beispiel des Kariba-Staudamms in der Zentralafrikanischen Föderation, in: Birte

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Weltkrieg, etwa im Soudan Français, dem heutigen Mali, wo der französische Ingenieur Emile Bélime das Office du Niger entwarf, ein Bewässerungs­system, das Wasser aus dem Niger umlenkte, um Baumwolle für die französische Textil­industrie und Reis für senegalesische Erdnussbauern zu produzieren. Die ersten Bewässerungskanäle entstanden in den 1930er Jahren. Anstelle von Plantagenproduktion verfolgte das Office eine Politik der »einheimischen Kolonisierung«: Bauernfamilien wurden – in den meisten Fällen mit Zwang – in der Projektregion angesiedelt, um unter strenger Aufsicht auf ihren eigenen Parzellen anzubauen. Die Bauern bekundeten auf verschiedene Weise, etwa durch Ungehorsam und Vermeidungsstrategien, ihre Kritik an vielen Aspekten des Programms. Die Verantwortlichen sahen sich daher gezwungen, ihre Ziele entsprechend anzupassen, beispielsweise durch die bewusste Nutzung des lokalen Wissens der Einheimischen und die Verlagerung des Anbauschwerpunkts von Baumwolle zu Reis.44 Auch britische Ingenieure entwarfen in der Zwischenkriegszeit verschiedene Vorhaben zur Errichtung von Staudämmen, doch erst in den 1950er Jahren materialisierten sich zwei umfassende Projekte: Owen Falls in Uganda am nördlichen Ufer des Viktoriasees und Kariba auf dem Sambesi zwischen Nordund Südrhodesien (heute Sambia und Simbabwe). Beide Staudämme, finanziert von der Weltbank, repräsentierten die staatlich gelenkten Entwicklungsanstrengungen der »second colonial occupation« nach dem Zweiten Weltkrieg. Der 1954 für 41,2 Millionen Dollar fertiggestellte Owen Falls Damm war Teil eines gigantischen Vorhabens, den Fluss des gesamten Nilbeckens zu regulieren und den Wasserbedarf Ägyptens zu befriedigen.45 Um die hohen Baukosten bezahlen zu können, brauchte die ugandische Elektrizitätsgesellschaft einen großen Kunden. Und der staatliche kenianische Stromkonzern willigte ein, 45 Megawatt zu beziehen, nahezu ein Drittel der Leistung des Damms. Mit einer potenziellen Kapazität von 150 Megawatt war Owen Falls Ausdruck einer Modernisierungsideologie, die besagte, dass eine umfassende Menge von Elektrizität industrielle Entwicklung generieren, die Machtbedürfnisse lokaler Eliten befriedigen und langfristig der gesamten Bevölkerung nützen würde. Es blieb bei der Ideologie, die Realität sah anders aus. Aufgrund politischer Probleme und Unruhen nach der Unabhängigkeit verlief die Elektrifizierung Ugandas nur äußerst schlep-

Förster / Martin Bauch (Hg.), Wasserinfrastrukturen und Macht von der Antike bis zur Gegenwart, München 2015, S. 266–286, hier S. 268. Zur Geschichte von Staudämmen vgl. etwa Sanjeev Khagram, Dams and Development. Transnational Struggles for Water and Power, Ithaca 2014; Patrick McCulley, Silenced Rivers. The Ecology and Politics of Large Dams, London 22001. Umfassender Peter J. Bloom u. a., Modernization as Spectacle in Africa, Bloomington 2014. 44 Monica M. van Beusekom, Negotiating Development: African Farmers and Colonial Experts at the Office du Niger, 1920–1960, Portsmouth / N H 2002. 45 Robert O. Collins, The Waters of the Nile. Hydropolitics and the Jonglei Canal, ­1900–1988, Oxford 1990.

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pend. 2005 verfügten gerade einmal vier Prozent der Bevölkerung über Zugang zu Strom.46 Der Kariba-Staudamm war eng mit einem viel beachteten und zugleich höchst kontroversen Staatsbildungsexperiment verknüpft. Im Jahr 1953 wurde die Zentralafrikanische Föderation gegründet, die sich aus der halbautonomen Siedlerkolonie Südrhodesien und den britischen Protektoraten Nord­rhodesien und Njassaland zusammensetzte. Von ihren Architekten gepriesen als »dritter Weg« zwischen weißen und schwarzen Unabhängigkeitsbestrebungen, brach die politische Konstruktion nach zehn Jahren wieder in sich zusammen. Der kostspielige Staudamm sollte für den nordrhodesischen Kupfergürtel und industrielle Zentren in Südrhodesien große Mengen billigen Strom liefern und auf diese Weise der gesamten Föderation den wirtschaftlichen Aufschwung ermöglichen. Und dieses wirtschaftliche Wachstum würde es ermöglichen, so die Überzeugung der Planer, bestehende soziale Spannungen zwischen den privilegierten weißen Siedlern und der schwarzen Bevölkerungsmehrheit zu beenden. Am Ende zementierte der Staudamm die Ungleichheiten der Spätkolonialzeit und verfestigte überdies die wirtschaftspolitische Schwerpunktsetzung der Region auf Kupferförderung und -export, was sich spätestens mit dem Einbruch der Kupferpreise in den 1970er Jahren als verheerend erweisen sollte.47 Weiter flussabwärts am Sambesi errichteten die Portugiesen u. a. mit Hilfe von Siemens den Cahora-Bassa Staudamm, der kurz vor der Unabhängigkeit Mosambiks fertiggestellt wurde und trotz des Versprechens lokaler Industrialisierung vor allem Strom in den Apartheidstaat Südafrika lieferte.48 Während sowohl Kariba als auch Cahora letztlich vor allem europäischen und Siedlerinteressen dienen sollten, war der Akosombo Staudamm in Ghana dezidiert ein Projekt für die junge afrikanische Nation. Der Damm bildete das Kernstück des Volta River Projekts, das auch einen großen künstlichen See, eine Aluminiumhütte, die Umsiedlung von 80.000 Menschen, neue Städte und Ortschaften, einen Tiefseehafen sowie weitere infrastrukturelle Maß­ nahmen umfasste. Kwame Nkrumah, der 1951 noch unter britischer Kolonialherrschaft Regierungschef geworden war, machte die Realisierung des Volta River Projekts zu einem der zentralen Ziele eines unabhängigen Ghana. Das Voltavorhaben war entscheidend für das Modernisierungsprogramm des Landes und versprach rasche Industrialisierung und weniger Abhängigkeit vom Kakaoexport. Nach der Unabhängigkeit 1957 erfüllte sich Nkrumah seinen

46 Christopher Gore, Electricity in Africa. The Politics of Transformation in Uganda, Woodbridge / Suffolk 2017. 47 Tischer, Whose Power?, S. 267, 285. Umfassend zum Kariba-Damm: Dies., Light and Power for a Multiracial Nation. The Kariba Dam Scheme in the Central African Federation, Basingstoke 2013. 48 Allen F. Isaacman / Barbara S. Isaacman, Dams, Displacement, and the Delusion of Development. Cahora Bassa and its Legacies in Mozambique, 1965–2007, Athens / OH 2013.

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Traum.49 Er handelte gegen die Vorschläge seines Beraters, des Ökonomen W. A. Lewis, der einen Schwerpunkt auf landwirtschaftliche Entwicklung legen wollte. Nkrumah optierte für eine staatlich gelenkte Entwicklung durch Industrialisierung, vornehmlich staatseigene Betriebe, zuweilen in Kooperation mit privaten ausländischen Investoren. Billiger Strom, den das Volta-Projekt möglich machen sollte, war der Schlüssel zu seinem Plan.50 Überdies verband Nkrumah mit dem Staudamm panafrikanische Perspektiven.51 Viele Ghanaer betrachten Akosombo als eines der erfolgreichen Entwicklungsprojekte, das ein Stück Moderne nach Ghana gebracht habe. 2014 hatten immerhin rund 70 Prozent der Ghanaer Zugang zu Strom, weit mehr als anderswo in Westafrika. Doch sorgte das Projekt wiederholt für Spannungen, denn nicht wenige fühlten sich von den Vorteilen, die der Staudamm brachte, ausgeschlossen. Überdies war das Vorhaben durch finanzielle Engpässe und die Notwendigkeit, Kredite von ausländischen Unternehmen und Banken zu nehmen, eingeschränkt – ein Nexus, den Nkrumah eigentlich hoffte vermeiden zu können. Die multinationalen Aluminiumunternehmen waren in einer starken Position, um für sich sehr günstige Bedingungen einfordern zu können. Ghana erzielte zwar durch Exporte Einkünfte, erreichte jedoch keine wirtschaftliche Autonomie, vor allem nicht von den Aluminiumkonglomeraten.52 Nicht nur Nkrumah verband mit der Unabhängigkeit die Hoffnung, dass afrikanische Staaten nun ihre eigenen Industrien aufbauen könnten.53 Und in einem gewissen Maße gelang dies. Die meisten Regierungen führten eine importsubstituierte Industrialisierung (ISI) ein, die üblicherweise den Schutz junger Industrien, erhöhte Investitionen in die Infrastruktur (Transport und Energiesektor) und mehr oder weniger ehrgeizige Produktionsziele kombinierte, um die möglichst rasche Ablösung von importierten zu lokal produzierten

49 Stephan F. Miescher, »Nkrumah’s Baby«. The Akosombo Dam and the dream of development in Ghana, 1952–1966, in: Water History 6/4 (2014), S. 341–366. Miescher schließt gerade eine umfassende Monografie zur Geschichte des Volta River Projektes ab. 50 Robert L. Tignor, W. Arthur Lewis and the Birth of Development Economics, Princeton / N J 2006. 51 Seine Rede zur Eröffnung des Staudamms beendete er mit folgenden Sätzen: »When, in a few moments, I turn the switch to shed the full radiance of Volta power on the scene, may it symbolize not only a great achievement of Ghana, but let it also be a light leading us on to our destined and cherished goal – a union government for Africa. Only in this way will Africa play its full part in the achievement of world peace and for the advancement of the happiness of mankind.« »Volta: radiance of hope and prosperity«, in: Ghana Times, 24.1.1966, S. 5. Ich danke Stephan F. Miescher, Santa Barbara, für diesen Hinweis und die Übersendung des Zitats. 52 Tony Killick, Fragile still. The structure of Ghana’s economy 1960–94, in: Ernest Aryeetey u. a. (Hg.), Economic Reforms in Ghana. The Miracle and the Mirage, Oxford 2000, S. 51–67. 53 Lynn K. Mytelka, The unfulfilled promise of African industrialization, in: African Studies Review 32/1 (1989), S. 77–137.

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Industriewaren zu erreichen.54 Das zentrale Anliegen von ISI bestand darin, wirtschaftliche Unabhängigkeit in der Produktion von lokalen Konsumgütern zu erlangen, nicht jedoch sich durch die Entwicklung international konkurrenzfähiger Industrien in Exportmärkten zu etablieren. Diese Agenda machten sich nicht allein eher »sozialistisch« ausgerichtete Regime wie in Tansania unter Julius Nyerere oder eben in Ghana unter Nkrumah zu eigen, sondern ebenso eher »kapitalistisch« orientierte Regierungen wie in der Elfenbeinküste unter Houphouët-Boigny.55 Die Einschränkungen, mit denen sich ISI konfrontiert sahen, waren jedoch beträchtlich. Transnationale Gesellschaften insistierten häufig darauf, Konkurrenten außen vor zu lassen, staatseigene Industrien bekamen geschützte Märkte, so dass ISI nicht selten bedeutete, dass Produzenten ebenso geschützt wie ineffizient waren. Bürger mussten sich mit Produkten begnügen, die zugleich teurer und von schlechterer Qualität waren als vergleichbare, auf dem Weltmarkt erhältliche Waren. Zudem bedurften die Industrien des beständigen Imports von Maschinen und Zubehör. Die Ökonomien der Industrialisierung waren in Ländern mit kleinen Märkten und einer wenig ausgebauten Infrastruktur schwierig genug. Noch schlimmer machte es häufig die Politik, denn Politiker neigten dazu, die geschützten Industrien zu nutzen, um sich und ihre Klientel zu bereichern und relativ gut bezahlte Jobs zu verteilen. Gleichwohl hatte Industrialisierung im subsaharischen Afrika ihren Moment. Zwischen 1965 und Mitte der 1970er Jahre wuchs der industrielle Sektor doppelt so rasch wie das Bruttoinlandsprodukt. Dieses Wachstum war vor allem an die Minen gekoppelt, aber auch die gewerbliche Industrie wuchs zwischen 1960 und 1980 jährlich um sieben Prozent, wobei der Nahrungsmittelverarbeitung und Textilbranche besondere Wichtigkeit zukam. Industrialisierung konzentrierte sich auf wenige Zentren, etwa die Regionen um Harare oder Nairobi.56

4. Die große Krise und die Illusion von »Wachstum« Die Ölkrise von 1973/74 traf die meisten afrikanischen Staaten hart. Dies galt sowohl für Rohstoffexporteure wie Sambia, deren Ökonomie häufig an einem einzigen Exportgut hing, als auch für arme Länder in Westafrika wie Tschad, die nur wenig in die internationale Wirtschaft eingebunden waren. Die Effekte der Krise waren vielfältig. So kosteten die notwendigen Öleinfuhren nun ein Viel54 Tony Killick, Development Economics in Action. A Study of Economic Policies in Ghana, New York 1978. 55 Emmanuel Akyeampong, African socialism; or, the search for an indigenous model of economic development?, in: Economic History of Developing Regions 33/1 (2018), S. ­69–87; Austin u. a., Patterns, S. 361. 56 Frederick Cooper, Africa since 1940. The past of the present, New York 22019, S. 143 f. Umfassend: Morten Jerven, Economic Growth and Measurement Reconsidered in Botswana, Kenya, Tanzania, and Zambia, 1965–1995, Oxford 2014.

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faches mehr. Mit der durch die Ölkrise verstärkten Weltwirtschaftskrise brachen zugleich Nachfrage und Preis vieler Rohstoffe ein, welche wie etwa Kupfer, Kakao oder Kaffee die Haupteinnahmequelle dieser Länder ausmachten. Und schließlich verteuerte der gestiegene Ölpreis die westlichen Industrieprodukte, auf deren Einfuhr viele Staaten Afrikas angewiesen waren. Ihre Zahlungsbilanzen gerieten nachhaltig in die Schieflage, sie verschuldeten sich bis in die 1980er Jahre hinein tief und mussten zumeist den Gang zum Internationalen Währungsfond antreten, der ihnen folgenreiche »Strukturanpassungsmaßnahmen« verschrieb.57 Im Namen finanzieller Rigidität wurde die Zerstörung dessen vorangetrieben, was als »sozial« bezeichnet werden kann – das Recht auf Bildung, medizinische Versorgung, ein Einkommen, das zum Überleben reicht. Im internationalen Diskurs verwandelten sich die Rechte der Kolonisierten auf soziale Sicherheit und Arbeitsschutz, wie sie in der Spätkolonialphase von Organisationen wie der ILO propagiert worden waren, in Bedürfnisse der Armen der Welt, denen sich Experten der Armutsbekämpfung widmeten. Oft entstanden Kooperationen zwischen ärmeren Staaten und transnationalen Unternehmen, um die Interessen von Bauern und Arbeitern zu beschneiden. Afrikanische Herrscher und große Firmen verfügten über schlagkräftige Instrumente, um ihre ökonomischen Rechte zu schützen. Ein Minenarbeiter in Sambia hingegen hatte kaum Mechanismen zur Hand, um wenigstens die elementarsten sozialen Rechte einzuklagen. Dies stand in beträchtlichem Kontrast zur Dekade unmittelbar nach der Unabhängigkeit, wo etwa dieser Minenarbeiter die begründete Erwartung hegen konnte, durch seine Arbeit bescheidenen Wohlstand zu erlangen und als Bürger, wenn auch geringe, staatliche Leistungen zu empfangen. Die Hoffnungen wurden in den späten 1970er Jahren zunichte gemacht, als die Kupferpreise abstürzten und die Industrie kollabierte. Jobs verschwanden und die Pensionen lösten sich in der Inflation auf.58 Nach der Ölkrise verlangsamte sich das Wachstum in der verarbeitenden Industrie rapide, 1980 war es dann negativ. Afrika deindustrialisierte sich langsam. Das Wachstum ab den 2000er Jahren, das viele enthusiastische Kommentatoren in der westlichen Presse vom »Boomkontinent Afrika« schwärmen ließ, war weder an Industrialisierung gekoppelt noch schuf es signifikant mehr Arbeitsplätze.59 Das lässt sich etwa an den ölproduzierenden Ländern zeigen, neben Nigeria sind dies vor allem Angola, Gabun, Äquatorialguinea, Kamerun 57 Eine instruktive Fallstudie bietet Jonas Kreienbaum, Der verspätete Schock. Sambia und die erste Ölkrise von 1973/74, in: Geschichte und Gesellschaft 43/4 (2017), S. 612–633. 58 James Ferguson, Expectations of Modernity. Myths and Meanings of Urban Life in the Zambian Copperbelt, Berkeley 1999. 59 Besonders wirkungsreich zum Image Afrikas als Boomkontinent war der »Economist« mit seinem Titelblatt »Africa Rising« vom 3.12.2011. In deutscher Sprache etwa Christian Hiller von Gaertringen, Afrika ist das neue Asien. Ein Kontinent im Aufschwung, Hamburg 2014; Hans Stoisser, Der schwarze Tiger. Was wir von Afrika lernen können, München 2015; Andreas Siren / Frank Siren, Der Afrika-Boom. Die große Überraschung des 21. Jahrhunderts, München 2015.

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und Sudan. Ölindustrien bedürfen großer Investitionen von multinationalen Unternehmen und Fachkräfte, um die Bohrlöcher zu errichten und die Hähne zu öffnen. Dann kümmert sich eine kleine Gruppe von Arbeitern, zumeist aus dem Ausland, darum, den Betrieb der Bohrungen zu sichern. Die Regierungen kassieren üppige Pacht. Die Ölproduktion unterscheidet sich beträchtlich vom Abbau von Kupfer, Gold oder anderen Mineralien, weil sie weit weniger Arbeiter braucht und weniger Verbindungen zu regionalen Ökonomien benötigt oder schafft. Entscheidend im Ölgeschäft ist die Verbindung zwischen einem Staat, der die souveräne Kontrolle über eine Ressource ausübt und ausländischen Unternehmen, welche über die Kapazität verfügen, diese Ressource auszubeuten. Der Exportboom der 2000er Jahre führte in einem Ölland wie Angola ins Extrem. Die Hauptstadt des Landes, Luanda, zählt mittlerweile zu den teuersten Städten der Welt, mit luxuriösen Unterkünften für ausländische Mitarbeiter in der Ölindustrie und den benachbarten Branchen und für die angolanische Elite, während in den umliegenden Slums miserable Bedingungen herrschen.60 Solche Konstellationen förderten nicht unbedingt Investitionen in ein breites Spektrum von ökonomischen Betätigungen, sondern eher in eng fokussierte, hochpreisige Dienstleistungen, etwa im Sicherheitsbereich oder der privaten Stromversorgung für die »gated communities« der Eliten. Im Übrigen ist das vermeintlich boomende Afrika eng an Investitionen aus China gekoppelt, die wiederum vor allem auf den Transport- und Energiesektor sowie auf Rohstoffe zielen, nicht jedoch auf die verarbeitende Industrie. Für ihre Großbauprojekte brachten die Chinesen oft ihre eigenen Arbeiter mit.61 Das Ausbleiben der Industrialisierung sorgte dafür, dass der in den 1950er und 1960er Jahren prognostizierte Anstieg von Lohnarbeit und der Prozess der »Proletarisierung« weitgehend ausblieben. Die Anzahl der Menschen, auf die im nachkolonialen Afrika die Beschreibung Lohnarbeiter zutrifft, blieb gering, während die Kategorie der Ausgeschlossenen, der informell und prekär Beschäftigten, immer weiterwuchs. Auf der Suche nach Beschäftigung und Einkommen migrierten Afrikaner trotz zunehmend restriktiveren Regulierungen verstärkt nach Europa und Nordamerika. Ein Resultat ihrer dortigen Präsenz – als Straßenreiniger, Ingenieur oder Mediziner – waren hohe Summen von Rücküberweisungen an ihre Verwandten in ihren Heimatländern. Die Zahlungen beliefen sich nach Angaben der Welt-

60 Tony Hodges, Angola. Anatomy of an Oil State, Oxford 2004; Cooper, Africa since 1940, S. 148 f. 61 Die Literatur zum chinesischen Engagement in Afrika ist inzwischen sehr umfassend. Einen guten Überblick bieten Chris Alden / Daniel Large (Hg.), New Directions in AfricaChina Studies, London 2019. Zum wirtschaftlichen Engagement Chinas in Afrika vgl. etwa Ching Kwan Lee, The Specter of Global China. Politics, Labor and Foreign Investment in Africa, Chicago 2017. Zum ersten umfassenden chinesischen Projekt in Afrika in den 1960er und frühen 1970er Jahren, die Tazara-Bahn, die Tansania und Sambia verband, vgl. Jamie Monson, Africa’s Freedom Railway. How a Chinese Development Project changed Lives and Livelihoods in Africa, Bloomington 2009.

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bank 2014 auf 35 Milliarden US -Dollar und lagen damit nur wenig unter den Entwicklungshilfezahlungen, die der Kontinent erhielt.62

5. Fazit Eine Reihe von Ökonomen glaubt, Afrika habe dem globalen Kapitalismus neben Rohstoffen auch weiterhin einiges zu bieten. Demnach ließe sich ein großes ­Reservoir an billigen Arbeitskräften anzapfen. Multinational aufgestellte Händler von Produkten, die sich in kleine Einheiten aufteilen lassen, Zigaretten, Erdnüsse oder Telefonkarten mit geringem Guthabenwert etwa, könnten auch den Markt relativ armer Menschen anvisieren, wenn sie zum Verkauf auf  – schlecht bezahlte  – Mittelsleute zurückgriffen. Diese Mittelsleute haben eine Nische, weil ihre Arbeit so wenig wert ist, dass es sich für Unternehmer lohnt, sie anzustellen, um Menschen Dinge zu verkaufen, die zu größeren Ausgaben nicht in der Lage sind. Dieses Geschäftsmodell basiert zum einen auf der »Zerstückelung einer Tätigkeit in immer kleinere Häppchen«, zum anderen darauf, möglichst viele Afrikaner als Unternehmer (recht eigentlich eher als verschleierte Arbeiter) und als Konsumenten zu gewinnen. Ob dadurch tatsächlich ein struktureller Wandel oder die Reduktion von Armut erreicht werden kann, ist mehr als fraglich.63 Gegenwärtig jedenfalls geht die viel beschworene enorme unternehmerische Energie Afrikas über die Versorgung von Armen und Geringverdienern mit kostengünstigen Dienstleistungen und Waren noch viel zu selten hinaus.

62 Christian Nsiah / Bichaka Fayissa, Remittances to Africa and Economics, in: Célestin Monga / Justin Yifu Lin (Hg.), The Oxford Handbook of Africa and Economics, Bd. 2, Oxford 2015, S. 711–726; Cooper, Africa since 1940, S. 152. 63 Kate Meagher, The Scramble for Africans. Demography, Globalisation and Africa’s Informal Labour Markets, in: Journal of Development Studies 52/4 (2016), S. 483–497; Catherine Dolan / Dinah Rajek, Remaking Africa’s Informal Economies. Youth Entrepreneurship and the Promise of Inclusion at the Bottom of the Pyramid, in: Journal of Development Studies 52/4 (2016), S. 514–529; Frederick Cooper, From Enslavement to Precarity? The Labour Question in African History, in: Wale Adebanwi (Hg.), The Political Economy of Everyday Life in Africa. Beyond the Margins, Woodbridge / Suffolk 2017, S. 135–156, hier S. 139.

Ursula Lehmkuhl

Internationale Ver- und Entriegelungsprozesse im »American Century« Die 1970er Jahre als Epochenschwelle in den internationalen Beziehungen?

1. Einleitung Dieser Beitrag betrachtet die Entwicklungsdynamiken europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert aus der Perspektive internationaler Geschichte als Teil der Geschichte des Aufstiegs der USA zur Weltmacht. Die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert ist eng mit der Geschichte des »American Century« verflochten. Sie ist gekennzeichnet durch die normativ-institutionelle Verriegelung der verfassten Weltgesellschaft auf der Grundlage liberal-kapitalistischer Normen, Werte und Ideen, die bereits während und nach dem Ersten Weltkrieg in internationale Ordnungstrukturen übersetzt und nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich im Rahmen global agierender internationaler Organisationen politisch verfestigt worden sind. Während sich das lange 19. Jahrhundert durch die Globalisierung der Ideen der europäischen Aufklärung auszeichnet,1 ist das kurze 20. Jahrhundert durch die Globalisierung westlicher Ordnungs­ vorstellungen und ihrer Institutionalisierung in internationalen Ordnungsstrukturen charakterisiert.2 Die Epochenzäsur, die in den Arbeiten von Lutz ­Raphael und Anselm Doering-Manteuffel für die deutsche Nachkriegsgeschichte im Umfeld der 1970er Jahre diagnostiziert wurde, gilt in gleicher Weise für die amerikanische Geschichte im 20. Jahrhundert. Und auch die Geschichte der internationalen Staatengemeinschaft sah sich durch die Dekolonisation und der damit einhergehenden Veränderungen in der Mitgliederstruktur der Vereinten Nationen, durch die Ölpreiskrisen und die durch den Vietnamkrieg auslösten Haushalts- und politischen Vertrauenskrisen in den 1970er Jahren mit einer politischen Wendezeit konfrontiert.3 1 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hg.), An Emerging Modern World 1750–1870, Cambridge, MA 2018. 2 Frank A. Ninkovich, Global Dawn. The Cultural Foundation of American Internationalism, 1865–1890, Cambridge, MA 2009; Frank A. Ninkovich, The Wilsonian Century. U. S. Foreign Policy since 1900, Chicago 1999; George C. Herring, From Colony to Superpower. U. S. Foreign Relations since 1776, New York 2008. 3 Jan C. Jansen / Jürgen Osterhammel, Dekolonisation. Das Ende der Imperien, Bonn 2014.

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Der folgende Beitrag betrachtet die normativ-institutionellen Ver- und Entriegelungsprozesse im 20. Jahrhundert als Geschichte transatlantischer Beziehungen einerseits und als Geschichte der Globalisierung »westlicher« Ordnungsvorstellungen, Institutionen und Organisationen andererseits. Beide Geschichten sind miteinander verwoben. Forschungsbeiträge zur internationalen Geschichte haben in zahlreichen Detailstudien und Tiefenbohrungen gezeigt, dass die Phase vom Ersten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre hinein als Periode der normativ-institutionellen Verriegelung der verfassten Weltgesellschaft auf der Grundlage des Konzepts vom demokratischen Frieden und unter den Strukturbedingungen einer bipolaren Weltordnung verstanden werden muss. Die »westlich« geprägte internationale Ordnungspolitik unter Führung der USA im Verbund mit Großbritannien (Pax Anglo-Americana4) orientierte sich am Weltbild des Wilsonianism und seiner zentralen Prinzipien: Etablierung einer liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung und Demokratie, Selbstbestimmung der Völker und kollektive Sicherheit. Sie wurden als Garant für den internationalen Frieden betrachtet.5 Die Dekolonisation Asiens in den 1950er Jahren und Afrikas in den 1960er Jahren, die zur Gründung der UNCTAD und der Gruppe der 77 (1964) führte sowie die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zunehmende Destabilisierung der westlichen Hegemonialmacht USA durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krisen im eigenen Land, die letztlich den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973 beförderten, markieren Einschnitte in der Entwicklung dieser Ordnungsstrukturen, die das temporäre Aufbrechen des liberalen Internationalismus euro-amerikanischer Prägung möglich machten.6 Zwischen 1964 und 1973 wurden die normativ-institutionellen Grundlagen der verfassten Weltgesellschaft entriegelt. Im Gewand kommunitaristischer Konzepte zogen kollektive Prinzipien und Rechte, insbesondere Gerechtigkeit, Solidarität und wechselseitige Verantwortung in das dominante liberal-internationalistische Normengefüge ein.7 Die Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die Weiterentwicklung des Menschenrechtsregimes sowie die Etablierung neuer Konferenzstrukturen im Wirtschafts- und Sicherheitsbereich, die Partizipationsmöglichkeiten für die aus der kolonialen Abhängigkeit entlassenen neuen Mitglieder der

4 Ursula Lehmkuhl, Pax Anglo-Americana. Machtstrukturelle Grundlagen anglo-amerikanischer Asien- und Fernostpolitik in den 1950er Jahren, München 1999. 5 Jost Dülffer u. a. (Hg.), Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters, Essen 2011; Anthony J. Eksterowicz / Glenn P. Hastedt (Hg.), Wilsonianism and Other Visions of Foreign Policy, Hauppauge, N. Y. 2011; Lloyd E. Ambrosius, Wilsonianism. Woodrow Wilson and his Legacy in American Foreign Relations, New York 2002. 6 Tony Smith, Why Wilson Matters: The Origin of American Liberal Internationalism and Its Crisis Today, Princeton 2017. 7 Robert Mason / Iwan W. Morgan (Hg.), The Liberal Consensus Reconsidered. American Politics and Society in the Postwar Era, Gainesville 2017.

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Vereinten Nationen schaffen sollten, wurden zwar in UN-Resolutionen festgehalten, die weltweit große Aufmerksamkeit erfuhren. Sie entwickelten aber keine politische Durchschlagskraft. Die Wirkmächtigkeit der bipolaren Weltordnung und der ihr zugrundeliegende Ost-West-Konflikt, der am Ende der 1970er Jahre wieder an Dynamik gewann, überdeckte die in den 1970er Jahren aufgebrochenen Konflikte entlang der globalen Nord-Süd-Achse und die internationale Staatengemeinschaft kehrte zur Tagesordnung des Kalten Krieges zurück. Damit hatte der »Westen« die Entriegelungsversuche der Schwellen- und Entwicklungsländer Ende der 1970er Jahre zumindest vordergründig erfolgreich eingedämmt. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass mit dem Aufstieg Chinas und Indiens neue Machtzentren entstanden waren, die die Struktur der Bipolarität herausforderten und die Entwicklung eines neuen multipolaren Machtgefüges beförderten. Sie konnten erst nach dem Zusammenbruch der bipolaren Ordnung eine Struktur verändernde Wirkung entfalten. Die Anfang der 1980er Jahre insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich zu beobachtenden Versuche des westlichen Lagers, die verfasste Weltgesellschaft unter den normativ-institutionellen Bedingungen einer liberal-kapitalistischen Weltordnung und den Strukturbedingungen der Bipolarität wieder zu ver­ riegeln, lösten im kommunistisch-sozialistisch geprägten Lager Entriegelungsprozesse aus (Perestroika / Glasnost), während in den neuen Machtzentren in Asien und im Nahen und Mittleren Osten reflexive Verriegelungsprozesse zu beobachten sind (islamistischer Fundamentalismus). Mit Blick auf den Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung am Ende der 1980er Jahre und der Globalisierung privater, vor allem religiös motivierter Gewaltakteure in den 1990er Jahren – eine Entwicklung, die mit dem Angriff islamistischer Terroristen auf die Twin-Towers am 11. September 2001 einen traurigen Höhepunkt erlebte –, bleibt aus der Perspektive des Jahres 2020 die Frage zu diskutieren, welche Konsequenzen die Epochenzäsur der 1970er Jahre langfristig für die Globalisierung westlicher Ordnungsvorstellungen im langen »American Century« hatte, wie die Jahrzehnte »nach dem Boom« aus verflechtungs- und globalhistorischer Perspektive zu bewerten sind und wie sich die weltpolitischen Ver- und Entriegelungsprozesse im 20. Jahrhundert im Kontext von euro-amerikanischen Entanglements entwickelten.

2. Die Etablierung einer verfassten Weltgesellschaft nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg »American Exceptionalism« und »Democratic Peace«

Vierzehn Jahre nach der Berliner Westafrika-Konferenz von 1884, auf der die europäischen Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten, platzierten sich die USA in zwei äußerst brutal geführten Kriegen  – dem spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 und dem Philippinenkrieg (1899–1902)  – als imperiale

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Macht, die eine über das nordamerikanische Festland hinausgehende Interessenpolitik in der Karibik und im pazifischen Raum verfolgte.8 Gleichzeitig entwickelten sich die USA um 1900 zur führenden Wirtschaftsmacht, auch wenn die Briten aufgrund ihrer imperialen Handels- und Finanzstrukturen in der internationalen politischen Ökonomie noch einige Zeit die Nase vorn behalten sollten. David Traxel bezeichnet das Jahr 1898 als Geburtsjahr des »American Century«. Der Begriff selbst wurde allerdings erst gut vierzig Jahre später von Henry Luce geprägt. Am 17. Februar 1941 erklärte er in einem Artikel im Time Magazine das 20. Jahrhundert zum amerikanischen Jahrhundert.9 Die Vereinigten Staaten zogen in den spanisch-amerikanischen Krieg wegen der »Spanish atrocities in Cuba«.10 Viele Amerikaner, darunter auch der spätere Präsident Theodore Roosevelt, begründeten den Krieg gegen Spanien mit der moralischen Pflicht der USA, für eine bessere, eine neue Weltordnung einzutreten und andere Völker in ihrem Kampf um Unabhängigkeit zu unterstützen. Es sei der politische Auftrag der USA, die Ideale der Freiheit, der Demokratie und der Zivilisation auf dem amerikanischen Kontinent und darüber hinaus zu verbreiten.11 Damit fand die im Kontext des amerikanischen Siedlerkolonialismus des späten 18. und 19. Jahrhunderts auf die Zivilisierung des Kontinents bezogene Ideologie des »Manifest Destiny« eine globale Fortsetzung. Zusammen mit der bereits in der Kolonialzeit entwickelten Vorstellung, die Vereinigten Staaten von Amerika nähmen eine Sonderstellung gegenüber allen anderen Nationen ein, entfaltete das amerikanische Sendungsbewusstsein im 20. Jahrhundert eine enorme Wirkmächtigkeit.12 »Amerika« sei aus einer Idee geboren worden und habe deshalb den Auftrag, diese Idee zu verbreiten. Emily Rosenberg hat dies in dem griffigen Buchtitel »Spreading the American Dream« auf den Punkt gebracht.13 Die politische Kernideologie des American Exceptionalism äußerte sich in der tief verwurzelten Überzeugung der Amerikaner, dass sie Gottes Werk verrichten, indem sie ihr politisches und wirtschaftliches System exportierten. 8 H. W. Brands, Bound to Empire. The United States and the Philippines, New York 1992; Frank A. Ninkovich, The United States and Imperialism, Malden, MA 2001. 9 David Traxel, 1898. The Birth of the American Century, New York 1998; Robert Edwin Herzstein, Henry R.  Luce. A Political Portrait of the Man who Created the American Century, New York 1994; Alan Brinkley, The Publisher. Henry Luce and his American Century, New York 2010; für einen Reprint des Textes siehe Henry Luce, The American Century, in: Diplomatic History 23/2 (1999), S. 159–171 (online: http://www-personal. umich.edu/~mlassite/discussions261/luce.pdf, aufgerufen am 29.03.2020). 10 Interview mit David Traxel, 19. Mai 2000, in: UShistory.org, https://www.ushistory.org/ US/historians/traxel.asp (aufgerufen am 19.03.2020). 11 Eric Foner, The Idea of Freedom in the American Century – Lawrence F Brewster Lecture in History, Greenville, N. C. 2003. 12 Über den American Exceptionalism hatte Tocqueville bereits 1835 in seinem berühmten Buch »De la démocratie en Amérique« berichtet: Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, Brüssel 1835. 13 Emily S. Rosenberg (Hg.), Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion, 1890–1945, New York 1982.

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Die USA waren davon überzeugt, dass »Western-style democracy is the natural state of all nations and that all will embrace it once the United States removes artificial barriers imposed by regimes based on other principles«.14 Die Expansionslogik des American Exceptionalism lässt sich verkürzt folgendermaßen zusammenfassen: In der amerikanischen Revolution hätten die Amerikaner für den naturrechtlich begründeten Anspruch auf politische Selbstbestimmung gekämpft. Die mit der Revolution erkämpfte liberal-kapitalistische politische Ordnung basierend auf den Prinzipien von Freiheit, Demokratie und nationale Selbstbestimmung, sei universell gültig und die Vereinigten Staaten hätten den gottgegebenen Auftrag, den eigenen Weg, die Spezifika der amerikanischen Demokratie und die damit verbundenen politischen Normen, Werte, Ideen und Institutionen in der Welt zu verbreiten und kolonialisierte Völker in ihrem Unabhängigkeitskampf zu unterstützen.15 Entlang dieser Argumentationslinie erklärte Henry Cabot Lodge (sen.)16 am 2. Februar 1896 im Kontext der Kongressdebatten um die Pogrome gegen die Armenier im Osmanischen Reich die amerikanische Intervention in Kuba zu einer moralischen Pflicht: »Of the sympathies of the American people, generous, liberty-loving, I have no ­question. They are with the Cubans in their struggle for freedom. I believe our people would welcome any action on the part of the United States to put an end to the terrible state of things existing there. We can stop it. […] We have the power to bring it to an end. […] we can not escape the responsibility which is so near to us. […] Standing, as I believe the United States stands, for humanity and civilization, we should exercise every influence of our great country to put a stop to that war which is now raging in Cuba and give to that island once more peace, liberty, and independence.«17

Zwanzig Jahre später, am 2. April 1917, übersetzte Präsident Woodrow Wilson die Kernideologie des American Exceptionalism in seiner berühmten Ansprache vor beiden Häusern des Kongresses in die amerikanische Doktrin vom demokratischen Frieden – »Making the World Safe for Democracy« –, die auf einer unverwechselbaren Mischung von christlichem Republikanismus und demokratischem Glauben basierte.18 Wie Cabot Lodge zwanzig Jahre zuvor bat Wilson 14 Stephen Kinzer, Overthrow. America’s Century of Regime Change from Hawaii to Iraq, New York 2006, S. 315. 15 Ninkovich, The United States and Imperialism; Charles L.  Sanford (Hg.), Manifest ­Destiny and the Imperialism Question, New York 1974. 16 Henry Cabot Lodge (sen.) war republikanischer Senator aus Massachusetts sowie Urenkel von George Cabot (1752–1823), der als Mitglied des State Provincial Congress von Massachusetts und Delegierter der Constitutional Convention 1777 eine wichtige politische Rolle im amerikanischen Unabhängigkeitskampf gespielt hatte. 17 Henry Cabot Lodge, February 20, 1896, in: Congressional Record: Proceedings and Debates of the Fifty-Fourth Congress, First Session, Vol. XXVIII, Part II, Washington 1896, S. 1972. 18 Michael C. Williams, Culture and Security. Symbolic Power and the Politics of International Security, New York 2007.

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um die Zustimmung des Kongresses zur amerikanischen Kriegserklärung gegen das deutsche Kaiserreich mit dem Hinweis auf die moralische Pflicht der USA, der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen.19 Wilson erklärte: »Our object […] is to vindicate the principles of peace and justice in the life of the world as against selfish and autocratic power and to set up among the really free and self-governed peoples of the world such  a concert of purpose and of action as will henceforth ensure the observance of those principles. […] The world must be made safe for democracy. Its peace must be planted upon the tested foundations of political liberty. We have no selfish ends to serve. We desire no conquest, no dominion. We seek no indemnities for ourselves, no material compensation for the sacrifices we shall freely make. We are but one of the champions of the rights of mankind. We shall be satisfied when those rights have been made as secure as the faith and the freedom of nations can make them.«20

Normativ-institutionelle Verriegelung kolonialistischer Deutungsrahmen und Entriegelung des machtpolitischen Gegensatzes zwischen USA und UdSSR

Woodrow Wilson führte die USA 1917 zwar in den Ersten Weltkrieg und engagierte sich im Rahmen der Versailler Friedensverhandlungen für die Etablierung einer neuen Weltordnung. Es sollte allerdings noch ein weiteres Vierteljahrhundert dauern, bis die USA ihre selbst auferlegte moralische Pflicht in welt­ politisches Handeln übersetzten, denn neben der oben beschriebenen internationalistischen Position besaßen isolationistische Kräfte in den USA eine hohe politische Deutungsmacht.21 So legte Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 mit seinem 14-Punkte-Programm zwar die Grundprinzipien für eine globale Friedensordnung vor; allerdings verweigerte der Kongress die Zustimmung zum amerikanischen Beitritt zum Völkerbund. Damit überließen die USA den europäischen Großmächten die Ausgestaltung der Völkerbundpolitik, was u. a. zu einer erheblichen zeitlichen Verzögerung in der Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker führte. Denn – und das ist nur eine der vielen normativen Spannungen, mit denen sich globalpolitisches Handeln nach dem Ende des Ersten Weltkriegs konfrontiert sah – während die Völkerbundsatzung einerseits das Selbstbestimmungsrecht der Völker verankerte, trug sie gleichzeitig dazu bei, den Kolonialismus und kolonialistische Weltbilder rechtlich zu legitimieren und damit zu perpetuieren. So liest sich beispielsweise der Artikel 22 wie eine gekonnte ideologische Kreuzung zwischen der amerikanischen »Manifest 19 Detlef Junker, The Manichaean Trap: American Perceptions of the German Empire, 1871–1945, Washington, D. C. 1995. 20 Woodrow Wilson, War Messages, 65th Cong., 1st Sess. Senate Doc. No. 5, Serial No. 7264, Washington, D. C., 2 April, 1917, in: World War I Document Archive, https://wwi.lib.byu. edu/index.php/Wilson%27s_ War_Message_to_Congress (aufgerufen am 24.3.2020). 21 Philip Terzian, Architects of Power. Roosevelt, Eisenhower, and the American Century, New York 2010.

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Destiny«, der britischen Doktrin vom »white men’s burden« und der franzö­ sischen »mission civilisatrice«: »Auf die Kolonien und Gebiete, die infolge des Krieges aufgehört haben, unter der Souveränität der Staaten zu stehen, die sie vorher beherrschten, und die von solchen Völkern bewohnt sind, die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten, finden die nachstehenden Grundsätze Anwendung: Das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker bilden eine heilige Aufgabe der Zivilisation, und es ist geboten, in die gegenwärtige Satzung Bürgschaften für die Erfüllung dieser Aufgabe aufzunehmen. Der beste Weg, diesen Grundsatz durch die Tat zu verwirklichen, ist die Übertragung der Vormundschaft über diese Völker an die fortgeschrittenen Nationen, die auf Grund ihrer Hilfsmittel, ihrer Erfahrung oder ihrer geographischen Lage am besten imstande sind, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen, und die hierzu bereit sind; sie hätten die Vormundschaft als Mandatare des Bundes und in seinem Namen zu führen. Die Art des Mandats muß nach der Entwicklungsstufe des Volkes, nach der geographischen Lage des Gebiets, nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen und allen sonstigen Umständen dieser verschieden sein.«22

Dem Geist des Artikels 22 folgend wies Woodrow Wilson als Vertreter einer »fortgeschrittenen Nation« auf der Friedenskonferenz von Versailles den Wunsch des vietnamesischen Nationalisten Ho Chi Minh, ein unabhängiges, geeintes und demokratisches Vietnam zu gründen, zurück und verweigerte sogar ein Gespräch. Ho Chi Minh, der in Frankreich politisch sozialisiert worden war, sich der Sozialistischen Partei Frankreichs angeschlossen hatte und Mitglied der »Association des Patriotes Annamites« war, einem Verein, der sich an die in Frankreich lebenden Vietnamesen richtete, radikalisierte daraufhin seinen antikolonialen Kampf und gehörte 1920 zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei Frankreichs.23 Aus dieser Position heraus versuchte er, einen eigenen politischen Weg für ein kommunistisches Vietnam unabhängig von sowjetischer oder chinesischer Dominanz zu finden und politisch umzusetzen.24 Die Zurückweisung anti-kolonialer Kräfte und Bewegungen und insbesondere der Petition für die nationale Selbstbestimmung Vietnams, die im Duktus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung geschrieben war25 (was dem 22 Friedensvertrag von Versailles, 28. Juni 1919, in: documentArchiv.de (online: http://www. documentarchiv.de/wr/vv01.html, aufgerufen am 29.3.2020); für die englische Version vgl.: The Avalon Project. Documents in Law, History and Diplomacy, Yale Law School, The Covenant of the League of Nations (online: http://www.documentarchiv.de/wr/vv01. html, aufgerufen am 29.3.2020). 23 William J. Duiker, Ho Chi Minh, New York 2000. 24 Pierre Brocheux / Daniel Hémery, Indochina. An Ambiguous Colonization, 1858–1954, Berkeley, CA 2009, S. 44. 25 Arthur M. Schlesinger, Das bittere Erbe. Vietnam, Prüfstein der Demokratie, Bern 1967, S. 16; David Armitage, The Declaration of Independence. A Global History, Cambridge, MA 2007.

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amerikanischen Präsidenten hätte auffallen können), stellen den Beginn einer Entwicklung dar, die die USA fünfzig Jahre später in eine der größten Krisen ihrer Geschichte stürzen sollte. Diese Krise hatte fundamentale Folgen für die institutionellen und normativen Rahmenbedingungen des nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten internationalen Systems. Zu den Ursachen dieser Krise zählte allerdings nicht nur das Weiterleben kolonialistischer Weltbilder, sondern auch das Aufbrechen des ideologischen und machtpolitischen Gegensatzes zwischen den USA und Sowjetrussland, das durch die Versailler Friedensordnung und die Gründung des Völkerbunds beschleunigt wurde und den für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidenden Systemkonflikt dynamisierte. Nationale Selbstbestimmung im sozialistischen oder gar kommunistischen Kleid wollten die USA bereits 1919 unter keinen Umständen zulassen. Diese Maxime bestimmte auch die amerikanische Politik gegenüber nationalen Befreiungs­ bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg.26 Mit Ausnahme der Episode im Kontext der Versailler Friedenskonferenz äußerte sich der Ost-West-Konflikt in den 1920er und 1930er Jahren zunächst vor allem in der amerikanischen Innenpolitik. Streikwellen und Rassenunruhen beförderten Anfang der 1920er Jahre die Entwicklung einer amerikanischen kollektiven Paranoia, dem Red Scare.27 Die sozialen Konflikte innerhalb der USA verschärften sich und wurden übersetzt in eine immer heftiger werdende außenpolitische Kritik am Völkerbund, der als Interessengemeinschaft imperialistischer Mächte diskreditiert wurde. Der amerikanische Separatfrieden führte zur internationalen Isolation der USA, die durch die anhaltenden innenpolitischen Spannungen zwischen Isolationisten und Internationalisten verstärkt wurde.28 Die Krise der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die durch die Ereignisse am »Black Tuesday« 1929 ausgelöst wurde, verschärfte zwar die Sorge um die europäische Stabilität und intensivierte die amerikanische Abschottung gegenüber der Sowjetunion, doch erst der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs motivierte die USA dazu, eine umfassende globalpolitische Strategie zu entwickeln.29 Während die USA durch die Weltwirtschaftskrise in ihren außen- und sicherheitspolitischen Ambitionen ausgebremst wurden, verlor Großbritannien 26 Adom Getachew, Worldmaking after Empire. The Rise and Fall of Self-determination, Princeton 2019. 27 Ragnhild Fiebig-von Hase / Ursula Lehmkuhl (Hg.), Enemy Images in American History, Providence, RI 1997. 28 Lloyd E.  Ambrosius, Woodrow Wilson and the American Diplomatic Tradition. The Treaty Fight in Perspective, Cambridge 1987; Klaus Schwabe, Woodrow Wilson, Revolutionary Germany, and Peacemaking, 1918–1919. Missionary Diplomacy and the Realities of Power, Chapel Hill 1985; Tony Smith, America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy, Princeton, N. J. 2012. 29 John Kenneth Galbraith, The Great Crash, 1929, Boston 2009; Leonard Gomes, German Reparations, 1919–1932. A Historical Survey, New York 2010; Wolfgang J. Helbich, Die Reparationen in der Ära Brüning. Zur Bedeutung des Young-Plans für die deutsche Politik 1930 bis 1932, Berlin 1962.

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zunehmend seine weltpolitische Ordnungsfunktion.30 Das Machtvakuum auf der Ebene internationaler Führungspolitik trug zur Entriegelung von politischen Kräften bei, die die Welt in einen neuen Weltkrieg führten. Sowohl Großbritannien als auch die USA unterschätzten die Gefahr, die vom Nationalsozialismus und Faschismus ausging,31 während sie gleichzeitig angelsächsische Verbundenheit im Rahmen der »special relationship« zelebrierten.32 So waren die USA zwar in den Prozess des »Changing of the Guard« eingebunden,33 sie übernahmen aber erst im Zweiten Weltkrieg die Führungsrolle, die Henry Cabot Lodge und Woodrow Wilson für die amerikanische Politik bereits vierzig Jahre früher gefordert hatten. Die veränderte Machtkonstellation wurde spätestens mit dem massiven amerikanischen Militäraufbau in Großbritannien, der unter der Führung Eisenhowers 1942 begann und von David Reynolds als amerikanische »occupation« bezeichnet wurde,34 auch für die britische Bevölkerung greifbar. Der gemeinsame Kampf gegen die entriegelten totalitären und faschistischen Kräfte in Europa und Asien verstärkte die britisch-amerikanischen Sonder­ beziehungen. Gemeinsam schrieben sie sich nun auf die Fahne, Freiheit und Demokratie zu verteidigen und die entriegelten Kräfte wieder einzufangen.35 Das war die zentrale Botschaft der Atlantik-Charta, die am 14. August 1941 gemeinsam vom britischen Premierminister Winston Churchill und dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt vorgestellt wurde. Die Atlantik-Charta signalisierte der Weltöffentlichkeit, dass der 1939 eingeleitete politische Wendepunkt in der amerikanischen Außenpolitik, weg von der Position isolationistischer Neutralität hin zur Übernahme einer internationalen Führungsrolle, sich nun auch in weltpolitisches Handeln niederschlug. Sie legte die Prinzipien und Vorstellungen für eine Nachkriegsordnung fest und stellt damit einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gründung der Vereinten Nationen und damit zur Verriegelung der verfassten internationalen Staatengemeinschaft unter anglo-amerikanischer Führung und auf der Grundlage der politischen Prinzipien des American Exceptionalism dar. Zwar wurde die Sowjetunion in 30 Ronald Hyam, Britain’s Imperial Century, 1815–1914. A Study of Empire and Expansion, New York 32002; D. G.  Williamson, The British in Interwar Germany. The Reluctant ­Occupiers, 1918–30, London 22017. 31 Gustav Schmidt, England in der Krise. Grundzüge und Grundlagen der britischen Appeasement-Politik (1930–1937), Opladen 1981. 32 John Charmley, Churchill’s Grand Alliance. The Anglo-American Special Relationship, 1940–57, New York 1995. 33 Randall Bennett Woods, A Changing of the Guard. Anglo-American Relations, 1­ 941–1946, Chapel Hill 1990. 34 David Reynolds, Rich Relations. The American Occupation of Britain, 1942–1945, New York 1995. 35 Ursula Lehmkuhl, Still special? Anglo-American Relations since the End of the Cold War, in: Kai Oppermann (Hg.), British Foreign and Security Policy. Historical Legacies and Current Challenges, Augsburg 2012, S. 13–30; Ursula Lehmkuhl / Gustav Schmidt (Hg.), From Enmity to Friendship. Anglo-American Relations in the 19th and 20th Century, Augsburg 2005.

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den Konferenzen von Moskau und Teheran (1943), Dumbarton Oaks (1944) und Jalta (1945) in die Ausgestaltung der Entwürfe für eine neue Weltordnung einbezogen. Dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass die normativen Grundlagen der Charta der Vereinten Nationen, die am 26. Juni 1945 in San Francisco von den Vertretern der 51 Gründungsstaaten unterzeichnet wurde, ganz den Ideen des demokratischen Friedens verpflichtet waren. So ist etwa die Präambel der Charta im Duktus der amerikanischen »Bill of Rights« geschrieben: »We the Peoples of the United Nations determined to save succeeding generations from the scourge of war, which twice in our lifetime has brought untold sorrow to mankind, and to reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person, in the equal rights of men and women and of nations large and small, and to establish conditions under which justice and respect for the obligations arising from treaties and other sources of international law can be maintained, and to promote social progress and better standards of life in larger freedom, […] have resolved to combine our efforts to accomplish these aims.«36

In ihrer politischen Zielsetzung ähnelten die Vereinten Nationen dem Völkerbund. Mit der UNO wurde eine institutionell und normativ verfasste Staaten­ gemeinschaft gegründet. Durch die Einbindung souveräner Staaten in ein System gegenseitiger Sicherheit, gemeinsamer rechtlicher Verpflichtungen, Institutionen und Verfahren sollte Vertrauen zwischen ihnen hergestellt und der Weltfrieden und die internationale Sicherheit gewahrt werden. Ein zentraler Unterschied zwischen Völkerbund und Vereinten Nationen existierte im Hinblick auf das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. War die Völkerbundsatzung noch vom Geist des Kolonialismus geprägt, integrierten die Autoren der Charta der Vereinten Nationen den Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker als Maßnahme zur Festigung des Weltfriedens gleich in Artikel 1, Absatz 2, und in Absatz 3 verpflichteten sich die Mitglieder zur internationalen Zusammenarbeit, »um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen«.37 Zur Koordination der internationalen Aufgaben im Bereich von Wirtschaft und Wohlfahrt wurde ein Wirtschafts- und Sozialrat eingerichtet und die bereits existierenden oder noch zu etablierenden Sonderorganisationen auf den Gebieten Wirtschaft, Sozialwesen, Kultur, Erziehung, Gesundheit etc. wurden in das 36 Preamble, Charter of the United Nations, in: United Nations (online: https://www.un.org/ en/sections/un-charter/preamble/index.html, aufgerufen am 20.3.2020). Eine offizielle deutsche Übersetzung des Textes findet man auf der deutschsprachigen Seite der Vereinten Nationen: https://unric.org / de / charta/ (aufgerufen am 20.3.2020). 37 Charta der Vereinten Nationen (online: https://unric.org/de/charta/#kapitel1, aufgerufen am 20.3.2020).

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System der Vereinten Nationen integriert.38 Gleichzeitig verpflichteten sich die Mitglieder der Vereinten Nationen in »Hoheitsgebieten ohne Selbstregierung«, also den Kolonien, »die Selbstregierung zu entwickeln« und diese bei der »Entwicklung ihrer freien politischen Einrichtungen zu unterstützen« (Kapitel XI, Artikel 73). Damit wurde die Dekolonisation als zentrale politische Voraussetzung für die Globalisierung von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung rechtlich festgeschrieben und die globale politische Landkarte sollte sich innerhalb der nächsten dreißig Jahre grundlegend verändern.

3. Die Dekolonisation und das Aufbrechen der euro-amerikanischen Hegemonie Am Ende des Zweiten Weltkriegs lebten ca. 550–750 Millionen Menschen in Kolonien, Protektoraten, Mandatsgebieten, Dominions etc. Etwa die Hälfte der Landoberfläche der Welt bestand aus »Hoheitsgebieten ohne Selbstregierung«. Bei ihrer Gründung im Jahr 1945 hatte die UNO 51 Mitglieder. Dreißig Jahre später waren die Vereinten Nationen auf 144 souveräne Mitgliedsstaaten angewachsen und die Landmasse abhängiger Territorien war um mehr als 90 Prozent geschrumpft.39 »Containment« und »Roll back« als neo-kolonialistische Expansionsideologien

Bereits während des Zweiten Weltkriegs zeichnete sich eine Verfestigung der geopolitischen Konstellation des Ost-West-Konflikts, der seit der Oktoberrevolution von 1917 gärte, ab.40 Mit dem offenen Ausbruch des Kalten Kriegs 1946/47 begann ein regelrechter Wettkampf zwischen den Supermächten um Einfluss in den Kolonien bzw. dekolonisierten Staaten. Eindämmung und Zurückdrängung des ideologischen Gegners ersetzten die Konzepte von Zivilisierung und Missionierung und legitimierten eine neue Expansionspolitik, die zu Lasten einer konsequenten und friedlichen Politik der Dekolonisation ging. Die Entlassung der ehemaligen Kolonien in die Unabhängigkeit verlief nur äußerst schleppend und ging mit Krieg und Gewalt einher. Unter den Vorzeichen des Kalten Krieges konnte zunächst nicht wirklich von einer autonomen Entwicklung der ehemaligen Kolonien zu souveränen Nationalstaaten gesprochen werden. 38 Charta der Vereinten Nationen, Artikel 57 Abs. 1 (online: https://unric.org/de/charta/​ #kapitel1, aufgerufen am 20.3.2020). 39 Harald Fischer-Tinné, Dekolonisation im 20. Jahrhundert, in: bpb Dossier. (Post)kolonialismus und Globalgeschichte (online: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/ postkolonialismus-und-globalgeschichte/219139/dekolonisation-im-20-jahrhundert, aufgerufen am 29.03.2020). 40 H. W. Brands, The Devil We Knew. Americans and the Cold War, New York 1993.

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Fünfzehn Jahre nach der Verabschiedung der UN-Charta sah sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1960 aufgefordert, an das Dekolonisationsversprechen aus dem Gründungsjahr zu erinnern. In der vielzitierten Resolution 1514 (XV) »Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker« erklärte die Generalversammlung »in Anerkennung der leidenschaftlichen Sehnsucht aller abhängigen Völker nach Freiheit und der entscheidenden Rolle dieser Völker bei der Erlangung ihrer Unabhängigkeit« sowie »im Bewusstsein der zunehmenden Konflikte, die auf die Verweigerung oder Behinderung des Freiheitsstrebens dieser Völker zurückzuführen sind und die eine ernsthafte Bedrohung des Weltfriedens darstellen«: »1. Die Unterwerfung von Völkern unter fremde Unterjochung, Herrschaft und Ausbeutung stellt eine Verweigerung grundlegender Menschenrechte dar, steht im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen und ist ein Hindernis für die Förderung des Friedens und der Zusammenarbeit in der Welt. 2. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung; kraft dieses Rechts bestimmen sie frei ihren politischen Status und verfolgen frei ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.«41

Die Vereinten Nationen reagierten damit auf den Umstand, dass trotz der normativen Verankerung des Selbstbestimmungsrechts der Völker einige europäische Mächte an ihren kolonialen Besitzungen festhielten, oder Teile ihres Kolonialbesitzes  – wie im Falle Frankreichs  – in das Hoheitsgebiet des Mutterlandes integrierten. Auch wenn auf der institutionellen Ebene die Umwandlung des British Empire in das Commonwealth of Nations mit der Un­abhängigkeit Indiens im Jahre 1947 an Dynamik gewann und die Dekolonisation des britischen Empires in Asien in den 1950er Jahren zunächst vielversprechend angelaufen war,42 wirkte auch im Vereinigten Königreich die Kolonialideologie der »White supremacy« bis in die 1960er Jahre hinein fort. Betroffen war davon vor allem der Dekolonisationsprozess auf dem afrikanischen Kontinent. Im gleichen Jahr, in dem der radikale Widerstand gegen das Apartheid-Regime in Südafrika einen blutigen Höhepunkt erlebte, stellte der britische Premierminister Harold Macmillan in seiner berühmten »Wind of Change«-Rede in Kapstadt besorgt, vielleicht auch erstaunt fest, dass das wachsende Nationalbewusstsein auf dem afrikanischen Kontinent ein politisches Faktum sei und dass die 1945 verankerte Norm des nationalen Selbstbestimmungsrechts politisch anerkannt werden

41 Resolution der Generalversammlung verabschiedet am 14. Dezember 1960: 1514 (XV). Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker (online: https://www.un.org/depts/german/gv-early/ar1514-xv.pdf, aufgerufen am 20.3.2020). 42 W. David McIntyre, British Decolonization, 1946–1997. When, Why, and How Did the British Empire Fall?, New York 1998; Sarah E. Stockwell, The British End of the British Empire, Cambridge 2018; John Darwin, The End of the British Empire. The Historical Debate, Oxford 1991.

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müsse, wenn man nicht die prekäre Balance zwischen Ost und West und damit den Weltfrieden gefährden wolle.43 »The wind of change is blowing through this continent, and, whether we like it or not, this growth of national consciousness is a political fact. We must all accept it as a fact, and our national policies must take account of it. […] we must come to terms with it. I sincerely believe that if we cannot do so we may imperil the precarious balance between the East and West on which the peace of the world depends.«44

Die Vereinigten Staaten trugen zwar mit der Besetzung und der politischen Reorganisation Japans zur Zerschlagung des japanischen Empires in Asien bei45 und ließen sich dabei von lokalen Widerstandskämpfern wie der von Ho Chi Minh 1941 gegründeten Viet Minh unterstützen. Der sich zuspitzende Kalte Krieg mischte die Karten allerdings neu. Aus Verbündeten wurden ideologische Feinde, die eingedämmt und bekämpft werden mussten. Auch deshalb ließen die USA die ehemaligen europäischen Kolonialmächte und neuen Bündnispartner gewähren. Sie billigten die beobachtbaren restaurativen Tendenzen in der europäischen Kolonialpolitik und beteiligten sich sogar wie im Falle Indochinas an Kolonialkriegen, um den Kommunismus einzudämmen. Die von Präsident Eisenhower im Frühjahr 1954 formulierte Domino-Theorie legitimierte auch deshalb amerikanische Interventionen überall auf der Welt, weil der politische Umgang mit der Systemkonkurrenz diskursiv gerahmt wurde durch ein manichäisches Weltbild, das die Welt in Gut und Böse einteilte, das amerikanische Sendungsbewusstsein erneut mobilisierte und den weltweiten Kampf gegen den Kommunismus als Kreuzzug gegen das Böse darstellte.46 Die Dekolonisation Asiens und Afrikas fand so unter den Vorzeichen der Systemkonkurrenz statt und die damit einhergehende expansive Politik des »winning the hearts and minds« wurde im Sinne des Wilsonianism und des American Exceptionalism weiterhin als göttlicher Auftrag bzw. als Auftrag zur Bekämpfung des Bösen verstanden.47 Die Vereinigten Staaten engagierten sich 43 Larry J. Butler / Sarah E. Stockwell (Hg.), The Wind of Change. Harold Macmillan and British Decolonization, New York 2013. 44 Address by Harold Macmillan to Members of both Houses of the Parliament of the Union of South Africa, Cape Town, 3 February 1960, in: Archives de l’Université de Pau et des Pays de l’Adour (online: https://web-archives.univ-pau.fr/english/TD2doc1.pdf, aufgerufen am 22.3.2020]. 45 Michael Schaller, The American Occupation of Japan. The Origins of the Cold War in Asia, New York 1985; Christine De Matos / Mark Caprio (Hg.), Japan as the Occupier and the Occupied, New York 2015. 46 Detlef Junker, Von der Weltmacht zur Supermacht: Amerikanische Aussenpolitik im 20. Jahrhundert, Mannheim 1995. 47 H. W. Brands, The Specter of Neutralism. The United States and the Emergence of the Third World, 1947–1960, New York 1989; Kinzer, Overthrow; Amy Kittelstrom, The Religion of Democracy. Seven Liberals and the American Moral Tradition, New York 2015; Paul Dixon, ›Hearts and Minds‹? British Counter-Insurgency from Malaya to Iraq, in: Journal of Strategic Studies 32 (2009), S. 353–381.

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in zahlreichen Stellvertreterkriegen und steuerten damit auf die Krise der frühen 1970er Jahre zu. Dreh- und Angelpunkt war das amerikanische Engagement in Südostasien und in Lateinamerika. Arthur M. Schlesinger kommentierte diese Entwicklung bereits 1967 in seinem Buch »Das bittere Erbe« mit verbalem Kopfschütteln. Er stellte fest, dass, nachdem der wohl größte Dominostein, China, 1949 ohne dadurch größere Kettenreaktionen auszulösen, umgefallen war, »dem möglichen Fall des weniger wichtigen Dominosteins Indochina plötzlich die verhängnisvollsten Konsequenzen nachgesagt« wurden.48 Der Vietnamkrieg und die Krise der amerikanischen Hegemonie

Nach der Teilung Indochinas im Jahr 1954 bauten die USA in Südvietnam ein »Bollwerk gegen den Kommunismus« auf. Während der Präsidentschaft John F. Kennedys erhöhte sich die Zahl der westlichen Militärberater in Südvietnam auf 16.000. Unterstützt durch Großbritannien wappnete sich das westliche Lager unter Führung der USA gegen die möglichen Expansionsbestrebungen der Sowjetunion und der kommunistischen Ideologie.49 Nach dem »Tonkin-Zwischenfall« von 1964 begann Präsident Lyndon B. Johnson im Februar 1965 mit der Bombardierung Nordvietnams. Es folgte die Entsendung von immer mehr Bodentruppen nach Südvietnam. Es beteiligten sich schließlich sechs Staaten auf Seiten der USA und Südvietnams mit eigenen Truppenkontingenten: Südkorea, Thailand, Australien, die Philippinen, Neuseeland und Taiwan. Das Ergebnis des Vietnamkriegs war nicht nur das »Ende des amerikanischen Traums«, wie Marc Frey es formulierte.50 Für die USA war er, so Robert McNamara, der als amerikanischer Verteidigungsminister einen maßgeblichen Beitrag zur Eskalation des Vietnamkriegs leistete und als Präsident der Weltbank in den 1970er Jahren durch großzügige Kreditvergaben die Entwicklungsländer in eine Schuldenkrise trieb, eine Tragödie mit traumatischen Folgen.51 Der Vietnamkrieg provozierte eine Krise des internationalen Systems, die die amerikanischen Führungsfähigkeiten in Frage stellte und den strukturgeschichtlichen Epochenumbruch der 1970er Jahre einläutete.52

48 Schlesinger, Das bittere Erbe, S. 18. 49 Peter Busch, All the Way with JFK ? Britain, the US , and the Vietnam War, Oxford 2003; Lawrence J.  Bassett / Stephen E.  Pelz, The Failed Search for Victory. Vietnam and the Politics of War, in: Thomas G. Paterson (Hg.), Kennedy’s Quest for Victory. American Foreign Policy, 1961–1963, Oxford 1989, S. 223–252. 50 Marc Frey, Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, München 2000. 51 Robert S. McNamara / Brian VanDeMark, In Retrospect. The Tragedy and Lessons of ­Vietnam, New York 1995. Die deutsche Übersetzung trägt den Titel: Vietnam. Das Trauma einer Weltmacht, München 1997. 52 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.

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In ganz ähnlicher Weise wie im Zweiten Weltkrieg die Mechanismen des imperialen Währungssystems des Sterlinggebietes die handels- und finanzpolitischen Grundlagen britischer Großmachtpolitik ins Wanken brachten, so trugen Ende der 1960er Jahre die Konstruktionsfehler des im Juli 1944 verabschiedeten Bretton-Woods-Vertrags, mit dem die Grundlagen für ein neues internationales Währungssystem geschaffen worden waren, zur Verschärfung der durch den Viet­namkrieg ausgelösten Finanzkrise in den USA bei. Steigende Inflation und ein immer größer werdendes Leistungsbilanzdefizit lösten eine Vertrauenskrise in den amerikanischen Dollar aus. Auch das europäische Wirtschaftswunder der 1950er und 1960er Jahre trug zur Eskalation der amerikanischen Krise bei,53 die sich Anfang der 1970er Jahre zu einer veritablen Krise des internationalen Systems entwickeln sollte. Nach erfolglosen Rettungsversuchen im Krisenjahr 1968 hob Richard Nixon am 15. August 1971 die nominale Goldbindung des Dollar auf. Zusammen mit der einen Monat vorher verkündeten Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China und der damit verbundenen grundsätzlichen Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik im pazifischen Raum löste dieser Schritt den »Nixon-Schock« aus.

4. Weltpolitische Verschiebungen und internationale Strukturbrüche in den 1970er Jahren In sicherheitspolitischer Hinsicht war die Öffnung gegenüber der VR-China zusammen mit der Brandt’schen Ostpolitik eine wesentliche Voraussetzung für die 1972 einsetzenden Gespräche über die Begrenzung strategischer Atomwaffen im Rahmen der SALT-Verhandlungen, die in der Rückschau einen wichtigen Schritt in Richtung auf das Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung darstellten. In währungspolitischer Hinsicht leitete die Aufhebung der Goldbindung des Dollars den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems ein. Globalpolitisch verschob sich das Zentrum internationaler Krisen von Südostasien in den Nahen und Mittleren Osten. Neue machtpolitische Akteure, die sich jenseits der Konfliktstrukturen des Kalten Krieges positionierten, traten 1973 mit der Verhängung eines Ölembargos als Reaktion auf den Jom-Kippur-Krieg auf die internationale Bühne. Das Ölembargo der OPEC-Staaten löste im Herbst 1973 die erste und wohl folgenreichste Ölpreiskrise aus. Sie beendete die Boom-Jahre und markierte einen Wendepunkt nicht nur national für die betroffenen Staaten der OECD -Welt, sondern auch für die internationale Politik. Akteurskonstellationen, politische Interessen und politische Werte und Normen, die die unter amerikanischer Führung stehende westliche Nachkriegsordnung gekennzeichnet hatten, ver53 Diane B. Kunz, Cold War Dollar Diplomacy. The Other Side of Containment, in: Diane B. Kunz (Hg.), The Diplomacy of the Crucial Decade. American Foreign Relations During the 1960s, New York 1994, S. 80–114.

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änderten sich. Westeuropa und die USA standen erneut vor einer normativinsti­tutionellen Entriegelungskrise, die eine intensive internationale Diskussion über wirtschaftliche Entwicklung, Menschenrechte und die Partizipation von Akteuren aus der sogenannten »Dritten Welt« einleitete. Diesmal erwies sich allerdings das System trotz der Krise der amerikanischen Hegemonie als stabil.54 Zwar wurden neue Ideen, Konzepte und Politikbereiche wie etwa die Umwelt- und Klimapolitik auf dem Papier in die bestehende institutionelle Ordnung integriert, in politisches Handeln, das eine strukturelle Veränderung der internationalen Ordnung bewirkt hätte, wurden sie jedoch nicht übersetzt. Dies zeigt sich insbesondere im Bereich der Diskussionen um eine neue Weltwirtschaftsordnung und um die Sensibilisierung des Menschenrechtsregimes für kulturelle Differenz und Diversität. Die neue Weltwirtschaftsordnung

Zur gleichen Zeit, als die USA ihr Engagement in Vietnam deutlich erhöhten und die westeuropäischen Staaten einen bis dato unbekannten Wirtschaftsboom erlebten, fand 1964 die erste Welthandelskonferenz (UNCATD) statt. Während der Konferenz schlossen sich 77 Staaten, sämtlich Entwicklungs- oder Schwellenländer, zur Gruppe der 77 zusammen. Hauptziel war, die Süd-Süd-Kooperation zu stärken und die Position der Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt zu verbessern. Gleichzeitig setzten sich die Mitglieder aber auch für die Aufhebung der Apartheid, für globale Abrüstung und die Entwicklung einer neuen Weltwirtschaftsordnung ein. Am 9. Mai 1974 verabschiedete schließlich die UN-Generalversammlung die » Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung«.55 Darin verkündeten die Mitglieder der Vereinten Nationen »feierlich unsere gemeinsame Entschlossenheit, nachdrücklich auf die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung hinzuwirken, die auf Gerechtigkeit, souveräner Gleichheit, wechselseitiger Abhängigkeit, dem gemeinsamen Interesse und der Zusammenarbeit aller Staaten unabhängig von ihrem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem beruht, die Ungleichheiten behebt und bestehende Ungerechtigkeiten beseitigt, die die Aufhebung der sich vertiefenden Kluft zwischen den entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern ermöglicht und eine sich stetig beschleunigende wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Frieden und Gerechtigkeit für die heutigen und die kommenden Generationen gewährleistet.«56 54 Robert O. Keohane, After Hegemony. Cooperation and Discord in the World Political Economy, Princeton, N. J. 1984; Robert O. Keohane / Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in Transition, Boston 1977. 55 Resolution der Generalversammlung 3201 (S–VI), Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, verabschiedet am 1. Mai 1974 (online: https://www.un.org/Depts/german/gv-early/ar3201-s-vi.pdf, aufgerufen am 23.3.2020). 56 Ebd.

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Konkret forderten die Entwicklungsländer ihre Anerkennung als vollwertige und gleichberechtigte Partner der internationalen Gemeinschaft. Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sollten insbesondere im Bereich der Rohstoffpolitik und im internationalen Handel umfassend reformiert, die Industrialisierung der Entwicklungsländer sollte gefördert und das Weltwährungssystem verändert werden. Der Forderungskatalog wurde von den Industrieländern als nicht umsetzbar und zu teuer kritisiert. Auch einige Entwicklungsländer sahen darin keine Lösung für die bestehenden Missstände, die auf ein Fortwirken kolonialer Handelsstrukturen und die damit verbundene weltwirtschaftliche Verflechtung der Entwicklungsländer zurückzuführen seien. Sie forderten eine komplette Abkopplung vom Weltmarkt und eine eigenständige Entwicklung auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet.57 Die Initiative der G77 und der UNCTAD löste in den 1970er Jahren eine intensive politische und wissenschaftliche Debatte aus. Publikationen, Sym­posien und Stellungnahmen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln schossen wie Pilze aus dem Boden. Bewertet man die Initiative allein nach dem Umfang der Reaktionen, die sie in den 1970er Jahren hervorgerufen hat, kommt man nicht umhin festzustellen, dass Wissenschaft und Politik die Notwendigkeit einer Veränderung erkannt hatten. Umstritten waren allerdings die zu ergreifenden Maßnahmen und Instrumente, mit denen die auf dem Kolonialismus basierende ungleiche Entwicklung zwischen Nord und Süd hätte korrigiert werden können.58 In normativer Hinsicht ist die »Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung« insofern interessant, als dass die Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung mit den Konzepten von Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität diskursiv gerahmt wurde. Damit traten die Gründungsprinzipien der 1940er Jahre  – Freiheit, Demokratie und nationale Selbstbestimmung – in die zweite Reihe. Die Entwicklungsländer stellten der anglo-amerikanischen Priorisierung individualistischer und liberal-kapitalistischer Freiheitsrechte eine stärker kommunitaristische Sichtweise zur Seite.59 57 Herbert Giersch, The New International Economic Order: Prospects and Problems, Seoul 1977; Roger D. Hansen, A »new international economic order«? An Outline for a Constructive U. S. Response, Washington 1975; Munawar Iqbal / Habib Ahmed (Hg.), Poverty in Muslim Countries and the New International Economic Order, New York 2005; Ervin Laszlo, The Objectives of the New International Economic Order, New York 1978; Jorge Alberto Lozoya / Héctor Cuadra (Hg.), Africa, the Middle East, and the New International Economic Order, New York 1980. 58 Giuliano Garavini, After Empires: European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South 1957–1986, Oxford 2012. 59 Politische Theorie und Philosophie nahmen die sich Anfang der 1970er Jahre bereits abzeichnende Debatte um Liberalismus und Kommunitarismus erst in den 1990er Jahren auf. Die Literatur ist mittlerweile umfangreich. Exemplarisch sei hier auf die Beiträge von Daniel Bell, David Rasmussen und Shlomo Avineri verwiesen: David M. Rasmussen (Hg.), Universalism vs. Communitarianism. Contemporary Debates in Ethics, Cambridge, MA 1990; Creighton Peden / Yeager Hudson (Hg.), Communitarianism, Liberalism, and Social Responsibility, Lewiston 1991; Shlomo Avineri / Avner De-Shalit (Hg.), Communitaria-

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Die die Resolution 3201 durchziehende Betonung der Notwendigkeit einer »Politik der Differenz«60 und die Forderung nach gleichberechtigter Anerkennung von besonderen Gruppeninteressen flossen in die »Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten«, die am 12. Dezember 1974 von der Generalversammlung verabschiedet wurde, ein. Die Unterzeichner der Charta betonten neben der individuellen Verantwortung jedes Staates für die eigene wirtschaftliche und soziale Entwicklung auch gemeinsame Verantwortlichkeiten gegenüber der Völkergemeinschaft. Hierzu zählten insbesondere der »Schutz, die Erhaltung und die Pflege der Umwelt für heutige und künftige Generationen«.61 Wie wir aus der historischen Rückschau wissen, verhallten auch diese Forderungen Anfang der 1980er Jahren wieder sehr schnell, auch wenn »grüne« Politik zumindest in der Bundesrepublik mit dem Einzug der GRÜNEN in den Bundestag 1983 politisch-institutionell verfestigt wurde. Die Erweiterung des UN-Menschenrechtsregimes

Eine ähnliche Verschiebung weg von der Universalisierung anglo-amerikanischer individual-liberaler Traditionen hin zu kollektiven Rechten und Pflichten und einer gleichberechtigten Anerkennung von besonderen Gruppenidentitäten finden wir im Rahmen der Debatte um die Erweiterung des UN-Menschenrechtsregimes. Gleichberechtigung und Anerkennung kultureller und religiöser Differenz sollten die bereits etablierte universale »Politik der Würde« ergänzen und normativ erweitern und damit den kulturrelativistischen Tendenzen der 1948 verabschiedeten Menschenrechtscharta entgegenwirken.62 Mit der Gründung der Vereinten Nationen waren Menschenrechte, im naturrechtlichen Sinne als Recht auf Leben und Recht auf Freiheit, internationalisiert und in das normativ-institutionelle Gefüge der internationalen Ordnung integriert worden. Sie stellten gleichsam die moralische Werteordnung internationaler Beziehungen dar und wurden als universelle Rechte gedeutet und entsprechend normiert. Sie sollten jedem Individuum weltweit zukommen und zwar unabhängig von dessen Rasse, Geschlecht, Religion oder sonstigen nism and Individualism, Oxford 1992; Daniel Bell, Communitarianism and its Critics, Oxford 1993. 60 Charles Taylor, Multiculturalism and »The Politics of Recognition«. An Essay, Princeton, N. J. 1992; Charles Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie, in: Transit. Europäische Revue 5 (1993), S. 5–20. 61 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 3281 (XXIX) vom 12. Dezember 1974, Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, Kapitel III, Artikel 30 (online: https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/fileadmin/publications/PDFs/ Zeitschrift_VN/VN_1975/Heft_4_1975/06_a_Doks_VN_VN_4-75.pdf, aufgerufen am 23.3.2020). 62 Zur Geschichte der Menschenrechte von den 1940er-Jahren bis zur Gegenwart vgl. Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2015.

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Differenzierungskriterien. Wie es Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes sehr plastisch formuliert, sind Menschenrechte universale Normen, die sich konkret in dem Konzept der Menschenwürde äußern. »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt«.

Die höchstgerichtliche, aber auch die rechtswissenschaftliche Debatte um das Konzept der Menschenwürde zeigt, dass ihr konkreter Inhalt zeitlichen und kulturellen Veränderungen unterliegt. Als historisch und kulturell kontingente Konkretisierung des jeweiligen Verständnisses von Menschenwürde sind Menschenrechte trotz ihres universalen normativen Charakters deshalb historisch konstruierte Rechte, »die jeweils auf konkrete politische, gesellschaftliche, kulturelle und sozio-ökonomische Bedrohungen der Menschenwürde reagieren«.63 Dies zeigt die Entwicklung des Menschenrechtsregimes der Vereinten Nationen seit Beginn der Debatten um seine Inhalte im Jahr 1945. Im 20. Jahrhunderts hat das naturrechtliche Verständnis von Menschenrechten zweimal eine fundamentale Erweiterung erfahren. Zum einen durch die Verankerung von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Teilhaberechten in der »Universal Declaration on Human Rights«, die am 10. Dezember 1948 als Resolution 217 in Paris verabschiedet wurde.64 Neben den bürgerlich-politischen Freiheitsrechten, die seit den atlantischen Revolutionen politisch festgeschrieben worden waren, zählten nun auch das Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit, freie Berufswahl, angemessene Entlohnung und das Recht auf Bildung und Teilhabe am kulturellen Leben der Gemeinschaft zu den das Handeln und Entscheiden der internationalen Staatengemeinschaft rahmenden Grundrechten. Eine zweite Erweiterung erfuhren die Menschenrechte in den 1970er Jahren. Das Menschenrechtspaket der Vereinten Nationen wurde als ein primär westliches Produkt, das kulturelle Differenz und alternative normative bzw. Wert-Vorstellungen zu ignorieren tendiere, kritisiert.65 Das kulturalistische Aufbrechen der Diskussion über die UN-Menschenrechtscharta in den 1970er Jahren hatte zwei Folgen für das Menschenrechtsregime: Erstens wurde auf Initiative der Entwicklungsländer und auf der Grundlage ihrer spezifischen geschichtlichen Unrechtserfahrung von Kolonialismus und Imperialismus der Rechtskanon um das Recht auf Entwicklung, lebenswerte Umwelt, Frieden, Solidarität und das 63 Thomas Schaber, Internationale Verrechtlichung der Menschenrechte. Eine reflexive institutionentheoretische Analyse des Menschenrechtsregimes der Vereinten Nationen, Baden-Baden 1996, S. 70. 64 Universal Declaration of Human Rights, G. A. Res. 217 IIIA , U. N. GAOR , 3d Sess., U. N. Doc. A/810 at 71 (1948). 65 Schaber, Menschenrechte, S. 74–75.

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Recht der Völker auf Selbstbestimmung ergänzt. Diese als »dritte Generation« der Menschenrechte bezeichneten Rechte gingen deutlich über den Bereich der klassischen Individualrechte hinaus.66 Sie umfassten ähnlich wie die »Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten« Kollektivrechte, die es auch Staaten und Völkern ermöglichen sollten, Menschenrechte einzufordern. Die Integration von Kollektivrechten in das Menschenrechtsregime sollte eine internationale soziale Ordnung sicherstellen, die Staaten und Völkern eine gleichberechtigte Existenzgrundlage gewährt. Neben der Forderung nach der Integration von Kollektivrechten in den Menschenrechtskatalog, entwickelte sich zweitens eine Debatte um die Frage nach der Anschlussfähigkeit bzw. Anschlussmöglichkeit anderer kultureller Traditionen an das bestehende Menschenrechtsregime sowie nach dem Potential zu dessen konzeptueller Erweiterung und kulturellen Übersetzung.67 Erste regionale Menschenrechtsentwürfe, die partikulare kulturelle Kontexte abbildeten, entstanden Anfang der 1980er Jahre. Hier sind beispielsweise die »African (Banjul) Charter on Human and Peoples’ Rights« (1981), die »Universal Islamic Declaration of Human Rights« (1981), die »Cairo Declaration on Human Rights in Islam« (1990) oder die »Bangkok Declaration« (1993) zu nennen. Die Regionalentwürfe kann man zum einen als Versuche ansehen, die UNMenschenrechtserklärung in spezifische kulturelle Kontexte zu übersetzen, um sie dort verstehbar und annehmbar zu machen. Man kann sie aber auch, wie Antje Linkenbach-Fuchs es vorgeschlagen hat, »als Hinweise lesen auf leitende Ideale aus partikularen Kontexten, die, übersetzt in die Sprache des Rechts, den Anspruch auf universale Geltung und damit auch auf Einbezug in das globale Menschenrechtsregime erheben«.68 Hierzu gehören die bereits bekannten Forderungen nach ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit und die Betonung kollektiver Rechte und Pflichten als Basis für Gemeinschaftshandeln – Forderungen, die sich bislang allerdings noch nicht haben durchsetzen können.

66 Zur Diskussion dieser dritten Generation von Rechten aus der Perspektive der USA vgl. Natsu Taylor Saito, Beyond Civil Rights. Considering »Third Generation« International Human Rights Law in the United States, in: University of Miami Inter-American Law Review 28/2 (1996), S. 387–412 (online: http://repository.law.miami.edu/umialr/vol28/ iss22/12, aufgerufen am 29.03.2020). 67 Doris Bachmann-Medick, Übersetzung als Medium interkultureller Kommunikation und Auseinandersetzung, in: Friedrich Jaeger / Jürgen Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2002, S. 449–465; Doris Bachmann-Medick, Menschenrechte als Übersetzungsproblem, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 331–359. 68 Antje Linkenbach-Fuchs, Menschenrechte interkulturell – Forschungsprojektskizze (online: https://www.uni-erfurt.de/max-weber-kolleg/personen/antjelinkenbachfuchs/, aufgerufen am 23.3.2020).

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5. Die Entstehung fundamentalistischer Gegenbewegungen: Reflexive Verriegelungen am Ende der 1970er Jahre Während die Debatte um die Integration von Kollektivrechten in den Menschenrechtskatalog eng verbunden war mit der Diskussion über die neue Weltwirtschaftsordnung und über Grundlagen und Möglichkeiten von Entwicklungspolitik, resultierte die partikularistische Reformulierung bzw. Erweiterung des bestehenden Menschenrechtsregimes aus einer dritten Entwicklung, die durch die Krise des westlichen Systems Anfang der 1970er Jahre beschleunigt wurde: nämlich das Aufkommen fundamentalistischer Gegenbewegungen gegen die mehr und mehr als Zumutung empfundene Globalisierung eines westlichen Wirtschafts- und Wertesystems unter den Bedingungen der bipolaren Weltordnung und der damit verbundenen Verfestigung unterschiedlicher Entwicklungspfade und »multiple modernities«.69 Diese Abwehrbewegungen institutionalisierten sich in den späten 1960er und 1970er Jahren insbesondere in kontinentalgeografisch orientierten, antikolonialistischen Panbewegungen. Während der Panafrikanismus in die Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) mündete, beförderte der Panarabismus die Entwicklung einer arabisch-islamischen Identität und die Entstehung eines islamischen Fundamentalismus, der von Großbritannien, das bis zum Suez-Krieg die regionale Führungsrolle in der Region übernommen hatte, und den USA gleichermaßen unterschätzt wurde. Auch diese Entwicklung hatte eine ihrer Ursachen in der skrupellosen Expansions- und Eindämmungspolitik des westlichen Lagers in der Hochphase des Kalten Krieges der späten 1950er und 1960er Jahre. Weit entfernt davon, nationalen Reformkräften das Recht auf nationale Selbstbestimmung einzuräumen, errichteten die USA ab den späten 1950er Jahren aus Angst davor, dass der Kommunismus im Nahen Osten Fuß fassen könnte und zur Sicherung des westlichen Zugriffs auf die Ölvorkommen der Golfregion, im Iran »das Paradebeispiel eines korrupten und brutalen Marionettenregimes«.70 Von der »Stabilisierung« des Irans, davon ging die politische Führung der USA aus, hing die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten ab. Das Schah-Regime transformierte die iranische Wirtschaft und Gesellschaft in kürzester Zeit in ein westlich geprägtes System und provozierte damit nicht nur den Protest nationalistischer Kräfte, sondern auch den Widerstand religiöser Fundamentalisten. Bereits 1963 wollte der spätere Revolutionsführer Chomeini die Monarchie stürzen und einen islamischen Staat errichten. Der Aufstand wurde – auch mit Hilfe der USA – niedergeschlagen und Chomeini 69 Shmuel N. Eisenstadt, Comparative Civilizations and Multiple Modernities, Leiden 2003. 70 Jürgen Martschukat, »So werden wir den Irren los!« Wie der amerikanische Geheimdienst CIA vor 50 Jahren den iranischen Premierminister Mohammed Mossadegh stürzte und das Schah-Regime installierte, in: Die Zeit 14.08.2003 (online: https://www.zeit. de/2003/34/A-Mossaedgh/komplettansicht, aufgerufen am 23.3.2020).

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musste ins türkische Asyl. Als das Land 1977 in eine Versorgungskrise schlitterte und eine von Intellektuellen getragene Nationale Front das Ende der »Diktatur des Schahs« forderte, standen die USA, die mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und dem Watergate-Skandal eine doppelte Vertrauenskrise zu meistern hatten, innenpolitisch selbst mit dem Rücken zur Wand. Der außenpolitisch unerfahrene Jimmy Carter intervenierte nicht und hielt an seiner Politik der Remoralisierung amerikanischer Innen- und Außenpolitik fest, die insbesondere auch mit dem Einsatz des amerikanischen Präsidenten für die globale Durchsetzung der Menschenrechte öffentlichkeitswirksam wurde und zu einer erneuten Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen beitrug.71 Jimmy Carter tolerierte die Machtergreifung Ajatollah Chomeinis im Rahmen der islamischen Revolution. Die »Geiselnahme von Teheran«, bei der über fünfzig Amerikaner von einer islamistischen Studentengruppierung 444 Tage festgehalten wurden, kostete Carter die Wiederwahl,72 obwohl er mit seiner Reaktion auf den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan noch einmal versucht hatte, außenpolitische Muskeln spielen zu lassen.73 Sein Nachfolger im Präsidentenamt, Ronald Reagan, reanimierte Deutungsmuster und politische Rhetorik des Kalten Krieges. Er deutete den AfghanistanKrieg in bekannter manichäischer Manier und bezeichnete die Sowjetunion unter Rückgriff auf die politische Rhetorik der 1950er Jahre als »evil empire«, dessen Bekämpfung die moralische Pflicht Amerikas sei.74 Am Ende des turbulenten Jahrzehnts der 1970er Jahre stand die Welt wieder dort wo sie Anfang der 1950er Jahre gestanden hatte, mit einem großen Unterschied. Die relative institutionelle und normative Stabilität des westlich geprägten euro-atlantischen Ordnungssystems, die die Entriegelungstendenzen der 1970er Jahre aufgefangen und gezähmt hatte, hatte zugleich die Entfesselung neuer religiöser Fundamentalismen befördert, die ein gemeinsames Ziel verfolgten: die Abwehr und Zurückdrängung der westlich geprägten Moderne und ihrer universalistischen Wertepolitik mit Hilfe einer reflexiven ideologischen Verriegelung entlang religiös-fundamentalistischer Ideologeme. Samuel P. Huntington beschrieb die neu entstandene Konfliktkonstellation, deren Konfliktpotential nach dem Wegfall der Stabilitätsklammer der bipolaren Weltordnung Anfang der 1990er Jahren offenkundig wurde, als »Kampf der Kulturen«.75 71 John Dumbrell, The Carter Presidency. A Re-evaluation, Manchester 21995. 72 Hans Hielscher, Besetzung der US -Botschaft in Teheran. 444 Tage Geiselhaft, in: Der Spiegel – Geschichte, 4.11.2019 (online: https://www.spiegel.de/geschichte/1979-botschafts​ besetzung-1444-tage-geiselhaft-in-teheran-a-1294464.html, aufgerufen am 29.03.2020). 73 William A. Rugh, American Encounters with Arabs. The »Soft Power« of U. S. Public Diplomacy in the Middle East, Westport, CN 2006; Hamilton Jordan, Crisis. The Last Year of the Carter Presidency, New York 1982. 74 Michael Schaller, Ronald Reagan, New York 2011; Richard S. Conley (Hg.), Reassessing the Reagan Presidency, Lanham, MD 2003. 75 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.

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6. Zusammenfassung und Ausblick Aus der analytischen Perspektive von institutioneller und normativer Ver- und Entriegelung ist das 20. Jahrhundert charakterisiert durch die verflochtenen Prozesse der Internationalisierung und Universalisierung der Weltbilder und Ideologeme des Wilsonianism und American Exceptionalism. Inhaltlich manifestieren sie sich in den zentralen Normen und Prinzipien der verfassten Weltgesellschaft unter den Auspizien amerikanischer Hegemonie: Selbstbestimmungsrecht der Völker, Multilateralismus, Kollektive Sicherheit, Menschenrechte. Diese Leitideen politischen Handelns strukturierten den Prozess der Globalisierung westlicher Ordnungsvorstellungen im 20. Jahrhundert. Die Überzeugung von der universellen Gültigkeit westlicher Werte institutionalisierte und perpetuierte kolonialistische Weltsichten und Orientalismen, die zusammen mit der struktur-politischen Wirkmächtigkeit der bipolaren Weltordnung die konsequente Umsetzung der Ideen von nationaler Souveränität und Selbstbestimmung im Rahmen der Dekolonisation behinderte. Ausgelöst durch die Krisen der frühen 1970er Jahre wurde das politische Gleichheitspostulat der atlantischen Revolutionen  – »all men are created equal«  – entlang neuer geopolitischer und geoökonomischer Differenzlinien aufgebrochen. Entriegelungsprozesse finden in allen drei Sachbereichen der Politik  – Sicherheit, Wohlfahrt und Herrschaft  – statt.76 Im Herrschaftsbereich lässt sich der Entriegelungsprozess an der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des Menschenrechtsregimes seit den 1970er Jahren beobachten; im Wohlfahrtsbereich ist die Forderung der UNCTAD nach der Reformierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen zu Gunsten der Entwicklungsländer im Rahmen einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, die erstmals 1973 als Reaktion auf die Ölkrise formuliert worden ist, zu nennen; im Bereich der Sicherheit resultierte die durch die politischen Krisen der 1970er Jahre ausgelöste normative Entriegelung in der Zunahme gewalttätiger oder sogar kriegsähnlicher politischer Abwehrprozesse gegen das westlich-liberale Ordnungssystem in Form von reflexiven Verriegelungen wie wir sie etwa in der islamischen Revolution 1979 und der Entwicklung islamistischer Fundamentalismen beobachten können. Die politischen Folgen der neu entfesselten fundamentalistischen Kräfte wurden in den späten 1970er und 1980er Jahren angesichts der normativen Verriegelungsprozesse, die durch die Verschärfung des Ost-West-Konflikts ausgelöst 76 Ursula Lehmkuhl / Thomas Risse, Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, in: Ursula Lehmkuhl / Thomas Risse (Hg.), Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Baden-Baden 2007, S. 13–37; Ursula Lehmkuhl / Thomas Risse, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20–21/2007 (14.5.2007), S. 3–9 (online: https://www.bpb.de/apuz/30465/ governance-in-raeumen-begrenzter-staatlichkeit, aufgerufen am 4.4.2020).

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wurden, nicht erkannt oder politisch ignoriert. Die westliche Welt – an erster Stelle die USA, aber auch die ehemaligen europäischen Imperialmächte Großbritannien, Frankreich und Spanien  – bezahlten dafür zwanzig Jahre später einen hohen Preis. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die darauf folgenden Echokrisen in Madrid, London und Paris demonstrierten die Macht der mittlerweile global agierenden Gewaltakteure, die das westliche Lager, allen voran die USA, in den 1980er Jahren im Kampf gegen den ideologischen Gegner selbst mit Waffen versorgt und damit politisch ermächtigt hatte. Die neue Weltordnung, die nach »9/11« entstand,77 mit ihren spezifischen Akteurs- und Konfliktkonstellation, markiere  – so das gemeinsame Argument amerikanischer Historiker und Politikwissenschaftler  – das Ende des »amerikanischen Imperiums« und damit des »American Century«78 und den Beginn einer »postamerikanischen Welt«.79 Dieser Strukturbruch ist nicht zuletzt ein Ergebnis der Krisen der 1970er Jahren, die mit Blick auf die veränderten Konstellationen internationaler Politik im 21. Jahrhundert als Epochenschwelle betrachtet werden müssen: Aus der Perspektive der Geschichte des »American Century« veränderten die Ereignisse des 11. September 2001, deren Wurzeln auch in der Verriegelungspolitik des Westens während der 1970er Jahre zu suchen sind, die internationale Weltgesellschaft stärker als die Ereignisse vom 9. November 1989.

77 Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen, München 2002. 78 Andrew J. Bacevich, American Empire. The Realities and Consequences of U. S. Diplomacy, Cambridge, MA 2002; Andrew J. Bacevich (Hg.), The Short American Century. A Postmortem, Cambridge, MA 2012; Andrew J. Bacevich, Twilight of the American Century, Notre Dame, IN 2018. 79 Fareed Zakaria, The Post-American World, New York 2008.

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Nachdenken über das »Ende« Übergänge und Nebeneinander in der Zeitdiagnostik um 1990

1. Einleitung In den Jahren um 1990 ging alles seinem Ende entgegen. Jedenfalls entsteht dieser Eindruck, wenn man bedeutende Teile der damaligen publizistischen Zeitdiagnostik und mehr noch der akademischen Gegenwartsdeutung in der Bundesrepublik, den USA und Frankreich zur Kenntnis nimmt. Soziologen und Philosophen, Literaturwissenschaftler und Historiker (der Diskurs war nahezu ausschließlich männlich) stimmten einen mächtigen, kakophonischen Abgesang an. Sie verkündeten das Ende der Moderne und der Ideologie, das Ende der Arbeit und der Demokratie, das Ende des Nationalstaats und sogar der Geographie, ja das Ende der Geschichte und der Natur.1 So gleichförmig die rhetorische Grundfigur, in der sich diese intellektuelle Konjunktur niederschlug, so vielgestaltig präsentierten sich die Erkenntnisse und deren Bewertung. Hinter dem Befund des »Endes« verbargen sich denkbar weit auseinanderdriftende gegenwartsanalytische Perspektiven. Dass ganz verschiedene Ausschnitte der zeitgenössischen Wirklichkeit thematisiert wurden, brachte schon die disziplinäre Vielfalt mit sich; es ging um Gesellschaft und Kunst, um Technik, Staat und Weltpolitik. Die Debatten wurden daher auch zumeist entlang verschiedener Stränge rezipiert und diskutiert, wobei diejenigen, die zur Rede vom Ende beitrugen, bisweilen durchaus aufeinander Bezug nahmen.2 Doch überdies wichen die Autoren darin voneinander ab, welche zugrundeliegenden Veränderungsprozesse sie als dominant setzten und welche Formverwandlungen sie, bei aller endzeitlichen Gestimmtheit, dann doch im Werden sahen. Sie unterschieden sich darin, wie sie mit dem intellektuellen Erbe der vergangenen Jahrzehnte umgingen, und wie sie ihre Beobachtungen, die mal dräuend, mal zukunftsgewiss daherkamen, prognostisch aufluden.

1 Vgl. zusätzlich zu den im Folgenden untersuchten Texten: Arthur C. Danto, Approaching the End of Art, in: ders., The State of The Art, New York 1987, S. 202–220; Bill McKibben, The End of Nature, New York 1989; Jeremy Rifkin, The End of Work, New York 1995; Hansjörg Bay / Christof Hamann (Hg.), Ideologie nach ihrem »Ende«. Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne, Opladen 1995. 2 Vgl. auch die vergleichsweise späte Zusammenstellung bei Ulrich Menzel, Globalisierung versus Fragmentierung, Frankfurt am Main 1998, S. 10–14.

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Trat in den sich häufenden Diagnosen mithin eine Pluralität an Vorschlägen hervor, wie die Gegenwart zu situieren sei, so erschienen sie in ihrer Tiefenstruktur doch durchaus miteinander verwandt. Sie vollzogen eine gleichgerichtete Denkbewegung, welche sich auf verschiedenen Wissensfeldern in enger zeitlicher Nähe und gemäß eigenständigen Logiken äußerte. Gleichgerichtet war sie, weil die Theorien und Kommentare die aktuelle Situation gedanklich in Abwendung von einem bereits länger vorherrschenden Muster erfassten, ohne ein neues Muster auf den Begriff zu bringen, das jenes alte hätte ersetzen können. Damit gewann in den Feststellungen des »Endes« eine einflussreiche Figur der Gegenwartsinterpretation Kontur: eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung im abgrenzenden Rückbezug. All dies zusammengenommen lässt die Debatten aus der Rückschau als einen pulsierenden Ort der intellektuellen Vergewisserung erscheinen. Und deshalb verschafft der verdächtig positivistische Zugriff, eine Anzahl an Theorieentwürfen allein aus dem Grund gemeinsam zu betrachten, dass sie von einem Ende sprechen, ein analytisches Prisma. Mit ihm lässt sich die Ideenlandschaft westlicher Länder während der Jahre um 1990 in aufschlussreicher Weise erkunden. Im Mittelpunkt stehen drei Diskussionszusammenhänge. So erlebte in den späten achtziger Jahren das mit kontroverser Schärfe betriebene Nachdenken über die Vorstellung der »Postmoderne« nochmals einen starken Aufschwung. Im Kern kreiste es um die Frage, ob die Auflösung lange als selbstverständlich akzeptierter Formen der Reflexion und der ästhetischen Produktion das definierende Merkmal der Gegenwart darstelle – und ob sie zu begrüßen sei. In der Untersuchung dieses Strangs wird auch eine zeitlich weiter zurückreichende Genealogie der End-Diagnosen sichtbar, die ihren Ausgang von den späten fünfziger Jahren nimmt. Das wohl größte Debattenereignis löste sodann der Aufsatz »The End of History?« aus, den Francis Fukuyama 1989 veröffentlichte, bevor er drei Jahre später eine erweiterte Buchfassung folgen ließ. Die These des politischen Analysten und Ministerialbeamten lautete, dass mit dem Untergang des Kommunismus der Geschichtsverlauf als Ganzer einen inneren Abschluss gefunden habe. Ebenfalls am Ende der Dekade schließlich setzte vor allem in den Sozialwissenschaften eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage ein, ob verschiedene Prozesse der räumlichen Entgrenzung und der inter- und transnationalen Integration das Ende des Nationalstaats mit sich brächten. Auch diese Diskussion zog sich über die Wende zum neuen Jahrzehnt hin. Diese drei großen Themenkreise verweisen zunächst darauf, dass sich die intellectual history jener politischen und sozioökonomischen Umbruchszeit durch divergierende Gegenwartsverständnisse charakterisierte, die gleichsam auf unordentliche Weise miteinander koexistierten. Der Geist der Zeit erschien in anderer Gestalt, je nachdem, ob man ihn mit der relativierenden Auffächerung der Denkkategorien, der Durchsetzung des westlichen politökonomischen Ordnungsmodells oder dem beschleunigten Zusammenwachsen der Weltregionen identifizierte. Und schließlich ließen sich aus diesen Zeittendenzen jeweils unterschiedliche gedankliche Konsequenzen ziehen. Jeder dieser Diskurse be-

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leuchtet eine wichtige Facette der damaligen Selbstreflexion. Zugleich vollzog sich in den allenfalls zehn Jahren zwischen Mitte der achtziger und Mitte der neunziger Jahre ein intellektueller Übergang. Denn der Höhepunkt der Visionen vom »Ende« leitete gleichzeitig deren Verebben ein. Nachdem in so vielen Lebensbereichen bisweilen dramatische Szenarien von Auflösung und Abbruch ausgemalt worden waren, verschwand die Denkfigur in aller Stille, ohne bislang wiederzukehren. Kristallisierte sich in ihr ein bestimmter Modus der Gegenwartsreflexion, so hatte sich diese nunmehr neu konfiguriert. Auf diese Weise hat eine nähere Untersuchung jener geistigen Durchdringungsversuche schließlich auch Implikationen für die periodisierende Vermessung der jüngsten Zeitgeschichte. In den letzten Jahren hat in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion eine Interpretation stark an Bedeutung gewonnen, der zufolge sich in den 1970er Jahren die Ursprünge wegweisender Veränderungsprozesse und langlebiger Problemkonstellationen finden, welche das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben bis heute prägen und folglich die Epoche unserer Gegenwart einleiteten.3 Der Fluchtpunkt dieser Deutung – worin nämlich die Kondition unserer Gegenwart bestehe – ist dabei jedoch zumeist mehr als selbstverständlich vorausgesetzt denn expliziert oder problematisiert worden.4 Und vor allem der Zeitraum von den späten 1980er Jahren bis in die frühen 2000er Jahre ist oft eine Leerstelle geblieben. Macht man die akademischen Selbstverständigungsdiskurse dieses Zeitraums (oder doch eines Teils davon) zum Gegenstand der historischen Analyse, dann erscheint es fragwürdig, ob die entwicklungsgeschichtliche Linie zwischen dem Jahrzehnt der 1970er und späteren Dekaden so klar und geradlinig verläuft.

2. (Kein) Ende der Moderne In den 1980er Jahren standen die intellektuellen Szenerien im Bann theoretischer Konzeptionen eines diffusen Nachher, die ihren problematisch gewordenen Zeitbezug mit der Verwendung des Präfixes »post« signalisierten. Quer durch die akademischen Felder handelte es sich dabei um ambivalente Ortsbestimmungen. »Post« zeigte an, dass das beobachtete Phänomen einer älteren Formation noch verhaftet war, von der es gleichzeitig wegstrebte. Aus welchem Grund, darüber drückte die Vorsilbe keineswegs Einigkeit aus: weil jene Formation überholt oder lediglich abgewandelt war, überwunden werden sollte und / oder trotz allem nachwirkte. Die wissenschaftliche und intellektuelle Debatte bewegte sich damit in einem semantischen Horizont, dessen Genese einige Jahrzehnte zurückreichte. Seit den späten 1950er Jahren war in der amerikanischen Literaturkritik die Vorstellung 3 Zur Literatur vgl. unten Fußnote 93. 4 Vgl. jetzt differenzierter Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, besonders S. 475–477.

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einer »postmodernen« Literatur aufgekommen.5 Zur gleichen Zeit attestierte der Soziologe Daniel Bell westlichen Gesellschaften, im Grunde aber vor allem den USA, das »Ende der Ideologie«. Dieses leitete er daraus her, dass die Deradikalisierung der politischen Linken mit der Herausbildung eines um Sozialstaat, »mixed economy« und demokratischen Pluralismus zentrierten Konsenses zusammentraf, der die weltanschaulichen Lager miteinander verband.6 Von einer »postmodernen Gesellschaft« sprach der in den USA lehrende Soziologe Amitai Etzioni am Ende der 1960er Jahre, wobei in der Soziologie das Theorem einer »postindustriellen Gesellschaft« deutlich stärker rezipiert werden sollte, wie sie zunächst etwa David Riesman und Alain Touraine konzeptualisierten.7 In den 1970er Jahren entstanden weitere Diagnosen im Zeichen des »post«, die vielleicht noch wirkmächtiger wurden als die früheren. Dazu zählte neben dem »Coming of Post-Industrial Society«, einmal mehr von Daniel Bell, auch Charles Jencks’ Bestimmung einer neuen architektonischen Formsprache.8 Spätestens von nun an wurde die Architektur geradezu als der paradigmatische Sektor »postmoderner« Ausdrucksformen angesehen. Ende der 1970er Jahre beschrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart mit der Kategorie des »Postmaterialismus« einen gesellschaftlichen Entwicklungstrend, den er in den frühen 1970er Jahren an die Oberfläche treten sah.9 Er zeichnete sich dadurch aus, dass die jüngeren Generationen sich von dem um Sicherheit und Wohlstand kreisenden Wertehimmel der Nachkriegsgesellschaft abgrenzten und statt­ dessen Selbstentfaltung und Partizipation präferierten. Seine größte Intensität erlangte der gesamte intellektuelle Komplex indessen in den 1980er Jahren. Zunächst verlieh ihm Jean-François Lyotards Traktat über »La condition postmoderne« einen starken Schub.10 Nicht nur entfaltete der französische Denker erstmals einen systematischen philosophischen Begriff der Postmoderne, sondern er erhob auch zumindest implizit den am weitesten 5 Irving Howe, Mass Society and Postmodern Fiction, in: Partisan Review 26 (1959), S. ­420–436; Leslie Fiedler, Cross the Border  – Close the Gap, in: Playboy (Dezember 1969), S. 151, 230, 252–254, 256–258. Zur Rekonstruktion der Begriffsgeschichte von »postmodern« vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 9–43; Hans Ulrich Gumbrecht, Postmoderne, in: ders., Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, S. 81–87. Vgl. zum Hintergrund auch Anselm ­Doering-​Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 75–107. 6 Daniel Bell, The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Glencoe 1960. 7 Amitai Etzioni, The Active Society. A Theory of Societal and Political Processes, New York 1968; David Riesman, Leisure and Work in Post-Industrial Society, in: Eric Larrabee / Rolf Meyersohn (Hg.), Mass Leisure, Glencoe 1958; Alain Touraine, La société postindustrielle, Paris 1969. 8 Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, New York 1977. 9 Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977. 10 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979.

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reichenden Anspruch darauf, die Verfasstheit der Gegenwart zu erhellen. Überdies bürgerten sich im akademischen Diskurs weitere Vokabeln ein, die nicht so sehr an den einen oder anderen begriffsprägenden Text gebunden waren. Im englischen und deutschen Sprachraum, nicht dagegen in Frankreich, fand nun der Begriff des »Poststrukturalismus« Eingang, mit dem die Arbeiten vor allem französischer Theoretiker wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Jacques Lacan oder Gilles Deleuze unter einer gemeinsamen Denkrichtung rubriziert wurden.11 Die Bezeichnung »postkolonial« schließlich nahm mit dem Aufkommen der postcolonial studies eine spezifische Bedeutung an. Im Anschluss an Edward Saids im Jahr vor Lyotards Studie erschienene Untersuchung des »Orientalismus« breiteten sie sich in den 1980er Jahren ausgehend von der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften aus.12 In diesem Begriff hatte das Präfix »post« einen Doppelsinn, beschrieb es doch einerseits Denkansätze der Zeit nach dem Ende des Kolonialismus und bezog sich andererseits auf das Fortwirken kolonialer Repräsentations- und Herrschaftsmuster in der Gegenwart. Auch darüber hinaus entfalteten theoretische und kritische Entwürfe, die sich, wie präzise oder unscharf auch immer, über die »post«-Zuschreibung verorten ließen, im akademischen Diskurs der 1980er Jahre eine an Breite und Tiefe erheblich zunehmende gedankliche Ausstrahlung. Viele Disziplinen diskutierten die Ansätze prominenter Vertreter des Ideenkonglomerats nunmehr intensiver oder nahmen sie auch überhaupt zum ersten Mal auf – Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Philosophie und Ästhetiktheorie, Psychologie, etwas später dann auch Soziologie und Geschichtswissenschaft.13 Vor allem die genannten französischen Theoretiker erlangten für die Arbeit zahlreicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler maßgebliche Bedeutung. Darüber hinaus stellten die mittleren und späten 1980er Jahre aber auch den Moment dar, in dem das Bewusstsein Gestalt annahm, dass sich ein ganzes »post«-Syndrom herausgebildet hatte. Akademiker und Intellektuelle beobachteten nunmehr, dass die theoretische Reflexion auf zahlreichen Feldern jenen Terminus der Ablösung heranzuziehen begann, um die Gegenwart zu beschreiben. »Alles ist ›post‹«, notierte Ulrich Beck 1986 in seinem Buch über die »Risikogesellschaft«: Dies sei »das Grundrezept, mit dem wir in wortreicher, begriffsstutziger Verständnislosigkeit einer Wirklichkeit gegenüberstehen, die 11 Johannes Angermüller, Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld 2007, insbesondere S. 9–11, 37–42. 12 Hilfreich für den Nachvollzug: Dieter Riemenschneider (Hg.), Postcolonial Theory. The Emergence of a Critical Discourse. A Selected and Annotated Bibliography, Tübingen 2004. Vgl. ferner: Edward W. Said, Orientalism, New York 1978; Robert Young, Postcolonialism. An Historical Introduction, Oxford 2001; Sebastian Conrad u. a. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 22013. 13 Vgl. als Forschungsüberblick etwa: Stephan Moebius / A ndreas Reckwitz, Einleitung. Poststrukturalismus und Sozialwissenschaften. Eine Standortbestimmung, in: dies. (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 2008, S. 7–23.

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aus den Fugen zu geraten scheint.«14 Dem pflichtete drei Jahre später auch ­Peter Sloterdijk bei, für den die Vorsilbe aber in der Schwundform einer »Außerkraftsetzung des Gestrigen« wenigstens noch »einen Hauch von Orientierung in der Gegenwart« bereithielt.15 Der Konstanzer Romanist Hans Robert Jauß, der schon bald wegen seiner SS -Vergangenheit unter öffentlichen Druck geraten sollte, hatte die Häufung der Komposita mit »post« sogar schon früher zum Anlass genommen, um den ästhetischen Modernismus zu vermessen.16 Jauß subsumierte alle »post«-Termini, die ihm untergekommen waren, unter den Oberbegriff der »Postmoderne«, und genau auf dieser Bahn sollte sich ein wichtiger Strang der Debatte in den folgenden Jahren bewegen. In den Versuchen, das Panorama der Nicht-mehr-und-noch-nicht-Diagnosen zu sichten, band der Begriff schon bald die weitaus meisten intellektuellen Energien. Die Diskussion drehte sich fortan um die Frage, ob sich die Postmoderne über alle gesellschaftlichen Funktionsbereiche und akademischen Wissensbezirke hinweg als Signum der Zeit verstehen lasse. Dabei mangelte es nicht an Zurück­ weisungen. Sie reichten nicht selten bis zur pikierten Herabsetzung der »Postismen, Postmodernismen aller Arten«, in denen für die Kritiker nicht mehr als ein »Ausdruck intellektueller Desorientiertheit« zum Vorschein kam.17 Die Zahl der Wissenschaftler, die ganz im Gegenteil einen markant »postmodernen« Wesenszug der Gegenwart erkannten, war jedoch stattlich. Der amerikanische Literaturtheoretiker Frederic Jameson nannte die Postmoderne eine »kulturelle Dominante«, deutsche Philosophen sprachen von einer »Signatur des gegenwärtigen Zeitalters«, ein Freiburger Germanist beschrieb eine postmoderne »Konstellation«, und der britische Geograph und Gesellschaftstheoretiker David Harvey identifizierte, im Geiste Lyotards, eine postmoderne »Kondition« der Gegenwart.18

14 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, S. 12. 15 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt am Main 1989, S. 271. 16 Hans Robert Jauß, Der literarische Prozeß des Modernismus, in: Ludwig von Friede­burg / ​ Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt am Main 1983, S. ­95–130, hier S. 97. 17 Hans Lenk, Postmodernismus, Postindustrialismus, Postszientismus. Wie epigonal oder rational sind Post-(modern)ismen, in: Walther Ch. Zimmerli (Hg.), Technologisches Zeitalter oder Postmoderne?, München 1988, S. 153–198, hier S. 155. 18 Frederic Jameson, Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism, in: New Left Review 146 (1984), S. 53–92, hier S. 55; ders., Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991; Peter Koslowski u. a. (Hg.), Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim 1986; etwas zurückgenommener: Andreas Huyssen / K laus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986; Rolf Günter Renner, Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne, Freiburg 1988; David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford 1989.

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Damit hatte sich das Nachdenken über die vage Rückbezüglichkeit der theoretischen Besinnung und zumal über die Postmoderne zu einer Epochendiskussion in statu nascendi entwickelt. Bemerkenswert war dabei zunächst, dass der Status der Gegenwart ganz überwiegend vom Bereich des Ästhetischen – der Architektur, der bildenden Kunst, der Literatur und Literaturkritik – und der Philosophie ausgehend bestimmt wurde. Die Autoren erörterten die verbindende Charakteristik ihrer Zeit anhand der Bauart von Hotels, von Darstellungsverfahren des Romans und textuellen Interpretationstechniken, der künstlerischen Bedeutung von Fotografie und Fernsehen oder dem Nachdenken über Subjektivität. Diese Perspektive dominierte, auch wenn manche stark rezipierte Deutung die Postmoderne in marxistischer Tradition auf ein neues Stadium des Kapitalismus zurückführte.19 In der Geschichte der Bundesrepublik und der USA dürfte sich kaum ein anderes Jahrzehnt finden, in dem das ästhetisch-philosophische Feld eine in so hohem Maße definierende Rolle für die gesellschaftliche Selbstverständigung besaß. Damit ging eine nicht unbeträchtliche Aufwertung der betreffenden akademischen Disziplinen einher. Um 1990 erlangten sie eine gegenwartsdiagnostische Deutungsmacht, die ihnen seitdem nie wieder beschieden sein sollte. Die inhaltlichen Bestimmungen derjenigen Autoren, die der Gegenwart eine postmoderne Signatur bescheinigten, waren keinesfalls deckungsgleich. Nicht alle etwa waren bereit, die zeitgenössische Verfasstheit vom selbstreferentiellen Spiel der Zeichen, von Sinnzersetzung und dem Verschwinden des Autors zu denken. Gleichwohl wiesen die Klärungsversuche eine gar nicht so kleine Überschneidungszone auf. Die Postmoderne kennzeichnete sich demzufolge durch die Absage an Totalitäten aller Art – zumal an eine universelle Wahrheit, die Herrschaft der Vernunft, den Gedanken des Fortschritts und die Möglichkeit einer rationalen Planung der gesellschaftlichen Ordnung. Dagegen setzte sie ein Bekenntnis zur Vielfalt, die sich ästhetisch in der zelebrierten Mischung von Stilen und Sprechweisen äußere. Mit der Existenz von Wahrheiten und Wirklichkeiten im Plural verband sich die Desorientierung des wahrnehmenden Subjekts. Gleichzeitig korrespondierte beides mit nicht-linearen Formen der Zeitlichkeit. Sie lagen zum einen in der Bedeutung von Diskontinuitätserfahrungen vor, zum anderen in der transhistorischen Simultaneität unterschiedlicher Zeitschichten. Dieses Geflecht setzten die Proponenten mit unterschiedlichen Begründungen von der »Moderne« ab, sei es, dass sie die Stoßrichtung gegen moderne Grundannahmen akzentuierten, dass sie Züge der Moderne für radikalisiert und dadurch qualitativ verändert hielten, oder dass sie glaubten, Phänomene, die sich in der Moderne nur an schwachen Rändern bemerkbar gemacht hätten, seien nunmehr dominant geworden. So sehr die Autoren jedoch Figuren der Heterogenität, der Polyphonie und der Vielgestaltigkeit akzentuierten, lässt sich nicht übersehen, dass ihre eigene Situierung der Gegenwart einen homogenisierenden Zug besaß. Denn allen Arbeiten lag letztlich ein Kongruenzgedanke zu19 Jameson, Postmodernism, 1984; Harvey, Condition.

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grunde, demzufolge sich »postmoderne« Grundformen in den verschiedensten gesellschaftlichen Domänen auf ganz ähnliche Weise ausdrückten. Auch wenn mancher hier einen »Diskurs« am Werk sehen wollte, erinnerte die analytische Operation, das Einheitliche im Unheinheitlichen aufzudecken, doch eher an die alte, aus dem 19. Jahrhundert herrührende Vorstellung des Epochenstils, demzufolge in »der Zeichnung eines bloßen Nasenflügels« die geistige Handschrift des gesamten Zeitalters eingefangen war.20 Darin lag die eigentlich sinnstiftende Bedeutung der Debatte. Durch die Hintertür bereichslogischer Entsprechungen verlieh sie der Gegenwart eine sehr klar konturierte Identität, auch wenn sie diese eben nicht begrifflich bannte. Diejenigen Zuschreibungen, welche die Postmoderne als prägendes Merkmal der Gegenwart sowohl erkannten als auch begrüßten, übersetzten mit ihrer Epochendiagnostik wesentliche Veränderungen, die sich in westlichen Ländern während der späten 1960er und 1970er Jahre ereignet hatten, in die Theorie. Im Befund des postmodernen Zeitalters spiegelte sich eine Gesellschaft, die sich – desillusioniert, verärgert oder erleichtert – von ideologischen Großutopien abgewandt hatte.21 Darin wirkte sich vor allem die Entzauberung des Kommunismus aus, aber auch das vergebliche Warten auf den Godot des modernisierungstheoretischen Versprechens. Die Diagnose transportierte ferner den erheblichen Pluralisierungsschub, den westliche Gesellschaften in der Vervielfältigung der Subkulturen, dem Aufkommen neuer zivilgesellschaftlicher Bewegungen und dem zunehmenden identitätspolitischen Engagement erlebt hatten. Nicht zuletzt verlängerten die Theorien prominenter »postmoderner« Autoren ja manche Denkhaltungen und Habitusformen eines Linksintellektualismus unmittelbar in den akademischen Diskurs, der mit dem Marxismus gebrochen hatte und sich nun anschickte, in die Gegenkultur des »alternativen« Milieus überzugehen. Nicht immer gestaltete sich der Transfer so offensichtlich wie in Paul Feyerabends Parole »Bürgerinitiativen statt Erkenntnistheorie!«22 Doch flossen etwa in Foucaults Machttheorie der 1970er Jahre die antirepressiven Kämpfe der nach-68er Zeit und der praktische Einsatz dafür, die Erfahrungen bislang marginalisierter Gruppen anzuerkennen, formgebend ein.23 Darüber 20 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Basel 181991 [1915], S. 14 f. Von Diskurs spricht Renner, Konstel­ lation. 21 Fernando Esposito, Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Anselm Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. ­393–424. 22 Paul Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt am Main 1979, S. 8, 23. 23 Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht [urspr. 1982], in: Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1994, S. 243–261; Martin Kindtner, Strategien der Verflüssigung. Poststrukturalistischer Theoriediskurs und politische Praktiken der 1968er Jahre, in: Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte, S. 373–392; Richard Wolin, French Intellectuals, the Cultural Revolution, and the Legacy of the 1960s, Princeton 2010.

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hinaus stand die »postmoderne« Gegenwartsbestimmung aber auch in Beziehung zu einem entspannteren Umgang mit Kultur als Unterhaltung, der sich inzwischen gesellschaftlich ausgebreitet hatte. Die Intensität der Konflikte, zu denen die Diskussion Anlass gab, lässt sich daher nicht eindimensional erklären. In der Auseinandersetzung um die »Postmoderne« wurde zweifellos auch ein Kampf um intellektuelle Deutungshoheit und akademisches Renommee geführt. Der Einsatz in diesem Gefecht war die ›richtige‹ Theoriesprache.24 Besonders mit den französischen Philosophen waren die Säulenheiligen eines neuen Referenzsystems etabliert worden. Während das eine Lager sie zu Ikonen des Feldzugs gegen gängelnden Rationalismus und methodenerzwingenden Szientismus machte, attackierten die Gegner sie als Personifikation all dessen, was an der neuen Ideenströmung irreführend und gefährlich war. Die Diatriben des Berliner Germanisten Klaus Laermann gegen das »rasende Gefasel der Gegenaufklärung« (»Wer hier nach Sinn sucht, hat ihn schon verloren«) erlangten ihrerseits große Bekanntheit.25 Auch deshalb handelte es sich gleichzeitig, und selbst wenn das manche Teilnehmer gerade bestritten, um eine wissenschaftliche Grundsatzdebatte. In den Stellungnahmen kollidierten unterschiedliche erkenntnistheoretische Positionen, die helle und die dunkle Seite der Vernunft wurden gegeneinander gehalten, schier unvereinbare ästhetische Präferenzen lagen im Widerstreit. Doch war die Kontroverse – in einem weiten Verständnis – eben auch stark politisch aufgeladen. Jürgen Habermas machte daraus in seinen vergleichsweise frühen Stellungnahmen kein Hehl. Er sah die Theorien von Derrida oder Foucault als eine Spielart der reaktionären Gegenkräfte, die seit den 1970er Jahren gegen den normativ-politischen Wertekonsens der westlichen Nachkriegsgesellschaften anstürmten. Der Frankfurter Philosoph stellte die zerstörerischen Implikationen der Moderne nicht in Abrede. Doch sah er sie als kritikwürdige Abweichung an, während er den französischen Philosophen und ihren deutschen Anhängern, die er im Milieu der Grünen und der neuen sozialen Bewegungen verortete, vorwarf, ihre »Verzweiflung am Projekt der Moderne« als solchem zur Schau zu stellen. Indem sie der »instrumentellen Vernunft« eine Totalabsage erteilten und ihr »manichäisch ein nur noch der Evokation zugängliches Prinzip entgegen« hielten, hatten sie sich in seinen Augen einer nicht zu billigenden Grenzüberschreitung schuldig gemacht.26 24 Vgl. dazu und allgemein zum Hintergrund der Theoriekultur dieser Jahre Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, Frankfurt am Main 2016. 25 Vgl. Klaus Laermann, Das rasende Gefasel der Gegenaufklärung. Dietmar Kamper als Symptom, in: Merkur 39 (1985), S. 211–220; ders., Lacancan und Derridada. Über die Frankolatire in den Kulturwissenschaften, in: Kursbuch Nr. 84 (1986), S. 34–43, hier das Zitat, S. 38. 26 Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: ders., Kleine Politische Schriften I–IV, Frankfurt am Main 1981, S. 444–464, Zitate S. 452 und 463. Vgl. ders., Die neue Unübersichtlichkeit, in: Merkur 39 (1985), S. 1–14.

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Politisch durchtränkt waren aber auch weniger ausgesprochene Debatten­ beiträge. Im Reden über künstlerische Logiken und philosophische Prämissen ging es nahezu stets um die Frage der Verbindlichkeiten in einer plural verfassten Gesellschaft. Gerade deshalb ließen sich von hier aus bedeutungsschwere Klagen über die postmoderne »Kaleidoskopgesellschaft« ableiten, die sich allein dem Hedonismus verpflichtet fühle und alle normativen Bezugspunkte über Bord werfe.27 Doch auch die Gegenseite machte deutlich, wie viel auf dem Spiel stand. Wolfgang Welschs einflussreiches Buch über »Unsere postmoderne Moderne«, eine aus kritischer Sympathie verfasste und eher vermittelnde Bestimmung, ließ sich auch als ein gesellschaftspolitisches Manifest lesen. Der Bamberger Philosophieprofessor machte den Kern der Postmoderne am Gedanken »radikale[r] Pluralität« fest und bekannte sich emphatisch zu dieser »zuinnerst positive[n] Vision«, die »von wirklicher Demokratie untrennbar« sei.28 So gewendet, rückte die Postmoderne in die Nähe einer staatstragenden Doktrin für die liberalisierte Bundesrepublik.29 Gerade ihre polarisierende Wirkung hielt den intellektuellen Sog der Debatte noch bis in die späten 1990er Jahre lebendig.30 Auch wenn sich die polemischen Wogen bald etwas glätteten, scheint er sich erst mit der Jahrtausendwende nachhaltig abgeschwächt zu haben. Während die »Postmoderne« in den späten 1980er Jahren allen anderen mit dem Präfix ausgestatteten Diagnosebegriffen den Rang ablief, wurden in den Reflexionen doch auch andere Termini mit bedacht. Am Rande korrelierten manche Autoren die postmoderne Verfasstheit der Gegenwart mit der Existenz einer »postindustriellen« Gesellschaft.31 Den vielleicht größten Raum nahm die Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer »Posthistoire« ein. Ob die Postmoderne ein Stadium anzeige, in der die geschichtliche Entwicklung als solche abgeschlossen und die historische Zeit gleichsam zum Stillstand gekommen sei, wurde unterschiedlich beurteilt. Während die einen beide Gedankenkomplexe strikt voneinander trennen wollten, deuteten andere die Nachgeschichte als den geschichtszeitlichen Zustand, welcher der Postmoderne entsprach.32 Zur gleichen Zeit wurde der Gedanke der Posthistoire seinerseits historisiert. Der Essener Historiker Lutz Niethammer reihte sich einerseits insofern in die Debatte ein, als er sein Interesse mit der Konjunktur der »post«-

27 Lenk, Postmodernismus, S. 177. 28 Welsch, Moderne, S. 5. 29 Zum Gedanken der Liberalisierung vgl. Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49. 30 Peter V.  Zima, Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen 1997; Themenheft »Postmoderne – eine Bilanz«, in: Merkur 52 (1998), H. 9/10. 31 Vgl. unter anderem Jameson, Postmodernism, 1984, S. 55. 32 Welsch, Moderne, S. 18; dagegen etwa Thomas Jung, Vom Ende der Geschichte. Rekon­ struktionen zum Posthistoire in kritischer Absicht, Münster 1989, S. 36.

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Zuschreibungen motivierte.33 Andererseits stellte er mit seinem geistesgeschichtlichen Durchgang ein distanzierteres Verhältnis her. Aus diesem Blickwinkel erschien die posthistorische Diagnose als ein enttäuschter Reflex auf das Scheitern totaler ideologischer Umgestaltungsversuche, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg erst im rechtsintellektuellen und später dann im linksintellektuellen Milieu geltend gemacht hatte. Damit gelangte Niethammer ins Vorfeld einer Erklärung des aktuellen »post«-Syndroms – ohne allerdings den zeithistorischen Bogen zu schließen.

3. Ende der Geschichte – wie Fukuyama es sah Mit alledem hatte Francis Fukuyama gar nichts im Sinn. Es ist kaum übertrie­ ben, zu behaupten, dass es im Jahr 1989 keine zwei Gedankenwelten gab, die weiter voneinander entfernt lagen, als die westdeutsche Beschäftigung mit »Posthistoire« und die Auffassungen des Amerikaners über das Ende der Geschichte. Die kuriosen Seiten der intellektuellen Turbulenz, die er auslöste, sollte man nicht außer Acht lassen. So muss es sich wohl anfühlen, wenn man über Nacht berühmt wird: Niemand außer seinen Büronachbarn kannte Francis Fukuyama, einen Analysten der Rand Corporation und anschließend stellvertretenden Direktor des Planungsstabs im State Department, bevor er seinen Aufsatz »The End of History?« veröffentlichte.34 Er knüpfte damit an sein Studium der politischen Philosophie und der Politikwissenschaft an, das er an amerikanischen Spitzenuniversitäten absolviert hatte. Der kurze Text erschien im Sommer 1989 in »The National Interest«, einer Zeitschrift mit einer Auflage von weniger als 6.000 Exemplaren, die allerdings von Irving Kristol, einer der Galionsfiguren des Neokonservatismus, herausgegeben wurde. Innerhalb weniger Monate hatten zahlreiche namhafte amerikanische und europäische Zeitungen über die Schrift berichtet, die zugleich in Windeseile in mehrere Sprachen übersetzt wurde. In seinem Aufsatz argumentierte Fukuyama, die gegenwärtige Erosion des Kommunismus in der Sowjetunion und in China werde dazu führen, dass sich die letzte systemische Alternative zum westlichen Liberalismus auflöse. Diese Entwicklung deutete er – in seinem vor allem über Alexandre Kojève vermittelten Verständnis der idealistischen Geschichtsphilosophie Hegels – als Ende der Geschichte. Damit meinte er einen endgültigen geschichtlichen Abschluss insofern, als keine bessere Form der Regierung und der gesellschaftlichen Organisation mehr denkbar sei. In der Buchfassung, die im Frühjahr 1992 erschien, verschaffte Fukuyama diesem Gedanken dann ein wesentlich weiter ausladendes Fundament.35 Demzufolge erklärte sich die alternativlose Durchsetzung des demokratisch-kapitalistischen Modells in der Gegenwart aus einem Prozess, 33 Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989, S. 7. 34 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest, Summer 1989, S. 1–18. 35 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992.

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der im 16. Jahrhundert eingesetzt hatte. So habe zum einen die sukzessive Ausbreitung der modernen Naturwissenschaft eine Entwicklung hin zur kapitalistischen Ökonomie herbeigeführt. Zum anderen habe der dem Menschen eigene Trieb nach Anerkennung darauf hingewirkt, dass sich die politische Demokratie etablierte, da sie dasjenige politische System sei, in dem er sich am besten entfalten könne. Seinen Aufsatz schrieb Fukuyama in einem Moment, in dem für die meisten Beobachterinnen und Beobachter keineswegs auf der Hand lag, wohin die Reise der kommunistischen Systemtransformationen gehen würde – nach der Eröffnung des sowjetischen Volksdeputiertenkongresses, aber noch vor dem überwältigenden Sieg der Solidarność in den polnischen Parlamentswahlen, vor dem Fall der Berliner Mauer und im Übrigen auch vor der Niederschlagung der Demokratieproteste in China. In den USA überwogen zu diesem Zeitpunkt die Warnungen, bei der Perestroika könne es sich um ein großangelegtes sowjetisches Betrugsmanöver handeln.36 Der Angestellte des State Department lieferte somit zunächst einmal eine hellsichtige Analyse des Umbruchsgeschehens in der Sowjetunion, das er als nicht mehr reversibel einschätzte, aber nicht weniger der chinesischen Situation, wies er doch auf die politischen Grenzen der wirtschaftlichen Reformbereitschaft deutlich hin. Das Entstehungsdatum seines Aufsatzes ist somit ein wichtiger Umstand, der den amerikanischen Autor vor dem Urteil bewahrt, er habe lediglich das Offensichtliche festgestellt. Es ist aber auch der einzige. Im Buch von 1992 nahm der zentrale politisch-zeithistorische Befund einen tautologischen Zug an: Dass es den Kommunismus als Systemalternative nicht mehr gab, nachdem der Kommunismus untergegangen war, stellte keine sehr fernliegende Erkenntnis dar. Und dass der Systemkonflikt an sein Ende gelangte, wenn eine der beiden Systemalternativen wegfiel, war per definitionem zutreffend. Insofern kam alles darauf an, welche Konsequenzen man daraus zog. Auch Eric Hobsbawm konstatierte (neben vielen anderen) im Herbst 1990, dass weltweit kein tragfähiger Gegenentwurf zum westlichen Kapitalismus mehr erkennbar sei. Die Geschichte ging für ihn allerdings weiter, weil »Western capitalism represents no solutions to the problems of most of the former Second World, which is likely to be largely assimilated to the condition of the Third World.«37 Seine vier Jahre später erschienene meisterhafte Interpretation des »Age of Extremes«, das er 1917 beginnen und 1991 ausklingen ließ, belegt die immense historische Prägekraft, welche die Vorstellung eines basalen Ideologiekonflikts gerade auch aus marxistischer Perspektive besaß.38 Der britische Historiker sah mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums jedoch lediglich eine historische Phase beendet. Fukuyamas Ansatz dagegen erhob die binäre Weltsicht eines Konflikts zwischen zwei monolithischen Systemoptionen in den Rang eines universal­ 36 Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge 2011, S. 242–255, hier besonders S. ­242–243. 37 Eric Hobsbawm, Goodbye to All That, in: Marxism Today, October 1990, S. 18–23. 38 Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1995.

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geschichtlichen Bewegungsprinzips. Dieser Dualismus und er allein war es, der den historischen Entwicklungsprozess im 20. Jahrhundert vorantrieb. Und den Ausgang dieses geschichtsmächtigen Antagonismus am Ende des Säkulums deutete der Autor zwar nicht als vollends zwangsläufig, aber doch als innerlich in hohem Maße konsequent. »The End of History« führt somit vor Augen, wie tief die bipolare Logik des »Kalten Kriegs« das politisch-historische Denken amerikanischer Intellektueller und Wissenschaftler durchdrungen hatte. Das galt zumindest für das republikanisch-konservative Lager, dem sich der Autor zu diesem Zeitpunkt noch zurechnen ließ. In dem Moment, als der Systemgegensatz implodierte, produzierte Fukuyama dessen stärksten Reflex. Man könnte auch sagen, er lieferte den Schlussstein der politischen Weltwahrnehmung, die diesen über Jahrzehnte getragen hatte. Der posthistorische Entwurf trieb sie mit geradezu radikaler Konsequenz bis zur letztmöglichen Schlussfolgerung: War der Kalte Krieg vorüber, so die Geschichte gleich mit.39 Dass diese Deutung entdifferenzierend war, scheint in der Rückschau deutlich zutage zu liegen. Fukuyama verstand den Kommunismus als eine reine, gleichsam freischwebende Ideologie. Ihre Attraktivität in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ging allein aus der systemischen Alternative hervor, die sie anbot. Dass sie aufs Engste an den frühen Erfolg eines industriellen Entwicklungsmodells sowie an das machtpolitische Gewicht der Sowjetunion und Chinas gebunden war, auf die politische Gruppierungen zumal im globalen Süden für ihre ganz andersgearteten politischen Kämpfe zurückgriffen, trat dagegen nicht ins Blickfeld.40 Damit hing zusammen, dass sich Fukuyama den Kommunismus als eine geschlossene Formation vorstellte, wogegen sich dessen Ausbreitung doch seit dem Anbeginn der russischen Revolution daraus erklärte, dass er als flexibles Bezugssystem fungierte, welches sich auf unterschiedliche Weise aneignen ließ.41 Nicht nur hatte die Weltpolitik der zweiten Jahrhunderthälfte niemals eine so schematische Gestalt aufgewiesen, wie es Fukuyamas Nachruf implizierte; der Kalte Krieg war auch niemals das gewesen, wofür er ihn hielt. Dass Fukyama über den Umbruch der späten 1980er und frühen 1990er Jahre hinweg so stark einer dichotomen, vom Kalten Krieg geprägten Weltsicht verhaftet blieb, hatte schließlich aber noch eine weitere Folge. Denn dies erzeugte, auch dafür stand »The End of History«, ein intellektuelles Vakuum in der Beobachtung der politischen Ereignisse abseits und jenseits des universalhisto39 Zeitgenössisch bemerkte das offenbar als einziger der Althistoriker Christian Meier: »Man konnte sich so wenig mehr etwas anderes vorstellen, daß eine Welt ohne Blöcke gleich als eine Welt ohne Geschichte erscheint.« Christian Meier, Vom »fin de siècle« zum »end of history«? Zur Lage der Geschichte, in: Merkur 44 (1990), S. 809–823, hier S. 818. 40 Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2005; ders., The Cold War. A World History, London 2017. 41 Vgl. zur neueren Forschung Silvio Pons (Hg.), The Cambridge History of Communism, 3 Bände, Cambridge 2017.

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rischen Grundkonflikts. Die posthistorische Diagnose verriet einen Mangel an Vorstellungskraft, welche Konflikte zukünftig bestimmend werden könnten – was Samuel Huntington schon zeitgenössisch kritisch gegen Fukuyamas Reflexion vorbrachte.42 Damit stand der außenministerielle Beamte im Kreise der politischen Beobachter sicherlich nicht allein.43 Fukuyama war kein Geheimdienstmitarbeiter, dessen Berichte dazu beigetragen hätten, dass die amerikanische Regierung die gewaltsame Effektivität islamistischer Terrorgruppen unterschätzte. Und doch wird man im posthistoristischen Denken, wie es sich in seinen Einordnungsversuchen ausdrückte, einen intellektuellen Ursprung jener »poverty of expectations« ausmachen können, die Verteidigungsminister Donald Rumfseld nach dem 11. September 2001 dafür verantwortlich machte, dass niemand das wahre Ausmaß der Bedrohung vorhergesehen hatte.44 Neben der aktuellen politischen Analyse und der weltpolitischen Deutung bargen Fukuyamas Texte aber noch eine weitere, geschichtsphilosophische Bedeutungsschicht. Um den Sieg von Demokratie und Kapitalismus zu erklären, zeichnete der Autor einen ebenso langfristigen wie gerichteten Prozess nach, in dem sich ein bestimmtes politökonomisches Modell progressiv entfaltete. In seinen Grundlagen enthüllte sich Fukuyamas Denkansatz somit als eine evolutionäre Geschichtstheorie. Indem das Endstadium unumwunden als Erfüllung gekennzeichnet war, erhielt sie starke Züge einer universellen Fortschrittsvorstellung. Mit alledem offenbarte der posthistorische Entwurf wiederum eine enge Verwandtschaft mit modernisierungstheoretischen Konzeptionen. In der Einleitung seines Buches referierte Fukuyama die Modernisierungstheorie als akademisch de facto erledigt.45 Der Haupteinwand, den er selbst erhob, besagte jedoch nur, dass die modernisierungstheoretische Konzentration auf ökonomische Prozesse einseitig sei (weshalb er eine zweite Argumentationslinie um den menschlichen »struggle for recognition« eröffnete). In seiner Analyse der wirtschaftlichen Geschichtsentwicklung lag er indes ganz auf derselben Linie. Es war ein tragender Gedanke seines Erklärungsgerüsts, dass »the logic of ­advanced industrialization, determined by modern natural science, creates a strong disposition in favor of capitalism and market economy.« Eine enge »relationship between economic development and liberal democracy« stritt er ebensowenig ab.46 Nicht zuletzt hatte die Modernisierungstheorie ja immer schon ein kalter Hauch von Posthistoire durchweht. Denn die entfaltete westliche Industrie42 Samuel Huntington, No Exit. The Errors of Endism, in: The National Interest, Fall 1989, S. 3–11. 43 Die Clinton-Regierung, die ihre Amtsgeschäfte im Jahr nach Erscheinen des Buches aufnehmen sollte, litt darunter, kein außenpolitisches Konzept formelhaft benennen zu können, das über die mobilisierende Klarheit des »Containment«-Gedankens verfügt hätte. Vgl. James D. Boys, Clinton’s Grand Strategy. U. S. Foreign Policy in a Post-Cold War World, London 2015. 44 Donald Rumsfeld, Beyond This War on Terrorism, in: Washington Post, 1.11.2001. 45 Fukuyama, The End of History and the Last Man, S. xi–xxiii. 46 Ebd., S. 109, 125.

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gesellschaft – »the age of high mass consumption«, wie es etwa Walt Rostow nannte  – war ein Endstadium, und wie sich dieses weiterentwickeln könnte, blieb eine Leerstelle.47 Die modernisierungstheoretische Neigung ließ Fukuyama als Paradebeispiel der nachgeschichtlichen Denkrichtung erscheinen, wie sie Lutz Niethammer im selben Jahr des aufsehenerregenden Aufsatzes, aber noch vor dessen Veröffentlichung, historisch sezierte.48 Auch durchzog Fukuyamas Schriften das melancholische Bedauern, welches der deutsche Historiker als konstitutiv für das posthistorische Denken ausgemacht hatte: ein Lamento über den Untergang eines heroischen Zeitalters voller Kämpfe, das nun in den ewigen Ennui zu münden drohte. »The end of history will be a very sad time«, merkte der amerikanische Autor mit vorweggenommener Nostalgie an, stünde doch in den heraufziehenden »centuries of boredom« nurmehr »the endless solving of technical problems« auf der Agenda.49 Der entscheidende Punkt, in dem Fukuyama von den anderen posthistorischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts abwich, bestand jedoch darin, dass er keine »negative Utopie« evozierte, die aus dem Kollaps des ideologischen Großprojekts hervorging, dem er sich selbst verpflichtet fühlte.50 Im Gegenteil hatte sich die Welt, die er für die beste hielt, in seinen Augen soeben vervollkommnet. Die eigentliche intellektuelle Stoßrichtung seiner Diagnose lag dann auch woanders. »The End of History« markierte die Rückkehr der Eindeutigkeit – oder doch den durchdringenden Wunsch, eine von Unschärfe und Widersprüchen ungetrübte Wirklichkeit wiedererlangen zu können. Fukuyama unternahm es in seinen Werken, das »Age of Fracture« Bruchstück für Bruchstück wieder zusammenzusetzen: Er spannte eine unhinterfragte Prozesshaftigkeit auf, rehabilitierte die lineare Zeitlichkeit, bezeichnete ein metahistorisches Telos und statuierte unbestreitbare politische Werturteile. Damit setzte er einen ganzen Komplex von Vorstellungen wieder ein, die im intellektuellen Diskurs der knapp zwei Jahrzehnte zuvor von verschiedenen Seiten aus vehement angefochten worden waren. Der Kontrast zu den theoretischen Parametern, die zur gleichen Zeit auf beiden Seiten des Atlantiks in den affirmativen Bezügen auf die »Postmoderne« formuliert wurden, nahm sich geradezu grell aus. Das betraf gerade auch Vorstellungen geschichtlicher Zeitlichkeit. Wie Fernando Esposito gezeigt hat, wurden in diesen Reflexionen auch Chronotopoi der Moderne wie Progression oder Gerichtetheit zutiefst fragwürdig.51 Fukuyama mag es durch-

47 Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960. 48 Niethammer, Posthistoire, S. 163. 49 Fukuyama, The End of History?, S. 17–18. 50 Niethammer, Posthistoire, S. 169. 51 Fernando Esposito, Zeitenwandel. Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – eine Einführung, in: ders. (Hg.), Zeitenwandel. Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017, S. 7–62. Vgl. auch Steffen Henne, Das Ende der Welt als Beginn einer neuen Zeit. Zur Formierung der temporalen Ordnung unserer

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aus darum gegangen sein, diese gedankliche Grundströmung zu überwinden. Immerhin hatte er während seines Auslandsstudiums in Paris die Seminare von Poststrukturalisten wie Roland Barthes und Derrida besucht. Von deren »nihilistic idea of what literature was all about« hatte er sich, wie er zu Protokoll gab, »abgetörnt« gefühlt.52 Wie auch immer es sich damit verhielt, Fukuyamas Theorie stellte de facto einen wuchtigen Gegenentwurf zu entscheidenden »postmodernen« Grundannahmen dar.53 Den immensen publizistischen Widerhall, den seine Deutung unmittelbar fand, versuchten sich schon die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu erklären. Dabei schienen sich viele nicht daran zu stören, dass sie einen Leerlauf fortsetzen halfen, wenn sie feststellten, Fukuyamas Argument sei nicht der Rede wert und der Trubel um ihn grundlos, um genau darüber den nächsten Artikel zu schreiben. Als entscheidend erwies sich aber etwas Anderes. Der Planer im Außenministerium präsentierte tatsächlich eine der ersten tieferen Sinndeutungen des untergehenden Kommunismus. Noch im Jahr vor Erscheinen seines Aufsatzes hatte eine ganz andere Prognose die amerikanische Medienlandschaft in Atem gehalten: die bald schon als »declinism« titulierte Vorhersage, dass sich die globale Hegemonie der USA unausweichlich im Niedergang befinde.54 Daran gemessen, war Fukuyamas Befund, dass sich das amerikanische Modell für alle Zeiten durchgesetzt habe, originell. Doch war dies nicht der einzige Grund für den intellektuellen Aufruhr. Das macht ein weiterer Text deutlich, der Fukuyamas Aufsatz vorausgegangen war. So hatte der profilierte konservative Publizist Charles Krauthammer bereits im März 1989 einen Artikel in der Washington Post veröffentlicht, der zu verblüffend ähnlichen Schlüssen gelangt war: Die beste Regierungsform sei gefunden, die jahrhundertalte Schlüsselfrage der politischen Philosophie entschieden, das »end of ideology« besiegelt.55 Dieser Artikel schlug aber nicht annähernd so hohe Wellen. Dafür bedurfte es einer Provokation, die eben nur Fukuyamas Text enthielt. Und sie ging von der titelgebenden Idee aus, in alledem das Ende der Geschichte zu sehen. Den bald schon reflexhaften Einwand, auch in Zukunft werde es gravierende politische und soziale Probleme geben, wies Fukuyama

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Gegenwart in den 1980er Jahren, in: Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt am Main 2016, S. 155–188. James Atlas, What Is Fukuyama Saying? And To Whom Is He Saying It?, in: New York Times, 22.10.1989. Vgl. als zeitgenössische Überlegungen zu diesem Zusammenhang: Hans Peter Faganini, Das Ende der Geschichte, in: Politische Vierteljahresschrift 33 (1992), S. 464–472, hier S. 466; Eckhardt Fuchs, Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), S. 837–839, hier S. 837–838. Vgl. Paul M.  Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1988. Charles Krauthammer, Democracy Has Won, in: Washington Post, 24.3.1989, online unter: https://www.washingtonpost.com/archive/opinions/1989/03/24/democracy-has-won/ ​d0af229e-a139-495a-a12c-8d8c9934df4c/?noredirect=on (zuletzt abgerufen am 07.09.2020).

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immer wieder als Missverständnis zurück.56 Und dies einerseits zurecht, denn dass fortan keine Konflikte mehr auftreten würden, wie viele aus seinen Schriften herauslasen, hatte er tatsächlich nicht behauptet. Andererseits hatte er mit dem Ende der Geschichte eine plakative Formel in die publizistische Welt gesetzt, die Missverständnisse einlud, weil sie gar nicht anders konnte, als sich zu verselbständigen. Doch gab es eben auch viele Stimmen, die seine Argumentation genau so verstanden, wie sie sich tatsächlich darstellte: nicht als Proklamation ewig währender Harmonie, aber doch als maximale Überhöhung der vermeintlich erwiesenen Überlegenheit der kapitalistischen Demokratie. Dass in ihr die Verwirklichung der idealen Form menschlichen Zusammenlebens zu sehen sei, stellte ja kein Ergebnis einer historischen Analyse oder einer systematischen Abhandlung in politischer Philosophie dar. Darin spiegelte sich vielmehr eine politisch-normative Überzeugung, die sich in die Form einer Geschichtsphilosophie kleidete (und sich gar nicht wissenschaftlich falsifizieren ließ). In der Debatte entwickelte es sich daher zu einem wichtigen Argument, auf die inneren Bruchlinien der westlichen Demokratie wie auch des kapitalistischen Wirtschafts­ systems hinzuweisen, auf Armut, Rassismus oder die fehlende Gleichbehandlung der Geschlechter.57 Andere gaben zu bedenken, dass sich nicht vorhersagen lasse, welche neuen ideologischen Konfliktlinien sich in Zukunft herausbilden mochten.58 Dabei glaubten viele, im Aufschwung des islamischen Fundamentalismus wie auch des Nationalismus, in »[t]he clash of gods and the clash of nations«, ein wirkmächtiges Muster im Entstehen begriffen zu sehen.59 Damit deuteten sie einen Gedanken an, den Samuel Huntington wenige Jahre später in einem weiteren viel diskutierten Buch entfalten sollte.60 Schließlich machten die kritischen Kommentatorinnen und Kommentatoren geltend, dass schon in der jüngsten Vergangenheit der Systemkonflikt nicht die einzige weltweite Herausforderung dargestellt habe und andere womöglich noch bedrohlicher seien: die Umweltzerstörung, das Wachstum der Weltbevölkerung, die Wohlstandskluft zwischen globalem Norden und Süden, die deshalb zu erwartenden Migrationsbewegungen oder auch der »process of globalisation«.61 56 Vgl. etwa »Der Mensch braucht das Risiko.« Der amerikanische Philosoph Francis ­Fukuyama und seine These vom Ende der Geschichte, in: Der Spiegel 15/1992, 6.4.1992, S. 256–261. 57 Vgl. etwa Margarita Mathiopoulos, Kein Grund zum Schulterklopfen, in: Die Zeit, 5.3.1991. 58 Vgl. etwa Martin Jacques, Not Yet the End, in: The Independent, 17.10.1989. 59 Das Zitat in: Time to Call History a Day?, in: The Economist, 16.9.1989, S. 98. 60 Samuel Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. 61 Edward Mortimer, Familiar Novelties in a Future Order, in: Financial Times, 28.12.1991; Malise Ruthven, Gentle into History’s Good Night?, in: The Guardian, 5.3.1992; Ulrich Beck, Die unvollendete Demokratie, in: Der Spiegel 51/1989, 18.12.1989, S. 186–187; Jacques, End, hier das Zitat.

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Somit erwies sich die publizistische Auseinandersetzung mit den Thesen des Washingtoner Außenpolitikexperten als ein intensiver Klärungsprozess, in dem gleichsam die Prioritäten aktueller Problemlagen zurechtgerückt wurden. Alternative zeithistorische Weltdeutungen von ähnlicher Geschlossenheit, auch das war ein Ergebnis der Debatte, hatte dabei niemand anzubieten. In jedem Fall aber wies eine große Mehrheit der Autorinnen und Autoren Fukuyamas Diagnose zurück.62 Einer Sicht, die so wenige Nuancen erlaubte und so viel anderes außen vor ließ, mochte kaum jemand beipflichten; die polemischen Äußerungen befanden sie für anmaßend, selbstgefällig oder naiv. Der Spott über den »Hegel im amerikanischen Außenministerium« mit seiner »Theory to End All Theories« ergoss sich in Kübeln. »Enjoy the end of history while you can«, rief ausgerechnet Charles Krauthammer seinen Lesern zu: »It hasn’t long to run.«63 Mit seinem prä-postmodernen Evolutionismus blieb Fukuyama letztlich ein Solitär. Die Debatte zeigte, dass die Eindeutigkeit, nach der seine Theorie mit allen Fasern strebte, nicht ohne einen Preis zu haben war, und dass viele diesen Preis auf nicht weniger als die intellektuelle Glaubwürdigkeit des Autors taxierten.64

4. Ende des Nationalstaats Während die Debatte um Fukuyama noch in vollem Gange war, befasste sich eine weitere Gruppe von Autoren, die vornehmlich in den Sozialwissenschaften beheimatet waren, um 1990 mit vorderhand ganz anderen Fragen. Ihre Gegenwartsanalysen wiesen in eine sehr ähnliche Richtung, auch wenn es zunächst 62 Vgl. etwa Paul Hirst, Endism, in: London Review of Books, 23.11.1989, S. 14–15. 63 Das erste Zitat von Beck, Demokratie; das zweite von Richard Bernstein, Judging ›PostHistory,‹ The Theory to End All Theories, in: New York Times, 27.8.1989; Charles Krauthammer, … Is History History?, in: Washington Post, 15.9.1989. 64 Gleichzeitig riefen seine Thesen allerdings auch eine starke Blüte geschichtsphilosophischer Untersuchungen und Reflexionen über Endzeitdenken im Allgemeinen und Posthistoire im Besonderen hervor, die Fukuyamas Anregungen überwiegend ernst nahmen. Vgl. Perry Anderson, Zum Ende der Geschichte, Berlin 1993; Alexander Demandt, Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, Berlin 1993; Martin Meyer, Ende der Geschichte?, München 1993; Rainer Rotermundt, Jedes Ende ist ein Anfang. Auffassungen vom Ende der Geschichte, Darmstadt 1994; Volker Steenblock, Das Ende der Geschichte. Zur Karriere von Begriff und Denkvorstellung im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 333–351; Timothy Burns (Hg.), After history? Francis Fukuyama and His Critics, Boston 1994; Christopher Bertram / A ndrew Chitty (Hg.), Has History Ended? Fukuyama, Marx, Modernity, Aldershot 1994; Otto Pöggeler, Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama, Opladen 1995; Howard Williams u. a., Francis Fukuyama and the End of History, Cardiff 1997; Dieter Langewiesche, »Zeitwende« – eine Grundfigur neuzeitlichen Geschichtsdenkens. Richard Koebner im Verhältnis zu Francis Fukuyama und Eric Hobsbawm, in: Jörg Deventer u. a. (Hg.), Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus, Münster 2002, S. 9–26. Vgl. auch Damian Thompson, Das Ende der Zeiten. Apokalyptik und Jahrtausendwende, Hildesheim 1997.

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praktisch keine wechselseitigen Bezüge gab; hier war ein Diskurs gerade erst dabei, sich zu formieren. Im Zentrum der Beobachtung stand ein Ensemble von Prozessen, dem die Theoretiker eine weitreichende Veränderungswirkung zusprachen. Sie registrierten, dass sich immer schnellere Informations- und Kommunikationstechnologien ausbreiteten und die kapitalistische Ökonomie in Form von Finanzmärkten, Auslandsinvestitionen und den Geschäften multinationaler Unternehmen eine ungekannte grenzüberschreitende Dynamik entfaltete. Sie wiesen auf entgrenzte Gefahren hin, die von Massenvernichtungswaffen ebenso wie von der Umweltzerstörung ausgingen, sahen die menschliche Mobilität rapide zunehmen und immer neue transnationale soziale Bewegungen aus dem Boden schießen. Aus dem Zusammenwirken all dieser Entwicklungen gewannen die Autoren den Kernbefund, dass die staatliche Steuerungsfähigkeit in rasantem Schwinden begriffen sei. Die grundlegende Einsicht präsentierte sich in mancherlei konzeptionellem Gewand. Die schiefste, aber eingängige Metapher besagte, das »Ende der Geographie« sei angebrochen.65 Dagegen sprachen die australischen Soziologen Joseph Camilleri und Jim Falk nüchterner vom »Ende der Souveränität«. Dies machten sie daran fest, dass die staatliche Regulierungstätigkeit nicht mehr primär innerhalb klarer territorialer Grenzen ausgeübt werde, dass sie dort wiederum begrenzt sei, und dass Staat und transnational vernetzte Zivilgesellschaft zunehmend auseinanderklafften.66 Der in Japan geborene Kenichi Ohmae, zu dieser Zeit als Unternehmensberater tätig, sah vor allem angesichts der entscheidenden Bedeutung globaler Wirtschaftsverflechtung das »Ende des Nationalstaats« gekommen. Dessen »alte Instrumente« seien nicht länger funktionstüchtig und könnten »nicht mehr ungestraft benutzt werden«.67 Ließ er bereits aufscheinen, auch die Idee der westlichen Demokratie müsse infolgedessen neu bestimmt werden, so radikalisierte diesen Gedanken schließlich Jean-Marié Guéhenno, ein Mitglied des Planungsstabs im französischen Außenministerium, dessen Schrift ebenso wie die Ohmaes viel beachtet wurde.68 Der französische Autor postulierte, das Territorium habe nicht allein aufgehört, die Grundlage staatlicher Machtausübung zu bilden, sondern ebenso, als Bezugsrahmen für die Solidarität von Gemeinschaften zu fungieren. Dies bedeute das »Ende der Demokratie«, ja sogar das »Ende der Politik«.69

65 Richard O’Brien, Global Financial Integration. The End of Geography, London 1992. 66 Joseph A. Camilleri / Jim Falk, The End of Sovereignty? The Politics of a Shrinking and Fragmenting World, Aldershot 1992, vor allem S. 254–255. 67 Kenichi Ohmae, The End of the Nation State. The Rise of Regional Economics, New York 1995; dt: Der neue Weltmarkt. Das Ende des Nationalstaates und der Aufstieg der regionalen Wirtschaftszonen, Hamburg 1996, S. 10–11. 68 Jean-Marie Guéhenno, Das Ende der Demokratie, München 1994 [frz.: La fin de la démo­ cratie, 1993]. 69 Ebd., S. 39.

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In der Frage, welche Form der Organisation sich anstelle der in Auflösung befindlichen, territorial basierten Souveränität herausbildete, herrschte keine Übereinstimmung. Guéhenno evozierte die Vorstellung einer Art neuer Geographie der Vernetzung, die wie vieles andere in seinem Büchlein obskur blieb. Vor seinem geistigen Auge tat sich eine »mehrdimensionale Welt« von »NetzVerbunden« auf, »die ineinander übergehen«. Darin stütze sich Macht auf die »Zahl der Öffnungen und Kontaktpunkte«, über die sich Verbindungen zu anderen Netzen herstellen ließen.70 Zum Symbol einer solchen Organisationsweise erklärte er das multinationale Unternehmen. Ohmae präsentierte dagegen ein sehr viel klarer konturiertes, regionalistisches Modell. Als Motoren der Weltwirtschaft, die für ihn den entscheidenden Funktionsbereich darstellte, sah er regionale Wirtschaftseinheiten an – welche sich genauso über die Grenzen mehrerer Nationalstaaten erstrecken wie auf ein bestimmtes Gebiet innerhalb eines Nationalstaats konzentriert sein konnten. Zugleich waren sie alle wiederum aufs Engste mit der globalen Ökonomie verwoben.71 In wieder anderen Texten deutete sich an, dass eine Idee der Globalisierung oder des Globalismus die überkommene nationale Parzellierung staatlicher Souveränität ersetzte. Camilleri und Frank glaubten, dass neue Lösungen nur aus dem Bewusstsein einer immer stärker interdependenten Welt hervorgehen könnten: »globalism of one kind or another« hielten sie für »unavoidable«.72 Mit dem Begriff der Globalisierung, der in ihrer Abhandlung ganz beiläufig daherkam, bezeichneten sie zumeist das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Welt. Punktuell hatten sie aber auch einen überwölbenden Prozess im Sinn, unter den sich alle Integrationserscheinungen subsumieren ließen.73 »The spatial and temporal limits to human interaction«, so führten sie aus, »have been drastically compressed, and an intricate web of interdependencies has arisen, which effectively integrates the world in a manner that has no historical precedent.«74 In den anderen Auseinandersetzungen mit dem Ende des Nationalstaats tauchte der Globalisierungsbegriff entweder gar nicht auf oder erhielt keine tragende Bedeutung. Die sozialwissenschaftliche Diskussion der frühen neunziger Jahre markierte damit genau den Moment, bevor die Globalisierungsvorstellung ihren Take-off erlebte und alle derartigen Diagnosen zu absorbieren begann. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich das Nachdenken über neue oder Gegenmodelle noch durch eine fluide Offenheit aus. Wie schnell sich dies änderte, verdeutlicht der Blick auf ein weithin zur Kenntnis genommenes Buch Martin Albrows. Schon die Titelgebung verweist auf eine bemerkenswerte Zwischenstellung. Taufte der deutsche Verlag das Traktat »Abschied vom Nationalstaat« 70 71 72 73 74

Ebd., S. 76, 84–86. Vgl. etwa Ohmae, Weltmarkt, S. 116–117. Camilleri / Frank, End, S.  255. Vgl. vor allem ebd., S. 1–10. Ebd., S. 243.

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und schrieb es damit in den langen Reigen der End-Diskussionen ein, so lautete der englische Originaltitel »The Global Age«. Das machte die Hinwendung zu einem neuen Interpretationsmuster für alle, die sehen wollten, überdeutlich.75 Dabei konstatierte auch der britische Soziologe durchaus, dass der Nationalstaat durch globale Phänomene überspült und unterlaufen, seine Kontrollmöglichkeiten ausgehöhlt würden. Doch stand dies nicht im Zentrum. Denn die größere Bewegung, die sich in der Gegenwart wahrnehmen ließ, bestand eben im Globalisierungsprozess. Dieser speiste sich aus der wachsenden weltweiten Ausbreitung menschlicher Praktiken und der zunehmenden Bedeutung des Globus als Bezugspunkt. Die Triebkräfte, die Albrow hinter diesem Prozess aufspürte, waren im Grunde die gleichen, von denen auch die anderen Autoren ausgegangen waren: transnationale Unternehmen, Kapitaltransfers, wachsende Handelsströme, die Mobilität der Arbeit sowie zusätzlich Lebensstile, die sich über die Landesgrenzen hinweg ausbreiteten.76 Zielten die Diagnosen der sich dem Ende zuneigenden nationalstaatlichen Souveränität somit auf die Analyse der fundamentalen Veränderungsmechanismen der Gegenwart, so verband sich mit ihnen aber auch eine historische Selbstverortung. Für Ohmae hatte mit der Dominanz der globalen Ökonomie nach dem Ende des Kalten Kriegs zunächst einmal ein neues weltpolitisches Stadium begonnen. Darin ging es nicht mehr darum, militärische Sicherheit zu gewährleisten, sondern die wirtschaftliche Integration zu befördern  – gerade diese Herausforderung stellte den Nationalstaaten in seiner Sicht ja das Todesurteil aus.77 Tatsächlich versank mit den gegenwärtigen Verschiebungen in seiner Deutung wie auch in derjenigen Guéhennos das gesamte Zeitalter des Nationalstaats, wie es 1789 inauguriert worden sei.78 Den Wesenskern einer anbrechenden Ära vermochten sie gleichwohl nicht auf den Begriff zu bringen; eine neue Epoche riefen sie nicht aus. Daraus ergab sich eine auffällige Nähe zur Gedankenwelt ­Fukuyamas, mit dem sie ja auch die Tätigkeit als politische oder ökonomische Experten teilten.79 In der Vorstellung von Ohmae und Guéhenno stand in Zukunft lediglich noch die entpolitisierte, rein verwaltungsmäßige Optimierung von Lebensweisen auf der Agenda, welche sich jenseits ideologischer Kämpfe vollzog, die nun gar keinen Sinn mehr hätten. »Es dreht sich hier nicht um grundlegende Fragen der Ideologie«, so legte der japanische Management­berater dar, »welche die Nationalstaaten durch Vorgabe ideologischer Antworten – liberale Demokratie, Sozialwirtschaft versus Marktwirtschaft, Kommunismus oder 75 Martin Albrow, The Global Age. State and Society Beyond Modernity, Cambridge u. a. 1996; dt.: Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter, Frankfurt am Main 1998. 76 Ebd., S. 206. 77 Ohmae, Weltmarkt, S. 104–105. 78 Ebd., S. 204; Guéhenno, Ende, S. 10. 79 Daran änderte es auch nichts, dass sich Ohmae explizit von Fukuyama absetzte. Vgl. Ohmae, End, S. 1.

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was auch immer – für ihre Bürger lösen könnten.« Das Ziel bestehe vielmehr darin, für »normale Menschen […] die Lebensqualität zu verbessern.«80 In denjenigen theoretischen Entwürfen, in denen die Globalisierungsvorstellung ins Zentrum rückte, zeichneten sich dagegen die Umrisse des Neuen sehr viel deutlicher ab. Für Albrow hatte das »Globale Zeitalter« begonnen, weil »der häufige Verweis auf Globalität die Figuration der Epoche bestimmt«.81 Damit war nun ein neues, zukunftsweisendes historisches Bewegungsmuster gefunden, das weder die Postmodernisten noch gar die Posthistoristen hatten ausmachen können. Der Globalisierungsprozess verbürgte, gerade weil er alle wichtigen Wandlungstendenzen zu umfassen schien – sowohl in allen Weltregionen als auch in den verschiedenen funktionalen Sektoren –, den Rückgewinn der Zeitlichkeit. Folglich distanzierte sich Albrow auch von Fukuyamas posthistorischer Vision: Wie sollte die Geschichte beendet sein, wenn alles so schleunig zusammenwuchs.82 Die Moderne erklärte der britische Soziologe im gleichen Atemzug mit einer Gelassenheit, die vor dem Hintergrund der echauffierten theoretischen Diskussionen der späten 1980er Jahre schon für sich genommen eine neue Qualität einführte, für beendet.83 Ganz beendet: Das zeitlose Zeitwort »post« brauchte er dafür nicht. Und doch standen die Diskussionen um die »postmodernen« Positionen unübersehbar im Hintergrund des Nachdenkens über Souveränität, Nationalstaatlichkeit und Globalität. Die beiden australischen Soziologen führten die schwindende Plausibilität der Souveränitätsvorstellung als eines analytischen Konzepts auch auf die »postmoderne« Infragestellung monolithischer Strukturen zurück.84 Gleichzeitig begriffen sie solche Theorien als Ausdruck einer interpretatorischen Krise, die es mit neuen Kategorien zu überwinden galt.85 Semantisch und metaphorisch bedienten sich die sozialwissenschaftlichen Konzeptionen indessen durchaus bei einem Repertoire, aus dem sich auch die »postmoderne« Theoriesprache speiste. So schlichen sich »Ströme« und »Netze« in die Texte, die Autoren imaginierten eine »plurality of spaces« und banden ihre Beobachtungen in dem aus Systemtheorie und Kybernetik stammenden Letztbefund der »Komplexität« zusammen.86

80 Ohmae, Weltmarkt, S. 10 f. Vgl. ferner: Guéhenno, Ende, S. 174: »[A]uch wir wollen ›der Geschichte ein Ende setzen‹, aber dadurch, daß die ideologische Auseinandersetzung aufhört, in einer Welt, die so gut verwaltet wird, daß das Streben nach Wahrheit in ihr überflüssig geworden ist.« 81 Albrow, Abschied, S. 152. 82 Ebd., S. 121–125. 83 Ebd., S. 154. 84 Camilleri / Frank, End, S.  236–237. 85 Ebd., S. 44–68. 86 Zur Vorstellung der Komplexität vgl. Ariane Leendertz, Das Komplexitätssyndrom. Gesellschaftliche »Komplexität« als intellektuelle und politische Herausforderung, in: dies. / Meteling (Hg.), Die neue Wirklichkeit, S. 93–132.

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Daher gilt es umso stärker zu akzentuieren, dass die Reflexionen über das Ende des Nationalstaates trotzdem sehr deutlich von »postmodernen« erkenntnistheoretischen und methodologischen Prämissen abwichen. Denn sie waren Ausdruck eines im Kern ungebrochenen prozessualen Denkens. Den Gegenstand der Theoretisierung bildeten räumlich weitgespannte und zeitlich langgestreckte Bündel von Entwicklungen. Auch in dieser Hinsicht war es der Globalisierungsgedanke, der sich am weitesten von den Parametern »postmoderner« Modellierungen entfernte, wobei er sich – dies war eine seiner Ursprungslinien – auf durchaus komplexe Weise an ihnen ab- und aus ihnen herausarbeitete.87 Martin Albrow konzeptualisierte die globalen Verflechtungen als nicht-gesetzmäßige Prozesse ohne »immanente Logik, die es wahrscheinlich macht, daß sie zu einem bestimmten Ergebnis führ[en]«.88 Bisweilen streiften seine Ausführungen sogar die pluriforme Vorstellung, die weltweite Tendenz des Zusammenwachsens könnte »auf relativ unabhängigen Prozessen« beruhen.89 Albrows Verlaufsgedanke war also gleichsam durch das poststrukturalistische Denken – wie auch durch die Kritik an der Modernisierungstheorie – hindurchgegangen.90 Einen Weg zurück in die Zeit gänzlich unschuldiger Prozessualität mit ihrer universellen, teleologischen Gerichtetheit zeigte seine Theorie, anders als die Fukuyamas, nicht auf. Und dennoch zielte Albrows Globalisierungsmodell gleichzeitig darauf, wichtige Konsequenzen zu überwinden, die von der postmodernen Auflösung fester Metakategorien und geschlossener Ordnungsrahmen ausgingen. Denn es führte, wie der Soziologe unumwunden aussprach, »die große Erzählung wieder ein«, insofern es die »Darstellung der grundlegenden Prozesse geschichtlicher Umwälzungen« aufs Neue möglich machte.91

5. Fazit: Anfang vom Ende der Endzeit Das »Ende«, in dessen Zeichen die akademische Zeitdiagnostik in den Jahren um 1990 stand, erwies sich als ein vieldeutiger gedanklicher Bezugspunkt. Im Modus eines schillernden, aber unauflösbaren Verhaftetseins in der Vergangenheit räsonierten Theoretiker und Beobachter über unterschiedliche und jeweils als maßgeblich erachtete Facetten der gegenwärtigen Verfasstheit. In den Kontroversen über die »Postmoderne« rangen die Vertreter zahlreicher Disziplinen mit den Folgen eines Schubs der gesellschaftlichen Pluralisierung und Liberalisierung, der sich seit den späten 1960er Jahren bemerkbar gemacht hatte. Über sie wurde im Medium ästhetischer Positionen, in Form einer epistemologischen 87 Dies gilt ganz ähnlich für Anthony Giddens, der den Begriff der Globalisierung überhaupt erst zu einem verallgemeinerten soziologischen Konzept ausbaute. Vgl. Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford 1990. 88 Albrow, Abschied, S. 147. 89 Ebd., S. 151. 90 Vgl. zur Modernisierung ebd., S. 152. 91 Ebd., S. 140. Vgl. auch S. 150–151.

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Grundlagenreflexion und vor dem Hintergrund politischer wie auch kultureller Präferenzen diskutiert.92 So heftig dabei gestritten wurde, war doch auch unübersehbar, dass sich eine gewisse Akzeptanz einer stärker heterogenen und fragmentierten Wirklichkeit einbürgerte – sei es als Erkenntnisprämisse, sei es auch mit Blick auf den akademischen Betrieb selbst. Nahezu gleichzeitig gab das überraschende Verschwinden des Kommunismus als ideologischer und politökonomischer Entwurf Anlass, sich über den Zustand der westlichen Demokratie wie auch der Weltordnung als Ganzer zu vergewissern. In der Auseinandersetzung mit dem »Ende der Geschichte«, wie Fukuyama es sah, tauchten die meisten Kommentatorinnen und Kommentatoren die Defizite demokratisch verfasster Gesellschaften in ein kritisches Licht. Dass sich der Westen im Systemkonflikt behauptet hatte, mochte kaum jemand in eine neue historische Meistererzählung verwandeln. Die weltpolitische Lage sahen die meisten durch ein unübersichtliches Geflecht von Bedrohungen gekennzeichnet. Die Einordnungsversuche changierten zwischen der »Rückkehr« älterer Konfliktmuster wie dem Nationalismus und dem Heraufziehen neuartiger, stärker diffuser Problemlagen, etwa qualitativ gewachsener Umweltgefahren oder der endgültigen Entfesselung des Kapitalismus. Hierin könnte man einerseits einen frühen Ansatzpunkt für die Deutung einer »neoliberalen« Ära erkennen, die seit Ende der 1990er Jahre an Zugkraft gewann. Andererseits mag sich der Reflexionsstand seit damals insofern gar nicht sehr geändert haben, als sich nach wie vor kein dominierender Schlüsselbegriff durchgesetzt hat, mit dem sich die weltpolitische Ära nach 1991 benennen ließe. Schließlich rückte in der Vorstellung vom Ende des Nationalstaats ein Bündel grenzüberschreitender Verflechtungsdynamiken in Ökonomie, Technologie und Kultur ins Zentrum der Diagnostik. Dabei ließ sich ein Unterton der Sorge vernehmen, ob die politische und gesellschaftliche Entwicklung nach der Auflösung des Territorialstaats erfolgreich gesteuert werden könne. Es überwog jedoch die Verheißung, die von dem globalen Integrationsprozess ausging, auch wenn diese wiederum unterschiedlich aufgefasst wurde. Die einen machten sich Aussicht auf ein Zeitalter technokratisch-ökonomistischer Nutzenmaximierung. Andere glaubten immerhin den Nukleus eines kohärenten, analytisch fassbaren Entwicklungsverlaufs gefunden zu haben. Wieder andere – auch dies klang an – hofften, dass im Bewusstsein der Globalität eine einvernehmlichere Welt entstehen könne. Die Rede vom »Ende« enthielt aber nicht lediglich unterschiedlich ausgerichtete Gegenwartsdeutungen. In der äußerlich einheitlichen Denkbewegung vollzogen sich darüber hinaus auch verschiedenartige intellektuelle Verwandlungen. Und es ist der Blick auf diese verborgene Multidirektionalität, der es erlaubt, neu 92 Zu den Parallelen zwischen den Debatten der erkenntnistheoretischen Selbstvergewisserung in den 1970er und 1980er Jahren und denen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. Jan Eckel, Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008, vor allem S. 133–138.

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über die Periode der jüngsten Zeitgeschichte nachzudenken. Die Forschung hat zuletzt die 1970er Jahre sehr stark als die Dekade profiliert, in der ökonomische Strukturen, politische Herausforderungen und gesellschaftliche Einstellungsmuster entstanden seien, die sich als äußerst langlebig erwiesen und somit die unmittelbare »Vorgeschichte der Gegenwart« einläuteten.93 Diese Untersuchungsrichtung hat eine Fülle fruchtbarer Erkenntnisse erbracht, die von der Ausbreitung radikal marktwirtschaftlicher Modelle über das wachsende Umweltbewusstsein und das Aufkommen einer transnationalen Menschenrechtspolitik bis hin zu den Folgen des chinesischen Eintritts in die Weltökonomie reichen. Nichtsdestoweniger scheinen die Verbindungslinien zwischen jenem Jahrzehnt und gegenwärtigen Konstellationen auf diese Weise überakzentuiert und zu sehr homogenisiert zu werden. Das hängt auch damit zusammen, dass die Phase der 1990er und der 2000er Jahre in der Regel übergangen und der Fluchtpunkt der Periodisierungen dadurch vage wird. Kehrt man die Blickrichtung um und betrachtet die Gegenwartsdiagnosen des »Endes« in den Jahren um 1990, so stellen sich die zeitlichen Verbindungen zwischen den Jahrzehnten vielschichtiger dar. Dabei gab es in den 1990er Jahren durchaus Entwürfe, welche die vorherrschende Interpretation der 1970er Jahre belegen. Ulrich Menzels Bestandsaufnahme vom »Ende der Dritten Welt« erscheint als intellektueller Nachvollzug von Veränderungen, die sich seit den 1970er Jahren angebahnt hatten. Das betraf vor allem die zunehmende Differenzierung der Länder des globalen Südens, die ganz unterschiedliche Entwicklungswege gingen, und damit einhergehend die nunmehr offenkundige Unzulänglichkeit der theoretischen Beschreibungsmodelle – sowohl der Modernisierungs- als auch der Dependenztheorie.94 In den Überlegungen des Politikwissenschaftlers katalysierte das Ende des »Kalten Kriegs« die Formulierung eines Problemzusammenhangs, der sich seit zwei Jahrzehnten herausgebildet hatte. Überwiegend muss man die chronologischen Fäden aber anders zusammenknüpfen. Das Nachdenken über die »Postmoderne«, wie sie zahlreiche Geisteswissenschaftler am Ende der 1980er Jahre umtrieb, stand in einer gedanklichen Entwicklungslinie, die sich während der 1970er Jahre fraglos verbreitert, ihren Ausgang aber eher schon am Beginn der langen 1960er Jahre genommen hatte. Sie setzte sich anschließend weiter fort, brach aber mit Beginn des neuen Jahrhunderts ab. Sicherlich wäre es verkürzend, davon auszugehen, dass sie sich völlig verflüchtigt hätte. Manche »poststrukturalistischen« und »postmodernen« 93 Doering-Manteuffel / Raphael, Boom; Niall Ferguson u. a. (Hg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge 2010; Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010; Thomas Borstelmann, The 1970s. A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality, Princeton 2012; Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte; Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019. 94 Ulrich Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, Frankfurt am Main 1992, hier insbesondere S. 15–69.

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Erkenntnispositionen und die methodischen Perspektiven, welche die Kulturund Geisteswissenschaften daraus gewonnen haben, wirken zweifellos nach. Das geschieht zuweilen in Form gesunkener akademischer Kulturgüter wie eines ubiquitär ausgedehnten Begriffs von »Diskurs« oder »Narrativ«. Doch hat sich, wenn man etwa die Geschichtswissenschaft betrachtet, wohl auch der Gedanke stärker diskontinuierlicher Zeiterfahrungen etabliert, und in der Biographik gibt es immerhin Ansätze von Subjektkonzeptionen, die es mit der Komplexität aufnehmen können, die sich im Roman schon seit hundert Jahren findet. Dessen ungeachtet sprüht die »Postmoderne« als gegenwartsbezogenes Selbstdeutungsangebot keinerlei intellektuelle Funken mehr. Francis Fukuyama hingegen wollte auch schon am Ende der 1980er Jahre mit solchen Denkimpulsen nichts zu tun haben. Politisch war seine Geschichtstheorie eine reine, wenngleich bis zu einem gedanklichen Extrem getriebene Verkörperung der binären Weltanschauung, die der amerikanischen kalten Kriegführung seit Jahrzehnten zugrunde gelegen hatte. Auch für sein geschichtsphilosophisches Modell waren die 1970er Jahre ganz sicher keine Vorgeschichte – oder doch nur in dem negativen Sinn, dass er sie zu hinterlaufen versuchte, um die verlorene Zeit vor der »neuen Unübersichtlichkeit« wiederzufinden. Der amerikanische Politikexperte arbeitete an der Rehabilitierung zum Teil alter, zum Teil ganz alter theoretischer Positionen. Dass er im Rekurs auf Hegel die Philosophiegeschichte vor Marx wiederbelebte, der in den Augen amerikanischer Triumphalisten nun tatsächlich auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet war, konnte man immerhin noch als einen genialen augenzwinkernden Schachzug verstehen.95 Der Reimport modernisierungstheoretischer Grundannahmen mit ihren glasklaren Entwicklungslogiken erwies sich dagegen in der Debatte als eine intellektuelle Grenze, hinter die es kein Zurück mehr gab. Doch soweit Fukuyamas posthistorische Vision eben trug, markierte die Umbruchszeit um 1990 auch einen im Wortsinne reaktionären Moment. Der backlash richtete sich dabei gegen »postmoderne« intellektuelle Prämissen, die vor allem in den 1970er Jahren aufgekommen, aber erst im folgenden Jahrzehnt akademische Breitenwirkung entfaltet hatten. Das teilte Fukuyamas Theorie, wenn auch als einzige Gemeinsamkeit, mit den Diagnosen einer zusammenwachsenden Welt und dem beginnenden Globalisierungsdiskurs. Deren Vertreter suchten ganz offensichtlich auch nach neuen Grundlagen, die sie jenen Prämissen entgegensetzen konnten, oder fanden sie jedenfalls. Von einer Genese zu sprechen, die in die 1970er Jahre zurückreicht, erscheint wenig plausibel. Im Gegenteil fanden sich am Ende der 1980er Jahre die Bedingungen zusammen, die es möglich erscheinen ließen, die wahrgenommenen Aporien »postmoderner« Erkenntnispfade zu überwinden – im Fall Fukuyamas das Ende der kom95 Huntington, Exit. Der Ausdruck »ash heap of history« stammt von Ronald Reagan, Address to Members of the British Parliament, 8.6.1982 (online by Gerhard Peters and John T. Woolley, The American Presidency Project: https://www.presidency.ucsb.edu/ node/245236, aufgerufen am 28.03.2020).

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munistischen Diktaturen in Osteuropa, im Fall der Soziologen dramatische weiträumige Verknüpfungsprozesse. Das anhebende Globalisierungsdenken war am deutlichsten auf die Zukunft ausgerichtet. Dies galt zunächst einmal insofern, als der Globalisierungsbegriff nach der Mitte der 1990er Jahre einen nahezu beispiellosen Siegeszug antreten sollte. Nun breitete er sich in atemberaubendem Tempo gleichzeitig im akademischen Diskurs, der medialen Zeitdiagnostik und nicht zuletzt der Politik aus.96 Auch in diesem Fall ließe sich bedenken, ob Wurzeln des Vorstellungskomplexes in die 1970er Jahre zurückreichen. Immerhin hatte in jener Dekade, von den Sozialwissenschaften ausgehend bis hinein in die internationale Politik, die Diagnose Raum gegriffen, im »Zeitalter der Interdependenz« schrumpfe der Erdball drastisch zusammen.97 Aus diesem Blickwinkel ließen sich damals ähnliche Phänomene erklären wie diejenigen, welche die Sozialwissenschaftler der 1990er Jahre ins Zentrum ihrer Beobachtung rückten, vor allem Formen weltwirtschaftlicher oder technologischer Verflechtung. Doch war ein solches Interdependenzdenken seit dem frühen 20. Jahrhundert in Wissenschaft und Politik immer wieder einmal prominent zum Vorschein gekommen, so dass man einerseits eine längere Vorgeschichte ansetzen müsste. Und andererseits eine wesentlich kürzere; denn im Globalisierungsbegriff, wie er sich seit den 1990er Jahren einbürgerte, manifestierte sich eben ein durchgreifendes Prozessdenken, das die Zustandsbeschreibung der Interdependenz nicht aufwies. Nicht zuletzt gewann dieser Terminus eine Wirkmacht, die alle früheren Diskurse wechselseitiger Verbundenheit in den Schatten stellte. Explizit schlossen die sozialwissenschaftlichen Theoretiker der Globalisierung ohnehin nicht an die Debatten der 1970er Jahre an. Diese scheinen so sehr in Vergessenheit geraten zu sein, dass es sich subjektiv um eine ungetrübte Neuentdeckung handelte.98 Aus dieser Sicht sind es die 1990er Jahre, die als Inkubationszeit einer Denkfigur erscheinen, welche auch die aktuelle Gegenwartsverortung noch tiefgreifend prägt. Schließlich lieferte die Globalisierungsvorstellung nach all den intellektuellen Abgesängen der »post«- und »Ende«-Diagnosen der 1970er und 1980er Jahre – und noch früherer Dekaden – wieder eine positive Bestimmung des Zeitalters. Auch darin erwies sie sich als zukunftsträchtig. Selbstverständlich waren die Reflexionen der 1980er und frühen 1990er Jahre nie ausschließlich von Deutungsentwürfen bevölkert, die das Wesen der Gegenwart von den Formierungs96 Jan Eckel, »Alles hängt mit allem zusammen.« Zur Historisierung des Globalisierungsdiskurses der 1990er und 2000er Jahre, in: Historische Zeitschrift 307 (2018), S. 42–78; ders., Politik der Globalisierung. Clinton, Blair, Schröder und die Neuerfindung der Welt in den 1990er und 2000er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 68 (2020), S. 451–480. 97 Vgl. dazu und zum Folgenden Martin Deuerlein, Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren, Göttingen 2020. Vgl. ferner Or Rosenboim, The Emergence of Globalism. Visions of World Order in Britain and the United States, 1939–1950, Princeton 2017. 98 Vgl. als späte Ausnahme: Robert O. Keohane / Joseph S. Nye, Globalization: What’s New? What’s Not? (And So What?), in: Foreign Policy 118 (2000), S. 104–119.

Nachdenken über das »Ende«

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prinzipien her bestimmten, die nicht länger vorherrschend waren. Der Gedanke an Niklas Luhmanns Systemtheorie genügt, um dies zu verdeutlichen.99 Doch scheint unverkennbar, dass die Hochphase der Endzeitentwürfe seit Mitte der 1990er Jahre ihrerseits der Vergangenheit angehörte. Nunmehr gewann die akademische Gegenwartsbeschreibung wieder festeren Boden unter den Füßen. Samuel Huntington konstatierte in einem akademischen Bestseller neuartige Konfliktlinien, welche die Weltpolitik nach dem Ende des »Kalten Kriegs« zerfurchten.100 Und mag Manuel Castells umfangreiche Theorie der Gegenwart auch keine ähnliche große publizistische Ausstrahlung gehabt haben, so beeinflusste sie die akademische Debatte doch weitreichend.101 Mit dem »Netzwerk« popularisierte er eine Metapher und mit dem »Informationszeitalter« einen Epochenbegriff, die inner- und außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses als attraktive Möglichkeit der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung kursierten.102 Im Sinne der leitenden Kategorien dieses Bandes zeigt die intellectual history der Jahre um 1990 also geradezu eine Umkehrung: Mag der einschneidende gesellschaftliche Wandel der 1970er und 1980er Jahre als »Entriegelung« eines vormals in sich eingeschlossenen politökonomischen Ordnungsmodells interpretierbar sein, so erscheinen die Deutungsmodi dieses Zeitraums im Unvermögen, die gegenwärtige Situation kategorial aus sich heraus zu bestimmen, ihrerseits verriegelt. Erst der Übergang zu positiv fassbaren Diagnosen und darunter vor allem neuen Verlaufsbegriffen in der folgenden Dekade löste diese Blockierung dann wieder auf.103 Nicht zuletzt in diesem reflexiven Sinn, dass sich das zeitdiagnostische Nachdenken nicht mehr des Umwegs über das soeben oder vielleicht doch noch nicht ganz Vergangene bedienen musste, sondern wieder bei sich selbst ankam, liegt der Ursprung unserer Gegenwart in den 1990er Jahren. Dies ist allerdings eine andere Geschichte, und ihr Ende noch nicht absehbar.

99 Vgl. etwa Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984. 100 Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order; zuvor schon ders., The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72, 1993, S. 22–49. 101 Manuel Castells, The Network Society. The Information Age: Economy, Society and Culture, Bd. 1, Cambridge 1996. Vgl. dazu auch Doering-Manteuffel / Raphael, Boom, S. 101 f. 102 Die Metapher des Netzwerks, seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine verbreitete natur- und sozialwissenschaftliche Beschreibungskategorie, erlebte ebenfalls in den 1980er Jahren eine neuartige Konjunktur, bevor sie dann seit den 1990er Jahren zu einem »universellen Realitätsmodell« avancierte. Vgl. Alexander Friedrich, Vernetzung als Modell gesellschaftlichen Wandels. Zur Begriffsgeschichte einer historischen Problemkonstellation, in: Leendertz / Meteling, Die neue Wirklichkeit, S. 35–62, das Zitat S. 56. 103 Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael sprechen auch von dem »scheinbar völlige[n] Verschwinden der Verlaufsbegriffe in westlichen Gesellschaften« während der 1980er Jahre. Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Boom, S. 88, 107.

Martin Endreß

Zu einer historischen Theorie einer Schwellenzeit der Moderne Aspekte einer Auseinandersetzung mit dem theoretisch-konzeptionellen Zuschnitt von Lutz Raphaels Zeitgeschichtsschreibung

1. Vorbemerkung »Jenseits von Kohle und Stahl« lautet der Titel von Lutz Raphaels Untersuchung zur »Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung als Problemgeschichte unserer Gegenwart«.1 Diese, zugleich als »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom« annoncierte Studie lässt mit ihrer Titelformulierung »Jenseits von …« für soziologisch Bewanderte unmittelbar an die beiden entsprechenden Abschiedstitel von Ulrich Beck aus den Jahren 1983 und 2008 denken:2 Ob sich moderne Ungleichheitsformationen »Jenseits von Stand und Klasse« bewegen würden, fragte Beck im Jahr 1983, und dass sich diese seit der Jahrtausendwende bereits zu einem »Jenseits von Klasse und Nation« entwickelt hatten, war 2008 dann seine Überzeugung. »Jenseits von Kohle und Stahl« ist beiden Positionierungen Becks gegenüber sowohl kleinteiliger als auch zugleich realistischer, gewissermaßen: griffiger. Geht es doch um einen Rohstoff und um ein Produkt, welche zusammen symbolisch für einen Produktionszweig moderner Gesellschaften stehen, der es zum gesellschaftsanalytischen Substantiv gebracht hat: die Industriegesellschaft. Deren Ende, so Raphaels »Jenseits von  …«, sei inzwischen eingetreten und seit 1970 eine Zeit »nach dem Boom« eingeläutet.3 1 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 8, 467. 2 Vgl. Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 35–74; ders., Jenseits von Klasse und Nation. Individualisierung und Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten, in: Soziale Welt 59/4 (2008), S. 301–325. Wobei mit dieser Analogisierung weder ein bei beiden Autoren vergleichbarer Zuschnitt der Analyse behauptet werden soll noch gar die Vermutung leitend ist, dass Raphaels Untersuchung die gesellschaftsanaly­ tische Perspektive dieser Studien Becks zugrunde liegen würde. 3 Für diese Form einer Geschichtsschreibung und / oder einer zeitgeschichtlichen Reflexion von einem als eingetreten begriffenen Ziel bzw. Ende aus finden sich Vorlagen bspw. bei Ralf Dahrendorf, der in seiner Studie »Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit« (Stuttgart 1992) herausstellt, dass »die Erfahrung der siebziger Jahre einen Wendepunkt in der modernen Sozialentwicklung« markiert (ebd., S. 187) und die 1980er

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Raphaels umfangreiche Untersuchung zur »Gesellschaftsgeschichte industrieller Arbeit«4 firmiert damit sowohl als Baustein wie als exemplarische Signatur des zeitgeschichtlichen Forschungszusammenhangs »Nach dem Boom«.5 Von Seiten der auf Gegenwartsfragen im besonderen Maße ausgerichteten Soziologie ist dieses zeitgeschichtliche Justierungsprojekt bislang vor allem hinsichtlich seiner konzeptionellen Anlage und seines analytischen Zuschnitts weniger zur Kenntnis genommen worden.6 Das hat vor allem wohl tradierte disziplininterne Gründe. Scheint sich das soziologische Geschäft eher auf gegenwartsnahe Diagnose und sich daran anschließende Prognose zu konzentrieren, so das zeitgeschichtliche Interesse eher auf die quellengestützte Rekonstruktion des als vergangen Begriffenen. Doch in dieser etwas schablonenförmig differenzierten Arbeitsteiligkeit erschöpft sich das Verhältnis letztlich keineswegs – das dokumentieren gerade auch die Arbeiten von Lutz Raphael auf das Eindrücklichste. Denn zum einen ist Zeitgeschichte im Kern als Zeitphänomen ein Ertrag je gegenwärtiger Perspektiven auf spezifisches historisches Material und somit durchaus ihrerseits als praktizierte Gegenwartsanalyse des als vergangen Begriffenen charakterisierbar. Und zum anderen sind mit einer ganzen Reihe von Arbeiten im Projektzusammenhang »Nach dem Boom« wie auch mit Raphaels »Jenseits von Kohle und Stahl« ganz offenkundig gegenwartsdiagnostische Ansprüche zumindest insoweit verbunden, als sich mit ihnen ein Erklärungspotenzial für aktuelle gesellschaftliche Problemkonstellationen verbindet und konkret der Anspruch besteht, einen Beitrag »zum Verständnis der aktuellen

Jahre als die Zeit »Nach dem Klassenkampf« umschreibt (vgl. ebd., S. 209–244). Vgl. schon den gleichlautenden Titel eines seiner öffentlichen Vorträge vom 4. Mai 1967: »Nach dem Klassenkampf«, in: ders., Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, München 1968, S. 9–30. 4 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 11. 5 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven einer Zeit­ geschichte seit 1970, Göttingen 2008. Aus dieser von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael im Jahr 2008 entwickelten Reflexionsskizze zur jüngsten Zeitgeschichte hat sich unter dem Titel »Nach dem Boom« inzwischen längst ein beeindruckendes Forschungsprogramm entwickelt; und zwar sowohl bezüglich der Vielfalt der verhandelten Themen als auch hinsichtlich der Differenziertheit der auf der Basis intensiver Quellenarbeit untersuchten Felder. Und diese Beobachtung gilt sowohl für die Erforschung der von den Autoren zum Abschluss ihrer damaligen Skizze in den Blick genommenen Untersuchungsgegenstände als auch für den Gesamtrahmen des skizzierten Programms. Damit ist es beiden Autoren geradezu exemplarisch gelungen, ihren selbsterklärten Anspruch umzusetzen, »die gegenwartsnahe Zeitgeschichte perspektivisch zu erfassen, um der Forschung Wege zu bahnen« (Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Crash. Vorwort zur 2. Auflage, in: dies., Nach dem Boom. Perspektiven einer Zeitgeschichte seit 1970, 3. ergänzte Auflage, Göttingen 2012, S. 7–23, hier S. 12). 6 Ein Umstand, der womöglich auch darauf zurückzuführen ist, dass mit dem Thema des Buches von Raphael vorderhand ein vertrautes soziologisches Narrativ in historischem Gewand neu aufzutreten scheint.

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Krise der liberalen Demokratie« zu leisten.7 Insofern verdeutlicht sich auch und womöglich gerade an zeitgeschichtlichen Untersuchungen der Umstand, dass die Zukunft der Vergangenheit nicht vorhersagbar ist. Ihre Verstrickung in das zeitdiagnostische Geschäft scheint damit geradezu unvermeidlich. Zugleich gilt für den soziologischen Blick auf Gegenwartsfragen, dass dieser, will er Prognose nicht durch Prophetie ersetzen, der soliden empirischen Grundierung und historischen Orientierung bedarf. In dieser Richtung dokumentiert sich also der komplementäre Umstand, dass die jeweils spezifische Vergangenheit einer je konkreten Gegenwart nicht vorhersagbar ist. Im vorliegenden Beitrag soll deshalb aus soziologischer Perspektive der Versuch unternommen werden, im Gespräch mit der Zeitgeschichte zunächst das Problem der Periodisierung historischer Zeiten aufzunehmen (2.). Diese Überlegungen werden ergänzt um Fragen zum räumlichen Bezugshorizont von Lutz Raphaels »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas« (3.), um sodann einige Anfragen an deren konzeptionellen Zuschnitt zu richten (4.). Auf dieser Grundlage werden schließlich Vorschläge für eine analytische Erweiterung von Raphaels historischer Theorie einer Schwellenzeit der Moderne unterbreitet (5.) sowie die Überlegungen abschließend resümiert (6.).

2. Strukturbruch – Umbruchphase: Aspekte einer Semantik von Zeitlichkeit »Epochenkategorien gehören zum unvermeidlichen Grundvokabular jeder Geschichtsschreibung.«8 Gleichwohl lassen sich auch diesbezüglich Konjunkturen identifizieren. So fällt mit Blick auf die jüngere Diskussion ein stark zunehmendes geschichtswissenschaftliches Interesse an Periodisierungsfragen auf. In einer Phase, in der das Epochenproblem zugespitzt erörtert wird,9 haben gerade die Innovationen der Epochenbegriffe »Zeitalter der entstehenden Moderne« von 1760 bis 1870,10 »Hochmoderne« von 1890 bis 197011 und »Nach dem Boom« von 1970 bis 200012 die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft und Zeitgeschichte auf sich gezogen. Die – in ihren temporalen Konturen 7 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 12, sowie den Anspruch auf den Entwurf einer »Problemgeschichte unserer Gegenwart«, S. 8, 467. 8 Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte (Vortrag in der Geisteswissenschaftlichen Klasse der BBAW am 29. November 2002), S. 49 (online: https://edoc.bbaw.de/frontdoor/deliver/index/docId/91/file/I_03_Osterhammel.pdf, aufgerufen am 27.12.2019). 9 Jacques Le Goff, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, Darmstadt 2016. 10 Osterhammel, Periodisierung, S. 45. 11 Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 3 (2006), S. 5–21. 12 Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 559–581.

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ebenfalls umstrittene – Zeitgeschichte ist also mittendrin im jüngeren Periodisierungseifer. Doch hat man es bei »Nach dem Boom« – bezogen bereits auf die entsprechenden ersten Ausführungen von Anselm Doering-Manteuffel aus dem Jahr 2007 – mit der Markierung einer Zwischenepoche, einer Übergangsphase oder mit der Fixierung eines Epochenbruchs zu tun? Diese Frage scheint gerade mit Blick auf den geschichtswissenschaftlichen Diskurs unumgänglich, als hier die Hürden für die Identifizierung von Epochenschwellen doch bisher ungleich höher zu liegen schienen als im soziologischen Diskurs, der gewissermaßen im Eiltempo je unterschiedlich akzentuierte Gesellschaftsbegriffe mit dem Anspruch auf Gegenwartsdeutung produziert. Die Frage stellt sich für den geschichtswissenschaftlichen Diskurs auch dann, wenn man nicht sogleich epochale Formate wie diejenigen der »Achsenzeit«13 oder der »Sattelzeit« bedienen möchte.14 Gleichwohl können bereits diese prominenten Epochenmarkierungen im vorliegenden Zusammenhang als signifikant gelten, beziehen sie sich doch entweder auf mehrere Jahrhunderte (ca. 8. bis 2. Jhdt. v. Chr.) oder zumindest auf ein ganzes Jahrhundert (1750 bis 1850) einer als Übergang gedeuteten Periode. Perioden, im Vergleich zu denen sich die drei Jahrzehnte von 1970 bis 2000 dann geradezu als geschichtliche Episode auszunehmen scheinen. Aus diesem Grund soll hier in einem ersten Schritt nochmals15 umfassender nach den temporalen Konturen der Signatur »Nach dem Boom« gefragt werden. »Nach dem Boom« ist zunächst eine weitere Akzentuierung eines »Danach« und somit ein »Post«-Begriff. Seiner Struktur- und Zeitlogik nach steht er so in einer Reihe mit Begriffen wie postindustriell, postmodern, poststrukturell oder postkapitalistisch. Als solche sind »Nach«- wie »Post«-Begriffe beides in einem: ebenso bestimmt wie unbestimmt. Wird mit entsprechenden begrifflichen Innovationen einerseits – a tergo – eine Zeit für abgeschlossen erklärt, so werden deren Konturen andererseits – a fronte – noch als so hinreichend offen begrif13 Im Anschluss an Karl Jaspers zuletzt: Jan Assmann, Achsenzeit: Eine Archäologie der Moderne, München 2017. 14 Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft [1972], in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 298–316. 15 Doering-Manteuffel und Raphael identifizieren in der von ihnen vorgenommenen Epochenmarkierung und den damit verbundenen Thesen eines »Strukturbruches« aufgrund eines »sozialen Wandels von revolutionärer Qualität« retrospektiv den zentralen Punkt der Diskussion über den Entwurf von 2008 (vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 12 f.) sowie insbesondere die Beiträge von Christoph Boyer, Rezension über Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, in: Sehepunkte 9 (2009), No. 5 (Mai) (online: http://www. sehepunkte.de/2009/05/15519, aufgerufen am 08.12.2019); Hans Günter Hockerts, Rezension über Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, in: Sehepunkte 9 (2009), No. 5 (Mai) (online: http://www. sehepunkte.de/2009/05/15019, aufgerufen am 08.12.2019) und Maren Möhring, Rezension über Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, in: Sehepunkte 9 (2009), No. 5 (Mai) (online: http://www. sehepunkte.de/2009/05/15518, aufgerufen am 08.12.2019).

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fen, dass diese lediglich durch eine Abgrenzung zum ›Nicht-mehr-Seienden‹ möglich erscheinen. So wird hinsichtlich der Bestimmtheit des Begriffs »Nach dem Boom« mit ihm das Ende einer Phase oder Epoche markiert, die entweder schlicht als eine solche des »Booms« begriffen und auf die Jahre 1945 bis 1970 taxiert wird, oder aber »Nach dem Boom« muss als zeitlich offene Heuristik für die Zeit nach der sog. »Hochmoderne« begriffen werden.16 Im einen wie im anderen Fall allerdings scheint diese Epochenbestimmung mehr über das mit ihr verbundene Verständnis ihrer Vorgeschichte zum Ausdruck zu bringen als über die damit bezeichnete Phase selbst. So macht die soziologische Lektüre hier auch eine disziplinpolitische Beobachtung: Diese geschichtswissenschaftliche Bestimmung der Zeit seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lässt sich zugleich als Versuch lesen, die Zeitgeschichte in gegenwartsdiagnostischer Hinsicht zu positionieren und damit der Soziologie das unterstellte Monopol auf Zeitdiagnostik streitig zu machen. Zumindest lässt sich der – in seinem inhaltlichen Zuschnitt soziologisch nachvollziehbare – abschließende Anspruch von Raphael, mit dieser »Vorgeschichte der Gegenwart« eben auch die die Gegenwart prägenden rechtspopulistischen Mobilisierungen erklären zu können, wohl kaum anders lesen.17 Materiale Befunde

Was motiviert nun die zeitgeschichtliche Suche nach einem die letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts übergreifenden Narrativ? Die Begründung für das Begreifen der Jahre von 1970 bis 2000 als »Epoche« wird von Raphael letztlich in einer spezifischen Doppelbewegung von retrospektiven und prospektiven Aspekten entfaltet,18 die sich in einem ersten Zugriff folgendermaßen

16 Diese hatte Herbert zunächst auf die Jahre 1890 bis 1970 veranschlagt (ders., Europe in High Modernity, S. 19), während er sie inzwischen auf die Jahre 1890 bis 1990 bezieht (Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 19). Vgl. dazu: Lutz Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert [2008], in: ders., Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 133–154. 17 Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 141, 200–204, 471 f., 473–475, 479. Auch wenn dieser Anspruch mit der Selbstbeschränkung von 2012 konsistent zu sein scheint, der zufolge »Historiker […] keine Kompetenz [hätten], gegenwärtiges Geschehen in die Zukunft hochzurechnen« und »ihre Aufgabe« entsprechend lediglich darin bestünde, »das Gewordene durchschaubar zu machen und die Entstehungsbedingungen zu erklären« (Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 9, vgl. aber auch: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom: Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: Raphael, Ordnungsmuster und Deutungskämpfe, S. 173–197, hier S. 173 f.), so extrapoliert er doch zeitgeschichtliche Entwicklungen bis zum Jahr 2000 auf die gegenwärtigen Konstellationen gut 20–50 Jahre später. 18 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 475–477.

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rekonstruieren lassen:19 Ausgehend von dem als Umschlagspunkt begriffenen Jahr 2000 sprechen Raphael zufolge – retrospektiv mit Blick auf die Jahre vor 2000 – sozio-politische (Proteste und soziale Mobilisierungen), sozio-ökonomische (Umstellungen in der industriellen Arbeitswelt von deren ›Humanisierung‹ über den Ausbau betrieblicher Mitbestimmung bis zur letzten Welle der Arbeitsmigration) und sozio-strukturelle bzw. sozio-kulturelle Phänomene (»Ausbau Sozialbürgerschaft«) für eine entsprechende Periodisierung dieser historischen Zeit. Umgekehrt sind es für Raphael – nun prospektiv ab Mitte der 1990er Jahre – in sozio-politischer Hinsicht die jeweiligen Wahlerfolge von Tony Blair im Jahr 1997 und Gerhard Schröder im Jahr 1998, in sozio-ökonomischer wie soziokultureller Hinsicht die Musealisierung und Stabilisierung des industriellen Sektors sowie der Boom der New Economy und schließlich in sozio-struktureller Hinsicht das Ausscheiden der vor 1935 Geborenen aus dem Arbeitsleben, die die vorgeschlagene Periodisierung bekräftigen. Hinzu tritt in dieser prospektiven Perspektive als weitere Bestätigung des Aufbruchs in neue Zeiten die mediale Dimension: »der Siegeszug des Internet seit 1995«.20 Jenseits dieser mehrdimensional angelegten, sozio-politische, sozio-ökonomische und sozio-strukturelle bzw. sozio-kulturelle Aspekte einbeziehenden Skizze der Perspektive »Nach dem Boom« war der retrospektive wie prospektive Blick auf diese Zeit von Anfang an21 (und ist es wohl bis heute22) einerseits – und vor allem23  – sozio-ökonomisch bzw. politisch-ökonomisch angeleitet wie andererseits zugleich  – in einer nicht immer ganz klaren Vermittlung  – sozio-kulturell, ja ideengeschichtlich bzw. wissensanalytisch ausgerichtet.24 19 Für eine systematisierende Begründung der hier zur Anwendung kommenden Begrifflichkeit und Ordnungsstruktur von sozio-politischer, sozio-ökonomischer, sozio-struktureller und sozio-kultureller Perspektive vgl. unten Abschnitt 4. 20 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 17 f. 21 Doering-Manteuffel, Nach dem Boom; Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008, S. 14; dies., Nach dem Crash, S. 8; dies., Nach dem Boom, 2012, S. 32. 22 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. 23 Vgl. insbesondere die wiederkehrende Rede von »sozio-ökonomischen Basisprozessen« (bspw. Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?, S. 146)  – wobei Raphael dazu tendiert, sektorenspezifisch von jeweiligen »Basisprozessen« zu sprechen, vgl. die Behauptung »ökonomischer, demographischer, sozialer und kultureller Basisprozesse« (Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?, S. 134) oder die Formulierung von der »säkulare[n] Entwicklungsdynamik der Wissenschaften« als »Basisprozess« (Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen – Wissens- und Sozialordnungen im Europa im 20. Jahrhundert [1996], in: ders., Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 13–50, hier S. 13 u.ö.) sowie auch Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 19, 31. 24 Politisch-ökonomisch erfolgt dies im Anschluss an Christoph Deutschmann, FinanzmarktKapitalismus und Wachstumskrise, in: Paul Windolf (Hg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden, S. 58–84, und Paul Windolf, Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?, in: ders. (Hg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden, S. 20–57; wissensanalytisch (wissenssoziologisch) im Anschluss an Peter Weingart, Verwissenschaftlichung der Gesellschaft –

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So ist diese Zeit nach dem Boom – soziologisch gesprochen – im Kern die Zeit nach dem »Fahrstuhleffekt«25 und damit zugleich ein Zeitalter der – mit den Worten von Raphael26  – Vernichtung der »meisten Spuren proletarischer Existenzweise«. Zugleich wird sie aber eben auch als ein Zeitalter der intensiven »Deutungskämpfe« sowie der Auseinandersetzungen um ›kulturelles Kapital‹ begriffen27  – also ein wissensanalytischer, ja wissenssoziologischer Zugang favorisiert, der auf die Strukturierungseffekte von Deutungsmustern abstellt. Es wird damit – letztlich in konsequenter Fortsetzung der mit Doering-Manteuffel ursprünglich identifizierten »neue[n] Themen«28 – von Raphael nochmals konsequenter eine politisch-ökonomische mit einer wissenssoziologischen bzw. soziokulturellen Darstellung kombiniert.29 Eine Kombination, bei der bisweilen sogar die letztere Perspektive in den Vordergrund gerückt wird, und die Darstellung somit an eine Integration der an Marx’ geschulten ökonomischen mit einer an Max Weber orientierten ideenanalytischen Perspektive denken lässt. Raphael macht sich mit dieser doppelten Zuspitzung der Konturierung der Phase »Nach dem Boom« die zu Beginn der 1980er Jahre publizierten soziologischen Diagnosen – einerseits der »Auflösung proletarischer Milieus«,30 die den Verlust der »lebensweltliche[n] Evidenz« u. a. der »Rede von ›Arbeiter-Klasse‹« beschrieben,31 und andererseits des Aufstiegs der »Wissensgesellschaft« wie generell einer »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft«  – zu eigen.32 Stand

25 26 27 28

29

30 31 32

Politisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 12/3 (1983), S. 225–241, und Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, S. 259–266, mit der Aufnahme der These einer »Verwissenschaftlichung« bzw. »Reflexivierung« (vgl. schon Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen). Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse?; ders., Jenseits von Stand und Klasse. Auf dem Weg in die individualisierte Arbeitnehmergesellschaft, in: Merkur 38 (1984), Heft 427 (Mai), S. 485–497; ders., Risikogesellschaft, S. 122, 124 f., 139. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, 2019, S. 468. Ebd., S. 92–142, 247–294. Dies waren neben »Industrieunternehmen und industrieller Produktion« sowie »Konsum, Konsumgesellschaft, Konsumentengesellschaft« eben vor allem »Infrastrukturen der Wissensgesellschaft«, »Sinnsuche in neuen Erwartungshorizonten«, und »Wandel von Leitbegriffen«, vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008, S. 101–120; dies., Nach dem Boom, 2012, S. 118–137. Einzig das körper- und geschlechteranalytische Themenprofil bliebe danach in »Jenseits von Kohle und Stahl« unterbelichtet, wenn man einmal vom Rekurs auf die Figur des »Malochers« und die sich damit unmittelbar verbindenden Vorstellungen von Männlichkeit und harter körperlicher Arbeit sowie der Verbindung beider in einer ausgeprägt geschlechtsdifferenzierenden Perspektive absieht. Josef Mooser, Auflösung proletarischer Milieus. Klassenbildung und Individualisierung in der Arbeiterschaft vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik Deutschland, in: Soziale Welt 34 (1983), S. 270–306. Beck, Risikogesellschaft, S. 154. Weingart, Verwissenschaftlichung. Vgl. auch Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen, S. 40–44; vgl. auch die Ausnahme des Deutungsmusters »Wissensgesellschaft« in: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 266, 287, die aufgrund der vorhergehenden kritischen Bemerkungen überraschen muss (ebd., S. 255, 262).

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in dieser Perspektive »am Beginn der Bundesrepublik ein kollektiver Aufstieg, so kennzeichnet die achtziger Jahre ein kollektiver Abstieg«.33 Und an diese Abstiegsperspektiven schließt Raphael nunmehr an, wenn auch nicht in einer vereinseitigenden Form.34 Auf diese Weise den Blick auf die »Kosten« sozio-historischer Prozesse lenkend, leistet Raphaels Studie damit auch ein gutes Stück Entmythologisierungsarbeit hinsichtlich ehedem euphorisch aufgeladener Begriffe wie dem der »Dienstleistungsgesellschaft« etc. Andererseits liest sich seine Studie im Kern zugleich als Bestätigung der soziologischen Diagnosen vom Aufkommen eines »postindustriellen Gesellschaftstypus«35, – aufgrund der damit einhergehenden mittelfristigen Dominanz des sogenannten dritten Sektors der Produktion  – dessen Kernstruktur eben als die einer »Dienstleistungsgesellschaft« gelesen werden.36 Hier verbinden sich also Ambivalenzen der temporalen mit Ambivalenzen der sachlichen Zurechnung. Denn einmal abgesehen von der Leerstelle, dass die Begründung dieser Periodisierung ohne Rekurs auf die Zeit vor 1970 erfolgt, bleibt vor allem zu fragen: Welches Gewicht ist diesen Hinweisen beizumessen? Und wie verhalten sich die Argumentationen des Jahres 2019 im Rahmen des Gesamtprojektes »Nach dem Boom« zu denen der Jahre 2008 und 2012 und 2016?37 Im Kern war die entsprechende Argumentation im Jahr 2008 ausschließlich auf die Abgrenzung hin zur folgenden Gegenwart angelegt, die »charakterisiert [sei] durch ein neues Produktions- und Wirtschaftsregime, das man als digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus bezeichnen kann«.38 Im Jahr 2012 sprechen die Autoren dann »zwei große[n] Prozesse[n]« das Potenzial »sozialen Wandel[s] von revolutionärer Qualität« zu: der Zunahme der Frauenerwerbs33 Beck, Risikogesellschaft, S. 139. 34 Vgl. in diesem Sinne bspw. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016. Vgl. zudem: Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017 und darin den Beitrag von O. Nachtwey, »Entzivilisierung. Über regressive Tendenzen in westlichen Gesellschaften«, S. 215–231. 35 Alain Touraine, Die postindustrielle Gesellschaft [1969], Frankfurt am Main 1972; Daniel Bell, The Post-Industrial Society: A Speculative View, in: Edward Hutchings / Elizabeth Hutchings (Hg.), Scientific Progress and Human Values, New York 1967, S. 154–170; ders., Notes on the Post-Industrial Society I, in: The Public Interest 6 (1967), S. 24–35; ders., Notes on the Post-Industrial Society II, in: The Public Interest 7 (1967), S. 102–118; ders., The Post-Industrial Society. The Evolution of an Idea, in: Survey 17/2 (1971), S. 102–168; ders., The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973. 36 Vgl. Jean Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts [1949], Köln 1954, auf dessen Entwurf Raphael trotz inhaltlicher Abgrenzung verweist (vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 36, 101); zsfd. Hartmut Häußermann / Walter Siebel, Dienstleistungsgesellschaften, Frankfurt am Main 1995. 37 D. h. bezogen auf Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008; dies., Nach dem Crash, sowie dies., Nach dem Boom: Neue Einsichten. 38 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2012, S. 26.

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tätigkeit sowie der Expansion des Bildungssystems.39 Hinzu tritt als weitere eminente Begründung eine Verfallsthese: der Verweis auf die »Ausbreitung der neuen digitalen Informationstechnologien«,40 die »in den 1970er Jahren […] die Infrastruktur des Industriesystems der Boom-Ära« mit erodieren ließ.41 Sowohl die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit als auch die Bildungsexpansion finden ihren Widerhall in Raphaels aktueller Studie, auch wenn hier der letzteren42 deutlich mehr Gewicht beigemessen wird als der ersteren.43 Doch einzig die Bedeutung der Einführung des Internet findet auch in Raphaels abschließender Skizze dieser »Transformationsphase« Eingang.44 Im Kern zielt der Projektzusammenhang jedoch erklärtermaßen  – in soziologischer Lesart kaum anders als zeitdiagnostischer Anspruch zu lesen – auf die Identifizierung der für die Gegenwart als (struktur-)prägend erachteten »Konstellation des digitalen Finanzmarktkapitalismus«.45 Und wenn Doering-Manteuffel und Raphael 2012 resümieren, dass »die Basisprozesse in der Entstehungsphase des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus […] allesamt Merkmale auf[wiesen], die dem Selbstverständnis sozialdemokratischer Parteien und den Zukunftserwartungen in [deren] Milieu und Wählerschaft kraß widersprachen«,46 dann lässt sich Raphaels jüngste Studie als detaillierte Darlegung eben dieses Erosionsprozesses lesen, also als Dekompositionsgeschichte der zentralen Trägergruppen (Max Weber) der industriegesellschaftlichen Moderne. Deshalb ist Lutz Raphaels Studie im Kern wohl vor allem eines: ein Beitrag zu einer »Gesellschaftsgeschichte industrieller Arbeit« aus der Perspektive der in den Industrieanlagen direkt in die Produktion Eingebundenen – eine »Perspektive« bzw. eine »Gesellschaftsgeschichte ›von unten‹«.47 Dass jedoch die Karriere der IT-Techno39 40 41 42 43 44

Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 20. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 247–294. Ebd., S. 231–233, 340–342, 352 f. Ebd., S. 476. Wobei hier unklar bleibt, ob und inwiefern damit zugleich Prozesse der Digitalisierung im Zuge der Einführung des »digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus« gemeint sind. Zumindest aus heutiger Sicht wären beide Prozesse nicht umstandslos gleichzu­ setzen. 45 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 13; Morten Reitmayer, Nach dem Boom – eine neue Belle Époque?, in: ders. / Thomas Schlemmer (Hg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 13–22, hier S. 14. 46 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 19. 47 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 12, 32. Mit dieser Einstellung des Beobachtungsblickwinkels auf »eine Geschichte ›von unten‹« (ebd., S. 11) nimmt Raphael einerseits Impulse der historischen und archäologischen Forschung auf, die ihrerseits die Dimension der Alltagsgeschichte sowie den Blick auf konkrete »Lebenswelten« (ebd., S. 14, 271, 352) längst ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt haben (vgl. bspw. Arno Borsts »Lebensformen im Mittelalter« oder das archäologische Ausstellungsprojekt »Müll – F ­ acetten von der Steinzeit bis zum Gelben Sack« mit der Begleitschrift gleichen Titels, hg. v. Mamoun Fansa und Sabine Wolfram, Mainz 2003), andererseits soll diese Positionierung

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logien als »genuiner Bestandteil der Epoche nach dem Boom«48 begriffen wird, motiviert die Frage nach der eher marginalen Behandlung dieses Themas. Es fällt insbesondere auf, dass der sich durchhaltende Rekurs auf die neuen Kommunikationstechnologien ab Mitte der 1990er Jahre 2012 noch eine knappe Erläuterung erfährt,49 im Jahr 2019 diese als besonders wirkmächtig begriffenen Veränderungen dann aber ohne ausführliche Behandlung bleiben.50 Wenn es im vorliegenden Zusammenhang jedoch um »die Umbrüche und Veränderungen der westeuropäischen Gesellschaften« geht,51 dann muss vor allem aber auch stets erneut gefragt werden, aus welchen Gründen die Jahre 1989/90 und auch die Finanzkrise ab 2008 als Zäsuren nicht thematisiert und / ​ oder vergleichend gewichtet werden. Die Autoren haben für den Fall, dass der Blick sich über Deutschland hinaus auf »Europa« richtet, insbesondere das erste Datum später als Zäsur betont.52 Im Jahr 2012 begriffen sie – wie schon 200853 – den »Zusammenbruch 1989/90« noch rein als »›Begleiterscheinung‹ des Geschehens in den westlichen Industrieländern«.54 In gleicher Weise wird die Finanzkrise der Jahre 2008/09 in die »Zeit ›nach dem Boom‹« eingemeindet,55 und somit die These, dass die Jahre »von 1970 bis 2000 als eigenständige Epoche auszuweisen« wären, letztlich von den Autoren selbst revidiert.56 In dieser Richtung weist dann auch die jüngste Formulierung von der »Binnenzäsur in der Epoche nach dem Boom in den Jahren um 1995/2000«.57 Zahlreiche Hinweise scheinen so inzwischen dafür zu sprechen, dass die Autoren die temporalen Konturen der von ihnen skizzierten Übergangsphase um ein Jahrzehnt bis zum Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhundert zumindest implizit verlängert haben.

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und Revitalisierung einer alltagsgeschichtlichen Optik der perspektivischen Ergänzung einer makroskopisch aufgestellten Gesellschaftsgeschichte Bielefelder Provenienz ebenso dienen wie zugleich einer quellengesättigten Unterfütterung unstrittiger makrosoziologischer Befunde. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 11. Ebd., S. 9. Damit bleiben die Konturen des »Neuen« letztlich zu unbestimmt (vgl. dazu unten S. 429 f.). Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008, S. 14; dies., Nach dem Boom, 2012, S. 32. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom: Neue Einsichten, S. 175 f. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008, S. 8; dies., Nach dem Boom, 2012, S. 26. Ebd., S. 11. Ebd., S. 7. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 9, 15, 38, 475. Vgl. in dieser Richtung auch weitere Hinweise auf das Jahr 2008 als ›verändertes‹ Epochenende: Ebd., S. 17, 40. Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom: Neue Einsichten, S. 193.

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Zwischen Bruch und Beharrung

Wenn für einen solchermaßen reflexiv, also durch die Einbeziehung wie Bearbeitung von soziologischen Gegenwartsanalysen aufgestellten Typus von Zeithistorik die soziale Konstruktion von relevanten »Zeitbezüge[n] und Zeit­ horizonte[n]« zum zentralen Geschäft für die Entfaltung »gute[r] historische[r] Erklärungen« wird,58 dann rücken Fragen der Periodisierung wie Prozessualisierung unvermeidlich ins Zentrum ihres konzeptionellen Zuschnitts. Und ihr Anspruch auf Erklärung ist dabei stets direkt mit Fragen der Reichweite von Erklärungs­anspruch und Erklärungsprofil konfrontiert, die offenkundig irgendwo zwischen zeitlichen und räumlichen Kolossalgemälden, also zwischen Großerzählung und Globalgeschichte auf der einen, und kleinteiligen Einzelstudien und Ereignisgeschichten auf der anderen Seite changieren. Lutz Raphael spricht von der »Grundspannung, der sich die Zeitgeschichte nicht so schnell entziehen kann«, nämlich einerseits der »Pluralisierung historischer Zeiten« und damit der Offenheit historischer Prozesse Rechnung zu tragen, und andererseits gleichwohl »übergreifende Epochenzäsuren« und damit die eine Gegenwart bestimmenden Deutungsmuster zu identifizieren.59 Um dieser Grundspannung darstellerisch Herr zu werden, begegnen sowohl in »Nach dem Boom« als auch in »Jenseits von Kohle und Stahl« zahlreiche temporale Begrifflichkeiten. Zum Beschreibungsinventar gehören – neben den vereinzelt auftretenden der »Zäsur«,60 »Umschlagpunkte«,61 »Diskontinuität(en)«,62 und »Brüche«63 – regelmäßig die Begriffe »Kontinuität(en) bzw. Kontinuitäts­ linie(n)«,64 »Umbruchphase(n)«,65 »Umbruch bzw. Umbrüche«,66 »Krise«,67 »Transformation bzw. Transformationsphase«,68 »Übergangszeit«,69 »Übergangsperiode«,70 »Strukturwandel«71 sowie »Strukturbruch«.72 Diese Mannigfaltigkeit temporaler Begrifflichkeiten73 ist nur schwer im Sinne einer klaren Epochenidentifizierung zu deuten. Insbesondere die Formulierung »wir be58 Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?, S. 9. 59 Vgl. ebd., S. 9 f. 60 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 475. 61 Ebd., S. 15. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 297. 64 Ebd., S. 86, 142, 224, 226 u.ö. 65 Ebd., S. 11, 18, 49, 77 u.ö. 66 Ebd., S. 14, 18, 72, 91 u.ö. 67 Ebd., S. 66, 69, 83, 99 u.ö.; vgl. auch »Strukturkrise«, ebd., S. 428, 429 f., 439. 68 Ebd., S. 248, 289, 297, 328 u.ö. 69 Ebd., S. 245, 471. 70 Ebd., S. 248, 414, 477. 71 Ebd., S. 9, 12, 37, 47 u.ö. 72 Ebd., S. 15, 18, 90, 213 u.ö. 73 Von denen im Sachregister des Bandes lediglich »Krise« und »Strukturbruch« vermerkt sind.

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trachten die drei Jahrzehnte seit 1970 als einen zusammengehörigen Zeitraum des Übergangs«74 legt wohl weniger eine Strukturbruch-These als viel eher die Vorstellung eines kontinuierlichen Prozesses (wahlverwandtschaftlicher Verflechtungen) mit offenem Ausgang nahe. Doch auch auf eine solche Konstellation bezogen konstatieren die Autoren: »Auch was sich allmählich vollzieht, kann revolutionär sein«,75 weshalb sie zur weiteren Qualifizierung der ihnen vorschwebenden Typik die Formel eines »sozialen Wandels von revolutionärer Qualität« bemühen.76 Bereits in der Diskussion um die Forschungsskizze »Nach dem Boom« ist die Frage nach den Kontinuitäten ungeachtet aller Diskontinuitäten aufgeworfen worden.77 Diese Hinweise hat Lutz Raphael in »Jenseits von Kohle und Stahl« mit der Akzentuierung von »Beharrungskräften«78 zu integrieren versucht  – mittels Bourdieus Figur der »hysteresis«, also der Veränderungsträgheit.79 Es stellt sich folgerichtig nicht nur die Frage: Wie werden diese Beharrungselemente ins Spiel gebracht? Sondern insbesondere auch die Fragen: Verzögern diese »Beharrungskräfte« Brüche? Oder verweisen sie auf ein Sich-Durchhaltendes, so dass sie gar dazu angetan sind, die Strukturbruchthese systematisch zu entschärfen? Anders gefragt: Welche gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse sind es, die Veränderungsdynamiken von potenziell revolutionärer Qualität ggf. abfedern, d. h. in Intensität, Reichweite und Tempo einhegen? Beharrung und Wandel also in einem? Raphaels Antwort auf diese Frage lautet: »Ja, jenseits der Kontinuitätslinien von Problemlagen und Beharrungskräften gibt es […] epochenspezifische Zäsuren.«80 Das dürfte wohl keine Frage sein; Beharrung und Wandel können gleichzeitig bzw. parallel vorliegen. Jedoch ist mit dieser Feststellung noch nichts darüber gesagt, wie sich Beharrung und Wandel ggf. wechselseitig beeinflussen bzw. geradezu konstitutiv füreinander sein können sowie, ob und in welcher Form für entsprechende Prozesse ggf. verschiedene Zeitebenen zu unterscheiden wären. Raphael führt weiter aus: »Die […] Neuorientierungen in Politik, Alltagskommunikation und Generationserfahrungen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts sprechen […] dafür, den Zeit­raum zwischen 1970 und 2000 als eine spezifische Übergangsperiode zu bezeichnen, in deren Verlauf aus einer primär industriell geprägten Gesell74 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2012, S. 26. 75 Ebd., S. 18. 76 Ebd. 77 Vgl. Boyer, Rezension; Stephan Lessenich, Rezension über Anselm Doering-Manteuffel / ​ Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, in: Sehepunkte 9 (2009), No. 5 (Mai) (online: http://www.sehepunkte.de/2009/05/15521, aufgerufen am 08.12.2019). 78 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 77, 90, 244, 351, 418, 468, 475 u. ö. 79 Vgl. bspw. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft [1980], Frankfurt vom Main 1987, S. 116 f.; ders. / Loic J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie [1992], Frankfurt am Main 1996, S. 163 f. 80 Ebd., S. 475.

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schaftsordnung eine deutlich pluraler strukturierte Sozialordnung mit drei gleich starken Wirtschaftssektoren – öffentliche Dienste, private Dienstleistungen und industrielle Produktion – geworden ist.«81 Diese Gleichgewichtungsbehauptung nimmt gegenüber dem Erstentwurf von 2008 eine deutlich andere Akzentuierung vor, in dem es mit Blick auf das neue »Produktionsregime des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus« noch hieß, dass damit nunmehr »das sogenannte fordistische Produktionsregime und der rheinische Kapitalismus Vergangenheit geworden« seien.82 Doch auch mit dieser Neuakzentuierung bleibt das Verhältnis von Beharrung und Wandel weiterhin eine offene Frage. Dieser Zweipoligkeit der Argumentation verdankt sich die offenkundig changierende Begrifflichkeit zur Charakterisierung des Gemeinten: Denn auch wenn in »Jenseits von Kohle und Stahl« der Rückgriff auf die Begriffe »Umbruch bzw. Umbrüche«, »Umbruchphase« oder auch des »Strukturbruchs« dominiert, so verwendet Raphael doch an zentralen Stellen seiner Ausführungen die begriffliche Alternative »Strukturwandel«.83 Gleichwohl aber bleiben beide Begriffsangebote bisweilen doch auch unvermittelt nebeneinander stehen.84 Ist hier also die Vorstellung leitend, dass der Strukturbruch am Ende der Umbruchphase steht oder wird der behauptete Strukturbruch seinerseits als Phase eines Strukturwandels, also als ein Teil einer übergreifenden Umbruchphase gedacht? In beiden Fällen würde der These vom »Strukturbruch« etwas Abgeschlossenes zukommen, mit der die Vorstellung einer Epochenzäsur dann wiederum unvermeidlich verbunden wäre. Die Antwort beider Autoren auf diese Fragen bringt m. E. weitere Herausforderungen mit sich. Denn es erscheint wohl fraglich, ob eine Pluralisierung der Begrifflichkeit des Strukturbruchs eine Lösung der gestellten Fragen darstellt. So schreiben die Autoren in Reaktion auf die Kritik an der Strukturbruchthese im Vorwort zur zweiten Auflage von »Nach dem Boom«: »Wir präzisieren […], daß der Begriff des Strukturbruchs die Beobachtung von zahlreichen Brüchen an unterschiedlichen Stellen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den westeuropäischen Ländern bündeln soll.«85 Der Vorschlag dieser Sprachregelung von einer »Vielfalt der Strukturbrüche«86 scheint jedoch zumindest ambivalent, denn einerseits depotenziert dies die mit der Wahl des Begriffs des »Strukturbruches« offenkundig verbundene Anzeige der Wirkungsmächtigkeit der Veränderung, und andererseits potenziert diese Sprachregelung die Ansprü-

81 Ebd., S. 477. Vgl. in die gleiche Richtung weisend: Ebd., S. 80. 82 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008, S. 9; dies., Nach dem Boom, 2012, S. 27. 83 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 9, 12, 14, 88 f., 430, 471. 84 Bspw. ebd., S. 18. 85 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 13. 86 Anselm Doering-Manteuffel, Die Vielfalt der Strukturbrüche und die Dynamik des Wandels in der Epoche nach dem Boom, in: Reitmayer / Schlemmer (Hg.), Anfänge der Gegenwart, S. 135–145.

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che an die Relevanz und Eminenz der ausgerufenen Epochengrenze, also die Vorstellung der Nachhaltigkeit der postulierten Zäsur. Damit scheint sich geradezu eine Paradoxie einzustellen: Je ausgeprägter die Relevanz, Nachhaltigkeit oder Wirkungsintensität der unter dem Titel »Nach dem Boom« identifizierten Prozesse, Veränderungen und Dynamiken auch noch für die aktuelle Gegenwart herausgestellt wird (wofür es – zumindest mit Blick auf das Jahr 2008  – inzwischen zahlreiche Hinweise gibt), umso mehr verliert offenkundig die mit diesem Titel zugleich behauptete Epochenzäsur an Plausibilität. Denn anhaltende Wirkmächtigkeit kündet von gegenwärtiger Unabgeschlossenheit. Und so folgt womöglich gerade aus der Forderung, dass »kritische Sozialgeschichte sich nicht gegen die Gegenwart abdichten« darf,87 dass dieses Öffnungsplädoyer notwendig auch eine konsequente Labilisierung historischer Grenzziehungen und somit den Verzicht auf epochale Markierungen impliziert. Der narrativen Gestalt der Historik würde dann ein weniger expliziter als vielmehr impliziter Modus des Periodisierens entsprechen – was ihrer sinngebenden Relevanz durchaus keinerlei Abbruch täte. In systematischer Absicht muss man wohl unterscheiden zwischen dem heuristischen Wert dieser Epochenthese und der geschichtlichen Wirkmächtigkeit der unter diesem Label untersuchten Phänomenbereiche. Im Kern dürfte der Gewinn und die Bedeutung der These darin liegen, als Idealtypus konkreter Forschung »die Richtung [zu] weisen«, wie Max Weber dies formulierte.88 Die Bewährungsdynamik der von dieser Leitidee angeleiteten Forschung zur Zeit »Nach dem Boom« sollte darum vor allem in der Überprüfung dieser Ausgangshypothese liegen. Beide Probleme und Anfragen können hier nur angeschnitten werden, führen sie doch sogleich auf eine weitere Schwierigkeit: Denn im einen wie im anderen Fall bleibt das Problem der Bestimmung von »tipping points«, von »Umschlagpunkten«,89 also der Identifizierung von Schwellenwerten im historischen Prozess. Ist für diese auf »Ereignisse« zu rekurrieren, dem für Raphael »vierte[n] Beobachtungsformat«?90 Dieser Rekurs auf »Ereignisse« steht sowohl quer zu den anderen Beobachtungsformaten als auch gewissermaßen solitär, d. h. entkoppelt von den Komplementärbegriffen Strukturen oder Prozesse, insofern Raphael für eine Perspektive der langen Dauer und längerfristiger Trends wirbt und sich von einer »Logik der Ereignisorientierung« abgrenzt.91 Es stellt sich also die Frage: Was sind »Ereignisse« bzw. auf welche Ereignisse rekurriert Raphael im Rahmen seiner Darstellung? Die entsprechenden materialen Darlegungen in 87 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 13 Anm. 4. 88 Vgl. Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 146–214, hier S. 190. 89 Ebd., S. 15. 90 Ebd., S. 23. 91 Ebd., S. 115.

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»Jenseits von Kohle und Stahl« führen zu dem Schluss, dass Raphael Ereignisse als Kristallisationspunkte, als quasi symbolische Verdichtungen epochaler Signaturen versteht.92 Exemplarisch lässt sich dafür auf die Veranschaulichung der Effekte der finanzmarktkapitalistischen Transformation auf dem Feld deutscher Industrieunternehmen am Beispiel der Entwicklung des Krupp-Konzerns verweisen.93 Bezogen auf die Eckdaten der Epoche »Nach dem Boom« allerdings, also die Jahre 1970 und 2000, verliert sich die Bedeutung des Rekurses auf Ereignisse. So dient als Anfangspunkt letztlich die erste Ölkrise der Jahre 1973/74 als Schwellenpunkt, während der Endpunkt sich zumindest exakt mit dem von Fourastié94 proklamierten Beginn der »tertiären Zivilisation« deckt. Doch angesichts der sukzessiven Fortschreibung des Projekts95  – fraglos produktiver Ausdruck eines reflexiven Bewusstseins der Standortbindung und somit kontinuierlich notwendigen Revisionsbedürftigkeit zeitgeschichtlichen Analysierens – muss der Bezug auf »Ereignisse« wohl konzeptionell notwendig an Bedeutung verlieren und wird sich auf die angeführte Funktion exemplarischer Veranschaulichung reduzieren. Offene Prozesse und historisch Neues

Will man somit nicht einfach auf sprachliche Varianz zu stilistischen Zwecken schließen, sondern berechtigterweise Sachgründe für temporales Sequenzieren unterstellen, dann könnte eine Argumentation im Sinne des Projektzusammenhangs »Nach dem Boom« etwa lauten: »kumulative Dynamiken« von »Strukturwandel« können ggf. zu »Strukturbrüchen« führen  – oder tun dies typischerweise. Im Lichte dieses Vorschlags stellt sich abschließend die oben angeschnittene Frage des impliziten Periodisierens aufgrund der strukturellen Offenheit von Geschichte erneut: Wie lässt sich mit Blick auf eine (relativ kurze) historische Zeitspanne von ungefähr dreißig Jahren zugleich einerseits von »Strukturbruch« oder »Strukturbrüchen« sprechen und andererseits »die Offenheit […] dieser Übergangsphase« selbst96 wie »die Offenheit für unterschiedliche Entwicklungswege in dieser Übergangsphase«97 behaupten? Denn die Betonung der »Offenheit historischer Entwicklungsmöglichkeiten« ist Ra-

92 Vgl. dazu insbes. die Bündelungen von Ereignisprofilen (Raphael spricht an einer Stelle auch von »Episoden«, ebd., S. 300) in: ebd., S. 144–147, 173–192, 300–354. 93 Ebd., S. 78. 94 Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. 95 Vgl. dazu die auch in dieser Hinsicht bemerkenswerte jüngste Formulierung von der »Binnenzäsur in der Epoche nach dem Boom in den Jahren um 1995/2000« (DoeringManteuffel / Raphael, Nach dem Boom: Neue Einsichten, S. 193). Damit scheint der ursprüngliche Referenzhorizont des Epochenformats »Nach dem Boom«, also die Jahre 1970 bis 2000 letztlich verlassen. 96 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 16. 97 Ebd.

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phael98 ein dezidiertes Anliegen gegen sowohl objektivistische wie lineare Zuspitzungen historischer Trends, weshalb es darauf ankomme, für zeitgeschichtliche Prozesse nicht nur eine »Erzählung […] allein [von] Verlust und Niedergang«, sondern ebenso eine Erzählung über »Neues, Anderes, Vorwärtsweisendes« zu generieren.99 Unter Berücksichtigung dieser Selbsterklärung lässt sich präziser fragen: Warum konzentriert Raphael sich – erstens – dann aber auf Abstiegsgeschichten und nimmt damit gerade eine tendenzielle Schließung der historischen Erklärung vor? Und zweitens: Welches »Neue« thematisiert Raphael bzw. welche Konturen erhält der digitale Finanzmarktkapitalismus, der vor allem als dynamisierender Faktor des historischen Prozesses herausgestellt wird? Die Konturen dieses »Neuen«, des »Finanzmarkt-Kapitalismus«, werden vom Autorenteam – nach zunächst nur einer kurzen Erwähnung100 – erstmals im Vorwort zur zweiten Auflage von »Nach dem Boom« knapp unter Hinweis auf »drei Komponenten« erläutert:101 die »Ausbreitung des Mikrochip als neuem Grundstoff«, die »angebotsorientierte Theorie des Monetarismus« sowie die Propagierung eines auf »Kreativität«, »Authentizität und Flexibilität« setzenden Menschenbildes. Diese eher allgemein gehaltene Erwähnung dreier Bausteine wird von Raphael nunmehr unter Bezug insbesondere auf die Arbeiten von Paul Windolf und Christoph Deutschmann erweitert.102 Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei konsequenterweise die Veränderungen der »Grundmuster der Arbeitsbeziehungen, der Unternehmensorganisation und der politischen Interessenvertretung«103 durch die »Etablierung des Shareholder-Value-Prinzips als Hauptsäule unternehmerischen Handelns«104 mit der Konsequenz, dass »der Aktienkurs zum Goldstandard der Unternehmensphilosophie erhoben wurde«.105 Insofern Raphael einerseits die Durchsetzung des Typus des Finanzmarkt-Kapitalismus als zentralen Treiber der Konstellation »Nach dem Boom« betrachtet, zugleich aber – wie er selbst einräumt106 – dessen Effekte weiterhin höchst umstritten sind, er aber gleichwohl andererseits darauf verzichtet, die behaupteten Effekte (gerade auch im Zusammenhang mit den damit einhergehenden umfassenden Digitalisierungsprozessen) eingehender zu verfolgen, wären hier weitere Erläuterungen hilfreich gewesen. Dies zumal, als Raphael zugleich klar für eine differenziertere Perspektive plädiert, wenn er schreibt, dass es ihm »deutlich angemessener zu sein [scheint], mit Blick auf die profunde Transformation, die zwischen 1970 und 2000 in Westeuropa stattgefunden hat, von einer 98 Lutz Raphael, Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 9. 99 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 18. 100 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008, S. 8. 101 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 9. 102 Windolf, Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?; Deutschmann, Finanzmarkt-Kapitalismus. 103 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 72. 104 Ebd., S. 73. 105 Ebd., S. 74. 106 Ebd., S. 76 f.

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Phase der technologischen Innovationen, der strategischen Umorientierungen und der experimentellen Erprobungen im Bereich industrieller Produktion zu sprechen, die Hand in Hand mit der Durchsetzung des internationalen Finanzmarktkapitalismus ging«.107 Die Konturierung des »Neuen«  – unabdingbare Voraussetzung für eine retrospektiv wie prospektiv ebenso tragfähige wie gehaltvolle Bestimmung dessen, was vor dem Bruch »war« und nach dem Bruch im Entstehen begriffen »ist« bzw. »sein wird« – bleibt so letztlich eher unterbestimmt. Und hier drückt sich wohl ein systematisches Problem zeitgeschichtlicher Forschung durch: Denn nur der strukturell prognostische und nicht nur retrospektiv rekonstruktive Zugriff vermag über das als im Werden befindlich Gedachte – naturgemäß perspektivisch  – Auskunft zu geben und somit dem Postulat, Geschichte als offenen Prozess zu konzipieren, Rechnung zu tragen. Das scheint sozusagen der Preis des Heranführens der Zeitgeschichte an die Gegenwart – gerade auch und dann, wenn diese sich als Problemgeschichte aufstellt und durch eine konstruktive Perspektive auszeichnet. Diese Überlegung führt dann konsequent auf den zweiten Gesichtspunkt einer tendenziellen Schließung der historischen Erklärung durch die Konzentration auf Geschichten des Abstiegs. Sicherlich, Lutz Raphael gelingt es mit dieser Schwerpunktsetzung, dem seinerseits gegen »die gegenwartsnahe Sozialgeschichte« erhobenen Vorwurf zu entgehen, »dem soziologischen Blick auf zukunftsweisende Trends zu folgen und auf diese Weise vor allem die Anfänge des Neuen in den sozialen Phänomenen der jüngsten Vergangenheit zu entdecken«, und angesichts dieser »Obsession für Fortschritts- beziehungsweise Wachstumsgeschichten« dann »Prozesse des Schrumpfens, gar Verschwindens« eben nicht schlicht »mit Schweigen oder Desinteresse« zu ignorieren.108 Doch schlägt sich dieser Ausweis einer »kritischen Sozialgeschichte«, »die sich nicht gegen die Gegenwart abdichten darf«, nicht umgekehrt in einem damit einhergehenden Plädoyer für eine Richtungstendenz des historischen Prozesses bspw. in der Übernahme des Konzepts der »Pfadabhängigkeiten« nieder?109 Ohne Entwicklung und Zuschnitt dieses Konzepts hier erörtern zu können110 ist doch unmittelbar ersichtlich, dass mit dieser begrifflichen Weichenstellung Vorstellungen von Unentrinnbarkeit, Zwangsläufigkeit und Notwendigkeit in das Erklärungsprofil Einzug halten, die dem Plädoyer für eine »Offenheit historischer Entwicklungsmöglichkeiten«111  – durchaus im Sinne des Ausgriffs 107 108 109 110

Ebd., S. 80. Ebd., S. 13. Ebd., S. 18, 477. Vgl. dazu Jürgen Beyer, Pfadabhängigkeit ist nicht gleich Pfadabhängigkeit! Wider den impliziten Konservatismus eines gängigen Konzepts, in: Zeitschrift für Soziologie 34/1 (2005), S. 5–21.; sowie ders., Pfadabhängigkeit. Über institutionelle Kontinuität, anfällige Stabilität und fundamentalen Wandel, Frankfurt am Main 2006. 111 Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?, S. 8.

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auf eine »Theorie möglicher Geschichten«112  – zumindest kontrastieren.113 Entsprechend sei vorgeschlagen, hier den Begriff der »Bahnungseffekte« vorzuziehen.114 Konzeptionell eröffnet der Begriff der »Bahnungseffekte« in deutlich ausgeprägterem Maße systematisch einen offeneren, zukunftsorientierteren und innovationssensibleren Vorstellungshorizont. Im Sinne einer Heuristik wäre dieser Begriff am ehesten als spezifisch-unspezifischer Zustand ins Offene zu fassen, der mehr Raum für Interpretation und Gestaltung eröffnet. Mit dem grundbegrifflichen Vorschlag einer Umstellung von »Pfadabhängigkeiten« auf »Bahnungseffekte« steht, so die Annahme, das konzeptionell angemessenere (da prospektiv offenere)  und analytisch präzisere (da retrospektiv dynamischere)  Konzept für die Typik historischer Erklärungen zur Verfügung. Wie formulierte schon Huizinga: »Jeder historische Zusammenhang bleibt immer ein offener Zusammenhang.«115 Und zumeist gestalten sich Veränderungen als allmähliche Verwandlungen der Verhältnisse. Mit »Jenseits von Kohle und Stahl« scheinen so unter Bezug auf den Reflexionshorizont »Nach dem Boom« überraschender Weise zwei Verengungen auf: zum einen eine Verengung auf den Verlust- und Niedergangsaspekt der Zeit nach 1970 angesichts der – jenseits der zunächst Einseitigkeiten insinuierenden Titelgebung von »Nach dem Boom« – immer wieder herausgestellten Fokussierung der Epoche in ihrer Ambivalenz, also in ihren Gegenläufigkeiten.116 Gleichwohl lag schon hier immer wieder eine Unschärfe vor, denn es scheint offenkundig zweierlei, die »Entstehung des Neuen« zu betonen und zugleich dessen Relevanz für die Gegenwart darzulegen. Zum anderen ergibt sich eine weitere Verengung durch die nahezu ausschließliche Konzentration auf die Umstellung sehr spezifischer, wenn auch fraglos für den Strukturtyp Industriegesellschaft zentraler Arbeitsbereiche, die den Anspruch auf eine »Gesellschaftsgeschichte« zumindest mit Fragezeichen versehen. Denn solchermaßen erfährt die konzeptionell für den Projektzusammenhang als wesentlich erachtete besondere

112 Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographi­ schen Erschließung der geschichtlichen Welt [1977], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 176–207, hier S. 206. 113 Dieser Befund bzw. diese Kritik wird in der Pfadabhängigkeitsdiskussion zwar immer wieder selbst thematisiert und Lösungen dafür gesucht (so bspw. auch bei Beyer, Konservatismus, und Beyer, Kontinuität), aber das Grundproblem scheint damit nach wie vor ungelöst (und womöglich kann es im Rahmen dieses Theoriezuschnitts auch gar nicht gelöst werden). 114 Dieser begriffliche Vorschlag ist vom Autor bereits an anderer Stelle – wenn auch eher kursorisch  – mit Blick auf theoriegeschichtliche Weichenstellungen (Martin Endreß, Soziologische Theorien kompakt, 3. vollst. überarb. und erw. Aufl., Berlin 2018, S. 2, 8) wie materiale Argumentationsperspektiven eingeführt worden (ebd., S. 128 f., 225). 115 Johann Huizinga, Aufgaben der Kulturgeschichte [1930], in: ders., Wege der Kultur­ geschichte. Studien, übers. v. Werner Kaegi, München 1930, S. 7–77, hier S. 29. 116 Bspw. Reitmayer, Nach dem Boom – eine neue Belle Époque?, S. 14.

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Beachtung der politisch-ökonomischen Dimension117 einen nochmals engeren Zuschnitt.

3. Bezugshorizont: Zur räumlichen Dimension der »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas« Lutz Raphaels Untersuchung zur Signatur der Epoche »Nach dem Boom« weist sich nicht nur im Untertitel, sondern regelmäßig auch im Text selbst als »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas« aus. Doch so unmittelbar damit ein räumlicher (geographischer) Bezugshorizont als evident aufscheinen mag, so sehr bleibt doch ebenso zu fragen: Welcher Bezugshorizont ist hier für den fraglichen Zeitraum gemeint? Auch wenn die Terminologie im Einzelnen sowohl in »Nach dem Boom« als auch in »Jenseits von Kohle und Stahl« schwankt und Varianten wie »Westeuropa«, »westeuropäische Länder«, »westeuropäische Industrieländer«, »westeuropäische Gesellschaften« oder »westeuropäische Moderne« kennt,118 so beschränkt Raphael sich unter diesem Titel in seiner vergleichenden Untersuchung auf drei Länder: Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik. Nun wird man alle drei Gesellschaften fraglos als zu Westeuropa gehörig beschreiben, aber die Generalisierung lässt gleichwohl schon aufgrund von Raphaels Kritik an Herbert aufhorchen. Dort heißt es kritisch mit Blick auf das Konzept der Hochmoderne: »Die symbolischen Eckjahre 1880 und 1970 sind überzeugend für die (west)deutsche Industriegesellschaft und auch benachbarte, durch die politischen Ereignisse und die sozio-ökonomischen Basisprozesse synchronisierte Länder (Belgien, die Niederlande, Skandinavien), aber viel weniger überzeugend, wenn man die agrarisch geprägten mediterranen Länder Südeuropas, die Balkanländer oder das östliche Mitteleuropa in seiner spezifischen Temporalität erfassen will.«119 Hätte sich im Gefolge dieser Kritik nicht viel eher entweder eine vergleichende Studie der Bundesrepublik mit dem Benelux-Raum und Nordeuropa nahegelegt oder aber zu einer weniger vereinheitlichenden, also stärker kontrastierenden Darstellung des stattdessen gewählten Vergleichs mit Frankreich und Großbritannien anregen müssen?120 117 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2012, S. 32; dies., Nach dem Boom, 2008, S. 14. 118 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008, S. 10, 12, 14; dies., Nach dem Crash, S. 13; Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 9, 10, 14, 35, 38, 479. 119 Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?, S. 146. 120 Lutz Raphael begründet diese Auswahl gleichwohl mit zwei Hinweisen, die den Kontrastreichtum als Auswahlkriterium akzentuieren: Neben dem Verweis darauf, dass es sich bei diesen Ländern »um die drei größten Volkswirtschaften Westeuropas« handelt, mit dem Argument, dass diese »ein breites Spektrum einerseits nationalspezifischer Eigenheiten, andererseits typischer Optionen in der politischen und sozialen Ausgestaltung der Umbruchphase« zeigen würden (ders., Jenseits von Kohle und Stahl, S. 17 f.).

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Sicherlich: Großbritannien, Frankreich und Deutschland sind die »drei größten Volkswirtschaften Westeuropas« bzw. des EU-Raumes, und insofern auch die drei Länder mit den größten Belegschaften. Aber eine über diesen intuitiv gegenwärtigen Zustand hinausgehende Begründung dieser Vergleichsperspektive wäre gerade angesichts der von Raphael an Herberts komparativer Perspektive formulierten Kritik hilfreich gewesen. Doch auch jenseits dieser, wenn man so will, werkintern motivierten Anfrage bleibt der Bezugshorizont des Gemeinten ebenso uneindeutig wie auch institutionell unklar. Uneindeutig bleibt er, weil zwischen den Jahren 1970–1989 einerseits und 1989–2000 andererseits nun einmal eminente Verschiebungen der europäischen politischen Geometrie zu konstatieren sind, und institutionell unklar ist er insofern, als u. a. die UNO zu »Westeuropa« – unter statistischen Gesichtspunkten – bspw. Großbritannien eben nicht zählt. Im Ergebnis dieser drei Anmerkungen scheint sich so ein Verzicht auf die generalisierende Hochrechnung der Ergebnisse der Studie »Jenseits von Kohle und Stahl« auf »Westeuropa« anzubieten. So ist das Projekt insgesamt von zeitlichen, räumlichen und sozialen Grenzziehungen geprägt. Während die zeitliche Grenzziehung sich auf das »nach 1970« bezieht, changiert die räumliche Grenzziehung zwischen dem Bezug entweder auf die drei dominierenden Volkswirtschaften Westeuropas121 oder aber genereller auf die »westeuropäischen Länder«122 oder gar in einem weiteren Ausgriff auf Westeuropa und Nordamerika.123 Dazu tritt eine soziale Grenzziehung, die das Projekt auf bestimmte Generationen und spezifische gesellschaftliche Felder konzentriert. Das ist – Visionen einer neuen gesellschaftlichen Totalitätsanalyse seien hier nicht einmal ansatzweise aufgemacht – weder Nachteil noch Vorteil, sondern zunächst einmal die Signatur der pragmatischen Grundstruktur arbeitsteiliger Forschung. Entsprechend bleibt gespannt abzuwarten, welche sozialen, also weitere Jahrgangskohorten, Trägergruppen und Gesellschaftsbereiche einbeziehenden, welche räumlichen, also insbesondere weitere europäische Gesellschaften berücksichtigenden, und welche zeitlichen, in Strukturen langer Dauer denkenden zukünftigen Resultate aus diesem »unvollendeten Projekt« noch zu erwarten sind. In diesem Sinne gilt: Die Zukunft der Vergangenheit ist nicht vorhersagbar.

121 So Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. 122 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 13. 123 So in Reitmayer / Schlemmer (Hg.), Die Anfänge der Gegenwart, 2014.

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4. Konzeptionelle Anfragen an Lutz Raphaels »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas« Schon in der Einleitung zu dem 2016 von ihnen herausgegebenen Band »Vorgeschichte der Gegenwart«124 resümierten Doering-Manteuffel und Raphael, dass es der »vielleicht überraschendste Trend der letzten Jahre« sei, dass die Geschichte des Arbeitens und von Arbeit wieder ins Zentrum der historischen Aufmerksamkeit gerückt wäre.125 Diesem Umstand entsprechend betrachtet Raphael126 »Arbeit nach wie vor als einen Knotenpunkt sozialer Strukturbildun­ gen, und zwar sowohl im Untersuchungszeitraum [1970–2000] als auch in der Gegenwart«. So wird Lutz Raphaels Studie durch eine sozialintegrative wie sozialstrukturelle Kernthese angeleitet, die aus der »Zentralität von Arbeit für eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive«127 einen »Bruch« für die Jahre ab 1970 in den Formationsbedingungen westeuropäischer Gesellschaften, zumindest aber der drei großen ›Volkswirtschaften‹ Deutschland, Frankreich und Großbritannien folgert. Raphael erklärt dabei, »mit einem offenen Konzept von ›Gesellschaft‹« operieren zu wollen.128 Für seinen Untersuchungszweck bestimmt er »›Gesellschaft‹ als Wirkungs- und Handlungszusammenhang, als Relationsbegriff im Kontext der konkreten Forschungsfragen«.129 Dass mit dieser begrifflichen Weichenstellung verbundene »offene Konzept von Gesellschaftsgeschichte«,130 siedelt die Typik sozio-ökonomischer, sozio-struktureller (und -kultureller) sowie sozio-politischer Konstellationen im Zwischenfeld von transnationalen Trends, nationalstaatlichen Regulierungen und regionalen Faktoren und Einflüssen an.131 Im Sinne von Edmund Husserl wird Gesellschaft damit zu einem ›operativen‹ Begriff der Gesellschaftsgeschichte, wie im Anschluss an Ernst Cassirer von einem Substanz- zu einem ›Funktionsbegriff‹ einer relational aufgestellten Zeitgeschichte. Für die unterschiedlich dimensionierten Trends, Regulierungen, Faktoren und Einflusslinien wie -größen für eine differenzierte Kartographie von Deindustrialisierungsprozessen unterscheidet Raphael fünf »Beobachtungsforma124 Auch Touraine hatte mit dem Begriff der »Vor-Geschichte« seinerzeit operiert (ders., Die postindustrielle Gesellschaft, S. 23), um die formatierenden Bewegungen einer sich abzeichnenden neuen gesellschaftlichen Konstellation zu fassen. Die Formulierung wird von Doering-Manteuffel und Raphael bereits in der Einleitung zu »Nach dem Boom« aufgegriffen (vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2012, S. 29). 125 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom: Neue Einsichten, S. 183. 126 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 30. 127 Ebd., S. 30. 128 Ebd., S. 22. 129 Ebd., S. 21. 130 Ebd., S. 477. 131 Vgl. zsfd. ebd., S. 477 f.

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te«:132 Mittels einer politisch-ökonomischen Perspektive sucht er transnationale Wirtschaftsprozesse im Verhältnis zu dominant nationalstaatlich organisierten politischen Steuerungsprozessen auszuloten, mit dem Blick auf rechtliche Regulierungen interessieren ihn Zuschnitt und Effekte wiederum zumeist nationalgesellschaftlicher arbeits-, sozial- und tarifrechtlicher »Ordnungsmuster«, in einer wissensgeschichtlichen Beobachtungseinstellung geht es ihm um die Freilegung orientierender Deutungsmuster wie die Neujustierung von Wissensordnungen, unter dem Titel »Ereignisse« wird das Bild um medial präsente (»politische«) Großereignisse wie biographische »medienferne Mikroereignisse« angereichert und mittels der sozialräumlichen Dimension soll die Aufmerksamkeit schließlich angesichts sich zuspitzender »Unterschiede und […] Ungleichheitsvertei­ lungen«133 auf eine Binnenperspektive für die jeweiligen Gesellschaften gerichtet werden. Analytisch liegen die Beobachtungsformate auf unterschiedlichen Ebenen und sie haben für den Argumentationsgang unterschiedliche Relevanz: Als Leitwährungen fungieren die Perspektiven von politischer Ökonomie und Wissensgeschichte  – und letztere tritt damit nicht nur gleichrangig neben die in »Nach dem Boom«, zumindest erklärtermaßen, noch dominierende erstere Perspektive, sondern sie scheint nunmehr bisweilen analytisch sogar in den Vordergrund zu rücken. Die Einbeziehung der Untersuchung rechtlicher Regulierungen und sozialräumlicher Konstellationen dient sodann der Justierung der komparativen Perspektive zur Identifizierung regionaler wie nationaler Besonderheiten u. a. aufgrund unterschiedlicher Entwicklungstempi, während der Rekurs auf »Ereignisse« schließlich der Rückkopplung an Momente der politischen Geschichte wie lebensgeschichtlicher Phänomene dient. Das Ordnungsmodell dieser Beobachtungstypik lässt so eine klare Relevanzhierarchie erkennen, die rechtlichen, sozialräumlichen und individual- wie kollektivgeschichtlichen Elementen wenn auch keine historische Nebenrolle, so doch jeweils die Funktion von differentia specifia zuweist. Es bestätigt sich also für »Jenseits von Kohle und Stahl« erneut die schon für die Programmschrift »Nach dem Boom« von 2008 objektiv leitende Vermittlung von Perspektiven von Marx und Weber, von politisch-ökonomischer und wissens- bzw. ideenanalytischer Perspektive. Fasst man die argumentative Stoßrichtung von Lutz Raphaels Überlegungen zusammen, dann lassen sich diese wohl zu drei Problemperspektiven bündeln, die nicht so sehr auf rein makrostrukturelle, sondern viel eher auf gesamtgesellschaftliche Effekte verweisen: In sozio-politischer Hinsicht134 zielen diese auf die Typik von Konfliktaustragungsformen im Sinne einer Veränderung politischer Formate einerseits und einer Entkopplung von etablierten Repräsentationsstrukturen (Betrieb, Kommunen, Parteien, Gewerkschaften) andererseits. In

132 Ebd., S. 22–24. 133 Ebd., S. 24. 134 Ebd., S. 9 f.

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sozio-struktureller und sozio-ökonomischer Hinsicht135 fokussieren sie Typiken sozialer Strukturen, insbesondere die Erosion sozialmoralischer Milieus;136 Erosionsprozesse, die als Formen der Entflechtung von vormalig als selbstverständlich geltenden Kompositionseffekten sozialer, politischer, rechtlicher und kultureller Einbindung durch die »Rückkehr von Massen-, insbesondere von Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit«137 begriffen werden. Schließlich zielen die Argumentationen in sozio-kultureller Hinsicht138 auf die Typik von Legitimierungsmustern (dominante Deutungsmuster, Ordnungsmuster oder Wissensformen), die sich mit den Stichworten der Flexibilisierung, ›Abiturisierung‹ und Akademisierung, Verwissenschaftlichung und Digitalisierung verbinden, und die die objektive Entwertung vormalig als gültig erachteter Wissensordnungen und Legitimationsmuster sowie bewährter Ausbildungswege (bspw. des deutschen »dualen Systems«) in den Mittelpunkt der Analyse rücken. Dabei werden insbesondere die beiden letzten Aspekte von Raphael in sozial-integrativer Absicht zugespitzt. Die aktuelle Variante des Forschungsprofils von »Nach dem Boom« – wie sie sich exemplarisch in Raphaels »Jenseits von Stahl und Kohle« artikuliert – zielt für die Verflechtungsdynamiken dieser drei Problemperspektiven auf die argumentative Typik von »Wahlverwandtschaften und Verstärkereffekte« ab.139 Im Einzelnen zeigen diese drei Aspekte des Verflechtungszusammenhangs folgende Konturen: Sozio-politische Problemperspektive: Zwischen Nationalität und Globalität

Die zunächst von Anthony Giddens140 für die Soziologie geforderte Abkehr von der Vorstellung von Gesellschaften als klar und eindeutig begrenzten ›Containern‹ hat Lutz Raphael bereits vor längerer Zeit für die Geschichtswissenschaft exemplarisch kritisch sekundiert und adaptiert.141 »Jenseits von Kohle und 135 Ebd., S. 10, 11 f. 136 Raphael scheint hier mit gleicher analytischer Stoßrichtung diesen von M. Rainer Lepsius eingeführten Begriff der »sozialmoralischen Milieus« und den der phänomenologischen Philosophie entlehnten Begriff der »Lebenswelten« zu verwenden: Vgl. ebd., S. 14, 271, 352. Raphael bezieht sich in »Jenseits von Kohle und Stahl« erstmals auf Lepsius’ Werk (ebd., S. 458), in dem er mit dem Begriff der »sozialmoralischen Milieus« ein Kernkonzept von dessen soziologischer Analytik aufnimmt (vgl. ebd., S. 119, 458 f., 461, 473). 137 Ebd., S. 10. 138 Ebd., S. 10 f. 139 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2008, S. 13; dies., Nach dem Crash, S. 8; dies., Nach dem Boom, 2012, S. 31. 140 Vgl. Anthony Giddens, Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, Berkeley 1979, S. 224 f.; ders., Die Konstitution von Gesellschaft [1984], Frankfurt am Main 1988, S. 216–218. 141 Vgl. Lutz Raphael, Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht. Die Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft« 1974–1999 [1999], in: ders., Ordnungsmuster und Deutungskämpfe, S. 237–270.

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Stahl« wählt entsprechend einen abgewogenen Mittelweg zwischen Global-, National- und Regionalgeschichte. In vergleichender Perspektive werden die »drei größten Volkswirtschaften Westeuropas« aufgrund »einerseits nationalspezifischer Eigenheiten, andererseits typischer Optionen in der politischen und sozialen Ausgestaltung der Umbruchphase«142 verhandelt. Man kann mit einigem Recht vom Projekt einer transnationalen Relationsgeschichte sprechen, die hier an langfristigen Veränderungen von Arbeitsverhältnissen und Arbeitswelten verfolgt wird.143 Ein solcher, auf Relationen abstellender Zuschnitt fordert dann aber unmittelbar dazu auf, nicht zuletzt unterschiedliche Temporalitäten von Veränderungsprozessen zu thematisieren bzw. für die Analyse in den Fokus zu rücken. Konkret auf die »Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung«144 für Westdeutschland, Großbritannien und Frankreich bezogen heißt das, sowohl  – erstens  – regional wie national spezifische Temporalitäten zu identifizieren als auch – zweitens – (und wohl im Sinne der angestrebten historischen Erklärung vor allem) Ursachen und Gründe für diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu benennen. Und schließlich dürften  – drittens  – dann gerade unter Rekurs auf diese Ursachen und Gründe wohl Hypothesen über mögliche zukünftige Prozessszenarien zu formulieren sein. Hält man sich diese drei Anforderungen vor Augen, dann drängt sich nochmals die Frage auf, ob es nicht eines analytischen Modells dafür bedürfte, die Trägheits- und Bremseffekte auf der Ebene institutioneller Konfigurationen bzw. Arrangements gesellschaftlich, und d. h. sozialstrukturell adäquater zu verorten. Dieser Eindruck verdichtet sich m. E. in zahlreichen Beobachtungen gerade auch im Schlussteil der Studie, wenn Raphael bspw. argumentiert: »Der britische Abschied von der Sozialbürgerschaft hat die Kluft zwischen Großbritannien und den beiden anderen Ländern [d. i. Frankreich und Deutschland] markant vertieft  – und dies lange vor dem Brexit.«145 Hier wird der implizit leitende Rekurs auf unterschiedliche Tempi von Transformationsprozessen deutlich, ohne dass für Brems- oder Beschleunigungseffekte insbesondere Unterschiede institutioneller Konfigurationen angeführt würden.146 142 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 17 f. 143 Hier nimmt Raphael die Vorschläge von Hartmut Kaelble (Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007) auf, der seine damalige Bilanz der Forschungen zur europäischen Sozialgeschichte auf das Ergebnis zuspitzte, dass es eine Sozialgeschichte Europas lediglich als eine Sozialgeschichte seiner regionalen wie nationalen Spezifika geben würde. 144 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 15, 467. 145 Ebd., S. 469. 146 Für entsprechende Argumentationen sind zwar prinzipiell Pfadabhängigkeitsansätze einschlägig, insofern diese oftmals explizit institutionalistisch argumentieren, aber sie thematisieren mit dieser Orientierung eben nur den einen Aspekt des in Frage stehenden Konzeptualisierungsproblems, also den der ›Notwendigkeit‹, während im Gegensatz dazu ein Konzept der Bahnungseffekte (siehe oben, S. 431) hilfreich sein könnte, Bremsund Beschleunigungseffekte von sowohl Kontinuitäts- als auch Diskontinuitätsprozessen zu untersuchen.

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Sozio-strukturelle und sozio-ökonomische Problemperspektiven: Gesellschaftliche Bedingungen westlicher Demokratien

Die These einer »Auflösung kompakter soziokultureller Milieus«,147 wie sie von soziologischer Seite bereits eindringlich Josef Mooser – gerade mit Blick auf die »Auflösung proletarischer Milieus« – und Ulrich Beck unter dem Titel »Jenseits von Klasse und Schicht« beschrieben hatten,148 fungiert als Fluchtpunkt sowohl des Programms »Nach dem Boom« wie auch der Gesellschaftsgeschichte Raphaels. Der Plural (Milieus) allerdings irritiert. Im Kern wird nur ein Milieu angesprochen, nämlich – ganz im Sinne von Mooser und Beck – dasjenige, welches »um die Figur des männlichen Produktionsarbeiters« als »milieuprägender Sozialfigur« kreist.149 Aber war dieses Milieu für die Jahre 1970 bis 2000 gesamtgesellschaftlich (und eben nicht nur als Signatur einer industriegesellschaftlichen Phase in bestimmten Teilen westlicher Modernität) noch derart prägend, dass auf der Basis einer Analyse seiner Veränderungsdynamik eine »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas« tragfähig entwickelt werden kann? Und zwar so, dass dies die These einer Epochenzäsur unter dem Titel »Nach dem Boom« rechtfertigen könnte?150 Und trägt zugleich der mitlaufende Anspruch auf eine »gesellschaftshistorische Fundierung« der Thesen einer »Krise der politischen Repräsentation« aufgrund einer »›Peripherisierung‹ [proletarischer] Sozialräume«?151 Oder liegt hier eher eine industriesoziologische wie arbeitsgeschichtliche Engführung der Analyse vor, die eine in den 1970er und 1980er Jahren sich längst vollzogen habende Verschiebung der arbeitssektoralen Gewichte zu einseitig auf der Ebene der Beharrungsfähigkeit (»hysteresis«) von Milieukulturen verhandelt?152 147 148 149 150

Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 472. Vgl. Mooser, Auflösung proletarischer Milieus; Beck, Jenseits von Stand und Klasse. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 472. Raphael weist an einer Stelle selbst darauf hin, dass »die westdeutsche Arbeiterschaft […] bereits […] in den 1930er Jahren [die] Form kompakter Klassenexistenz verloren« hatte (ebd., S. 140). 151 Ebd., S. 471. 152 Danach würde die Argumentation womöglich in die argumentative Falle eines »cultural lag« (Ogburn) laufen, also des Phänomens des zeitlichen ›Nachhinkens‹ kultureller gegenüber u. a. wirtschaftlicher Entwicklungen; vgl. William F. Ogburn, Social Change. With Respect to Culture and Original Nature, New York 1922; ders., Cultural Lag as Theory, in: Sociology and Social Research 41 (1957), S. 167–173. Zwiespältig bleibt der angesprochene Befund allemal, denn nicht nur ist dieser Effekt insofern paradox, als diese Auflösung nicht zuletzt auf dem »Fahrstuhleffekt« und damit des weitreichenden, wenn auch zumeist schuldenbasierten Erwerbs eigenen Wohnraums gerade auch für Arbeiterinnen und Arbeiter basiert (ebd., S. 472). Sondern er ist auch ebenso ambivalent mit Blick auf seine Demokratieeffekte, soll er doch einerseits einen Beitrag »zum Verständnis der aktuellen Krise der liberalen Demokratie« liefern (ebd., S. 12, Stichwort mit Rosanvallon: Erosion »elementarer Formen sozialer ›Beziehungsgleichheit‹«), obwohl andererseits auch Raphael selbst herausstellt, dass sich Formen »demokratische[r] Partizipation auf betrieblicher Ebene […] parallel zu den technologischen und organisatorischen Umbrüchen in der industriellen Produktion« entwickelten und eine »wichtige Erbschaft dieser Übergangszeit« darstellen (ebd., S. 470 f.).

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Aus soziologischer Perspektive erinnert die von Raphael herausgestellte Bedeutung von Arbeit und Betrieb als »Ankerpunkt« geradezu an eine Perspektive im Geiste von Émile Durkheim: »Dass der eigene Betrieb immer wieder als positiver Bezugspunkt in den Berichten und Befragungen von Industriearbeiterinnen und -arbeitern genannt wurde, verweist auf seine Bedeutung als Ankerpunkt arbeitsbiographischer Kontinuität und für soziale Integration.«153 War es doch gerade Durkheim, der die gesamtgesellschaftliche integrative Bedeutung von Berufstätigkeit als Ankerpunkt der Entwicklung eines neuen Kollektivbewusstseins und damit sozial-integrativer Potenziale für die moderne Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts herausgestellt hatte.154 Diese Perspektive auf die Erosion eines sozialmoralischen Milieus (M. Rainer Lepsius), trägt also sowohl sozio-politische als auch sozio-strukturelle (bzw. -kulturelle) und sozioökonomische Implikationen. Sie scheint von daher als kritischer Fluchtpunkt der Argumentationen von Lutz Raphael zu fungieren – und zwar durchaus im Sinne einer auch gegenwartsdiagnostischen Zuspitzung, die die Zeit seit Mitte 1970er Jahre als die einer fortschreitenden und mit Beginn des neuen Jahrtausends in ihrem Tempo nochmals forcierten Erosion des (oder eines zentralen) europäischen Sozialbürgerschaftsmodells beschreibt. Eine entsprechende These nötigte jedoch zu weiteren Trägergruppen- bzw. Sozialgruppen- oder milieuspezifischen Differenzierungen, die in »Jenseits von Kohle und Stahl« nicht geboten werden. Im Kern hat man es hier deshalb mit einer Analyse der politisch-sozialen Entwurzelung lediglich der einen (sozialfigurativ) zentralen Trägergruppe der Gesellschaften des Booms zu tun.155 Damit drängt sich eine abschließende Frage auf: Könnte es sein, dass die – mehr oder weniger implizit bleibende – Konzentration beider Autoren ebenso wie die ­Raphaels auf eine Trägergruppe – bei allem Gewinn für die Analyse – in diesem Fall auch deren Verengung nach sich zieht? Zumindest scheinen hier Detailierungsgewinn und zeitgeschichtlicher Deutungsanspruch in einer gewissen Spannung zueinander zu stehen. Sozio-kulturelle Problemperspektive: Pluralität von Deutungsmustern und Orientierungskrisen

In Aufnahme von Kosellecks »dialektischem Grundmodell von ›Erfahrungswandel‹ und ›Erwartungshorizont‹«156 scheint Lutz Raphael gewissermaßen ein reflexives Selbstirritationsmodell zu denken, wenn er mit Blick auf das Konzept 153 Ebd., S. 470; vgl. 462 f. sowie generell S. 355–418. 154 Plastisch greifbar wird diese Perspektive in Raphaels Gesellschaftsgeschichte insbesondere auch durch die Aufnahme des in einem Bericht der Europäischen Kommission 1999 eingeführten Konzepts der »Sozialbürgerschaft« als »Messlatte« (ebd., S. 205–246, 350 f., 370–376, 418, 469 f.). 155 Vor allem ebd., S. 141, aber auch: Doering-Manteuffel / R aphael, Nach dem Crash, S. 19, 21. 156 Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«, S. 137.

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der »Hochmoderne«157 für die Jahrzehnte ab 1880 die Internationalisierung und massenhafte Partizipation thematisiert, durch die »die bis dahin nur schwach miteinander verkoppelten anonymen Prozesse« nun »in der gesellschaftlichen Kommunikation eng miteinander verknüpft« werden.158 Auffällig ist diese reflexive Zuspitzung eines wissenssoziologischen Arguments auch in der folgenden Darlegung: »Zugespitzt formuliert ist es generell nicht die Anhäufung der technischen Innovationen, auch nicht die quantitative Zunahme von Industriesiedlungen, Kaufhäusern und Kinosälen, welche Ursache für eine kollektive Wahrnehmungskrise der Zeitgenossen waren, sondern es sind die eigenständigen Prozesse kultureller und politischer Selbstbeobachtung und -thematisierung der europäischen Gesellschaften, die eine Eigendynamik entfalten.«159 Fast gewinnt man an Stellen wie dieser den Eindruck, als wenn der Analytiker der Arbeit hier zum Kultur-, Ideen- oder Wissenshistoriker würde, und es stellt sich die Frage, ob denn aus der in hohem Maße – gerade aus einer wissenssoziologischen Perspektive – plausiblen »These […], dass die symbolischen Ordnungsentwürfe, die historischen Semantiken für die Gesellschaften Europas im 20. Jahrhundert von prägender Bedeutung waren«,160 wirklich umstandslos folgt, »dass es geraten erscheint, aus dem Modell der ›objektiven‹ Datensätze der Basisprozesse überzuwechseln in die Welt der gedachten Ordnungen, der sozialen Kommunikation«.161 Nicht nur Ogburn wäre hier mit seiner klassischen »Theorie der kulturellen Phasenverschiebung«, also dem Phänomen des »cultural lag«, wohl sehr viel zurückhaltender gewesen.162

5. Erweiterungsperspektiven Die bisherigen Überlegungen unterbreiten einen Vorschlag für eine systematisierende Ergänzung der Argumentationen von Lutz Raphael,163 und sie fragen mit Blick auf das Verhältnis von Brüchen und Beharrungen nach einem konzeptionellen Zugriff zu dessen Erfassung.164 Sie sollen nunmehr mit Blick auf das Forschungsprojekt »Nach dem Boom« ebenso wie die Epochenskizze »Jenseits 157 Herbert, Europe in High Modernity. 158 Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«,, S. 141. 159 Ebd., S. 144. 160 Ebd., S. 145. 161 Ebd., S. 144. 162 Der zweifache Anschluss sowohl an die Modernebestimmung von Luhmann (Selbst­ beschreibungen) als auch an Kosellecks Bestimmung des Übergangs zur Modernität über ein Auseinandertreten von Erfahrung und Erwartung entfalten hier wohl eine Eigendynamik. 163 Siehe oben, S. 434–440. 164 Siehe oben, S. 424–427. Zu diesen Hinweisen zählen zudem die auf das Vermittlungs­ anliegen von Marx und Weber (siehe oben, S. 420, 435, 440) und sie erinnern an ebenfalls zwei Stellen an die Figur des »cultural lag« (siehe oben, S. 438, 440).

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von Kohle und Stahl« und die dort am empirischen Material so anschaulich und reichhaltig dokumentierten Effekte mit einem Vorschlag zur Ergänzung der zeitgeschichtlichen Analyse in gegenwartserschließender Absicht weitergedacht werden. Plausibilisiert sei diese Einschätzung zunächst einmal sozusagen ex negativo durch einen erneuten vergleichenden Blick auf Raphaels Auseinandersetzung mit Ulrich Herberts Konzept der »Hochmoderne«.165 Dieser Vergleich bezieht sich zunächst auf die Eckdaten von »Nach dem Boom«, also die Jahre 1970 und 2000. Die von Herbert vorgenommene Bestimmung des Endes der »Hochmoderne« mit dem Jahr 1970 erachtet Raphael166 als nur partiell greifend. Jenseits der Bundesrepublik scheint sie ihm im Jahr 2008 – aus unterschiedlichen Gründen – weder für Großbritannien noch für Frankreich plausibel. Umgekehrt allerdings dient das fragliche Jahr 1970 zugleich der Bestimmung des Beginns der Epoche »Nach dem Boom« – ebenfalls im Jahr 2008 und weiterhin bis 2019. Generell verstehen sich diese Rückfragen vor dem Hintergrund von Raphaels Kritik167 am temporalen und damit ereignisbezogenen »Schockmodell« Herberts, so dass sich die seine Einwände abschließende Frage, ob nicht »die Koexistenz ganz unterschiedlicher kulturräumlicher und nationalspezifischer Periodisierungen zu akzeptieren« wäre,168 wohl reflexiv eben auch auf die neue »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom« beziehen lässt. Und hier schließt sich sogleich eine Plausibilisierung im Sinne einer sententia affirmativa an: Der Auseinandersetzung mit Ulrich Herberts Konzept der Hochmoderne kommt für den konzeptionellen Zuschnitt der jüngeren Arbeiten von Lutz Raphael offenkundig eminente Bedeutung zu. In besonderer Weise zeigt sich dies an seinen wiederholten Hinweisen auf die Relevanz von »politisch-ideologischen Diskontinuitäten« und die »eigenständigen Prozesse kultureller und politischer Selbstbeobachtung und -thematisierung«. Raphael verdichtet diese zu der »These«, »dass die symbolischen Ordnungsentwürfe, die historischen Semantiken für die Gesellschaften Europas im 20. Jahrhundert von prägender Bedeutung waren«.169 Entsprechend tritt diese Dimension sozio-historischer Analysen in seinen Arbeiten zum Projektzusammenhang »Nach dem Boom« zunehmend deutlicher hervor. Doch die Bipolarität des in »Nach dem Boom« wie in »Jenseits von Kohle und Stahl« leitenden Beobachtungsschemas von Sozialstrukturen auf der einen (politisch-ökonomische Perspektive) und Mentalitäten auf der anderen Seite (sozialmoralische Milieus) scheint schon deshalb erweiterungsbedürftig, weil die Analysen bisher einen schlüssigen Zugriff auf die Trägheits- und ­Bremseffekte differenter gesellschaftlicher Arrangements und damit auf die Konfigurationen 165 166 167 168 169

Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Ebd., S. 146. Ebd., S. 144, 151. Ebd., S. 146. Ebd., S. 143, 144, 145.

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multipler Zeitlichkeit letztlich zu sehr vermissen lassen. In ihrem Strukturierungspotenzial nicht ausgeschöpfte Hinweise für eine entsprechende Erweiterung finden sich gleichwohl an vielen Stellen von Lutz Raphaels Arbeiten. So kann man wohl argumentieren, dass die bei Raphael selbst wie auch schon im Programmentwurf zu »Nach dem Boom« stärkere Gewichtung sozio- bzw. politisch-ökonomischer Aspekte nicht zuletzt die Seite der »Interessen« von Akteuren, Aktionären, Angestellten und Arbeitern betont. Neben dieser Relevanzsetzung von »Interessen« sowie derjenigen von »Ideen« (symbolische Ordnungsentwürfe) reflektiert Raphael in seiner Auseinandersetzung mit Herbert ebenso auf die Bedeutung von »Institutionen« und institutionellen Arrangements für die differenzielle Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen.170 Damit liegt, so die diesen Abschnitt leitende These, den Arbeiten implizit eine Grammatik zugrunde, die objektiv dem Zuschnitt der Analysen Max Webers entspricht und die M. Rainer Lepsius in verschiedenen Studien expliziert hat.171 Danach ging es Raphael mit den vorstehend als leitend identifizierten drei Problemperspektiven unter der Überschrift »Sozio-politische Problemperspektive: Zwischen Nationalität und Globalität« primär um »Interessen«, unter der Überschrift »Sozio-kulturelle Problemperspektive: Gesellschaftliche Bedingungen westlicher Demokratien« waren »Ideen« Gegenstand der Untersuchung und unter der Überschrift »Sozio-strukturelle und sozio-ökonomische Problemperspektiven: Pluralität von Deutungsmustern und Orientierungskrisen« ging es primär um »Institutionen«. Entsprechend dieser Unterscheidung soll nun mit einigen Überlegungen eine Ergänzung und strukturtheoretische Verlängerung im Anschluss an Lutz Raphaels Zeitgeschichtsschreibung angedeutet werden. Interessen – Ideen – Institutionen

Die Begriffe Interessen, Ideen und Institutionen stehen für die von M. Rainer Lepsius im Zuge seiner Lektüre Max Webers entwickelte Analytik eines dynamischen Wechselwirkungszusammenhangs.172 Diese argumentative Kernstruktur seiner Studien hat Lepisus nicht gesondert systematisch entfaltet wie er auch der Konstellationsanalytik seiner Studien keine zusammenfassende Darstellung ge170 Ebd., S. 145, 146. 171 Vgl. dazu insbes. in M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, die Aufsätze (in chronologischer Reihenfolge): »Modernisierungspolitik als Institutionenbildung: Kriterien institutionelle Differenzierung« [1977] (S. 53–62), »Über die Institutionalisierung von Kriterien der Rationalität und die Rolle der Intellektuellen« [1985] (S. 44–52) sowie »Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber« [1986] (S. 31–43). Zudem Lepsius’ Beiträge »Max Weber und das Programm der Institutionenpolitik« [1995], in: ders., Max Weber und seine Kreise. Essays, Tübingen 2016, S. 20–37, sowie »Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung von Rationa­ litätskriterien« [1997], in: ders., Institutionalisierung politischen Handelns. Analysen zur DDR , Wiedervereinigung und Europäischen Union, Wiesbaden 2013, S. 26–39. 172 M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen.

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geben hat. Beides kann im vorliegenden Rahmen ebenso wenig geschehen.173 Die sich anschließenden Bemerkungen verfolgen demgegenüber lediglich den Zweck, den heuristischen Wert der Trias Interessen – Ideen – Institutionen zu nutzen und einen Vorschlag für eine differenzierende temporale Analytik, d. h. eine Differenzierung von Zeitschichten einzubringen. Ausgehend von ihrer werkgenetischen Identifizierung bei Max Weber174 entfaltet Lepsius die Grundlinien der analytischen Trias von Interessen, Ideen und Institutionen am konsequentesten in einer Passage des Vorwortes zu seiner Aufsatzsammlung gleichen Titels. Dort heißt es: »Interessen sind ideenbezogen, sie bedürfen eines Wertbezuges für die Formulierung ihrer Ziele und für die Rechtfertigung der Mittel, mit denen diese Ziele verfolgt werden. Ideen sind interessenbezogen, sie konkretisieren sich an Interessenlagen und erhalten durch diese Deutungsmacht. Institutionen formen Interessen und bieten Verfahrensweisen für ihre Durchsetzung, Institutionen geben Ideen Geltung in bestimmten Handlungskontexten.«175 Legt man diese Analytik zugrunde, dann wird in »Jenseits von Kohle und Stahl« ersichtlich zunächst einmal die Dimension der »Ideen« bedient. Auch wenn aus dem soziologischen Zugriff auf Deutungsmuster im Forschungsprogramm von Lutz Raphael der enger konturierte Blick auf »Ordnungsmuster« wird,176 so zielen die mit diesem Begriff in den Blick genommenen »Strukturmuster« doch auf das, was sich in der Linie Weber – Lepsius als Ideen charakterisieren lässt. Mit den im zweiten Teil von »Jenseits von Kohle und Stahl« präsentierten »Nahaufnahmen«, die Lebensläufe, Betriebe und Sozialräume ins Bild rücken,177 wird dann die Dimension der »Interessen« besonders vielgestaltig für eine bestimmte Trägergruppe ausgeleuchtet. Aber ebenso die Darlegungen zu den Konturen des Finanzmarktkapitalismus verweisen auf Interessen und Politiken von Akteuren  – auf Seiten von Unternehmensmanagern, Aktionären, Belegschaften oder Kapitaleignern. Und wie die Grundrisse zu »Nach dem Boom« sind Raphaels Analysen schließlich auch vom differenzierten Blick auf gesellschaftsspezifische institutionelle Arrangements durchzogen. Das gilt für den sich durchhaltenden komparativen Blick auf identifizierte Handlungsspielräume von Politik, Management und Gewerkschaften angesichts globaler Trends und einer Dominanz neoliberaler Deutungsmuster ebenso wie für die Erosion sozial- und arbeitsrechtlicher Absicherungen178 oder auch bspw. für die Beob173 Vgl. dazu vom Autor zum einen: »Interessen – Ideen – Institutionen: Von Max Webers Idee zur argumentativen Kernstruktur von Lepsius’ Werk« (in Vorber. für 2021) sowie zudem: »Zum analytischen Profil der Soziologie von M. Rainer Lepsius« (in Vorber. für 2021). 174 Vgl. bes. Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, S. 31–43. 175 Ebd., S. 7. 176 Zum Begriff des Ordnungsmusters vgl. Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?, S. 7. 177 Vgl. zsfd. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 348–354, 411–418, 463–466. 178 Ebd., S. 206–225.

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achtung, dass die »Zeit sozialpolitischer Kompromisse […] zu ganz unterschiedlichen Umbauten des [je] eigenen Produktionsregimes« in Frankreich, Großbritannien und (West-)Deutschland genutzt« wurde.179 In besonderer Weise wird dieses Plädoyer für eine Erweiterung der institutionenanalytischen Systematik im Anschluss an Raphael jedoch vor allem durch dessen These gestützt, dass die von ihm favorisierte »gesellschaftsgeschichtliche Perspektive« »am ehesten […] kompatibel« mit einem regulationstheoretischen Ansatz sei, der »das Gewicht historisch gewachsener Institutionen und Einstellungen betont«.180 Erhielte der zeitgeschichtliche Zugriff von Raphael damit einen ergänzenden konzeptionellen Rahmen, der die für die in den Blick genommenen drei Volkswirtschaften sehr unterschiedlichen Prägungsintensitäten und Bahnungseffekte komparativ erschließen kann, so bietet es sich zugleich an, diese analytische Grammatik der Trias von Interessen, Ideen und Institutionen zu nutzen, um der  – in komparativer Hinsicht erklärtermaßen wesentlichen  – differentiellen temporalen Analyse von Beschleunigungs- und Bremseffekten gleichfalls ein Gerüst zu geben. Komparative Analysen benötigen zur Identifizierung »verschiedene[r] Tempi«181 einer Analytik, die das Vergleichen erlaubt und Erklärungen für Beharrungseffekte zu offerieren vermag. Dafür bietet sich erneut die Aufnahme der an Webers kulturvergleichenden Studien abgelesenen Grammatik von Ideen, Interessen und Institutionen an, die Lepsius zugleich dazu dient, soziale Veränderungsdynamiken zu explizieren: »Der Kampf der Interessen, der Streit über Ideen, der Konflikt zwischen Institutionen lassen stets neue soziale Konstellationen entstehen, die die historische Entwicklung offen halten. Aus Interessen, Ideen und Institutionen entstehen soziale Ordnungen, die die Lebensverhältnisse, die Personalität und die Wertorientierung der Menschen bestimmen.«182 Insbesondere Passagen, in denen Lutz Raphael auf die »Beharrungskräfte und Kontinuitätsfaktoren« des Arbeits-, Sozial- und Tarifrechts verweist,183 oder auch die Darlegungen der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei der Durchsetzung einer Shareholder-Value-Economy184 bei verschiedenen Organisierungsgraden lassen die von Lepsius vorgeschlagene Analytik als eine geeignete Systematisierungsfolie für die komparative Analyse von Bahnungs- und Beharrungseffekten erscheinen. Sie könnte den analytischen Blick noch stärker auf die institutionellen Leitideen bspw. gewerkschaftlichen Handelns zur typologischen Unterscheidung von Handlungspraktiken, Protestmustern und Konfliktformen in komparativer Perspektive lenken, und solchermaßen zugleich die Anleitung für eine weiter differenzierende Analyse der Verflechtungsstrukturen der im gesellschaftlichen Feld »Arbeit« strukturell 179 180 181 182 183 184

Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom: Neue Einsichten, S. 189. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 77; vgl. auch S. 73. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom: Neue Einsichten, S. 189. Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, S. 7. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, bspw. S. 244 f. Ebd., S. 56, 73–76, 80.

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aufeinander bezogenen Akteure sowie der jeweiligen Institutionalisierungen von Konfliktstrukturen bieten. Negative Integration

Lepsius selbst hat unter Zugrundelegung der heuristischen Unterscheidung von Ideen, Interessen und Institutionen ebenso eine Perspektive in demokratietheoretischer Hinsicht entwickelt, wenn er argumentiert: »Demokratie ist [als Idee] eine politische Ordnung, die durch intermediäre Strukturen Interessenpluralität und öffentliche Konfliktaustragung ermöglicht [wird] und individuelle Freiheitsräume institutionell sichert.«185 Die Grammatik von Ideen, Interessen und Institutionen eröffnet damit ebenso eine Perspektive auf den für den Forschungszusammenhang »Nach dem Boom« spezifischen Blick auf die »›Krise‹ der westlichen Demokratie«.186 Dieser Blick konzentriert sich auf die politischen Folgen der Erosionsprozesse des sozialmoralischen Milieus der »Malocher« und die »Erosion demokratischer Beziehungsgleichheit«.187 Zur Erfassung gerade auch der exkludierenden Folgen dieses Erosionsprozesses bietet sich die Aufnahme einer weiteren soziologischen Reflexionsfigur an. Die Forschungsprogrammatik von »Nach dem Boom« lebt vom zeitdiagnostischen Impuls veränderter Verhältnisse. Diese Veränderungen werden als Verlustanzeige präsentiert und zwar sowohl als eine solche der »Erosion etablierter Volksparteien und Partizipationsformen«188 als auch als diejenige der »Auflösung kompakter soziokultureller [sic!] Milieus, die um die Figur des männlichen Produktionsarbeiters kreisten«.189 Nimmt man beide Thesen zusammen, dann legt sich für soziologische Leserinnen und Leser die Vermutung nahe, dass hier eine zu Guenther Roths These über einen zentralen Aspekt des Scheiterns der Weimarer Republik strukturell analoge Reflexionsperspektive identifizierbar ist, mit der sich Raphaels Analysen womöglich hinsichtlich der damit gesamtgesellschaftlich diagnostizierbaren Folgen gut weiterdenken lassen. Mit der Formel der »negativen Integration« suchte Roth die Form der politischen (verfassungsmäßigen) Anerkennung der Sozialdemokraten wie der Arbeiterbewegung auf den Begriff zu bringen, die die Entwicklung einer breiten und isolierten Subkultur dieses Milieus befördert hatte.190 »Negative Integration« resultiert Roth zufolge dabei aus der gleichzeitigen Unterdrückung und Gewährung von Freizügigkeit.191 Im Kern ist damit von Roth eine Form der 185 M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 7. 186 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom: Neue Einsichten, S. 190. 187 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 243. 188 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 18. 189 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 472. 190 Guenther Roth, The Social Democrats in Imperial Germany. A Study in Working-Class Isolation and National Integration, Totowa 1963, S. 9 f. 191 Ebd., S. 316.

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»inkludierenden Exklusion« beschrieben, insofern die lediglich formale Tolerierung der Arbeiterbewegung keine systemintegrierende, sondern exkludierende Effekte zeitigte, damit zur weiteren Abkapselung dieses Milieus und zur Ausbildung einer sozialdemokratischen »Subkultur« führte, die – trotz formaler Partizipationsrechte (Vertretungsorgane, Zulassung zu Wahlen) – einen »Zustand der Isolation« nach sich zog. Diese »Subkultur« war insofern »negativ integriert«, als sie für Jahrzehnte zugleich erfolgreich als Mittel der Kontrolle politischer Ausdrucks- bzw. Agitationsformen dieses Milieus, der Parzellierung bzw. Zersplitterung (»dissipation«) politischer Konfliktlinien und somit zugleich als Mittel der Stabilisierung des Kaiserreiches diente.192 Aus diesem Umstand folgert Roth zudem, dass es zugleich dieser Modus der lediglich negativen Integration mit sich brachte, dass die Arbeiterbewegung nach dem Fall des Kaiserreiches keine »konkreten ökonomischen und sozialen Alternativen« zur Gestaltung der Republik offerieren konnte.193 Angesichts dieses Zuschnitts von Roths Argument ist hier die Vermutung leitend, dass sich die von Lutz Raphael zusammengetragenen Bemerkungen auf die übergreifende These einer »negativen Integration« großer Teile der klassischen Industriearbeiterschaft in den von ihm untersuchten drei Gesellschaften bringen lassen, insofern die von Raphaels disgnostizierten Erosionsprozesse auf ihre exkludierenden Folgen hin beobachtet werden. Die sozialmoralische Entkopplung bzw. Entfremdung dieser industriegesellschaftlichen Trägergruppe von gesellschaftlich dominant gewordenen Deutungsmustern führt danach, so ließe sich wohl formulieren, zu einer fortschreitenden Entflechtung wesentlicher Teile der Gesellschaftsmitglieder von den sozialmoralischen Grundlagen des Gemeinwesens – und so u. a. zur politischen Reorientierung und zum politischen Rückzug.194 Im Unterschied allerdings zu Roth muss dessen Argument für eine Passung mit der Analyse Raphaels wohl um eine Komponente erweitert werden: Denn im Unterschied zur Weimarer Konstellation, die den Rückzug in ein intaktes Binnenmilieu ermöglichte, wenn nicht gar beförderte, zeigt der aktuelle Prozess negativer Integration umgekehrt eine ebenso beschleunigte wie zugespitzte Dynamik aufgrund der flankierenden Erosion des potenziellen sozialmoralischen Rückzugsmilieus – mit dem Ergebnis sowohl einer weitgehenden Entwurzelung als auch einer Mobilisierungsoffenheit für radikalisierte bzw. extreme politische Angebote.195

192 193 194 195

Ebd., S. 315. Ebd., S. 316. Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 140 f., 143–204. Vgl. ebd., S. 141, 145, 200. Dazu auch: Martin Endreß u. a., Aktualität der Demokratie. Strukturprobleme und Perspektiven, Weinheim 2020.

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6. Fazit Das Verhältnis zur Soziologie ist bei Lutz Raphael ein kritisch-konstruktives. So könnten die hier aus soziologischer Perspektive vorgelegten Anfragen zum zeitlichen, räumlichen und konzeptionellen Zuschnitt seiner »Gesellschaftsgeschichte«196 und das damit verbundene Plädoyer für eine weitere Einbindung soziologischer Analytik zu systematischen Zwecken paradox anmuten. Jedoch ist dies nur scheinbar der Fall bei einem Autor, der an zahlreichen Stellen zugleich Abgrenzungen und Distanzierungen von soziologischen Deutungs- und Theorieangeboten kommuniziert.197 Dabei fußt der Zuschnitt von Raphaels Analyse, mehr als es diese manchmal eingestreuten kritischen Bemerkungen erkennen lassen, auf soziologischen Argumenten. Pointiert formuliert: Das gesamte Forschungsprogramm, die leitende Forschungsidee von »Jenseits von Kohle und Stahl« gibt sich als Kompositionseffekt und Weiterentwicklung soziologischer Theorie- und Forschungsprogrammatik zu erkennen.198 196 Vgl. dazu die Hinweise in Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 19, 77, 92, 118, 138, 144, 146. 197 Vgl. ebd., 13, 25, 99 f., 110 f., 111 f., 114, 116 f., 139, 164, 194, 210 f., 213, 255, 259 f., 262, 300, 308 – Abgrenzungen, die bisweilen lustvoll auf Etikettierungen wie »Zeitdiagnostiker« (ebd., S. 255) und »Propheten« (ebd., S. 259, 262) zugespitzt werden. 198 So sind es »sechs Forschungsideen«, die Raphael als Leitwährungen seiner Studie angibt: 1) die industriesoziologische These (Michael J. Piore / Charles F. Sabel, The Second Industrial Divide. Possibilities for Prosperity, New York 1984), »dass es im Zuge der dritten industriellen Revolution zu massiven Strukturveränderungen in den Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit kommen werde«; 2) die bildungssoziologische These ­(Stéphane Beaud / Michel Pialoux, Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die PeugeotWerke von Sochaux-Montbéliard [1999], Konstanz 2004), dass Probleme sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Diskriminierung nicht durch eine Pluralisierung und Inflationierung von Bildungstiteln beseitigt werden können; 3) die industriesoziologische These (Hermann Kotthoff, »Betriebliche Sozialordnung« als Basis ökonomischer Leistungsfähigkeit, in: Jens Beckert / Christoph Deutschmann (Hg.), Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2010, S. 428–446) einer genuinen Bedeutung sozio-kultureller Aspekte für innerbetriebliche Kooperations- und Konfliktaustragungsformen; 4) die soziologisch-sozialphilosophische These (Axel Honneth, Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992) eines auch den u. a. tariflichen »Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt« fundamental zugrundeliegenden Kampfes um »soziale Anerkennung«; 5) die kultur- und herrschaftssoziologische These (Pierre Bourdieu u. a., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft [1993], Konstanz 1997), dass sozialräumliche Veränderungen von Lebensverhältnissen eine symbolische Dimension und somit Effekte für die »symbolische Bewertung« nach sich ziehen; sowie 6) die ethnologische These (Olivier Schwartz, Peut-on parler des classes populaires?, in: La vie des idées 2011–09–13 (online: https://laviedesidees.fr/Peut-on-parler-des-classes.htm, aufgerufen am 27.12.2019)) eines unmittelbaren Zusammenhangs von »sozioökonomischer Ungleichheit und kultureller … Differenz« – ein ebenso u. a. auf Bourdieu zurückgehendes Argument (vgl. ebd., S. ­27–29). Diese Komposition eines deutsch-französischen Dialogs  – der noch

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Diese Einschätzung hat weit mehr als nur Rubrizierungs- oder Denominationsimplikationen, die hier nicht interessieren: Denn der soziologische Zuschnitt des historischen Arguments galt in gleicher Weise schon für die Exposi­tion in »Nach dem Boom«, wo die Autoren die von ihnen identifizierten »Konturen der neuen Epoche« – also der Mitte der 1990er Jahre potenziell endenden Zeit ›nach dem Boom‹ – als die des »digitalen Finanzmarktkapitalismus« auf der Grundlage des gesellschaftsanalytischen Zugriffs von Becks »Risikogesell­schaft«, im Rekurs auf die Anfang der 2000er Jahre erschienenen mediensoziologischen Analysen von Manuel Castells sowie die industrie- und wirtschaftssoziologischen Studien von Christoph Deutschmann und Paul Windolf ausmachten.199 Jenseits aller immer wieder eingestreuten Kritik an der bisweilen offenkundigen Großflächigkeit soziologischer Begriffe und dem ebenso regelmäßig beobachtbaren Flug über den Wolken soziologischer Diagnostik wie Prognostik,200 gibt sich das Werk von Lutz Raphael letztlich im Kern doch zu erkennen als das einer sich wechselseitig bekräftigenden inter- wie transdisziplinären Kooperation. Denn die Kritik richtet sich zu Recht gegen vereinheitlichende Begrifflichkeiten und Theorieangebote, insofern Lutz Raphael die Jahre nach 1970 gerade als Differenzgeneratoren mit Blick auf seine drei Vergleichsgesellschaften stark macht.201 Mit »Jenseits von Kohle und Stahl« liegt damit genau genommen keine »Gesellschaftsgeschichte« und auch keine solche »Westeuropas« vor – dafür fehlen in der einen Richtung u. a. Bildung, Religion und Kultur202 und in der anderen Richtung eine plausible Grenzziehung des Bezugs- bzw. Referenzhorizontes des Argumentes. Lutz Raphael legt demgegenüber eine beeindruckende »Gesellschaftsgeschichte industrieller Arbeit«203 in der zweifachen Beobachtungsperspektive von nationalen Ordnungsstrukturen und sozialmoralischen Milieubeschreibungen »von unten« vor. Mit dieser doppelten Phänomenbeschreibung geht es erstens um »Einsichten in die Dynamik wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit«, also um die Darstellung des »Aufwuchs[es] an ökonomischer, politischer und sozialer Ungleichheit«, und zweitens um einen Beitrag »zum Verständnis der aktuellen Krise der liberalen Demokratie«.204 Damit verfolgt angereichert wird um die Einbeziehung der Arbeiten zur »Beziehungsgleichheit« des französischen Historikers Rosanvallon mit Blick auf die vierte Forschungsidee (vgl. Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen [2011], Hamburg 2013) sowie die Anlehnung an die sozialwissenschaftliche Biographie- und Lebenslaufforschung (vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 298–354) – gibt die soziologische Grammatik dieser historischen Analyse klar zu erkennen. 199 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, 2012, S. 26 f.; Deutschmann, Finanzmarkt-Kapitalismus; Windolf, Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus? 200 Vgl. u. a. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 418. 201 Ebd., S. 12, 64, 71, 77, 83, 216 f., 234, 260–285. 202 Ein Umstand, den Raphael auch selbst einräumt. Vgl. ders., Jenseits von Kohle und Stahl, S. 471. 203 Ebd., S. 11. 204 Ebd., S. 12.

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das Buch letztlich so etwas wie eine umgekehrte Modernisierungsgeschichte, die aus dem Niedergang von ökonomisch begründeten Lebenschancen auf demokratische Kriseneffekte schließt. Der Kette Industrialisierung – Wohlstand –  Demokratie wird so die Reflexionskette Deindustrialisierung – Ungleichheit – ​ Demokratiekrise entgegengestellt.205 Aufgrund ihrer Beobachtungseinstellung präsentiert »Jenseits von Kohle und Stahl« insgesamt eine Geschichte der unterschiedlichen Veränderungsdynamiken industrieller Arbeit in Teilen Westeuropas seit den 1970er Jahren. Die Zeitspanne ›nach dem Boom‹ gibt sich so als Phase des Umbruchs zu erkennen – als keineswegs abgeschlossen, sondern mit offenen Enden, d. h. mit divergenten Bahnungseffekten als andauernd erkennbar wird. Einem Autor, dessen methodischer Zugriff wie theoretisch-konzeptioneller Zuschnitt so ausgeprägt auf der Aufnahme und Weiterentwicklung soziologischer Analysen und Theorien ruht, ist insgesamt eine noch intensivere Rezeption im Rahmen der Soziologie zu wünschen. Nicht zuletzt die detaillierten Materialauswertungen im Werk von Lutz Raphael sind im Lichte einer soziologisch strukturierten Analytik nicht nur dazu angetan, sowohl den Detailierungsgrad wie den Differenzierungsgrad zeitgeschichtlicher wie soziologisch-gegenwartsdiagnostischer Beobachtungen ungemein zu erhöhen, sondern sie eröffnen für beide disziplinären Kontexte zugleich überaus vielversprechende neue Forschungsfragen und somit Kooperationschancen.

205 Eine Umkehrung, die gleichwohl die Gefahr einer inversen Teleologisierung mit sich bringt; einer Teleologisierung, die ihrerseits gerade zur Verabschiedung der klassischen modernisierungsanalytischen Programmatik in der Soziologie mit dem Ziel der Überwindung teleologischen Denkens mit Blick auf gesamtgesellschaftliche Konstellationen geführt hatte. Fast scheint es so, als erliege die realistische Wendung der als Heuristik fruchtbaren Konstellationshypothese »Nach dem Boom« gerade den Problemen, die Raphael seinerseits mit Blick auf die soziologische Modernisierungstheorie – zu Recht – formuliert hatte: »Kritik an den teleologischen Überschüssen und den makrogeschichtlichen Konstruktionszwängen« (Raphael, Ordnungsmuster der »Hochmoderne?«, S. 135).

Beiträgerverzeichnis Herausgeber Marx, Christian, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Leibniz Institute for Contemporary History E-Mail: [email protected] Reitmayer, Morten, PD Dr., Vertreter des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier E-Mail: [email protected]

Autorenliste Angster, Julia, Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim und Leiterin des Universitätsarchivs E-Mail: [email protected] Dipper, Christof, Prof. Dr. em., Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der TH Darmstadt E-Mail: [email protected] Doering-Manteuffel, Anselm, Prof. Dr. em., Lehrstuhl für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte an der Eberhard Karls-Universität Tübingen E-Mail: [email protected] Eckel, Jan, Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte an der Eberhard Karls-Universität Tübingen E-Mail: [email protected] Eckert, Andreas, Prof. Dr., Professor für die Geschichte Afrikas an der Humboldt-Universität Berlin und Direktor des IGK Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive E-Mail: [email protected] Endreß, Martin, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Trier E-Mail: [email protected]

Beiträgerverzeichnis

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Gestrich, Andreas, Prof. Dr. i. R., Professor der Neueren Geschichte an der Universität Trier und Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London E-Mail: [email protected] Herbert, Ulrich, Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg E-Mail: [email protected] Hesse, Jan-Otmar, Prof. Dr., Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bayreuth E-Mail: [email protected] Hockerts, Hans Günter, Prof. Dr. i. R., Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München E-Mail: [email protected] Jäckel, Michael, Prof. Dr., Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Konsumund Kommunikationsforschung an der Universität Trier (zurzeit beurlaubt), Präsident der Universität Trier E-Mail: [email protected] Lehmkuhl, Ursula, Prof. Dr., Lehrstuhl für Internationale Geschichte an der Universität Trier E-Mail: [email protected] Mayer-Ahuja, Nicole, Prof. Dr., Professorin für Soziologie mit den Schwerpunkten Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft sowie Direktorin am Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität Göttingen (SOFI) E-Mail: [email protected] Rückert, Joachim, Prof. Dr. Dr. h. c. em., Lehrstuhl für Neuere Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte, Zivilrecht und Rechtsphilosophie an der Goethe Universität Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] Saldern, Adelheid von, Prof. Dr. i. R., Professorin für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover E-Mail: [email protected] Süß, Winfried, PD Dr., Leiter der Abteilung »Regime des Sozialen«, LeibnizZentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam E-Mail: [email protected]

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Beiträgerverzeichnis

Tanner, Jakob, Prof. Dr., Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der neueren und der neuesten Zeit an der Universität Zürich E-Mail: [email protected] Weischer, Christoph, Prof. Dr., Professur für Methoden der Sozialstrukturanalyse an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster E-Mail: [email protected] Windolf, Paul, Prof. Dr. em., Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Arbeit, Personal und Organisation an der Universität Trier E-Mail: [email protected]