Religiöse Bewegungen im Mittelalter: Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag 9783412332457, 9783412200602

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Religiöse Bewegungen im Mittelalter: Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag
 9783412332457, 9783412200602

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Religiöse Bewegungen im Mittelalter

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 24 Zugleich: Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung Band 19

Enno Biinz, Stefan Tebruck, Helmut G. Walther (Hg.)

Religiöse Bewegungen im Mittelalter Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag

§ 2007 BÜHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Thüringer Kultusministeriums, der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung und der 5

Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus dem Matthäus-Evangelium mit der Aufforderung Jesu zur Nachfolge (Mt. 16, 24): si quis vult post me venire abneget semet ipsum et tollat crucem suam et sequatur me. - Handschrift des Matthäus-Evangeliums mit dem Kommentar der ,Glossa ordinaria', 12. Jh., Augustiner-Chorherrenstift zum Neuen Werk in Halle/Saale. Gotha, Forschungsbibliothek, Memb I 42, fol. 39r

© 2007 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: MVR Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20060-2

Inhaltsverzeichnis

Grußwort des Vorsitzenden der Historischen Kommission für Thüringen

IX

Grußwort des Geschäftsführers der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen

XI

Einführung der Herausgeber, Tabula gratulatoria

XIII XXV

Christentum und Kirche im frühen Mittelalter Heike Grahn-Hoek Quia Deipotentia cunctorum regnorum terminos singulari dominatione concludit. Kirchlicher Einheitsgedanke und weltliche Grenzen im Spiegel der reichsfränkischen Konzilien des 6. Jahrhunderts

3

Irmgard Fees possessiones in quibuslibet pagis et territoriis. Zu Immunitätsprivilegien und kirchlichem Fernbesitz im 9. Jahrhundert

55

Bernd W. Bahn Die Michaelskapelle auf dem Kleinen Gleichberg bei Römhild

79

Adlige Frömmigkeit Helge Wittmann Zur Rolle des Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern in Thüringen (bis zum Ende der Regierungszeit Karls des Großen)

107

VI

INHALTSVERZEICHNIS

Thomas Zotz Markgraf Hermann von Verona und Graf Eberhard von Nellenburg. Religiöser Aufbruch und adlige conversio im Schwaben des 11. Jahrhunderts

155

Ulrich Ritzerfeld Der Ritter Tammo von Beltershausen, Kloster Berich und die Stadtgründung von Frankenberg an der Eder. Ein Beitrag zur Klostergeschichte und zur ludowingischen Ministerialität in Hessen Mitte des 13. Jahrhunderts

173

Holger Kunde Der Westchor des Naumburger Doms und die Marienstiftskirche. Kritische Überlegungen zur Forschung

213

Monastische Prägungen und klösterliche Ordnung Rudolf Schieffer Aus dem „Hafen des Klosters" auf die Cathedra Petri. Zur monastischen Herkunft frühmittelalterlicher Päpste

241

Ursula Braasch-Schwersmann Brüder und Schwestern der Wilhelmiten - das Kloster in Limburg an der Lahn und die Klause in Fachingen

251

Joachim J. Halbekann Zur Geschichte einer bislang unerforschten Bailei des Antoniterordens: Esslingen am Neckar

281

Matthias Eifler Ein Reformstatut für das Merseburger Benediktinerkloster St. Peter und Paul

309

Jörg Voigt Die Inkluse Elisabeth von Beutnitz (1402-1445). Zum Inklusenwesen in Thüringen

347

Elke-Ursel Hammer Substrukturen, Zentren und Regionen in der Bursfelder Benediktinerkongregation

397

INHALTSVERZEICHNIS

VII

Enno Bünz Gezwungene Mönche, oder: Von den Schwierigkeiten, ein Kloster wieder zu verlassen

427

Reinhard Schmitt Die Kirche des Benediktinernonnenklosters Stötterlingenburg bei Osterwieck. Ein Beitrag zur frühen Baugeschichte

447

Armut und Nachfolge Christi Mathias Kälble Die tanzenden Kinder von Erfurt. Armut, Frömmigkeit und Heilserwartung im frühen 13. Jahrhundert

479

Ingrid Würth Altera Elisabeth. Königin Sancia von Neapel (1286-1345) und die Franziskaner

517

Volker Leppin Begine und Beichtvater. Zu den Dominikanerpartien im fließenden Licht der Gottheit' Mechthilds von Magdeburg

543

Petra Weigel Thomas Weiß. Franziskaner in Eisenach - Guardian in Langensalza - Evangelischer Kaplan in Gotha

555

Thomas Doepner Elisabeth von Thüringen in schuldidaktischer Perspektive. Welche Möglichkeiten gibt es und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um Elisabeth von Thüringen im Schulunterricht zu behandeln?

605

Heilige, Wunder und Wallfahrt Petr Kubin Zur Heiligsprechung der böhmischen Fürstin Ludmila ( | 921). Ein Beitrag zu den böhmisch-bayrischen Beziehungen im Frühmittelalter

631

VIII

INHALTSVERZEICHNIS

Johannes Helmrath Aktenversendung und Heilungswunder. Peter von Luxemburg (1369-1387) und die Überlieferung seines Kanonisationsprozesses

649

Johannes Mötsch Die Wallfahrt St. Wolfgang in Hermannsfeld

673

Christen, Ketzer und Nichtchristen Klaus Krüger Saladin der Seefahrer. Zur Wahrnehmung des muslimischen Gegners in der altnordischen Literatur aus der Zeit der Kreuzzüge

703

Helmut G. Walther Innocenz III. und die Bekämpfung der Ketzer im Kirchenstaat. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Vergentis in Senium

723

Maike Lämmerhirt Die Ritualmordlegende im thüringischen Raum und die Verfolgung der Juden von Weißensee 1303

737

Anhang Verzeichnis der Publikationen von Matthias Werner

765

Verzeichnis der von Matthias Werner betreuten Dissertationen und Habilitationen

775

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

779

Bildnachweis

783

Grußwort

Professor Dr. Matthias Werner, seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für „Thüringische Landesgeschichte und Mittelalterliche Geschichte" an der FriedrichSchiller-Universität Jena, wurde im Jahre 1994 als Mitglied in die „Historische Kommission für Thüringen" berufen und rückte drei Jahre später als stellvertretender Vorsitzender in deren Vorstand auf. Von März 2000 bis März 2006 hatte er für zwei Wahlperioden das Amt des Vorsitzenden inne. Damit gab es für ein halbes Dutzend Jahre für die Landesgeschichtsforschung in Thüringen eine optimale Konstellation. Der Inhaber des Jenaer landesgeschichtlichen Lehrstuhls leitete zugleich die Geschicke des einzigen übergreifenden wissenschaftlichen Gremiums zur Erforschung der Thüringischen Geschichte. Mit einem weit überdurchschnittlichen Engagement verstand es Matthias Werner, den Vorstand und die Mitglieder der „Historischen Kommission für Thüringen" zu motivieren und zu führen. Mit seiner zupackenden und zugleich ausdauernden Art, aber auch mit großem diplomatischem Geschick und einem nicht selten bis an die Grenzen der physischen Leistungsfähigkeit gehenden Einsatz an Kraft und Zeit hat er eine vorzügliche Arbeit geleistet. Sechs aufwändigen „Tagen der Thüringischen Landesgeschichte", sechs Mitgliederversammlungen, unzähligen Vortragsabenden und Buchpräsentationen hat Matthias Werner seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt. Das Renommee der „Historischen Kommission für Thüringen" in der wissenschaftlichen Welt, in der Vereinslandschaft Thüringens und bei führenden Politikern des Freistaats Thüringen ist zu einem wesentlichen Teil sein ganz persönliches Verdienst. In Zeiten, in denen alles nach den Maßstäben tatsächlicher oder vermeintlicher Exzellenz der Forschung gemessen wird, hat es die Landesgeschichte nicht leicht. Landesgeschichtliche Grundlagenforschung, die Edition mittelalterlicher Urkunden und die Herausgabe neuzeitlicher Quellen ist kaum „clusterkompatibel". Für das Land, in dem wir leben, für den Freistaat Thüringen, ist die landesgeschichtliche Forschungs- und Publikationstätigkeit jedoch von großer wissenschaftlicher, kultureller und identitätsstiftender Bedeutung. Matthias Werner hat anspruchsvolle landesgeschichtliche Grundlagenforschung mit der „Basisarbeit" überall im Lande vorbildlich verknüpft. Dies ist umso mehr hervorhebenswert, als es in Thüringen nach 1989/90 einen erheblichen Forschungsrückstand aufzuholen galt und die Ressourcen, die hierfür zur Verfügung stehen, im Vergleich mit anderen Bundesländern

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GRUßWORT

auch nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung bescheiden blieben. Zu jenen Entscheidungen, die unter dem Vorsitz von Matthias Werner getroffen wurden, gehört der Wechsel der „Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen" zum Böhlau Verlag Köln/Weimar/Wien im Jahre 2002. Die Große und die Kleine Reihe haben seither großen Auftrieb erhalten und beträchtliches Renommee erworben. Von 2000 bis 2006 erschienen unter der Reihenherausgeberschaft von Matthias Werner mehr als 20 Bände. So war es dem Vorstand der „Historischen Kommission für Thüringen" eine Freude, der Bitte der Herausgeber um Aufnahme dieser Festschrift in ihre Kleine Reihe rasch und einstimmig zu entsprechen. Wir entbieten dem Jubilar mit dieser Entscheidung zugleich einen herzlichen Gruß und verbinden dies mit allen guten Wünschen für den akademischen (Un-) Ruhestand, für eine reiche wissenschaftliche Ernte auch in den nächsten Jahren sowie für beste Gesundheit und Schaffenskraft. Matthias Werner vermochte es, als Universitätsprofessor und als Vorsitzender der „Historischen Kommission für Thüringen" höchste wissenschaftliche Ansprüche und eine große persönliche Leistungsbereitschaft mit kollegialem Respekt und menschlicher Wärme zu verknüpfen. Mit unermüdlichem Einsatz gelang es ihm, zahlreiche Projekte nicht nur auf den Weg, sondern auch ans Ziel zu bringen. Er hat Mitstreiter motiviert und mit zahlreichen Vorträgen und Einführungen seine Zuhörer fasziniert. Dabei war ihm in seiner Jenaer Zeit von Anfang an ein unverwechselbarer Personalstil eigen. Für die „Historische Kommission für Thüringen" gilt nicht zuletzt wegen dieses Stils, dass die „Ära Werner" weder kopiert werden kann noch kopiert werden soll. Seinem Amtsnachfolger und dem gesamten Vorstand ist diese Ära aber Ansporn für die gegenwärtige und künftige landesgeschichtliche Arbeit. Unsere herzliche Verbundenheit gilt gleichermaßen dem Wissenschaftler wie dem Menschen Matthias Werner.

Prof. Dr. Werner Greiling Vorsitzender der Historischen Kommission für Thüringen

Ein Wort noch vorab

Dem Wissenschaftler, akademischen Lehrer und langjährigen Vorsitzenden der Historischen Kommission für Thüringen Professor Dr. Matthias Werner ist die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen seit vielen Jahren eng verbunden. Als engagierter Landesgeschichtler hat er entscheidend dazu beigetragen, dass Thüringen und seine Geschichte in der allgemeinen Mittelalterforschung und in den aktuellen Debatten zur Geschichte der Geschichtswissenschaften und ihrer Institutionen wieder neues Gewicht erlangt haben. Die Stiftung hat dabei immer wieder helfen können, wenn sie um Unterstützung für die Durchführung von Tagungen oder die Drucklegung von Publikationen gebeten wurde. Doch hat sich jenseits dieser klassischen Felder der Zusammenarbeit mit einer Kulturstiftung eine wesentlich engere Kooperation entwickelt. Dazu hat entscheidend beigetragen, dass Matthias Werner seinen Beruf vor allem auch als Berufung zum Wirken ins Land hinein interpretiert hat. Ihm ist Thüringen ein besonders spannendes Exemplar jener Spiegel, in denen sich der gesamte Kosmos historischer Erscheinungsformen und historischen Wandels wieder findet und sich je spezifisch ausprägt. Dies nicht nur der Fachwelt, sondern den Menschen im Lande selbst deutlich vor Augen zu führen, ihr Wissen um die eigene Geschichte zu mehren und damit auch ihre Heimatverbundenheit zu steigern, ist Matthias Werner seit seiner Berufung auf den Lehrstuhl für „Thüringische Landesgeschichte und Mittelalterliche Geschichte" der Universität Jena ein wichtiges Anliegen. Für die Stiftung hat er seine besondere Fähigkeit zur Vermittlung komplexer historischer Sachverhalte an ein breites Publikum etwa als Autor einer kleinen Publikation zu den Anfängen der Geschichte Arnstadts eingesetzt, deren Anlass das 1300-jährige Jubiläum der Stadt gewesen ist. Das Bild von der Frühzeit Arnstadts geriet ihm dabei unversehens zu einem beeindruckenden Epochengemälde Thüringens in karolingischer Zeit. Für die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen war es keine Frage, Matthias Werner auch in seiner Aufgabenstellung als wissenschaftlicher Leiter der 3. Thüringer Landesausstellung „Elisabeth von Thüringen - Eine europäische Heilige" nach Kräften zu unterstützen. In vertrauter Partnerschaft haben wir in den zurückliegenden Monaten finanzielle und persönliche Hilfe geleistet. Wir haben verlässlich das Ziel unterstützt, eine anspruchsvolle Ausstellung zu einem faszinierenden Kapitel thüringischer Landesgeschichte und europäischer Kulturgeschichte zu realisieren, dies alles auch in dem Wissen um die besondere Bedeutung des Themas und des

XII

GRUßWORT

Projektes für Matthias Werner selbst. Den Mitarbeiterinnen der Stiftung, insbesondere den Historikern unter ihnen, war diese enge, partnerschaftliche Zusammenarbeit eine große Freude und Ehre zugleich.

In enger Verbundenheit und mit allen guten Wünschen für die Zukunft,

Ihr Dr. Thomas Wurzel Geschäftsführer der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen

Zur Einführung

Das Umschlagbild dieses Bandes gibt mit dem im Matthäus-Evangelium überlieferten Christuswort - „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Mt 16, 24) - eines der großen Leitmotive der religiösen Bewegungen des Mittelalters wieder. Der abgebildete Ausschnitt zeigt diesen Vers in einer Handschrift des 12. Jahrhunderts, die aus dem Augustiner-Chorherrenstift zum Neuen Werk in Halle (Saale) stammt und den Evangelientext mit den interlinear eingetragenen Bemerkungen und den Randkommentaren der ,Glossa ordinaria' enthält1 . Der Schriftzug mit seiner Kommentierung zwischen den Zeilen veranschaulicht gleichsam das vielstimmige und sich im Lauf der Zeiten wandelnde Bemühen der Zeitgenossen, die je eigene Auslegung der Christusnachfolge zu finden. Die mittelalterliche Vielfalt der dabei entwickelten Lebensformen und deren Trägergruppen zu studieren und nach dem Spannungsverhältnis zwischen individueller, persönlicher Lebensentscheidung auf der einen und den sich wandelnden kirchlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen auf der anderen Seite zu fragen, stellt seit langem einen der Forschungsschwerpunkte von Matthias Werner dar. Schüler, Freunde und Kollegen überreichen dem Jubilar anlässlich seines 65. Geburtstages und seiner Emeritierung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena diese Festgabe. Sie vereint insgesamt 26 Beiträge, die der mittelalterlichen Kirchen-, Kloster- und Frömmigkeitsgeschichte gewidmet sind, jenen Themenfeldern also, mit denen sich Matthias Werner in den vergangenen rund drei Jahrzehnten intensiv auseinandergesetzt hat. Am Beginn seines wissenschaftlichen Werdegangs stand indes die Beschäftigung mit dem frühmittelalterlichen Adel im fränkischen Reich. Der karolingischen Zentrallandschaft im Lütticher Raum galt seine 1971 bei Walter Schlesinger (1908-1984) in Marburg vorgelegte Dissertation2. In den folgenden Jahren wandte sich Matthias Werner mit seiner Marburger Habilitationsschrift dem Adel im Umfeld der frühen Karolinger an Maas und

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2

Gotha, Forschungsbibliothek, Memb I 42, fol. 39r. Vgl. hierzu zuletzt Matthias ElFLER, Bibel aus dem 12. Jahrhundert, in: Elisabeth von Thüringen - eine europäische Heilige. Katalog, unter Mitarbeit von Uwe JOHN und Helge WITTMANN hg. von Dieter BLUME und Matthias WERNER (2007) Nr. 48, S. 105f. Der Lütticher Raum in frühkarolingischer Zeit. Untersuchungen zur Geschichte einer karolingischen Stammlandschaft (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 62, 1980).

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Z U R EINFÜHRUNG

Mosel zu (1982) 3 . Die Erforschung der frühmittelalterlichen Führungsschichten in einem der Kernräume des Frankenreichs wurde mit diesen beiden Untersuchungen auf eine neue Grundlage gestellt. Das Frühe Mittelalter blieb ein wichtiger Schwerpunkt seiner weiteren Arbeit, die ihn nicht nur in den rheinisch-lothringischen Raum, sondern auch nach Thüringen führte. Denn bereits mit seiner 1973 erschienenen Studie über die Gründungstradition des Erfurter Petersklosters, die er seinem Marburger Lehrer Walter Schlesinger zum 65. Geburtstag widmete, legte Matthias Werner einen gewichtigen Beitrag zur thüringischen Geschichte im Früh- und Hochmittelalter vor 4 . Nicht weniger galt sein Interesse den Themen Mission und Christianisierung im Frankenreich sowie Adel und Klostergründung im 8. Jahrhundert 5 . Von 1971 bis 1984 im Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg tätig, das nach der Emeritierung Walter Schlesingers unter der Leitung von Fred Schwind (1929-2004) stand, war Matthias Werner maßgeblich an der wissenschaftlichen Konzeption der großen Marburger Ausstellung anlässlich des 750. Todestages der heiligen Elisabeth von Thüringen (1981) beteiligt. Marburg war nicht nur durch die Elisabethkirche mit dem Grab der Heiligen ein hervorragender Erinnerungsort für die Geschichte der ludowingischen Landgrafen von Thüringen in Westdeutschland, sondern die Stadt an der Lahn bot auch durch die dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde angegliederte Forschungsstelle für die Geschichte der mitteldeutschen Länder hervorragende wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeiten, um sich mit der Geschichte der heiligen Elisabeth und der Landgrafen von Thüringen östlich und westlich der innerdeutschen Grenze auseinander zu setzen. Elisabeth von Thüringen war für Matthias Werner jedoch nicht nur ein landesgeschichtliches Thema. In diesem Zusammenhang eröffnete er vielmehr durch die Beschäftigung mit den religiösen Bewegungen im Umfeld Elisabeths und der Hagiographie der Heiligen zwei neue Themenfelder, die in den folgenden Jahren von zentraler Bedeutung für seine Arbeit blieben. Aus dieser intensiven, bis heute anhaltenden Forschungstätigkeit sind zahlreiche Studien sowohl zu Leben und

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Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger. Die Verwandtschaft Irminas von Oeren und Adelas von Pfalzel. Personengeschichtliche Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Führungsschicht im Maas-Mosel-Gebiet (VuF Sonderbd. 28, 1982). Die Gründungstradition des Erfurter Petersklosters (VuF Sonderbd. 12, 1973). Genannt seien hier nur die beiden größeren Arbeiten: Iren und Angelsachsen in Mitteldeutschland. Zur vorbonifatianischen Mission in Hessen und Thüringen, in: Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, hg. von Heinz LÖWE (Veröffentlichungen des EuropaZentrums Tübingen - Kulturwissenschaftliche Reihe, 1982) 1 S. 239-318, und: Zur Rolle des fränkischen Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern im mittleren Maasgebiet, in: Sint-Servatius, bisschop van Tongeren-Maastricht. Het vroegste Christendom in het Maasland (1986) S. 97-124.

Z U R EINFÜHRUNG

XV

Wirken und zur Hagiographie der heiligen Elisabeth von Thüringen, als auch zur mittelalterlichen Frömmigkeitsgeschichte insgesamt hervorgegangen.6 1984, kaum zwei Jahre nach der Habilitation, folgte Matthias Werner einem Ruf auf die Professur für Mittelalterliche Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühmittelalter an der Universität Köln. Dort setzte er nicht nur seine frühmittelalterlichen Studien fort, sondern dehnte seine früheren Untersuchungen zur Herkunftslandschaft der Karolinger an Rhein und Maas auf die früh- und hochmittelalterliche Geschichte Lothringens, der Rheinlande und Kölns sowie auf die hochmittelalterliche Verfassungsgeschichte dieses Raumes insgesamt aus.7 Zugleich knüpfte er an die in Marburg einsetzende Beschäftigung mit den monastischen Bewegungen des Früh- und Hochmittelalters und den religiösen Aufbrüchen des 12. und 13. Jahrhunderts an8. Nicht zuletzt in den von ihm in Köln betreuten Dissertationen zur Geschichte der Grafen von Sayn, zur Entwicklung des Kölner Erzstifts und zu den Reformorden der Zisterzienser und Prämonstratenser spiegeln sich die thematischen Interessen von Matthias Werner während der Kölner Jahre wider9. Als es nach der Wende von 1989/90 und der deutschen Wiedervereinigung an dem seit Oktober 1990 in mehreren Schritten wiederbegründeten 6

Siehe hierzu den zusammen mit Carl Graepler und Fred Schwind herausgegebenen Marburger Ausstellungskatalog: Sankt Elisabeth. Fürstin - Dienerin - Heilige. Aufsätze, Dokumentation, Katalog. Hg. von der Philipps-Universität Marburg in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde (1981), und seinen für die Frage nach der Spiritualität der hl. Elisabeth zentralen Beitrag in diesem Band: Die heilige Elisabeth und Konrad von Marburg (S. 45-69). Im Kontext der wissenschaftlichen Vorbereitungen der Marburger Elisabeth-Ausstellung entstand auch der grundlegende Aufsatz: Die Heilige Elisabeth und die Anfänge des Deutschen Ordens in Marburg, in: Marburger Geschichte. Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen, hg. namens des Magistrats der Stadt Marburg von Erhart DETTMERING / Rudolf GRENZ (1979) S. 121-164.

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Zu nennen sind hier vor allem die beiden umfangreichen Aufsätze: Der Herzog von Lothringen in salischer Zeit, in: Die Salier und das Reich 1, hg. von Stefan WEINFURTER (1992) S. 367-473; Prälatenschulden und hohe Politik im 13. Jahrhundert. Die Verschuldung der Kölner Erzbischöfe bei italienischen Bankiers und ihre politischen Implikationen, in: Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag, hg. von Hanna VOLLRATH / Stefan WEINFURTER (1993) S. 511-570. Siehe den Beitrag: Wege der Reform und Wege der Forschung. Eine Zwischenbilanz, in: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert, hg. von Raimund KOTTJE / Helmut MAURER (VUF 38, 1989) S. 247-269, sowie die beiden grundlegenden Studien zur Elisabeth-Hagiographie im Spätmittelalter: Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda als Beispiel spätmittelalterlicher Hagiographie, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. von Hans PATZE (VuF 31, 1987) S. 523-541, und: ,Mater Hassiae' - ,Flos Ungariae' - ,Gloria Teutoniae'. Politik und Heiligenverehrung im Nachleben der hl. Elisabeth von Thüringen, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. von Jürgen PETERSOHN (VuF 42, 1994) S. 449-540.

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Zu verweisen ist auf die von Matthias Werner angeregten und betreuten Kölner Dissertationen von Joachim J. Halbekann, Ulrich Ritzerfeld, Robert Prößler, Uta Garbisch und Thomas Doepner; vgl. das Verzeichnis der Dissertationen und Habilitationen im Anhang.

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Z U R EINFÜHRUNG

Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena den Lehrstuhl für Thüringische Landesgeschichte und Mittelalterliche Geschichte zu besetzen galt, war Matthias Werner wie kaum ein anderer prädestiniert, diese Aufgabe zu übernehmen. Hatte er bereits mit seiner Untersuchung zur Gründungsund Frühgeschichte des Erfurter Petersklosters und mit seinen Studien zur Geschichte der heiligen Elisabeth grundlegende Beiträge zur thüringischen Geschichte vorgelegt, so nahm er mit seinem 1992 erschienenen umfangreichen Aufsatz zur Entwicklung eines ,Landesbewusstseins' im mittelalterlichen Thüringen zu zentralen Aspekten der Geschichte dieses Raumes vom 6. bis zum 15. Jahrhundert Stellung 10 . In einer subtilen Analyse der historiographischen, hagiographischen, literarischen und urkundlichen Zeugnisse gelang es mit dieser Arbeit, Kontinuität und Wandel eines thüringischen Geschichtsbewusstseins im Hoch- und Spätmittelalter zu skizzieren, das zu den Grundlagen für das Fortbestehen eines Eigenbewusstseins in diesem Raum jenseits aller politischen Zersplitterungen gehörte. Zugleich hatte Matthias Werner mit diesem Beitrag ein Forschungsprogramm entworfen, das weit über Thüringen hinaus nachhaltig wirkende Impulse für die übergreifenden Fragen nach dem Selbstbewusstsein und der Eigen- und Fremdwahrnehmung mittelalterlicher Gruppen zu geben vermag 11 . Dem Ruf der thüringischen Landesuniversität folgte Matthias Werner 1993, nachdem er bereits im Jahr zuvor vertretungshalber in Jena gelehrt hatte. Er nahm damit eine außerordentliche Herausforderung an, denn es galt nicht nur, das Fach in Forschung und Lehre an der Universität zu etablieren, unter den Studierenden für die landesgeschichtlich ausgerichtete Mediävistik zu werben und dabei einen neuen Schülerkreis aufzubauen. Es ging vielmehr auch um die Erfordernisse einer klugen Wissenschaftsorganisation im Land, die Voraussetzung für die Wiederbelebung landesgeschichtlicher Forschungen in Thüringen war und zugleich dem rasch wachsenden Interesse der Öffentlichkeit an der Geschichte der eigenen Region entgegenkam. Matthias Werner hat sich deshalb von Anfang an ganz auf diese Aufgabe eingelassen und dies nicht nur durch seine am 30. November 1993 gehaltene Antrittsvorlesung „Ich bin ein Durenc" dokumentiert 12 .

10 Die Anfange eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, hg. von Michael GOCKEL (1992) S. 81-137. 11 Zu verweisen ist auf die von Matthias Werner organisierte Reichenau-Tagung des Konstanzer Arbeitskreises fur mittelalterliche Geschichte im Frühjahr 2000, deren Beiträge in dem Tagungsband: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland (VuF 61, 2005) erschienen sind, sowie auf das bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingeworbene Projekt „Historiographie als Identitätsträger: Inhalte, Trägergruppen und Faktoren regionaler Identitätsbildung im mitteldeutschen Raum im Spätmittelalter". 12 Ich bin ein Durenc. V o m Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Identität und Geschichte, hg. von DEMS. (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1, 1997) S. 79-104.

Z U R EINFÜHRUNG

XVII

Die Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Landesgeschichte Thüringens nimmt seitdem breiten Raum in seinem Schaffen ein. Aus den seit 1993 erschienenen zahlreichen Untersuchungen zur thüringischen Geschichte seien vor allem die Arbeiten zum Geschichts- und Landesbewusstsein der mittelalterlichen Thüringer13, die Beiträge zur Geschichte der Landgrafen von Thüringen im 12. und 13. Jahrhundert14, die Studien zur Mission und Christianisierung Thüringens im 7./8. Jahrhundert15 sowie die Arbeiten zu verschiedenen Einzelthemen der thüringischen Landesgeschichte vom Orlagau im Hochmittelalter bis hin zur Stadtgeschichte Jenas hervorgehoben16. Darüber hinaus sind jene Untersuchungen zu nennen, in denen Matthias 13 Hingewiesen sei hier neben dem in der vorigen Anm. zitierten Beitrag auch auf das in Anm. 11 genannte Forschungsvorhaben und das damit verbundene Habilitationsprojekt von Mathias Kälble zur spätmittelalterlichen Landesgeschichtsschreibung in Hessen, Thüringen und Sachsen. 14 Grundlegend zur Reichsgeschichte der späten Stauferzeit und zur Geschichte der Ludowinger im 13. Jahrhundert ist die umfangreiche Studie: Reichsfürst zwischen Mainz und Meißen. Heinrich Raspe als Landgraf von Thüringen und Herr von Hessen, in: Heinrich Raspe - Landgraf von Thüringen und römischer König (1227-1247). Fürsten, König und Reich in spätstaufischer Zeit, hg. von Matthias WERNER (Jenaer Beiträge zur Geschichte 3, 2003) S. 125-271. Zusammenfassend zu den ludowingischen Landgrafen: Ludowinger, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch 1, hg. von Werner PARAVICINI, bearb. von Jan HLRSCHBIEGEL/Jörg WETTLAUFER (Residenzenforschung 15/1, 2003) S. 149-154. 15 An ältere Arbeiten anknüpfend und sie zugleich weiter führend sind die beiden Beiträge: Die Ersterwähnung Arnstadts 704 im ,Liber aureus' des Klosters Echternach. Arnstadt, Herzog Heden und die Anfange angelsächsischen Wirkens in Thüringen, in: ,in loco nuncupante Arnestati'. Die Ersterwähnung Arnstadts im Jahre 704, hg. von der Historischen Kommission für Thüringen und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen (2004) S. 9-23, und: Gab es ein klösterliches Leben auf dem Erfurter Petersberg schon im Frühmittelalter?, in: 700 Jahre Erfurter Peterskloster. Geschichte und Kunst auf dem Erfurter Petersberg 1103-1803 (Jb. der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten 2003, 2004) S. 4453. 16 Genannt seien hier nur die grundlegenden Beiträge: Neustadt, Orlagau und Thüringen im 12./13. Jahrhundert. Die hochmittelalterlichen Rahmenbedingungen der Anfange von Neustadt an der Orla, in: Neustadt an der Orla. V o m Ursprung und Werden einer Stadt, hg. von Werner GREILING (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur 1, 1997) S. 15-77; Die Anfange der Stadt Jena und die Stadtkirche St. Michael, in: Inmitten der Stadt. St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, hg. von Volker LEPPIN / Matthias WERNER (2004) S. 9-60; Historische Einfuhrung. Der Raum um Arnstadt und Gotha im frühen und hohen Mittelalter, in: Romanische Wege um Arnstadt und Gotha, hg. von Matthias WERNER unter Mitarbeit von Nici GORFF / Ingrid WÜRTH (2007) S. 18-58, sowie die übergreifenden Darstellungen zum mittelalterlichen Thüringen: Thüringen und die Thüringer zwischen Völkerwanderungszeit und Reformation. Die mittelalterlichen Grundlagen von Vielfalt und Einheit in der thüringischen Geschichte, in: V o m Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen. Texte einer Vortragsreihe zu den Grundzügen thüringischer Geschichte, hg. vom Thüringer Landtag und der Historischen Kommission für Thüringen (1999) S. 11-42, und der Artikel .Thüringen, Geschichte' in: Lex.Ma 8 (1997) Sp. 749757.

XVIII

ZUR EINFÜHRUNG

Werner sein Interesse an der Frömmigkeitsgeschichte mit landesgeschichtlichen Aspekten verknüpfte 17 . Zusammenfassend, Bilanz ziehend und wegweisend für künftige Arbeiten zugleich sind schließlich seine umfangreichen Beiträge zu Geschichte und Perspektiven thüringischer Landesgeschichtsforschung 18 . In diesem Kontext wandte er sich in den vergangenen Jahren verstärkt der Geschichte des eigenen Faches im 19. und 20. Jahrhunderts insgesamt zu. Nach dem bereits 1997 erschienenen Beitrag über die Entwicklung der Geschichtswissenschaften an der Jenaer Universität legte er 2004 seine Studie zur Geschichte des sächsisch-thüringischen Editions- und Forschungsprojekts des ,Codex diplomaticus Saxoniae' und 2005 seine breit angelegte Analyse der deutschen Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert vor 19 . Auch wissenschaftsorganisatorisch hat Matthias Werner Bedeutendes geleistet. Als zweiter Geschäftsfuhrender Direktor des wieder gegründeten Historischen Instituts in Jena führte er den von seinem Vorgänger Herbert Gottwald eingeleiteten Neuaufbau des Instituts fort (1993-1995). Neben der Neuorganisation von Studium und Lehre galt seine besondere Sorge der Erweiterung der Institutsbibliothek, deren trümmerhaft erhaltene Altbestände durch umfangreiche Neuanschaffungen erheblich zu ergänzen waren. Darüber hinaus engagierte er sich für eine enge und sehr erfolgreiche Zusammenarbeit des überwiegend aus Neuberufenen bestehenden Kollegiums am Institut, das sich mit der vielbeachteten Vortragsreihe „Identität und Geschichte" im Wintersemester 1993/94 erstmals der Öffentlichkeit präsentierte 20 . 17 Johannes Kapistran in Jena, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, hg. von Johannes HELMRATH / Heribert MÜLLER (1994) S. 505-520; Landesherr und Franziskanerorden im spätmittelalterlichen Thüringen, in: Könige, Landesherren und Bettelorden. Konflikt und Kooperation in West- und Mitteleuropa bis zur frühen Neuzeit, hg. von Dieter BERG (Saxonia Franciscana 10, 1998) S. 331-360. 18 Perspektiven einer thüringischen Landesgeschichte im Europa der Regionen, in: Thüringen - Land der Residenzen. 2. Thüringer Landesausstellung, Essays, hg. von Konrad SCHEURMANN / Jördis FRANK (2004) S. 13-33; Thüringen im Mittelalter. Ergebnisse Aufgaben - Perspektiven, in: Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, hg. von Matthias WERNER (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 13, 2005) S. 275-341. 19 Stationen Jenaer Geschichtswissenschaft, in: Identität und Geschichte, hg. von Matthias WERNER (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1, 1997) S. 9-26; ,Zur Ehre Sachsens'. Geschichte, Stand und Perspektiven des Codex diplomaticus Saxoniae, in: Diplomatische Forschungen in Mitteldeutschland, hg. von Tom GRABER (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 12, 2005) S. 261-301; Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, in: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. von Peter MORAW/ Rudolf SCHIEFFER (VuF 62, 2005) S. 251-364. 20 Die Vorlesungen erschienen unter dem Titel: Identität und Geschichte, hg. von Matthias WERNER (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1, 1997).

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XIX

Der Lehrstuhl für Thüringische Landesgeschichte und Mittelalterliche Geschichte hat sich seit 1993 unter Leitung von Matthias Werner innerhalb des universitären Fächerkanons großes Renommee erworben. Nicht zuletzt das außerordentliche Engagement von Matthias Werner in der Lehre ließ rasch einen Schülerkreis wachsen, aus dem in den letzten Jahren zahlreiche größere Arbeiten zur hochmittelalterlichen Historiographie, zu verschiedenen Bereichen der thüringischen Landesgeschichte, zu den Reformorden des 12. und 13. Jahrhunderts, zu den monastischen Bewegungen des Spätmittelalters und zu Kirche und Pfarrklerus am Vorabend der Reformation hervorgegangen sind 21 . Eine Reihe von hochrangigen wissenschaftlichen Tagungen 22 und drittmittelfinanzierten Forschungsprojekten zu Themen der Landesgeschichte und zu den religiösen Bewegungen im Mittelalter 23 wurden von

21 Siehe hierzu das Verzeichnis der von Matthias Werner angeregten und betreuten Dissertationen und Habilitationen im Anhang. 22 Genannt seien: Heinrich Raspe - Landgraf von Thüringen und Römischer König ( f l 2 4 7 ) Fürsten und Reich in spätstaufischer Zeit. Internationale Wissenschaftliche Tagung auf der Wartburg/Eisenach, 24.-26. September 1997; Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland. Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte auf der Reichenau, 11.-14. April 2000; Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen. Tagung der Historischen Kommission für Thüringen, des Vereins für Thüringische Geschichte und des Historischen Instituts der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, 27.-28. September 2002; Mönche auf dem Petersberg. Geschichte und Kunst des Erfurter Petersklosters 1103-1803, Tagung der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, des Historischen Instituts und des Kunsthistorischen Seminars der Friedrich-Schiller-Universität Jena und des Historischen Seminars der Universität Erfurt, Erfurt, 19.-20. September 2003; Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte. Internationale Tagung der Leitungskommission des Reallexikons für Germanische Altertumskunde bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, der Forschergruppe „nomen et gens" der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Lehrstuhls für Thüringische Landesgeschichte und Mittelalterliche Geschichte der Friedrich-SchillerUniversität Jena, Jena, 19.-22. Oktober 2006; Elisabeth von Thüringen - Eine europäische Heilige. Internationale Wissenschaftliche Tagung der Wartburg-Stiftung Eisenach und der Friedrich-Schiller-Universität Jena auf der Wartburg/Eisenach, 21.-24. März 2006. 23 Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekte: Historiographie als Identitätsträger: Inhalte, Trägergruppen und Faktoren regionaler Identitätsbildung im mitteldeutschen Raum im Spätmittelalter (bearb. von Mathias Kälble), und: Akkulturation und Ethnos in der hoch- und spätmittelalterlichen Germania Slavica (bearb. von Petra Weigel). Von der Historischen Kommission fiir Thüringen gefordertes Editionsprojekt: Die Eisenacher Landeschroniken des 14./15. Jahrhunderts (bearb. von Holger Kunde). Bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig angesiedeltes Editionsprojekt: Fortführung des ,Codex diplomaticus Saxoniae'. Von der Landesregierung Thüringen und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen gefordertes Projekt: Romanische Wege im Raum Arnstadt. Kooperationsprojekt der Jugendstrafanstalt Ichtershausen, der Initiative „Neues Kloster Ichtershausen" und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Vom Freistaat Thüringen, dem Land Hessen und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen gefördertes Landesausstellungsprojekt: Elisabeth von Thüringen - Eine europäische Heilige, Wartburg/Eisenach, 07.07.-19.11.2007.

XX

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Matthias Werner während der Jenaer Jahre organisiert und haben nicht nur die wissenschaftliche Forschung in Jena entscheidend vorangebacht, sondern ganz wesentlich auch zur Öffnung der universitären Geschichtswissenschaft für eine breitere Öffentlichkeit beigetragen - ein zentrales Anliegen von Matthias Werner, der seinen Lehrstuhl weit über die Grenzen der Universität hinaus zu einer zentralen Instanz für die landesgeschichtliche Forschung und die historische Bildung in Thüringen und den Nachbarländern Sachsen und Sachsen-Anhalt gemacht hat. In Jena bündelten sich neben den Aufgaben in der universitären Forschung und Lehre alle mit der Historischen Kommission für Thüringen sowie dem Verein für Thüringische Geschichte verknüpften Funktionen. In der Redaktion des für die mitteldeutsche Landesgeschichtsforschung zentralen Jahrbuches, der Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte', wirkt Matthias Werner seit 1996 maßgeblich mit. Darüber hinaus wurde der Lehrstuhl zunehmend von landes- und ortsgeschichtlich engagierten Einzelpersonen sowie Institutionen aus dem Bereich Bildung und Kultur um Auskünfte, Gutachten und wissenschaftliche Unterstützung gebeten. In den Jahren 2000 bis 2006 hatte Matthias Werner darüber hinaus den Vorsitz der Historischen Kommission für Thüringen inne. In dieser Funktion hat er maßgeblich an der inhaltlichen Profilierung der Kommissionsarbeit mitgewirkt und dabei wichtige Impulse für die rasch zunehmende Publikationstätigkeit der Kommission gegeben. Unter seiner Ägide sind über 20 Veröffentlichungen in den beiden Schriftenreihen der Kommission erschienen. Ein besonderes Anliegen war ihm darüber hinaus stets die enge Vernetzung von professioneller, an der Universität, in den Archiven und in den Bibliotheken geleisteter Arbeit einerseits und dem breiten, sehr lebendigen Geschichtsinteresse der Öffentlichkeit andererseits. In Kooperation der Historischen Kommission mit den Geschichtsvereinen im Land, unter ihnen an führender Stelle der traditionsreiche, an der Jenaer Universität 1852 gegründete ,Verein für Thüringische Geschichte', konzipierte und organisierte Matthias Werner den jährlich stattfindenden ,Tag der Landesgeschichte', der mit seinem anspruchsvollen öffentlichen Vortragsprogramm und seinen Gesprächs- und Diskussionsforen breite Resonanz in der geschichtsinteressierten Öffentlichkeit gefunden hat. Die außerordentlich lebendige, von weiten Kreisen innerhalb und außerhalb der Universität mitgetragene Erneuerung der landesgeschichtlichen Forschungs- und Bildungsarbeit ist ohne Zweifel ein hervorragendes Verdienst von Matthias Werner. Neben dem ambitionierten Engagement von Matthias Werner in der Universität, in der Historischen Kommission für Thüringen, im Verein für Thüringische Geschichte, aber auch überregional im Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte sind die vielfaltigen Beratertätigkeiten zu nennen, die Matthias Werner in den vergangenen Jahren übernommen hat. Hervorge-

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hoben seien seine Mitarbeit in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in der er den Kommissionsvorsitz für die Fortführung des ,Codex diplomaticus Saxoniae' inne hat, seine Mitwirkung in den Wissenschaftlichen Beiräten der Wartburg-Stiftung, der Stiftung Schloss Friedenstein in Gotha und der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung in Nordhausen, sein langjähriges Engagement für das Museum auf der Neuenburg (bei Freyburg/Unstrut), seine Zusammenarbeit mit dem Thüringer Institut für Lehrerbildung, mit dem er im Frühjahr 2000 die erste Lehrerfortbildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Fach Geschichte durchführte, sowie seine Beratertätigkeit für die Sendereihe ,Geschichte Mitteldeutschlands' des Mitteldeutschen Rundfunks. Weit über den akademischen Betrieb hinausgehend engagierte sich Matthias Werner auch für ungewöhnliche Projekte. So veranstaltete er 2001/02 ein offenes Seminar zur Stadtgeschichte Jenas, zu dem alle interessierten Bürger der Stadt eingeladen waren und das in eine viel besuchte Vortragsreihe in der Jenaer Stadtkirche St. Michael mündete 24 . Ein Jahr später rief er gemeinsam mit dem Gefängnisseelsorger in der Jugendstrafanstalt Ichtershausen (bei Arnstadt) eine Arbeitsgemeinschaft von Jenaer Studierenden und jugendlichen Strafgefangenen ins Leben, die unter seiner Leitung ein Buch über die Geschichte und Kunstgeschichte der romanischen Kirchen im Arnstädter und Gothaer Raum erstellten 25 . In vielerlei Hinsicht stellt die von Matthias Werner angeregte, wissenschaftlich konzipierte und im Auftrag der Landesregierung zusammen mit der Wartburg-Stiftung Eisenach durchgeführte Dritte Thüringer Landesausstellung ,Elisabeth von Thüringen - Eine europäische Heilige' (Wartburg/ Eisenach, 07.07.-19.11.2007) den Höhepunkt des Wirkens von Matthias Werner während seiner aktiven Hochschulzeit dar. In dem wohl erfolgreichsten historischen Ausstellungsprojekt in Thüringen während der letzten eineinhalb Jahrzehnte bündeln sich seine fachwissenschaftlichen Interessen und sein Anliegen, mit der Vermittlung historischen Wissens einen Beitrag zu einem lebendigen Geschichtsbewusstsein zu leisten, in ganz besonderer Weise 26 . Mit der Landesausstellung schließt sich für Matthias Werner gewissermaßen der Bogen, der mit der Beschäftigung mit der heiligen Elisabeth

24 Die 2002 gehaltenenen Vorträge erschienen in dem zusammen mit Volker LEPPIN herausgegebenen Band: Inmitten der Stadt. St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche (2004). 25 Der von Matthias Werner unter Mitarbeit von Nici GORFF und Ingrid WORTH herausgegebene Band erschien unter dem Titel: Romanische Wege um Arnstadt und Gotha. Ein Gemeinschaftsprojekt der Jugendstrafanstalt Ichtershausen und der Friedrich-Schiller-Universität Jena (2007). 26 Die zweibändige Begleitpublikation zur Ausstellung erschien unter dem Titel: Elisabeth von Thüringen - Eine europäische Heilige. Band 1: Aufsätze, Band 2: Katalog, unter Mitarbeit von Uwe JOHN und Helge WITTMANN hg. von Dieter BLUME und Matthias WERNER (2007).

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und den religiösen Bewegungen anläßlich der hessischen Ausstellung von 1981 eröffnet worden ist. Es dürfte auch für Gelehrte, die sich stets der wissenschaftlichen Kritik zu stellen haben, außergewöhnlich sein, dass sie eines ihrer zentralen Forschungsanliegen innerhalb weniger Jahrzehnte zweimal in öffentlichkeitswirksamer Form präsentieren können und dabei zugleich innovativ und wegweisend für die weitere fachwissenschaftliche Diskussion in diesem Themenfeld wirken. Für den Wissenschaftler Matthias Werner markiert die Vollendung der Dritten Thüringer Landesausstellung, so ist zu wünschen, nur eine Etappe. Weitere Forschungen werden gewiss der heiligen Elisabeth, den religiösen Bewegungen des Hoch- und Spätmittelalters, den Klöstern und Stiften in Thüringen, den Ludowingern, dem Adel in Thüringen und vielen anderen Themen der mittelalterlichen Reichs- und Landesgeschichte gelten. Schüler, Freunde und Kollegen hoffen, dass es Matthias Werner, der sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten an der Universität und im Land nicht geschont hat, nun auch gelingen wird, die Früchte vieler begonnener Arbeiten zu ernten. Mit der vorliegenden Festschrift greifen die Autorinnen und Autoren ein breites Spektrum an Themen und Fragen auf, denen sich Matthias Werner in den vergangenen gut dreieinhalb Jahrzehnten immer wieder zugewendet hat. Drei Beiträge befassen sich mit den frühmittelalterlichen Verhältnissen in ,Christentum und Kirche'. Ein zweiter Themenblock lässt sich mit ,Adliger Frömmigkeit' umschreiben, dem vier, vom 7./8. bis zum 13. Jahrhundert reichende Aufsätze zuzuordnen sind. Der umfangreichste Teil des Bandes ist dem monastischen Leben gewidmet, wobei die acht hier vereinten Studien vom frühmittelalterlichen Papsttum über die Bursfelder Reform bis zur klösterlichen Bau- und Kunstgeschichte reichen. Die vierte Gruppe von Beiträgen steht unter der Überschrift,Armut und Nachfolge Christi' und umfasst Untersuchungen zu Armut und religiöser Bewegung im 13. Jahrhundert, zu den spätmittelalterlichen Franziskanern und Dominikanern sowie zur Bedeutung der heiligen Elisabeth in der Didaktik des Faches Geschichte. Die beiden letzten Kapitel verbinden zum einen drei Aufsätze zu Heiligenverehrung, Kanonisation und Wallfahrt, zum anderen drei Arbeiten zum Verhältnis von Kirche und Ketzern, Christen und Nichtchristen im 12., 13. und 14. Jahrhundert. Der Band schließt mit einem Verzeichnis der Schriften von Matthias Werner und der von ihm angeregten und betreuten Dissertationen und Habilitationen. * *

*

Die Herausgeber haben vielfältigen Dank auszusprechen. Der Historischen Kommission für Thüringen und ihrem Vorsitzenden, Professor Dr. Werner Greiling (Jena), ist für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Veröffent-

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lichungen der Historischen Kommission und die finanzielle Förderung der Publikation ebenso herzlich zu danken wie der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und ihrem Geschäftsführer, Dr. Thomas Wurzel (Frankfurt/Main), die die Drucklegung durch einen namhaften Zuschuss ermöglichten. Zu danken ist darüber hinaus der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung in Nordhausen und ihrem Stiftungsvorstand, Dipl.-Kfm. Andreas Lesser (München), für die großzügig gewährte Unterstützung der Veröffentlichung. Weiterhin gilt der Dank der Herausgeber dem Vorstand des Vereins für Thüringische Geschichte für seinen Beitrag zu den Druckkosten. Die reprofähige Druckvorlage für den Verlag erstellte Peter Langen M.A. (Jena), dem für die engagierte Mitarbeit sehr herzlich gedankt sei. Bei der Einrichtung des Abbildungsteils half Ute Ibscher (Jena). Im Verlag stand Sandra Hartmann (Köln) für technischen Rat und Beistand stets zur Verfügung. Petra Skoda M.A., Ingrid Würth M.A., Nici Gorff und Dr. Mathias Kälble (alle Jena) gebührt großer Dank für die Hilfe bei der termingerechten Fertigstellung der Druckvorlage. Schließlich ist Sabine Zinsmeyer und Thomas Lang M.A. (beide Leipzig), Frauke Stange, Katja Weber und HansPeter Schmit (alle Jena) für die Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Manuskripte zu danken. Die Redaktion überließ den Autoren die Wahl zwischen alter und neuer Rechtschreibung. Die Zitierweisen orientieren sich an den redaktionellen Standards des ,Deutschen Archivs für Erforschung des Mittelalters'. Die verwendeten Siglen und Abkürzungen entsprechen, sofern sie nicht eigens aufgelöst sind, dem Siglenverzeichnis des ,Deutschen Archivs für Erforschung des Mittelalters'. Die Abbildungen zu einzelnen Beiträgen sind in einem eigenen Tafelteil in der Mitte des Bandes eingebunden. Soweit im Bildnachweis nicht gesondert ausgewiesen, stammen die Vorlagen zu den Illustrationen aus den Autoren- bzw. Herausgeberarchiven. Mit der Überreichung dieser Festgabe verbinden Herausgeber, Autoren und Mitarbeiter ihren herzlich empfundenen Dank an Matthias Werner, den sie über viele Jahre begleiten und von dessen Anregungen als akademischer Lehrer, Freund und Kollege sie vielfach profitieren durften. Wir blicken auf eine intensive und prägende Zeit mit Matthias Werner in Marburg, Köln und Jena zurück, eine Zeit, die uns mit Dankbarkeit und vor allem mit der Hoffnung auf eine gute gemeinsame Zukunft erfüllt.

Jena und Leipzig, im September 2007

Enno Bünz

Stefan Tebruck

Helmut G. Walther

Tabula gratulatoria Dieter Althaus, Erfurt Gerd Althoff, Münster Walter Ameling, Jena Arnold Angenendt, Münster Hans Hubert Anton, Konz-Könen Ernst Badstübner, Berlin Bernd W. Bahn, Halle/Saale Ingrid Baumgärtner, Kassel Matthias Becher, Bonn Siegfried Becker, Marburg!Lahn Dieter Berg, Hannover Cordula Bischoff, Dresden Karlheinz Blaschke, Moritzburg Dieter Blume, Jena Karl Borchardt, München Michael Borgolte, Berlin Ursula Braasch-Schwersmann, Marburg/Lahn Olaf Breidbach, Jena Wolfgang Brückner, Würzburg Reinhold Brunner, Eisenach Dana Bucharovä, Prag Stefanie Buchholz, Lohmar Peter Bühner, Mühlhausen Neithard Bulst, Bielefeld Enno Bünz, Leipzig Helmut Castritius, Darmstadt Lucas Clemens, Trier Rosemarie Coblenz, Dresden Marcus Cottin, Leipzig - Merseburg Irene Crusius, Göttingen Wolfgang Dahmen, Jena Bernard Delmaire, Lille Bernhard Demel, Wien Erhart Dettmering, Marburg Klaus Dicke, Jena Toni Diederich, Bonn Thomas Doepner, Duisburg

Heinrich Dormeier, Kiel Immo Eberl, Tübingen Udo Ebert, Jena Matthias Eifler, Leipzig Werinhard Einhorn, Paderborn Joachim Emig, Altenburg Traute Endemann, Darmstadt Odilo Engels, Köln Franz-Reiner Erkens, Passau Geza Erszegi, Budapest Arnold Esch, Rom Peter Ettel, Jena Anja Falentin, Frechen Christoph Fasbender, Erfurt Irmgard Fees, Marburg/Lahn Gunther Felkel, Jena Frederik Felskau, Köln Franz J. Feiten, Mainz Gerhard Fouquet, Kiel Eckhart Franz, Darmstadt Norbert Frei, Jena Eckhard Freise, Wuppertal Werner Freitag, Münster Johannes Fried, Frankfurt!Main Julian Führer, Zürich Uta Garbisch, Köln Ivan Gerät, Bratislava Dieter Geuenich, Duisburg-Essen Michael Gockel, Berlin Jens Goebel, Erfurt Hans-Werner Goetz, Hamburg Knut Görich, München Nici Gorff, Jena Susann Graber, Dresden Tom Graber, Dresden Carl Graepler, Marburg/Lahn Heike Grahn-Hoek, Braunschweig Stefan Gerber, Jena

XXVI Werner Greiling, Jena Rolf Große, Paris Manfred Groten, Bonn Gitta Günther, Weimar Reinhard Härtel, Graz Hans-Werner Hahn, Jena Karl-Eckard Hahn, Erfurt Joachim J. Halbekann, Esslingen Elke-Ursel Hammer, Koblenz Sandra Hartmann, Köln Jens Haustein, Jena Alfred Haverkamp, Trier Eva Haverkamp, Houston/Texas Bodo Hechelhammer, Berlin Andreas Hedwig, Marburg/Lahn Gisela Heginger, Bad Blankenburg Johannes Helmrath, Berlin Klaus Herbers, Erlangen Peter Herde, Alzenau Volker Honemann, Münster Cornelia Hopf, Gotha Siegfried Hoyer, Leipzig Gerlinde Huber-Rebenich, Jena Steffi Hummel, Jena Ute Ibscher, Jena Wilhelm Janssen, Düsseldorf Georg Jenal, Köln Peter Johanek, Münster Uwe John, Erfurt Helmar Junghans, Leipzig Christoph Kähler, Eisenach Tobias Kaiser, Jena Brigitte Kasten, Saarbrücken Mathias Kälble, Jena Anette Kehnel, Mannheim Hagen Keller, Münster Astrid Kerfs, Frechen Andreas Klinger, Jena Volkhard Knigge, WeimarBuchenwald Manfred Kobuch, Dresden

TABULA GRATULATORIA

Ernst Koch, Leipzig Katrin Köhler, Jena Theo Kölzer, Bonn Otfried Krafft, Marburg!Lahn Ferdinand Kramer, München Benedikt Kranemann, Erfurt Birte Krüger, Halle/Saale Klaus Krüger, Halle/Saale Petr Kubin, Prag Hartmut Kühne, Berlin Holger Kunde, Naumburg!Saale Peter Kurmann, Fribourg Dirk van Laak, Jena - Gießen Maike Lämmerhirt, Weimar Thomas Lang, Leipzig - Dresden Peter Langen, Jena Johannes Laudage, Düsseldorf Volker Leppin, Jena Andreas Lesser, München Bertram Lesser, Münster Harald S. Liehr, Weimar Ariane Lorke, Jena Heiner Lück, Hallet Saale Christoph Mackert, Leipzig Gunther Mai, Erfurt Werner Maleczek, Wien Klaus Manger, Jena Ernö Marosi, Budapest Konrad Marwinski, Weimar Michael Matscha, Erfurt Helmut Maurer, Konstanz Michael Maurer, Jena Matthias Meinhardt, Halle!Saale Michael Menzel, Berlin Jürgen Miethke, Heidelberg Andreas Meyer, Marburg/Lahn Jean-Marie Moeglin, Paris Bernd Moeller, Seebad Heringsdorf Johannes Mötsch, Meiningen Christine Müller, Lindenkreuz Gerhard Müller, Jena

T A B U L A GRATULATORIA

Heribert Müller, FrankfurtIMain Kurt Müller, Jena Thomas T. Müller, Mühlhausen Winfried Müller, Dresden Jörg Nagler, Jena Klaus Neitman, Potsdam Lutz Niethammer, Jena Cordula Nolte, Bremen Tore Nyberg, Odense Sven Ostritz, Weimar Helmut-Eberhard Paulus, Rudolstadt Josef Pilvousek, Erfurt Robert Prößler, Mülheim-Kärlich Joachim von Puttkamer, Jena Fidel Rädle, Göttingen Andreas Ranft, Halle/Saale Ulrich Rasche, Jena Peter Rauch, Köln Christina Ricci, Basel Klaus Ries, Jena Ulrich Ritzerfeld, Marburg/Lahn Corinna Roeder, Emden Uwe Roeder, Emden Werner Rösener, Gießen Manfred Rudersdorf, Leipzig Andreas Rüther, Gießen Peter Sachenbacher, Magdala Peter Schäfer, Jena Martina Schattkowsky, Dresden Georg Scheibelreiter, Wien Rudolf Schieffer, München Eva Schlotheuber, Münster Alexander Schmidt, Jena Georg Schmidt, Jena Paul Gerhard Schmidt, FreiburglBreisgau Hans-Peter Schmit, Jena Reinhard Schmitt, Halle/Saale Sigrid Schmitt, Trier Joachim Schneider, Würzburg Reinhard Schneider, Berlin

XXVII

Bernd Schneidmüller, Heidelberg Steffen Schönicke, Netzschkau Peter Schreiner, Köln Christian Schuffels, Göttingen Hans K. Schulze, Niederweimar Aloys Schwersmann, Marburg!Lahn Rainer C. Schwinges, Bern Hubertus Seibert, München Stephan Selzer, Halle/Saale Josef Semmler, Düsseldorf Taraneh Shayegan, Köln Petra Skoda, Jena - FreiburglBreisgau Karl-Heinz Spieß, Greifswald Frauke Stange, Jena Winfried Stelzer, Wien Axel Stelzner, Göttern Frank-Joachim Stewing, Zeitz Brigitte Streich, Wiesbaden Birgit Studt, Freiburg!Breisgau Stefan Tebruck, Jena - Dresden André Thieme, Dresden Matthias Thumser, Berlin Beate Umann, Jena Thomas Vogtherr, Osnabrück Jörg Voigt, Jena Otto Volk, Marburg/Lahn Ludwig Vones, Köln Ursula Vones-Liebenstein, Köln Eric Wagner, Rostock Volker Wahl, Weimar Martin Wallraff, Basel Helmut G. Walther, Jena Joachim Wanke, Erfurt Katja Weber, Jena Petra Weigel, Jena Stefan Weinfurter, Heidelberg Siegrid Westphal, Osnabrück Peter Wiegand, Dresden Stefan Winghart, Erfurt Harald Winkel, Gießen Helge Wittmann, Weimar-Taubach

XXVIII Stephanie Wolf, Neubiberg Ingrid Würth, Jena Thomas Wurzel, Frankfurt!Main Alfons Zettler, Dortmund Gerd Zimmermann, Bamberg Harald Zimmermann, Tübingen Klaus Zimmermann, Jena Sabine Zinsmeyer, Leipzig Thomas Zotz, Freiburg/Breisgau * Deutsches Historisches Institut Paris, Paris Forschungsbibliothek Gotha, Gotha Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung, Nordhausen

TABULA GRATULATORIA

Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Marburg/Lahn Historische Kommission für Thüringen, Erfurt - Jena Senat und Körperschaft der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Erfurt Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, FrankfurtI Main Universität Erfurt, Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Erfurt Verein für Thüringische Geschichte, Jena

HEIKE

GRAHN-HOEK

Quia Dei potentia cunctorum regnorum terminos singulari dominatione concludit Kirchlicher Einheitsgedanke und weltliche Grenzen im Spiegel der reichsfränkischen Konzilien des 6. Jahrhunderts 1. Zu Forschungsstand und historischen Voraussetzungen Die Diskussion um die Spannung zwischen den aus der fränkischen Erbfolge resultierenden Reichsteilungen und dem Gedanken der für die Existenz eines dauerhaften Großreiches notwendigen Einheit unter Merowingern und/oder Karolingern ist in jüngster Zeit neu belebt worden 1 . Dabei sind die Arbeiten zur Merowingerzeit überwiegend auf die ,Teilungspraxis' gerichtet und , Reichseinheit' wird hier in der Regel als praktische Folge familienrechtlicher Konstellationen und persönlicher Machtansprüche und durch sie motivierter Handlungen der Herrschenden gesehen 2 . Mit dem Blick auf die Karo-

1

Zuletzt Rudolf SCHIEFFER, Die Einheit des Karolingerreiches als praktisches Problem und als theoretische Forderung, in: Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa, hg. von Werner MALECZEK (VuF 63, 2005) S. 33-47; Franz-Reiner ERKENS, Divisio legitima und unitas imperii. Teilungspraxis und Einheitsstreben bei der Thronfolge im Frankenreich, DA 52 (1996) S. 423-485; Eugen EWIG, Überlegungen zu den merowingischen und karolingischen Teilungen, in: Nascita dell'Europa ed Europa carolingia: Un'equazione da verificare (Settimane di studio del Centro italiano di studi sulP alto medioevo 27, 1981) S. 225-253; siehe auch Johannes FRIED, Der karolingische Herrschaftsverband im 9. Jh. zwischen ,Kirche' und ,Königshaus', HZ 235 (1982) S. 1-43 und Josef FLECKENSTEIN, Das Großfränkische Reich: Möglichkeiten und Grenzen der Großreichsbildung im Mittelalter, HZ 233 (1981) S. 265-294.

2

EWIG, Überlegungen (wie Anm. 1); ERKENS, Divisio (wie Anm. 1) besonders S. 446, S. 468-477; DERS., Einheit und Unteilbarkeit. Bemerkungen zu einem vielerörterten Problem der frühmittelalterlichen Geschichte, Archiv flir Kirchengeschichte 80 (1998) S. 269-295, hier S. 290 ff.; SCHIEFFER, Einheit (wie Anm. 1). Grundsätzlich heranzuziehen ist immer noch Eugen EWIG, Die fränkischen Teilungen und Teilreiche (511-613), Abh. Mainz 9 (1953) S. 651-715; DERS., Die fränkischen Teilreiche im 7. Jh. (613-714), Trierer Zs. 22 (1953) S. 85-144; beide auch in: Spätantikes und fränkisches Gallien, hg. von Hartmut ATSMA/DERS. (Beihefte der Francia 3, 1, 1976) S. 114-171 bzw. S. 172-273; siehe auch Reinhard SCHNEIDER, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 3, 1972) und Heike GRAHN-HOEK, Zur fränkischen Königserhebung im 6. Jh., in: DIES., Die fränkische Oberschicht im 6. Jh. Studien zu ihrer rechtlichen und politischen Stellung (VuF Sonderbd. 21, 1976) S. 300-319 (Quellen- und Literaturbelege dazu in: DIES., Die fränkische Königserhebung nach Gregor von Tours, masch. Marburg 1970).

4

KIRCHLICHER EINHEITSGEDANKE UND WELTLICHE GRENZEN

lingerzeit dagegen richtet sich das Augenmerk auch auf die Frage nach einer theoretischen Begründung für eine ,Einheitsidee' 3 . Während Franz-Reiner Erkens über die erwähnten Nachfolgekriterien hinaus bereits in der Merowingerzeit - zumindest ansatzweise - einen weltlichen Gedanken im Begriff ,monarchia' erkennen möchte 4 und das in der Karolingerzeit (ordinatio imperii von 817) auftretende „theologische Ideal" als ein „völlig neues [...] Motiv" für die „unitas imperii" sieht5, kommt Rudolf Schieffer mit Bezug auf die Karolingerzeit zu dem Ergebnis: „Ein übergreifendes gedankliches Konzept tritt am ehesten, wenn nicht ausschließlich im geistlichen Bereich zutage, bezog sich dort aber deutlich auf die gebotene Einheit der Kirche, nicht des Reiches" 6 . Auf dem Hintergrund dieser Ergebnisse scheint im Blick auf die Merowingerzeit die Frage weiterer Bemühungen wert, ob es bereits vor dem frühen 9. Jahrhundert eine theologisch begründete Einheitsidee gegeben hat und ob und wie eine solche Idee sich auf die weltlichen Grenzen, insbesondere anlässlich von Reichsteilungen ausgewirkt hat.

3

ERKENS, Divisio (wie Anm. 1) S. 469-485; zuletzt SCHIEFFER, Einheit (wie Anm. 1); siehe auch FRIED, Herrschaftsverband (wie Anm. 1); Helmut BEUMANN, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, hg. von Theodor MAYER (VUF 3, 1956) S. 185-224, auch in: DERS., Wissenschaft vom Mittelalter (1972) S. 135-174. DERS., Unitas ecclesiae - unitas imperii - unitas regni. Von der imperialen Reichseinheitsidee zur Einheit der regna, in: Nascita dell'Europa (wie EWIG Anm. 1) S. 531-571, auch in: DERS., Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 19661986, Festgabe zu seinem 75. Geburtstag (1987) S. 3-43; Walter SCHLESINGER, Kaisertum und Reichsteilung. Zur Divisio regnorum von 806, in: Forschungen zu Staat und Verfassung. Festgabe für Fritz Härtung, hg. von Richard DIETRICH und Gerhard OESTREICH (1958) S. 9-51; auch in: DERS., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters 1 (1963) S. 193-232; zitiert nach: Zum Kaisertum Karls des Großen, hg. von Gunther WOLF (Wege der Forschung 38, 1972) S. 116-173, hier S. 159 f.; zu den Elementen der Verfassung einer Gemeinschaft, auf die sich ,Einheit' bezieht, DERS., Die Grundlegung der deutschen Einheit im frühen Mittelalter, in: Die deutsche Einheit als Problem der europäischen Geschichte, hg. von Carl HINRICHS und Wilhelm BERGES (Beiheft zur GWU, 1960) S. 5-45, auch in: DERS., Beiträge 1, S. 245-285, hier S. 245-261.

4

ERKENS, Divisio (wie Anm. 1), S. 453, 459, 461 ff.; vgl. mit Betonung der Teilreiche Eugen EWIG, Volkstum und Volksbewußtsein im Frankenreich des 7. Jhs., Libelli 268 (1969), Nachdruck aus: Settimane di studio del Centro italiano di studi sull' alto medioevo, 5: Caratteri del secolo VII in occidente 2 (1958) S. 587-648, hier S. 646 und Karl Ferdinand WERNER, Die Ursprünge Frankreichs bis zum Jahr 1000 (Geschichte Frankreichs 1), hg. von Jean FAVIER, Beratung der dt. Ausg. Karl Ferdinand WERNER, aus dem Französischen übertragen von Cornelia und Ulf DLRLMEIER (1989) S. 345; DERS., Faire revivre le souvenir d'un pays oublié: La Neustrie, in: La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 à 850, hg. von Hartmut ATSMA (Beihefte der Francia 16.1, 1989) S. XIII-XXXI, hier S. XVIII.

5

ERKENS, Divisio (wie Anm. 1) S. 471, vgl. S. 475 Anm. 255 zur „Einheitstheologie" Agobards von Lyon. SCHIEFFER, Einheit (wie Anm. 1) S. 47.

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HEIKE

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Die Bezeichnung ,monarchia'' tritt in den frühesten merowingischen Quellen jeweils im Sinne von Alleinherrschaft' eines Königs über zuvor bestehende Teilreiche (tria regna) oder über das Gesamtfrankenreich {regnum Francorwri) auf - in der Regel im Zusammenhang mit Chlothar II. oder seinem Sohn Dagobert I.7. Jedoch ist auch von der monarchia episcopi Arelatensis8 und der monarchia (abbatis)9 die Rede. Wie diese lassen Formulierungen wie regem in monarchiam elevare, regnum in monarchiam accipere, trium regnorum monarchiam potiri, monarchiam regni solus tenere / obtinere darauf schließen, dass es hier - der Wortbedeutung mon-archia entsprechend - jeweils um die an eine bestimmte Person gebundene, von ihr erlangte, erkämpfte oder gehaltene Allein-herrschaft geht. So scheint der Begriff ,monarchia' in den Quellen der Merowingerzeit 10 im Gegensatz zu stehen zur rechtlich begründeten und politisch durchgesetzten divisio regnorum. Ein abstrakter weltlicher , Einheitsbegriff war monarchia damals wohl (noch?) nicht. Jedoch gibt der Begriff immerhin zu erkennen, dass es ein Bewusstsein der Autoren unserer Quellen für die Alternative zur Reichsteilung gab. In seinem Aufsatz „Bistumsgründungen im Merowingerreich im 6. Jahrhundert" hat Reinhold Kaiser nachgewiesen, dass an mehreren dieser Gründungen infolge von Reichsteilungen und Grenzveränderungen im Merowingerreich eine „Angleichung der kirchlichen Grenzen an die weltlichen" entweder stattgefunden hat oder von seiten des Königtums versucht worden

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Liber historiae Francoram, ed. Bruno K R U S C H (MGH SS rer. Merov. 2, 1888, 2 1956) S. 215-328 (Lib. hist. Franc.) c. 40 (Chlothar II.: regem [...] in monarchiam elevare), c. 42 (Dagobert I.: regnum [...] in monarchiam accipere); Vitae Columbani abbatis discipulorumque eius libri II, ed. Bruno K R U S C H (MGH SS rer. Merov. 4, 1902) S. 1-152, I c. 29 S. 106 (Chlothar II.: trium regnorum monarchiam potiri); Vita Betharii episcopi Carnoteni, ed. Bruno K R U S C H (MGH SS rer. Merov. 3, 1896) S. 612-619, c. 8, S. 616: Lotharius [...] monarchiam regni Francorum regebat, Vita Desiderii Cadurcae urbis episcopi, ed. Bruno K R U S C H (MGH SS rer. Merov. 4, 1902) S. 547-602, c. 2, S. 564 (Flotarius [...] monarchiam regni solus tenebat). Vita Eligii episcopi Noviomagensis, ed. Bruno K R U S C H (ebd. S. 634-761) I c. 9, S. 676: Dagobertus fllius eius monarchiam regni solus obtinuil und II c. 32, S. 718; vgl. Vita Wilfridi I. episcopi Eboracensis auctore Stephano, ed. Wilhelm L E V I S O N (MGH SS rer. Merov. 6, 1913) S. 163-263, c. 42, S. 235 (tolam Westsexna regionis monarchiam tenens) und c. 53, S. 247 (apostolicae sedis monarchia).

Vita patrum Iurensiura Romani, Lupicini, Eugendi, ed. Bruno K R U S C H (MGH SS rer. Merov. 3, 1896) S. 125-166, Vita Romani c. 5, S. 134. 9 Vita Columbani (wie Anm. 7) c. 10, S. 127. 10 Ein anderes Verständnis von monarchia könnte sich vielleicht in der Formulierung adunare monarchiam regum (Vita Walarici abbatis Leuconaensis, ed. Bruno K R U S C H , MGH SS rer. Merov. 4) S. 157-175, c. 9, S. 164 andeuten; diese Quelle gehört aber bereits etwa der Mitte des 1 1 . Jhs. an ( W A T T E N B A C H - L E V I S 0 N , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, 1. Heft bearb. von Wilhelm L E V I S O N , 1952, S. 137).

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ist 11 . Damit habe man sich an „das territoriale Prinzip der Koinzidenz weltlicher und kirchlicher Grenzen" gehalten, das, „wie es scheint, neben vielen anderen Einrichtungen des spätantiken Staates von den Merowingern übernommen" worden sei 12 . Nun ist dieses ,Prinzip' jedoch im Westen des Römischen Reiches - jedenfalls aus kirchlicher Perspektive - kein ,altes' und zweifelsfrei in ganz Gallien eingeführtes ,Prinzip' gewesen, wie man meinen könnte. Vielmehr war das unter römischer Herrschaft gültige Prinzip der christlichen Kirche, das noch am Beginn des 5. Jahrhunderts von Papst Innozenz I. (402-417) und am Ende desselben Jahrhunderts von Gelasius I. (492496) vertreten worden war, die Forderung, „daß die von den Vätern überkommenen Grenzen der Bistümer nicht verrückt werden dürften"'3. Als früheste, den Westen des Römischen Reiches betreffende Quellen, aus denen man einen neuen „Grundsatz" erschlossen hat, nach dem „Stadtterritorium" und „Diözese", d. h. weltlicher und kirchlicher Verwaltungsbezirk sich decken sollten 14 , werden zwei an Bischöfe Galliens gerichtete Briefe von Papst Zosimus (417/418) angesehen 15 . An der Entwicklung dieses Prinzips auf der Basis der von Karl Müller zugrundegelegten Briefe des Papstes Zosimus scheinen mir nun allerdings Zweifel angebracht. Man be-

11 Reinhold KAISER, Bistumsgründungen im Merowingerreich im 6. Jh., in: Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum. Referate beim Wissenschaftlichen Kolloquium zum 75. Geburtstag von Eugen Ewig am 28. Mai 1988, hg. von Rudolf SCHIEFFER (Beihefte der Francia 22, 1990) S. 9-35; zu Kirchenprovinz- und Diözeseneinteilung im 6. Jh. siehe auch Karten und Tabellen bei J. CHAMPAGNE / Romuald SZRAMKIEWICZ, Recherches sur les conciles des temps mérovingiens, Revue historique de droit français et étranger 49 (1971) S. 5 ^ 9 ; vgl. Margarete WEIDEMANN, Kulturgeschichte der Merowingerzeit nach den Werken Gregors von Tours, 2 Bde. (Monographien des römisch-germanischen Zentralmuseums 3,1, 1982) S. 135-227 (bei Kurzzitat stets Bd. 1). 12 KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 9; vgl. auch DERS., Konstituierung der fränkischen Zivilisation I: Das merowingische Frankenreich, in: Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter, hg. von Joachim EHLERS (VuF 56, 2002) S. 53-97, hier S. 86 ff. mit Anm. 147-150. 13 Hans Erich FEINE, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche 4 (neubearbeitete und erweiterte Aufl. 1964) S. 98; vgl. A. SCHEUERMANN, Diözese, in: Reallexikon fur Antike und Christentum 3 (1957) Sp. 1053-1063, hier Sp. 1061. Vgl. Konzil von Tours 461, Zitat unten Anm. 17. 14 FEINE, Rechtsgeschichte (wie Anm. 13) S. 98. Grundlegend Karl MÜLLER, Kleine Beiträge zur alten Kirchengeschichte 18. Parochie und Diözese im Abendland in spätrömischer und merowingischer Zeit, Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 32 (1933) S. 149-185, hier S. 167-185. 15 Der Brief an die Bischöfe Galliens ist abgedruckt in: Jacques-Paul MlGNE, Patrologiae cursus completus, series Latina, 221 Bde., Paris 1844 ff., MlGNE PL 20, 642/5; auch in: MGH Epp. 3, wie Anm 77, S. 5 f., hier S. 6; der zweite Brief des Zosimus an einen südgallischen Bischof Remigius im Auszug bei MÜLLER, Parochie und Diözese (wie Anm. 14) S. 167 mit Quellenangaben Anm. 103. Zu vergleichen ist auch Nr. 2, Epistolae 3, S. 8. Entwicklung der These bei MÜLLER, Parochie und Diözese (wie Anm. 14) S. 167 ff., S. 174; vgl. SCHEUERMANN, Diözese (wie Anm. 13) Sp. 1061.

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achte nämlich selbst in dem Brief des Zosimus an die gallischen Bischöfe den Hinweis auf die Wahrung des Besitzstandes des jeweiligen Bistums: quascumque parrocias in quibuslibet terretoriis etiam extra provincias suas antiquitus habet, intimerata auctoritate possedeat]6. Auch der einschlägige Passus des zweiten Briefes enthält eine deutliche Aussage über die Gültigkeit alter kirchlicher Zugehörigkeits- und Besitzverhältnisse: secuti canonum disciplinam traditionemque maiorum bzw. ut [...] contentus parrociis iure tibi debitis alterius non usurpes. Müllers Beweisführung geht von einer klaren Unterscheidbarkeit einer weltlichen und einer kirchlichen Bedeutung des Begriffes ,territoriumni mit Hilfe eines rein weltlich zu verstehenden cz'v/tas-Begriffs aus 18 . Da es aber in den von Müller zugrundegelegten 16 Wörtlich übereinstimmend Epistolae 3 (wie Anm. 77) Nr. 2, S. 8. 17 Ob es sich in dem Satz aus dem zweiten Brief des Papstes Zosimus, ne quis parrocias in alterius territorio civitatis crederet retinendas bei dem territorium civitatis eindeutig um den weltlichen ci'v;Yas-Bereich handelt (MÜLLER, Parochie und Diözese [wie Anm. 14] S. 170), d. h. ob sich 'weltlicher' und 'kirchlicher' civitas-Bereich hier überhaupt trennen lassen, ist doch sehr fragwürdig, da alterius auf einen anderen Bischof geht und das territorium der ihm zugehörigen civitas gemeint ist. Entsprechend Concilium Epaonense 517, c. 5, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 20: Nepresbyter terretorii alieni sine conscientia sui episcopi in alterius civitatis territurio praesumat baselicis aut oratoriis observare, nisi forte episcopus suos illum cedat episcopo Uli, in cuius terretorio habetare disposuit. Auch der Brief an Bischof Egidius von Reims (Conc. Paris. 573, Concilia 1 [wie Anm. 27] S. 147: parrocia [...] Carnotina, quod Castrum nec ad terreturium civitatis vestrae nec ad vestram provinciam manifestum est pertenere) meint mit terreturium civitatis vestrae den Zuständigkeitsbereich des Bischofs, auf den sich dessen ius erstreckt. Vgl. dazu MÜLLER, Parochie und Diözese (wie Anm. 14) S. 181 (zum Konzil von Tours 461): Si quis episcopus in ius fratris sui suam conatus fuerit inserere potestatem, ut aut dioeceses alienas, transgrediendo términos a patribus constituios pervadat [...] Zum Begriff territorium vgl. femer (alle in Concilia 1 [wie Anm. 27]): Conc. Aurel. 538, c. 17, S. 78; c. 21, S. 79; Conc. Aurel 541, c. 7, S. 89; Conc. Aurel. 549, c. 21, S. 107; Conc. Lugdun. 583, c. 6, S. 154. - Zu ,retiñere' im Sinne von .unrechtmäßig zurückhalten' siehe Conc. Turon. 567 c. 26 und Conc. Paris. 556-573 (beide wie unten Anm. 41): quicumque [...] res ecclesiae delegatas iniustepossidenspraesumpserit retiñere; Conc. Aurel. 541 c. 12 (Concilia 1 [wie Anm. 27] S. 90): Si inter episcopos [...] sub repetitionis aut retentationis titulo nascatur intentio; auch Text unten bei Anm. 55 und folgende Anm. 18 Zu civitas MÜLLER, Parochie und Diözese (wie Anm. 14) S. 167-171, S. 176 mit Anm. 130, S. 178, S. 183 Anm. 151; hier auch zu ,provincia'. - Siehe zum „Bischof als öffentlicher Leiter seiner civitas" im 5. Jh. HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 46, S. 52 f.; Friedrich PRINZ, Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jh., in: DERS., Mönchtum, Kultur und Gesellschaft, zum 60. Geburtstag hg. von Alfred HA VERKAMP und Alfred HEIT (1989) S. 111-136, hier S. 111 f. (leicht überarbeitete Fassung des Erstdrucks, HZ 217 [1973] S. 1-35); DERS., Herrschaftsformen der Kirche vom Ausgang der Spätantike bis zum Ende der Karolingerzeit, ebd. S. 1-21. Hier besonders (S. 2-9) das ausgewogene Urteil über die Entstehung der auch weltlichen Bischofsherrschaft auf dem Hintergrund der Auflösung des Römischen Reiches und der Neubildung der Germanenreiche auf römischem Boden. PRINZ macht aufmerksam auf die katastrophale Zwangslage, die sich für die spätantik-frühmittelalterlichen Bischofsstädte aus der „Völkerwanderungsnot" ergab (S. 7), so dass „dem Bischof einer Stadt beim Zerfall oder gar

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Quellen-Zusammenhängen - soweit ich sehe - immer um das territorium civitatis episcopi, einmal auch um das territorium episcopi ohne Erwähnung der civitas geht, ein solches im Konzil von Tours von 461 als der Rechtsbereich (in ius fratris) eines Bischofs bezeichnet wird, dessen termini von den patres, d. h. doch wohl den Vorgängern der Kirchenfuhrer, festgelegt worden sind, müssen beide Briefe auf der Basis eines auf den Bischof bezogenen territorium- und czv/tos-Begriffes im Sinne des Prinzips der Wahrung des Besitzstandes des jeweiligen bischöflichen Gebietes gedeutet werden. Auf dieses Prinzip stößt auch Müller immer wieder (S. 173, 176, 180f.). Selbst dem wichtigen, seiner These zugrundegelegten Brief des Zosimus an die Bischöfe Galliens liegt dieses Prinzip auch nach Meinung des Autors zugrunde (S. 168). Das Hauptproblem der Interpretation Müllers liegt darin, dass er infolge seiner Deutung des Begriffes Territorium (civitatis episcopi)' (bes. S. 170) ein ,exemplum'' (dedit enim exemplum Arelatensis ecclesia), ein Beispiel nämlich für die Gültigkeit des alten Prinzips, zum historischen Sonderfall (S. 174) bzw. zur ,Ausnahme' einer neuen Regel des Zosimus (S. 171) erklärt, nach der kirchliche an weltliche Grenzen angeglichen werden sollten. Hier geht es aber um ein Beispiel dafür, wie es (in Übereinstimmung mit dem alten Prinzip der Wahrung historisch gewachsener Zugehörigkeiten) nach Meinung des Papstes nicht sein sollte (admonemus [...] ne), dass nämlich die in der Nähe von Marseille gelegenen Orte gegen die (angeblichen) 183 alten Rechte von Arles von Marseille beansprucht wurden. Die alten Ansprüche Arles' seien nämlich rechtens {iure desiderat). Im Verlauf der Abhandlung Müllers wird aus der Unterstützung Arles' durch den Papst auf der Basis des alten Prinzips durch eine nicht zweifelsfreie Definition des Begriffes ,territorium ' ein neuer „Grundsatz", der dem der Päpste Innozenz I. und Gelasius I. entgegensteht (S. 171, 173-175, 177); schließlich ist dann sogar von dem „alte(n) grundsätzlich überwundene(n) Rechtszustand" die Rede, an dem diejenigen festhielten, die sich durch die ,Neuregelung' geschädigt sahen (S. 182). Warum das Zugeständnis des Papstes an Arles auf der Basis des auch vor und nach Zosimus unter Innozenz I. und Gelasius I. gültigen alten Prinzips nun eine weit über die ursprüngliche Absicht des Zosimus hinausWegfall der weltlichen, militärisch-politischen Autoritäten von selbst politische Herrschaftsrechte zuwuchsen" (S. 2). So wenig, wie man „von einem generell beschreibbaren Verhältnis von Staat und Episkopat" sprechen kann (S. 4), lässt sich in den Briefen des Zosimus die Formulierung territorium civitatis episcopi in Einzelteile zerlegen und als ,rein' weltlich oder ,rein' kirchlich definieren. Siehe auch Hans Hubert ANTON, ,Bischofsherrschaften' und ,Bischofsstaaten' in Spätantike und Frühmittelalter, in: Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit, hg. von Friedhelm BURGARD / Christoph CLUSE (Trierer Historische Forschungen 28, 1996) S. 461-473, hier bes. 463-467. 18a Dazu kurz Bernhard SCHIMMELPFENNIG, Das Papsttum. Von der Antike bis zur Renaissance ( 5 2005), S. 47f.

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gehende Wirkung als neue „Regel für das ganze Abendland" (S. 174) entfaltet haben soll, ist allein als Folge der keineswegs zwingenden Interpretation des Begriffes ,territorium , mit Hilfe eines streng ,weltlich' definierten c/Wias-Begriffes nicht (mehr) nachzuvollziehen. Objektive Probleme entstanden dadurch, dass man einerseits auf alten Zugehörigkeiten beharrte, andererseits aber auch für Neugründungen und Besitzzuwachs offen sein wollte (vgl. S. 180). Eine grundsätzliche Frage ist allerdings, ob man überhaupt von einer ,Angleichung' kirchlicher an weltliche .Grenzen' sprechen kann in einer Zeit, in der „die bischöflichen Territorien" noch sehr „wenig abgeschlossen" waren (S. 181). Hinzu kommt die Einsicht, dass sowohl im römischen Reich als auch bei den Germanen der neuen Reiche auf römischem Boden sich ,weltlich' und ,religiös' oder ,kirchlich' nicht klar trennen ließen 19 , so dass schon unter diesem Aspekt die Fragestellung Müllers und das von ihm begründete ,Prinzip' problematisch sind. Die indirekte und dem unmittelbaren Quellenverständnis widersprechende Beweisführung Müllers für die These 20 über einen Vorstoß des Papstes Zosimus zur Angleichung kirchlicher an weltliche Grenzen ist auf der Basis der Forschungsergebnisse des historischen Umfeldes der letzten Jahrzehnte meines Erachtens nicht mehr haltbar. Nach dem heutigen Stand der Forschung ging es wohl - im Rahmen der Missionierung und der Christianisierung - eher um die Anpassung wachsender kirchlicher Einflussbereiche an vorhandene weltliche Strukturen bei gleichzeitiger Übernahme weltlicher Herrschaftsaufgaben durch die Bischöfe der Städte (civitates) und der dazugehörigen Territorien (territoria). Wenn es zutrifft, dass sich, bezogen auf den Westen des römischen Reiches, eine Anpassung kirchlicher Einflussbereiche an weltliche Strukturen (bei gleichzeitiger Übernahme von Herrschaftsfunktionen durch die Bischöfe der Städte) besonders früh (Mitte 5. Jahrhundert) in Südgallien beobachten lässt 20a , so geschah dies wohl nicht zufällig in einer Zeit und Gegend, die einerseits bereits früh katholisch christianisiert 20b , andererseits aber zu Beginn des 5. Jahrhunderts von den arianischen Westgoten 21 und Burgundern 22

19 Siehe unten mit Anm. 26. 20 Soweit ich mit KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 9 Anm. 1, und DERS., Konstituierung (wie Anm. 12) S. 87 sehe, basiert diese These auch heute noch auf Müllers Aufsatz von 1933. 20a FEINE, Rechtsgeschichte (wie Anm. 13) S. 98 gibt - auf der Basis der von MÜLLER, Parochie und Diözese (wie Anm. 14) S. 174 ff. interpretierten Konzilsakten - die chronologische Reihenfolge mit Afrika (2. Hälfte 4. Jh.), Südgallien, Italien und Spanien an. Eine Überprüfung des Ergebnisses auch dieses Teiles von Müllers Untersuchung kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden, wäre aber sicher wünschenswert. 20b Elie GRIFFE, La Gaule chrétienne à l'époque romaine, Bde. 1 u. 2 ( 2 1964/1966). 21 Zum „sogenannten germanischen Arianismus" siehe Knut SCHÄFERDIEK, Christliche Expansion im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter, in: Die Kirche des frühe-

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politisch und religiös bedroht war. Im Jahre 418 lassen die Westgoten sich mit Billigung des römischen Kaisers im Süden Galliens nieder und begründen das Reich von Toulouse 23 - und ihr König Alarich II. (484-507) war der erste Germanenkönig, der ein christliches „Landeskonzil veranlasste oder gestattete" und in dieser Funktion an die Stelle des Kaisers trat 24 . In der Situation Südgalliens seit Beginn des 5. Jahrhunderts diente jedenfalls eine Anpassung und Annäherung kirchlicher an weltliche Strukturen nicht nur der Konzentration und Stabilisierung der römisch-katholischen Kräfte, sondern sie ergab sich vor allem durch die Notwendigkeit einer Anpassung an die neuen Grenzen der germanischen Reiche des 5. und 6. Jahrhunderts 25 . Zugleich entsprach eine solche Politik nicht nur der Denkweise germanischer Könige, die religiöse und weltliche Sphäre nicht zu trennen pflegten, sondern auch der römischen Praxis in heidnischer und christlicher Zeit 26 . Wir wenden uns nun der Frage zu, ob ,Einheit' als theologisch begründete Idee bereits im vor-kaiserlichen Frankenreich eine Geschichte hat und ob und in welchem Maße sie sich wie unter den Karolingern (Schieffer) auch unter den Merowingern auf die Einheit der Kirche bezieht und ob es Anzeichen gibt, die auf die Entwicklung einer auf das Reich bezogenen Einheitsidee schließen lassen. Indem wir sowohl möglichen Spuren einer solchen ,Einheitsidee' als auch den praktischen Voraussetzungen und Folgen der Konzilspolitik für Integrations- und Desintegrationsvorgänge im Frankenreich des 6. Jahrhunderts nachgehen, richten wir unser Augenmerk auch auf die weltlichen Grenzen und mögliche Wechselwirkungen zwischen Einheitsidee und Reichsteilung.

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ren Mittelalters, hg. von DEMS., (Kirchengeschichte als Missionsgeschichte 2, 1, 1978) S. 79-90; DERS., Die Anfänge des Christentums bei den Goten und der sogenannte gotische Arianismus, ZKG 112 (2001) S. 295-310; vgl. auch HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 34 f. Siehe Reinhold KAISER, Die Burgunder (2004) S. 148-152; vgl. Conc. Epaon. c. 33, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 27: Ecclesias haereticorum [...], quas catholicis vi abstulerint. Dietrich CLAUDE, Geschichte der Westgoten (1970) S. 28-53. Eugen EWIG, Die lateinische Kirche im Übergang zum Frühmittelalter 1, in: Handbuch der Kirchengeschichte 2, 2, hg. von Hubert JEDIN (1975) S. 95-179, hier S. 108; vgl. Theodor SCHIEFFER, Die spätantike Reichskirche, in: Handbuch der europäischen Geschichte 1, hg. von Theodor SCHIEDER (1976) S. 78-94, hier S. 84. Auch HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 47. Dazu ERKENS, Divisio (wie Anm. 1); vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2); DERS., Beobachtungen zu den Bischofslisten der merowingischen Konzilien und Bischofsprivilegien, in: Landschaft und Geschichte. Festschrift Franz Petri (1970) S. 171-193, auch in: Spätantikes und fränkisches Gallien 2, hg. von Eugen EWIG / Hartmut ATSMA (Beihefte der Francia 3, 2, 1976) S. 427-455; KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11). EWIG, Lateinische Kirche (wie Anm. 24) S. 111; Karl VOIGT, Staat und Kirche von Konstantin dem Großen bis zum Ende der Karolingerzeit (1936), S. 23: „das römische Reich war in heidnischer Zeit zugleich ein politischer und ein religiöser Verband"; PRINZ, Herrschaftsformen (wie Anm. 18) S. 4.

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2. Die kirchliche Einheitsidee und Versuche ihrer politischen Umsetzung im Frankenreich des 6. Jahrhunderts 2. 1. Zum Eintreten der Bischöfe für die Kontinuität kirchlichen und weltlichen Besitzes nach Reichsteilungen und den Konsequenzen für die Einheit des Reiches Probleme hinsichtlich des Besitzes von Eigentümern in verschiedenen Teilreichen waren Gegenstand eines Briefes, den die beim Konzil von Clermont des Jahres 535 versammelten Bischöfe an Theudebert I., den König des östlichen Teilreiches, sandten (Domino inlustri atque praecellentissimo domno et filio Theodoberto regi [...] episcopi). Diese baten auf das Drängen einer Menge Leute hin (plurimorum ad nos suae disperationis remedium flagitantium turba) ihren König, dafür zu sorgen, dass diejenigen Leute, deren Besitz durch Reichsteilung teilweise in das Gebiet eines anderen als des für sie z u ständigen' Königs fiel, diesen Besitz ohne Beeinträchtigung behalten dürften27. Da die Formulierungen des Briefes sehr allgemein gehalten sind, indem dieser von Leuten spricht, die, während sie der Herrschaft „des einen Königs" unterliegen (dum unius regis quisque potestati ac dominio subiacet), Besitz im Reich des „anderen" haben (in alterius sortem positam cuiuscumque, ut adsolit, inpetitione non amitterit facultatem), scheint es, als ob hier um eine generelle Regelung zwischen den Teilreichen gebeten wird28, bei der Theudebert die Rolle des Vermittlers zukäme. Dies wird in der Absicht der Bischöfe gelegen und dürfte ihrem ,gesamtkirchlichen' und damit auch 27 Concilia aevi Merovingici, ed. Friedrich MAASSEN (MGH LL sect. 3, 1893, 21956) (im Folgenden: Concilia 1), S. 65 ff., hier S. 71. Siehe zur Benutzung der Ausgabe von MAASSEN (1893) den Vergleich mit derjenigen von Carlo DE CLERCQ (CC 148 A, 1963)

bei Hubert MORDEK, Rezension zu Aloys SUNTRUP, Studien zur politischen Theologie im frühmittelalterlichen Okzident (2001), Z R G 122 Kan. 91 (2005) S. 799-802, hier S. 801 f. Zu SUNTRUP auch die Rezension von Arnold ANGENENDT, Z K G 116 (2005) S. 101 f. -

Zum Konzil WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 355; Odette PONTAL, Die Synoden im Merowingerreich (1986) deutsch von I. SCHRÖDER (Konziliengeschichte, Reihe A: Darstellungen) S. 76 ff.; zum Brief an Theudebert Elisabeth MAGNOU-NORTIER, A propos des rapports entre l'Eglise et l'Etat franc: la lettre synodale au roi Théodebert (535), in: Società, istituzioni, spiritualité. Studi in onore di Cinzio Violante (Collectanea/Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo 1, 1994) S. 519-534, hier S. 520 ff., S. 531, zur historischen Situation des Briefes; DIES., La confiscation des biens d'Eglise: un droit royal (VF-VIIIe siècles), in: Aux sources de la gestion publique 2 (1995) S. 149-169, hier S. 149-162; auch SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie oben) S. 84-86. 28 So spricht Martin HEINZELMANN, Bischof und Herrschaft vom spätantiken Gallien bis zu den karolingischen Hausmeiern. Die institutionellen Grundlagen, in: Herrschaft und Kirche, hg. von Friedrich PRINZ (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 33, 1988) S. 23-82, hier S. 70, davon, dass „535 die Bischofsversammlung von Clermont das allgemeine Reichsinteresse vertreten" habe; vgl. auch unten mit Anm. 36.

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,gesamtgallischen' Verhalten entsprochen haben. Jedoch erwähnt der Brief mehrfach das materielle Wohl von Theudeberts Reich (pro regni vestrifelicitate; prosperitatem regno vestro [...] augeatis) und die positive Auswirkung auf dessen Schatz (et thesauris vestris omnino utilius esse censimus) für den Fall, dass er der Bitte nachkommt. Da der Inhalt der Bitte die Sicherung des in das Reich eines anderen (alterius) Königs geratenen Besitzes ist, wobei darauf hingewiesen wird, dass diesem „anderen" König die Steuern aus dem in seinem Gebiet liegenden Besitz zukommen (salvata possessio consitudinariam intulerit functionem), handelt es sich bei den Bittenden (turba flagitantium) also um Leute, die unter der Herrschaft eines anderen Königs standen, aber in Theudeberts Reich Besitz hatten. Zu der gleichen Schlussfolgerung fuhrt auch die an Theudebert gerichtete Bitte, er möge verhindern, dass jemand durch ungerechtfertigte Ansprüche Dritter seinen Besitz verliert (ut nullum de rebus vel possessiunculis alienum piaetas vestra permitterit bzw. cuiuscumque, ut adsolit, inpetitione non amitterit facultatem). Die Bitte war umso mehr gerechtfertigt, als der nicht unter Theudeberts Herrschaft stehende Eigentümer auf dem Boden von dessen Reich offenbar in eine Situation der Schutz- und Rechtlosigkeit geriet 29 . So war man trotz des teilreichsübergreifenden kirchlichen Interesses doch bemüht, das Eigeninteresse des Königs des östlichen Teilreichs zu betonen, um seine generelle Zustimmung zu gewinnen. Dass es allerdings nicht ausschließlich um Leute ging, die nicht Theudebert unterstanden, sondern zumindest ebenso 30 um die Sicherung des Eigentums seiner eigenen Untergebenen, lässt dann allerdings der Satz erkennen, in dem die Bitte noch einmal direkt formuliert wird: Unde [...] quesumus [...] ut tarn rectores ecclesiarum vestrarum, quam universi clerici atque aetiam secularis sub regni vestri conditioni manentis nec non ad domnorum regum patrum vestrorum dominium pertinentis, de eo, quod in sorte vestra est, et quod habere proprium Semper visi sunt, extraneos non permittatis existere, ut securus quicumque propriaetatem suam possidens debita tributa dissolvat domino, in cuius sortem possessio sua perveniP1.

29 MAGNOU-NORTIER, A propos (wie Anm. 27) S. 527, hält eine solche Situation („sans justification au droit de propriété lui-même") fur ausgeschlossen („exclu"). Dass eine solche Situation keineswegs ausgeschlossen war, zeigt schon Gregorii Turonensis historiarum libri VI 46 (wie unten Anm. 112), wonach König Chilperich willkürlich zu Gunsten der Kirche verfaßte Testamente zu verwerfen pflegte. 30 Ähnlich auch MAGNOU-NORTIER, A propos (wie Anm. 27) S. 526: „ces personnes, derrière lesquelles les évêques se dissimulent peut-être". 31 Ausgehend von einer fur die Zeit wohl nicht vorauszusetzenden Rechtssicherheit (und der Annahme, dass die auf uns gekommenen Rechtsquellen vollständig sind!) erklärt MAGNOU-NORTIER, A propos (wie Anm. 27) S. 523 f., 527, den Inhalt des Briefes von 535 unter Beibehaltung der Bedeutung ,Eigentum' für proprietas und ähnliche Bezeichnungen für .unlösbar' (entsprechend auch DIES., La confiscation [wie Anm. 27] S. 159 f.). Daher

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interpretiert die Vfin. (S. 522-531) den Begriff possessio im Anschluss an Interpretationen von Jean Durliat und Walter Goffart (vgl. auch DIES., Le grand domaine: des maîtres, des doctrines, des questions, Francia 15 [1987] S. 659-700, S. 684: „La possessio est l'image fiscale d' une propriété") im Sinne eines königlichen Leihgutes und der auf ihm liegenden Abgaben (S. 526: „D'autres possessores avaient reçu en concession une possessio, généralement à titre de bienfait"), das der jeweils neue König infolge neuer Grenzziehungen bei Reichsteilungen zurückfordern konnte (S. 527 „Un nouveau roi pouvait donc légitimement évincer de leurs possessiones leurs bénéficiaires s'il ne désirait pas proroger le permissus accordé par ses prédécesseurs sur elles"). Auch in ihrem zweiten Aufsatz zum TheudebertBrief (La confiscation [wie Anm. 27], S. 152, S. 160 f.), in dem sie die Beschränkung des Begriffes possessiones auf Leihgüter aufhebt und nun von „possessions [...] propres ou déléguées" spricht, wird das ius proprietarium auf einen „technischen" Begriff possessio bezogen („le sens technique et univoque du mot possessio'"), wobei es sich wiederum nicht um Eigentum an Liegenschaften, sondern nur um von solchen ausgehende fiskalische Rechte handelt. Dass die Formulierungen quod habere proprium Semper visi sunt und securus propriaetatem suam possidens des Theudebert-Briefes allerdings in diesem Sinne zu interpretieren sind, dagegen spricht vor allem die bemerkenswerte Häufung solcher Zusätze, die possessiones über den ,Besitz' hinaus zu .vollem Eigentum' machten, wie der Zusatz proprietas zu possidens und securus zu proprietas oder proprium zu habere und Semper zu proprium. Wenn es denn überhaupt so etwas wie ,volles Eigentum' gab, wie hätte man es noch deutlicher formulieren können? Nach Max KÄSER, Das römische Privatrecht 2, 2 (Rechtsgeschichte des Altertums im Rahmen des Handbuchs der Altertumswissenschaft, 3. Teil, 3, 2, neubearbeitete Aufl. 1975) S. 246-274, bes. S. 247-250, hier S. 249 f. „muß das volle Eigentum [besonders bevor die justinianischen Neuerungen greifen] [...] durch Zusätze umschrieben werden, die / seine unbegrenzte Dauer [semper], seine Veräußerlichkeit [s. u.], Vererblichkeit [s. u.], seinen umfassenden Inhalt usw. unterstreichen". Somit ist auch die als Beleg für die Interpretation von MAGNOU-NORTIER, A propos (wie Anm. 27) S. 527 Anm. 12 angeführte Stelle aus den Formulae Marculfi (I 14, S. 52 f.) als Argumentationshilfe untauglich. Hier heißt es: ita ut eam iure proprietario [...] habeat, teneat atque possedeat et suis posteris [...] aut cui voluerit ad possedendum relinquat, vel quicquid exinde facire voluerit ex nostro permisso libérant in omnibus habeat potestatem. Man darf die „Formel" ex nostro permisso sicherlich nicht losgelöst sehen von der Bestätigung, dass der Begünstigte über die in Frage stehende villa das ius proprietarium (vgl. KÄSER, Römisches Privatrecht, S. 247 f. zu iure) und die libéra in omnibus potestas (KÄSER, Römisches Privatrecht, S. 250 Anm. 26, zu libéra potestas alienandi), einschließlich der freien Vererbbarkeit, haben sollte. - Über den Zusammenhang von potestas und „Obereigentum" siehe Eugen EWIG, Markulfs Formel „De privilegio" und die merowingischen Bischofsprivilegien, in: Aus Archiven (wie Anm. 49) S. 51-69, hier S. 62, vgl. S. 55; ebd. S. 66 zu libertas; auch Hans-Wemer GOETZ, Potestas. Staatsgewalt und Legitimität im Spiegel der Terminologie früh- und hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber, in: Von sacerdotium und regnum, Festschrift für Egon Boshof, hg. von Franz-Reiner ERKENS und Hartmut WOLFF (2002) S. 47-66, hier S. 51 ff. (zum „theologischen Gehalt"), S. 59-63 (potestas und ius); zum 6. Jh. passim, bes. S. 51 mit Anm. 19, 54 mit Anm. 29, 56 mit Anm. 37. - Auch deutet der mehrfache Hinweis auf die Lage der possessiones in der jeweiligen sors, nämlich dem Teilreich in seinen geographischen Grenzen (den räumlichen Aspekt erwähnt in ihrem zweiten Aufsatz auch MAGNOU-NORTIER, La confiscation [wie Anm. 27] S. 160), doch wohl eher auf Liegenschaften (einschließlich der mit ihnen verbundenen Lasten: débita tributa) als auf bloße Rechtstitel, die man sich gebunden an Personen und nicht an ein Territorium denken müsste. Possessiones u. ä. sind nach MAGNOU-NORTIER, A propos (wie Anm. 27) S. 524, 529 f., Erhebungs- und Über-

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Es geht also nicht nur um die Eigentümer (turba flagitantium), die einem anderen König unterstehen (identisch mit den nec non ad domnorum regum, patrum vestrorum dominium pertinentes), d. h. (einstige) Untertanen Chlodowechs, aber auch - und vor allem solche von Theudeberts noch lebenden Oheimen und Mitkönigen, Childeberts I. und Chlothars I., die in Theudeberts Reich Besitz haben {de eo quod in sorte vestra est), sondern ebenso um die Eigentumssicherung der Bittsteller selbst (rectores ecclesiarum und saeculares [...] sub regni vestri conditioni manentis). Das bedeutete aber für Theudebert die Abtretung der Steuern für solchen Besitz der seiner Herrschaft unterstehenden Eigentümer, der in einem anderen als seinem östlichen Teilreich lag. Mit ihrer Bitte beweisen die Bischöfe auf der Basis der Unveränderbarkeit kirchlichen und ,weltlichen' Besitzes (quod habere proprium Semper visi sunt) eine die Herrschaften aller Merowingerkönige umfassende Gemeinsamkeit32, wobei ihre Zugehörigkeit zu König Theudebert aber doch deutlich bleibt33. tragungsrechte oder Steueranteile, insgesamt also Nutzungsrechte an öffentlichen Einnahmen (ressources publique) die der König bei Grenzveränderungen durch Reichsteilungen zurückfordern kann. Auch die (DIES., A propos [wie Anm. 27] S. 525 Anm. 9; vgl. DIES., La confiscation [wie Anm. 27] S. 161) unter Hinweis auf Durliat zitierte Cassiodor-Stelle (Variae 52, S. 107) scheint nicht geeignet, die These zu stützen. Abgesehen davon, dass sie von der Mommsenschen MGH-Ausgabe mehrfach abweichend zitiert und so meines Erachtens gar nicht übersetzbar ist (es muss nach MOMMSEN heißen: Augusti siquidem temporibus orbis Romanus agris divisus censuque [anstatt censusque] descriptus est, ut possessio sua nulli haberetur [anstatt habent, A propos: S. 525 Anm. 9 bzw. habentur, Francia 15: S. 684] incerta, quam [sc. possessionem] pro tributorum susceperat quantitate solvenda), hängt auch deren Interpretation von der Deutung der Begriffe possessio und tributa ab. Unbestreitbar scheint mir, dass es im Theudebert-Brief in erster Linie um Liegenschaften und mit ihnen verbundene Steuern geht. Ein Recht der Merowingerkönige zum Einzug von possessiones infolge neuer Grenzziehungen der sortes bei Reichsteilungen kann schwerlich aus dem römischen Recht abgeleitet werden, da diese politische Konstellation darin nicht vorgesehen war. Meines Erachtens ist der Brief von 535 in einer Situation extremer Rechtsunsicherheit eben gerade geschrieben worden, weil es kein ,Rückforderungsrecht' des Königs gab. Begründet werden konnte eine Rückforderung allenfalls mit dem Entzug des Wohlwollens des Königs (vgl. ex largitate regis, ex nostro promisso), ein Vorgang, der im 6. Jh. die Grenze zur Willkür nicht selten überschritt. Wenn die Bischöfe ihre Forderung als Bitte formulieren, so ist dies kein Beweis für ein Recht des Königs, sondern kann ebensogut als diplomatische Formulierung gegenüber seiner Herrschaftsgewalt gedeutet werden. Vgl. auch HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 38; zum Rückforderungsrecht des Königs S. 53. 32 Siehe auch unten mit Anm. 117. 33 Vgl. SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 84. Zu erinnern ist hier auch an den Protestbrief Bischof Leos von Sens an Childebert I. (wie unten Anm. 77), in dem er die kirchliche Zugehörigkeit des Castrum Mecleduninse zu seiner Kirchenprovinz energisch mit dem Hinweis darauf verteidigt, dass er ohne den Befehl seines Königs Theudebert (sine iussu gloriosissimi domni principis nostri [...] Theodoberthi regis, cuius somus regni ordenatione subiecti) nicht zur Einsetzung eines Bischofs in Melun bereit sei, um so die kirchlichen Grenzen an die weltlichen anzupassen, da das Gebiet von Melun zu Childeberts

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So ergibt sich aus diesem Brief zwar einerseits, dass sich Leute, die zu einem anderen König gehörten, mit ihrer Bitte an die Bischöfe aus Theudeberts Reich wandten, wodurch die Vertreter der Kirche sich als verbindendes Glied und Vermittler zwischen den Teilreichen erweisen. Aus dem Brief ist aber zugleich ersichtlich, dass Reichsteilungen und Herrschaftswechsel in der Realität große Unsicherheit hinsichtlich der Besitzverhältnisse nach sich zogen 34 . Wie noch aus dem Konzil von Paris des Jahres 614 hervorgeht, blieb es ein Problem, das nicht nur Weltliche, sondern auch Bischöfe Reichsteilungen (regnorum divisio) und ,Provinzialabtrennungen' (provindarum sequestratio) dazu benützten, sich auf Kosten anderer zu bereichern35. Die „Beeinträchtigung" namentlich des Besitzes von Leuten eines anderen Merowingerkönigs geschah dabei offensichtlich durch unrechtmäßige Ansprüche dritter Personen (Ut [...] in alterius sortem positam cuiuscumque, ut adsolit, inpetitione non amitterit facultatem). Die Bischöfe sind es somit, die den König um Kontinuität der Besitzverhältnisse nach Herrscherwechseln bitten, die ihn daran erinnern, dass diese securitas des Besitzes letztlich Vorteile für den thesaurus bringt und damit der inneren Konsolidierung des jeweiligen Teilreichs - damit aber auch des gesamten Frankenreiches 36 - nützt. Hier soll nun auf Bitten der Bischöfe eben das geschehen, was einem „Prinzip" der Angleichung kirchlicher an weltliche Grenzen widerspricht: wenn nämlich die Eigentumsverhältnisse trotz neuer Teilreichsgrenzen gewahrt bleiben, so steht dies der Koinzidenz der kirchlichen mit den weltlichen Grenzen entgegen und fördert damit praktisch nicht nur die , Einheit' der Kirche, sondern auch die Einheit des Frankenreiches, indem es die KirReich gehörte. Dazu KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 18 f. Auch in diesem Brief wird wieder auf bestehendes, altes Recht verwiesen: iniungetis, ut ea, quae anteacto tempore facta non sunt, nunc [...] debeant incoari. 34 A u f die Situation bei Reichsteilungen ist auch Conc. Aurel. 549, c. 14, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 104, in erster Linie zu beziehen: Ut nullus episcoporum aut cuiuslibet ordinis clericus vel alia quaecumque persona quibuslibet condicionibus seu in uno regno seu in alio positus alterius cuiuscumque ecclesiae res aut petat aut praesumat accipere. Vgl. auch Carlo DE CLERCQ, La législation religieuse franque de Clovis à Charlemagne 504-814 (1936) S. 17. 35 Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 188 f., Parisiense 614, c. 11; siehe auch unten Zitat nach Anm. 49, 54; vgl. Edictum Chlotharii (614), Capitularia regum Francorum, BORETIUS (MGH LL sect. 2, Capitularia 1, 1 8 8 3 , 2 1 9 6 0 ) S. 20-23, hier S. 23, c. tes igitur episcoporum aut potentum per potestatem nullius res collecta solacia rant, nec cuiuscumque contemptum per se facere non praesumant.

bzw. Text ed. Alfred 20: Agennec aufe-

36 Die Bezugnahme des Briefes auf regnum vestrum und thesauri vestri ausschließlich auf Theudebert I. ist ja keineswegs eindeutig. Sowohl der Plural des Possessivpronomens als auch der von thesauri kann durchaus auf alle Merowingerkönige bezogen werden, wenn man die Vermeidung von sicher nicht immer friedlichen Auseinandersetzungen und deren negative wirtschaftliche Auswirkungen auf das Gesamtreich in die Überlegungen einbezieht. Vgl. auch unten mit Anm. 117.

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che als Institution, vertreten durch den Episkopat, und einflussreiche weltliche Personen gibt, die teilreichsübergreifend Besitztümer bewirtschaften und so nicht nur einem Teilkönig unterstehen, sondern einem zweiten oder dritten steuerpflichtig sind37.

2.2. Die theologisch begründete Einheitsidee des fränkischen Episkopats zwischen der Mitte des 6. Jahrhunderts und dem Konzil von Paris 614 In den Konzilien von Tours 567, noch zur Zeit König Chariberts, und Paris 556-57338 - die Stadt wurde 567, nach dem Tod Chariberts, den überlebenden Brüdern Gunthramn, Sigibert I. und Chilperich I. gemeinsam unterstellt39 - ergeht der Beschluss der versammelten Bischöfe, dafür Sorge zu tragen, dass einmal der Kirche geschenkte Güter nicht unter dem Vorwand veränderter Teilreichsgrenzen (per Interregna) oder angeblicher Schenkung durch einen König (sub specie largitatis regiae) von Dritten beansprucht werden40. Weil nämlich die Macht Gottes die Grenzen aller weltlichen Reiche durch ihre allumfassende Herrschaft umschließe (Neque quisquam per interregna res Dei defensare nitatur, quia Dei potentia cunctorum regnorum terminos singulari dominatione concludet)41, seien solche , Zeiten unsicherer/vorüber37 Über die Rolle der Bischöfe in der Steuerverwaltung zwischen civitas und Fiskus siehe Reinhold KAISER, Steuer und Zoll in der Merowingerzeit, Francia 7 (1979) S. 1-17, bes. S. 15 f.; DERS., Königtum und Bischofsherrschaft im frühmittelalterlichen Neustrien, in: Herrschaft und Kirche (wie Anm. 28) S. 83-108, hier S. 90 f.; HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 45-54, hier auch weitere Literatur, vgl. ebd. S. 37 ff. (Episcopus civitatis und reliqui possessores). 38 Zur Datierung unten Anm. 100. Zur Bedeutung der beiden Konzilien für eine „politische Theologie" der Einheit auch SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 93-103, 186, 416; vgl. Elisabeth MAGNOU-NORTIER, Existe-t-il une géographie des courants de pensée dans le clergé de Gaule au VI e siècle?, in: Grégoire de Tours et l'espace gaulois, hg. v o n N a n c a GAUTHIER / H e n r i GALINIÉ ( 1 9 9 7 ) S. 1 3 9 - 1 5 7 , h i e r S. 153 f.

39 EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 679. 40 Conc. Paris. (556-573), Concilia 1 (wie Anm. 27) c. 1, S. 142 f.; auch c. 3; S. 143: absque praeiudicio liberalitatis regiae. Zu sub specie largitatis regiae siehe MAGNOU-NORTIER, Existe-t-il (wie Anm. 38) S. 155. Vgl. aber oben Anm. 31. 41 Conc. Paris, (wie vorige Anm.) c. 1, S. 142; Conc. Turon. 567, c. 26, ebd. S. 135. Dass die merowingischen Bischöfe „ein prinzipielles Argument gegen die Angleichung der Sprengel ... hier [im 6. Jh.?] wie in der modernen Diskussion um diese Frage nicht vorgebracht" (KAISER, Bistumsgründungen [wie Anm. 11] S. 35) haben, kann nach diesen Belegen wohl nicht aufrecht erhalten werden. - ,Defensare' ist hier ein juristischer terminus technicus und bedeutet ,ein Recht beanspruchen': siehe Heinrich GEORGES, Ausführliches lateinischdeutsches Handwörterbuch 2 Bde. ( s 1913, 11 1962) 1, Sp. 1958, defensio II 1; vgl. Conc. Turon. 567, c. 26, S. 135: Indigne enim ad altare Domini properare permittitur, qui res ecclesiasticas et audet rapere et iniuste possidere iniqua defensione perdurat.

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gehender Herrschaft' (Interregna) kein Anlass für irgendwelche den kirchlichen oder privaten 42 Grundbesitz von Bischöfen betreffende neue Grenzziehungen. So liefern diese beiden Konzilien nun tatsächlich die theologische Begründung nicht nur für die diesen zugrundeliegende, sondern auch für die Politik der Bischöfe in ihrem Brief an Theudebert I. von 535. Das heißt, dass diese Richtlinie' der bischöflichen Politik übereinstimmend von den Kirchenvertretern der verschiedenen Teilreiche verfolgt wird; und zwar im östlichen Teilreich Theudeberts I. und im Pariser Reich Chariberts I. Freilich war und blieb dies zunächst eine Forderung, an die sich die Angesprochenen keineswegs hielten, wie die Wiederholung der Aufforderung auf dem Konzil von Paris 614 zeigt 43 . Der Beschluss dieses Konzils im von Chlothar II. wieder allein beherrschten Frankenreich unterscheidet sich allerdings wesentlich von den Formulierungen seiner Vorgängerkonzilien in Tours 567 und Paris 556-573. Hier unterbleibt nämlich der Hinweis auf die potentia Dei und deren dominatio singularis. Auch ist - im Gegensatz zum Edictum Chlotharii desselben Jahres, in dem der Begriff im Zusammenhang mit der Vergangenheit noch vorkommt - nicht mehr von interregnaM, von ,Zwischenherrschaften' oder .Zwischenreichen' die Rede, obwohl andererseits die divisio regnorum (und die neu aufgenommene sequestratio provinciarum) als reale Situation berücksichtigt wird. Die Formulierung verzichtet - auf dem Hintergrund der Alleinherrschaft Chlothars II. im Jahre 614 - auf die theologische Begründung für die Nichtbeachtung weltlicher Grenzen und sieht andererseits die divisio regnorum (ebenso wie die sequestratio provinciarum) weiterhin als Realität, aber nicht mehr als einen , unsicheren Zustand' oder eine ,Übergangszeit' (Interregnum) an 45 . Dies darf wohl als Zeichen für ein Zurücktreten des theologisch begründeten Einheitsgedankens und die Akzeptanz der Realität des germanischen Teilungsprinzips seitens der Bischöfe unter Chlothar II. gewertet werden, zumal da der König im Jahre 614 mit weiteren Söhnen gerechnet haben dürfte 46 . Es könnte eine

42 Vgl. unten mit Anm. 49. 43 Vgl. oben Anm. 35. Mit Bezug auf das Edictum Chlotharii von 614 spricht Eugen EWIG, Überlegungen (wie Anm. 1) S. 234 von einer „dem Edikt zugrunde liegenden Konzeption eines über der Trias der Teilreiche stehenden Einheitskönigtums". Zur Stärkung des königlichen Einflusses auf kirchliche Angelegenheiten seit Chlothar II. siehe Friedrich PRINZ, Der fränkische Episkopat zwischen Merowinger- und Karolingerzeit, in: Nascita dell'Europa (wie Anm. 1) S. 101-133/146, hier S. 114, zur „Gesamtherrschaft" S. 124; vgl. auch SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 110-116, 186. 44 Edictum Chlotharii (wie Anm. 35) S. 23, c. 17: Et quae unus de fldelibus ac leodebus, sua fide servandum domino legitimo, interregna faciente visus est perdedisse [...]. 45 Siehe Thesaurus Linguae Latinae 7, 1 (I - intervulsus) Sp. 2264 zu Interregnum', Nr. 2: apud francogermanos de statu divisione regni effecto. Es dürfte kein Zufall sein, dass man für den Zustand der Teilreiche sich eines lateinischen Begriffes bediente, der im klassischen Latein für einen labilen, unsicheren Zustand zwischen zwei Herrschaften stand. 46 Dagobert wurde 608, Charibert 618 geboren.

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Folge einer schon jetzt eingetretenen Germanisierung mächtiger, königsnaher Teile des fränkischen Episkopats besonders des Nordwestens sein47, die längerfristig auch einer zunehmenden Sakralisierung des germanischen (westfränkischen) Königtums nicht entgegenstehen musste48. Deutlicher formuliert dieses Konzil auch, gegen wen sich die Bestimmung richtet, nämlich sowohl gegen Bischöfe als auch gegen saeculares, die anderen Bischöfen nach dem Gut ihrer Kirche oder ihrem .Privateigentum'49 trachten (ut nullus episcoporum vel saecularium cuiuscumque alterius episcopi seu ecclesiae seu privatas res aut regnorum divisione aut provinciarum sequestrationem conpetere aut pervadere audeat). Testamente und Schenkungen von Klerikern sowohl an die Kirche als auch an jede andere Person sollen selbst dann Gültigkeit haben, wenn sie den weltlichen Gesetzen widersprechen (etiamsi quorumcumque religiosorum voluntas [...] aliquid a

47 Dem widerspricht es nicht, dass gerade unter Chlothar II. und Dagobert I. eine besonders enge Bindung der Bischöfe an den König beobachtet worden ist. Siehe Carlo SERVATIUS, Per ordinationem principis ordinetur. Zum Modus der Bischofsernennung im Edikt Chlothars II. vom Jahre 614, ZKG 84 (1973) S. 1-29; HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 77 f. Vielmehr scheint der Verzicht auf die theologische Begründung eine fortschreitende ,Verweltlichung' und zunehmenden Einfluss der weltlichen Macht auf die Konzilspolitik zu bestätigen. Hierzu HEINZELMANN ebd. S. 78 f. mit Anm. 274 u. 279; Georg SCHEIBELREITER, Der frühfränkische Episkopat. Bild und Wirklichkeit, FmSt 17 (1983) S. 131-147, hier S. 134 mit Anm. 14. Heinzelmann weist die Aussage Scheibelreiters über eine Germanisierung des gallischen Episkopats im 7. Jh. zurück, indem er darauf verweist, dass von acht Bischöfen sechs „romanischen Familien" entstammten. Nimmt man aber hinzu, dass drei dieser sechs Bischöfe eine Mutter mit germanischem Namen hatten, die mit einiger Wahrscheinlichkeit auch germanischer Herkunft waren, so bleibt eine ,Germanisierung' trotz lateinischer Namen der Bischöfe doch erkennbar. Dazu auch Heike GRAHN-HOEK, ZU Mischehe, Namengebung und Personenidentität im frühen Frank e n r e i c h , Z R G G e r m . 121 ( 2 0 0 4 ) S. 1 0 0 - 1 5 7 , h i e r S. 1 3 1 - 1 3 4 ; v g l . e b d . S.

134-137,

S. 144. - Zum Verhältnis von weltlicher und kirchlicher Macht siehe auch Dietrich CLAUDE, Die Bestellung der Bischöfe im merowingischen Reich, ZRG 80 Kan. 49 (1963) S. 1 - 7 5 , b e s . S. 5 5 - 5 7 ; KAISER, K ö n i g t u m ( w i e A n m . 3 7 ) S. 8 6 m i t A n m . 7, b e s . S. 88,

S. 92 (zu Dagobert). 48 Vgl. dazu ERKENS, Einheit (wie Anm. 2) S. 280 ff. 49 Vgl. Conc. Paris. (556-573), c. 2, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 143: quia episcoporum res propriae ecclesiarum res esse noscuntur; vgl. Conc. Turon. 567, c. 25, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 134: tarn ecclesiae quam episcopi res proprias, quae et ipse ecclesiae esse noscuntur, auch Konzil von Autun um 670, neu hg. von Hubert MORDEK / Roger E. REYNOLDS, Bischof Leodegar und das Konzil von Autun, in: Aus Archiven und Bibliotheken, Festschrift für Raymund Kottje, hg. von Hubert MORDEK (1992) S. 71-92, II, S. 88: Abbates res monasterii tamquam conmendatitias, non quasi proprias possideant. Der Hinweis non quasi proprias wäre wohl kaum gemacht worden, wenn dies keine reale Alternative gewesen wäre. Siehe auch HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 37 f. mit Anm. 62. Zum Kirchengut und über die „außerordentliche Zähigkeit, mit der die Konzilien das Kirchenvermögen immer wieder verteidigen" auch SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 174-177 (Zitat S. 175); vgl. MAGNOU-NORTIER, Existe-t-il (wie Anm. 38) S. 154.

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legum saecularium ordine visa fuerit discrepare)50. Auch dadurch wirkt die Kirche integrierend, dass sie sich über die im Frankenreich gültigen weltlichen Rechte der Franken, Burgunder, (Gallo-)Römer und nicht zuletzt die Gesetze der fränkischen (Teil-)Könige legt oder dies doch versucht51. Da erst Agobard von Lyon die theoretische Forderung nach Rechtseinheit aufstellt, deutet sich hier an, „daß gelegentlich [...] Verfassungswirklichkeit fortgeschrittener ist als ihre theoretische Beherrschung"52. Offenbar boten Reichsteilungen nicht nur einen willkommenen Anlass, sich fremden Besitz anzueignen, sondern auch die Abtrennung von Provinzen oder deren Teilen (provinciarum sequestratio)5i ist dem Konzil von Paris 50 Zitate Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 188 f., c. 11 und 12. 51 Während die Überlagerung der weltlichen Rechte durch kirchliches Recht einerseits eine integrative Wirkung hatte, war der Versuch kirchlicher Kreise, kirchliches Recht auch gegen ein königliches Dekret durchzusetzen, zugleich eine Machtfrage auf höchster Ebene (vgl. etwa Conc. Aurel. 511, c. 23, Concilia 1 [wie Anm. 27] S. 7: Ecclesiae ex saeculari lege praescriptio ne opponatur). Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Durchsetzung kirchlichen Rechts und der weltlichen Herrschaft des Königs stellt Gregor von Tours (hist. IV 26) her, der im Zusammenhang mit der nicht nach Kirchensatzung erfolgten Weihe des Bischofs Emerius von Saintes, dessen Absetzung und der Neubesetzung des Bistums den neuen Anwärter gegenüber König Charibert äußern lässt, er möge die von kirchlicher Seite geplante Neubesetzung bestätigen „auf dass, während die Übertreter der Kirchengesetze den Regeln entsprechend überfuhrt (und bestraft) werden, die Macht deiner Herrschaft bis auf die fernsten Zeiten bewahrt werde" (ut, dum transgressores canonum regulariter arguuntur, regni vestri potentia aevis prolixioribus propagitur; vgl. Übersetzung bei Rudolf BUCHNER, Gregor von Tours. Zehn Bücher Geschichten, 2 Bde. (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 2 und 3, 1967) 1, S. 229. Die Reaktion Chariberts ist jedoch eindeutig geprägt von der Priorität königlicher Macht und daraus fließenden ,weltlichen' Rechts gegenüber kirchlichem Recht. Für ihn haben das Dekret seines Vaters Chlothar I. und sein eigenes königliches iudicium eindeutig Vorrang: Potasne, quia non est super quisquam de filiis Chlothari regis, qui patris facta custodiat, quod hi episcopum, quem eius voluntas elegit, absque nostrum iuditio proiecerunt? Siehe CLAUDE, Bestellung (wie Anm. 47) S. 31; MAGNOU-NORTIER, Existe-t-il (wie Anm. 38) S. 150. Zur römisch-rechtlichen Situation Galliens siehe jetzt auch Detlef LIEBS, Römische Jurisprudenz in Gallien (2. bis 8. Jh.) (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen NF 38, 2002) Kap. 3, 3, vgl. S. 174179; vgl. Eugen EWIG, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter (VuF 3, 1956) S. 7-73, hier bes. S. 17-41. 52 FRIED, Herrschaftsverband (wie Anm. 1) S. 11, bes. S. 24 f.; vgl. Josef SEMMLER, Reichsidee und kirchliche Gesetzgebung, ZKG 71 (1960) S. 37-65, hier S. 57-59; SCHIEFFER, Einheit (wie Anm. 1) S. 45 ff.; vgl. auch Hans Hubert ANTON, Antike Großländer, politische-kirchliche Traditionen und mittelalterliche Reichsbildung, ZRG Kan. 117 (2000) S. 33-85, hier S. 40 f. mit Anm. 6. 53 Wenn Eugen EWIG, Lateinische Kirche (wie Anm. 24) S. 110, äußerte, dass „die Kirchenprovinzen" durch „die Grenzziehung zwischen den Teilreichen [...] gar nicht berührt" wurden, so ist einzuschränken, dass sich diese Aussage nur auf die Provinzialeinteilung im Großen beziehen kann. Denn Änderungen der Diözesangrenzen berührten doch immer zugleich auch die betroffene Kirchenprovinz. Welche rechtliche oder ,verwaltungstechnische' Bedeutung sollte auch die Bezeichnung provincia in der Formulierung sequestratio provinciarum neben dem Begriff der divisio regnorum im frühen 7. Jh. haben? Mit diesen provin-

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des Jahres 614 eine eigene Formulierung wert, sei es, dass diese als unmittelbare Folge von Reichsteilungen gedacht sind, oder dass auch andere sequestrationes provinciarum - infolge innerkirchlicher Streitereien54 - gemeint waren. In Paris 614 wurden die Bischöfe und die ebenfalls in Frage kommenden weltlichen Personen aufgefordert, Kirchengut aus Anlass solch einer Teilung weder zu begehren (conpetere) oder zu verwüsten (pervadere) noch auf Grund von irgendeiner falschen Voraussetzung (acceptationibus) oder Gewalteinwirkung (pervasio) in Besitz zu nehmen (possedere) oder (infolge einer solchen unrechtmäßigen Maßnahme) zu behalten (retiñere)55. Diese Anordnung geschehe iuxta antiquorum patrum constituía. Am wahrscheinlichsten bezieht sich dieser Hinweis unmittelbar auf die entsprechenden Passus der beiden Konzilien von Tours 567 und besonders Paris (556573). Auch in Paris 614 ist somit das kirchliche Streben nach Wahrung des hergebrachten Zustandes und Unabhängigkeit von Veränderungen weltlicher Grenzen deutlich56, das in den ca. ein halbes Jahrhundert älteren Konzilien damit begründet worden war, dass die Herrschaft Gottes eine einzige sei (dominatio singularis) und alle weltlichen Grenzen umschließe (cunctorum regnorum términos [...] concludit).

ciae sind wohl doch die Amtsbereiche der Metropoliten gemeint, die sich an die weltliche römische Provinzialeinteilung anlehnten. Vgl. MÜLLER, Parochie und Diözese (wie Anm. 14) S. 181 ff.; Theodor SCHIEFFER, Reichskirche (wie Anm. 24) S. 83; vgl. PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 116, 225 ff.; KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 21; zum Begriff ,provincia' auch Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 73 (Aurel. 538, c. 1); S. 88 (Aurel. 541, c. 5); S. 106 (Aurel. 549, c. 18) und S. 108 (Lugdunense 567/570, c. 23). 54 Vgl. Rudolf SCHIEFFER, Der Bischof zwischen civitas und Königshof (4.-9. Jh.), in: Der Bischof in seiner Zeit. Bischofstypus und Bischofsideal im Spiegel der Kölner Kirche, Festgabe für Joseph Kardinal Höffner (1986) S. 17-39, hier S. 24; vgl. HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 61; auch MÜLLER, Parochie und Diözese (wie Anm. 14) S. 181 ff.; Vgl. zur Situation des 7. Jhs. Hubert MORDEK, Bischofsabsetzungen in spätmerowingischer Zeit. Justelliana, Bernensis und das Konzil von Mälay (677), in: Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Festschrift für Horst Fuhrmann zum 65. Geburtstag, hg. von DEMS. (1991), S. 31-53, hier S. 36 ff. unten bei Anm. 174. 55 Siehe auch oben Anm. 17 und 41. 56 Vgl. oben mit Anm. 13; auch SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 122-124, 154 zu 673/675.

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3. Konzilspolitik zwischen kirchlicher Einheit und weltlicher Reichsteilung 3. 1. Reichs- und Teilreichskonzilien bis zum Tode Sigiberts I. (t 575) Schon Albert Hauck wies auf die „eigenartige" Tatsache hin, „daß sich auf den Synoden nicht die Glieder eines kirchlichen Sprengeis zu versammeln pflegten, sondern die Bischöfe des fränkischen Reichs oder eines Teilreichs" 57 . Für weitaus die meisten (überlieferten) Konzilien des 6. Jahrhunderts traf dies zu. Diese wurden denn auch in der Regel vom König einberufen 58 . Neben sachlichen Problemen der Einordnung der Konzilien in ein System erschweren verschiedene Bezeichnungen für die unterschiedlichen Arten von Konzilien in der französischen und deutschen Literatur die Übersicht. So unterscheidet Carlo de Clercq von den Provinzialkonzilien die Generalkonzilien (conciles générais), deren Teilnehmer den Rahmen einer Kirchenprovinz sprengten. Daneben sprach er von Nationalkonzilien (conciles nationals), an denen Abgesandte des gesamten fränkischen Territoriums beteiligt waren, vor allem zu Zeiten, in denen das Reich geteilt war, einerseits und von Regionalkonzilien (conciles régionals), an denen die Bischöfe eines oder mehrerer, nicht aber aller Teilreiche beteiligt waren, andererseits. Odette Pontal benutzt die gleichen Bezeichnungen teilweise in anderer Bedeutung und Margarete Weidemann bezieht auch weltliche Versammlungen in ihre Terminologie ein 59 . Besonders der Parallel-Überlieferung bei Gregor von Tours verdanken wir die Erkenntnis, dass die Konzilien des 6. Jahrhunderts „eher eine politische als eine kirchliche Einrichtung geworden" 60 waren.

57

Albert HAUCK, Kirchengeschichte Deutschlands 1 ( 1 9 5 4 ) S. 15.

58

HAUCK, Kirchengeschichte ( w i e A n m . 5 7 ) S. 154 f.; vgl. HEINZELMANN, B i s c h o f ( w i e A n m . 2 8 ) S. 69, S. 35 mit A n m . 51.

59

DE CLERCQ, La législation (wie A n m . 3 4 ) S. 4; bei PONTAL, S y n o d e n (wie A n m . 27) ist ein ,Nationalkonzil' eben gerade nicht ein Konzil aller Teilreiche, sondern ein Teilreichskonzil (S. 5), für das w i e bei de Clercq auch die B e z e i c h n u n g .Generalkonzil' (u. a. S. 141) gebraucht wird. .National' wird hier offensichtlich gebraucht im Sinne einer Übereinstimm u n g des Konzilsbereiches mit d e m weltlichen Herrschaftsbereich eines Königs. WEIDEMANN, Kulturgeschichte ( w i e A n m . 11) S. 3 5 0 f. teilt - inhaltlich durchaus mit einer g e w i s s e n Konsequenz - ein in: allgemeine Reichsversammlungen, Nationalkonzilien, Teilreichsversammlungen/ Teilreichskonzilien, Provinzialversammlungen, Regionalversammlungen. EWIG, Bischofslisten ( w i e A n m . 2 5 ) S. 427, bezeichnet als „Regionalkonzilien" eine „ z w i s c h e n die Provinzial- und die großen Reichs- und Teilreichssynoden" einzuschiebende Mittelgruppe v o n Konzilien, „die sich aus 2 - 3 Provinzen rekrutierten".

60

PONTAL, Synoden ( w i e A n m . 2 7 ) S. 4.

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3. 1. 1. Reichskonzilien Abgesehen vom Konzil von Paris des Jahres 511, das noch unter der Reichseinheit Chlodowechs stattfand, zählt man zu den ,Nationalkonzilien', die ich mit Ewig61 lieber Reichskonzilien oder -synoden im Gegensatz zu Teilreichskonzilien bzw. -synoden nennen möchte, an denen Bischöfe aller merowingischen Teilreiche teilnahmen, die Konzilien von Orléans der Jahre 533, 541 und 549, sowie das Pariser Konzil von 552. Aber auch das Konzil von Orléans 538 reiht sich hier meines Erachtens ohne Schwierigkeiten ein, da auch an ihm Bischöfe aller drei Könige teilnahmen62, wenn auch mit Tours nur ein einziges Bistum aus Chlothars Reich63. Diesen sechs Reichssynoden stehen auf fränkischem Reichsboden im 6. Jahrhundert neben wenigen im Wortlaut überlieferten und einigen von Gregor von Tours erwähnten Provinzialkonzilien64 über zwanzig Teilreichssynoden65 gegenüber.

61 EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25), S. 427 ff. 62 EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 673; anders PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 79; zu Orléans 538 vgl. auch Carlo DE CLERCQ, La physionomie géographique des conciles mérovingiens, in: Premier congrès international de géographie historique 2. Mémoires (1931) S. 66-74, hier Karte S. 70; auch folgende Anm. 63 Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 86, Aurelianense 538. Tours war 524 aus Chlodomers Reich an Chlothar gekommen. Auch bei den übrigen Konzilien von Orléans waren die Städte Chlothars auffällig in der Minderheit. So lassen sich insgesamt nur 3 (5?) civitates Chlothars als Teilnehmer nennen, davon nur Laon (549) aus seinem Kernreich und daneben die beiden Nachbarstädte von Orléans, Tours (533, 538, 541, 549) und Poitiers (533, 541), die Chlothar aus Chlodomers Reich erhalten hatte; vermutlich darf man Valence und Embrun aus seinem burgundischen Anteil hinzunehmen. Die Gründe fur diese Tatsache lagen sicherlich darin, dass Chlothar ganz offensichtlich das kleinste Kernreich besaß und dass gerade über sein Reich, besonders was seine aquitanische Exklave betrifft, in den Quellen kaum etwas verlautet, so dass ihm außer Tournai, Arras, Cambrai, Noyon, Laon und Soissons keine civitas - auch keine einzige aquitanische - mit Sicherheit zugewiesen werden kann. Das, obwohl man weiß, dass ihm ein Nord-Süd-Streifen zwischen dem Ostreich und dem Reich Childeberts gehörte; vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 660 f. Aquitanische Bistümer, die sich keinem König zuordnen lassen, und in diesem Streifen gelegen haben, wie Périgueux (533) oder in der Gascogne St. Liziers (Orléans 549), Comminges (533; 549), Lectoure (549), Agen (549) u. a. könnten auch Chlothar gehört haben. Als burgundischen Anteil Chlothars vermutet Ewig den Süden bis zur Durance mit Valence und Embrun. Vgl. unten Anm. 97. 64 CHAMPAGNE / SZRAMKIEWICZ, Conciles (wie Anm. 11) Tabelle, S. 16 f. unter „P", zählen zu ihnen nur Eauze 551 und Arles 554. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S . 3 5 1 , 3 5 8 , 3 6 2 f , 3 6 6 f f . , v g l . 3 7 4 ; PONTAL, S y n o d e n ( w i e A n m . 2 7 ) S . 4 , 1 0 4 f f . ,

153 ff., 202. 65 WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11), S. 355, 359 ff., 366, 370 f. vgl. 373 f.; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) Inhaltsverzeichnis, passim (alle nicht ausdrücklich als ,Provinzialkonzilien' bezeichneten Konzilien sind Teilreichs- oder .Nationalkonzilien').

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Besonders wichtig waren für den inneren Zusammenhalt des fränkischen Reiches die Konzilien von Orléans in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts66. Ihre Beliebtheit als Konzilsort verdankt die Stadt wohl ihrer zentralen Lage und möglicherweise auch der Tatsache, dass sie einst Hauptstadt des nunmehr aufgeteilten Chlodomer-Reiches gewesen war. Zwar war nur das durch Chlodowech einberufene Konzil von 511 ein Konzil des ganzen fränkischen Reiches67, jedoch haben auch an den folgenden durch Childebert I. einberufenen Konzilien civitates aus allen geographischen Gebieten des Frankenreiches teilgenommen68. So erstreckte sich das Reich Childeberts69 selbst schon über ganz Gallien, nämlich von Amiens im Norden über Rennes (?), Saintes, Bordeaux und Dax (?)70 im Westen und Südwesten bis Marseille und Nizza 71 , um über Grenoble, Lyon und Macon72 nach Orléans und Amiens zurückzuführen. Auch wenn diesem Reich nicht das gesamte dazwischenliegende Gebiet angehörte, so umschloss es doch - abgesehen von dem auch nach 531/32 weiterhin gotischen Septimanien73 - große Gebiete des Ostreiches im östlichen Aquitanien, die über Bourges (533 von Childebert an Theudebert abgetreten) und nordburgundisches Gebiet (534) mit dessen Kernland verbunden waren und schließlich jeweils eine aquitanische und eine burgundische Enklave74, die zum Reich Chlothars I. gehörten. Daher 66 Vgl. EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 429 f.; DERS., Überlegungen (wie Anm. 1)

S. 227 f. 67 Vgl. die Karten S. 9 und 42 bei CHAMPAGNE / SZRAMKIEWICZ, Conciles (wie Anm. 11).

68 Dazu CHAMPAGNE / SZRAMKIEWICZ, Conciles (wie Anm. 11) Karte S. 12; zur Bedeutung der ,Childebert-Konzilien' siehe EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 429 ff., 447 f.; vgl. SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 154 f.; MAGNOU-NORTIER, Existe-t-il (wie Anm. 38) S. 141. 69 Vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 653. Childebert hatte bei der Teilung von Chlodowechs Reich im Jahre 511 das Küstenreich etwa zwischen Somme und Loire mit Sitz in Paris bekommen. Beim Tod des Bruders Chlodomer (524) dehnte sich sein Besitz weiter nach Süden und Osten aus. Mit Orléans kam der Hauptort des Bruders an ihn, darüber hinaus Bourges sowie Teile von Sens und Nantes (?). Dazu EWIG ebd. S. 668. 70 Zwar wird Dax nicht explizit als Stadt Childederts I. erwähnt, man kann aber davon ausgehen, dass Aquitanien unter die Brüder etwa in Nord/Süd-Streifen aufgeteilt war, von denen Childebert den am weitesten im Westen gelegenen Streifen bekam; vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 660. 71 Die Provence war 536/537 durch Vertrag an Childebert gekommen. Vgl. Rudolf BUCHNER, Die Provence in merowingischer Zeit. Verfassung - Wirtschaft - Kultur (1933) S. 7 f. und EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 671.

72 Zur Teilung Burgunds nach dessen Eroberung durch Chlodowechs Söhne vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 670. 73 Ebd. S. 669. 74 Der Anteil Chlothars I. an Burgund ist nicht deutlich zu erkennen, aber wohl mit Marius von Avenches, (Marii episcopi Aventicensis chronica, ed. Theodor MOMMSEN, MGH Auct. Ant. 11, 1894, 21981, S. 225-239, hier S. 235: His coss reges Francorum Childebertus, Chlotharius et Theudebertus Burgundiam oblinuerunt et fugato Godomaro regnum eins diviserunt) und wegen der Beteiligung Chlothars an den Kämpfen gegen Burgund als

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forderte die regionale Verzahnung der Teilreiche doch zwangsläufig die politischen und kirchlichen Kontakte. Das schon damals theologisch begründete75 Bestreben der Kirche nach Verwirklichung der dominatio singularis der potentia Dei über innerfränkische Grenzen hinweg fand in dieser regionalen Verzahnung und in immer wieder zu beobachtenden Herrscherwechseln in den einzelnen civitates der nach 511 hinzugewonnenen Gebiete, aber - besonders in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts - auch in Aquitanien insofern eine Stütze76, als diese Vorgänge eine frühe Blockbildung der Teilreiche und Regionen verhinderten. Daher erstaunt es nicht, dass neben den mit Sicherheit zu Childeberts Reich gehörenden civitates auch solche aus dem Ostreich77 an den von Childebert einberufenen Konzilien von Orléans teilnahmen, wie etwa regelmäßig Clermont und Auxerre oder die weit entfernt liegenden ehemals (bis 536/537) alemannischen Orte Octodurum und Windisch (541; 549) oder schließlich Bistümer aus dem Kern des Ostreichs, wie Reims, Verdun und Trier (alle 549) 78 . Das gleiche gilt für Tours (alle vier) und Poitiers (533; einigermaßen sicher anzunehmen. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 671 mit Anm. 1 f., vermutet mit guten Gründen, dass Chlothar der burgundische Süden mit Valence und Embrun bis zur Durance zufiel. 75 Vgl. oben 2. 2.; auch unten bei Anm. 116 f. 76 So hat nach BUCHNER, Provence (wie Anm. 71) S. 8 ff. die Provence zwischen 546 und 550 zeitweise zum Ostreich gehört. Vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) passim; auch Eugen EWIG, L'Aquitaine et les Pays Rhénans au Haut Moyen Age, in: DERS., Spätantikes und fränkisches Gallien (wie Anm. 2) S. 553-572, hier S. 559-561. 77 Gerade gegenüber dem nicht mehr von seinem Halbbruder Theuderich I., sondern inzwischen von seinem Neffen Theudebert I. - den er noch dazu adoptiert und zu seinem Nachfolger bestimmt hatte (Gregorius Turonensis, libri historiarum X., wie Anm. 112, III 24, vgl. 28 u. 31) - beherrschten Ostreich versuchte sich Childebert I. auch bei Bischofswahlen einzumischen, so in Melun, wobei er allerdings auf den entschiedenen Widerstand des Metropoliten von Sens stieß. Epistolae aevi Merovingici collectae, ed. Wilhelm GUNDLACH (MGH Epp. 3, 1888) 2 1957 S. 434-468, hier S. 437 f.: Leo von Sens an Childebert I . u t ad ordenandum Mecledoninsim episcopum aut praesentiam nostram adesse debeat aut consinsus ... quodprimum sine iussu gloriosissimi domni principis nostri, fllii vestri, Theudeberthi regis, cuius somus regni ordenatione subiecti, iniungetis, ut ea, quae anteacto tempore facta non sunt, nunc praesentia nostra aut consinsum debeant incoari; (S. 438): Nam gloria vestra optime débit et credire et scire, quia, si contra statuta canonum quicumque episcoporum sine consinsum nostrum Mecledone episcopum voluerit ordenare, usque ad pape notitiam vel sinodale audientiam tarn hi, qui ordenaverint, quam qui ordenatus fuerit, a nostra erunt communione disiuncti. Zum Einfluss der Könige auf kirchliche Angelegenheiten siehe PONTAL, Synoden (wie Anm. 11) S. 225-234, bes. S. 226; HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 69; KAISER, Königtum (wie Anm. 37) S. 86. 78 Das Erscheinen der Vertreter dieser drei Städte im Jahre 549 könnte zusammenhängen mit dem nach dem Tode Theudeberts im Jahre 548 schwachen Königtum des Ostreichs unter dessen unmündigem Sohn Theudewald. Über die Bedeutung von Schwäche oder Stärke des Königtums für das jeweilige Verhältnis zischen Königtum und Episkopat PRINZ, Herrschaftsformen (wie Anm. 18) S. 4, 7 f.; zur Konzilspolitik des Ostreichs unten 3. 2. 3., 4. 3. 2., 4. 3. 5.

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541) 79 aus dem Reich Chlothars I. oder Laon (549) 80 aus dessen Kernreich, oder schließlich Valence (541) und Embrun (541; 549), falls sie zu Chlothars burgundischem Anteil gehörten 81 . Auffallend häufig besuchten die Bischöfe des südlichen Aquitanien (Cahors: 533, 538, 541, 549; Javols: 541; Rodez: 541; Agen:549; Albi: 549), besonders aber der wahrscheinlich unter Childebert und Chlothar aufgeteilten Novempopulana (Gascogne) die Konzilien von Orléans (Dax: 541, 549; Eauze und Auch: 533, 541, 549; Comminges: 533, 549; Bigorre: 541 und St. Liziers: 549). Noch größer ist - entsprechend der großen Anzahl der vorhandenen Bistümer auf verhältnismäßig kleinem Raum - die Zahl der seit 541 teilnehmenden Bistümer Südburgunds und der 536/537 an Childebert gefallenen Provence 82 . Hier hat es mit Ausnahme von Marseille kein Bistum gegeben, das nicht wenigstens an einem der beiden Konzilien von 541 oder 549 teilgenommen hätte83. Die starke Beteiligung sowohl der Novempopulana als auch Südburgunds und der Provence an den Konzilien von Orléans hängt sicherlich auch zusammen mit deren besonders aktivem kirchlichen Leben, das sich im Übrigen in der Jahrhundertmitte an zusätzlichen eigenen Konzilien zeigte. So waren am Konzil von Eauze 551 nur Bistümer der Gascogne 84 , an dem von Arles 554 nur solche der Provence beteiligt 85 . Obgleich diese beiden Regionen dem Ruf zu Reichskonzilien eifrig Folge leisteten, 79 Bei ihnen spielt zweifellos die räumliche Nähe und die einstige (bis 524) mit Orléans gemeinsame Zugehörigkeit zum Reiche Chlodomers eine Rolle. 80 Die Zugehörigkeit Laons zu Chlothars Reich seit 511 hält für wahrscheinlich EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 115; weiteres bei KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 10-18, bes. S. 10 mit Literatur Anm. 5. 81

V g l . EWIG, T e i l u n g e n ( w i e A n m . 2 ) S. 6 7 1 m i t A n m . 1.

82 An beiden Konzilien von 541 und 549 nahmen teil: Sisteron, Orange, Carpentras, Avignon, Apte, Vence, Aix, Toulon, Antibes und Fréjus. Nur 541: St. Paul-Trois-Chateaux, Vénasque. Nur 549: Digne, Riez, Cavaillon, Arles, Nizza. Zur „Eingliederung der provençalischburgundischen Provinzen in die merowingische Reichskirche" siehe EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 448, 431 f. - Zu Geschichte und Topographie der Städte im spätantiken (bis Ende 3. Jh.) und frühmittelalterlichen christlichen Gallien mit Quellen und Literatur: Topographie chrétienne des cités de la Gaule des origines au milieu du VIII e siècle, 13 Bde., hgg. Nancy GAUTHIER/ Jean-Charles PICARD (1986-2004). 83

V g l . CHAMPAGNE / SZRAMKIEWICZ, C o n c i l e s ( w i e A n m . 11 ) T a b e l l e S. 16 f.

84 Neben Eauze waren beteiligt: Bigorre, Auch, Dax, St. Lizier, St. Bertrand-de-Comminges und drei weitere, die sich nicht zuordnen lassen. Vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 355; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 107 f. Alle diese Städte liegen südlich der Garonne, d. h. im äußersten Südwesten Aquitaniens, der erst unter den Söhnen Chlodowechs den Westgoten entrissen worden war. Vorstöße Childeberts I. (531), Theuderichs I. (532) und Chlothars I. (532, 541) ließen von den westgotischen Restpositionen im Süden nur noch Septimanien im Südosten, aber westlich der Rhône, bestehen. 85 Unterschrieben haben die Repräsentanten von: Sisteron, Digne, Orange, Vaison, Avignon, Senez, Riez, Vence, Apt, Cavaillon, Aix, Glandèves, Marseille, Toulon, Fréjus, Antibes, Nizza; Gap (damals Kirchenprovinz Aix); vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 161.

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hielten sie weiterhin ihre eigenen Provinzialkonzilien86 ab, die ein Zeichen dafür sind, dass alte kirchliche und regionale Gemeinsamkeiten neben der erst jüngeren Zuweisung zu verschiedenen Teilreichen damals fortbestanden863. Das zu den Reichskonzilien zu zählende Konzil von Paris 552 87 , das die Absetzung des Bischofs dieser Stadt, Saffaracius, zum Inhalt hatte, wurde vor allem von den Bischöfen der umliegenden civitates (Meaux, Chartres, Sens)88, aber in der überwiegenden Mehrzahl von nicht weniger als 17 Bistümern aus dem ehemaligen Burgund und der Provence besucht89. Zahlenmäßig schwach vertreten war Aquitanien mit den Metropoliten von Bourges und Bordeaux. Mit Sicherheit waren somit auch hier nicht nur civitates Childeberts I. beteiligt, sondern auch solche des Ostreichs Theudewalds90. Wenn Chlothar I., wie zu vermuten, den Süden Burgunds bekommen hatte91, so dürften einige der beteiligten Städte auch zu seinem Reich gehört haben. Dies trifft erst recht zu, wenn Agrestius richtig mit dem Bischof von Tournai identifiziert ist92. Eine Beteiligung allein nach Teilreichszugehörigkeit ist

86 Vgl. PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 107 ff. Dass auch die Konzilsaktivitäten der Kirchenprovinzen nicht unabhängig von der jeweiligen politischen Situation waren, zeigt das Abbrechen der „Serie der Provinzialsynoden von Arles" nach der Herrschaftsübernahme durch die Franken: siehe EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 448. 86a

87 88

89 90

91 92

Siehe auch Eugen EWIG, Der Martinskult im Frühmittelalter, in: Spätantikes und fränkisches Gallien 2 (wie Anm. 25) S. 371-392, der (S. 380) ein „eigenes Kulturgepräge" des gallischen Südens und Südostens auch darin erkennt, dass sich hier der Martinskult sehr viel zaghafter auswirkte als im übrigen Frankenreich. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 115 ff. Der unterzeichnende Bischof Praetextatus war mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht der von Rouen, sondern der von Cavaillon; so CHAMPAGNE / SZRAMKIEWICZ, Conciles (wie Anm. 11) Tabelle 16 f., WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 188 und PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 102 Anm. 102. Dafür spricht vor allem das formale Kriterium, dass alle übrigen Metropoliten vor den anderen Bischöfen unterschreiben und Praetextatus sich unter letzteren findet. Vgl. neben der Unterschriftenliste Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 117 auch PONTAL, Synoden (wie Anm. 2 7 ) S. 102 Anm. 102. Sens war bei der Teilung des Chlodomerreiches 524 teilweise an das Ostreich gekommen, Langres, Besançon und Chalon-sur-Saône 534 bei der Teilung Burgunds. Bourges war 533 von Childebert I. an seinen Neffen Theudebert abgetreten worden. Uzès gehörte wohl zum Anteil des Ostreiches an Aquitanien. Vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 668 ff. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 354, und PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 102, schließen sich der Meinung von MAASSEN, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 117 an, hinter Etnecius episcopus verberge sich Nicetius von Trier. Dagegen L. DUCHESNE, Fastes épiscopaux de l'ancienne Gaule, 3 (Paris 1915) S. 38. Vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 671 mit Anm. 1. So PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 102 Anm. 102. Zwar gehörte die zugehörige Provinzhauptstadt Reims zum Ostreich, Tournai hat aber zum Nordwestreich Chlothars I. gehört. Damit ist die Aussage, aus Chlothars Reich sei „kein einziger B i s c h o f anwesend gewesen (ebd. S. 102) wohl nicht richtig.

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daher auch beim Konzil von Paris 552 nicht zu erkennen 93 , vielmehr konzentrierte sich das Interesse an ihm außer auf den engeren Raum von Paris auf ältere regionale Bildungen, wie Burgund und die Provence. Die Bischöfe mögen als Vertreter dieser Neuerwerbungen der Chlodowech-Söhne willens gewesen sein, in besonderem Maße ihr Interesse an Angelegenheiten (der Kirche) des Frankenreiches zu bekunden. Der regionale Streifen, in dem die Bistümer der Teilnehmer am Konzil von 552 liegen, nämlich von Nordwesten ausgehend beiderseits der Seine, dann weiter südlich beiderseits der Rhone und schließlich im Südosten ganz überwiegend (Ausnahme: Uzes) östlich der Rhone entspricht in bemerkenswertem Maße den am frühesten (bis 325) christianisierten Gebieten Galliens 94 , so dass man hier von einem bereits verwurzelten christlichen Bewusstsein ausgehen kann, das mit dem Wunsch verbunden gewesen sein dürfte, das fränkische Großreich als Basis der Missionierung bzw. Ausweitung des christlichen Einflusses zu nutzen. Auch dieses Streben war geeignet, Teilreichsgrenzen zu verwischen und mit der Einheit der Kirche auch die des Frankenreiches zu stärken. 3. 1.2. Teilreichskonzilien War schon das Konzil von Clermont des Jahres 535 95 , auf dem infolge von Reichsteilungen entstandene Besitzstreitigkeiten behandelt wurden, ein Teilreichskonzil im Reiche Theudeberts I. gewesen, so scheinen diesem unter seinem Nachfolger Theudewald in Toul 550 und Metz 550-555 zwei weitere nicht auf eine Provinz beschränkte Synoden gefolgt zu sein 96 . Demgegenüber sind von dessen Onkeln und Mitkönigen Childebert I. und Chlothar I. keine Teilreichskonzilien überliefert 97 . Von König Charibert, dem ältesten Sohn Chlothars I. und Nachfolger im ehemaligen Reich Childeberts (mit einigen zusätzlichen civitates) wurde kurz vor seinem Tod (t567) ein auf sein Teilreich beschränktes Konzil nach Tours einberufen 98 . An ihm nahmen aber nicht alle Bistümer aus Chariberts Reich teil, sondern die Teilnehmer kamen 93 Auch WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 354, zählt Paris 552 zu den ,Nationalkonzilien\ 94 Vgl. F. W. PUTZGER, Historischer Weltatlas ( 83 1961) S. 33. Siehe Theodor SCHIEFFER, Die Reichskirche des 5. Jhs., in: Handbuch der europäischen Geschichte 1 (wie Anm. 24) S. 194-212, hier S. 204 zu Südgallien; auch DERS., Die gallisch-fränkische Kirche, ebd. S. 518-523, hier S. 521; GRIFFE, Gaule chrétienne (wie Anm. 20b) 1; MAGNOU-NORTIER, Existe-t-il (wie Anm. 38) S. 141 f. 95 Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 65-71; vgl. oben Anm. 27. 96 WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 355; vgl. PONTAL, Synoden (wie Anm. 2 7 ) S. 105 f. 97 WEIDEMANN, Kulturgeschichte ebd. Zur Bistumsorganisation im Reich Chlothars auch EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 674 f.; vgl. zu Chlothar I. PRINZ, Stadtherrschaft (wie Anm. 18) S. 119. 98 Dazu PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 128 ff.; auch oben bei Anm. 38 ff.

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nur aus dessen Kernreich mit Tours, Angers und Nantes und nördlich davon: Rennes, Le Mans, Chartres, Paris, Séez und Rouen". Aquitanische Städte Chariberts, wie etwa Poitiers, Limoges oder Bordeaux waren nicht beteiligt, obwohl der Konzilsort Tours so gewählt war, dass ihnen die Teilnahme erleichtert wurde100. Mit der Synode von Lyon des Jahres 567 oder 570101 wurde auch von dem frankoburgundischen König Gunthramn ein Teilreichskonzil102 einberufen. Auffällig ist an diesem Konzil, dass zwar mit Nevers, Langres, Besançon, Genf, Grenoble, St. Paul-Trois-Chäteau, Die, Valence, Vienne, Lyon, Belley, Mâcon, Chalon-sur-Saône und Autun, wenn auch nicht sämtliche Bistümer, so doch die gesamte Region des ehemaligen burgundischen Reiches vom Norden über den Osten und Süden bis zum Westen vertreten war, während kein einziges Bistum aus dem Anteil Gunthramns am Reich Chariberts nachgewiesen werden kann103. Für sich genommen könnte man 99 100

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Vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 358; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 128 ff. Bei Akzeptanz der Datierung auf die Jahre 561/562 (PONTAL, Synoden [wie Anm. 27] S. 122-126; zustimmend Brigitte BASDEVANT-GAUDEMET, L'évêque, d'après la législation de quelques conciles mérovingiens, in; Clovis [wie Anm. 204] S. 471-494, hier S. 473 mit Anm. 10; vgl. EWIG, Bischofslisten [wie Anm. 25] S. 432 Anm. 18) gehört auch das Konzil von Paris (Concilia 1, wie Anm. 27, die Jahre 556-573) in Chariberts Reich, nimmt aber wegen der fehlenden Erwähnung des Königs eine Sonderstellung ein. An diesem Konzil nahmen hauptsächlich die Metropoliten von Rouen, Bourges, Tours und Bordeaux, sowie der zwischen diesen unterschreibende Bischof von Paris teil, daneben nur einige Bistümer der Provinzen Rouen, Sens und Tours. - Eine Zuordnung der Bistümer zu einzelnen Teilreichen lässt sich nicht treffen, da das Konzil in eine Phase extremer Unsicherheit der Zugehörigkeiten zwischen den Teilreichen fällt. Während PONTAL an die Zeit denkt, in der nach dem Tode Chlothars I. im Jahre 561 die erneute Teilung des Frankenreiches noch nicht abgeschlossen war, hält MAGNOU-NORTIER, Existe-t-il (wie Anm. 38) S. 155 Anm. 62, ein Datum vor dem Tod Chariberts für sehr unwahrscheinlich, da deutliche Spuren der Reichsteilung von 567 erkennbar seien. Will man sich nicht auf 561/62 festlegen, so bleiben als weitere Unsicherheitsfaktoren der Zeit zwischen 556 und 573 erstens die Übernahme des Gesamtreiches durch Chlothar I. im Jahre 558 und zweitens die Teilung des CharibertReiches (567). Das Konzil erfasste aber die Region westlich von Rouen, Paris und Tours, die etwa dem Kemreich Chariberts entsprach, während Aquitanien nur durch die Metropoliten von Bourges und Bordeaux vertreten war. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 139 ff. Über die Frage der Identität dieses Konzils mit der bei Gregorii episcopi Turonensis libri historiarum V 20 erwähnten Versammlung und die damit zusammenhängende Frage der Bistums- und Metropolitaneinteilung des alten Südburgund vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 359 und PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 137 ff. PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 139, nennt es ein „Generalkonzil von Guntrams Reich". Auch WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 359, reiht es in dessen „Reichsversammlungen" ein. Zugehörigkeit der civitates zum einstigen Burgunderreich und zum Charibert-Reich bzw. zum Reich Gunthramns jeweils nach EWIG, Teilungen (wie Anm. 2).

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diese Tatsache als Anzeichen dafür deuten, dass dieses Konzil noch vor der Teilung des Charibert-Reiches stattfand. Auf 567 weist auch die nur in der Erstausgabe 104 überlieferte Datierung des Konzils mit dem 6. Regierungsjahr Gunthramns. Da hiermit zwei Indizien auf 567 deuten, ist die allein nach der Indiktionszahl erschlossene Jahreszahl 570 105 wohl weniger wahrscheinlich. Jedoch verliert das Argument der fehlenden Teilnahme von Bischöfen aus dem ehemaligen Charibert-Reich für die Datierung an Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass auch aus Gunthramns Anteil 106 an der ehemals ostgotischen Provence 107 kein Bischof vertreten war. So haben wir hier die auffallende Situation vor uns, dass in Gunthramns Teilreich ein rein (alt-) burgundisches Konzil stattfindet, obwohl das Reich zumindest nach Süden - möglicherweise auch nach Nordwesten - über altburgundisches Gebiet hinausging. Mag das Fernbleiben von Bischöfen aus Chariberts Reich immerhin noch mit einer Datierung des Konzils vor dessen Teilung begründet werden, so scheint die Nichtbeteiligung der Provence doch eine burgundische Zusammengehörigkeit zu belegen, die mehr als 30 Jahre über die Existenz des Burgunderreichs hinausgeht 108 . Das Konzil von Paris 573 109 von dem aus die Bischöfe je einen Brief an Sigibert, König des fränkischen Ostreichs und an den in diesem Reich zu großer Macht aufgestiegenen Bischof Egidius von Reims schickten 110 , hatte überregionale Bedeutung. Insgesamt waren 32 Bischöfe und ein Priester anwesend. Im Jahre 573 gab es nach dem Tod des ältesten Sohnes Chlothars I., Charibert (f 567) noch drei fränkische Teilreiche. Gunthramn hatte das ehemalige Reich Chlodomers mit Orléans als Zentrum erhalten, Chilperich war im einstigen Teilreich Chlothars I. mit Soissons nachgefolgt und Sigibert hatte das Ostreich übernommen. Unter die drei war 567 Chariberts Reich aufgeteilt worden, das sich etwa mit dem Childeberts I. deckte, dessen politischer Mittelpunkt Paris gewesen war. Da diese Stadt im gemeinsamen Besitz der drei Brüder verblieb, kann man den Konzilsort selbst keinem Teilreich zuordnen. Das Konzil hatte eine Klage des Bischofs von Chartres zu behandeln, dem durch Schaffung eines eigenen Bistums in Chäteaudun der bei der Teilung von 567 an Sigibert gefallene Teil der Diözese Chartres entzogen

104 Vgl. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 139, S. XI u. XVI: Ausgabe Surius, Köln 1567. 105 PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 137 Anm. 5, favorisiert 570. 106 BUCHNER, Provence (wie Anm. 71) S. 10; EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 677 mit Anm. 2. 107 Zur regionalen Ausdehnung vgl. BUCHNER, Provence (wie Anm. 71) S. 6. 108 EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 431, beobachtete, dass „die Eingliederung der burgundisch-rhöneländischen Provinzen in die merowingische Reichskirche" sich in der 1. Hälfte des 6. Jhs. erst „allmählich" entwickelte. 109 Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 146 ff. 110 Ebd. S. 147 ff., 149 ff.

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worden war 111 . Entsprechend der Angabe Gregors von Tours, König Gunthramn habe alle Bischöfe seines Reiches bei Paris versammelt 112 , geht Odette Pontal davon aus, dass es sich hier um ein „Generalkonzil von Guntrams Königreich" 113 gehandelt habe. Die Teilnehmer kamen nicht nur aus Gunthramns gallofränkischem Reichsteil mit Orléans, Sens, Troyes und Auxerre (z. T. erst seit 567), sondern auch aus den civitates des ehemaligen Burgund und der Provence, die zu einem großen Teil ebenfalls Gunthramn gehörten 114 . Aus Aquitanien waren beteiligt Gunthramns Städte Bourges und Saintes sowie mehrere Bistümer der Novempopulana 115 (Eauze, Agen, Oloron). Jedenfalls lassen sich unter den teilnehmenden Bistümern weder solche finden, die aufgrund anderer Quellen mit Sicherheit Chilperich, noch solche, die Sigibert zugewiesen werden könnten. Einige Anzeichen in den Briefen des Konzils von 573 weisen jedoch auch über Teilreichsgrenzen hinaus. So datieren Gunthramns Bischöfe ihre Briefe sowohl an Sigibert selbst als auch an Bischof Egidius von Reims nach dem Herrschaftsbeginn aller drei Merowingerkönige, wobei sie von reges domini nostri sprechen 116 . Damit berücksichtigten sie nicht nur tatsächlich den Sonderstatus des Konzilsortes, sondern sie demonstrierten auch ihre Zugehörigkeit zu allen Merowingerkönigen, d. h. zum Frankenreich als ganzem. Die Bischöfe wenden sich mit ihrem Brief direkt an den König eines anderen Teilreiches und wünschen ihm - wie einem eigenen Herrscher noch viele ruhmreiche Jahre unter Gottes Schutz, wobei sie ihn anreden als dominus gloriosissimus etpraecellentissimusul. 111 PONTAL, Synoden (wie Anra. 27) S. 140 f.; KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 20-23; vgl. Gregorius Turonensis, libri historiarum IX 20 (wie folgende Anm.), Vertrag von Andelot. 112 Vgl. Gregorii episcopi Turonensis libri historiarum X, ed. Bruno KRUSCH / Wilhelm LEVISON (MGH SS rer. Merov. 1, 1, 2 1 9 5 1 , 3 1 9 6 5 ) IV 4 7 : Gunthchramnus rex apud Parisius omnes episcopus regni sui congregat. 113 PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 141 mit Anm. 21 ff. zu den Teilnehmern; vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 359 f. 114 BUCHNER, Provence (wie Anm. 71) S. 10; EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 677. 115

EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 680 mit Anm. 2.

116 Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 148: Data constitutio diae tertio iduum Septembrium anno XII. regum domnorum nostrorum; entsprechend S. 151. Vgl. auch Conc. Aurel c. 5, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 67: Qui reicolam eclesiae petunt a regebus. 117 Ebd. S. 150. Zur Rechtsidee der ,Samtherrschaft' Heinrich MITTEIS, Der Vertrag von Verdun im Rahmen der karolingischen Verfassungspolitik, in: Der Vertrag von Verdun, hg. von Theodor MAYER (1943) S. 66-100, hier S. 66-69; Mitteis spricht von einer „Kraft als regulative Idee", die während der Merowingerzeit „nicht ganz verloren" gegangen sei. Reinhard SCHNEIDER, Brüdergemeine und Schwurfreundschaft (Historische Studien 388, 1964) S. 171 ff.; Hans Hubert ANTON, Zum politischen Konzept karolingischer Synoden und zur karolingischen Brüdergemeinschaft, HJb 99 (1979) S. 55-132, hier S. 109 ff.; BEUMANN, Unitas (wie Anm. 3) S. 535 ff. (7 ff.); ERKENS, Einheit (wie Anm. 48) S. 274; weitreichende rechtliche Folgerungen aus der Rechtsidee der Samtherrschaft bei

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Dass andererseits - soweit erkennbar - kein Bischof aus Sigiberts Reich an diesem Konzil beteiligt war, zeigt, dass in dieser Situation der politischen Spannung zwischen den Königen für die Bischöfe Königstreue 118 Vorrang hatte vor der postulierten Einheit der Kirche. Ein bezeichnendes Licht auf die spannungsreiche Situation der Bischöfe zwischen dem Streben nach kirchlicher Einheit (Dei potentiae singularis dominatio), - auch mit Hilfe der Priorität kirchlichen Rechts gegenüber einem königlichen Beschluss (nobis [5c. episcopis] necesse fuit, ut iuxta canonum constituta [...] deberetpraesumptio coerceri)119 - und dem weltlichen Auseinanderstreben der Teilreiche, das mit der Abtrennung Chäteauduns vom Bistum Chartres und der Einsetzung eines eigenen Bischofs durch Sigibert einen Höhepunkt erreicht hatte120, wirft die Situation des Bischofs Germanus von Paris121, der - beiden Königen gleichermaßen verpflichtet - sich der Forderung der Bischöfe aus Gunthramns Reich zwar anschließt, aber abweichend von allen Kollegen, die Sigibert als humilis oder peccator grüßen, in seinem Grußwort nicht nur das Wort proprius gebraucht, sondern dieses vor allem ergänzt durch die Bitte, der König möge die Vorstellungen der Bischöfe nicht missachten, wobei er sich bewusst war, dass sein Gruß und seine Bitte, wohl überhaupt seine Beteiligung an dieser Sache dem König besonders kühn erscheinen musste (praesumptiosus)ni. Das Konzil von Paris 573, das sich gegen eine kirchenpolitische Entscheidung König Sigiberts richtete, bestätigte mit seinem Urteil das alte Prinzip der Unveränderbarkeit kirchlicher Grenzen (Pappolus episcopus [...] parrocias, quas hucusque habuit [...] debeat [...] gubernare), auch wenn dessen Durchsetzung erst nach dem Tode des Königs (575) gelang 123 . Der Versuch Sigiberts I., die kirchlichen an die weltlichen Grenzen seines Reiches anzupassen, der mit seinem Tod ein Ende fand, zeigt, dass hier nicht ein Prinzip zugrunde lag, sondern das separatistisch-machtpolitische Streben des Königs des fränkischen Ostreiches. Wenn sich Bischof Egidius von Reims

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MAGNOU-NORTIER, A propos (wie Anm. 27) S. 527. Zu vergleichen ist aber z. B. die Formulierung des Edictum Chlotharii, die im Zusammenhang mit dem Reich in geteiltem Zustand (interregno faciente) vom Teilkönig als dem dominus legitimus spricht (oben Anm. 44). Siehe auch zur Rolle des Bischofs als Garant für die Treue seiner civitas zum jeweiligen Teilkönig WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 127. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 150. Dazu EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 679 (138); KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11)S. 20 f. mit Anm. 56, 65; vgl. auch zu 511 (Laon) S. 10-18. Joseph-Claude POULIN, Germanus von Paris, in: Lex.MA 4 (1989) Sp. 1346 f. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 150: Germanus peccator, proprius vester, etsi praesumptiosus, audeo salutare et supplico, ut non dispicias suggessionem sacerdotum. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 148; KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 20 ff., spricht demgegenüber von „strikter Befolgung des territorialen Koinzidenzprinzips" (S. 21) durch Sigibert und Egidius.

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daran beteiligte, so ist dessen eigenes politisches Interesse nur zu durchsichtig der Wunsch, seine Kirchenprovinz zu vergrößern124. Nicht um die Befolgung eines ,Prinzips' der Angleichung kirchlicher an weltliche Grenzen gemäß den statuta patrum geht es hier, sondern um den machtpolitisch motivierten Vorstoß gegen die statuta patrum et canonum, nach denen an kirchlichen Besitzansprüchen nicht gerüttelt werden durfte125.

3.2. Konzilspolitik auf dem Hintergrund der Königsnachfolge im Frankenreich nach dem Tode Sigiberts I. (f 575) 3. 2. 1. Gunthramn von Frankoburgund Das Konzil von Chalon-sur-Saône des Jahres 579 war von König Gunthramn einberufen worden und daher vermutlich auf die Bischöfe seines Reiches beschränkt126. Die Teilnehmer könnten sich etwa mit denen des Konzils von Lyon 567/570 gedeckt haben127, wobei die Absetzung128 der Bischöfe Salonius und Sagittarius von Embrun und Gap besonders im Interesse der übrigen südburgundischen Bistümer gelegen haben wird. Eine politische Komponente der Synode lag allerdings darin, dass diese beiden Bischöfe König Gunthramns Heerführer Mummolus bei dessen Kämpfen gegen die Langobarden unterstützt hatten129. Sie dürften eigene Kontingente beigetragen haben130, so dass sich hieraus die Langmut des Königs erklärt, die nach einer 124 Vgl. den Brief der Bischöfe an Egidius, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 147 f. 125 Vgl. KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 18 f. 126 Überliefert nur bei Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) V 27, vgl. V 20. Dazu PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 142 f.; auch WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 360, zählt das Konzil zu den .Reichsversammlungen' Gunthramns. 127 Vgl. PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 137 ff.; auch oben bei Anm. 102. 128 Dazu WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 125 f. 129 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IV 42. 44, V 20, VII 37. Dazu Franz IRSIGLER, Untersuchungen zur Geschichte des frühfränkischen Adels (Rheinisches Archiv 70, 1969) S. 244 f. Anm. 161; SCHNEIDER, Königswahl (wie Anm. 2) S. 104 f. 130 So bemerkt Gregor, die Bischöfe seien nicht nur mit weltlichen Waffen ausgestattet gewesen, sondern hätten, was noch schlimmer sei, viele Menschen mit eigenen Händen (,manibus propriis) getötet (IV 42), d. h. wenn sie sich nur als Heerführer betätigt und selbst nicht Hand angelegt hätten, wäre es nicht ganz so schlimm gewesen. An anderer Stelle (V 20) wird von ihnen gesagt, sie hätten emissa cohorte einen Überfall auf Bischof Victor von St. Paul-Trois-Chäteau organisiert, wobei die von ihnen geschickten Männer (traditis hominibus quos in seditione direxerant) mit Schwertern und Pfeilen über jenen (und dessen Leute) herfielen. Siehe auch PRINZ, Stadtherrschaft (wie Anm. 18) S. 124 f., 121, 112; DERS., Klerus und Krieg im früheren Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 2, 1971); HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 66 f. Vgl. auch unten Anm. 179.

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Absetzung durch eine frühere Synode in Lyon zunächst zu deren Wiedereinsetzung gefuhrt hatte 131 . Ihre Untaten waren aber derart, dass sich schließlich die Bischöfe in Chalon-sur-Saône mit deren Absetzung und Gefangenhaltung durchsetzten. Am Ende trug damit auch hier die Durchsetzung kirchlichen Rechts gegenüber weltlicher Macht den Sieg davon 132 . Über den Inhalt des Konzils von Lyon des Jahres 581 ist zwar einiges bekannt 133 , nichts aber über die Teilnehmer; der Zusammenhang bei Gregor von Tours ergibt jedoch, dass es sich um eine Synode der Bischöfe aus Gunthramns Reich handelte. Diese berieten offenbar gemeinsam mit dem König über so rein politische und speziell das frankoburgundische Reich betreffende Angelegenheiten wie die Flucht des dux Mummolus, den Bruch mit Childebert/Brunichilde und die Hinwendung zu Chilperich. Auf Teilnehmer aus Gunthramns Reich beschränkte sich auch das kurz darauf (583) folgende Konzil am gleichen Ort 134 . Wie beim Konzil von Lyon 567/570 fehlt auch diesmal der Name eines Bischofs aus Gunthramns Anteil am Reich Chariberts, den Chilperich um 583 gewaltsam für sich beanspruchte. Ob das Fernbleiben der Bischöfe aus Bourges, Auxerre, Sens und Troyes in erster Linie auf deren Fürsorge für ihre im Kriegsgebiet lebenden Gemeinden zurückzuführen ist 135 oder ob 583 ebenso wie 567/70 - wo diese ebenfalls fehlten - andere Gründe eine Rolle spielten, lässt sich schwer beurteilen. Jedenfalls ist, wenn es sich um die Städte aus Chariberts Reich handelt, immer auch daran zu denken, dass diese nach Chariberts Tod fast ununterbrochen zwischen den hinterbliebenen Brüdern bzw. Neffen und Brüdern umstritten waren 136 und mancher Bischof sich scheuen mochte, persönlich dem Aufruf eines bestimmten Königs zu einem Konzil zu folgen, zumal wenn seine Stadt sich in einem akuten Kriegszustand befand, d. h.

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Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) V 20: cum adhuc propitium sibi regem esse nossent; vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 359 f., 363, Nrr. 33, 34, 36, 46. Im Edictum Chlotharii (614) wird kirchliches Recht ebenso bestätigt wie königliches Recht (vgl. Capitularia 1, wie Anm. 35, S. 21, c. 1: ut canonum statuta in omnibus conserventur; S. 23, c. 16: Quidquid parentis nostri anterioris principis vel nos per iusticia visi fuemus concessisse et conflrmare in omnibus debeat confirmari. Über das Verhalten der merowingischen und karolingischen Könige gegenüber dem kirchlichen Recht auch M A G N O U - N O R T I E R , A propos (wie Anm. 27) S. 529. Vgl. auch oben Anm. 51, unten Anm. 158. Gregorius Turonensis, libri historiarum VI 1; P O N T A L , Synoden (wie Anm. 2 7 ) S . 1 4 3 ; W E I D E M A N N , Kulturgeschichte (wie Anm. 1 1 ) S. 3 6 0 . PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 160 f.; W E I D E M A N N ebd. Zu Lyon siehe E W I G , Überlegungen (wie Anm. 1) S. 228; PRINZ, Episkopat (wie Anm. 43) S. 118. So WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 360. Vgl. fflr die Karolingerzeit E W I G , Zum christlichen Königsgedanken (wie Anm. 5 1 ) S. 6 7 - 7 0 ; SEMMLER, Reichsidee (wie Anm. 5 2 ) S. 3 9 . Dazu EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 679 ff.

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wenn man nicht wusste, welcher der Könige aus dem jeweiligen Kampf siegreich hervorgehen würde. Auffällig ist zudem, dass auch dieses Konzil sich, soweit erkennbar - die Namen von zwölf teilnehmenden Priestern sind nicht überliefert - , auf das alte Burgund beschränkte und insofern als „Regionalkonzil der rhöneländisch-burgundischen Bischöfe" bezeichnet werden mag 137 . Beschränkung auf Gunthramns Reich gilt auch für das 581 oder 583 von Gunthramn einberufene Konzil von Mâcon 138 . Im Gegensatz zu den Synoden von Lyon der Jahre 567/570, 581 (?) und 583 sind hier aber eindeutig wichtige Bistümer aus Gunthramns Anteil an Chariberts Reich wie Bourges, Sens, Troyes und Auxerre durch die Personen der Bischöfe selbst vertreten. Diesmal ist auch der Bischof des altburgundischen Langres anwesend. Verglichen mit jenen Synoden handelt es sich in Mâcon durchaus um eine gut besuchte Versammlung 139 . Durch die persönliche Anwesenheit von 21 Bischöfen übertraf sie jene nicht nur an Zahl, sondern auch durch das Gewicht der teilnehmenden Personen. Das Fehlen der westlichen und südwestlichen Bistümer, von Nantes, Saintes, Angoulême, Périgueux, Bordeaux und Eauze - um nur einige zu nennen - , war schon eine Auffälligkeit der Synode von Lyon 567/570 und mochte damals an der noch nicht erfolgten Teilung des Charibert-Reiches gelegen haben, während 583 (581?) in Mâcon deren zumindest teilweise Eroberung durch Chilperich zum gleichen Ergebnis für die Synode in Gunthramns Reich geführt haben mag 140 . Der diesmal von der Synode erfasste Raum umspannte Altburgund141 und den Anteil Gunthramns am Kernreich Chariberts. Die von Gunthramn einberufene, dann aber von ihm selbst wegen der gleichzeitig angesagten Taufe Chlothars (II.) in Paris nicht besuchte Synode von Valence 585 142 war auf die Südhälfte (Nordgrenze: Linie Chalon-surSaône - Genf) des einstigen Burgunderreiches und die Provence beschränkt. Zwar ist vermutet worden, dass außer Gunthramn selbst auch eine Anzahl von Bischöfen seines Reiches die Teilnahme an den „Hoftagen" von Orléans

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EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 427. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 155 ff.; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 156 ff.; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 360 f. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 361, spricht von einer „insgesamt" schlecht besuchten Synode. Im Vergleich zu Lyon 5 6 7 / 5 7 0 , wo 14 Bistümer und 581/583, wo 20 Bistümer (nur acht durch Bischöfe) vertreten waren, liegt Mäcon mit 21 Bischöfen jedoch an der Spitze. Vgl. ebd. Mit Apt und Digne waren Bistümer beteiligt, die im Grenzgebiet zur damaligen Provence lagen und möglicherweise Kirchspiele sowohl in Altburgund als auch in der alten Provence hatten; vgl. BUCHNER, Provence (wie Anm. 71) S. 6. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 162 f.; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 361; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 143 f.

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und Paris der Synode von Valence vorzog 143 , d. h. dass eine ursprünglich als Teilreichskonzil geplante Versammlung durch Einwirkung aktueller Ereignisse in kleinerem Rahmen stattfand; jedoch bewegt sich die Synode von Valence, was die Teilnehmer betrifft, durchaus im Rahmen des für Gunthramns Reich Üblichen, besonders aber der Konzilien von Lyon der Jahre 567/570 und 581(?)/583. Wie dort, so fehlen auch hier wiederum alle Bischöfe aus Gunthramns Anteil aus dem Kernreich Chariberts, von denen in Mäcon 581/583 einige anwesend gewesen waren. Während die Städte damals zumindest teilweise von Chilperich beansprucht und umkämpft waren, was ein Fehlen bei Konzilien Gunthramns hätte erklären können, entfällt jetzt nach Chilperichs Tod (f 584) dieses Argument. Als nächstliegende Erklärung bieten sich fiir die Zusammensetzung der Teilnehmer daher - wie für Lyon - die geographische Lage des Konzilsortes und die gemeinsame burgundische Vergangenheit an. Beim Konzil von Mäcon des gleichen Jahres 585 waren nach Aussage der Praefatio sämtliche Bischöfe aus Gunthramns Reich anwesend 144 . Die Teilnahme von Bistümern aus den Reichen Childeberts (Aix, Marseille) und Chlothars II. (Rouen) sowie der nach dem Tode Chariberts unter die hinterbliebenen Brüder aufgeteilten civitates Paris und Chartres beruhte entweder auf der besonderen historischen Situation der jeweiligen civitas oder der Person des Bischofs (Rouen) 145 . Mit Rouen, Paris, Chartres und Le Mans ist zum ersten Mal der Nordwesten des Frankenreiches bei einer Synode in Gunthramns Reich vertreten. Aquitanien ist nicht nur beteiligt mit Saintes, Bordeaux und Bourges, sondern auch mit Limoges, Angouleme, Perigueux und Cahors; daneben waren nach einer Pause seit dem Konzil von Paris 573 auch die Bistümer der Novempopulana (10) wieder vertreten . Die Beteiligung sowohl des Nordwestens als auch Aquitaniens einschließlich der Novempopulana an der Synode sind als Folge von Chilperichs Tod im Jahre 584 und der Niederringung des 584/585 besonders in Aquitanien erfolgreichen Prätendenten Gundowald anzusehen. Hatte Chilperich seit 582 die 567 nach dem Tode Chariberts an Gunthramn gefallenen Gebiete besetzt, so erklärte Gunthramn seinerseits nach Chilperichs Tod, dass das gesamte Reich (des söhnelos verstorbenen) Charibert nunmehr ihm als dem letzten der Brüder zugefallen sei 146 . Daher ergeben auch die am Konzil von Mäcon 585 be143

WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 361, vgl. S. 365 f.; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27). 144 Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 163-173, hier S. 164: omnes episcopi, qui in regno gloriosissimi domni Gunthramni régis episcopali honore funguntur, in uno se conspiciunt quoadunati concilio; vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 361; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 161 ff.; SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 103-109. 145 Dazu WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11 ) S. 361. 146 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) VII 6.

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teiligten Bistümer ein Bild des Reiches, das Gunthramn 585 als das seine betrachtete 147 . Trotz einer 585 geplanten gemeinsamen Synode, die in Troyes oder Mäcon hatte stattfinden sollen, waren die Bischöfe des östlichen Kernreiches Childeberts / Brunichildes und der großen ihm zugehörigen Exklave mit Clermont, Le Puy, Javols, Rodez, Viviers nicht beteiligt 148 . Unbeteiligt war - bis auf den Metropoliten von Rouen, den persönliche Gründe veranlassten - auch das kleine im äußersten Nordwesten gelegene Restreich Chlothars II., des Sohnes Chilperichs (es fehlten Soissons, Noyon, Cambrai und Tournai). Aber außer dem beteiligten Toulouse, das zum Anteil Chilperichs aus Chlothars I. Reich gehörte, dürfte auch die eine oder andere ebenfalls am Konzil von Mäcon beteiligte civitas der Novempopulana rechtmäßig zu Chlothars II. Reich gehört haben. Eine genaue Zuordnung der Städte ist aber nicht möglich 149 . Die in Mäcon vertretene Stadt Aire gehörte zwar rechtmäßig zum Ostreich Childeberts, war diesem aber wohl von Chilperich oder/und Gunthramn entrissen worden, da sie ihm im Vertrag von Andelot (587) von diesem zurückgegeben wurde 150 . Das von Gunthramn nach dem Tode seines letzten Bruders Chilperich (f 584) beanspruchte Territorium umschließt ein fränkisches Westreich, das sich von Rouen (?) über Langres, Sitten, Nizza, Marseille (?), Comminges, Cieutat, Oloron, Aire, Bazas, Bordeaux, Le Mans bis Chartres und Paris erstreckt 151 , enthält aber eine zum Ostreich gehörige, mehr als ein Drittel Aquitaniens umfassende Enklave. Dazu hatte Gunthramn im gleichen Jahr 585 Tours und Poitiers an Childebert abgetreten; beide waren in Mäcon nicht vertreten, wie auch die zur Kirchenprovinz Tours gehörigen Bistümer An-

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Vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 683 ff.; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 161 ff.; vgl. auch Gunthchramni regis edictum 585 (Capitularía 1, wie Anm. 25, S. 1012, hier S. 11 f.). Sowohl das Konzil von Mäcon als auch das Edikt Gunthramns desselben Jahres deuten auf einen Neuanfang und ein neues Selbst- und Machtbewusstsein des Königs. So enthält das Edikt Formulierungen wie regni [...] nostri stabilitate et salvatione regionis vel populi und universa regione nostra. Vgl. Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) VIII 12 und 13; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 361 ; siehe auch unten 3. 2. 4. Vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 677. Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IX 20, S. 435. Zu Rouen WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 188-192. Marseille gehörte seit 576 zwar zur Hälfte Gunthramn, dieser hatte seinen Anteil aber 584 an Childebert II. abgetreten. Zu Marseille Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) VI 11. 24. 31. 33; VII 36; VIII 12: Wegen seiner Haltung zu Gundowald sollte Bischof Theodoras von Marseille in Mäcon sein Urteil erhalten; vgl. VIII 5. Der Versuch Childeberts II., seinen Bischof vor ein weltliches Gericht zu bringen - wozu er den quasi dux Rathar nach Marseille geschickt hatte, war offenbar misslungen, da Rathar mehr an den Kirchengütern in Marseille und der Abwesenheit des Bischofs als an der Untersuchung seines Falles lag. Zu Theodoras WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 172 ff.

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gers und Nantes 152 . Bemerkenswert ist an der Zusammensetzung des Konzils, dass mit Ausnahme weniger Bischöfe seines Kernreiches fast der gesamte Episkopat aus dem Reich Chilperichs sich schon ein Jahr nach dessen Tod mit Gunthramn solidarisiert und ihn als ihren König betrachtet. Zugleich sehen sich diese Bischöfe als membra [...] unius sub nostro capite quoadunati, d. h. als eine Gemeinschaft, die in erster Linie einem anderen caput als dem König untersteht, dessen Unversehrtheit (incolomitas) ebenfalls von der Dei omnipotentis magestas abhängig ist 153 . 3. 2. 2. Teilreichskonzilien des Nordwestreiches Sind aus dem Nordwestreich Chlothars I. keine Teilreichskonzilien überliefert, so hatten die zwei (oder drei?) von Chilperich einberufenen Teilreichssynoden in den Hochverratsprozessen gegen die Bischöfe Praetextatus von Rouen und Gregor von Tours hochpolitische Gegenstände zu verhandeln und mit der Kirche wohl hauptsächlich über die Personen der Beteiligten zu tun 154 . Für die Wahl des Ortes Paris beim Konzil des Jahres 577 155 dürfte ähnlich wie beim Konzil Gunthramns 573 dessen politische Sonderstellung als ehemaliger Hauptsitz Chariberts eine Rolle gespielt haben. An dem durch Chilperich einberufenen Konzil sollen 45 Bischöfe teilgenommen haben. Von ihnen sind namentlich nur bekannt der Bischof von Paris und die Metropoliten von Tours und Bordeaux, deren beider Bistümer damals zu Chilperichs Reich gehörten 156 . Bei dem Konzil ging es vor allem um die Haltung des Bi152 Beide Städte gehörten zu Chariberts Reich. Während Nantes 567 an Gunthramn fiel, kam Angers wohl an Chilperich (vgl. EWIG, Teilungen [wie Anm. 2] S. 679). Beide Bistümer waren - außer Nantes in Paris 573 - auf keinem von Gunthramns Teilreichskonzilien vertreten (vgl. CHAMPAGNE / SZRAMKIEWICZ, Conciles [wie Anm. 11] Tab. S. 16 f.). Ist

dies für Angers zumindest bis 584 verständlich, so verwundert die häufige Abwesenheit Nantes' schon. Möglicherweise erforderten aber die seit 579 sich wiederholenden Bretoneneinfalle in das Gebiet von Nantes die Anwesenheit des Bischofs (Gregorius Turonensis, libri historiarum [wie Anm. 112] V 31; IX 18; X 9). 153 Vgl. SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 105 f. Als „neustroburgundisches" Konzil (S. 103) ist Mäcon 585 allerdings nur mit Ausnahme des Chlothar II. (und seiner Mutter Fredegunde) verbliebenen Restreiches im äußersten Nordwesten zu bezeichnen. Zu Tours 567, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 123 vgl. auch SUNTRUP, Theologie im Okzident S. 101 (membra ecclesiae). 154

PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 146 ff.; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm.

11) S. 370. Über das Verhältnis Chilperichs zur Kirche siehe aber auch HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 52. 155 Überliefert nur bei Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) VII 16; V 18; EWIG, Die lateinische Kirche (wie Anm. 24) S. 110; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 146 f. 156 Tours war nach Chariberts Tod zwar vertraglich an Sigibert gekommen, wurde diesem bzw. dessen Sohn jedoch dreimal von Chilperich genommen.

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schofs Praetextatus von Rouen in dem Kampf zwischen Chilperich / Fredegunde auf der einen und Merowech / Brunichilde auf der anderen Seite 157 . Auch dieses Konzil hatte in politische Streitigkeiten zwischen zwei Teilreichen, diesmal dem Nordwestreich Chilperichs und dem Ostreich Brunichilds/ Childeberts II. eingegriffen. Jedoch hatten sich die Bischöfe offenbar nicht hinreißen lassen, im politischen Interesse Chilperichs / Fredegundes den Bischof von Rouen gegen kirchliches Recht abzusetzen. Bei Konflikten zwischen politischen Interessen und kirchlichem Recht fühlten sie sich zwar in erster Linie 158 letzterem unterworfen, eine gewisse Loyalität gegenüber dem jeweils über ihr Bistum herrschenden König ist jedoch unverkennbar. Diese ging aber nicht so weit, dass man sich fiir ein Teilreich exponiert hätte, zumal man gerade um 577 - insbesondere in den Städten Tours und Poitiers die Erfahrung hatte machen müssen, dass der König schon am nächsten Tag ein anderer sein konnte 159 . Auf dem von Chilperich einberufenen Konzil von Berny-Riviere 580 160 ging es zwar vor allem um angebliche Beleidigungen der Königin Fredegunde durch Bischof Gregor von Tours 161 , jedoch stand im Hintergrund auch der Vorwurf der Illoyalität gegenüber dem herrschenden König, denn dem Bischof war - wie er schreibt, zu Unrecht - vorgeworfen worden, er habe danach gestrebt, Childebert, dem König des Ostreichs, die Stadt Tours zu übergeben 162 .

157 158

Vgl. Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) V 18. Es konnte aber durchaus zugunsten des Königs auch zu einer Zuwiderhandlung gegen kirchliches Recht kommen; Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) V 49: Et licet canonibus essent contraria, pro causa tarnen regis impleta sunt. Zur „Verquickung von bischöflicher und königlicher Gesetzgebung" siehe WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 373.

159 Zu Tours ausfuhrlich Luce PLETRI, La ville de Tours du I V e au V I e siècle: Naissance d'une cité chrétienne (Collection de l'École française de Rome 69, 1983) bes. S. 247-334. Zu Poitiers WEIDEMANN, Kulturgeschichte S. 179-182. 160 Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 152. Als Teilnehmer werden nur die direkt beteiligten Bischöfe von Tours und Bordeaux genannt. Zum Konzil PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 148; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 370 zählt die Synode zu den ,Reichsversammlungen' Chilperichs. 161 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) V 47. Zu diesem „Hochverratsprozeß" WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 290 f. 162 Vgl. oben Anm. 156. In diesem Zusammenhang muss man auch die Haltung des Bischofs in dem Prozess gegen Bischof Praetextatus von Rouen sehen. Zu Praetextatus WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 188 ff., 122 f. Zu Gregors Position in diesem Prozess bes. S. 189.

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3. 2. 3. Konzilspolitik des fränkischen Ostreiches Die Teilnahme von Bistümern des ostfränkischen Kernreiches an Reichskonzilien war schon in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts spärlich gewesen. Rege Beteiligung ist nur in Orléans 549, kurz nach dem Tod Theudeberts I. ( t 548) unter der schwachen Königsherrschaft seines Sohnes Theudewald zu beobachten 163 . In dieselbe Phase schwachen Königtums fallen eigene kirchliche Aktivitäten wohl in kleinerem Rahmen mit einem Konzil in Toul 550 und einem in Metz zwischen 550 und 555 164 . Bis zum Jahre 589 sind im Ostreich keine weiteren Konzilsaktivitäten zu beobachten. Kurz nach der Übernahme der Herrschaft durch Theudebert I. im Reiche seines Vaters war in der dazugehörigen zentral-gallischen Auvergne in Clermont (535) noch ein wichtiges Teilreichskonzil abgehalten worden 165 , das offenbar einen Ersatz für die geringe Teilnahme von Bischöfen des Ostreiches am Reichskonzil von Orléans des Jahres 533 bot 166 . Jedoch trat nach der Mitte des 6. Jahrhunderts auch in der Auvergne eine auffällige Abstinenz gegenüber der Teilnahme an oder Veranstaltung von Konzilien ein 167 . Man wird die Ursache dafür wohl nicht nur in einer mangelhaften Überlieferung sowohl bei Gregor von Tours als auch in den Konzilsakten sehen dürfen, sondern zumindest auch von einem Mangel an kirchenpolitischen Aktivitäten im Ostreich ausgehen müssen, der mit einer kirchenpolitischen Isolierung gegenüber den Diözesen der anderen Teilreiche verbunden war 168 . Das erste Teilreichskonzil des Ostreiches mit erkennbar politischem Charakter fand im Jahre 590 auf Einladung Childeberts II. in Metz statt. Der König hatte alle Bischöfe seines Reiches geladen, damit sie gegen den wegen des Verdachts der Beteiligung an einer Verschwörung gegen den König an-

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164

165 166

Anders in der 1. Hälfte des 6. Jhs. noch die dem Ostreich zugeschlagenen aquitanischen Bistümer, die großenteils zur Kirchenprovinz Bourges gehörten. Vgl. EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 454; CHAMPAGNE / SZRAMKIEWICZ, Conciles (wie Anm. 11) Tabelle S. 16 f. EWIG, B i s c h o f s l i s t e n ( w i e A n m . 2 5 ) S. 4 5 4 ; PRINZ, H e r r s c h a f t s f o r m e n ( w i e A n m .

18);

vgl. auch Anm. 78, sowie Literatur oben Anm. 96. Oben Anm. 27. In Orléans 533 fehlten aus der Exklave des Ostreiches: Limoges, Javols, Rodez, Viviers, Uzès (Cahors?, Albi?) u. a.; allerdings lassen sich vier der dreißig Unterschriften des Konzils (Concilia 1 [wie Anm. 27] S. 61-65) nicht zuordnen; über die Zugehörigkeit der civitates zum Ostreich im Jahre 533 siehe EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 658 f.; vgl. a u c h CHAMPAGNE / SZRAMKIEWICZ, C o n c i l e s ( w i e A n m . 11); a u c h SUNTRUP, T h e o l o g i e

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im Okzident (wie Anm. 27) S. 81. Die nächsten Konzilien in der Auvergne fanden wahrscheinlich 588 und 590 statt. Vgl. PONTAL, S y n o d e n ( w i e A n m . 2 7 ) S. 1 5 4 .

168

Über die Zahlenverhältnisse der Bistümer siehe EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 453 mit Anm. 91; auch S. 454.

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geklagten Bischof Egidius von Reims eine Untersuchung führten 169 . Nicht nur die Tatsache, dass Childebert der einzige einladende König war und dass Gregor ausdrücklich betont, er habe alle Bischöfe seines Reiches einberufen, spricht für den Charakter dieser Synode als Teilreichskonzil, sondern auch, dass hier eine Sache verhandelt wurde, die ausschließlich Childebert als Teilkönig betraf. Bischöfe eines anderen fränkischen Teilreichs waren nicht beteiligt 170 . Auch diese Synode war in hohem Grade politisch 171 . Ankläger des Bischofs war denn auch kein Geistlicher, sondern der ehemalige dux Childeberts, Ennodius. Auch an der Synode im Gebiet zwischen Clermont, Javols und Rodez 590 172 waren neben den Bischöfen der drei genannten civitates weltliche viri magnifici beteiligt. Es scheint sich um ein gemeinsames Gericht von Weltlichen und Geistlichen gehandelt zu haben 173 . Da es hier um strittige Besitzansprüche der vornehmen Tetradia und des von ihr verlassenen comes Eulalius ging, zu dessen Lebzeiten diese einen gewissen Virus und darauf den dux Desiderius geheiratet hatte, kommt auch dieser Synode innenpolitische' Bedeutung zu. Bemerkenswert für die Berührungspunkte der Teilreiche auch auf der Ebene der Kirchenprovinzen ist ein mit Sicherheit noch dem 6. Jahrhundert zugehöriges Konzil in Clermont 174 , das - obwohl es nur ein Provinzialkonzil der Kirchenprovinz Bourges war und vor allem einen Streit um Kirchspiele zwischen den Bistümern Cahors und Rodez zum Gegenstand hatte - wegen der Zugehörigkeit von Bourges zu Gunthramns, Cahors' und Rodez' zu Childeberts Reich die Interessen zweier Teilreiche 175 berührte. 169

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171 172 173 174

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Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) X 15, S. 510: rex [sc. Childeberthus] episcopus arcessiri ad eius examinatione praecepit [...] dirigens epistulas, ut supra diximus, ad omnes regni sui pontifîces, ut medio mense nono ad discutiendum in urbe supradicta adesse deberent. Zu diesem Konzil PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 151 f.; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11)S. 366, Nr. 59. PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 151 f., gebraucht den Begriff ,Reichssynode' auch hier synonym zu ,Teilreichskonzil' (ebd. S. 149), da das Konzil von Metz im einleitenden Vorwort zu denjenigen Konzilien gezählt wird, „auf denen sich die Bischöfe eines Teilreiches versammeln" (ebd. S. 136). Ebenso WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 362, Nr. 42 unter „Reichsversammlungen" (S. 359). Dazu PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 136. Gregorii Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) X 8; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 155; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 368, Nr. 65. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11 ) S. 368 mit Anm. 705. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 146 f., 367, datiert die Synode mit einigen guten Gründen auf das Jahr 588. Vgl. auch Ch.-J. HEFELE / H. LECLERQ, Histoire des conciles d'après les documents originaux, 4 Bde., 3, 1 (1909) S. 221. Weitere Beispiele bei WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 368, Nr. 65: Viviers: König Childebert: Kirchenprovinz Vienne / Gunthramn; Uzès: König Childebert: Kirchenprovinz Narbonne / westgotisch; vgl. auch WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 1 1 ) S . 112 f.

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3. 2. 4. Gunthramn von Frankoburgund und sein designierter Nachfolger Childebert II. Auf dem nicht zuletzt ,familienrechtlich' begründeten Anspruch Gunthramns, eine gewisse Oberhoheit 176 über seine Neffen auszuüben, mochten auch dessen Versuche 177 beruhen, seinen Neffen Childebert II. zu einer gemeinsamen Reichssynode zu bewegen, indem er ihn aufforderte, ut omnes regni sui episcopi in unum convenirent, quia multa sunt, quae debeant indegare 178 childebert lehnte ab mit dem Hinweis auf die Kirchengesetze, die Provinzialsynoden vorschrieben, auf denen die Probleme der jeweiligen Region (quae inrationabiliter in regione proprio fiebant) erörtert und gelöst werden könnten; da weder der katholische Glaube in Gefahr sei, noch eine neue Irrlehre aufgetaucht sei, bestehe kein Grund, ut tanti debeant in unum coniungi domni sacerdotes. Childeberts Seite hielt offenbar nur eine schwere Krise der Gesamtkirche für Anlass genug zu einer gemeinsamen Reichssynode. Dem hält Gunthramn entgegen, dass man über die Frage verbotener Ehen sprechen müsse und über die zwischen ihnen, Gunthramn und Childebert, bestehenden Fragen (tarn de incestis quam de ipsis quae inter nos aguntur causis), vor allem aber müsse geklärt werden, warum der Bischof Praetextatus von Rouen in der Kirche ermordet worden sei, schließlich sei über die Leute zu sprechen, die pro luxoriam, wegen Ausschweifungen, angeklagt seien. Deutlich ist, dass auch politische Fragen ganz offen als Grund für die Notwendigkeit eines Reichskonzils angegeben werden, wie auch der von Gunthramns Seite als causa Dei dargestellte Mord an Bischof Praetextatus ein politischer Anschlag war. Auch in Gunthramns Reich waren die Konzilien inzwischen nicht nur kirchliche Zusammenkünfte, sondern auch politische Reichsversammlungen geworden 179 . Eine solche kirchlich-politische Bischofsversammlung 180 strebte Gunthramn nun im fränkischen Gesamtreich an, wenn man einmal von dem kleinen noch unter Chlothar II. stehenden Restreich im Nordwesten absieht. Wegen der Ablehnung durch 176 177

178 179

180

Vgl. Literatur oben Anm. 117; auch GRAHN-HOEK, Oberschicht (wie Anm. 2) S. 224 ff., S. 252 f. Anm. 586. Über diese Versuche und die Absagen Childeberts WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 356 ff., Nr. 22, 24-26. Diese Vorstöße können auf dem Hintergrund der Söhnelosigkeit Gunthramns vielleicht im Sinne einer Art ,Samtherrschaft' zwischen Onkel und N e f f e n gedeutet werden, bei der jedoch für den Jüngeren die Gefahr der Dominanz des Onkels bestand. Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IX 20, S. 440. Zur Klassifikation der kirchlich-politischen Versammlungen im 6. Jh. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 350 ff. Schon die Synode von Lyon 552/573 (ebd. S. 359, Nr. 33) hatte durch die Doppelfunktion der Bischöfe Salonius und Sagittarius als Bischöfe und Heerführer auch einen politischen Charakter. Vgl. ebd. S. 359 ff., Nr. 3539, 41, 42; auch oben mit Anm. 130. Vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 357, Nr. 24, 25.

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den Gesandten Childeberts, Bischof Gregor von Tours, verschob Gunthramn den schon feststehenden Termin für das Konzil auf Anfang Juni 588. Ob dieses Konzil stattgefunden hat, wissen wir nicht 181 . Vermutlich scheiterte es an der Ablehnung Childebert / Brunichildes 182 , die sich - wie der ausdrückliche Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Bischofsversammlungen und Glaubensfragen nahe legt - weigerten, eine kirchliche Reichsversammlung zur Bereinigung politischer Fragen (de ipsis que inter nos aguntur causis) einzuberufen. Der Hauptgrund für die Einberufung einer weiteren Synode durch Gunthramn zum 1. November 589 war ebenfalls ein rein politischer. Ob es sich diesmal um eine auf sein Teilreich beschränkte oder um eine Childeberts Reich einbeziehende Versammlung handelt, ist schwer zu entscheiden, da nicht einmal sicher ist, ob es sich zum angegebenen Datum um eine oder zwei Synoden handelt 183 . Es ging um Brunichilde, die in dem Verdacht stand, nicht nur Childeberts pro-westgotische und damit gegen Gunthramn gerichtete Politik zu verantworten, sondern auch zu planen, Gunthramn mit Hilfe der Einsetzung ihres Enkels in Soissons und dessen angeblich geplantem Einzug in Paris um sein Reich zu bringen und schließlich eine Einladung an den Sohn des (angeblichen?) Merowingers Gundowald geschickt und eine Vermählung mit diesem geplant zu haben 184 . Da sich die Königinmutter jedoch durch einen Reinigungseid von den Vorwürfen befreite 185 , kam diese Synode nicht zustande. Viele Bischöfe, die bereits de extremis partibus Galliarum unterwegs waren, kehrten um.

181 182 183

PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 145. So auch WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 191 f. Vgl. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 357, Nr. 26, S. 362, Nr. 43; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 145 mit Anm. 48. Weidemann geht von zwei unterschiedlichen, jeweils zum 1. November 589 geplanten Bischofsversammlungen aus, von denen die eine in der Sache Brunichilds (siehe Text unten) als gemeinsame Versammlung der Reiche Gunthramns und Childeberts II. (Nr. 26), die andere in der Sache des Nonnenklosters von Poitiers als Versammlung nur in Gunthramns Reich geplant war (Nr. 43), wobei für eine klare Trennung erschwerend hinzukommt, dass auch der Gegenstand der Synode Nr. 43 beide Reiche betraf, da Poitiers zwar zur Kirchenprovinz Bordeaux (Gunthramn), politisch aber zu Childeberts Reich gehörte.

184 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IX 32, S. 451. Dazu SCHNEIDER, Königswahl (wie Anm. 2) S. 108 f.; GRAHN-HOF.K, Königserhebung (wie Anm. 2) S. 2 4 3 f . ; WEIDEMANN, K u l t u r g e s c h i c h t e ( w i e A n m .

185

1 1 ) S. 3 5 7

f., N r . 2 6 ;

PONTAL,

Synoden (wie Anm. 27) S. 145. Der Umstand, dass die Königin sich wegen Gundowald gerichtlich verantworten musste, spricht neben dessen mehrfacher Anerkennung durch merowingische Könige für die Glaubwürdigkeit seiner merowingischen Abstammung. Vgl. Ulrich NONN, Gundowald, in: Lex.MA 4 (1989) Sp. 1792; DERS., Ballomeris quidam. Ein merowingischer Prätendent des VI. Jhs., in: Arbor amoena, hg. von Ewald KÖNSGEN, 1990, S. 35-39; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 373; GRAHN-HOEK, Oberschicht (wie Anm. 2) S. 232-249.

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Eine wegen eines Streits im Kloster Poitiers186 zwischen der Äbtissin und der Charibert-Tochter Chrodechilde von König Gunthramn in Autun anberaumte Synode fand nicht statt187. Jedoch erwähnt Gregor von Tours zum Jahre 589 eine wegen der gleichen Angelegenheit per praeceptionem regum, nämlich Gunthramns und Childeberts II., angeordnete Zusammenkunft von Bischöfen in Poitiers, an der besonders die Bischöfe der Kirchenprovinz Bordeaux (Bordeaux, Angouleme, Perigueux, Poitiers), die bis auf Poitiers zu Gunthramns Reich gehörten, aber auch die Bischöfe von Köln und Tours, die ebenso wie Poitiers Childebert unterstanden, beteiligt waren188. Außerdem waren Abgesandte anderer Bistümer, namentlich von Autun zugegen189. Gleichzeitig gab es eine Versammlung der Bischöfe von Lyon, Autun, Auxerre, Grenoble, Nevers, Riez, Belley, Le Mans und eines weiteren nicht zuzuordnenden Bischofs Felix, bei König Gunthramn190. Die Gleichzeitigkeit beider Versammlungen ergibt sich aus dem Briefwechsel zwischen ihnen191. Da es sich beide Male um von fränkischen Königen einberufene Bischofsversammlungen handelt, kann man diese wohl als Konzilien oder Synoden bezeichnen192. Vielleicht wurden sie von Maassen nicht gesondert in die Concilia aufgenommen, weil in dem Bericht Gregors die verschiedenen Konzilsaktivitäten nur mit einiger Mühe zu unterscheiden sind und dieser schon für das folgende Jahr eine erneute Synode in Poitiers überliefert193. 186 Georg SCHEIBELREITER, Königstöchter im Kloster. Radegund (f 587) und der Nonnenaufstand von Poitiers (589), MIÖG 87 (1979), S. 1-37; Martina HARTMANN, Merowingische Königstöchter und die Frauenklöster im 6. Jh., MIÖG 113 (2005) S. 1-19. 187 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IX 40; vgl. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 176. 188 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) X 16, S. 507: cum Gundegysilus pontifex cum suis provincialibus, pro ipsa causa commonitus, per praeceptionem regum Pectavis accessissent; vgl. IX 41, S. 467; WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 367, Nr. 63; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 149 f. 189 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IX 41, S. 467: Adfuit huic calamitate et Desiderius diaconus Siagri Agustidunensis episcopi. 190 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IX 41, S. 468: ad sacerdotes illos, qui tunc cum rege Gunthchramno fuerant adgregati. WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 362, Nr. 42; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 150. 191 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IX 41, S. 468. 192 Zur Terminologie WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 350 f.; zu Nr. 42, ebd. S. 362 vgl. PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 150 mit Anm. 75. 193 Bei dem Treffen, das cum rege Gunthchramno stattgefunden hatte, handelte es sich möglicherweise um die für Autun angekündigte und zunächst ausgefallene Synode (WEIDEMANN, Kulturgeschichte [wie Anm. 11] S. 362, spricht von einer „Bischofsversammlung am Hof Gunthramns"), die dann wohl mit Verspätung stattfand. Auffallig ist nämlich, dass der von dieser Synode ausgehende Brief zuerst vom Metropoliten von Lyon, an zweiter Stelle aber schon vom (gastgebenden?) Bischof von Autun unterschrieben war, der im übrigen zu der gleichzeitig stattfindenden Synode in Poitiers seinen Diakon Desiderius (oben Anm. 189) geschickt hatte! Auch in Clermont 535 unterzeichnet zunächst der Metropolit, dann der gastgebende Bischof (vgl. DE CLERCQ, La législation [wie Anm.

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Als der Streit zwischen der Königstochter Chrodechilde und der Äbtissin Leubovera auch 590 noch nicht beigelegt war und Chrodechilde eine Horde um sich gesammelt hatte, die Poitiers so unsicher machte, dass niemand der Gegenpartei mehr seines Lebens sicher war, wurde diesmal auf Anregung Childeberts eine Synode nach Poitiers einberufen 194 , zu der dieser die unter seiner Herrschaft stehenden Bischöfe von Köln, Tours und Poitiers, Gunthramn den Bischof von Bordeaux und die übrigen Bischöfe aus dessen Provinz schickte, die Poitiers freilich nicht eher zu betreten wagten, bis Childeberts comes Macco mit Gewalt den Aufruhr niedergerungen hatte. Diese Synode war beschränkt auf die am Streitfall Beteiligten, mit Ausnahme des Bischofs Ebregisel von Köln, der vermutlich die Position Childeberts II.195 vertreten sollte, da die Bischöfe von Poitiers und Tours entweder zu sehr selbst196 oder durch Verwandte 197 in den Streit verwickelt waren und darüber hinaus Bistümern vorstanden, die erst wenige Jahre zu Childeberts Reich gehörten, nachdem sie in den Jahren zuvor besonders oft den Herrscher gewechselt hatten (besonders Tours)' 98 . Die Beteiligung zweier Teilreiche an diesen Konzilsaktivitäten ergab sich aus der Zugehörigkeit von Poitiers zu Childeberts Reich einerseits und seiner kirchenorganisatorischen Zugehörigkeit zu Bordeaux andererseits, das wiederum seit dem Vertrag von Andelot (587) zu Gunthramns Reich gehörte. Gunthramn war aber auch deswegen in diesen Streit hineingezogen worden, weil sich seine Nichte Chrodechilde an ihn gewandt hatte, bei dem sie am ehesten Unterstützung für ihre Bestrebungen erwartete und weil Gunthramn zu der Zeit - je nach Interessenlage - eine gewisse Oberhoheit über seine Neffen und deren Reiche zuerkannt wurde.

34] S. 17). Über die für den 1. November 589 angekündigte (Gregorius Turonensis, libri historiarum [wie Anm. 112] IX 41, S. 469) gemeinsame Synode der beiden Versammlungen von 589 in Poitiers und Autun (?) hören wir nichts, es sei denn, diese hätte ebenfalls verspätet stattgefunden - wofür die unsicheren Zustände in Poitiers sprechen könnten - und wäre mit dem Konzil von Poitiers des Jahres 590 zu identifizieren, zu dem diesmal die Könige Childebert II. und Gunthramn aufriefen; ebd. X 15, S. 503 f.; vgl. MAASSEN, Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 175 f., Concilium Pictavense, 590 post Mart. 26. Dazu WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 358, Nr. 27; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 150 f. 194 Wie vorige Anm. 195 Nachdem Chrodechilde sich zunächst über Gunthramn durchzusetzen versucht hatte, unternahm sie nach ihrer Verurteilung noch einen Versuch bei Childebert (Gregorius Turonensis, libri historiarum [wie Anm. 112] X 17). 196 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IX 40. 197 Ebd. X 15. Die Pröpstin des Klosters von Poitiers war eine Nichte Bischof Gregors von Tours: BUCHNER, Gregor (wie Anm. 51) 2, S. 359 Anm. 7. 198 PIETRI, Ville de Tours (wie Anm. 159).

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Wenngleich Poitiers nicht das einzige Beispiel dafür ist, dass Teilreichsgrenzen quer durch Kirchenprovinzen verliefen 199 , so macht doch die Verwicklung von Personen aus dem merowingischen Königsgeschlecht in die Synoden von Poitiers (und Autun?) 589 und 590 besonders deutlich, dass die Erstreckung einzelner Kirchenprovinzen in zwei Teilreiche gelegentlich auch auf höchster Ebene Berührungspunkte schuf, die zur Abhaltung gemeinsamer Konzilien, d. h. zu gemeinsamer Innenpolitik' führten 200 .

4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 4. 1. Zu den Voraussetzungen Die These, nach der Papst Zosimus (417/418) ein neues ,Prinzip' der Angleichung kirchlicher an weltliche Grenzen einführte (Karl M Ü L L E R ) , kann nicht aufrechterhalten werden, da sie auf einer strengen Unterscheidbarkeit von kirchlichem und weltlichem civitas- und territorium-Beghff basiert, die nach dem heutigen Stand der Forschung in den zugrundegelegten Quellen des 5. Jahrhunderts nicht mehr möglich ist. Vielmehr ging es im Rahmen der Missionierung und Christianisierung um die Anpassung wachsender kirchlicher Einflussbereiche an vorhandene weltliche Strukturen bei gleichzeitiger Übernahme weltlicher Herrschaftsaufgaben durch die Bischöfe der civitates und der dazugehörigen territoria. Wenn kirchlichem Handeln ein ,Prinzip' zugrunde lag, dann war es, wie unter den Päpsten Innozenz I. (402-417) und Gelasius I. (492-496), auch unter Zosimus die unveränderbare Kontinuität kirchlicher Zugehörigkeiten und kirchlichen Besitzes: secuti canonum disciplinam traditionemque maiorum. Ein politischer Druck zur Anpassung kirchlicher an weltliche Grenzen ergab sich durch die neuen Grenzen germanischer Reiche auf römischem Boden (Westgoten, Burgunder, Franken). Dieser setzte sich in Konkurrenzsituationen zwischen den Königen der fränkischen Teilreiche des 6. Jahrhunderts fort.

199 EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 654; vgl. oben mit Anm. 175. 200 Nach MITTEIS, Vertrag (wie Anm. 117) S. 66, blieb mit der „äußeren Einheit" des Frankenreiches „auch die Möglichkeit einer geschlossenen Außenpolitik erhalten"; vgl. auch GRAHN-HOEK, Oberschicht (wie Anm. 2) S. 252 f., Anm. 586.

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4. 2. Einheit als Idee und politische Kraft der fränkischen Kirche im 6. Jahrhundert 4. 2. 1. Die durch den Episkopat repräsentierte christliche Kirche war verbindendes Glied und Vermittler zwischen den fränkischen Teilreichen, indem sie über die Bischöfe die Verbindung zwischen den Königen und den Untergebenen der anderen Teilreiche herstellte und für diese eintrat (Brief der Bischöfe an Theudebert I. von 535) oder indem Bischöfe des einen Königs sich unmittelbar an einen anderen wandten (Brief der Bischöfe Gunthramns an Sigibert I. von 573). Dass eine Person zwar unter der Herrschaft des einen Merowingerkönigs stehen, zugleich aber Besitz 201 im Teilreich eines anderen haben und damit einem (oder mehreren) anderen König(en) steuerpflichtig sein kann, ist ein weiteres Band der Teilreiche untereinander. Das Beharren der Kirche auf den historisch gewachsenen Grenzen kirchlicher Verwaltungsbezirke und Liegenschaften und die gelegentlich fehlende Rücksichtnahme der weltlichen Seite auf diese Zugehörigkeiten bei Reichsteilungen, d. h. die bei diesen Gelegenheiten immer wieder neu entstehende Spannung zwischen kirchlichen und weltlichen Grenzen 202 zwang die fränkischen Könige zu gemeinsamen Beschlüssen und wirkte so ebenfalls dem Auseinanderbrechen der Teilreiche im 6. Jahrhundert entgegen. 4. 2. 2. Die Haltung der Kirche gegenüber Veränderungen von Grenzen kirchlicher und weltlicher Herrschaftsbereiche im Gefolge von Reichsteilungen war bis in das dritte Viertel des 6. Jahrhunderts von dem Gedanken der Unveränderlichkeit kirchlicher Grenzen und der Idee der Einheit der (gallisch-fränkischen) Kirche bestimmt, die auf der Idee von der Einheit der Herrschaft Gottes {potentiae Dei singularis dominatio) beruhte. Die hieraus resultierende Forderung, die Grenzen kirchlichen Besitzes und im Jahre 535 auch noch den Besitz von weltlichen Personen nicht den Teilreichsgrenzen anzupassen, musste bei Durchsetzung diese Grenzen verwischen und damit ein Gegengewicht gegen eine dauerhafte Teilung und Absplitterung weltlicher Herrschaftsbereiche bilden. Der Anspruch, dass das dem ganzen Frankenreich gemeinsame Kirchenrecht über dem weltlichen Recht stehen sollte 203 , war ebenfalls geeignet, die Einheit in der Praxis zu fördern.

201

202 203

Bei diesem Besitz dürfte es sich nicht nur um durch Grenzziehungen geteilten, sondern auch um Streubesitz gehandelt haben. Dies legt die Bezeichnung possessiunculi nahe, wenn es sich dabei auch um eine Untertreibung handeln mag. Vgl. Concilia 1 (wie Anm. 27) S. 71. Vgl. KAISER, Konstituierung (wie Anm. 12) S. 86. Siehe oben mit Anm. 50, 132, 158; vgl. aber unten bei Anm. 215.

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4. 3. Integration und Desintegration des Frankenreiches im Spiegel der Konzilien des 6. Jahrhunderts 4. 3. 1. Schon durch das gesamtfränkische Konzil von Paris im Jahre 511, wenige Jahre nach der Taufe Chlodowechs 204 , erwies die christliche Kirche sich trotz aller politischen Wirren des 5. Jahrhunderts als noch funktionierende Organisation ganz Galliens, auf die die neue fränkische Herrschaft sich stützen konnte. Diese in das fränkische Reich hineingenommene kirchliche Einheit Galliens überdauerte auch die ersten fränkischen Reichsteilungen von 511 und 524, wie an den Reichskonzilien in Orléans und Paris zwischen 533 und 552 zu erkennen ist. Die bei den Reichskonzilien auffallig häufige Präsenz der Bistümer Südburgunds, der Provence und des südlichen Aquitanien ist mit Recht als Anzeichen für den Weg des Christentums von Süden nach Norden gewertet worden. Zugleich bedeutet die auffallende, durch gute Verkehrswege begünstigte Präsenz dieser Regionen bei den fränkischen Reichskonzilen in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts 205 , dass erst mit der Zugehörigkeit dieser seit dem 4. Jahrhundert christianisierten Gebiete zum fränkischen Reich die christliche Kirche zum bedeutenden Faktor für die Einheit des fränkischen Reiches wurde. 4. 3. 2. Während Childebert I. die von seinem Vater Chlodowech eben begonnene Konzilspolitik mit der Einberufung zu mehreren Reichskonzilien fortsetzte 206 und sein Bruder Chlothar I. schon wegen des zerrütteten Zustandes der Bistumsorganisation 207 seines Nordwestreiches ebenfalls keine Teilreichskonzilien abhielt, fand das erste uns überlieferte Teilreichskonzil im Ostreich Theudeberts I. statt. Offenbar vertrat Theudebert I. vom Beginn seiner Herrschaft an mit seinem 1. Teilreichskonzil von Clermont 535, das bezogen auf die Teilnehmer - als „Gegenkonzil" zum Reichskonzil von Orléans 533 angesehen werden kann, eine der seines Onkels Childebert entgegengesetzte Konzilspolitik, die unter seinem Sohn Theudewald mit einem Teilreichskonzil 208 in Toul 550 fortgesetzt wurde. Die als separatistisch 209 204 205 206

207

208

Clovis. histoire et mémoire 1 : Le baptême de Clovis, l'événement, 2: Le baptême de Clovis, son écho à travers l'histoire, hg. Michel ROUCHE (1997). Vgl. EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 427-432. Über die innerhalb der westlichen Teilreiche dominante Stellung Childeberts I. besonders nach dem Tode seines älteren Bruders Theuderich I. vgl. EWIG, Teilungen (wie Anm. 2) S. 672 f.; zu Childebert I. DERS., Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 447; auch unten mit Anm. 226. EWIG, T e i l u n g e n ( w i e A n m . 2 ) S. 6 7 4 f.; KAISER, K ö n i g t u m ( w i e A n m . 3 7 ) ; DERS.,

Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 32 f. Das Konzil von Metz 550/555 hält PONTAL, Synoden (wie Anm. 27) S. 106, „wohl eher" für eine Provinzialsynode. Möglicherweise war es aber ebenfalls ein Teilreichskonzil, da es von König Theudewald einberufen worden war und das Teilreich als ganzes betraf.

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anzusehende Konzilspolitik der Könige des Ostreiches in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts bestätigt der Inhalt des Briefes der Bischöfe an Theudebert I. im Jahre 535 (vgl. unten 4. 3. 5.). Schon dieser Separatismus kann zu jenen Voraussetzungen gezählt werden, die der Verselbständigung der beiden fränkischen regna in ein westfränkisches und ein ostfränkisches Reich während der Auflösung des Karlsreiches zugrundelagen 4. 3. 3. In der Generation der Söhne (und Enkel) Chlothars I., die sich nach dessen Tod (561) das kurze Zeit (558-561) von ihrem Vater (bzw. Großvater) allein beherrschte Reich teilten, gab es keine Reichskonzilien oder „allgemeine Reichsversammlungen" 210 mehr. Teilreichskonzilien, wie sie zuerst aus dem Ostreich überliefert sind, traten nun auch in den westlichen Teilreichen an deren Stelle. Während Bischofsversammlungen auf Teilreichsebene in den Reichen seiner Brüder 211 und Neffen (Sigibert I. / Childebert II. und Chilperich I. / Chlothar II.) nur ausnahmsweise und wegen der Verstrickung von Bischöfen in ,Hochverratsprozesse' zustande kamen, galten derartige Synoden im Reiche Gunthramns offenbar als legitime und regelmäßig herangezogene Institution zur Entscheidung sowohl kirchlicher als auch politischer Fragen 212 . Die Teilreichssynoden Gunthramns setzten jedoch erst 579 nach dem Tode Sigiberts I. (f 575) ein. Die Versuche Gunthramns, zumindest mit einem seiner Neffen gemeinsame Konzilien abzuhalten, begannen erst, als dieser der letzte überlebende König seiner Generation war und er aus dieser ,familienrechtlichen' Position auch eine Oberhoheit in der Herrschaft ableitete213. Der Vertrag von Andelot, der die Nachfolge Childeberts II. und seiner Söhne in die Herrschaft Gunthramns festlegte, schuf auch die Basis für gemeinsame Konzilien. So beendete letztlich die Dezimierung des Merowingergeschlechts die Auseinanderentwicklung der Teilreiche. Dass mit Gunthramn ausgerechnet derjenige Me209 210 211 212

213

Vgl. BEUMANN, Unitas (wie Anm. 3) S. 537 (S. 9). Hierzu und ergänzend zum folgenden WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 373 ff. Chariberts Konzilspolitik zeigt trotz seiner kurzen Herrschaftszeit mit dem Konzil von Tours 567 einen Ansatz zu einer Aktivität in dieser Richtung. Vgl. aber unten 4. 3. 4. Die bewusste Einbindung der Kirche in die Politik seines Reiches bestätigt das Bild, das Gregor von Tours von Gunthramn als einem besonders frommen König zeichnet. Vgl. Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) VIII 30; IX 21; auch VII 7; siehe auch HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 69 f. und WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 359-366. Eine von Anfang an bewusste Fortsetzung der Konzilspolitik Childeberts I. (t 558) durch Gunthramn, wie WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 373, sie andeutet, ist möglich, wenn auch aufgrund der bei Lebzeiten seiner Brüder zunächst durchaus untergeordneten Position Gunthramns vielleicht nicht sehr wahrscheinlich: So setzen seine Konzilsaktivitäten wohl erst nach dem Tod Chariberts (t567) ein. Siehe WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 359.

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rowingerkönig seine Brüder überlebte, in dessen Reich das Christentum besonders stark verwurzelt und lebendig war und der (auch deswegen ?) der Kirche nach Childebert I. (und Charibert?) am nächsten stand, war - an der Konzilspolitik erkennbar erst seit 579 - maßgeblich dafür, dass diese ihre integrierende Wirkung entfalten und gegen Ende des Jahrhunderts auf das gesamte Frankenreich ausdehnen konnte. 4. 3. 4. Die kurze Herrschaftszeit König Chariberts macht eine Interpretation seiner Konzilspolitik schwierig 214 . Man weiß durch Gregor von Tours, dass die königliche Entscheidung (voluntas) seines Vorgängers und Vaters Chlothar I. und sein eigenes Urteil (iudicium) im Falle einer Bischofserhebung bei ihm entschieden Vorrang hatten vor den Kirchengesetzen 215 . Zwar nennt ihn Venantius Fortunatus einen rex pius (Vers 2) und beschreibt ihn als einen Herrscher, in dem weltliche Gerechtigkeit sich mit Frömmigkeit verband: qui iure est dominus, sed pietate pater (Vers 12) bzw. de patruo (Childebert I.) pietas et de patre (Chlothar I.) fulget acumen (Vers 57). Jedoch scheint auch in seiner wohl einem Idealbild 216 angepassten panegyrischen Beschreibung Chariberts ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn auf der Basis einer eher weltlichen Ethik und Bildung zu dominieren (Vers 97 f.: cum sis progenitus clara de gente Sigamber, floret in eloquio lingua Latina tuo; Vers 79 f.: iustitiae rector, venerandi iuris amator, / iudicium sapiens de Salomone trahis; besonders pointiert Vers 92: antea mons migrat quam tua verba cadant). Auch politische Versammlungen aller (d. h. auch der geistlichen) proceres durch Charibert bezeugt Fortunat: publica cura movens proceres si congreget omnes, / spes est consilii te monitore sequi (Vers 73 f.). Jedoch wird sein Urteil, dass Charibert zur Zeit der Abfassung des Gedichts (vor 567) und in der Nachfolge Childeberts I. der Kirche näher stand als seine Brüder Sigibert, Chilperich und (damals auch noch) Gunthramn (Vers 53 f.: ante alios fratres regali germine natus / ordine qui senior, sie pietate prior)m durch Gregor von Tours nicht bestätigt, der über einen Streit

214

Ob sich ein kurzes Fortleben des Charibert-Reiches, das seit 567 Zankapfel zwischen den überlebenden Brüdern war, durch geschlossene Nichtbeteiligung in Lyon 567/70 (vgl. Mäcon 583) und/oder durch Beschränkung der Teilnehmer auf dieses Reich (Paris 556573, bzw. 561/562 ?) andeutet, hängt ab von der Datierung noch vor der Teilung des Reiches oder zu Lebzeiten Chariberts. 215 Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) IV 26: Potasne, quia non est super quisquam de flliis Chlothari regis, qui patris facta custodiat, quod hi episcopum, quem eius volontas elegit, absque nostrum iuditio proiecerunt. [...] Et sie prineipis est ulta iniuria. 216 Vgl. SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 164-166; vgl. Hans Hubert ANTON, Fürstenspiegel, in: Lex.MA 4 (1989) Sp. 1040-1049, hier Sp. 1042. 217 Venanti Honori Clementiani Fortunati presbyteri Italici opera poetica, ed. Friedrich LEO (MGH Auct. Ant. 4, 1, 1881, 2 1961), carm. VI 2, S. 131 f. Zu Chariberts Konzilien

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um Besitz zwischen der Kirche des heiligen Martin von Tours und Charibert diesen als Hasser und Verächter der Kleriker darstellt 218 und ihm Sigibert lobend gegenüberstellt, der der Kirche von Tours ihr Eigentum zurückerstattete. Während Venantius Fortunatus in seinem Lobgedicht die Kirchennähe Chariberts positiver dargestellt haben mag als sie war, ist das negative Urteil Gregors von seiner persönlichen Betroffenheit über die Ungerechtigkeit gegenüber dem Heiligen seiner Bischofsstadt sicher nicht unbeeinflusst. Auf dem Hintergrund der auf Reichseinheit (unter seiner Herrschaft) zielenden Konzilspolitik Childeberts I. ist es aber vielleicht doch kein Zufall, dass die Ermahnung der Bischöfe, die zuvor ihm unterstanden, zur kirchlichen und weltlichen Einheit sich in der Synode seines Nachfolgers Charibert in Tours 567 und in der von Paris 556-573 (561/62?) 219 als Zentrum der Reiche Childeberts I. und Chariberts niedergeschlagen hat: quia Dei potentia cunctorum regnorum terminos singulari dominatione concludit. 4. 3. 5. Nicht zufällig geht nach einem wohl gelungenen Versuch Chlothars I. von 511 (Laon) und einem gescheiterten Versuch Childeberts I. nach 524 (Melun) vom König des Ostreiches, Sigibert I., das Bestreben aus, die kirchenorganisatorischen an die politischen Grenzen anzugleichen 220 und damit nicht nur die politische, sondern auch die kirchliche Loslösung vom Westen zu betreiben, die bereits unter seinem Vorgänger Theudebert I. zu beobachten ist (vgl. oben 4. 3. 2.). Mit seiner Weigerung, seine Bischöfe an einem mit Gunthramns Reich gemeinsamen Konzil teilnehmen zu lassen, setzt auch Childebert II. zunächst die Konzilspolitik seiner Vorgänger fort. Noch nach Andelot (587) herrscht am Hof des Ostreichs die Auffassung, dass Teilreichs- oder gar (Gesamt-)Reichskonzilien nur dann einzuberufen sind, wenn der christliche Glaube in Gefahr ist, nicht aber zur Regelung politischer Fragen. Der Streit im Kloster Poitiers führte 590 durch die unterschiedliche kirchliche und politische Zugehörigkeit der Stadt und die Verwicklung zweier Frauen aus dem merowingischen Königshaus zum ersten gemeinsamen Konzil der beiden großen Teilreiche. Erst danach ist mit dem Konzil von Metz 590 zum ersten Mal ein Teilreichskonzil des Ostreiches überliefert, das eine politische Versammlung war.

WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 358; PONTAL, Synoden (wie Anm. 27)

S. 117 f., 127; HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 70 mit Anm. 235. 218 Georgi Fiorenti Gregorii Turonici de virtutibus beati Martini episcopi, ed. Bruno KRUSCH (MGH SS rer. Merov. 1,2, 1885) S. 584-661, hier I 29, S. 602; zu Charibert auch Greg. Tur. liber in gloria confessorum, ebd. S. 744-820, hier c. 19, S. 758 f. Vgl. MAGNOUNORTIER, Existe-t-il (wie Anm. 38) S. 154. 219 Siehe oben Anm. 100. 220

KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 20-23; vgl. zu Laon S. 10-18, zu Melun S. 18-20.

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4. 3. 6. Die Beteiligung bestimmter Bistümer an den Synoden im frankoburgundischen Reich König Gunthramns, die als „Regionalkonzilien" der „rhöneländisch-burgundischen" Bischöfe bezeichnet worden sind 221 , (Lyon 567/570; Lyon 583 [581?] und Valence 585) zeigt eine Fortexistenz der regionalen Bindungen des ehemaligen Burgunderreiches 222 innerhalb des frankoburgundischen Reiches, während die gelegentliche Einbindung des frankoburgundischen Anteils am Kernreich Chariberts (sicher nur: Paris 573; Mäcon 581/83; Mäcon 585) und der ehemals ostgotischen Provence (sicher nur: Paris 573; Valence 585; Mäcon 585 [und 583 ?]) einen Schritt hin zur Integration des frankoburgundischen Teilreichs bedeutet. Das Ende Chilperichs (584) und Sturz und Tod Gundowalds (585) waren die Voraussetzung für die Teilnahme des fränkischen Nordwestens und Aquitaniens einschließlich der Novempopulana beim Konzil von Mäcon 585, auf dem Gunthramn zum ersten Mal ein „westfränkisches" Gesamtkonzil erreichte, von dem nur das kleine Restreich Chlothars II. ausgeschlossen blieb. Jedoch nahmen Bistümer des Ostreichs, einschließlich seiner aquitanischen Exklave, nicht teil.

4. 4. Die Entwicklung der Konzilspolitik im Frankenreich des 6. Jahrhunderts Die Entwicklung der Konzilspolitik im Frankenreich des 6. Jahrhunderts ist von zeitlich und regional unterschiedlichen Strömungen gekennzeichnet. Nach den Teilungen der Jahre 511 (Tod Chlodowechs) und 524 (Tod Chlodomers) ist die Zeit zwischen 533 und 552 geprägt von den Reichskonzilien Childeberts I. in Orléans und Paris, an denen Bischöfe aller drei verbliebenen Teilreiche teilnahmen. Sein Neffe und Nachfolger Charibert hielt 567 eine Teilreichssynode ab, während der die Bischöfe - die noch unter Childebert I. in den Synoden praktizierte - Einheit des Reiches einforderten und theologisch begründeten. Die Bischöfe des Charibert-Reiches wiederholten diese Forderung auf einer weiteren Synode in Paris (556-573; 561/62?). Ein separatistischer Kurs, d. h. die Bindung der jeweiligen Versammlung ausschließlich an das Teilreich wird - erkennbar seit 533 durch das Fernbleiben der Bischöfe des Ostreiches (vielleicht noch unter Theuderich I.) und 535 durch ein Teilreichskonzil (unter Theudebert I.) - vom Ostreich betrieben, wobei den Synoden hier zunächst eine relativ geringe politische Bedeutung zukommt. Dieser Kurs wird von Sigibert I. und zunächst auch noch

221 222

EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 427. Siehe auch EWIG, Bischofslisten (wie Anm. 25) S. 431, 448; DERS., Überlegungen (wie Anm. 1) S. 231 f.; vgl. MAGNOU-NORTIER, Existe-t-il (wie Anm. 38) S. 141.

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von seinem Sohn Childebert II. fortgesetzt. Mit der Aussicht auf die Übernahme der Herrschaft im Reich des söhnelosen Gunthramn von Frankoburgund ändert sich dieser Kurs. Stark weltlichen Charakter haben die erst aus dem letzten Viertel des 6. Jahrhunderts überlieferten Konzilien des nordwestlichen Teilreichs 223 , die vor allem wegen des Verdachts des ,Landes-, oder ,Hochverrats' von Bischöfen abgehalten wurden und so hauptsächlich durch die Personen der Beteiligten auch kirchliche Versammlungen waren. Mit der Übernahme der Alleinherrschaft durch Chlothar II. scheint sich die unter seinen Vorgängern im Nordwestreich zu beobachtende ,Verweltlichung' 224 in den Formulierungen des Konzils von Paris 614 im Vergleich zu den beiden Konzilien des Charibert-Reiches der sechziger Jahre des 6. Jahrhunderts zu bestätigen 225 . Eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Episkopat seines Reiches ist nach Childebert I. nur an der Konzilspolitik im frankoburgundischen Reich Gunthramns zu beobachten. Nicht zuletzt der Tatsache, dass gerade dieser - der in seinem Reich verwurzelten Kirche besonders zugeneigte Merowingerkönig ohne eigene Söhne seine Brüder überlebte, ist es zu verdanken, dass sich im späten 6. Jahrhundert auch im Ostreich eine Konzilspolitik abzeichnet, die nicht nur die Behandlung wichtiger politischer Fragen auf Teilreichsebene zum Inhalt hat, sondern auch zu mindestens einem gemeinsamen Konzil der beiden großen Teilreiche und damit fast einem Reichskonzil führte.

223 224

225

WEIDEMANN, Kulturgeschichte (wie Anm. 11) S. 370 f. Auch die „identische Behandlung von Kirchen- und Fiskalbesitz" im Edictum Chlotharii von 614 deutet auf eine Annäherung beider Bereiche. Vgl. HEINZELMANN, Bischof (wie Anm. 28) S. 54. Einen „ersten Höhepunkt im Prozeß der Verchristlichung des Königtums im Frankenreich" beobachtete Hans Hubert ANTON, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner Historische Studien 32, 1968) S. 51 mit Anm. 30; vgl. SUNTRUP, Theologie im Okzident (wie Anm. 27) S. 116-119. Dies muss jedoch nicht im Widerspruch stehen zu unserer Schlussfolgerung. Vielmehr dürfte das Eindringen von Personen germanischer Herkunft in den Klerus des Nordwestreiches (zu 3. 2. 2. vgl. auch oben Anm. 47) im Verlauf des 6. Jhs. auch zu einer Annäherung germanischer und christlicher Denkweisen geführt haben. Wenn mit der Alleinherrschaft des Königs dieses Reiches, Chlothars II., zunächst eine ,Verweltlichung' im Konzil von Paris 614 zu beobachten ist, so verwundert das ebensowenig wie eine ,Verchristlichung' ein gutes Jahrzehnt später, wenn nämlich nach dem ersten , Siegestaumel' des Königs und der Großen des lange unterdrückten Nordwestens andere Teile der fränkischen Mächtigen aus stärker christlich geprägten Regionen ihre früheren Positionen allmählich zurückeroberten.

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4. 5. Einheit zwischen kirchlicher Idee, germanischer Erbfolge und weltlicher Machtpolitik Noch in den sechziger Jahren des 6. Jahrhunderts bringt der Episkopat in der Nachfolge der Konzilspolitik unter Childebert I. - und möglicherweise zugleich ausgelöst durch dessen praktische Politik 226 - den Gedanken der kirchlichen Einheit in weltliche Grenzprobleme ein und versucht diese Einheit, mit der auch oder vor allem die Wahrung des Besitzstandes der Kirche begründet wurde, auch praktisch durchzusetzen. Ihm stehen, wie in Einzelfällen nachgewiesen ( K A I S E R ) , diejenigen merowingischen Könige entgegen, die im Bemühen um Sicherung und Ausweitung der eigenen Herrschaft oder/und der Herrschaft der eigenen männlichen Nachkommen auf strikter Grenzziehung bei der divisio regnorum beharren, wie Childebert I. (524) 227 und die Brüder Chariberts (seit 567), unter ihnen besonders Sigibert I. Die Tendenz zum Separatismus ist im 6. Jahrhundert am stärksten an der Konzilspolitik der Könige des Ostreiches zu beobachten. Eine Vermischung fränkischer Vorstellungen von gemeinsamer Herrschaft mit der kirchlichen Einheitsidee ist gegen Ende des Jahrhunderts - begünstigt durch die starke Position der Kirche in seinem Reich und die eigene Söhnelosigkeit - vielleicht an der praktischen Politik Gunthramns von Frankoburgund abzulesen 228 . Seine Ansätze zu einer gemeinsamen Politik mit Childebert II. gehen einher mit Adoption und Designation des Neffen, d. h. einer vertraglich hergestellten Vater-Sohn-Beziehung, die offenbar ebenso eine Art gemeinsamer Herrschaft begründete wie die Brüdergemeine 229 und damit dem kirchlichen Einheitsgedanken entgegenkam. Daher darf man vermuten, dass Gunthramns Aufforderungen an Childebert II. zu gemeinsamen Konzilien zumindest die Zustimmung seines Episkopats fanden, wenn sie nicht gar von ihm ausgegangen waren 230 . Die aus dem Aussterben und der Ausrottung der Nachkommenschaft konkurrierender Merowingerzweige resultierende Alleinherrschaft Chlothars II. lässt im Konzil von Paris 614 die Einheit als theologisch begründete Idee in den Hintergrund treten. Dies kann vielleicht als Hinweis auf eine , Verweltlichung' der Konzilspolitik gedeutet werden, die bereits unter dessen 226 Vgl. KAISER, Bistumsgründungen (wie Anm. 11) S. 18 ff. 227 Zu Childeberts Verhalten, die Bistumsgründung von Melun betreffend, siehe KAISER ebd. 228 Vgl. auch die Formulierung im Edikt Gunthramns von 585, Capitularía regum Francorum 1, ed. Alfred BORETIUS (MGH LL sect. 2, 1883) S. 11: Per hoc supernae maiestatis auctorem, cuius universa reguntur imperio. 229 Oben mit Anm. 116 f. Zu Adoption und Designation mit Literatur GRAHN-HOEK, Oberschicht (wie Anm. 2) S. 211-253, vgl. S. 185-188; vgl. Gregorius Turonensis, libri historiarum (wie Anm. 112) III 24. 230 Vgl. GRAHN-HOEK, Oberschicht (wie Anm. 2) S. 215-221, bes. S. 217 mit Anm. 426.

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Vater Chilperich I. im nordwestlichen Teilreich zu beobachten und vermutlich mit einer ,Verchristlichung' der Großen dieses Reiches einhergegangen war. Der kirchliche Einheitsgedanke erstreckte sich zwar der Intention nach schon im 6. Jahrhundert auch auf die weltliche Herrschaft. Der auch räumlich umfassende Anspruch der singularis dominatio potentiae Dei stieß aber zunächst an die aus dem germanischen Erbrecht und aus der Herrschaftsauffassung germanischer Könige resultierenden weltlichen Grenzen germanischer Reiche (cunctorum regnorum terminos).

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possessiones in quibuslibet pagis et territoriis Zu Immunitätsprivilegien und kirchlichem Fernbesitz im 9. Jahrhundert Am 13. Februar 845 gewährte der westfränkische König Karl der Kahle der Bischofskirche zu Chälons an der Marne auf Bitten des dortigen Bischofs Lupus ein Immunitätsprivileg, mit dem er der Kirche die ihm vorgelegten Urkunden seiner königlichen Vorgänger bestätigte1; in der Narratio der Urkunde wird darauf hingewiesen, daß der Amtssprengel von Bischof Lupus sich über die Gaue Vertus, Changy, Astenois und Perthois erstrecke und die Kirche auch über Besitz im Herzogtum Thüringen (in ducatu Turingiq) und im Wormsgau (in pago Warmacinse) verfuge. Über die gewöhnlich im Rahmen der Immunität gewährten Vergünstigungen hinaus traf der König weitere Maßnahmen: Er untersagte seinen Getreuen ausdrücklich Eingriffe in den bischöflichen Besitz und sicherte dem Bischof Predigt- und Amtsfreiheit zu.

Verwendete Abkürzungen: LECHNER: Johann LECHNER, Verlorene Urkunden, in: Johann Friedrich BÖHMER, Regesta Imperii I: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918. Nach Johann Friedrich BÖHMER neubearb. von Engelbert MÜHLBACHER, nach MÜHLBACHERS Tod vollendet von Johann LECHNER. Mit einem Geleitwort von Leo SANTIFALLER. Mit einem Vorwort, Konkordanztafeln und Ergänzungen von Carlrichard BRÜHL und Hans H. KAMINSKY (1966) S. 839-873. D Ka. II.: Diplom Karls II., des Kahlen: Recueil des actes de Charles II le Chauve roi de France, commencé par Arthur GLRY, continué par Maurice PROU, terminé et publié sous la direction de Clovis BRUNEL par Georges TESSIER, 1-3 (1943-1955). D Ka. III.: Diplom Karls III.: Die Urkunden Karls III., hg. von Paul KEHR (MGH Diplomata regum Germaniae ex Stirpe Karolinorum 2, 1936-1937). D LD.: Diplom Ludwigs des Deutschen, und D LJ.: Diplom Ludwigs des Jüngeren: Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren, hg. von Paul KEHR (MGH Diplomata regum Germaniae ex Stirpe Karolinorum 1, 19321934). D Lo. I.: Diplom Lothars I., und D Lo. II.: Diplom Lothars II.: Die Urkunden Lothars I. und Lothars II., hg. von Theodor SCHIEFFER (MGH Diplomata Karolinorum 3, 1966). D L u . II.: Die Urkunden Ludwigs II., hg. von Konrad WANNER (MGH Diplomata Karolinorum 4, 1994). D P. I.: Diplom Pippins I. von Aquitanien, und D P. II.: Diplom Pippins II. von Aquitanien: Recueil des actes de Pépin 1er et de Pépin II, rois d'Aquitaine (814-848), publié sous la direction de Maurice PROU par Léon LEVILLAIN (1926). 1

D Ka. II. 67; siehe zur Urkunde auch unten, Anm. 13. - Über die allgemeine Angabe hinaus, es handele sich um Urkunden der Vorgänger Karls (emunitates regum predecessorum nostrorum), gibt der Urkundentext keine Hinweise auf die Aussteller der nicht überlieferten älteren Immunitätsprivilegien.

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Die Urkunde von 845 stellt den ältesten Beleg für Besitz der Bischofskirche Chälons2 im an der östlichen Grenze des Karolingerreiches gelegenen Herzogtum der Thüringer dar und ist daher für die Geschichte Thüringens im frühen Mittelalter von erheblicher Bedeutung3, selbst wenn sich zum Zeitpunkt des Erwerbs der Güter durch Chälons4 und zu ihrer Herkunft5 nur Vermutungen anstellen lassen. Sicher belegt ist dagegen, daß die westfränkische Bischofskirche die Besitzungen im Jahre 878, gut dreißig Jahre nach der

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Châlons-en-Champagne (früher Châlons-sur-Marne), Département Marne. Zur sehr geringen Zahl der schriftlichen Quellen zur frühmittelalterlichen Geschichte Thüringens vgl. Matthias WERNER, „in loco nuncupante Amestati". Die Ersterwähnung Arnstadts im Jahre 704 (2004) S. 9. Die zeitlichen Ansätze durch die Forschung bewegen sich zwischen dem späten 6. und dem 9. Jh.: Walter SCHLESINGER, Das Frühmittelalter, in: Geschichte Thüringens 1: Grundlagen und frühes Mittelalter, hg. von Hans PATZE / Walter SCHLESINGER (Mitteldeutsche Forschungen 48, 1, 1968) S. 316-380, hier S. 342, vermutet das 7. Jh. als Erwerbszeit, schließt aber auch die Zeit der Sachsenmission nicht aus („Willibald erwähnt christliche Herzöge der Thüringer [...], die ins 7. Jahrhundert gehören müssen [...] Ihnen ist wohl die Schenkung von Besitz in der Gegend von Langensalza und Nordhausen an die Reimser Kirche zuzuschreiben, der allerdings erst im 9. Jahrhundert entgegentritt, vielleicht auch an die Kirche von Châlons-sur-Marne, für den das gleiche gilt und der auch erst der Zeit der Sachsenmission entstammen kann"). - Matthias WERNER, Iren und Angelsachsen in Mitteldeutschland. Zur vorbonifatianischen Mission in Hessen und Thüringen, in: Die Iren und Europa im früheren Mittelalter 1, hg. von Heinz LÖWE (1982) S. 239-318, hier S. 279, hielt die erste Hälfte des 7. Jh. fur möglich („Die im 9. Jahrhundert bezeugten thüringischen Außenbesitzungen der westfränkischen Bischofskirchen von Reims und Châlons-surMarne gehören möglicherweise ebenso wie einige der thüringischen Kirchen mit fränkisch geprägten Patrozinien dieser frühesten Phase der Christianisierung an. Beides würde auf erste gezielte Missionsversuche schließen lassen. Sicher bezeugt ist eine Mission in Thüringen allerdings erst zu Beginn des 8. Jahrhunderts [...]"). - In das späte 6. oder frühe 7. Jh. datiert den Erwerb dagegen Karl Heinz DEBUS, Frühmittelalterlicher kirchlicher Fernbesitz im Linksrheinischen zwischen Lauter und Nahe, Jb. fur westdeutsche Landesgeschichte 19 (1993) S. 47-79, hier S. 57, 76 f., vgl. auch S. 61 („In die Zeit 561 bis 613 fallen alle bedeutenden Schenkungen an die Kirchen von Verdun, Reims, Metz und wohl auch von Châlons-sur-Marne", S. 77). - Sonja BENNER, Châlons-en-Champagne. Die Stadt, das Chorherrenstift Toussaint und das Umland bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Trierer Historische Forschungen 55, 2005) S. 37 mit Anm. 114, vermutet den Erwerb der Güter unter dem als Missionar in Halberstadt tätigen Bischof Hildegrim (800/801-825). Vgl. auch Albert HAUCK, Kirchengeschichte Deutschlands 2 ( 9 1958) S. 387 f.; Hans PATZE, Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen 1 (Mitteldeutsche Forschungen 22, 1962) S. 59 f. SCHLESINGER, Frühmittelalter (wie Anm. 4) S. 342, denkt für den thüringischen Anteil an eine Schenkung der christlichen Herzöge der Thüringer des 7. Jh.; dagegen vermutet DEBUS, Frühmittelalterlicher kirchlicher Fernbesitz (wie Anm. 4) S. 76 f., die merowingischen Herrscher der Zeit zwischen 561 und 613 als Schenker sowohl für das Thüringer wie fur das Wormser Gebiet; vgl. auch Rudolf KRAFT, Das Reichsgut im Wormsgau (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 16, 1934) S. 194, der ebenfalls annimmt, der Besitz stamme aus Königsgut.

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Immunitätsbestätigung durch Karl den Kahlen, veräußerte: Bischof Berno von Chälons vereinbarte offenbar kurz nach seinem Amtsantritt6 mit Erzbischof Liutbert von Mainz einen Gütertausch, den der ostfränkische König Ludwig der Jüngere im Mai desselben Jahres bestätigte 7 . Berno trat demnach an Liutbert den Besitz im Wormsgau und im Herzogtum Thüringen ab, den die Urkunde Karls des Kahlen nicht näher beschrieben hatte, von dem die neue Urkunde jedoch mitteilt, es handele sich dabei um Liegenschaften in Udenheim 8 sowie in Töpfleben und weiteren, nicht genannten thüringischen Orten9. Im Tausch dafür erhielt die Kirche von Chälons die Villa Germigny 10 aus dem Besitz des Klosters Stablo-Malmedy, das dem Mainzer Erzbischof unterstand11 und dessen Mönche dem Tausch zugestimmt hatten12. Die Bestätigung des Tausches durch Ludwig den Jüngeren ist in demselben Chartular der Kirche von Chälons überliefert, das auch das Immunitätsprivileg Karls des Kahlen verzeichnet; eine entsprechende Bestätigung für Mainz ist nicht erhalten13.

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Willebertus, Vorgänger Bernos, starb am 2. Januar 878; frühester Beleg für Berno ist D LJ. 9 von 878 Mai 26, zuletzt bezeugt ist der Bischof in D Ka. III. 150 vom 22. November 886; vgl. auch Louis DUCHESNE, Fastes épiscopaux de l'ancienne Gaule 3: Les Provinces du Nord et de l'Est (1915) S. 98. 7 D LJ. 9 von 878 Mai 26, Frankfurt. 8 D LJ. 9: in pago Uuormacensi quicquid in villa quç Uotenheim dicitur; es handelt sich um Udenheim, Kreis Alzey-Worms. 9 D LJ. 9: in ducatu Turingiç in villa Tupheleiba seu in ceteris locis in eodem ducatu iacentibus; es handelt sich um Töpfleben, Kreis Gotha. 10 Wohl das heute wüste Germigny in Neuville-en-Tourne-à-Fuy (Département Ardennes, arrondissement Rethel, canton Juinville); zum Kloster Stablo-Malmedy und zum Ort Germigny vgl. François BAIX, Etude sur l'abbaye et principauté de Stavelot-Malmédy 1: L'abbaye royale et bénédictine (des origines à l'avènement de S. Poppon 1021) (1924) S. 32-35, 98; vgl. auch Theo KÖLZER, Merowingerstudien 1 (MGH Studien und Texte 21, 1998) S. 40-56, 94 f. 11 Das Kloster gehörte seit dem Vertrag von Meerssen 870 zum ostfränkischen Reich. 12 D LJ. 9: cum consensu fratrum. 13 Zur Überarbeitung des Textes von D Ka. II. 67 durch den Kantor Warin, der vor 1078/1080 das Chartular der Kirche von Chälons anlegte, vgl. Georges TESSIERs Vorbemerkung zu D Ka. II. 67, der die Bestimmungen zu Eingriffen der Fideles und zur Predigtfreiheit des Bischofs für interpoliert hielt. Michel BUR, La formation du comté de Champagne, v. 950 v. 1150 (Mémoires des Annales de l'Est 54, 1977) S. 182 schloß sogar eine Verfälschung des gesamten Textes nicht aus; vgl. dagegen Reinhold KAISER, Münzprivilegien und bischöfliche Münzprägung in Frankreich, Deutschland und Burgund im 9.-12. Jh., VSWG 63 (1976) S. 289-338, hier S. 295-297, und DERS., Bischofsherrschaft zwischen Königtum und Fürstenmacht. Studien zur bischöflichen Stadtherrschaft im westfränkisch-französischen Reich im frühen und hohen Mittelalter (Pariser Historische Studien 17, 1981) S. 102 f. Vgl. zur Urkunde auch BENNER, Chälons (wie Anm. 4) S. 36f., 174-176. - KÖLZER, Merowingerstudien 1 (wie Anm. 10) S. 42, 56, 94, äußert Zweifel daran, daß der in der Urkunde Ludwigs d. Jg. bestätigte Tausch Rechtswirksamkeit erlangt hat, da weitere Belege

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Die beiden weit entfernt von Chälons gelegenen Besitzkomplexe - nach Töpfleben waren fast 600 km, nach Udenheim immerhin noch 330 km zu überwinden - tauschte man also gegen Güter ein, die, sofern die Identifizierung von Germigny richtig ist14, nur noch gut 50 km entfernt lagen und somit einfacher zu bewirtschaften und zu verwalten waren. Der Grund für die Veräußerung der Liegenschaften ist aber wohl weniger in ihrer großen Entfernung vom Bischofssitz zu suchen, die doch, ohne Anlaß zur Besitzaufgabe zu geben, über sehr lange Zeit hinweg überbrückt worden war15, als vielmehr in den veränderten politischen Rahmenbedingungen: Seit der Teilung des karolingischen Reiches im Vertrag von Verdun 843 gehörten Töpfleben in Thüringen und Udenheim im Wormsgau zum Herrschaftsbereich des ostfränkischen Königs Ludwigs des Deutschen, nach dessen Tod 876 zum Reich seines Nachfolgers Ludwigs des Jüngeren; Chälons dagegen lag im westfränkischen Reichsteil, das zunächst Karl dem Kahlen, seit 877 seinem Nachfolger Ludwig dem Stammler unterstand; auch die Teilung von Meerssen 870 hatte an der Lage nichts geändert. Allem Anschein nach war die Aufgabe des Besitzes 878 eine Reaktion auf die Schwierigkeiten, die eine solche Güterstreuung über mehrere Reiche mit sich brachte. Die Bischöfe von Chälons16 hatten eine Besitz- oder Immunitätsbestätigung und damit Rechtssicherheit für ihren außerhalb des westfränkischen Reiches gelegenen Fernbesitz wohl weder durch Ludwig den Deutschen noch durch Ludwig den Jüngeren erlangen können17, so daß schließlich der Tausch gegen näher gelegene Güter vorteilhaft erscheinen mochte.

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für das Verfugungsrecht des Bischofs von Chälons über Germigny fehlen. Der Ort Germigny erscheint erst im 12. Jh. wieder in den Quellen; er wurde nach längerer Entfremdung im Jahre 1104 dem Kloster Stablo-Malmedy restituiert (vgl. ebd. S. 56), nachdem die Mönche zuvor durch Fälschungsaktionen (D LJ. f 2 7 ) versucht hatten, sich des Besitzes zu versichern. - Kaum ein Zweifel kann aber daran bestehen, daß Chälons nach dem Tausch von 878 nicht mehr über Güter im ostfränkischen Reich verfügte; die beiden Königsurkunden von 845 und 878 sind die einzigen Belege für diesen Besitz. Siehe oben, Anm. 10; zum Problem der Identifizierung zusammenfassend KÖLZER, Merowingerstudien 1 (wie Anm. 10) S. 40-42. - Aus Sicht des Klosters Stablo-Malmedy war Germigny unsicherer Fernbesitz, da rund 200 km entfernt und im westfränkischen Reich gelegen, während das Kloster selbst seit 843 zum lotharischen, seit 870 zum ostfränkischen Teilreich gehörte. Jedenfalls über viele Jahrzehnte, vielleicht gar mehrere Jahrhunderte, je nachdem, ob die Besitzübertragung an Chälons in das 6., 7., 8. oder 9. Jh. zu datieren ist; siehe dazu Anm. 4. Bischof Lupus, belegt 838-853, vgl. DUCHESNE, Fastes 3 (wie Anm. 6) S. 98; MGH Conc. 3, S. 6 Anm. 39; Erchenraus, belegt 858-867; Willebertus, geweiht 868 Dezember 5, verstorben 878 Januar 2; Berno, belegt 878 Mai 26 bis 886 November 22 (siehe Anm. 6). Zu den Bischöfen auch BENNER, Chälons (wie Anm. 4) S. 36-41. So auch DEBUS, Frühmittelalterlicher kirchlicher Fernbesitz (wie Anm. 4) S. 76 f.

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Der Vorgang wirft ein Schlaglicht auf die Probleme, denen sich nicht nur die bischöfliche Kirche von Chälons, sondern auch zahlreiche andere kirchliche Einrichtungen im 9. Jahrhundert angesichts der Kämpfe um die Herrschaft im karolingischen Reich und der Reichsteilungen mit ihren mehrfach modifizierten Grenzziehungen ausgesetzt sahen. Die Sorge für die Rechtssicherheit ihrer Güter fiel besonders den Kirchen und Klöstern mit geographisch weit gestreutem Fernbesitz 18 schwer; sie standen während der Zeit der Bruderkriege den miteinander konkurrierenden Königen gegenüber und mußten seit der Teilung von Verdun 843 bei mehreren Herrschern zugleich um Privilegien nachsuchen. Das Immunitätsprivileg Karls des Kahlen für Chälons von 845 geht allerdings mit keinem Wort auf den schwierigen Sachverhalt ein. Zwar wird der Fernbesitz im ostfränkischen Reich ausdrücklich genannt, tatsächlich aber konnte Karl die Rechte der Bischofskirche nur für innerhalb des eigenen Reiches gelegene Güter sichern, nicht für solche in Thüringen und im Wormsgau. Gleichwohl gibt die Formulierung der eigentlichen Immunitätsbestimmungen an, die Immunität gelte für sämtliche Besitzungen, in welchen Gauen und Gebieten sie auch gelegen seien (possessiones [...] in quibuslibet pagis et territoriis sitas). Man hätte dem Problem leicht aus dem Wege gehen können, so könnte man meinen, nämlich durch die Wahl einer anderer Variante des Immunitätsformulars 19 , in der die Worte infra ditionem regni

18 Zu Fernbesitz im Karolingerreich mit Ausführungen zu Begriff, Geschichte und Forschungsstand vgl. Jan Ulrich BÜTTNER / Sören KASCHKE, Grundherrlicher Fernbesitz und Reichsteilungen am Beispiel des Klosters Prüm, in: Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (500-1000). Festschrift Dieter Hägermann, hg. von Brigitte KASTEN (VSWG Beihefte 184, 2006) S. 175-196, hier besonders S. 175 f., 181-189. 19 Edmund E. STENGEL, Die Immunität in Deutschland bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. Forschungen zur Diplomatik und Verfassungsgeschichte 1: Diplomatik der deutschen Immunitäts-Privilegien vom 9. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts (1910) S. 600, 634 f. STENGEL rekonstruierte drei Fassungen des Immunitätsformulars der Kanzlei Ludwigs des Frommen, von denen A ursprünglich für Bischofskirchen, B vorwiegend für Klöster bestimmt gewesen seien und C eine Mischform darstelle (S. 600 f.; vgl. auch S. 16-19, 2427). Die zentralen Bestimmungen lauten in A, S. 631-640 Nr. 5-10 (leicht gekürzt und vereinfacht): praecipimus atque iubemus [5] ut nullus iudex publicus neque quislibet ex iudiciaria potestate [...] [6] in ecclesias aut loca vel agros seu reliquas possessiones, [7] quas moderno tempore in quibuslibet pagis vel territoriis infra ditionem imperii nostri iuste et legaliter memorata tenet vel possidet ecclesia [8] vel eas quae deinceps a catholicis viris eidem conlatae fuerint ecclesiae, [9] adcausas audiendas [...] [10] [...] ingredi audeat [...].

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nostri die Immunität ausdrücklich auf den Besitz innerhalb von Karls Herrschaftsbereich eingeschränkt hätten. Obwohl diese Variante häufig vorkommt und, wie S T E N G E L herausgearbeitet hat, in der Zeit Ludwigs des Frommen bevorzugt für die Bistümer des Reiches verwendet wurde, und obwohl sie besser auf die konkrete Situation der Kirche von Chälons gepaßt hätte, verzichtet der Urkundentext also auf die klare Kennzeichnung des Sachverhalts und erweckt den Anschein, die Immunität erstrecke sich auf sämtliche Güter der Kirche. Das Immunitätsprivileg für Chälons mit seinem merkwürdig unpräzise anmutenden Text, der zunächst ausdrücklich auf Besitz der Kirche im ostfränkischen Reich hinweist, um sodann Immunität für sämtliche Besitzungen in quibuslibet pagis et territoriis sitas zuzusagen, soll als Anlaß dienen, einerseits die Urkundenausstellung der karolingischen Herrscher in den Jahrzehnten um die Mitte des 9. Jahrhunderts daraufhin zu untersuchen, ob und wie sich die Teilung, die Zugehörigkeit von kirchlichen Einrichtungen zu unterschiedlichen Teilreichen und die Streuung ihrer Güter über mehrere Reiche in den Urkundentexten spiegeln, inwieweit die Urkunden also die politische und rechtliche Situation erkennen lassen. Zum andern ist danach zu fragen, welche Bedeutung der Wendung infra ditionem regni (oder imperii) nostri im Rahmen des Immunitätsformulars dieser Zeit zukommt. Zunächst ist festzuhalten, daß die Urkundenausstellung eines Herrschers für einen bestimmten Empfänger als Zeichen der Herrschaft oder doch jedenfalls des Anspruchs auf Herrschaft über diesen Empfänger zu werten ist. So gelten die Urkunden Lothars I. für italische Empfänger als Zeichen seiner Herrschaft in Italien 20 , diejenigen Ludwigs des Deutschen für Empfänger in Bayern 830-833 als Zeichen seiner Herrschaft ebendort, seine Privilegien für St. Gallen, Lorsch, Fulda und Murbach seit 833 als Indizien seines Anspruchs auf Herrschaft im ostfränkischen Reich 21 . Nachdem Ludwig der Fromme zu Anfang des Winters 837 seinem Sohn Karl das Gebiet zwischen Nordseeküste, Rhein und Seine bis nach Burgund zugewiesen hatte 22 , urkun-

Fassung B unterscheidet sich von A in vielerlei Hinsicht; hier besonders wichtig (ebd., B S. 634 f. Nr. 7): [7] quas moderno tempore iuste et rationabiliter possidere videtur in quibuslibet pagis et territoriis Unter den Formulae imperiales, in: Formulae Merowingici et Karolini aevi, hg. von Karl ZEUMER (MGH LL 5, 1882-1886) S. 285-328, kommt die Wendung infra ditionem imperii nostri in Nr. 11, 12, 28, 29 vor; in Nr. 4 fehlt sie. 20 822-825, 830 und 832/833; dazu Theodor SCHIEFFER, Einleitung zu DD Lo. I., S. 3-5. 21 Paul KEHR, Einleitung zu DD LD., S. XVI. 22 Johann Friedrich BÖHMER, Reg. Imp. I: Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751-918(987) 2: Die Regesten des Westfrankenreichs und Aquitaniens 1: Karl der

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dete Karl alsbald für die Bremer Kirche23, während vom Kaiser selbst von nun an bis zu seinem Tode keine Urkunden mehr in dieses Gebiet gingen 24 . Nach dem Tode Ludwigs des Frommen im Juni 840 erhob Lothar I. Anspruch auf die Herrschaft im gesamten Reich im Sinne der Ordinatio imperii und urkundete dementsprechend außer für Empfänger in dem unbestritten seiner Herrschaft unterstehenden Italien25 sowie im später ihm zugewiesenen Mittelreich26 zunächst auch für Empfänger im westfränkischen 27 wie im ostfränkischen Reich 28 . Seit 842, dem Beginn der Teilungsverhandlungen 29 , sind keine Urkunden Lothars I. mehr für Empfänger in denjenigen Reichsteilen erhalten, die im Vertrag von Verdun seinen Brüdern Karl und Ludwig zufallen sollten 30 . Karl der Kahle griff in dieser Zeit ebensowenig über das Westfrankenreich hinaus31 wie Pippin II. über Aquitanien32. Ludwig der

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Kahle 840 (823)-877 Lieferung 1: 840 (823)-848, bearb. von Irmgard FEES (2007) Nr. 61 (in Folge: BÖHMER / F E E S , Reg. Imp. 1,2,1/1). BÖHMER / FEES, Reg. Imp. 1 , 2 , 1 / 1 (wie Anm. 22) Nr. 67. Theo KÖLZER, Kaiser Ludwig der Fromme (814-840) im Spiegel seiner Urkunden (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 401, 2005) S. 32 f. Für Farfa (DD Lo. I. 51, 73), Cremona (DD Lo. I. 58, 71), Nonantola (DD Lo. I. 160, 161 Depp.), S. Maria Theodota in Pavia (D Lo. I. 59) und Venedig (D Lo. I. 62). Für St. Arnulf in Metz (D Lo. I. 46), Donzere bei Montelimar (D Lo. I. 47), Saint-Mihiel (DD Lo. I. 52-54), Chur (D Lo. I. 55), Prüm (DD Lo. I. 56, 57, 68), St. Maria in Serris im Kanton St. Gallen (D Lo. I. 63), Trier (D Lo. I. 67) und Münster im Gregoriental (D Lo. I. 72). Für Saint-Amand (D Lo. I. 48), Faremoutiers (D Lo. I. 49), Flavigny (D Lo. I. 50), SaintMaur-des-Fosses (D Lo. I. 64), das Kloster Nesle-la-Reposte bei Nogent-sur-Seine (D Lo. I. 65) und Reims (D Lo. I. 158 Dep.). Für Fulda (DD Lo. I. 60, 61). Zu den Verhandlungen von Ansilla, Koblenz und Diedenhofen im Jahre 842 vgl. BÖHMER / F E E S , R e g . I m p . I, 2 , 1/1 ( w i e A n m . 2 2 ) N r . 3 2 3 f., 3 3 7 f., 3 4 0 .

30 Dazu SCHIEFFER, Einleitung zu D D Lo. I., S. 7: „Der im August 843 geschlossene Teilungsvertrag von Verdun hat dann die offenbar im wesentlichen schon eingespielte Regelung sanktioniert". 31 Die Schenkung der Villa Remilly an St. Arnulf in Metz (D Ka. II. 9) von 842 (nachdem Lothar I. denselben Besitz bereits 840 geschenkt hatte, D Lo. I. 46) bezieht sich auf Liegenschaften im westfränkischen Reich. - Zwei Fälle, bei denen es sich zwar nicht um Urkunden für Kirchen oder Klöster, sondern um solche für Einzelpersonen handelt, sollen hier der Vollständigkeit halber trotzdem erwähnt werden: Karl gewährte dem Erzkanzler Lothars I., Agilmar von Vienne, im Jahre 842 eine Besitzbestätigung (D Ka. II. 13), die sich auf Güter in Aquitanien und Burgund bezieht. Der Gemahlin Lothars I., Irmingard, übertrug Karl wohl 843 nach dem Vertrag von Verdun Güter des Klosters Corbie, die nach Ansicht der Forschung im Elsaß und im Wormsgau lagen; ihre Identifizierung ist jedoch n i c h t s i c h e r (BÖHMER / FEES, R e g . I m p . I, 2 , 1/1, w i e A n m . 2 2 , N r . 3 6 9 ) . - E i n ä h n l i c h e s

Problem liegt mit der Urkunde Ludwigs d. Dt. für Angilberga vor; siehe dazu unten, Anm. 46. 32 Für Pippin II. von Aquitanien ist aus der Zeit 8 4 0 - 8 4 3 nur eine einzige Urkunde überliefert, D P. II. 50 für den späteren Erzbischof Radulf von Bourges.

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Deutsche, der im übrigen in den Jahren des Bruderkriegs nur wenige Urkunden ausstellte33, urkundete 842 zwar für das im Mittelreich gelegene Kloster Inden (Kornelimünster)34; die Urkunde ist jedoch durch die politischen Zeitumstände zu erklären: Sie wurde am 26. März in Aachen ausgestellt, unmittelbar nachdem Karl der Kahle und Ludwig gemeinsam die von ihrem Bruder Lothar I. verlassene Stadt erreicht und das karolingische Reich unter sich aufgeteilt hatten - eine Teilung, die nicht wirksam werden sollte35. Einzelheiten der Teilungsvereinbarung sind nicht überliefert; offenbar war aber das Kloster Inden dem Reich Ludwigs zugewiesen worden, und dieser stellte ihm sogleich in Ausübung seiner ihm eben zugefallenen Rechte ein Privileg aus. Dazu paßt die Datierung des Stückes, die mit der Angabe des zweiten Regierungsjahres für Ludwig dessen Herrschaft vom Tode Ludwigs d. Fr. im Jahre 840 an rechnet36. Nach der Einigung von Verdun urkundete jeder Herrscher im allgemeinen nur noch dann für auswärtige Kirchen und Klöster, wenn diese über Besitz oder Rechte innerhalb des eigenen Herrschaftsbereiches verfügten. So gewährte Lothar I. dem westfränkischen Kloster Saint-Denis, zu dessen Besitz Güter im Elsaß und im Saulnois sowie im Regnum Italiae gehörten, 843 Immunität und Königsschutz, restituierte ihm 848 das in seinem Reich gelegene Veltlin und bestätigte ihm 854 Besitz in den Vogesen37. Die westfränkische Bischofskirche zu Autun ließ sich 853 von Lothar I. den Besitz einer Villa im Gau Escuens im Reich Lothars bestätigen38; auch das im Text nur unvollständig überlieferte Privileg für das westfränkische Reims bezog sich offenbar auf im Reich Lothars I. gelegene Güter39. Dem ostfränkischen Kloster Fulda gewährte der Herrscher 850 Handels- und Zollfreiheit in seinem Reich40. Ludwig der Deutsche sicherte dem Kloster Saint-Denis 866 Immunität für seine alemannischen Zellen sowie seine Besitzungen in der Ortenau und im Breisgau sowie Schutz für den Markt zu Eßlingen zu41; der ostfränkische König urkundete zudem zu unbekanntem Zeitpunkt für den westfränkischen Erzbischof Hirikmar von Reims, dem er Güter im Wormsgau, in der Rhein-

33 DD LD. 26-31, also fünf Urkunden in der Zeit zwischen dem Tod Ludwigs d. Fr. und dem Vertrag von Verdun; im selben Zeitraum stellte Karl d. K. 28 Urkunden aus. 34 D L D . 31. 35 Vgl. BÖHMER/FEES, Reg. Imp. I, 2, 1/1 (wie Anm. 22) Nr. 301-303. 36 Vgl. KEHR, Vorbemerkung zu D LD. 31, S. 39. 37 DD Lo. I. 80, 100, 133. 38 D Lo. I. 129. 39 D Lo. I. 198 Dep.; vgl. dazu SCHIEFFER, Einleitung zu DD Lo. I., S. 8. 40 D Lo. I. 111: per universum regnum divino nutu nobis commissum, [...] per omne regnum nostrum. 41 D L D . 119.

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pfalz und in Thüringen restituierte42, und bestätigte schließlich 870 dem Kloster Prüm genannte Besitzungen in seinem Reich, nachdem er ihm zuvor bereits ein heute verlorenes Immunitätsprivileg gewährt hatte43. Nach dem Meerssener Teilungsvertrag von August 870 44 gehörte Prüm zum ostfränkischen Reich, so daß Ludwigs neuerliches Immunitätsprivileg vom Ende des Jahres 870 und seine weiteren Urkunden für Prüm einem Empfänger im eigenen Reich galten45. Von den Urkunden, die der ostfränkische Herrscher 858 auf seinem Zug in das westfränkische Reich für westfränkische Empfanger ausgestellt hat, ist keine überliefert46. Ob Ludwig sich auch in seinen Immunitätsprivilegien für Utrecht 854 und Straßburg 856 an die Grenzen des ostfränkischen Reiches hielt oder diese übertrat, ist in der Forschung umstritten, und in beiden Fällen hängt die Entscheidung von der Interpretation der Wendung infra ditionem imperii / regni nostri ab. Beide Bischofssitze gehörten zur Zeit der Urkundenausstellung zum Reich von Ludwigs Bruder, Kaiser Lothar I. Der Herausgeber der Urkunden Ludwigs, K E H R , schloß aus dem Text der Urkunde für Utrecht, in dem das Wort imperium der Vorurkunde durch regnum ersetzt worden war, daß die gewährten Rechte sich nur auf den Besitz im Ostfrankenreich bezogen 47 , während er im Falle von Ludwigs Immunitätsbestäti-

42 D L D . 120. 43 D LD. 131 (Besitzbestätigung); zum verlorenen Immunitätsprivileg von 856 oder 857 vgl. KEHR, Vorbemerkungen zu DD LD. 80, 134. 44 MGH Capit. II, S. 193-195 Nr. 2. 45 DD LD. 134 (Immunität), 133, 136. 46 Vgl. KEHR, Einleitung zu DD LD., S. XVI, und DERS., Vorbemerkung zu D LD. 94; bekannt ist lediglich, daß es Urkunden für Wenilo von Sens gegeben hat (LECHNER, Nr. 580, 581). - Aufmerksam zu machen ist, obwohl es sich nicht um Urkundenausstellung für Kirchen oder Klöster handelt, auch auf die Urkunde Ludwigs d. Dt. für die Kaiserin Angilberga: Ludwig bestätigte ihr als seinem Patenkind 876 die Schenkungen, die ihr Gemahl Ludwig II. ihr gemacht hatte, sowie ihren sonstigen Besitz (D LD. 171). Da es sich bei diesem Besitz um Güter im Regnum Italiae handelt, ist die Bestätigung möglicherweise als Anzeichen dafür zu werten, daß Ludwig d. Dt. ungeachtet der Erfolge Karls d. K. seinen Anspruch auf das italische Erbe seines Neffen Ludwigs II. nie aufgegeben hatte; vgl. Johann Friedrich BÖHMER, Reg. Imp. I: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918 (926) 3: Die Regesten des Regnum Italiae und der burgundischen Regna 1: Die Karolinger im Regnum Italiae 840-887 (888), bearb. von Herbert ZlELINSKI (1991), N r . 5 2 9 (in F o l g e : BÖHMER / ZlELINSKI, R e g . I m p . I, 3, 1) u n d e b d . , N r . 5 0 2 f. - Z u d e n

Urkunden Karls d. K. für Agilmar von Vienne und seine Schwägerin Irmingard siehe oben, Anm. 31. 47 D LD. 68; vgl. dazu KEHR, Vorbemerkung dazu: .jedenfalls ist der Einwand, daß Ludwig der Deutsche damals nicht über Utrecht geherrscht habe, hinfallig, da sich, wie die ausdrückliche Änderung von imperii der Vorlage zu regni deutlich besagt, die Immunitätsverleihung Ludwigs des Deutschen lediglich auf die in seinem Reich gelegenen Kirchengüter des Bistums Utrecht bezieht. Man könnte vielmehr darin sogar einen Akt der Kurtoisie gegen seine kaiserlichen Bruder [...] erkennen". - Damit korrigierte KEHR seine kurz zuvor

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gung für Straßburg 48 , in der an entsprechender Stelle imperium verwendet wurde, politische Hintergründe für die Urkundenausstellung namhaft machte: Der Akt für die Straßburger Kirche habe als Anzeichen für eine „vorwaltende Stellung" zu gelten, die Ludwig nach dem Tode Lothars I., dessen Sohn Lothar II. nur mit Zustimmung Ludwigs zur Nachfolge gelangte, im lotharingischen Reich zugekommen sei 49 . Karl der Kahle urkundete nach dem Vertrag von Verdun nur selten für auswärtige Empfänger. Sieht man ab von der Kaiserzeit 875-877, in deren Verlauf Kirchen und Klöster im Regnum Italiae Privilegien erhielten 50 , sowie von den Urkunden für Empfanger in Aquitanien, Septimanien und der Spanischen Mark während der ersten Jahre seiner Herrschaft, als Karl versuchte, Pippin II. die Herrschaft über Aquitanien streitig zu machen 51 , so ist nur eine Immunitätsbestätigung von 845 für das Kloster Prüm, das über ausgedehnten Besitz im Westfrankenreich verfugte 52 , zu verzeichnen sowie eine weitere Immunitätsbestätigung für das im Mittelreich südlich von Verdun gelegene Kloster Saint-Mihiel, das ebenfalls Güter im Reich Karls sein eigen nannte 53 . Pippin II. von Aquitanien bedachte mit Ausnahme einer Besitzbestätigung für die Kirche St. Peter zu Trier unter Erzbischof Heti, deren Besitz in der Auvergne und im Limousin er auf Wunsch bestätigte 54 , nur aquitanische Empfänger, Lothar II. urkundete ebenfalls nur dann für Empfanger außerhalb seines Herrschaftsbereiches, wenn es um Güter im eigenen Reich ging 55 . Die Söhne Ludwigs des Frommen und ihre Nachfolger hielten sich bei ihrer Urkundenausstellung für kirchliche Empfanger seit 843 also offenbar

noch etwas anders formulierte Wertung des Vorgangs; vgl. Paul KEHR, Die Kanzlei Ludwigs des Deutschen (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1932, philologisch-historische Klasse 1, 1932) S. 27 f. - Siehe dazu auch unten, bei Anm. 60. 48 D L D . 75. 49 KEHR, Einleitung zu DD LD, S. XVII; vgl. auch KEHR, Kanzlei Ludwigs des Deutschen (wie Anm. 47) S. 27 f. - Siehe dazu auch unten, bei Anm. 60. 50 DD Ka. II. 383 f., 400-404, 413; eine verlorene Urkunde für Fiesole verzeichnet außerdem B Ö H M E R / ZlELINSKI, R e g . I m p . I, 3 , 1 ( w i e A n m . 4 6 ) N r . 4 9 5 .

51 Zu den während des Aquitanienzuges ausgestellten Urkunden vgl. BÖHMER / FEES, Reg. Imp. I, 2, 1/1 (wie Anm. 22) Nr. 403-440, zudem DD Ka. II. 71 f., 81, 89, 91, 93 bis , 109. 52 D Ka. II. 73; vgl. dazu BÜTTNER / KASCHKE, Grundherrlicher Fernbesitz (wie Anm. 18); B Ö H M E R / FEES, R e g . I m p . I, 2 , 1/1 ( w i e A n m . 2 2 ) N r . 4 9 0 .

53 D Ka. II. 85 von 846 Mai 31; siehe dazu unten, bei Anm. 62-66. - Vgl. auch die nicht sicher datierten DD 385, 386, 387 für Lyon. 54 D P . II. 54. 55 Vgl. D Lo. II. 12 für die Kirche von Langres, D Lo. II. 13 für Saint-Denis, D Lo. II. 14 für Lorsch, D Lo. II. 15 für die Kirche von Lyon, D Lo. II. 30 für Saint-Denis; zu DD Lo. II. 18-21, 29, 34 vgl. die Vorbemerkungen von SCHIEFFER.

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an die Grenzen ihre Reiche 56 . Bestätigten oder restituierten sie Kirchen und Klöstern, die nicht ihnen selbst unterstanden, Besitzungen im eigenen Reich, so wird der fragliche Besitz benannt und damit seine geographische und politische Lage deutlich; gewährten sie ihnen Rechte, so beziehen sich diese ausdrücklich auf das eigene Herrschaftsgebiet 57 . Allerdings wird in keinem dieser Fälle die Ansässigkeit des kirchlichen Empfängers in einem anderen Reich ausgesprochen und die Tatsache der Streuung des Besitzes über verschiedene Reiche erwähnt; allein durch die ausdrückliche Nennung der betroffenen Besitzungen wird die Sachlage deutlich. In einigen Urkunden, und zwar ausnahmslos in Immunitätsprivilegien, fehlen nun aber auch solche Angaben; aus dem Text wird weder ersichtlich, daß der Empfanger einem anderen Herrscher unterstand, noch daß er über Güter im eigenen Reich verfugte und möglicherweise nur diese Güter von der Privilegierung betroffen waren. Zu diesen Fällen gehören die erwähnten Urkunden Ludwigs des Deutschen für Utrecht und Straßburg, seine verlorene, aber von STENGEL rekonstruierte Urkunde für Prüm sowie die Privilegien Karls des Kahlen für Prüm und Saint-Mihiel. Diese Urkunden sind in der Forschung sehr unterschiedlich beurteilt worden. MÜHLBACHER nahm an, Ludwigs Immunitäten für Utrecht und Straßburg bezögen sich nur auf die im ostfränkischen Reich gelegenen Güter der beiden Bischofskirchen; er war der Ansicht, daß die karolingischen Immunitätsprivilegien nur für die im Reich des Ausstellers gelegenen Besitzungen Geltung besaßen, ohne daß diese Tatsache habe ausgesprochen werden müssen, hielt das Vorhandensein oder Fehlen der Wendung infra ditionem imperii / regni nostri demnach für irrelevant 58 . Eine entgegengesetzte Haltung vertrat STENGEL; er erkannte in den formulargleichen Immunitätsurkunden Ludwigs des Deutschen für Straßburg und Prüm, die den Besitz der Empfänger infra ditionem imperii nostri begünstigten, politische Gründe und

56 Eine Ausnahme ist der Vorstoß Ludwigs d. Dt. in das westfränkische Reich Karls d. K. 858; siehe oben, bei Anm. 46. 57 D L o . I. 111; siehe Anm. 40. 58 Vgl. B M 2 1408, 1416 und besonders Engelbert MÜHLBACHERS grundsätzlichen K o m m e n tar zum Thema bei B M 2 140 (Urkunde Karls d. Gr. v o n 771 für Saint-Maur-des-Fossés, D Kar. 61): „auch sonst werden diplome staatsrechtlichen inhalts für kirchen andrer teilreiche verliehen". A l s Beispiele für Privilegien, die ausdrücklich nur für im eigenen Reich gelegene Besitzungen gelten, fuhrt er D LD. 119 und D D P. I. 15, 22 an; dagegen verliehen MÜHLBACHER z u f o l g e D LD. 68, D Ka. II. 73 und die Urkunde Ludwigs des Stammlers für Prüm (Recueil des actes de Louis II le Bègue, Louis III et Carloman II, rois de France, 8 7 7 - 8 8 4 , publié par Félix GRAT / Jacques de FONT-RÉAULX / Georges TESSIER / RobertHenri BAUTIER, 1978, Nr. 7) Immunität „ohne jede specielle bezugnahme nach alten vorlagen; der Wirkungskreis ist zweifelsohne derselbe, die immunität bezieht sich auf die in ihrem reich gelegenen besitzungen".

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sah in ihnen Indizien für eine „oberherrliche(n) Stellung, die er (Ludwig) damals eine kurze Zeit lang Lothar II. gegenüber einnimmt"; anders sei eine Ausstellung für die beiden Empfänger, die zur Ausstellungszeit nicht zum Reich Ludwigs gehörten, nicht möglich59. KEHR schließlich, der Herausgeber der Urkunden Ludwigs des Deutschen, differenzierte: Nur in der Urkunde Ludwigs für Utrecht sah er eine Beschränkung der Immunität auf das ostfränkische Reich gegeben, da hier im Text der Urkunde das Wort imperium der Vorurkunde durch regnum ersetzt worden sei; bei den Privilegien für Straßburg und Prüm nahm er dagegen wie schon S T E N G E L an, die Urkundenausstellung für Empfanger im lotharischen Reich sei Ausdruck des großen politischen Einflusses und der „vorwaltenden Stellung" gewesen, die Ludwig nach dem Tode Lothars I. zugekommen seien60. Keine besondere Aufmerksamkeit erregt hat die Urkunde Karls des Kahlen für Prüm vom 12. August 845, die dem Kloster Immunität und Schutz bestätigt, wohl weil an mehreren Stellen des Textes ausdrücklich auf den Besitz des Klosters in Karls Reich Bezug genommen wird und man damit die Immunität auf diesen beschränkt sah61. Anders sieht es mit der Urkunde desselben Herrschers für das Kloster Saint-Mihiel von 846 aus, obwohl man auch aus ihrem Text eine Einschränkung der Immunität auf Besitzungen in Karls Reich herauslesen könnte62: Karl bestätigte dem Kloster die Immunität nach der Vorarkunde Ludwigs des Frommen, die die Wendung infra ditionem imperii nostri nicht enthielt und deren Text zunächst nahezu wörtlich wiederholt wird; an anderer Stelle fügt die Urkunde Karls jedoch ausdrücklich hinzu, die Immunität erstrecke sich auf den Besitz in Karls Reich, res predicti monasterii in ditionem regni a Deo nobis conlati63. L E S O R T , Herausgeber der Urkunden von Saint-Mihiel,

59 STENGEL, Immunität (wie Anm. 19) S. 38 f. 60 KEHR, Einleitung zu DD LD., S. XVII; vgl. auch KEHR, Kanzlei Ludwigs des Deutschen (wie Anm. 47) S. 27 f.: „das Argument, daß es sich hier lediglich um Immunität für die im ostfränkischen Reich gelegenen Besitzungen der Straßburger Kirche handele, erweist sich vollends als ein verzweifelter Ausweg, da Stengel weiter festgestellt hat, daß damals auch das lotharingische Kloster Prüm [...] eine nach demselben Formular stilisierte Urkunde Ludwigs des Deutschen empfangen haben muß". 61 D Ka. II. 73; es heißt hier in der Narratio: res monasterii memorati quae in regno nostro site esse noscuntur, und erneut in der eigentlichen Immunitätsformel: possessiones quas moderno tempore in quibuslibet pagis vel territoriis infra dictione regni nostri iuste et legal iter pars memoratipossidet monasterii [...] 62 D Ka. II. 85. - Wenn die Karte von André LESORT, Chronique et chartes de l'abbaye de Saint-Mihiel (Mettensia, 6, 1909-1912) zu den im Chartular von Saint-Mihiel genannten Orten richtig ist, können allerdings nur wenige Besitzungen von Saint-Mihiel im Reich Karls gelegen haben. 63 In der Vorurkunde Ludwigs d. Fr. BM 2 615 lautet der Passus: sed liceat memorato abbati suisque successoribus res predicti monasterii sub immunitatis nostri* defensione quieto or-

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suchte die Gründe für die Urkundenausstellung in der politischen Situation des Jahres 846, die durch den Konflikt zwischen Lothar I. und Karl geprägt gewesen sei und das Kloster zur Hinwendung an Karl veranlaßt habe64; 65 T E S S I E R kommentierte die Angelegenheit nicht . P A R I S S E schließlich hielt die Urkundenausstellung Karls für das im Reich seines Bruders Lothar I. gelegene Saint-Mihiel für ungewöhnlich („surprenant"); zwar schloß er nicht völlig aus, daß die Immunität sich auf die Besitzungen des Klosters in Karls Reich beschränkt haben könnte, sah jedoch in der Urkundenausstellung durch Karl einen Eingriff in die Rechte seines Bruders Lothar und hielt einen Eingriff Karls am ehesten durch seine Rolle als Schutzherr des Klosters Saint-Denis für denkbar66. Die von der Forschung so unterschiedlich beurteilten Fälle führen also zurück zu der bereits im Zusammenhang mit dem Immunitätsprivileg für Chälons aufgeworfenen Frage, welche Aussagekraft der Wendung infra di-

dine possidere\ das wird in Karls Urkunde ersetzt durch: sed liceat monachis inibi Deo famulantibus successoribusque eorum res predicti monasterii in ditionem regni a Deo nobis conlati sub immunitatis nostrç defensione quieto ordine possidere. - Ein Abt wird in D Ka. II. 85 nicht erwähnt, ja seine Nennung ausdrücklich vermieden; vgl. dazu LESORT, Chronique (wie Anm. 62) S. 79 Nr. 14. 64 LESORT, Chronique (wie Anm. 62) S. 79 Nr. 14 Anm. 1. - Zum Konflikt zwischen Lothar I. und Karl wegen der Entführung einer Tochter des Kaisers durch Karls Vasallen Giselbert vgl. BÖHMER / FEES, Reg. Imp. I, 2, 1/1 (wie Anm. 22) Nr. 522, 525. 65 Er setzte jedoch in seinem Kopfregest die Wendung, die die Beschränkung der Immunität auf Karls Reich ausdrückt, in eckige Klammern und kennzeichnete sie so als eigene Erläuterung: „Charles le Chauve [...] confirme [en ce qui concerne les biens de cet établissement situés dans le ressort de sa souveraineté] le précepte par lequel Louis le Pieux [...]". Die Gründe für diese Maßnahme werden nicht klar. 66 Michel PARISSE, In media Francia: Saint-Mihiel, Salonnes et Saint-Denis (Vile - Xlle siècles), in: Media in Francia. Recueil de mélanges offert à Karl Ferdinand Werner à l'occasion de son 65 e anniversaire par ses amis et collègues français (1989) S. 319-343, hier S. 333 f.: „intervenant à Saint-Mihiel, Charles aurait usurpé le rôle de son frère l'empereur si l'on n'admettait pas qu'il a voulu protéger les biens de cette abbaye situés dans son propre royaume, donc sur la rive gauche de la Meuse. [...] En tout état de cause, ce diplôme est surprenant; la formule de date n'est cependant pas assez faussée pour le rendre suspect [...] Le plus simple est d'admettre que Charles le Chauve agit alors en protecteur de Saint-Denis et de ses dépendances". - Daß Saint-Mihiel Mitte des 9. Jh. dem westfränkischen Kloster Saint-Denis unterstand, ist allerdings umstritten; zu Saint-Mihiel in der Karolingerzeit vgl. außer PARISSE, In media Francia (wie diese Anm. oben), auch DERS., Saint-Denis et ses biens en Lorraine et en Alsace, Comité des travaux historiques et scientifiques. Bulletin philologique et historique 55 (1967), S. 233-256; DERS., Origines et dévelopement de l'abbaye de Saint-Mihiel (VlIIe-XIIe siècles), in: Saint-Mihiel. Journées d'Études Meusiennes [...] 1973 (Annales de l'Est. Mémoires 48, 1974) S. 23-33; Otto Gerhard OEXLE, Das Kloster Saint-Mihiel in der Karolingerzeit, ZGORh 131 / N.F. 92 (1983) = Festgabe Gerd Tellenbach zum 80. Geburtstag, S. 55-69; Michel PARISSE, Saint-Mihiel, in: Lex.MA 7 (1995) Sp. 1184 f.

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tionem imperii / regni nostri im Rahmen des Immunitätsprivilegs zukommt und welche Schlüsse ihre Verwendung erlaubt. Für die Urkunden Ludwigs des Frommen, der über das karolingische Gesamtreich herrschte, ist die Wendung nicht relevant; STENGEL hatte ihr Auftreten beiläufig mitbehandelt, ohne der möglichen inhaltlichen Bedeutung Aufmerksamkeit zu schenken67. Erst für die Söhne und Enkel Ludwigs, die als Herrscher von Unterkönigtümern oder Reichsteilen Urkunden ausstellten und nach seinem Tod das Karolingerreich unter sich aufteilten, gewinnt die Frage an Bedeutung; ihre Immunitätsprivilegien sollen daher im folgenden einer Analyse unterzogen werden. Die Untersuchung der 22 überlieferten Immunitätsprivilegien Lothars I., von denen zwölf die Wendung aufweisen 68 , ergibt, daß in allen sicher überprüfbaren Fällen die Formulierung davon abhängt, ob in den entsprechenden Vorurkunden die Wendung enthalten war oder nicht. Das gilt für die Zeit vor dem Tod Ludwigs des Frommen69 ebenso wie für die Bruderkriege70 und die Jahre nach dem Vertrag von Verdun71. Zu vermuten ist ein solcher Zusammenhang auch in den Fällen, in denen die Vorurkunden verloren sind72. Die starke Abhängigkeit von den benutzten Vorlagen zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Urkundentexte in der Zeit von Lothars Unterkönigtum in

67 STENGEL, Immunität (wie Anm. 19) S. 634-636, listet in Anm. 7A und 7C c-g die Urkunden auf, in der die Wendung zu finden ist, sowie ebd., Anm. 7B und 7C diejenigen, in denen sie fehlt. - Er stützte sich auf 99 Fälle (S. 603); auch wenn sich die Bewertung mancher Stücke seither geändert haben mag, so doch nicht wesentlich in Bezug auf unsere Frage; in der Aufstellung bei KÖLZER, Kaiser Ludwig (wie Anm. 24) Anhang: Urkundentabelle, zählt man 90 als echt zu bewertende Immunitätsurkunden. 68 Unter Ausschluß von Fälschungen, Deperdita, des nicht vollständig überlieferten D Lo. I. 20 und von D Lo. I. 81 für Agilmar sind das für Bischofskirchen DD Lo. I. 9, 19, 30, 58, 78, 89, 93, 107, für Klöster DD Lo. I. 6, 12, 33, 36, 56, 60, 65, 77, 80, 86, 90, 92, 105, 134. Ein Zusammenhang zwischen dem Status des Empfangers und dem Vorhandensein oder Fehlen der Wendung läßt sich kaum feststellen; STENGEL, Immunität (wie Anm. 19) hatte bereits für die Zeit Ludwigs d. Fr. eine Vermischung der Formeln konstatiert. 69 D Lo. I. 33 wiederholt die Formel in BM 2 639, D Lo. I. 36 diejenige in BM 2 763. 70 D Lo. I. 56 für Prüm, in dem die Wendung fehlt, wiederholt BM 2 824, D Lo. I. 60 für Fulda, wo sie vorhanden ist, folgt BM 2 613. 71 D Lo. I. 93 für Volterra wiederholt BM 2 745, D Lo. I. 107 für Viviers wiederholt in der Immunitätsformel BM 2 585, D Lo. I. 134 für Cruas folgt BM 2 654. - Unbeachtet bleiben die im Text verderbten DD 90, 105. 72 D Lo. I. 6 geht wie D Lo. I. 12 auf ein Formular aus der Kanzlei Ludwigs d. Fr. zurück, D Lo. I. 9 auf die verlorene Vorurkunde Ludwigs (LECHNER, Nr. 35); eine Wiederholung des Textes der verlorenen Vorurkunde aus der Kanzlei Ludwigs ist auch für DD Lo. I. 19, 65 (LECHNER, N r . 3 5 7 ) , 7 7 (LECHNER, N r . 6 9 ) , 7 8 (LECHNER, N r . 3 8 ) , 8 6

(LECHNER,

Nr. 253), 89 (Formulae imperiales, wie Anm. 19, Nr. 28) und 92 (LECHNER, Nr. 385 f.) zu vermuten. Zu den schwierig zu beurteilenden DD Lo. I. 30, 58 vgl. SCHIEFFERS Vorbemerkungen zu diesen.

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Italien zwar nach anno regni Hlotharii datieren, in der Immunitätsformel aber in zwei Fällen das infra ditionem imperii nostri der Vorlage übernehmen und es nur einmal zu infra ditionem regni nostri korrigieren 73 . Der einzige Fall, in dem eine Vorlage einschneidend verändert wurde, ist die kurz nach dem Vertrag von Verdun ausgestellte Immunitätsbestätigung für das Kloster Saint-Denis, deren Kontext von einem Empfängerschreiber mundiert wurde. Die Wendung infra ditionem imperii nostri der Vorurkunde Ludwigs des Frommen findet sich zwar in Lothars Privileg gleichlautend wieder, der Text wird jedoch an anderer Stelle, in Narratio und Dispositio, um ausfuhrliche Angaben zur Lage des Besitzes erweitert 74 . Hinzuweisen ist schließlich auf einen Fall, in dem die Wendung infra dictionem imperii nostri außerhalb des Immunitätsformulars erscheint: Im Paktum Lothars I. für Venedig von 841 bestätigte der Kaiser den Venezianern nach dem Vorgang Karls des Großen ihre Besitzungen im Reich; im Text wird mehrmals ausdrücklich und unter anderem auch mit der angeführten Wendung darauf hingewiesen, daß Gegenstand des Privilegs nur Besitzungen im Reiche Lothars seien75. Von den 33 überlieferten Immunitätsprivilegien Ludwigs des Deutschen enthalten 13 in den Immunitätsbestimmungen die Worte infra ditionem imperii / regni nostri, in 18 fehlen sie76. Falls eine Beziehung zwischen dem

73 In D Lo. I. 6 für Kloster Sesto und D Lo. I. 9 für Aquileja ist imperii stehengeblieben, regni hat dagegen D Lo. I. 12 für das Kloster S. Maria Theodota zu Pavia. 74 D Lo. I. 80 von 843 Oktober 21 erweitert in der Narratio die Wendung eidem monasterio sancii Dionisii subiectis et rebus vel hominibus ad se pertinentibus [...] der Vorurkunde BM 2 551 auf: eidem monasterio sancii Dionysii in quoscumque pagis vel regnis subiectis tarn citra quam ultra Renum sive in pago Alsacinse vel Salninse similiterque in regno Longabardorum in locis, qui apellantur Vallis Tellina ac Burmas sive Postelaues et Marcelisco atque Milinianum, cum ceteris aliis rebus et mancipiis utriusque sexis, ubi et ubi in regno vel imperio deo propitio nostro ad se pertinentibus. In der Dispositio wird die Immunitätsformel der Vorlage seu reliquas possessiones, quas moderno tempore in quibuslibet provintiis, territoriis vel pagis infra ditionem imperii nostri ergänzt um: sive citra quam ultra Renum seu in regno Longabardorum. 75 D Lo. I. 62: [...] ut ex rebus sui duchatus, que infra dictionem imperii nostri consistere noscuntur, conflrmationis nostre preceptum fieri iuberemus, [...] decernimus, ut nullus in territoriis, locis, pecculiariis aut ecclesiis, domibus seu rebus et reliquis possessionibus presignati duchatus, que infra potestatem imperii nostri site esse noscuntur, [...]. 76 DD LD. 51, 150 wurden wegen ihres verunechteten Textes nicht berücksichtigt. - Die Wendung infra ditionem regni nostri (oder ähnlich) fehlt in D LD. 22 für Salzburg, D LD. 27 für Corvey, D LD. 33 für Hersfeld, D LD. 61 für Herford (Immunität für genannten Besitz), D LD. 64 für St. Emmeram (für genannten Besitz), D LD. 67 für St. Felix und Regula in Zürich (für genannten Besitz), D LD. 73 für Corvey (ftir genannten Besitz), D LD. 90 für Vasallen Wolvene und das Kloster Rheinau, D LD. 93 für Herford (für genannten Besitz), D LD. 107 für Kempten, D LD. 110 für St. Felix und Regula in Zürich, D LD. 128 für Herford (für genannten Besitz), D LD. 134 flir Prüm, D LD. 140 für Wunstorf, D LD.

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Status des Empfängers und dem verwendeten Formular bestehen sollte, so ist sie sehr schwach 77 . Die Wahl der Formulierung scheint wie bei Lothar I. stärker durch die Vorurkunden bestimmt worden zu sein als durch irgendein anderes Kriterium; mehrfach übernehmen die Urkundentexte die Vorlage offenbar nahezu unbesehen, ohne etwa das Wort imperium durch das für Ludwig den Deutschen angebrachte regnum zu ersetzen. So folgt die Urkunde für die Kirche zu Säben wohl wörtlich der nicht erhaltenen Vorurkunde Ludwigs des Frommen in der Formulierung infra ditionem imperii nostrin, ähnlich das Privileg für Verden 79 und das schon erwähnte Immunitätsprivileg für Straßburg von 85 6 80 . Im Jahre 873 erhielt Straßburg, das nach dem Tode Lothars II. nunmehr dem ostfränkischen Reich angehörte, erneut ein Immunitätsprivileg Ludwigs des Deutschen; dieses folgt im Text einer Urkunde Lothars I. für denselben Empfänger bzw. einem verlorenen Stück Lothars II. und enthält ebenfalls die Formulierung infra dictionem imperii nostri*1. In zahlreichen weiteren Fällen läßt sich Abhängigkeit von Vorurkunden nachweisen, wenn auch aufmerksame Schreiber das Wort regnum an passender Stelle einsetzten, so bei den Urkunden für St. Gallen 82 , Fulda83, Lorsch 84 , das bereits behandelte Utrecht85, St. Gallen 86 , Altaich 87 , Paderborn88 und erneut St. Gallen 89 .

142 für Wildeshausen, D LD. 147 für Kloster Stablo (siehe dazu auch unten, bei Anm. 90), D LD. 153 für Verden, D LD. 164 für Faurndau. 77 Unter den acht Urkunden für Bischofskirchen weisen sechs die Wendung infra ditionem regni nostri (oder ähnlich) auf, unter den 23 Urkunden für Klöster sieben, den anderen fehlt sie. Bei Ludwig d. Dt. scheint demnach die von STENGEL, Immunität (wie Anm. 19) für die ältere Zeit Ludwigs d. Fr. konstatierte Beziehung stärker nachgewirkt zu haben; für 22 Fälle trifft sie zu, es bleiben allerdings die übrigen neun Fälle, für die die Feststellung nicht mehr stimmt und die deutlich zeigen, daß für die Wahl der einen oder der anderen Formulierung andere Kriterien eine Rolle gespielt haben müssen. 78

D L D . 5 0 v o n 8 4 8 ( ? ) ; z u r V o r u r k u n d e LECHNER, N r . 5 0 5 .

79 D LD. 57 von 849(?); der Text stützt sich in diesem Falle auf eine Urkunde Ludwigs d. Fr. für einen anderen Empfanger, da für Verden keine älteren Immunitätsurkunden anzunehmen sind; vgl. dazu KEHR, Vorbemerkung zu D LD. 57. 80 D LD. 75 geht auf die Vorurkunde Ludwigs (LECHNER, Nr. 531) zurück; vgl. STENGEL, Immunität (wie Anm. 19) S. 36 f., 47 f., 659-665; siehe zur Urkunde bereits oben, bei Anm. 48 f. 81 D LD. 149; vgl. D Lo. I. 162 Dep. und D Lo. II. 46 Dep.. 82 D LD. 13 für St. Gallen folgt in der Immunitätsformel der Vorurkunde BM 2 663 und ändert das dortige infra dicionem imperii nostri zu infra regnum divinitus nobis conlatum. 83 D LD. 15 von 834 ändert den Text der Vorurkunde BM 2 613 (infra dicionem imperii nostri) zu infra regnum divinitus nobis commissum. 84 D LD. 63 von 852 ändert das imperii der Vorurkunde BM 2 576 zu regni. 85 D LD. 68 ersetzt das zu vermutende imperii der verlorenen Vorurkunde Ludwigs d. Fr. durch regni; siehe dazu bereits oben, Anm. 47.

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Die Urkunde, die dem Kloster Stablo 873 Besitz, Einkünfte und den Zehnten bestätigt und ihm Immunität verleiht, verwendet nicht das übliche Immunitätsformular, sondern nimmt eine ausfuhrliche Besitzbeschreibung vor, die sich auf eine ältere Urkunde Lothars II. für Stablo stützt, und fügt an anderer Stelle hinzu, auch der Besitz que supra Renum et supra Mosellam videntur habere sei inbegriffen 90 . Ungewöhnlich ist schließlich Ludwigs Urkunde für das Kloster SaintDenis von 866, das diesem die Immunität für seine alemannischen Zellen und seine Besitzungen in der Ortenau und im Breisgau bestätigt und den Markt zu Eßlingen in Schutz nimmt 91 . Die eigentlichen Immunitätsbestimmungen enthalten die Wendung infra ditionem regni nostri] der Text weist aber, als sei das nicht genug, in Narratio und Dispositio ausführliche Beschreibungen derjenigen Güter auf, die sich der erbetenen und dann gewährten Immunität erfreuen sollen92. Von Pippin I., bis zu seinem Tode 838 Herrscher im Unterkönigreich Aquitanien, haben sich zwölf Immunitätsprivilegien, alle für Klöster, erhalten. In sechs von diesen Urkunden erscheint weder die Wendung infra ditionem regni nostri noch eine vergleichbare Formulierung, wobei in einigen Fällen ein Zusammenhang mit der entsprechenden Vorurkunde nachgewiesen werden kann 93 . Von den übrigen sechs Urkunden enthält nur eine die

86 D LD. 70 wiederholt D 13 und hat infra regnum divinitus nobis conlatum. 87 D LD. 80 folgt demselben Formular wie D 75 für Straßburg, ersetzt aber anders als dieses das Wort imperium durch regnum, hat also infra ditionem regni nostri. 88 D LD. 97 folgt in der entsprechenden Passage der Vorurkunde BM 2 753 und ändert seine Vorlage von imperii zu regni. 89 D LD. 144 folgt einer Immunitätsurkunde für eine bischöfliche Kirche - so STENGEL, Immunität (wie Anm. 19) S. 44-46; KEHR, Vorbemerkung - und hat infra ditionem regni nostri. 90 D LD. 147; Vorurkunde ist D Lo. II. 17 von 862; vgl. dazu SCHIEFFER, Vorbemerkung zu D Lo. II. 17. 91 D L D . 119 von 866 Juli 28. 92 In der Narratio von D LD. 119 heißt es: [...] ut quasdam cellulas sitas in Alamannia Hetsilinga in pago Nechragauue super fluvium Nechra, ubi sanctus Vitalis confessor corpore requiescit, et Harbrittinga in pago Rehtsa, ubi sanctus Ueranus corpore requiescit, et Hadalongcella in pago Heegeuua, ubi sanctus Georgius corpore requiescit [...]. Similiter autem de rebus in Mortonogouua et Brisikagua [...]; in der Dispositio werden erneut Mortonogouua und Brisikagauua genannt. 93 Die Wendung kommt nicht vor in D P. I. 1 fiir Saint-Pierre zu Moissac (die Vorurkunde ist verloren: LECHNER, Nr. 414); in D P. I. 10 für Saint-Martin zu Tours, die sich nur auf genannten Besitz bezieht; in D P. I. 11 fiir Montolieu, das der Vorurkunde BM 2 600 folgt; in D P. I. 14 für Saint-Hilaire im Carcassès, das ebenfalls seiner Vorurkunde BM 2 563 folgt, sowie in D P. I. 25 für Saint-Julien de Brioude und D P. II. 49 (Diplom Pippins I.!) für Solignac, das unabhängig vom Immunitätsprivileg Ludwigs d. Fr. (BM 2 655) ist.

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IMMUNITÄTSPRIVILEGIEN U N D KIRCHLICHER FERNBESITZ

Wendung infra regni nostri ditionem ohne weitere Hinzufügungen 94 ; in allen anderen finden sich leichte Variationen oder Ergänzungen, die von den bisher vorgestellten, immer ähnlichen Fassungen abweichen. So wird in Pippins I. Besitzbestätigung für das Kloster Saint-Germain-des-Pres Immunität für den genannten, in Aquitanien gelegenen Besitz des Klosters gewährt; das wird mehrfach betont, so mit den Worten villas [...] quq infra ditionem regni nostri consistunt95. Auch in der Urkunde für das Kloster Manlieu in der Auvergne sind nur bestimmte Güter betroffen, und auch hier wird ihre Lage innerhalb von Pippins Reich, intra regna Christo propitio nostra, betont 96 . In der Immunitätsbestätigung für das Kloster Saint-Maur-des-Fosses bei Paris geht es ebenfalls nur um genau bezeichneten Besitz; trotzdem wird mehrfach auf die Zugehörigkeit zu Aquitanien hingewiesen. Die Formulierungen lauten hier infra regni nostri ditionem habere videtur, [...] easdem res, quocumque infra nostrum [regnum] site sint [...]97. Ähnlich formuliert die Urkunde, die Immunität für genannte Güter des Klosters Montolieu gewährt: easdem res, quocumque infra nostra terra98. Im Immunitätsprivileg für das Kloster Sainte-Marie de la Grasse, dessen Text weitgehend der Vorurkunde Ludwigs des Frommen folgt und wie diese in den eigentlichen Immunitätsbestimmungen die Wendung infra ditionem regni nostri (bei Ludwig: imperii) aufweist, wird in der Narratio ausdrücklich betont, es gehe nur um die Güter des Klosters in Pippins Reich; der Text der Ludwigs-Urkunde ipsum monasterium et cellulas sibi subiectas fieri censeremus wird geändert und erweitert um quae infra regnum nostrum sunt". Nur eine der vier im Text überlieferten Immunitätsurkunden Pippins II. von Aquitanien, sämtlich nach dem Vertrag von Verdun ausgestellt 100 , weist die Wendung infra ditionem regni nostri auf: das Privileg für das Kloster Saint-Chaffre-du-Monastier im Velay, das verlorene Vorurkunden Ludwigs des Frommen und Karls des Kahlen erwähnt 101 .

94 95 96 97

D P. I. 2 4 für Saint-Hilaire zu Poitiers. D P . 1.15. D P . 1.18. D P. I. 22: [...] easdem res sub nostro mundeburdo ac tuitionis defensione suscipimus, necnort et quicquid ex rebus pars sepefati monasterii infra regni nostri ditionem habere videtur sub nostro gubernationis ordine statuimus, praecipientes immo et per hos regales apices omnimodis decernentes ut deinceps easdem res, quocumque infra nostrum [regnum] site sint, nullus iudexpublicus [...].

98 99 100

D P. I. 23. D P. I. 34; Vorurkunde ist BM 2 547. D P. II. 51 von 845 für Saint-Chaffre, D P. II. 52 von 846 für Manlieu, D P. II. 53 von 847 für Saint-Florent-le-Vieil, D P. II. 59 von 848 für Solignac. D P. II. 51; zur Vorurkunde Ludwigs d. Fr. vgl. LECHNER, Nr. 81; zur ebenfalls verlorenen Vorurkunde Karls d. K. ( D Ka. II. 72) vgl. BÖHMER / FEES, Reg. Imp. I, 2, 1/1 (wie Anm. 22) Nr. 485.

101

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Von Karl dem Kahlen sind, schließt man Fälschungen, zweifelhafte Stücke und Deperdita aus, 74 Immunitätsprivilegien überliefert, davon 15 für Bischofskirchen, 59 für Klöster. In 26 Fällen erscheinen die Worte infra ditionem regni nostri oder ähnlich, in 48 Fällen fehlen sie 102 . Auch bei Karl dem Kahlen hängt das Vorhandensein oder Fehlen der Wendung offenbar zumeist von der Vorurkunde ab. Wegen der hohen Zahl der Beispiele sollen im folgenden nur diejenigen vorgestellt werden, in denen die Wendung erscheint und sich ihre Herkunft feststellen läßt, oder aber solche, die ungewöhnlich erscheinen und eines Kommentars bedürfen. Häufig sind die Fälle, in denen die Urkunde Karls einer Vorurkunde seines Vaters folgt und nur das Wort imperium durch regnum ersetzt; dazu gehören die Immunitätsurkunden für die Klöster Marmoutier, Sainte-Marie de la Grasse, Saint-Calais, Charroux103, Solignac 104 und Saint-Bertin105 sowie für die Bischofskirchen Angers, Girona und Limoges 106 . So verfahren auch die beiden 843 und 850 gewährten Immunitätsprivilegien für die über Fernbesitz im Reich Lothars verfügende Bischofskirche zu Autun; sie tilgen jedoch die dann folgenden Worte aus Ludwigs Vorurkunde tarn ultra quam citra Rhenum, Rhodanum Ligerimquem. Das bereits behandelte Privileg für Saint-Mihiel übernimmt die Vorurkunde Ludwigs des Frommen in den hier interessierenden Passagen großenteils wörtlich und damit auch die Wendung possessiones in quibuslibet pagis

102 Neun Urkunden für Bischofskirchen weisen die Wendung auf, in sechs fehlt sie; 17 der Urkunden für Klöster weisen sie auf, in 42 fehlt sie; ein klarer Bezug zwischen Status des Empfängers und der Formulierung besteht also wohl kaum. Zu konstatieren ist eher ein Zusammenhang mit der Zeit der Ausstellung: 16 Fälle stammen aus den ersten zehn Jahre der Regierungszeit Karls d. K., in denen allerdings auch besonders viele Immunitätsprivilegien ausgestellt werden: 35 von insgesamt 74. 103 D Ka. II. 31 für Marmoutier, Vorurkunde BM 2 555; D Ka. II. 37 für Sainte-Marie de la Grasse, Vorurkunde BM 2 547; D Ka. II. 128 für Saint-Calais, Vorurkunde BM 2 531; D Ka. II. 374 für Charroux, Vorurkunde BM 2 573. 104 D Ka. II. 143, Vorurkunde BM 2 655; Karl urkundet später erneut für Solignac (D Ka. II. 283), jedoch mit einem unabhängig formulierten Text, in dem die Wendung nicht erscheint. 105 D Ka. II. 370; Vorurkunde BM 2 946; eine ältere Urkunde Karls (D Ka. II. 48 bis ) ist verloren. - Zwar kommt in der Dispositio der Urkunden Ludwigs wie Karls die Wendung infra ditionem imperii / regni nostri nicht vor; sie erscheint jedoch in der Narratio, und hier ändert Karls Urkunde die Worte imperii nostri der Vorlage zu regni nostri. 106 D Ka. II. 32 für Angers, Vorurkunde BM 2 634; D Ka. II. 47 für Girona, Vorurkunde BM 2 934; D Ka. II. 285 für Limoges, Vorurkunde BM 2 652. 107 DD Ka. II. 23, 133 für Autun; in der Vorurkunde BM 2 589 heißt es: infra ditionem imperii nostri tarn ultra quam citra Renum, Rodanum, Ligerimque, in Karls Urkunden nur noch infra dicionem regni nostri. - Zum Fernbesitz von Autun siehe oben, bei Anm. 38.

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et territoriis ohne weitere Ergänzungen, fügt jedoch an späterer Stelle die Worte in ditionem regni a Deo nobis conlati hinzu 108 . Ungewöhnliche Formulierungen bietet, wie schon bei Lothar I. und Ludwig dem Deutschen, die Immunitätsurkunde für das Kloster Saint-Denis. Karls Privileg von 867 bestätigt dem Kloster, das über Besitz auch in den Reichen seiner Brüder verfügte, Immunität für die Besitzungen in quibuslibet provinciis, territoriis vel pagis infra dicionem regni nostri, fugt aber noch hinzu sive inter Ligerim et Sequanam sive in regno Aquitaniorumm. Aufmerksamkeit verdienen schließlich noch die drei Immunitätsprivilegien Karls für das Kloster Saint-Martin zu Tours 110 , deren erstes weitgehend zwei nahezu gleichlautenden Vorurkunden Ludwigs des Frommen folgt, jedoch zu Beginn der Dispositio den Text um den Hinweis auf die weitgestreuten Besitzungen des Klosters unterläßt und eine Beschränkung auf das eigene Reich (omnes res eiusdem monasterii, quae sitae sunt in regno nostro) an die Stelle setzt. In den kurz darauf folgenden engeren Bestimmungen zur Immunität aber übernimmt die Karls-Urkunde den Text des Vaters unbesehen und ändert nicht einmal das dortige imperium zu regnumxu. Die Immunitätsbestätigung von 862 ist in großen Teilen des Textes unabhängig stilisiert, folgt jedoch in den Bestimmungen zur Immunität weitgehend der älteren Urkunde von 845, unterläßt ebenfalls den Hinweis auf die Klosterbesitzungen in den verschiedenen Regionen, korrigiert aber in der Wendung in quibuslibet provinciis aut territoriis imperii nostri das Wort imperium zu regnumU2\ gegen Ende der Narratio wird zudem darauf

D Ka. II. 85; Vorurkunde ist BM 2 615; siehe dazu bereits oben, Anm. 62-66. D Ka. II. 301; die Vorurkunde BM 2 551 hat nur schlicht in quibuslibet provintiis, territoriis vel pagis infra ditionem imperii nostri. - In der Urkunde für das Kloster Farfa (D Ka. II. 401) ist die auffällige Aufzählung der Regionen, in denen die Klostergüter liegen (possessiones [...] tarn in Langobardia quam in Romania sive in Tuscia et in ducato Spoletano seu in quibuslibet aliis locis) durch die Vorlagen zu erklären, denen Karls Urkunde nur Tuscia hinzugefugt hat; D Ka. II. 401 folgt hier BM 2 716; vgl. auch BÖHMER / ZlELINSKI, Reg. Imp. I, 3, 1 (wie Anm. 46) Nr. 488. 110 D Ka. II. 80 von 845, D Ka. II. 167 von 854, D Ka. II. 240 von 862. Anlaß für die Ausstellung des zweiten Privilegs war dem Urkundentext zufolge der vorausgegangene Normannenüberfall auf Tours (853), bei dem das Kloster seinen Urkundenbestand verloren hatte, Anlaß für die dritte Urkunde vermutlich der mit der Immunitätsbestätigung gewährte Erlaß von Abgaben; vgl. dazu Georges TESSIERs Vorbemerkung zu D Ka. II 240. 111 Für D Ka. II. 80 sind als Vorurkunden die in den entscheidenden Passagen nahezu gleichlautenden BM 2 629 oder BM 2 649 anzunehmen; der Text der Vorlage omnes res praefati monasterii in universo Christo largiente regno suo, in Austria scilicet Niustria Burgundia Aquitania Provincia ltalia et in caeteris regni sui partibus consistentes, wird gekürzt zu omnes res praefati monasterii in universo Christo largiente regno suo consistentes; dafür fügt Karls Urkunde an späterer Stelle, wo es in BM 2 629 oder 649 nur heißt omnes res eiusdem monasterii, die Worte ein: quae sitae sunt in regno nostro. 112 D Ka. II. 240; nicht zu entscheiden ist, ob der Text D Ka. II. 80 folgt (dieser Ansicht ist 108 109

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hingewiesen, daß der Besitz des Klosters im eigenen Reich betroffen sei113. Merkwürdig erscheint gegenüber diesen beiden Urkunden das dritte Privileg Karls für Saint-Martin, zeitlich zwischen den beiden anderen gelegen: Weitgehend unabhängig sowohl von den Urkunden Ludwigs des Frommen als auch von dem vorausgehenden Privileg Karls formuliert, nimmt es in zwei Passagen Texte aus den beiden Vorurkunden Ludwigs des Frommen wieder auf, zum einen die Arenga, der auch Karls Urkunde von 845 gefolgt war, zum andern aber ausgerechnet den Teil, den Karls Urkunden von 845 und 862 sorgfältig ausgespart hatten, nämlich die Angaben, die Klostergüter lägen in Austria Neustria Burgundia Aquitania Provincia Italia et in coeteris regni partibus. Eine der beiden Fassungen, in denen der Text überliefert ist, fügt der Liste gar noch Alamannia, Germania hinzu, was vom Herausgeber der Urkunden Karls, TESSIER, zu Recht für Interpolation gehalten wird. Zu überlegen ist aber, ob nicht nur eine der beiden Fassungen, sondern beide in diesem Passus durch Interpolation verfälscht worden sind114. Ein abschließender Blick gilt Lothar II. und Ludwig II. von Italien, den beiden Söhnen Kaiser Lothars I. Von Lothar II. sind nur zwei Immunitätsprivilegien überliefert, eines für Prüm, das weitgehend der Vorurkunde Lothars I. folgt und wie diese die Wendung infra ditionem imperii / regni nostri nicht enthält, das andere für das Kloster Münster im Gregoriental, das die Formulierung der Vorurkunde Ludwigs des Frommen von infra dicionem imperii nostri zu infra dicionem regni nostri ändert 115 . - 14 Immunitätsurkunden Ludwigs II. von Italien sind im Text erhalten 116 ; in fünf von diesen, die fast alle auf Vorurkunden Lothars I. zurückgeführt werden können, kommt die Wendung infra ditionem imperii nostri vor117. Die Worte erschei-

TESSIER, der die übernommenen Passagen petit setzt) oder aber einer der beiden in diesen Passagen mit D Ka. II. 80 völlig übereinstimmenden Urkunden Ludwigs d. Fr. BM 2 629, 649.

113 [...] de rebus omnibus per omne regnum nostrum sitis ipsi pertinentibus. 114

115 116 117

D Ka. II. 167, Vorurkunde ist BM 2 629. - Die einzige Überlieferung von D Ka. II. 167, die sich nicht auf die späten Chartulare von Saint-Martin stützt, sondern auf das verlorene Original, eine Handschrift des 17. Jh. („B", bei TESSIER), gibt den Text an mehreren Stellen leicht gekürzt wieder und läßt ausgerechnet die gesamte Passage, die die auffällige Aufzählung enthält, aus; vgl. die Edition von D Ka. II. 167, S. 442 Zeile 3-9 mit Anm. f. D Lo. II. 3 für Prüm hat D Lo. I. 56 zur Vorlage, D Lo. II. 4 für Münster im Gregoriental BM 2 833; weitere Immunitätsprivilegien Lothars II. sind verloren (DD Lo. II. 42, 46, 49). D D L u . II. 1,9, 13f., 1 6 , 3 1 , 3 5 - 3 7 , 4 1 , 4 4 , 5 3 , 5 8 , 6 0 . D Lu. II. 14 für Novara folgt wohl der verlorenen Vorurkunde Lothars (D Lo. I. 178), die ihrerseits von der verlorenen Urkunde Ludwigs d. Fr. (LECHNER, Nr. 388) abhängig gewesen sein wird; D Lu. II. 16 für Padua folgt wohl D Lo. I. 179. Die Immunitätsbestimmungen der Urkunde für Bobbio (D Lu. II. 31) stammen wohl aus D Lo. I. 77, vgl. dazu die Vorbemerkung von Konrad WANNER; D Lu. II. 44 für Sesto folgt D Lo. I. 6; die

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nen auch im Paktum des Kaisers für Venedig, das wörtlich der Urkunde von Ludwigs Vater Lothar I. folgt 118 .

Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen: In der Frage, wie sich die karolingischen Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts in den zeitgenössischen Herrscherurkunden spiegeln, kommt der Wendung infra ditionem imperii / regni nostri innerhalb der Immunitätsbestimmungen keine Bedeutung zu. Ob die Söhne und Enkel Ludwigs des Frommen von der Zeit an, als die ersten unter ihnen als Herrscher über Teilreiche oder Unterkönigtümer Urkunden ausstellten, bis in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts Immunität für Besitzungen einer Kirche oder eines Klosters in quibuslibet pagis et territoriis oder aber in quibuslibet pagis et territoriis infra ditionem regni nostri gewährten, hing nicht von Überlegungen zum Geltungsbereich der Immunität ab, sondern in nahezu allen untersuchten Fällen von der Vorurkunde, an deren Text man sich orientierte und deren Formulierungen man oft unbesehen übernahm; das zeigt sich auch darin, daß man sich nicht immer die Mühe machte, ein nicht passendes imperium durch regnum zu ersetzen 119 . Der Wortlaut der Urkundentexte an dieser Stelle erlaubt keine Schlüsse auf die tatsächlichen Rechtsverhältnisse und entbindet nicht von der Notwendigkeit, diese aufgrund anderer Quellen zu ermitteln. Es ist daher auch nicht zulässig, aus der unterbliebenen Ersetzung von imperium durch regnum auf die Politik und die Herrschaftsansprüche des Ausstellers zu schließen, wie es für Ludwig den Deutschen bezüglich Straßburg und Prüm geschehen ist, da die Verwendung des Wortes imperium an dieser Stelle des Immunitätsformulars nachweislich zumeist auf die Nachlässigkeit der Schreiber beim Kopieren des Textes der Vorurkunde zurückgeht120. Bei der Ausstellung von Urkunden für Straßburg und Prüm vor dem Jahr 870 durch Ludwig den Deutschen und für Saint-Mihiel durch Karl den Kahlen 846 mögen durchaus politische Beweggründe eine Rolle gespielt

118 119

120

Vorlage für D Lu. II. 36 ist unbekannt; vgl. auch BÖHMER / ZLELINSKI, Reg. Imp. I, 3, 1 (wie Anm. 46) Nr. 123, 127, 192, 244 und 200. D Lu. II. 19; zur Vorurkunde Lothars (D Lo. I. 62) siehe oben, bei Anm. 75. Das kommt in zwei Fällen bei Lothar I. vor (siehe oben, bei Anm. 73), in vier oder fünf Fällen bei Ludwig d. Dt.: in den Urkunden für Säben, Verden, Straßburg, wahrscheinlich Prüm und erneut Straßburg (siehe oben, bei Anm. 78-81) und in einem Fall bei Karl d. K. (Saint-Martin zu Tours, siehe oben, bei Anm. 111). Als Karl 876 ein Immunitätsprivileg für das Kloster Saint-Pierre zu Rouen ausstellt (D Ka. II. 407), das die Wendung infra imperii nostri ditione enthält, geschieht es zu Recht, denn zu dieser Zeit ist Karl bereits Kaiser. Siehe vorige Anm.

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haben, nur lassen sie sich nicht aus dem Wortlaut der Immunitätsbestimmungen ableiten. Die Immunitätsprivilegien eines Herrschers bezogen sich, so wie bereits von M Ü H L B A C H E R ausgeführt 121 , offensichtlich immer nur auf die innerhalb seines eigenen Reiches gelegenen Güter eines kirchlichen Empfängers, ohne daß diese Tatsache ausgesprochen werden mußte; so umfaßten die Immunitäten Lothars I. und Ludwigs des Deutschen für Prüm nicht dessen westfränkische Besitzungen, und die Privilegien Karls des Kahlen für Autun galten nur den Gütern im eigenen Reich, nicht denen in Lotharingien 122 . Die Tatsache der Zugehörigkeit von Kirchen und Klöstern zu unterschiedlichen Teilreichen und die Streuung ihrer Güter über mehrere Reiche wird also in den engeren Immunitätsbestimmungen nicht deutlich; trotzdem lassen aber die Herrscherurkunden auf unterschiedliche Weise die politische und rechtliche Situation nach der Teilung von Verdun erkennen. Zwar geht keine Urkunde explizit auf den Sachverhalt ein, darauf wurde bereits hingewiesen, jedoch hielten sich die Herrscher bei ihrer Urkundenausstellung für kirchliche Empfanger seit 843 an die Grenzen ihre Reiche. In Urkunden für auswärtige Kirchen und Klöster wurde der betroffene Besitz bezeichnet und damit seine geographische und politische Lage deutlich gemacht; gewährte Rechte wie etwa Zollfreiheit waren ausdrücklich auf das eigene Herrschaftsgebiet bezogen. Zwar fehlen solche Angaben zumeist, wie festgestellt werden konnte, in den Immunitätsprivilegien. Es mehren sich jedoch seit 843 die Anzeichen dafür, daß man die Notwendigkeit fühlte, auch in ihnen auf die veränderte Lage einzugehen. Das geschah aber nicht durch die Verwendung der Formel possessiones in quibuslibet pagis et territoriis infra ditionem regni nostri in den Immunitätsbestimmungen, sondern zumeist ganz unabhängig davon durch die unterschiedlichsten Einfügungen und Hinweise an anderen Stellen des Textes, oft mehrfach sowohl in Narratio wie in Dispositio, manchmal unter zusätzlicher Verwendung der Wendung infra ditionem imperii / regni nostri, manchmal ohne sie. Beispiele finden wir in der Urkunde Lothars I. für Saint-Denis 123 , in den Privilegien Ludwigs des Deutschen für Stablo und Saint-Denis 124 sowie in denen Karls des Kahlen für Prüm, Saint-Mihiel,

121 Siehe oben, bei Anm. 58. 122 Nicht völlig auszuschließen ist daher, daß die mehrfachen Immunitätsgewährungen Ludwigs des d. Dt. für Straßburg und Prüm, die STENGEL, Immunität (wie Anm. 19) S. 38 f. irritierten - zumal die späteren Privilegien auf die vorausgehenden keinerlei Bezug nehmen dadurch zu erklären sind, daß die älteren nur für die Besitzungen im ostfränkischen Reich galten, die Immunität daher nach dem Vertrag von Meerssen den neuen Verhältnissen angepaßt werden mußte. 123 124

Siehe oben, bei Anm. 74. Siehe oben, bei Anm. 90 und 92.

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Autun, Saint-Martin zu Tours und wiederum Saint-Denis125. Auch wenn diese Hinweise noch weit entfernt sind von der Eindeutigkeit der Angaben in den „grenzüberschreitenden" Urkunden des 10., 11. oder 12. Jahrhunderts 126 , so zeigen sich in ihnen doch die ersten Anzeichen auf dem Weg dorthin. Zu den vorsichtigen Hinweisen auf eine veränderte Rechtslage zählt wohl auch die Erwähnung des Fernbesitzes im eingangs vorgestellten Immunitätsprivileg Karls des Kahlen für das westfränkische Bistum Chälons von 845. Seine Immunitätsbestimmungen deuten mit keinem Wort darauf hin, daß ein Teil der bischöflichen Güter nicht Karls Herrschaft unterstand und somit von der gewährten Immunität nicht betroffen war, sondern behaupten, alle possessiones in quibuslibet pagis et territoriis sitas zu umfassen; nur die Narratio teilt mit, Chälons verfuge auch über Liegenschaften im Wormsgau und im Herzogtum Thüringen und liefert damit nicht nur einen weiteren Beleg für die wachsende Tendenz, in den Urkundentexten auf die Streuung von Kirchengut über verschiedene Teilreiche hinzuweisen, sondern auch eine wichtige Nachricht zur Geschichte Thüringens im frühen Mittelalter.

125

Siehe oben, bei Anm. 61 (Prüm), 63 (Saint-Mihiel), 107 (Autun), 110-113 (Saint-Martin) und 109 (Saint-Denis). 126 In Urkunden der ottonischen, salischen und staufischen Herrscher für Saint-Remi vor Reims finden sich etwa Angaben wie quoniam terra ipsa imperii nostri ditione clauditur (952), oder, als Erläuterung zu Saint-Remi, quod est in regno Francorum (1138); vgl. Rudolf SCHIEFFER, „Ausländische" Empfänger von Königsurkunden der Ottonen, Salier und Staufer, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. von Paul-Joachim HEINIG u.a. (2000) S. 191-202, hier S. 194 f.

BERND W.

BAHN

Die Michaelskapelle auf dem Kleinen Gleichberg „Im 8. Jahrhundert von den Angelsachsen auf dem Kontinent zum Patron mehrerer ihrer neugegründeten Kirchen und Klöster erhoben [...] und im 10. Jahrhundert von den Ottonen als Schlachtenhelfer gegen die Ungarn angerufen, war der Erzengel St. Michael auch im Hochmittelalter einer der beliebtesten Heiligen, dem - auch in Thüringen - zahlreiche Kirchen und Kapellen geweiht wurden." Matthias Werner 1

Auf dem Gipfel des Kleinen Gleichberges bei Römhild in Südthüringen sind heute in 642 m Höhe die baulichen Reste der spätmittelalterlichen Wallfahrtskapelle St. Michael, wie sie 1934-1935 freigelegt und nachfolgend restauriert bzw. konserviert worden sind, zu sehen. Von dieser Höhe aus bietet sich ein weiter Blick in das Land südlich des Thüringer Waldes, nach Süden bis in das Land der Franken, wo die deutsche Dichtung der Romantik ihren Ursprung hat2, nach Norden reicht gute Fernsicht bis zum Rennsteig des Thüringer Waldes. Wer sich dieses Blickes erfreut, steht aber auch inmitten einer mächtigen Bergbefestigung aus keltischer Zeit, und es lag frühzeitig nahe, die dem heiligen Michael geweihte Kapelle in der Nachfolge eines heidnischen Kultplatzes zu sehen3. 1

2

3

Matthias WERNER, Die Anfänge der Stadt Jena und die Stadtkirche St. Michael, in: Inmitten der Stadt - St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, hg. von Volker LEPPIN / Matthias WERNER (2004) S. 9-60, hier S. 52. Der Dichter Joseph Viktor von Scheffel (1826-1886), bekannt wegen seiner bis heute unverwüstlichen Studentenlieder („Gaudeamus!", „Als die Römer frech geworden ..."), preist diese Landschaft in einem seiner Verse unmittelbar: Von Bamberg bis zum Grabfeldgau umrahmen Berg und Hügel die breite, stromdurchglänzte Au ich wollt', mir wüchsen Flügel! Den zweifachen Vorteil eines einzelnen hohen Berges in den Augen einer frühgeschichtlichen Bevölkerung kennzeichnete bereits der Südthüringer Forscher Georg BRÜCKNER (1800-1881) in seiner posthum zum Druck gebrachten Abhandlung von 1878, die wohl als Vortragsmanuskript gedacht gewesen war: Georg BRÜCKNER, Die Steinsburg bei Römhild. Vorbemerkung (G. NEUMANN), Nachwort (K. PESCHEL), in: Keltenforschung in Südthüringen, hg. vom Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens Weimar und vom Steinsburgmuseum Römhild durch Rudolf FEUSTEL (1979) S. 13-28; darin heißt es (S. 15): „Wozu diente nun aber der Kleine Gleichberg den frühesten Bewohnern des Grabfeldes? Zwei Bedürfnisse waren es vor allem, zu deren Befriedigung derselbe als höchst geeignet befunden und auserkoren ward. Einerseits drängte der Ansturm feindlicher Volkshorden zur Sicherung des leiblichen Daseins und bewohnten Bodens, andererseits forderte der in

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D I E MICHAELSKAPELLE AUF DEM KLEINEN GLEICHBERG

Südwärts von Thüringer Wald und oberer Werra weist die fränkische Schichtstufenlandschaft wie auch die Rhön zahlreiche Kegel- und Tafelberge auf; ein großer Teil der Rhön wird der glockenförmigen Berge wegen direkt als thüringische Kuppenrhön bezeichnet. Im äußersten Südthüringen gehören geologisch dazu auch die Basaltberge Dolmar (bei Meiningen), Großer und Kleiner Gleichberg, Straufhain, Heldburg und andere 4 . Diese orographischgeomorphologische Landschaftsgliederung bot der frühen Besiedlung durch den Menschen zwei Möglichkeiten an: ein vielgestaltiges Relief hielt eine Fülle von geographischen Kleinräumen bereit, die sich als Siedlungskammern eigneten und vielfache Möglichkeiten regionaler Siedlungsstruktur gewährten 5 . Die Kegel- und Tafelberge aber boten sich den Menschen für zweifache Nutzung an: befestigt wurden sie zur Burg, geweiht dagegen zum Temenos, zum Höhenheiligtum, zum Kultplatz im weitesten Sinne. Und so begegnet uns heute beides auf den Bergen der Rhön, Südthüringens und Frankens - die Burgen und die Kirchen. Zwischen beiden, chronologisch und funktional, sind Steinringwälle aus prähistorischer Zeit einzuordnen, über die wir noch kaum Genaueres wissen. Beim Fehlen jeglicher Siedlungsspuren innerhalb eines Ringwalles (z. B. Arzberg in der Rhön) bleibt nur eine Deutung als umhegter Kultplatz, als sichtbar abgegrenzter geheiligter Ort auf der Höhe. Aber auch ein gehäuftes Vorkommen ganz bestimmter Fundgattungen (rituell unbrauchbar gemachte Gegenstände, Weihefunde) nicht unbedingt mit Siedlungs-/Alltagscharakter kann für Letzteres sprechen 6 . Geologisch der Rhön zuzuordnen, stellen die beiden Gleichberge (zusammen mit den landschaftlich unbedeutenden Anhöhen Dingslebener Kuppe und Ermelsberg) eine Nord-Süd-Reihung von spättertiären Basalt-

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den Seelen der alten Völker erwachte Glaube an höhere Gewalten entsprechende Kultpunkte. Jenes ruhte auf einer realen, dieses auf einer idealen Grundlage und Notwendigkeit menschlicher Entwicklung." Dietrich ZÜHLKE, Physisch-geographischer Überblick: Das Gleichberggebiet, in: Das Gleichberggebiet. Ergebnisse der heimatkundlichen Bestandsaufnahme im Gebiet von Haina und Römhild/Thüringen (Werte der deutschen Heimat 6, 1963) S. 1-10. - Berthold WEISZ, Allgemeiner geologischer Überblick über das Gleichberggebiet, in: Bikurgion. Arbeitsberichte der Fördergemeinschaft Steinsburg, hg. vom Kulturbund der DDR, Bezirksfachausschuss Ur- und Frühgeschichte (1989) S. 15-22. - Jürgen ELLENBERG, Geologischer Überblick, in: Südliches Thüringen. Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland 28, hg. vom Nordwestdeutschen, West- und Süddeutschen und Mittel- und Ostdeutschen Verband für Altertumsforschung (.1994) S. 9-15. Karl PESCHEL, Die Gleichberge in ihrer archäologischen und historischen Umwelt, in: Keltenforschung in Südthüringen, hg. vom Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens Weimar und vom Steinsburgmuseum Römhild durch Rudolf FEUSTEL (1979) S. 2952. Reinhard SPEHR, Archäologische Topographie der Steinsburg bei Römhild (Kleine Schriften des Landesmuseums für Vorgeschichte Dresden 1, 1980), DERS., Rituell verbogene Waffen von der Steinsburg, Alt-Thüringen 38 (2005) S. 67-99.

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durchbrächen über einem Keuper- bzw. Muschelkalksockel dar, eingehüllt von Basaltblockschutt quartärer Verwitterung und Abtragung am Rand der Basaltdecken, die der ursprünglich höheren tertiärzeitlichen Landoberfläche auflagen. Aus den Steinmassen dieser Blockmeere gewann der Mensch in vorgeschichtlicher Zeit das Material zum Bau von Wällen und Trockenmauern für eine Fortifikation der Berge. Auf und am Kleinen Gleichberg entstand so in mehreren Phasen eine vielgliedrige Befestigung der Vorrömischen Eisenzeit (ca. 750 v. Chr. bis um Chr. Geburt)7. Berg und Festung beherrschen nach Südwesten das Grabfeld als größeren Siedlungsraum um die obere Fränkische Saale, nach Norden Werratal und Thüringer-Wald-Vorland sowie einen am Westfuß beider Gleichberge entlangfuhrenden alten Verkehrsweg aus Richtung Bamberg/Haßfurt zum Thüringer-Wald-Pass Oberhof, streckenweise als Weinstraße überliefert und im Gelände mit Hohlwegsystemen (mittelalterlicher Zeit) noch vielfach nachzuweisen 8 . Den Berggipfel (642 m ü. NN) könnte vor mehr als zweitausend Jahren eine latenezeitliche Akropolis als Mittelpunkt der Bergbefestigung eingenommen haben9. Lange danach aber ist dort oben eine christliche Wallfahrtskapelle errichtet worden, die dem heiligen Michael geweiht wurde10. Neben den sehr frühen Patrozinien des heiligen Martin und des heiligen Kilian, von denen letzterer vor allem in dem Franken benachbarten Südthüringen vorkommt11, gehört das erste Auftreten des Michaelspatroziniums in

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Gotthard NEUMANN, Die Steinsburg auf dem Kleinen Gleichberge bei Römhild in Thüringen. Eine keltische Stadt der Frühzeit, Wissenschaftliche Annalen 2 (1953) S. 697-712. Karl PESCHEL, Die Steinsburg bei Römhild am Rande des nördlichen Mittelgebirgsraumes während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit, Alt-Thüringen 38 (2005) S. 7-30. 8 Gotthard NEUMANN, Vor- und Frühgeschichte, in: Das Gleichberggebiet (wie Anm. 4) S. 14-57, hier S. 31. - Bernd W. BAHN, Zur Erforschung alter Verkehrsverbindungen, besonders über den Thüringer Wald, Urgeschichte und Heimatforschung 24 (1987) S. 20-26, DERS. und Werner GALL, Zur Lage der hallstatt- und latenezeitlichen Siedlung Widderstatt in einem Netz früher Wegführungen, Urgeschichte und Heimatforschung 21 (1984) S. 3845. - Felix TEICHNER, Die germanische Siedlung Sülzdorf in Südthüringen (Weimarer Monographien zur Ur- und Frühgeschichte 40, 2004) S. 151. 9 SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 25 ff. 10 NEUMANN, Vor- und Frühgeschichte (wie Anm. 8) S. 28. 11 Hans K. SCHULZE, Die Entwicklung der thüringischen Pfarrorganisation im Mittelalter, BDLG 103 (1967) S. 32-70, hier vor allem S. 38-48 und Karte S. 45. - „In Thüringen spiegelt Herzog Heden mit seinem weiten Güterbesitz in Franken und über das Thüringer Becken hinweg die engen Vernetzungen Thüringens mit Mainfranken wider, in deren Zusammenhang auch andere Familien von Mainfranken und dem Grabfeld nach Thüringen ausgriffen.", vgl. Matthias WERNER, Gab es ein klösterliches Leben auf dem Erfurter Petersberg schon im Frühmittelalter?, in: 700 Jahre Erfurter Peterskloster. Geschichte und Kunst auf dem Erfurter Petersberg 1103-1803 (Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten 7, 2004) S. 44-53, hier S. 48. - In Südthüringen finden sich Martinspatrozinien in Meiningen und im nahen fränkischen Mellrichstadt, Kilianspatrozinien in Westhausen, Walldorf und Mellrichstadt. Bonifatius kommt als Patrozinium in Südthüringen allerdings

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die Zeit des Wirkens von Bonifatius12. Zu dieser Zeit dürfte die Bekehrung zum Christentum noch auf bestimmte Teile der Bevölkerung beschränkt gewesen sein13. Bonifatius aber sah das „germanische Heidentum"14 der Mehrheit der Bevölkerung und setzte seine Missionsstützpunkte dagegen, wofür ihm der Erzengel Michael offenbar als bester Garant galt15. Die Konfrontation mit dem „Unglauben" der jetzt unter fränkischer Herrschaft lebenden germanisch-thüringischen Bewohner sah Bonifatius wohl in erster Linie an

nicht vor, vgl. SCHULZE, Pfarrorganisation (wie oben) S. 53 f. - Zu den „engen Vernetzungen Thüringens mit Mainfranken" im 7. Jahrhundert siehe auch Berthold SCHMIDT, Das Königreich der Thüringer und seine Eingliederung in das Frankenreich, in: Die Franken Wegbereiter Europas vor 1500 Jahren 1: König Chlodwig und seine Erben, hg. von Karin von WELCK, Alfried WLECZOREK, Hermann AMENT (1996) S. 285-297. 12 NEUMANN, Vor- und Frühgeschichte (wie Anm. 8) S. 28. - SCHULZE, Pfarrorganisation (wie Anm. 11) S. 35; S. 49 f. - WERNER, Anfänge (wie Anm. 1) S. 52. Das MichaelsPatrozinium finden wir südlich des Thüringer Waldes in Burgbreitungen, Kloster Rohr und auf dem Kleinen Gleichberg, nördlich des Rennsteigs in Kloster Ohrdruf, Mühlberg, Jena, Burgscheidungen und auf dem Rusteberg im Eichsfeld. Nach SCHULZE, Pfarrorganisation (wie Anm. 11) S. 49, gehen mehrere davon auf die bonifatianische Zeit zurück. Zur Vielzahl (meist jüngerer) Patrozinien St. Michael nördlich des Thüringer Waldes vgl. Martin HANNAPPEL, Das Gebiet des Archidiakonates Beatae Mariae Virginis Erfurt am Ausgang des Mittelalters (Arbeiten zur Landes- und Volksforschung 10, 1941) S. 408, sowie WERNER, A n f ä n g e ( w i e A n m . 1) S . 5 2 m i t A n m . 151.

13 SCHULZE, Pfarrorganisation (wie Anm. 11) S. 32: „Dieses frühe Christentum trat zunächst ohne größere missionarische Ansprüche auf und blieb auf kleine Personengruppen inmitten einer überwiegend heidnischen Bevölkerung beschränkt." - Vgl. auch WERNER, Petersberg (wie Anm. 11) S. 48: „Es handelte sich um eine christianisierte Oberschicht, der möglicherweise bereits vor dem Auftreten des Bonifatius Kirchengründungen wie etwa in Kölleda zuzuschreiben sind." - Diese Oberschicht ist offenbar schon wesentlich früher ausgeprägt, wie jüngste Grabungen im Hainleite-Pass bei Sondershausen schon jetzt erkennen lassen: „Christliche und heidnische Symbole und Zeichen auf weiteren Schmuckstücken lassen erkennen, dass deren Trägerinnen wohl mit dem christlichen Glauben vertraut, aber noch im Heidentum verwurzelt waren. Sie belegen aber, dass zumindest die meisten Vertreter der adligen Oberschicht Christen waren.", vgl. Diethard WALTER, Im Zeichen des Reiches, Archäologie in Deutschland 6 (2006) S. 66-67. Dort wurde bei den Grabungen „ein 10,25 m x 5,10 m großer, zweischiffiger Gebäudegrundriss im nordwestlichen Randbereich des Friedhofs" angetroffen; „Für eine Reihe von Gebäuden mit >unkanonischer< Bauweise werden [...] auch heidnische Begräbniszeremonien diskutiert. So könnte man auch bei dem Sondershäuser Grundriss an einen Zeremonialbau in heidnischer Tradition denken, der aber durchaus auch zu Gottesdienstzwecken genutzt wurde." 14 NEUMANN, Vor- und Frühgeschichte (wie Anm. 8) S. 28. 15 SCHULZE, Pfarrorganisation (wie Anm. 11) S. 49: „In die Gedankenwelt der bonifatianischen Mission gehören die ersten Michaeliskirchen in Thüringen; denn es ist sicher kein Zufall, daß Bonifatius sowohl in Hessen wie in Thüringen seine Missionsstützpunkte, die Klöster Amöneburg und Ohrdruf, dem Schutze des Erzengels anvertraute, der als ein zuverlässiger Helfer im Kampf gegen den Unglauben und das Böse galt. Ihm wurden deshalb auch gern Bergkirchen geweiht, die in vielen Fällen an ältere heidnische Heiligtümer anknüpfen. So wird man etwa den Michaeliskapellen auf dem Rusteberg im Eichsfeld, auf dem Mühlberg oder auf dem Kleinen Gleichberg ein hohes Alter zusprechen können."

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den Örtlichkeiten, wo alter heidnischer Kult gepflegt wurde bzw. germanische Götter lokalisiert waren. Das traf neben heiligen Gewässern 16 besonders auch auf Anhöhen zu, die bereits in vorrömischer Zeit bei einer keltischen oder in Südthüringen zeitweise keltisierten Bevölkerung in vielen Fällen einen bedeutenden kultischen Rang eingenommen haben müssen 17 . Wenn die Michaelskapelle auf dem Kleinen Gleichberg aus der frühen Zeit dieses Patroziniums stammen sollte und bei ihrer Begründung ein Zusammenhang bestanden hat mit den an den Berg geknüpften Sagen, dann haben wir es also mit drei Fragen zu tun: Wann ist mit dem Erscheinen germanischer Siedler in Südthüringen zu rechnen? Wann könnten die „heidnischen" Sagen um den Kleinen Gleichberg entstanden sein? Wann ist mit der Begründung des Michaels-Patroziniums auf dem Berggipfel zu rechnen? Davon ist die erste Frage vor allem archäologisch zu beantworten, in gewissem Maße (wenn auch chronologisch weniger relevant) durch die Ortsund Flurnamenforschung. Eventuell läßt sich an die Antwort zu Frage eins eine Festlegung zu Frage zwei anschließen. Die Mediävistik, speziell die Patrozinienforschung, schließlich hätte die Frage drei zu klären, wofür die Archäologie bereits eine Grundlage geliefert hat mit der Ausgrabung der im 16. Jahrhundert durch Brand zerstörten und danach völlig verfallenen Kapelle, freilich ohne dabei das Problem eines eventuellen älteren Vorgängerbaues klären zu können 18 . Wird für den engeren mitteldeutschen Raum und nach Thüringen hinein bereits ab dem 5.-3. Jahrhundert v. Chr. mit einem Vordringen germanischer Siedler flußaufwärts von Saale, Unstrut und Weißer Elster gerechnet 19 , so erreichen solche Zuwanderungen das südliche Thüringen erst sehr viel später bei einem erneuten Vordrängen diesmal eher kriegerischer Gruppen in den letzten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts v. Chr 20 . Dabei sind die Bewohner im Gleichberggebiet nicht einfach mit dem „traditionell eingefahrene[n] Muster der Gegenüberstellung von hier >keltischgermanisch< in der Höhe des Mittelgebirgszuges" 21 zu beschreiben. Dennoch muß es Zuwanderer aus dem Norden gegeben haben, die anderes Gedankengut mitbrachten. Ausgehend von Gewässernamen schließt man seit langem auf „germanische 16 Günter BEHM-BLANCKE, Heiligtümer, Kultplätze und Religion, in: Archäologie in der Deutschen Demokratischen Republik. Denkmale und Funde 1: Archäologische Kulturen, geschichtliche Perioden und Volksstämme (1989) S. 166-176. 17 SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 6. 18 NEUMANN, Steinsburg (wie Anm. 7) S. 709. 19 Karl PESCHEL, Thüringen in ur- und frühgeschichtlicher Zeit (1994) S. 57 f. mit Karte Abb. 19. 20 PESCHEL, Thüringen (wie Anm. 19) S. 61 f. mit Karte Abb. 20. 21 Karl PESCHEL, Die Steinsburg bei Römhild am Rande des nördlichen Mittelgebirgsraumes während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit, Alt-Thüringen 38 (2005) S. 7-30, hier S. 24.

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Namen und zwar der ältesten Landnahmezeit des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, in dem elbgermanische Völker sich hier dauernd niederließen." 22 Bereits vor fünfzig Jahren unterschied Karl Bosl für Franken vorgermanische Namen (wie Eltmann südlich der Haßberge, Main und [Fränkische] Saale), besonders vorgermanische Gewässerrnamen im östlichen Franken (Rednitz/Regnitz, Schwäbische und Fränkische Rezat, Zenn, Aisch und Pegnitz) von „germanischen Namen und zwar der ältesten Landnahmezeit" (s. o.). Von seiten der Archäologie gibt es dazu neue Antworten, nachdem im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Kelten, Germanen, Römer im Mittelgebirgsraum zwischen Luxemburg und Thüringen" der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch die Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Ur- und Frühgeschichte, eine germanische Siedlung im unmittelbaren Umland der Gleichberge archäologisch untersucht werden konnte 23 . Am Ortsrand von Sülzdorf, nur 6 km westlich des Kleinen Gleichberges, wurde von 1994 bis 1999 in der Flur Krautgärten eine Siedlung aus nachkeltischer Zeit ausgegraben, die „eine Siedlungsplatzkontinuität von der ausgehenden Latene- bis in die späte Kaiserzeit" erkennen lässt 24 . „Das Ende der Siedlung fallt in das 4. Jahrhundert n. Chr. Die Anfänge reichen in den auch hier wirksamen elbgermanischen Horizont der Jahrzehnte um Christi Geburt zurück, kaum früher." 25 Wenn aber hier südlich des Thüringer Waldes der „frühelbgermanische Kulturhorizont (> Großromstedt-Horizonte) [...] belegt" ist26, dann müssen relativ bald nach dem Verlassen der spätlatenezeitlichen Bergbefestigung auf dem Kleinen Gleichberg durch die (keltischen oder keltisch beeinflussten) Bewohner in den letzten Jahrzehnten vor Christi Geburt neue Zuwanderer in das Gleichberggebiet gekommen sein, und zwar von Norden aus dem mitteldeutsch-thüringischen Raum. Zwar „lässt das Ende der Gleichbergbesiedlung keinen überzeugenden kulturellen Übergang zum elbgermanischen Neubeginn erkennen [...] Allerdings machen verschiedene Gleichbergfunde wahrscheinlich, dass es keine größere Lücke gegeben haben wird. [...] Abbruch und Neubeginn sollten - wenn eine Zäsur bestanden hat - nicht weit auseinander liegen." 27 Das thüringisch-fränkische Grabfeld war im Verlauf der augusteischen Zeit (Herrschaft des Augustus 31 v. Chr. bis 14 n. Chr.) „Teil einer germanischen Siedlungslandschaft" gewor-

22 Karl BOSL, Franken um 800. Strukturanalyse einer fränkischen Königsprovinz (1959) S. 11. 23 TEICHNER, Sülzdorf (wie Anm. 8). 24 TEICHNER, Sülzdorf (wie Anm. 8) S. 152. 25 Karl PESCHEL, Vorwort des Projektleiters, in: TEICHNER, Sülzdorf (wie Anm. 8) S. 9-10. 26 TEICHNER, Sülzdorf (wie Anm. 8) S. 152. 27 PESCHEL, Vorwort (wie Anm. 25) S. 10.

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den (vgl. Abb. 1 zu diesem Beitrag im Bildteil) 28 . Das aber bedeutet, es kann Kontaktmöglichkeiten zwischen Einheimischen und Zuwanderern gegeben haben. Somit könnte den Ankömmlingen die Vorstellung vom Bergheiligtum durch einheimische Bewohner der Grabfeldebene vermittelt worden sein. Was hätte näher gelegen, als dass die neuen Siedler ihre mitgebrachten germanischen Vorstellungen mit dem Berggipfel verbanden? Bis in die frühe Zeit der ersten Jahrhunderte n. Chr. sollen möglicherweise Sageninhalte zurückzufuhren sein, die sich mit dem Gipfel des Kleinen Gleichberges und den prähistorischen Steinwällen verbinden. Schon Mitte des 17. Jahrhunderts wurde auf diese merkwürdigen Sagen hingewiesen 29 . Der Lehrer an der Lateinschule Römhild und nachfolgende Subdiaconus, Georg Doeler, geboren am 22.11.1606 in Römhild, gestorben am 25.10.1660 in Oberndorf, Landkreis Schweinfurt, ist von 1641 bis 1648 Pfarrer im benachbarten Dorf Haina am Fuß des Kleinen Gleichberges; dort hat er in seinen ungedruckten Collectaneen zwei bis dahin mündlich überlieferte Sagen aufgezeichnet. Diese Aufzeichnungen sollten „noch vor 50 Jahren" 30 (= 1890, Anm. d. Vf.) vorhanden gewesen sein und hätten „Hofrat Jacob vorgelegen, ist jetzt aber nicht mehr auffindbar." 31 Gotthard Neumann gelang es, die Originalhandschrift Ende der fünfziger Jahre im Landesarchiv Meiningen wieder ausfindig zu machen 32 . Doeler hat beide Sagen nach der Erzählung

28 Wolfgang WAGNER, Römische Kaiserzeit - Der Landkreis Rhön-Grabfeld - Teil einer germanischen Siedlungslandschaft, in: Vorzeit - Spuren in Rhön-Grabfeld (1998) S. 131180. 29 NEUMANN, Vor- und Frühgeschichte (wie Anm. 8) S. 28, DERS., Die Deutung der Steinsburg bei Römhild im Wandel der Zeiten, Jb. der Coburger Landesstiftung (1960) S. 155192, hierS. 156 f. 30 Paul KÖHLER, Römhild. Ein Führer durch die Stadt, ihre Umgebung und ihre Geschichte (1940). 31

KÖHLER, R ö m h i l d ( w i e A n m . 3 0 ) S. 2 3 .

32 NEUMANN, Deutung (wie Anm. 29) S. 185, Anm. 11. Die Collectanea Doeleri wurden bereits von Ludwig Bechstein 1846 in einer Einladungsschrift des Hennebergischen alterthumsforschenden Vereins genannt, die darin aufgezeichneten Sagen zur Steinsburg sind von Georg Brückner bemerkt und kommentiert worden, vgl. Georg BRÜCKNER, Die Steinsburg bei Römhild (Ein Vortragsmanuskript aus dem Jahre 1878) [mit Vorbemerkung G. NEUMANN sowie Nachwort K. PESCHEL, Anm. d. Vf.], in: Keltenforschung in Südthüringen, hg. vom Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens Weimar, und vom Steinsburgmuseum Römhild durch Rudolf FEUSTEL (1979) S. 13-28, hier S. 17 und 21 f. Weitere Einzelheiten der Verwendung und Wertung dieser Sagentexte von Brückner 1878 bis Köhler 1940 siehe in den genannten Literaturstellen. Der Wortlaut beider Sagen bei DOELER (in der Wiedergabe bei NEUMANN, Deutung [wie Anm. 29] S. 157) ist folgender: It[em] Hanß Spörlein von Römhildt (Spörleins Enners zu Römhildt hats ihm erzehlt) hat drey Pferdt iegliches mit einem aug gehabt, er der fohrmann selber nur ein aug, sey wollfahrth mit eim faß wein vff die Steinburg gefahren, habe sich trunken getruncken vnd über die Steinrücken mit pferdt v. wagen vnverletzt herab kommen. Und die zweite Sage lautet:

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des Landsknechtes Endres Ortloff aus Römhild, 71 Jahre alt, aufgeschrieben, sie gehen also jedenfalls auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück und entsprechen Angaben einer Urkunde vom 3. März 1517, in welcher die Sand Michels Kerchen auff der Steynburck genannt wird. An dieser Urkunde wie auch an der Schenkungsurkunde von 867, in welcher der Steinberg erstmals genannt wird, fand Neumann bemerkenswert, dass der gemeinte Kleine Gleichberg sowohl 867 wie 1517 „weder Michels- noch Wodansberg heißt." 33 Gotthard Neumann meint, beide Sagen könnten sich bei ihrem zu vermutenden hohen Alter nur dadurch während des christlichen Mittelalters erhalten haben, „weil sie christlich eingekleidet wurden. Andererseits machen sie damit deutlich, daß auch in unserem Falle Sankt Michael an die Stelle des Wodan getreten ist." Sie seien „sicher alt und bodenständig" 34 In der ersten Sage wird also von einem einäugigen Fuhrmann erzählt, dem die Überlieferung den einheimisch-neuzeitlich klingenden Namen Hans Spörlein gegeben hat. Dieser sei mit seinen drei ebenfalls einäugigen Pferden über die Steinsburg gefahren. Bei einer Wallfahrt sei er mit einem Fass Wein auf den Berg gefahren, hätte sich oben betrunken und wäre danach wieder hinunter gefahren, und zwar über die steilen Blockmeere, sei aber trotzdem ohne Schaden oder Verletzung heil mit Pferden und Wagen unten in der Ebene angekommen. Man sieht in der Einäugigkeit das Merkmal des germanischen Gottes Wotan/Wuodan, in der germanischen Mythologie der in Walhall thronende Herr der Asen/Riesen, der als Schlachtengott mit seinem (achtbeinigen?) Hengst Sleipnir zusammen mit den Seelen Verstorbener im Sturm über den It[em] es sey ein wüster Mann Michel Baß mit nahmen stets wie ein Einsiedler uff der Steinburgk gewesen habe sich in der Kirchen daselbst auffgehalten ein Horn gehabt v. stets gedutt, Indeproverbium ortem [woraus das Sprichwort entstand, Verf.]: ja wen wirts wern! Wenn Michel uff der Steinsburg dud. 33

NEUMANN, D e u t u n g ( w i e A n m . 2 9 ) S . 156.

34 NEUMANN, Deutung (wie Anm. 29) S. 157 mit weiterer älterer Literatur zu Michelsbergen und dem Michaelspatrozinium. Allerdings sieht Neumann die Anfänge einer Wodansverehrung auf dem Gipfel des Kleinen Gleichberges erst mit dem Eindringen der Franken in das Grabfeld nach der merowingischen Eroberung von 531: „Mit den fränkischen Kolonisten gelangte im 6. Jahrhundert germanischer Wuotansglaube ins Grabfeld und heftete sich an den Gipfel der Steinsburg. Dafür zeugen eine Reihe von Sagen, die aus alter Zeit überliefert sind. Im Laufe des 7. Jahrhunderts wich er allmählich dem Christentume, das zuerst vom Frankenapostel Kilian im Grabfelde gepredigt worden sein wird [...]", vgl. NEUMANN, Steinsburg (wie Anm. 7) S. 709, DERS. Vor- und Frühgeschichte (wie Anm. 8) S. 27 f. Hier mögen doch Zweifel berechtigt sein, erstens ob bei den Franken des späten 6. Jahrhunderts altgermanischer Götterglaube noch derart praktiziert worden ist, dass eine markante Örtlichkeit direkt mit solcher Verehrung neu belegt wurde; und zweitens hieße das, lebendiger Götterglaube wäre bald darauf - im 7. Jahrhundert - schon wieder zu einer religiös belanglosen Sage geworden. Es hat u. E. mehr Wahrscheinlichkeit, dass die mit dem Berg verbundene Wodansverehrung bei der ansässigen germanischen Bevölkerung bereits vorgefunden wurde.

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Himmel braust (das „Wilde Heer"). Hier sei die Bemerkung gestattet, dass sich eine solche Vorstellung leicht gewinnen lässt, wenn man einmal einen Sturmwind auf dem sein Umland ca. 350 m überragenden Gipfel erlebt hat. Der Name Spörlein könnte möglicherweise mit Sparr in Verbindung stehen, wie Wodan früher in Norddeutschland auch genannt wurde. Auch die andere der beiden Sagen lässt sich auf Wodan als den wilden Jäger mit dem Horn beziehen. Offen bleibt nach wie vor die Frage der Datierung. Geht man davon aus, dass eine Verehrung des heidnischen Gottes Wödan durch eine solche des heiligen Michael verdrängt werden sollte, dann müsste es diese Sagen bzw. ihren zeitgenössischen religiösen Kern beim Einsetzen der Christianisierung gegeben haben, wobei nicht gesagt werden kann, ob im 7./8. Jahrhundert in Südthüringen noch eine lebendige Wodanverehrung praktiziert worden ist. Bereits bei dieser zeitlichen Ansetzung hätten sich die Sagen mindestens im 9. Jahrhundert aus dem germanisch-heidnischen Brauchtum entwickelt und somit bis zu ihrer schriftlichen Fixierung im 17. Jahrhundert wenigstens 800 Jahre überdauert. Sollte aber ein solches Brauchtum seinen Ursprung tatsächlich bereits in der Epoche der ersten germanischen Siedler in augusteischer Zeit haben, hätten wir es mit zwei Phasen zu tun; die erste umfasst die Zeit praktizierten Kultes, der in einer uns nicht bekannten Weise mit dem Gipfel des Kleinen Gleichberges in Verbindung stand, möglicherweise sogar in Weiterfiihrung einer kultischen Örtlichkeit aus keltischer Zeit der letzten vorchristlichen Jahrhunderte. Die zweite Phase bildete dann das praktizierungsentleerte Weiterleben heidnischen Gedankengutes in der Gestalt von christlich „verkleideten" Sagen. Der Frage eines der Wodansverehrung vorausgehenden latenezeitlichen Bergheiligtums oder Temenos hat sich der Prähistoriker Reinhard Spehr in besonderer Weise angenommen 35 . Sein Hauptargument, letztlich den gesamten Berg als großes zentrales Heiligtum des Grabfeldgebietes in der Latenezeit anzusehen, bilden alle jene Funde, die nach seiner Interpretation bewusst unter kultischem Aspekt am Berg und auf dessen Gipfel niedergelegt worden sind und folglich nicht Ausdruck einer großen volkreichen Bergfeste seien. Hier soll auf diese zweifellos schwierige Frage nicht weiter eingegangen werden, zumal es am Kleinen Gleichberg - jedenfalls innerhalb der Befestigungsringe - seit mehr als einem halben Jahrhundert keine Grabungen mehr gegeben hat und die fast 70 Hektar große Anlage als nicht annähernd archäologisch erforscht zu gelten hat. Die Mehrzahl der tausende Funde entstammt Gelände- und Denkmalzerstörungen während rund sechs Jahrzehnten

35 SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6); DERS., Rituell verbogene Waffen von der Steinsburg, Alt-Thüringen 38 (2005) S. 67-99.

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Basaltgewinnung, anfangs vorwiegend aus den prähistorischen Steinwällen, und nachfolgendem Steinbruchbetrieb. Die Frage eines möglichen Kultplatz-Vorläufers der germanischen Wodansverehrung dürfte aber auch nicht ausschlaggebend sein für die hier erörterte Frage. Der Kegelberg, der zusammen mit dem Großen Gleichberg die fränkische Schichtstufenlandschaft 36 von der Werra bis zum Main als Landmarke eindrucksvoll beherrscht, könnte für die Zuwanderer der augusteischen bzw. frühen Römischen Kaiserzeit auch ohne Kenntnis oder Vorhandensein eines keltenzeitlichen Vorläufers einen absoluten Anziehungspunkt für die Verehrung ihres obersten Schlachtengottes und Herrn der Asen dargestellt haben. Hingegen sieht Reinhard Spehr einen klaren Kultplatz-Zusammenhang und meint, auch die spätere christliche Kapelle sei gerade dort errichtet worden, wo der höchste Punkt des Berges (der sich nochmals wenige Meter aus dem Gipfelplateau heraushebt) als Innerstes einer latenezeitlichen „Akropolis" das Zentrum des Temenos gebildet habe 37 . Damit wenden wir uns der Kapelle selbst zu. Der kleine Kirchenbau von 13,1 m Länge und 5,60-5,90 m Breite hat bis zuletzt als Wallfahrtskapelle gedient, worauf allein schon der alt überkommene Name Kirchensteig hinweist, der von Haina her durch die Westseite des Berges hinauf führt und als Hauptweg der Wallfahrer aus dem Grabfeld überliefert ist. Gotthard Neumann hat bei seinen Übersichtsdarstellungen zur prähistorischen Steinsburg stets auch die Kapellenruine einbezogen 38 . Diese ist freilich erst wieder sichtbar nach den Ausgrabungen der nur noch wenig aufgehenden Mauerreste 1928, vor allem aber 1934-1936, 1939 und 1940 und Instandsetzung derselben 39 . Die offenbar damals kaum freiliegenden Fundamentmauern der Kapelle sind wohl zuerst wieder wahrgenommen worden während einer Exkursion des Hennebergischen altertumsforschenden Vereins am 24. Juni 1838; das war jenes denkwürdige Jahr, in welchem als Folge erster umfangreicherer Steinabfuhr für Straßenbauzwecke im Herzog-

36 Neuerdings als „Südthüringisches Plateau- und Stufenland" bezeichnet, vgl. Albert RIESE, Naturräumliche Einheiten Thüringens, in: Thüringen. Zur Geographie des neuen Bundeslandes, hg. von Paul GANS / Wolfgang BRICKS (Erfurter Geographische Studien 1, 1993) S. 3 - 1 6 . 37 SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 12. 38 NEUMANN, Steinsburg (wie Anm. 7) S. 709, DERS., Deutung (wie Anm. 29) S. 156 mit Anm. 9; S. 182; DERS., Vor- und Frühgeschichte (wie Anm. 8) S. 28.

39 Dazu zuletzt ausführlicher mit Veröffentlichung des Grabungs- und Grundrissplanes von Alfred Götze SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 35 f.; außerdem Gert STOI, Die Michaelskapelle auf der Steinsburg, in: Südliches Thüringen (wie Anm. 4) S. 194-196, sowie: Autorengruppe unter Redaktion von Kerstin SCHNEIDER, Christliche Stätten in und um Römhild vor 1450, in: 1200 Jahre Römhild 800-2000, hg. von der Stadt Römhild (2000) S. 71-73 [bei dieser Publikation sind die einzelnen Autoren der Beiträge nicht ausgewiesen, Anm. d. Vf.].

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tum Sachsen-Meiningen auch erste prähistorische Funde am Kleinen Gleichberg festgestellt wurden40. Alfred Götze, der sich ab 1900 der bodendenkmalpflegerischen Betreuung und archäologischen Erforschung der Gleichberge im Auftrag des Hennebergischen altertumsforschenden Vereins annahm, widmete sich ab 1934 unter Mitwirkung des damaligen Vertrauensmannes für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer in Thüringen und Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gotthard Neumann, der Freilegung der Kapellenreste und der Ausgrabung des Innenraumes41. „Ihre Fundamente [...] erinnern heute an den letzten menschlichen Wohnsitz auf der Steinsburg, denn sie erbrachten auch das Stübchen eines Klausners mit stattlichem Ofen aus grünglasierten Kacheln, das an die Südseite der Kapelle angebaut ist."42 Nach den im Steinsburg-Museum verwahrten Grabungsunterlagen von Götze43 hat R. Spehr erstmals eine Umzeichnung von Kapellengrundriss und weiteren Grabungsbefunden veröffentlicht (vgl. Abb. 2 zu diesem Beitrag im Bildteil)44. Danach ist zunächst von einer Zweiphasigkeit bzw. überhaupt zwei oder sogar drei verschiedenen Sakralbauten auszugehen. Sehr wahrscheinlich stellte der erste Steinbau einen nach Westen offenen Rechteckraum dar, sozusagen nur eine Umhegung des Altares, dessen Nutzung man sich vielleicht so vorstellen muss, dass sich davor 40 NEUMANN, Deutung (wie Anm. 29) S. 164 f.; Bernd W. BAHN, Die Steinsburg - Gedanken zur Forschungsgeschichte, Keltenforschung (wie Anm. 5) S. 7-12; DERS., Vor 150 Jahren erste archäologische Funde an der Steinsburg, Archäologie und Heimatgeschichte 3 (1988) S. 94-96. 41 Alfred GÖTZE, Die Ausgrabung der Michaeliskapelle auf der Steinsburg bei Römhild, Thüringer Monatsblätter 44, 12 (1936) S. 211-219. Am Aussichtspunkt, wenige Schritte südlich der Kapelle, erinnert ein natürliches Basaltsäulenstück mit eingraviertem Spaten an die Gruppe des Reichsarbeitsdienstes, mit deren Hilfe Götze die Freilegung ausfuhren konnte. Reinhard Spehr hat 1980 dazu erstmals die Arbeitstagebücher Alfred Götzes zur Bodendenkmalpflege herangezogen und auch die Skizze von der Hand Götzes zum Verlauf der vorgeschichtlichen Steinwälle am Südende des Gipfelplateaus mit den von ihm gesetzten Markierungs- und Vermessungssteinen sowie der Kapelle für seine Veröffentlichung umgezeichnet, vgl. SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 23, Abb. 19 B. Die Erörterungen Spehrs zur Problematik möglicher Beziehungen zwischen vorgeschichtlichem Kultplatz, „Akropolis", „Heroon" und Bestattungsplatz „Mausoleum" (nach einer ersten Freilegung 1899 ließ Götze den vermutlichen Grabhügel 1909 erneut freilegen und nahm eine neue Dokumentation vor) soll hier nicht weiter verfolgt werden. Hervorzuheben ist aber, dass der höchste Punkt des Berges am Südende des Gipfelplateaus wahrscheinlich von vorgeschichtlichen Besiedlungsspuren frei blieb und gerade in dieser relativ kleinen Freifläche später die Kapelle ihren Standort fand. „Man erbaute die Michaelskapelle [...] natürlich auf dem hervorragendsten Platz an der Südspitze. Dort wohnte nachweislich auch der Klausner, der sie betreute." Vgl. SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 33. 42 NEUMANN, Steinsburg (wie Anm. 7) S. 709. 43 Alfred GÖTZE, Tagebücher, Hefte Thüringen 1928 bis 1940; Michaeliskapelle 1934 und 1935, 1936, 1939 und 1940. 44 SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 35, Abb. 30.

Grabungsunterlagen

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D I E MICHAELSKAPELLE AUF DEM KLEINEN GLEICHBERG

eine große Wallfahrer-Gemeinde zur Andacht versammeln konnte mit dem Blick auf Priester und Altar. Als Baumaterial ist grundsätzlich der unmittelbar vorhandene Basalt verwendet worden, der seiner natürlichen Platten-, Säulen- oder Quaderform wegen so gut wie keine Steinmetzbearbeitung erfuhr. Bei diesem ersten Bau sind die Steine in Lehm gelegt worden, seine Außenmaße betrugen 4 m mal 3,70 m; er könnte oben mit einem Tonnengewölbe verschlossen gewesen sein. Im Inneren sind an der Ostwand noch Reste von Wandputz mit Spuren einer Ausmalung beobachtet worden, die freilich auch erst der späteren Bauphase der Erweiterung entstammen könnten. Die Erbauungszeit ist schwer einzugrenzen, selbst wenn sie mit dem stärkeren Aufkommen des Wallfahrt-Gedankens im 14. Jahrhundert in Verbindung gebracht würde, denn Wallfahrten können selbstverständlich auch bereits einem Vorgängerbau gegolten haben45. Spehr allerdings hält diesen BasaltLehm-Bau für möglicherweise schon aus dem 10. Jahrhundert stammend, wofür freilich datierende Begleitfunde fehlen. Innerhalb dieses offenen Mauervierecks wurde bei der Grabung ein Plattenpflaster angetroffen in den Abmessungen 4m mal 2,50 m, sockelartig eingefasst; darauf erhob sich - noch ca. 50-70 cm hoch erhalten - der Unterbau 45 Örtliche und regionale Wallfahrten stellen im späten Mittelalter eine Massenerscheinung dar. Sie sind sicherlich im Zusammenhang zu sehen mit dem „Zeitalter der Unruhe, Kritik, Spannung, [...] Religiosität im 14. und 15. Jahrhundert", Karl BOSL, Europa im Mittelalter. Weltgeschichte eines Jahrtausends (1970) S. 251. Einen Anstoß zur Ausweitung des Wallfahrt-Gedankens gab vielleicht bereits das in Rom 1300 ausgerufene Erste Heilige Jahr, von Papst Bonifatius VIII. als erstes Jubeljahr der katholischen Kirche eingeführt (verbunden mit einem großen Ablass für eine Wallfahrt nach Rom oder dem Spenden der betreffenden Unkosten), das eine große Zahl von Rompilgern auf den Weg brachte. Doch der Gedanke des Unterwegsseins zu einem heiligen Ort oder Lebensumfeld „heiliger" Personen gehörte im Christentum seit der Antike zu den Glaubensvorstellungen, wobei es eine (zeitliche wie auch standesbedingte) Abfolge gibt von der weiten Pilgerreise zu den Lebensorten Jesu {peregrinatio ad loca sancta) bis hin zu rasch und leicht erreichbaren Stätten örtlicher Wunder-Erscheinungen, den Bußpilgerfahrten, die erst im 12.-13. Jahrhundert ihre „volle Ausprägung als europäisches Massenphänomen erfahren." Daraus entwickelt sich der „Concursus populi. Er meint Wallfahrtswesen im weitesten Sinn [...] Alle diese Erscheinungen waren im religiösen Alltag des mittelalterlichen Menschen normal und wurden damals von niemandem als Wallfahrt angesehen. [...] Der sich ab Ende des 13. Jahrhunderts durchsetzende Typus wird heute Devotionswallfahrt (aus der Ablaßformulierung der Zeit: devotionis causa) genannt. Davon wiederum sind die eigentlichen landläufigen Wallfahrten zu unterscheiden. „Sie sind >außerliturgische, gemeinschaftliche und daher in der Regel prozessionsweise, in regelmäßigen Zeitabständen (meist alljährlich zu einem bestimmten Termin) unternommene Bitt- und Bußgänge zu bestimmten Gnadenstätten.< Die Wallfahrt ist nicht identisch mit der Pilgerfahrt, die Ausdruck der Privatfrömmigkeit ist." Vgl. Robert PLÖTZ / Burkhard SCHWERING und Stefan FRANKEWITZ, Peregrinatio religiosa. Von der Pilgerreise zur Wallfahrt, in: Kevelaer. 350 Jahre Wallfahrt ohne Grenzen. Katalogband, hg. von der Stadt Kevelaer (o. J. [Ausstellungskatalog in Ergänzung zur Ausstellung „Wallfahrt kennt keine Grenzen" München (1984), Anm. d. Vf.]) S. 6 - 8 .

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des Altares mit seitlich nach Süden abgerutschter Altarplatte. Diese ist aus ortsfremdem rotem Buntsandstein gefertigt und mindestens aus dem etwa 8 km entfernten Werratal (im Gelände der alten Mühlsteinbrüche Reurieth ist Buntsandstein aufgeschlossen) hierher und auf den Berg transportiert worden46. Das Plattenpflaster könnte einem kleinen hölzernen Vorgängerbau als Fundament gedient haben, über dessen Entstehungszeit freilich erst recht nur Vermutungen möglich wären47. Der Grabungsbefund lässt weiter erkennen, dass der kleine offene Bau irgendwann mit einem westlich daran gesetzten größeren Raum von rund 8,25 m Länge geschlossen wurde, wobei die vorhandene nördliche und südli46 Im Zuge der Instandsetzung der freigelegten aufgehenden Mauerteile ist der Altartisch wieder auf die anzunehmende Höhe ergänzt und die unversehrte Altarplatte aufgesetzt worden. 47 NEUMANN, Steinsburg (wie Anm. 7) S. 709, vermutete, die Michaelskapelle könnte „auf einen hölzernen Bau aus dem 8. oder 9. Jahrhundert u. Z. zurückgehen." Damit bestünde die Möglichkeit, dass es bereits in spät- oder nachkarolingischer Zeit Wallfahrten gegeben hätte; der abgelegene Standort schließt außerdem andere Möglichkeiten kirchlicher Zweckbindung aus. - Georg BRÜCKNER, Landeskunde des Herzogthums Meiningen. Zweiter Theil: Die Topographie des Landes (1853) S. 115 f. berichtet über die (heute nicht mehr vorhandene) Martinskirche in Meiningen: „1007 wurde sie von Neuem durch den Bischof von Würzburg geweiht und 1017 eine Wallfahrt von der Stadt aus dahin auf den Palmsonntag angeordnet, die noch 1340 bestand [...]" Wenn diese Angaben zutreffen (was quellenkundlich zu prüfen wäre), müsste folglich gerade für das südthüringische Gebiet mit einer langwährenden Wallfahrt-Tradition gerechnet werden. - „Wiederholt ist Bonifatius in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts zu den Schwellen der Apostel gewallt.", vgl. Norbert OHLER, Pilgerstab und Jakobsmuschel. Wallfahren in Mittelalter und Neuzeit (2000) S. 33; der Begriff des Wallfahrens muss also, sichtbar am Beispiel frühkirchlicher Persönlichkeiten, bereits im 8. Jahrhundert geläufig gewesen sein, wenn auch so noch nicht von der Bevölkerung praktiziert. Mit Hilfe einer statistischen Auswertung der Häufigkeit von Lübecker Testamenten, in denen Verstorbene ihre Testamentsvollstrecker zu Wallfahrten verpflichten (was im Hochmittelalter durchaus üblich war), konnten Zeiten häufiger Wallfahrten etwa zwischen 1355 und 1390 sowie zwischen 1410 und 1455 abgeleitet werden, vgl. OHLER, Pilgerstab (wie oben) S. 73; zu Wallfahrten im benachbarten oberfränkischen Raum Klaus GUTH, Das Entstehen fränkischer Wallfahrten, Mainfränkisches Jb. für Geschichte und Kunst 29 (1977) S. 39-53; DERS., Die Wallfahrt. Ausdruck religiöser Volkskultur, Ethnologia Europaea. Journal of European Ethnology 16, 1 (1986) S. 59-82; Bruno NEUNDORFER, Zur Entstehung von Wallfahrten und Wallfahrtspatrozinien im mittelalterlichen Bistum Bamberg, Bericht des Historischen Vereins Bamberg 99 (1963) S. 1-132. - Wie aus einem DFG-gefÖrderten Projekt zu Heiligtümern und Wallfahrten, v. a. in Mitteldeutschland, hervorgeht, ist in den mehrheitlich protestantischen Gebieten kaum noch etwas über ein früheres reiches Wallfahrt-Brauchtum bekannt, da dort mit der Reformation der Wallfahrt-Gedanke diffamiert (fast als eine Art Vagabundentum hingestellt) und frühzeitig ausgelöscht worden ist. Diese Angaben verdankt Vf. einem Vortrag im Oberseminar des Historischen Instituts der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Leitung des Jubilars: Hartmut KÜHNE, Landesheiligtümer und Wallfahrten im Kontext spätmittelalterlicher Herrschaftsverdichtung, der einer entsprechenden Veröffentlichung voraus ging. - Für die Möglichkeit, an besagtem Oberseminar teilnehmen zu dürfen, ist Vf. dem Jubilar zu außerordentlichem Dank verpflichtet.

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che Seitenwand offenbar (weil nur in Lehm gesetzt?) von außen verstärkt wurde und an der neuen Südseite ein Durchgang zu einer kleinen angebauten „Sakristei" bzw. einem Aufenthaltsraum eines Klausners führte. Dieses auf nunmehr 13,30 m verlängerte Kirchenschiff wies in der Nordwand eine Eingangspforte auf, die aber irgendwann wieder vermauert worden ist. Der zuletzt benutzte größere Eingang hat sich in der westlichen Schmalseite befunden, noch kenntlich an der breiten Schwelle aus einem gelbgrauen Keupersandstein, auch dieser ortsfremd und aus dem Grabfeld auf den Berg gebracht. Der Bau hatte damit die Abmessungen 13,30 m mal 5,65 m (Westseite)/6,10 m (Ostseite), der kleine Anbau der Südseite misst 4,40 m mal 3,60/3,70 m, innen 3,10 m mal 2,0 m. Der Durchgang ist mit ebenfalls ortsfremden, vom Steinmetz flächig bearbeiteten Muschelkalk eingefasst, der wenig nordöstlich des Berges bei Dingsleben ansteht. Die Einwölbung der Pforten ist nicht bekannt. Ein letzter Umbau an der Kapelle soll nach Götze noch am Beginn der Renaissance stattgefunden haben. Der Innenraum des Schiffes war mit Basaltplatten ausgelegt, im nunmehrigen Rechteck-Chor soll sich eine Lehmtenne befunden haben. Das neue Kirchenschiff ist mit rötlichem Kalkmörtel gemauert (Magerung mit Sand aus verwittertem Buntsandstein?), die Basaltsteine sind nun häufig kantig zugeschlagen. An die nördliche Innenseite wird dann (oder später?) noch ein Seitenaltar angebaut. Offenbar schon während der Bauzeit wurden dicht nördlich der kleinen Kirche ein rechteckiges Gebäude („Bau D"), ein Halbrundbau („Bau B") und ein kleiner Erdkeller (?) als zugehörige Profanbauten angelegt. Wahrscheinlich sollte der gesamte Bereich eingefriedet werden, denn zwei Wallzüge über den Rücken 25 m nordwärts der Kapelle, welche die den Rücken beiderseits flankierenden prähistorischen Steinwälle verbinden, scheinen nicht vorgeschichtlich zu sein, vielmehr den Kapellenbereich gegen das Gesamtplateau abzuriegeln 48 . Die Ausgrabung erbrachte zahlreiche Kleinfunde, vorwiegend des hohen bis späten Mittelalters (vgl. Abb. 3 zu diesem Beitrag im Bildteil), aber doch auch einige wenige Belege für vorgeschichtliche Nutzung dieses Geländeteiles auf dem Berg. Das sind Funde, im Wesentlichen Keramik, der Urnenfelderbronzezeit und aus der Hauptbauzeit der Befestigung, dem Übergang Späthallstatt-/Frühlatenezeit; beides spricht weder für noch gegen einen abgegrenzten Kultbereich an dieser Stelle. Die mittelalterlichen Kleinfunde, auf

48 SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 12: „Zwei schwächere Querwälle, die noch weiter südlich liegen, kannten schon G. Jacob und A. Götze. Mit letzterem vermute ich, daß sie dem Schutz der Michaelskapelle [...] dienen sollten." Spehr geht auch davon aus, dass das gesamte Gipfelplateau im Mittelalter als Refugium diente, „auch die Wallfahrtskapelle eines gewissen Schutzes bedurfte" und deshalb das latenezeitliche Tor durch den Steinwall zum Plateau vielleicht erst dann mit großen Steinen unpassierbar gemacht wurde.

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die hier nicht näher eingegangen werden soll, belegen die Zeit vom 12. Jahrhundert bis in das erste Viertel des 16. Jahrhunderts. Sie entstammen zunächst dem Bau selbst (Eisenbänder der Holztüren, Türangeln und Krampen, Haken und Nägel (vermutlich aus dem abgebrannten Dachstuhl), mehrere eiserne Schlüssel romanischer Form 49 und ein Vorhängschloss in Kastenform (vgl. Abb. 4). Bei einer dreigezackten Eisenspitze könnte es sich um den Rest einer mittelalterlichen Turnierstoßlanze handeln, vielleicht eine Weihegabe an den Heiligen Michael. Die umfangreichste Fundmenge bildet zerscherbte Keramik, die den genannten Zeitraum belegt. Der kleine Raum des Klausners ist mit einem Kachelofen beheizt worden, von dem sich grünglasierte Kacheln, sowohl mit Bildrelief wie auch sogenannte Nischenkacheln dort fanden. Die bei der Grabung gefundenen Münzen geben einen Hinweis auf die Kollekte oder sogar den Ablasshandel, doch sind wohl die Einkünfte der Kapelle örtlich verblieben. Zur Situation wenige Jahre vor dem Ende der Kapelle liegt eine aufschlussreiche Urkunde vom 3. März 1517 vor, die bereits von G. Neumann veröffentlicht worden ist50. Daraus geht hervor, dass nicht nur zu dieser Zeit noch die Sanct Michels Kerchen auff der Steynburck, bey Romhilt vorhanden war und genutzt wurde, sondern dass der über seine finanzielle Not vor Herman von Gotes Gnaden Grave vnd Her' zu Heneberg klagende Hans Grandwer, Bader zu Römhild, Vorsteher der Michaelskapelle war und die Einnahmen dem Stift Römhild zuzuführen hatte 51 . Vermutlich sind im Gedränge der Wallfahrt und beim Einsammeln der Kollekte Münzen verloren gegangen, denn die Grabung erbrachte einige Kleinmünzen, als ältestes Stück einen Brakteaten des 13. Jahrhunderts, weiter Pfennige als Prägung der Grafen von Henneberg, aber auch einen Heller der Freien Reichsstadt Nürnberg sowie einen Magdeburger Halbgroschen. Vereinzelt hatten Spaziergänger bereits im 19. Jahrhundert oberflächig Münzen geborgen; selbst in den 1980er Jahren ist noch einmal ein Henneberger Pfennig gefunden worden. Die Funde werden im Steinsburg-Museum Römhild des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Thüringens verwahrt. Der bei der Ausgrabung angetroffene Zustand der baulichen Reste ist von Götze in einer Foto-

49 Vgl. NEUMANN, Vor- und Frühgeschichte (wie Anm. 8) S. 48, Abb. 20, 1,2,7,11. 50

NEUMANN, D e u t u n g ( w i e A n m . 2 9 ) S. 156.

51 BRÜCKNER, Landeskunde (wie Anm. 47) S. 211: „Die Kapelle, dem heiligen Michael geweiht, war ein Wallfahrtspunkt für die Umgegend. Noch 1517 wurde von Haina aus eine große Wallfahrt dahin gemacht. Damals stand demnach die Kapelle noch; mit der Einfuhrung der Reformation verfiel leider dies Denkmal kirchlichen Sinns. Die Einnahme gehörte dem Stift zu Römhild, das auch den Gottesdienst daselbst besorgte." Vgl. auch Paul KÖHLER, Kirche und Kollegiatstift Römhild (1939). Das Kollegiatstift ist 1450 gegründet worden. Dazu zuletzt: SCHNEIDER, Römhild (wie Anm. 39) S. 78-80 („Das Kollegiatstift").

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DIE MICHAELSKAPELLE AUF DEM KLEINEN GLEICHBERG

grafie festgehalten, die bereits Neumann und Spehr veröffentlichten 52 . Das heutige Denkmal ist das Ergebnis deutlicher Ergänzungen in der Mauerhöhe und vollständig neuer Verfügung. Der Hauptaltar ist nach der Freilegung wieder auf die anzunehmende Höhe ergänzt und die steinerne Altarplatte aufgesetzt worden. Das kirchliche Leben im Umland der Gleichberge setzte früh ein. Nach der Christianisierung, vor allem durch die Missionare Kilian, Totnan und Kolonat von Mainfranken her, werden im 7./8. Jahrhundert bald erste Andachtsstätten errichtet worden sein. Es ist zu vermuten, dass die Kirchen mit dem Martinspatrozinium in Meiningen, Hammelburg, Mellrichstadt (770), Königshofen und in der Salzburg bei Bad Neustadt (741) zur Zeit des Wirkens von Bonifatius begründet worden sind. Am Fuß des Großen Gleichberges erfolgte die Gründung eines ersten Klosters der Benediktinerinnen in Milz bereits 783. Nur 3 km nördlich davon lag die Vorläufersiedlung des heutigen Römhild, das im Jahre 800 erstgenannte Rotmulte. Als dieses Dorf zugunsten der wenig entfernt neu gegründeten Stadt etwa um 1300 aufgegeben wurde, „verblieb oder entstand wenig später an ihrer Stelle ein Spital des hl. Liborius, welches [...] bis 1646 existierte. Zum Spital gehörte auch das >Gotzhus seind Peter< in Altenrömhild - also eine dem hl. Petrus geweihte Kirche - , die 1830 abgebrochen wurde." 53 Dieses Rotmulte wird in einer Urkunde zur Übereignung von Besitzungen durch die Äbtissin Emhilt von Milz an das Benediktinerkloster Fulda 799 oder 800 erstmals genannt; eine dortige Kirche mit dem Peterspatrozinium kann also durchaus auf diese frühe Zeit vielleicht als von Bonifatius veranlasst - zurückgehen. Auch da dürfte es sich zuerst um ein hölzernes Gebäude gehandelt haben. Als dritter Ort am Fuß des Kleinen Gleichberges weist das 839 als Hagenowa erstmals erwähnte Haina zwar eine jüngere Kirche (1315 genannt) auf, das Dorf bildete aber offenbar den Sammelpunkt und Ausgangsort der Wallfahrt zur Michaelskapelle. Die drei dörflichen Siedlungen unmittelbar vor dem Fuß der Gleichberge, dazu das wenig entfernte Sülzdorf, als ostfränkischer Weiler Sulcedorp 784 in einer Schenkung der Äbtissin Emhilt genannt (dessen archäologische Spuren bei den Grabungen bis 1998 als „noch zum Teil vorzüglich erhalten" 54 festgestellt wurden) - das alles lässt auf bereits im 8. Jahrhundert ausgeprägte kirchliche Strukturen schließen, und eine Kapelle St. Michael auf dem die Gegend beherrschenden Berg würde durch-

52 NEUMANN, Steinsburg (wie Anm. 7) S. 709, Abb. 14; SPEHR, Topographie der Steinsburg (wie Anm. 6) S. 36, Abb. 31. 53 SCHNEIDER, Römhild (wie Anm. 39) S. 71. Zu Ausgrabungen im Gebiet der Wüstung Altenrömhild: Wolfgang TLMPEL, Die mittelalterliche Siedlung Altenrömhild, in: Südliches Thüringen (wie Anm. 4) S. 189-193; DERS., Altenrömhild - Rotemulde - Eine mittelalterliche Siedlung im südlichen Thüringen, Alt-Thüringen 29 (1995) S. 129-189. 54 TEICHNER, Sülzdorf (wie Anm. 8) S. 153.

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aus in dieses Bild passen. Das können im ersten Stadium alles Holzbauten gewesen sein, die archäologisch nur selten nachgewiesen werden. In letzter Zeit gelang es, Spuren vermutlich erster kleiner Holzkirchen in anderen Gebieten tatsächlich nachzuweisen. Zu dem bereits angeführten Befund von Sondershausen55 ist ein Gebäudegrundriss von Halle (Saale)/Queis (etwa 12 km östlich der Saale) hinzuzufügen56, der ebenfalls als frühe Holzkirche gedeutet wird. Der U-fÖrmige, nach Westen offene Grundriss befindet sich inmitten eines slawischen Gräberfeldes und wird von den west-ostorientierten Körpergräbern ausgespart57. Die Ausgräberin meint, „daß es sich im Falle des Fundamentgräbchens [...] wohl um die Reste eines Schwellenbaues mit eingegrabenen Längshölzern handelt. Diese Bauweise gilt als jünger als diejenige mit reinen Pfostenbauten. Allerdings datiert der Zeitpunkt dieser Ablösung von Region zu Region erheblich." Hier kann die Zeitstellung nur aus den in den Gräbern noch anzutreffenden Beigaben bzw. Trachtbestandteilen erschlossen werden: „Das Spektrum ergibt [...] die typische Beigabenzusammensetzung des 9.-11. Jh. Somit ist es wahrscheinlich, daß im vorliegenden Fall einer der ältesten christlichen Sakralbauten Sachsen-Anhalts nachgewiesen wurde."58 Erste Holzkirchen muss es in vielen Gebieten Europas in größerer Zahl gegeben haben, wie eine umfangreiche Untersuchung vor wenigen Jahren

55 WALTER, Zeichen (wie Anm. 13) 56 Elke MATTHEUSSER, Das slawische Gräberfeld am Reidebach, in: Ein weites Feld. Ausgrabungen im Gewerbegebiet Halle/Queis, hg. von Harald MELLER / Manuela SCHWARZ und Susanne GLESECKE (Archäologie in Sachsen-Anhalt Sonderband 1, 2003) S. 119 -128. 57 MATTHEUSSER, Gräberfeld (wie Anm. 56) S. 120: „Ausmaße und Form des Baues fugen sich gut in das Bild der bekannten frühchristlichen Kirchengrundrisse ein. Hierbei muß bemerkt werden, daß sehr häufig die Apsis einer Kirche als ältester Teil des Gebäudes mit den in der Wüstung Groptitz aufgefundenen Ausmaßen übereinstimmt. Typologisch würde es sich bei der dortigen Friedhofskapelle um einen chorlosen Saalbau handeln, wie er durchaus in Sachsen-Anhalt gefunden werden kann." Dazu auch Dirk HÖHNE, Dendrochronologische Untersuchungen an romanischen Dorfkirchen des Saalkreises, in: Die mittelalterliche Dorfkirche in den neuen Bundesländern. Forschungsstand - Forschungsperspektiven - Nutzungsproblematik (Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte 3, 2001) S. 51-74. 58 MATTHEUSSER, Gräberfeld (wie Anm. 56) S. 121. Dazu bemerkt die Autorin: „Über den frühchristlichen Holzkirchenbau weiß man leider nur recht wenig. Naturgemäß haben sich solche Strukturen nicht bis in unsere Zeit erhalten. Oft wurde an ihrer Stelle später auch ein Bauwerk aus Stein errichtet, wobei der Bereich der eigentlichen Holzkirche z. T. als Apsis in das spätere Bauwerk integriert wurde." Nach HÖHNE, Dorfkirchen (wie Anm. 57) S. 66, betrug die Standzeit bzw. Nutzungsdauer eines solchen Holzbaues kaum mehr als 50 Jahre; „Zumindest sollte auch die Errichtung eines Steinbaues bereits in der Entstehungsphase einer Ortschaft nicht ausgeschlossen werden [...]."

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aufgezeigt hat 59 . Sie sind nicht immer mit Grabungsbefunden nachgewiesen, sondern oft nur aus zeitgenössischen Schriftquellen zu erschließen. Gerade zwischen dem Oberlauf von Fulda und Werra zeichnet sich eine Gruppe von sieben archäologisch nachgewiesenen Holzkirchen ab 60 , wogegen im Thüringer Becken bisher nur in der Wüstung Gommerstedt eine solche ergraben wurde 61 , und in Mühlhausen ist eine Holzkirche wohl aus dem 14. Jahrhundert erst 1846 abgerissen worden 62 . Dabei ist aber, wie das Beispiel Mühlhausen zeigt, zwischen frühen, mit der Christianisierung entstehenden Holzkirchen und späteren des Hochmittelalters zu unterscheiden. „Aus der frühen Christianisierungsphase ist eine Anzahl von [Holz-] Kirchen bekannt f...]" 63 , die im süddeutschen Raum bereits um 600 oder im 7. Jahrhundert errichtet wurden. Von den archäologisch nachgewiesenen Holzkirchen in Unterfranken liegen drei unweit südlich der Gleichberge und des Grabfeldes 64 . In Altenbanz wird unter der späteren Laurentiuskirche (Grabung 1969) ein frühkarolingischer Holzbau innerhalb eines Gräberfeldes vermutet, der um 800 bestanden haben müsste; in Serrfeld, nur ca. 18 km südlich der Gleichberge, wurden in der bis zum 16. Jahrhundert bedeutenden Wallfahrtskirche (!) St. Maria auf einem Geländesporn, einer ummauerten „Kirchenburg" (Grabung 1978-1979), Spuren zweier aufeinander folgender Holzbauten erkannt, „vermutlich 10. Jh. oder früher (Kreuzamulett des 9.-10. Jh.)", die Maße sind ca. 7 m mal 5,8 m 65 ; in Kleinbrach an der Fränkischen Saale nördlich von Bad Kissingen wurden auf einer Anhöhe in einer Fluss-Schleife (Grabung 1989-1990) die Reste einer Holzkirche von den Fundamenten nachfolgender Steinkirchen St. Dionysii überschnitten, Länge „mindestens 6, Br ca 6 m. Nachfolgerbau: [...] 15 x 8 m Dat.: 9.-11. Jh. [...] Datierung ins frühe 9. Jh. nicht auszuschließen." 66 Zwischen 800 und dem 10.-11. Jahrhundert sind also im Gebiet südlich der Gleichberge frühe Holzkirchen entstan-

59 Claus AHRENS, Die frühen Holzkirchen Europas (2001), dort besonders S. 520 ff.: „Platzkontinuität Holzkirche - Steinkirche" sowie S. 528 f.: „Wechselbeziehungen zwischen Holz- und Steinkirchen". 60 AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) Katalogband S. 364 f., Karte I. 61 Wolfgang TLMPEL, Gommerstedt. Ein hochmittelalterlicher Herrensitz in Thüringen (Weimarer Monographien zur Ur- und Frühgeschichte 5, 1982). 62 AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) Katalogband S. 60. 63 AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) S. 118. 64 Vorromanische Kirchenbauten. Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen, bearb. von Friedrich OSWALD / Leo SCHAEFER und Hans Rudolf SENNHAUSER, hg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München III/l, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1960-1971 (1990); Vorromanische Kirchenbauten (wie oben) Nachtragsband, bearb. von Werner JACOBSEN / Leo SCHAEFER und Hans Rudolf SENNHAUSER (1991) S. 21: Altenbanz, S. 384: Serrfeld; AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) Katalogband S. 7: Altenbanz, S. 46: Kleinbrach, S. 76 f.: Serrfeld. 65 AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) Katalogband S. 76 f. 66 AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) Katalogband S. 46.

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den. In Franken hatte bereits Kilian vor seinem Tod 689 Grundlagen der Missionierung geschaffen, was sicherlich auch den Bau erster Andachtsstätten bewirkte. „Eine neue Phase der Mission begann um 700, als sich fränkische Missionare den rechtsrheinischen Gebieten zuwandten." 67 Was den Kleinen Gleichberg betrifft, so ist es also ziemlich unwahrscheinlich, dass erst in dieser Zeit bzw. im 7. Jahrhundert fränkische Siedler aus westlicher Richtung kommend einen germanischen Wodanskult mitgebracht und hier etabliert haben sollten. Nun wird aber darauf verwiesen, dass die frühen Holzkirchen aus material- und bautechnischen Gründen keine Apsis, sondern einen rechteckigen Altarraum aufweisen 68 . Das trifft auf die genannten, den Gleichbergen benachbarten Beispiele zu, sofern der Grundriss archäologisch nachzuweisen war. Vielfach wird bei einem Nachfolgebau in Stein die Rechteckform für den eingezogenen Chor beibehalten. Doch auch frühe Steinkirchen, bei denen nichts über einen eventuellen Holzvorgänger bekannt ist, zeigen den Rechteckchor 69 . Deshalb sollen hier in die Betrachtung einbezogen werden aus Unterfranken die Beispiele Brendlorenzen und Mellrichstadt, aus Thüringen das wenig entfernte Rohr sowie Camburg. In allen Fällen gibt es einen Rechteckchor 70 ; die Entstehungszeit bewegt sich um das 10. Jahrhundert und die Maße sind, soweit noch zu ermitteln, meistens relativ klein. Folgt man diesen Vergleichsbeispielen und der Begründung, dass dem Rechteckchor zumindest typologisch der hölzerne Rechteckbau voraus geht, dann könnte der ältere, in Lehm gesetzte Rechteckchor der Michaelskapelle etwa dem 9.10. Jahrhundert entstammen und durchaus einen deutlich älteren Holzbau als Vorgänger gehabt haben. Doch zunächst noch zu im Grundriss vergleichbaren kleinen Steinkirchen, denen der (jüngere) Steinbau unserer Michaelskapelle mit seinem einfachen Rechteckgrundriss und (älterem) rechteckigem Altarraum entsprochen haben könnte. Die frühesten in Stein errichteten christlichen

67 AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) S. 119. 68 AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) S. 533: „Zu einer architektonischen Neuerung kam es im Holzkirchenbau aufgrund zimmertechnischer Probleme, indem die bei Steinkirchen geläufige, eingezogene oder mit dem Saal gleich breite Apsis als Rundbau aus Holz derzeit nur schwer in solider Bauweise möglich war. Daher wurde sie als dem Holzbau adäquates eingezogenes Rechteck imitiert. Damit war der eingezogene Rechteckchor entstanden, der dann seinerseits eine außerordentliche Verbreitung gefunden und darüber hinaus entscheidende Rückwirkungen auf den Steinkirchenbau gezeitigt hat [.. .]". 69 OSWALD / SCHAEFER / SENNHAUSER, Kirchenbauten (wie Anm. 64) S. 44: Brendlorenzen, S. 48 f.: Camburg, S. 285 f.: Rohr; JACOBSEN / SCHAEFER / SENNHAUSER, Kirchenbauten (wie Anm. 64) S. 68: Brendlorenzen, S. 271: Mellrichstadt, S. 349: Rohr. 70 Zu den Einzelheiten, Details und Datierung siehe die zitierten Literaturstellen in Anm. 69.

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DIE MICHAELSKAPELLE AUF DEM KLEINEN GLEICHBERG

Kirchen in Mitteleuropa stammen aus vorromanischer Zeit 71 . Sie sind in Thüringen bisher nur an wenigen Stellen nachgewiesen, zahlreicher schon in Unterfranken, dazu in randlicher Lage das südthüringische Rohr. Als im Umkreis der Gleichberge gelegen sind einige bereits genannt worden (vgl. Anm. 69). In Brendlorenzen ist auf einen solchen Grundriss „wohl 10. Jh." zu schließen, nach dem „Typus mit Camburg vergleichbar." 72 In SachsenAnhalt, jedoch westlich der Saale im Nordharzvorland, wurde 2004 der Grundriss einer zu einer bekannten Dorfwüstung gehörenden kleinen frühen Steinkirche mit Hilfe der Geoelektrik prospektiert, die „in den Quellen [...] mehrfach in Zusammenhang mit der Ortschaft Marsleben" überliefert und bereits 1902/03 Ziel einer allerdings nicht dokumentierten Untersuchung gewesen ist73. Das Dorf Marsleben, zu Quedlinburg gehörend und erstmals urkundlich bezeugt Ende des 8. Jahrhunderts (780-802), war spätestens 1399 nach einer Verordnung des Bischofs Rudolf von Halberstadt wüst 74 . Die kleine Peterskirche lag wenige Schritte von der Siedlung entfernt auf einer Terrasse. „Dass die Kirche nicht im Zentrum der mittelalterlichen Siedlung lag, sondern sich vielmehr am Wegesystem orientierte, weist auf eine der frühen Kirchen aus der Zeit der karolingischen Missionierungen hin." 75 Der Bau stellte in der ältesten Phase ein einfaches Rechteck-Schiff dar, allerdings mit kleinem querrechteckigem Westvorbau; ein rechteckiger Chor scheint nachträglich angesetzt, nicht dagegen ein Annex Mitte der Südwand mit 6,5 m mal 6 m welcher wahrscheinlich in Beziehung zu einer Wegfuhrung von der nur 50 m entfernten Siedlung steht. Der Grundriss ist damit als das

71 AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) S. 530: „Insgesamt wird man fiir Mitteleuropa [...] festhalten dürfen, daß die Holzkirchen zu Beginn des jeweiligen christlichen Geschichtsabschnittes deutlich dominierten und Steinkirchen, oft als Platznachfolger ihrer Holzvorgänger, erst in späteren Jahrhunderten überwogen. Wahrscheinlich war das 11. Jahrhundert für diesen Prozeß die entscheidende Phase." 72

OSWALD/SCHAEFER/SENNHAUSER,

Kirchenbauten

(wie

Anm.

64)

S.

44

und

48

f.;

JACOBSEN/SCHAEFER/SENNHAUSER, Kirchenbauten (wie Anm. 64) S. 68. 73 Udo EWERS, Die Peterskirche von Marsleben, in: Archäologie XXL. Archäologie an der B6n im Landkreis Quedlinburg [Bundesstraße 6 neu, Anm. d. Vf.], hg. von Harald MELLER (Archäologie in Sachsen-Anhalt Sonderband 4, 2006) S. 200-201. Gustav Heinrich BRECHT, Das Gebiet des vormaligen Reichsstiftes Quedlinburg mit Angabe der Wüstungen, des Landgrabens und der wichtigsten Flurnamen, in: Urkundenbuch der Stadt Quedlinburg, bearb. von Karl JANICKE (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 2, 2, 1882), S. XCIX. Die Stelle der Peterskirche war 1902/03 Ziel einer Grabung der Quedlinbuger Ortsgruppe des Harzvereins; die Ergebnisse wurden von Karl SCHIRWITZ und Hermann LORENZ zwischen 1926 und 1962 in Einzelheiten veröffentlicht, siehe die ältere Literatur bei WOZNIAK, Wüstung (wie Anm. 74) S. 277 ff. 74 Thomas WOZNIAK, Die Wüstung Marsleben. Historischer Überblick anhand der schriftlichen Quellen, in: MELLER, Archäologie XXL (wie Anm. 73) S. 192-193 sowie S.277284. 75 EVERS, Peterskirche (wie Anm. 73) S. 200.

BERND W . B A H N

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Grundschema der romanischen Saalkirchen zu bezeichnen, wobei der Chor bereits eine spätere Zutat darstellt. Ein Gemeinsames vieler der ältesten Kirchen scheinen die Abmessungen zu sein. Das ergibt auch ein Blick nach Mittelthüringen 76 . Am Beispiel von St. Nikolai in Hausen (im Wipfratal südöstlich von Arnstadt) wird aufgezeigt: „Der erste steinerne Kirchenbau entstand wie in den meisten anderen Orten dieser Region im 12. Jahrhundert. Es handelte sich um eine kleine Saalkirche mit Apsis auf einer Grundfläche von etwa 9,0 x 6,50 m [...] Der Zugang erfolgte von der Nordseite aus über ein heute zugesetztes Portal [,..]"77 Das Letztere entspricht dem „älteren" vermauerten Portal unserer Michaelskapelle. Die Abmessungen sind denen der Römhilder Michaelskapelle (ohne den [älteren] Rechteckbau im Osten) ganz ähnlich. Schließlich soll hier noch die älteste (ergrabene) Michaelskirche in Jena einbezogen werden, auf welche der Jubilar erst kürzlich im Zusammenhang mit der Geschichte der heutigen Stadtkirche St. Michael ausführlich eingegangen ist 78 . Nach den Grabungen von Gotthard Neumann im Kircheninneren ergab sich dort ein ältestes steinernes „Saalkirchlein" mit einem Chor von etwa 3 m Länge und 4 m Breite an einem „kleinen Saal von unbekannter Länge und Breite." Nach der Grabungszeichnung ist immerhin auf eine Breite des Saalbaues von etwa 6 m zu schließen, datiert wird dieser Bau jetzt in das 11. Jahrhundert 79 . Ohne Anspruch auf statistische Breite seien die wenigen zitierten Beispiele älterer Holzkirchen, Steinbauten mit hölzernem Vorgänger und älterer Steinkirchen mit Rechteckchor hier einmal zusammengestellt:

76 Udo HOPF/Rainer MÜLLER, Befestigte Kirchen in Mittelthüringen. Formen der Befestigung an spätmittelalterlichen Dorfkirchen, in: Die mittelalterliche Dorfkirche in den neuen Bundesländern II. Form - Funktion - Bedeutung (Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte 8, 2006) S. 51-80. 77 HOPF/MÜLLER, Kirchen (wie Anm. 76) S. 71 f. 78 WERNER, Anfänge (wie Anm. 1) S. 10 f. mit Anm. 6 u. 7; S. 49, dort die forschungsgeschichtlichen Details mit der bisherigen Literatur. Zur aktuellen Datierung des ältesten, von G. Neumann 1953/54 ergrabenen Grundrisses jetzt die Erkenntnis von Matthias RUPP, Referat am 8. Juni 2000 im Rahmen eines öffentlichen Seminars „Jena im Mittelalter: Die Bürger und ihre Stadt", das im Sommersemester 2000 durch den Jubilar veranstaltet wurde, vgl. WERNER, Anfänge (wie Anm. 1) S. 9-11 mit Anm. *, 7 und 10. 79 Gotthard NEUMANN, Vorläufiger Bericht über die Stadtkernforschung in Jena von 1953 bis 1956, Ausgrabungen und Funde 1 (1956) S. 289-294, DERS., Archäologische Untersuchungen in der Stadtkirche St. Michaelis zu Jena, in: Aus zwölf Jahrhunderten. Einundzwanzig Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte (Thüringer kirchliche Studien 2, 1971) S. 59-69; WERNER, Anfänge (wie Anm. 1) S. 9 f. mit Anm. 3, 6 und 7.

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D I E M I C H A E L S K A P E L L E A U F DEM K L E I N E N G L E I C H B E R G

Sondershausen, Friedhof spätes 7./frühes 8. Jh., Holzbau Peißen, Wüstung Gruptitz-Süd, Gräberfeld 9.-11. Jh., Holzbau Altenbanz, frühkarolingisches Gräberfeld, um 800, Holzbau vermutet Kleinbrach, Anhöhe m. nachfolg. Steinkirche, frühes 9.-11. Jh., Holzbau nachfolgender Steinbau Serrfeld, Wallfahrtsort, 2 Holzkirchen, vermutlich 10. Jh. Quedlinburg, Wüstung Marsleben, Ende 8./9. Jh., Steinbau 12. Jh. Römhild, Michaelskapelle, 8./9. Jh.?, Steinbau 12. Jh.? davon älterer Steinbau der Ostseite Rohr, Pfalz(?)kirche, Steinbau, Krypta „eindeutig 10. Jh." Brendlorenzen, Steinbau, „eher 974", mit Camburg vergleichbar Mellrichstadt, Steinbau, Friedhof 8./9. Jh., Bau des 11. Jh. Jena, Stadtkirche, ältester Steinbau 11. Jh. (?) Hausen, Dorfkirche, Steinbau 12. Jh., Rechteckchor n. Mitte 14. Jh. Eisenach, Kapelle St. Clemens, älterer Rechteckchor, Steinbau 12. Jh. Rechteckchor

10,25 m x 5,10 m 7,60 m x 7,0 m

ca. 6,0 m x 6,0 m 15,0 m x 8,0 m ca. 7,0 m x 5,8 m 19,50 m x 9,25 m 13,25 m x 5,90 m 5,20 m x 4,80 m 20,60 m x 8,75 m älteste Maße unklar 15,0 m x 4,30 m etwa 6,0 m

etwa 9,0 m x 6,50 m etwa 6,30 m x 4,90 m (Innenmaße 5,92 m x 4,47 m) etwa 6,0 m x 3,0 m (Innenmaße 5,56 m x 2,76 m)

Der jüngere Bau der Michaelskapelle erreichte also etwa 8 m Länge, ein älterer Vorgängerbau der Peterskirche Marsleben dürfte ebenfalls kleiner gewesen sein als der ergrabene Grundriss, der ohne den Westvorbau bereits ca. 16,40 m lang ist und somit nicht den ursprünglichen Bau aus spätkarolingisch-frühottonischer Zeit verkörpert. Damit sei unter Vorbehalt aus diesen wenigen Beispielen gefolgert, dass eine Entwicklung erster Andachtsstätten mit kleinen (Holz-) Bauten von etwa 6-8 m mal 5-7 m begonnen haben könnte, denen vielleicht nur wenig größere Steinbauten folgten, deren Größe in Gestalt der meisten Kapellen und Dorfkirchen im 11./12. Jahrhundert Maße um 6-15 m mal 4-9 m erreichte. Für den älteren in Lehm gesetzten Steinbau im Ostteil der Michaelskapelle bleibt dennoch offen, wann er errichtet wurde und ob er auf einen hölzernen Vorgänger (mit vergleichbaren Maßen?) folgte. Seine Maße und die Rechteckform sprechen dabei sehr für

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eine frühe Ausführung in Stein auf dem Grundriss eines gleichgroßen hölzernen Vorgängers (vgl. Anm. 71). Der Übergang von der Holz- zur Steinbauweise begann frühestens am Ende der Karolingerzeit und zwar zuerst bei wenigen bedeutenderen Sakralbauten. Dafür kommen zur Zeit Karls des Großen in einiger Entfernung von Südthüringen nur Hersfeld, Fulda und Schlüchtern in Betracht, weiter entfernt im Norden Halberstadt; als nur schriftlich belegte frühe Steinbauten außerdem Rohr (s. u.), Milz und Einfirst 80 . Diese frühen Kirchen aus dem späten 8. Jahrhundert hatten mitunter an der Westseite einen befestigt wirkenden turmfÖrmigen Bau; in dem Westwerk sei der Aufenthaltsort des Erzengels Michael gewesen, der dem Kirchenbau seinen Schutz gab und die Priester wie die Gemeinde, wenn sie zum Gebet nach Osten gewandt waren, im Rücken vor Dämonen aus dem Westen schützte. Ähnlich früh muss die Klosterkirche im wenig entfernten Rohr entstanden sein, von der sich aber nur die bedeutende Krypta erhalten hat (s. u.). Eine weitere wesentliche Veränderung an vielen Kirchen hat sich um die Jahrtausendwende vollzogen, als sich vielerorts in Europa die Vorstellung von einem Neubeginn ausbreitete 81 . In der Folgezeit bis zum 12. Jahrhundert dürften viele der kleinen Dorfkirchen, Wallfahrts- und Wegekapellen errichtet worden sein, denn die bereits im heutigen Sinne als Innovationen zu bezeichnenden Entwicklungen nach 1000, die „zwar die großen gesellschaftlichen Wandlungen und Umbrüche des späteren 11. und dann des 12. und 13. Jahrhunderts in manchen Bereichen wesentlich mit vorbereiteten", die aber „in der konservativeren Mentalität der ottonisch-frühsalischen Epoche manchmal nur zögernd Eingang fanden", haben der Steinbauweise, wenn auch noch nicht im bäuerlichen und frühstädtischen Wohnbau, zum Durchbruch verholfen 82 . Das Aussehen der Michaelskapelle bis zu ihrem Ende im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts lässt sich vielleicht am besten veranschaulichen mit der allerdings erst aus dem 13. Jahrhundert stammenden Clemenskapelle in Eise-

80 Zu Einfirst an der Fränkischen Saale bei Euerdorf, 5 km nordöstlich von Hammelburg: BOSL, Franken (wie Anm. 22) S. 38 mit Anm. 159. 81 Der burgundische Chronist und wandernde Mönch Rodulfus GLABER (980-1050) kennzeichnete das mit folgenden Worten: „Als das dritte Jahr nach dem Jahrtausend ins Land zog, wurden fast überall auf der ganzen Erde [...] die Kirchen umgebaut; nicht etwa wegen Baufalligkeit - die meisten waren sogar recht gut erhalten - sondern weil jede christliche Gemeinde [...] eine noch prächtigere besitzen wollte als die Nachbargemeinden. [...] Damals wurden fast sämtliche Kirchen der Bischofssitze, die den verschiedenen Heiligen geweihten Klosterkirchen, j a selbst die Dorfkirchlein von den Gläubigen schöner wiederaufgebaut." Zitiert nach Friedrich PRINZ, Grundlagen und Anfange. Deutschland bis 1056 (Neue Deutsche Geschichte 1, 2 1993) S. 317. 82 PRINZ, Grundlagen (wie Anm. 81) S. 318.

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D I E MICHAELSKAPELLE AUF DEM KLEINEN GLEICHBERG

nach 83 . Dieses kleine Kirchlein, das 1966 eine Dachneudeckung und Außenputzerneuerung bekam 84 , hat dennoch ganz sein mittelalterliches Erscheinungsbild bewahrt. Heute steht diese Kapelle im Stadtgebiet nordöstlich vom Bahnhof in einer Gabelung der Bundesstraßen 7 und 84, lag aber ursprünglich mit ca. 450 m Entfernung deutlich nordöstlich außerhalb der mittelalterlichen Stadt und zwar am Verlauf der durch Eisenach fuhrenden Via regia auf dem Abschnitt Rennsteig / Vachaer Stein (372 m) - Vachaer Berg Eisenach, Bahnhofstraße - Clemensstraße / Clemenskapelle-Langensalzaer Straße / Bundesstraße 84. Ein ähnlich aussehendes, dem Erzengel Michael geweihtes Bauwerk auf dem Kleinen Gleichberg war bis um 1517 Ziel von Wallfahrten. Danach setzte die Reformation fast überall in Thüringen dem Wallfahrt-Gedanken überhaupt ein Ende. Das Kirchlein war dann offenbar verwaist und soll 1527 durch Blitzschlag in Brand geraten und anschließend weitgehend verfallen sein, so dass die Umfassungsmauern Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch in geringer Höhe aus dem Boden ragten (vgl. Anm. 40). Wenn sich heute noch allein aus der „Landeskunde [...]" von Georg Brückner etwa vierzig Wallfahrtskapellen für Südthüringen erschließen lassen 85 , zeigt das den Umfang des mittelalterlichen Wallfahrt-Brauchs in dieser Landschaft. Zum Schluss soll hier noch kurz die vom Kleinen Gleichberg nur 20 km entfernte Kirche gleichen Patroziniums in Rohr, wenngleich kein Wallfahrtsziel, einbezogen werden. Dort ist die dem Kloster Fulda unterstehende Michaeliskirche im Jahre 825 zum ersten Mal erwähnt, wobei es sich nur um die Kirche des auf Königsgut errichteten Klosters handeln kann; dieses (Tnonasterium) wurde 824 erstmals in einer Fuldaer Urkunde genannt, die in Rohr ausgestellt worden ist 86 . Auch hier befindet sich die Kirche (von der es nur noch die Krypta gibt 87 ) und befand sich vermutlich die Pfalz auf einer

83 Georg VOSS, Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens. Grossherzogthum Sachsen-WeimarEisenach. Die Stadt Eisenach, bearb. von Paul LEHFELD (O. J.) S. 288 f.; Die Wartburgstadt Eisenach, hg. von Janson und Erwin STEIN (Monographien deutscher Städte 32, 1929) S. 14; Kirchen im Eisenacher Land. Folge 1: Die evangelischen Kirchen Eisenachs (Eisenacher Heimatbücher 6, 1939); Gerd BERGMANN, Ältere Geschichte Eisenachs von den Anfängen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (1994) S. 58. 84 Denkmale in Thüringen. Ihre Erhaltung und Pflege in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl. Erarbeitet im Institut für Denkmalpflege, Arbeitsstelle Erfurt (1973; 3 1975) S. 301. 85 KÜHNE, Landesheiligtümer (wie Anm. 47). 86 Otto DOBENECKER, Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae 500-1288, 4 Bde. (1896-1939), Bd. 1 Nr. 137. - SCHULZE, Pfarrorganisation (wie Anm. 11) S. 49. 87 Gerhard LEOPOLD, Zur frühen Baugeschichte der Michaelskirche in Rohr. Ein Vorbericht, in: Bau- und Bildkunst im Spiegel internationaler Forschung. Festschrift für Edgar Lehmann (1989) S. 27-34; DERS., Zur frühen Baugeschichte der Michaelskirche in Rohr, besonders zum Problem der Westempore, in: Denkmalkunde und Denkmalpflege. Wissen und Wirken. Festschrift für Heinrich Magirius zum 60. Geburtstag 1. Februar 1994 (1995) S. 53-62.

BERND W . BAHN

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Anhöhe, und zwar in Nähe eines überregionalen Fernverkehrsweges, der vom Thüringer Wald herunter kommend, hier in das Haseltal hinab steigt, um das Werratal querend über die Salzbrücke zur Grabfeldpforte bei Bibra weiter zu führen. Es handelte sich folglich um einen für Reisende bedeutsamen Ort, dem der Schutz des Erzengels Michael gelten sollte. Wenngleich mit ihrer bemerkenswerten Krypta einen ganz anderen Rang einnehmend, könnte es sich hier um die Zeit handeln, in der auch das Patrozinium der Kapelle auf dem Kleinen Gleichberg begründet wurde. In Rohr wird es der Fernweg gewesen sein, dessen lange Tradition und Frequentierung im 8. Jahrhundert zu Kirche, Michaelspatrozinium und schließlich der ottonischen Pfalz auf der letzten Anhöhe vor Erreichen der südlichen Täler, wenn man vom Thüringer Wald herunter kommt, führte. Am Fuß der Gleichberge mag eine Besiedlungstradition von den germanischen Siedlern am Beginn unserer Zeitrechnung herrühren, dazu eine „erneute Überlagerung durch Elbgermanen im Verlauf des 3. Jh."; eine „denkbare Kontinuität hin zu dem derzeit frühestens in das 8. Jh. zu datierenden frühdeutschen Siedlungsmaterial" ist „nicht ganz auszuschließen", kann aber vorerst nicht archäologisch belegt werden (vgl. Abb. 5 zu diesem Beitrag im Bildteil). Eine zeitliche Brücke für den Besiedlungsgang deutet vielleicht eine 14 C-Probe aus der Siedlungsgrube B 173 der Ausgrabung Sülzdorf an, die calibriert 535 n. Chr. +/- 62 ergab. Dabei mag die Siedlungsabfolge durchaus „weniger kontinuierlich" gewesen sein, als an den Funden (vielfach Streu- bzw. Oberflächenfunde) erkennbar zu sein scheint 88 . Von 535 bis zum ostfränkischen Weiler Sulcedorp von 784 sind es dann gerade 250 Jahre, in denen eine Verehrung Wotans angesichts des Berggipfels mehr als 300 m über der Sülzdorf-Haina-Römhild-Milzer Ebene noch immer lebendig gewesen sein kann, bis ihn der Erzengel Michael kraftvoll vom Gipfel vertrieb. Die protestantische Reformation brachte wieder siebenhundert Jahre später das Ende für die kleine christliche Wallfahrtskapelle. Uns Heutigen sind nach nochmals fünfhundert Jahren die steinernen Rudera des Kirchleins geblieben, die scheinbar ungestörte Natur der Buchenwälder und Basaltblockmeere, dazu die einmalige Fernsicht vom südlichen Thürin-

88 TEICHNER, Sülzdorf (wie Anm. 8) S. 152. - Zum Schluss soll aber bezüglich Michaelskapelle und möglichem heidnischem Kultplatz betont werden, dass hinsichtlich der frühen Holzkirchen eine „Platzkontinuität Holzkirche - Steinkirche" zwar naheliegend erscheint und in zahlreichen Fällen auch nachgewiesen ist, vgl. AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) S. 520 ff., jedoch sei eine „Heidnisch-christliche Kultplatzkontinuität" allgemein sehr in Frage zu stellen: „[...] läßt sich feststellen, daß es zwar zahlreiche mehr oder minder gute Indizien dafür zu geben scheint, daß heidnische Kultplätze dadurch für das Christentum vereinnahmt wurden, daß man dort eine Kirche baute. Aber es gibt bisher keinen zweifelsfrei beweiskräftigen archäologischen Befund. Das sollte bei der immerhin beträchtlichen Zahl guter Grabungsbefunde bedenklich stimmen.", AHRENS, Holzkirchen (wie Anm. 59) S. 5 1 9 .

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D I E MICHAELSKAPELLE AUF DEM KLEINEN GLEICHBERG

gen weit nach Franken hinein und nicht zuletzt das Wissen um geschichtliche Tiefe an diesem Ort89.

89 Für fachliche und Literaturhinweise, Hilfe und Anregungen danke ich ganz herzlich Frau Dr. Petra Weigel, Frau Edith Liebenow sowie den Herren Dr. Stefan Tebruck, Dr. Wernfried Fieber, Dr. Hartmut Kühne und Reinhard Schmitt.

HELGE WITTMANN

Zur Rolle des Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern in Thüringen (bis zum Ende der Regierungszeit Karls des Großen)* I. Der dux Heden - II. Der Ohrdrufer Grundherr Hugo und der vir magnificus Albold III. Die Gunther-Asulf-Sippe - IV. Der Geisenheimer Alwalah - V. Reginhilt von Heringen und Graf Katan - VI. Die Teutlebener Klostergründerin Gertrud - VII. Die Sippe des comes Asis - VIII. Ergebnisse

Bezeichnenderweise stellte der Historienmaler Peter Janssen (1844-1908) bei seiner Ausmalung des Erfurter Rathaussaales mit Schlüsselszenen der Stadtund Landesgeschichte (1878-1881) das Fresko „Bonifatius fällt eine dem heidnischen Kult geweihte Eiche" an den Beginn seines Zyklus'1. Die Christianisierung stand so am Anfang der Geschichte Thüringens. Janssens Darstellung bündelt das Geschehen in einer dramatischen Szene, als der heilige Baum gerade unter den kräftigen Axthieben des Missionars gefallen und

*

1

Nachfolgend aufgeführte Quellenwerke und Hilfsmittel werden wie folgt zitiert: Breviarium s. Lulli (mit S. und Z.): Breviarium sancti Lulli. Ein Hersfelder Güterverzeichnis aus dem 9. Jahrhundert. Faksimileausgabe, besorgt von Thomas FRANKE (1986). Dehio Thüringen (mit S.): Georg Dehio. Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Thüringen, bearb. von Stephanie EißING / Franz JÄGER u. a. (1998). Codex Eberhardi (mit S.): Der Codex Eberhardi des Klosters Fulda. 2 Bde., hg. von Heinrich MEYER ZU ERMGASSEN (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 58, 1995/96). CDF (mit Nr.): Codex Diplomaticus Fuldensis, hg. von Ernst Friedrich Johann DRONKE (1850). DLdD (mit Nr.): Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren (Ludowici Germanici, Karlomanni, Ludowici Iunioris Diplomata), hg. von P[aul] KEHR (MGH DD Dt. Karolinger 1, 1934). Epp. Bonifatii et Lulli (mit Nr.): Briefe des Heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Michael TANGL (MGH. Epp. sei. 1, 1916). FW (mit Bd. und S.): Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter. 3 Bde. in 5 Teilen, hg. von Karl SCHMID (Münstersche Mittelalter-Schriften 8, 1978). FWGV (mit Nr.): Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter 3: Vergleichendes Gesamtverzeichnis der Fuldischen Personennamen, hg. von Karl SCHMID (Münstersche Mittelalter-Schriften 8, 3, 1978). Königspfalzen Thüringen (mit S.): Die Deutschen Königspfalzen 2: Thüringen, bearb. von Michael GOCKEL (Die Deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigen Aufenthaltsorte der Könige im deutschen Reich des Mittelalters, 2000). UB Fulda (mit Nr.): Urkundenbuch des Klosters Fulda 1 (Die Zeit der Äbte Sturmi und Baugulf), bearb. von Edmund E. STENGEL (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 10, 1, 1958). UB Hersfeld (mit Nr.): Urkundenbuch der Reichsabtei Hersfeld 1/1, bearb. von Hans WEIR1CH (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 29, 1, 1936). Wampach (mit Nr.): Camille WAMPACH, Geschichte der Grundherrschaft Echternach im Frühmittelalter I, 2: Quellenband (1930). Vgl. Bodo FISCHER, Die Gemälde im Erfurter Rathaus (1991) S. 23 mit Abb. S. 86 f.

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Z U R ROLLE DES ADELS BEI DER STIFTUNG VON KIRCHEN

der Glaube der Heiden an die Allmacht ihrer Götter schwer erschüttert ist. Das ist der Moment, in dem das Wort des einzig wahren Gottes verkündet wird und wie ein fruchtbares Samenkorn auf gerodete Fläche fallt. Das unmittelbar Bevorstehende lassen Haltung und Gestus der dargestellten alten Thüringer erahnen: Bald schon werden sie ihre Häupter neigen, die Knie beugen und die Taufe empfangen. Schwach und ohnmächtig droht nur noch von Ferne die heidnische Reaktion der Verstockten, die die Wahrheit nicht erkennen wollen und die stattdessen den Verkünder des wahren Glaubens mit Gewalt, gar dem Tod bedrohen. Die Unerschrockenheit des Missionars, sein festes Gottvertrauen und der in diesem mutigen Werk von Tat-Mission erbrachte Beweis der Überlegenheit des Christengottes lassen aber keinen anderen Schluss zu, als dass die Thüringer alsbald schon durch Bonifatius vollständig bekehrt sein werden. Die Forschung hat längst solch romantische, gleichwohl lange Zeit sehr populäre Vorstellungen von der Christianisierung Thüringens hinter sich gelassen. Die Welt, in die der Angelsachse Winfried Bonifatius (672/75-754) eintrat, als er ab 723/24 mit seinem missionarischen und kirchenorganisatorischen Werk in Thüringen begann, war keineswegs vom Christentum unberührt. Sein Wirken war nicht bestimmt durch das Fällen von Donareichen in heidnischer Einöde. Unser Bild von den Anfängen, dem Verlauf und den Trägern der Christianisierung Thüringens ist heute dank einer jahrzehntelangen Forschung wesentlich differenzierter 2 , wozu Matthias Werner mit mehreren Studien maßgeblich beigetragen hat3. Dabei ist etwa in jüngerer Zeit -

2

In Auswahl seien genannt: Rudolf HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte 1 (1937) S. 1 ff.; Heinrich BÜTTNER, Die Franken und die Ausbreitung des Christentums bis zu den Tagen von Bonifatius, Hessisches Jb. für Landesgeschichte 1 (1951) S. 8-24; Theodor SCHIEFFER, Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas (1954), hier bes. S. 88 ff. und S. 150 ff.; Walter SCHLESINGER, Das Frühmittelalter, in: Geschichte Thüringens 1: Grundlagen und frühes Mittelalter, hg. von Hans PATZE / Walter SCHLESINGER (Mitteldeutsche Forschungen 48, 1, 2 1985) S. 316-380, S. 342 ff.; Eugen EWIG / Knut SCHÄFERDIEK, Christliche Expansion im Merowingerreich, in: Kirchengeschichte als Missionsgeschichte 2: Die Kirche des frühen Mittelalters 1, hg. von DEMS. (1978) S. 134 ff.; Karl HEINEMEYER, Die Gründung des Klosters Fulda im Rahmen der bonifatianischen Kirchenorganisation, Hessisches Jb. für Landesgeschichte 30 (1980) S. 1-45; Hans EBERHARDT, Zur Frühgeschichte des Christentums im mittleren Thüringen, in: Thüringen im Mittelalter. Die Schwarzburger, bearb. von Lutz UNBEHAUN (Beiträge zur schwarzburgischen Kunst- und Kulturgeschichte 3, 1995) S. 7-28; Lutz E. VON PADBERG, Die Christianisierung Europas im Mittelalter (Universal-Bibliothek 17015, 1998) S. 80 ff., und DERS., Bonifatius. Missionar und Reformer (2003) S. 34 ff.

3

Vgl. Matthias WERNER, Die Gründungstradition des Erfurter Petersklosters (VuF Sonderbd. 12, 1973) S. 7 ff.; DERS., Iren und Angelsachsen in Mitteldeutschland. Zur vorbonifatianischen Mission in Hessen und Thüringen, in: Die Iren und Europa im frühen Mittelalter, hg. von Heinz LÖWE (Veröffentlichungen des Europa Zentrums Tübingen. Kulturwissenschaftliche Reihe, 1982) Teilbd. 1, S. 239-318, hier bes. S. 278-297; DERS., Gab es ein klösterliches Leben auf dem Erfurter Petersberg schon im Frühmittelalter?, in: 700 Jahre Erfurter

HELGE WITTMANN

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ausgehend von den Ergebnissen mehrerer Einzelstudien - stärker als zuvor die Bedeutung der adeligen Führungsschicht für das erfolgreiche Wirken der angelsächsischen Missionare in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts sowie für die Christianisierung Thüringens insgesamt betont worden4. Hier setzt in Adaption eines Aufsatztitels des verehrten Lehrers5 der nachfolgende Beitrag seines Schülers ein, der sich dabei gern an das für ihn so folgenreiche Hauptseminar im Wintersemester 1994/95 erinnert, in dem er für derlei Themen gewonnen worden ist. Im Folgenden soll die erst mit dem Beginn des Wirkens angelsächsischer Missionare in Thüringen und den nachfolgenden Erwerbungen der Klöster Fulda (gegründet 744) und Hersfeld (gegründet 769/75) in größerem Umfang einsetzende schriftliche Überlieferung auf Nachrichten zu adeligen Kirchenbesitzern bzw. zur Mitwirkung von Adeligen an Kirchen- und Klostergründungen durchgesehen werden. Unter Hinzuziehung weiterer Quellen sollen dann Rang und Bedeutung derjenigen Personen näher bestimmt werden, die in entsprechenden Zusammenhängen begegnen. Dabei ist insbesondere nach den verwandtschaftlichen Bindungen einzelner Stifter zu fragen, um über die Einzelperson hinaus adelige Verwandtschaftskreise namhaft machen zu können, deren Anteil an der Christianisierung, insbesondere am Aufbau langfristig wirkender kirchlicher Strukturen zu bestimmen ist. Bei der bekanntermaßen großen Bedeutung adeliger Eigenkirchen6 für die Entstehung des hoch- und Peterskloster. Geschichte und Kunst auf dem Erfurter Petersberg 1103-1803 (Jb. der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten 2003, 2004) S. 44-53; DERS., Die Ersterwähnung Arnstadts 704 im „Liber aureus" des Klosters Echternach. Arnstadt, Herzog Heden und die Anfange angelsächsischen Wirkens in Thüringen, in: DERS., „in loco nuncupante Arnestati". Die Ersterwähnung Arnstadts im Jahre 704 (2004) S. 9-23, und DERS., Historische Einführung: Der Raum um Arnstadt und Gotha im frühen und hohen Mittelalter, in: Romanische Wege um Arnstadt und Gotha. Ein Gemeinschaftsprojekt der Jugendstrafanstalt Ichtershausen und der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hg. von DEMS. unter Mitarbeit von Nici GORFF / Ingrid WORTH (2007) S. 17-58, S. 19 ff. Auf Studien WERNERS, in denen Einzelaspekte angesprochen sind, wird im weiteren Verlauf verwiesen werden. Bislang ungedruckt geblieben sind seine Vorträge zur bonifatianischen Mission insbesondere in Thüringen, die im Jubiläumsjahr 2004 gehalten worden sind. 4

Vgl. Michael GOCKJEL, Die Franken in Althessen. Interdisziplinäre Ansätze frühmittelalterlicher Geschichtsforschung, in: Fünfzig Jahre Landesgeschichtsforschung in Hessen, hg. von Ulrich REUUNG / Winfried SPEITKAMP (Hessisches Jb. für Landesgeschichte 50, 2000) S. 5 7 - 7 6 , S. 7 4 f f ; M a t t h i a s WERNER, E r f u r t e r P e t e r s b e r g ( w i e A n m . 3 ) S. 4 8 f.; DERS.,

Thüringen im Mittelalter. Ergebnisse - Aufgaben - Perspektiven, in: Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, hg. von DEMS. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 13, 2 0 0 5 ) S. 2 7 5 - 3 4 1 , S. 3 1 1 f f .

5

6

M[atthias] WERNER, Zur Rolle des fränkischen Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern im mittleren Maasgebiet, in: Sint-Servatius bisschop von Tongeren-Maastricht. Het vroegste Christendom in het Massland (1986) S. 97-118. Zum Terminus und aktuellen Forschungsstand vgl. Enno BÜNZ, Eigenkirche, in: HRG 1, 6, hg. von Albrecht CORDES u.a. (2. völlig neu bearb. Aufl., 2008, im Druck).

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spätmittelalterlichen Pfarreinetzes will die vorliegende Studie auch einen Beitrag zur weiteren Erforschung der Anfänge und der Grundlagen der Thüringer Pfarreiorganisation leisten7. Die zeitliche Beschränkung dieser Untersuchung ist maßgeblich der Überlieferungssituation geschuldet, die sich vom 2. Viertel des 9. Jahrhunderts an mit Blick auf die hier zu untersuchenden Verhältnisse zusehends verschlechtert. Die Studie umfasst dabei jedoch den gesamten Zeitraum der festeren Integration Thüringens in das Frankenreich, die vom Hausmeier Karl Martell (717/20-741) begonnen und von Karl dem Großen (768814) zum vorläufigen Abschluss gebracht worden ist und die insbesondere über eine intensivierte kirchliche Durchdringung des Landes betrieben worden ist8.

I. Der dux Heden Das früheste Zeugnis für adelige Stiftertätigkeit in Thüringen stellt die am 1. Mai 704 ausgestellte Schenkungsurkunde Herzog Hedens dar, mit der umfangreiche Güter in Arnstadt, Mühlberg (ca. 10 km nw. Arnstadt) und (Groß-) Monra (ca. 5,5 km nö. Kölleda) an den angelsächsischen Missionar und Erzbischof Willibrord (657/58-739) übergeben wurden9. Der Herrschaftsbereich jenes Heden umfasste im frühen 8. Jahrhundert Mainfranken, das Grabfeld und ganz Thüringen10. Die Anfänge dieser, die genannten Räume integrie-

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Hierzu immer noch maßgeblich Hans K. SCHULZE, Die Entwicklung der thüringischen Pfarreiorganisation im Mittelalter, BDLG 103 (1967) S. 32-70, und DERS., Die Kirche im Hoch- und Spätmittelalter, in: Geschichte Thüringens 2, 2: Hohes und spätes Mittelalter, hg. von Hans PATZE / Walter SCHLESINGER (Mitteldeutsche Forschungen 48, 2, 2, 1973) S. 50149, hier S. 56 ff. Zur politischen Geschichte Thüringens von der Eroberung des Landes durch die Franken in den 530er Jahren bis in karolingische Zeit immer noch maßgeblich SCHLESINGER, Frühmittelalter (wie Anm. 2) S. 316 ff. Zum aktuellen Forschungsstand vgl. die knappe Zusammenfassung von Matthias WERNER, Thüringen und die Thüringer zwischen Völkerwanderungszeit und Reformation. Die mittelalterlichen Grundlagen von Vielfalt und Einheit in der thüringischen Geschichte, in: Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen. Texte einer Vortragsreihe zu den Grundzügen thüringischer Geschichte, hg. vom Thüringer Landtag und der Historischen Kommission für Thüringen (1999) S. 11-42, S. 12 f f , und den Forschungsbericht von DEMS.., Thüringen im Mittelalter (wie Anm. 4) S. 310 ff.

Wampach Nr. 8, S. 29-31. Neu abgedruckt in: WERNER, Ersterwähnung Arnstadts (wie Anm. 3) S. 6 (mit Übersetzung ebd. S. 7). Hieraus im Folgenden zitiert. Die Urkunde überliefert abschriftlich die Chartularchronik des Klosters Echternach, der sog. Liber aureus Eptemacensis (Forschungsbibliothek Gotha, Memb. I 71, fol. 35r - 35v), in seiner älteren Eintragschicht von ab 1191. Zur Überlieferung vgl. WERNER, Ersterwähnung Arnstadts (wie Anm. 3) S. 9 und S. 19-22 mit Abb. der Abschrift der Heden-Urkunde von 704 S. 4 f. Vgl. zur Identifizierung des in der Urkunde genannten Monhore mit Großmonra Michael GOCKEL, Ohrdruf, in: Königspfalzen Thüringen S. 386-401 und S. 704, S. 397. 10 Aus der umfangreichen Literatur zur Person und Familie Hedens, seiner Herzogsherrschaft

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renden herzoglichen Gewalt sind kaum sicher zu erschließen. Doch war Heden jedenfalls nicht, wie in der Forschung immer wieder erwogen, mit dem von König Dagobert I. (623-639) eingesetzten Thüringerherzog Radulf verwandt11, wohl aber hat er in Mainfranken nachweislich das Erbe herzoglicher Vorfahren angetreten. Der Umstand, dass Hedens Gemahlin Theodrada hieß und ihrer beider Sohn den programmatischen Namen Thuring führte, begründet die Annahme, dass die Einbeziehung Thüringens in den Herrschaftsbereich des mainfränkischen Herzogs über eine Eheschließung erfolgt war, so dass Heden jenseits von Thüringer- und Frankenwald vielleicht die Nachfolge eines aus der Überlieferung namentlich bekannten Herzogs Theotbald angetreten hat, der dann als Vater Theodradas zu gelten hätte12. Die auffällige Benennung des Sohnes Thuring lässt jedenfalls legitimatorische Absichten vermuten und scheint somit in der Tat dafür zu sprechen, dass Hedens Herrschaft in Thüringen im Jahre 704 noch recht jung gewesen ist. Vor diesem Hintergrund nun könnte die urkundlich überlieferte Schenkung an Willibrord, die der Herzog gemeinsam mit seiner Gemahlin Theodrada vornahm, auf eine Intensivierung von Hedens Herrschaft in Thüringen abgezielt haben, um über verstärkte Mission und den Aufbau einer Kirchenorganisation eine festere Einbindung des Landes in das Herzogtum Hedens zu erreichen13. Willibrord seinerseits, der seit dem Jahre 690 sein Wirkungszentrum in Friesland hatte und dem umfangreichere, aus adeligen Stiftungen stammende Besitzungen in den heutigen Niederlanden und Belgien, am Niederrhein und und den Hintergründen der Schenkung thüringischer Güter an Erzbischof Willibrord im Jahre 704 vgl. SCHLESINGER, Frühmittelalter (wie Anm. 8) S. 338-344; Klaus LINDNER, Untersuchungen zur Frühgeschichte des Bistums Würzburg und des Würzburger Raumes (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fiir Geschichte 35, 1972) hier bes. S. 52-74; Matthias WERNER, Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger. Die Verwandtschaft Irminas von Oeren und Adelas von Pfalzel. Personengeschichtliche Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Führungsschicht im Maas-Mosel-Gebiet (VuF Sonderbd. 28) S. 148170; Wilhelm STÖRMER, Die Herzöge in Franken und die Mission, in: Kilian, Mönch aus Irland - aller Franken Patron. Aufsätze, hg. von Johannes ERICHSEN unter Mitarbeit von Evamaria BROCKHOFF (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 19, 89, 1989) S. 257-267; DERS., Zu Herkunft und Wirkungskreis der merowingerzeitlichen 'mainfränkischen' Herzöge, in: Festschrift für Eduard Hlawitschka, hg. von Karl Rudolf SCHNITH / Roland PAULER (Münchner Historische Studien. Abteilung Mittelalterliche Geschichte 5, 1993) S. 11-21; Arnold ANGENENDT, Willibrord und die thüringische Kirchenorganisation, in: Vestigia pietatis. Studien zur Geschichte der Frömmigkeit in Thüringen und Sachsen. Ernst Koch gewidmet, hg. von Gerhard GRAF u. a. (Herbergen der Christenheit. Jb. für deutsche Kirchengeschichte, Sonderbd. 5, 2000) S. 9-17, und WERNER, Ersterwähnung Arnstadts (wie Anm. 3) S. 11-15. 11 Die These von einer Verwandtschaft Hedens mit Radulf vertrat im Anschluss an Teile der älteren Forschung etwa Alfred FRIESE, Studien zur Herrschaftsgeschichte des fränkischen Adels. Der mainländisch-thüringische Raum vom 7. bis 11. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 18, 1979) S. 36 und S. 38. 12 In diesem Sinne WERNER, Ersterwähnung Arnstadts (wie Anm. 3) S. 11. 13 Vgl. dazu auch ANGENENDT, Willibrord (wie Anm. 10).

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im Raum Trier mit dem Eigenkloster Echternach als Zentrum zur Verfügung standen, mag in Thüringen das Ziel verfolgt haben, sich und seinen Anhängern an der östlichen Reichsgrenze ein zusätzliches Betätigungsfeld zu eröffnen. Die überlieferte Schenkungsurkunde selbst lässt allerdings die politischen bzw. missions- und kirchenpolitischen Ziele der Beteiligten vollständig unerwähnt. Ihrem Wortlaut nach ließen sich Heden und seine Gemahlin bei ihrer Stiftung an Willibrord allein durch die Liebe zu Christus, den Wunsch nach Vergebung der eigenen Sünden und die Hoffnung auf künftigen himmlischen Lohn leiten 14 . Über das Wirken Willibrords und seines Anhangs als den ersten bekannten angelsächsischen Missionaren in Thüringen ist insgesamt nur wenig bekannt. Aus einer weiteren Schenkungsurkunde Hedens aus dem Jahre 717, die dem Aufbau eines Klosters an der Stelle der herzoglichen Burg Hammelburg an der fränkischen Saale im Grabfeld dienen sollte 15 , ist jedoch zu schließen, dass die spätestens im Jahre 704 begründete enge Verbindung des Herzogs und Willibrords über längere Zeit bestanden haben muss. Nach 717 versiegen jedoch alle Nachrichten über weitere Kontakte zwischen Heden und Willibrord. Die Klostergründung in Hammelburg kam nie zustande. Hedens Herrschaft ging in den nächsten Jahren offenbar gewaltsam zu Ende. Er und seine Familie verschwinden aus der Überlieferung. Für lange Zeit erlosch damit die Institution eines thüringischen Herzogtums insgesamt. Wenige Jahre nach diesen Ereignissen begann dann ab 723/24 mit Bonifatius ein weiterer Angelsachse mit eigenem Anhang in Thüringen zu wirken. Der zuvor im fernen Friesland begründete Konflikt zwischen Bonifatius und dem älteren Willibrord, der 721/22 zum Zerwürfnis zwischen beiden und zum Weggang Bonifatius' aus dem nördlichen Missionsgebiet geführt hatte, begann sich nun auf Thüringen auszuwirken. Obwohl die Übertragung zumindest von Teilen der aus der Hand Hedens erworbenen thüringischen Besitzungen durch Willibrord im Jahre 726 an die eigene Klostergründung Echternach 16 zumindest auf

14 Pro amore Christi et remissione peccatorum nostrorum et mercede futura Deo [...]. 15 Wampach Nr. 26, S. 64 f. Neu abgedruckt in: Franken von der Völkerwanderungszeit bis 1268, bearb. von Wilhelm STÖRMER (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern. Abt. II: Franken und Schwaben vom Frühmittelalter bis 1800 1, 1999) Nr. 17, S. 1 7 0 f.

16 Im sog. Testament Willibrords von 726, mit dem umfangreiche Güter aus dem persönlichen Besitz Willibrords an das Eigenkloster Echternach übertragen wurden, wird von den im Jahre 704 erworbenen thüringischen Besitzungen allein erwähnt, was illuster vir Hedenus mihi (d. h. Willibrord; Erg. d. Vf.) condonabat vel tradebat, nämlich omnem portionem suam in villa que vocatur Armistadi super fluvio Witheo in pago Turingie (Wampach Nr. 39, S. 97 Z. 8-10). Nur zu vermuten ist, dass damals oder spätestens mit dem Tode Willibrords ( t 739) auch die im Vergleich zu Arnstadt weniger bedeutenden Besitzungen in Monra und Mühlberg an Echternach gelangten, wie etwa auch andere aus Schenkungen an Willibrord stammende Güter im Raum Hammelburg oder am Niederrhein zwar in der Urkunde von 726 nicht mit erwähnt werden, später jedoch nachweislich in Echternacher Besitz gewesen sind.

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nachlassende Intensität des Wirkens in Thüringen schließen lässt, verweisen doch die bis in die Zeit von Bonifatius' Schüler und Nachfolger auf dem Mainzer Bischofsstuhl Lul (754-786) andauernden Auseinandersetzungen mit verschiedenen Priestern offenkundig angelsächsischer Herkunft darauf, dass sich Willibrord und seine Anhänger in Thüringen nicht sofort und zunächst auch nicht vollständig von Bonifatius und den Seinen verdrängen ließen17. Über die Verhältnisse in Thüringen zu der Zeit, als die ersten bekannten angelsächsischen Missionare im Lande zu wirken begannen, vermag die Schenkungsurkunde Hedens von 704 als einziges zeitnahes Schriftzeugnis Auskunft zu geben 18 . Sie erweist mit ihrer Nennung von herzoglichen Besitzungen in Arnstadt, Mühlberg und Monra zunächst, wie oben bereits angesprochen, dass Hedens Herrschaft Anfang des 8. Jahrhunderts das gesamte Thüringer Becken von Südwesten nach Nordosten überspannt hat und er sich ähnlich wie in Franken auch in Thüringen auf Burgen stützen konnte. Die Angaben zu den an Willibrord übertragenen Besitzungen zeigen zudem, dass zumindest der Herzog in Thüringen in jener Zeit über ausdifferenzierte adelige Grundherrschaften verfugt hat. Denn die im Ganzen an Willibrord gegebene curtis Arnstadt etwa wurde zusammen mit casis, curtilis, campis, pratis, pascuis, silvis, aquis aquarumque decursibus, mobili et immobili, mancipiis, iumentis, vaccariis pastoribus, porcariis übertragen. Von den zum Castrum Mühlberg gehörenden landwirtschaftlichen Gütern hat Heden dem Angelsachsen insbesondere tres casatas cum mancipiis una cum omni peculiari eorum et centum diurnales geschenkt. Schließlich stiftete er von der herzoglichen curtis Monra VII hobas et VII casatas et CCCC'0S diurnales de terra, et tertiam partem de Silva ad eandem curtem pertinentem, et prata ad L carradas secandas et porcarios duos cum L porcis et vaccarios duos cum XII vaccis. Die Schenkung dieser Güter und der mit ihnen verbundenen Personen im Jahre 704 erfolgte an Willibrord persönlich, wobei die spätere Verwen-

Vgl. dazu WERNER, Adelsfamilien (wie Anm. 10) S. 160-162 mit Anm. 555. Mühlberg und Monra erscheinen nach langer überlieferungsfreier Zeit im Hochmittelalter im Besitz der Grafen von Weimar-Orlamünde bzw. des Erzbistums Mainz. Die Besitzgeschichte der Zwischenzeit ließ sich bislang nicht aufklären. Vgl. dazu WERNER, Iren und Angelsachsen (wie Anm. 3) S. 288, Anm. 201 mit Nachweisen. 17 Vgl. dazu WERNER, Iren und Angelsachsen (wie Anm. 3) S. 283-296. 18 Abzusehen ist hier von dem zwischen 754 und 769 entstandenen recht dunklen Bericht Willibalds in seiner Bonifatius-Vita über die als periculosus primatus und tyrannicus ducatus bezeichnete Herrschaft Hedens und eines Herzogs Theotbald, die einem Großteil der thüringischen Führungsschicht (magna quidem eorum comitum multitudo) das Leben gekostet und dazu geführt hatte, dass sich ein großer Teil des Volkes den Sachsen unterwarf (ut cetera que manebat residua populi turba Saxonum se subiecerat principatu), womit viele in das zuvor überwundene Heidentum zurückfielen (cessavit etiam in eis christianitatis et relegionis intentio). Vgl. Vita Bonifatii auctore Willibaldo, in: Vitae sancti Bonifatii archiepiscopi Moguntini, ed. Wilhelm LEVISON (MGH SS rer. Germ. [57], 1905) S. 1-58, c. 6, S. 32 Z. 3 - S . 33 Z. 12.

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dung der Einkünfte in der Heden-Urkunde nicht angesprochen wird. Die gewählten Wendungen unterstreichen allein, dass die Übertragung an den Angelsachsen endgültig und unwiderruflich sein sollte19. Doch ist mit der bisherigen Forschung sicher davon auszugehen, dass es keineswegs die Absicht der Stifter gewesen ist, dem pater noster in Christo Willibrord nur irgendwelche Einkünfte zu verschaffen, sondern dass die Erträge aus den gestifteten Besitzungen die materielle Voraussetzung für vertiefendes missionarisches Wirken und insbesondere den Aufbau kirchlicher Strukturen schaffen sollten. Folglich wird man gerade im Umfeld der drei genannten thüringischen Orte die ersten Zentren jenes missionarischen Wirkens der Angelsachsen um Willibrord suchen dürfen. Umso auffälliger ist es, dass Willibrord im Jahre 704 nicht als wichtige Voraussetzung für einen möglichst raschen Erfolg seiner Tätigkeit in Thüringen mindestens eine Kirche mit Ausstattung übertragen worden ist, sondern dass ihm allein Güter, die ursprünglich zu curtes und einem castellum gehört hatten, zur Verfugung gestellt wurden. Gerade im Falle der in Teilen übertragenen Besitzungen in Mühlberg und Monra lässt sich ex silentio sogar mit großer Sicherheit ausschließen, dass Willibrord - jedenfalls im Zuge des beurkundeten Vorgangs - Kirchen in oder bei dem castellum bzw. der curtis übereignet worden sind, weil die übertragenen Besitzanteile hier in Abgrenzung zu den in herzoglichem Eigentum verbleibenden gewiss genau beschrieben worden sind. Doch fehlt auch im Falle Arnstadts ein Hinweis auf die Übertragung einer Kirche. Obwohl der herzogliche Hof im Unterschied zu jenem in Monra als Ganzes übereignet wurde und das Verzeichnis der Zugehörungen sehr ausfuhrlich ist, fehlt hier die Erwähnung eines Gotteshauses. Will man trotzdem von der Existenz einer Kirche oder Kapelle im Verband der herzoglichen curtis und deren Mitübereignung an Willibrord ausgehen, muss man annehmen, dass die Kirche entweder den genannten casae zugeordnet oder aber bei der Aufzählung der Zugehörungen schlichtweg übergangen worden war. Beides vermag nicht ohne weiteres zu überzeugen. Obwohl das argumentum ex silentio zu den schwächeren einer jeden Beweisführung zählt, scheint hier doch ein Problem auf, das sich mit dem Verweis auf eine notorische Unzuverlässigkeit von Pertinenzangaben allein jedenfalls nicht so einfach lösen lässt, denn die Aufzählung der Zugehörungen zur curtis Arnstadt wie überhaupt zu den genannten Besitztiteln innerhalb der Heden-Urkunde macht keineswegs den Eindruck gedankenloser Formelhaftigkeit.

19 Has res omnes superius intimatas tibi domino et patri in Christo nostro (d. h. Willibrord; Erg. d. Vf.) damus donatumque esse perhennis temporibus volumus, ut habeas tuisque habendum derelinquas, vel quicquid exinde facere volueris, liberam et frimissimam in omnibus habeas potestatem.

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So hoch die Aussagekraft der Heden-Urkunde von 704 im Hinblick auf die herrschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Thüringen am Anfang des 8. Jahrhunderts und zu den missions- und kirchenpolitischen Konzeptionen der Akteure jener Zeit auch ist, so wenig vermögen ihre Nachrichten doch zu den bestehenden kirchlichen Verhältnissen im Lande an der Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert mitzuteilen. Fahren wir also zunächst darin fort, die überlieferten Zeugnisse des 8. und frühen 9. Jahrhunderts zu Kirchenbesitz und Kirchenstiftungen des Adels in Thüringen zusammenzutragen, um dann von einer breiteren Materialbasis aus nochmals nach adeligem Kirchenbesitz und den kirchlichen Verhältnissen im Lande insgesamt in einer Zeit zu fragen, bevor mit den Zeugnissen zur angelsächsischen Mission und über die Erwerbungen der in ihrer Folge gegründeten Klöster Fulda und Hersfeld die Überlieferung reicher zu werden beginnt.

II. Der Ohrdrufer Grundherr Hugo und der vir magnificus Albold Nach dem Ende von Hedens Herzogsherrschaft begann ab 723/24 Bonifatius in Thüringen zu wirken. Er suchte sich seine Freunde und Förderer mit Unterstützung päpstlicher Briefe im Kreise der bereits christianisierten adeligen Führungsschicht Thüringens 20 . Dieses Vorgehen war offenkundig erfolgreich, denn die Unterstützung des Bonifatius durch in Thüringen begüterte Adelige spricht mehrfach aus den überlieferten Zeugnissen zum Wirken des angelsächsischen Missionsbischofs und Kirchenreformers. Nach dem Bericht der zwischen 754 und 769 verfassten Bonifatius-Vita des Willibald hatte sich der Heilige bereits bei seinem ersten Besuch in Thüringen im Jahre 719 und dann wieder zu Beginn seines zweiten, längerfristigen Aufenthalts ab 723/24 bemüht, die Unterstützung einflussreicher Großer im Lande für sein Wirken zu gewinnen 21 . Obwohl von Willibald nicht weiter ausgeführt, lässt doch die in der Vita unmittelbar folgende Darstellung zu den raschen Erfolgen des Angelsachsen insbesondere bei der Gründung des Klosters Ohrdruf und bei der Errichtung von Kirchen in Thüringen ab Mitte der 720er-Jahre darauf schließen, dass die angesprochenen Kreise Bonifatius tatsächlich unterstützt haben 22 . 20 Zum Wirken des Bonifatius in Thüringen vgl. die einschlägigen Titel der in Anm. 2 und Anm. 3 genannten Literatur. 21 Vita Bonifatii auctore Willibaldo (wie Anm. 18) c. 5, S. 23 Z 2-8, und c. 6, S. 32 Z. 5-8. 22 Ebd. S. 33 Z. 13 - S. 34 Z. 2: Cumque renovatus per populum fldei inluxisset candor [...]. Sed cum credentium paulatim pollesceret multitudo, praedicatorum quoque multiplicatus esset catalogus, tunc etìam qcclesiae repente instaurantur et praedicatio eius doctrinae multiformer emanavit, monasteriumque, congregata servorum Dei unitale et monachorum

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Einen deutlicheren Hinweis auf die Art und Weise, wie dies geschah, bietet die 790/91 von Liudger verfasste Vita Bischof Gregors von Utrecht 23 , der zum Kreis der Bonifatiusschüler gehört hatte. Danach hätten fränkische Große (priores et prudentiores Francorum) sowohl in Hessen als auch in Thüringen aus Liebe zu Gott und zum Heil ihrer Seelen ausreichend große Plätze und Ländereien {modica loca territoriaque) an Bonifatius und die Seinen übertragen, auf denen dann Kirchen (ecclesiae) errichtet worden sind. Von diesen angesprochenen Orten werden Erfurt in Thüringen und Fritzlar in Hessen namentlich genannt 24 . Einzelne Namen von frühen Förderern des Bonifatius werden deutlich später durch Otloh von St. Emmeram überliefert, der in seiner zwischen 1062 und 1066 im Kloster Fulda verfassten Bonifatius-Vita näher als Willibald auf die Gründung des Klosters Ohrdruf Mitte der 720er-Jahre eingeht 25 . Otloh zufolge habe der Heilige bei seiner Ankunft in Thüringen den genannten Ort auf Grund göttlicher Fingerzeige für eine Klostergründung ausgewählt. Nach geschehenen Wundern habe sich Bonifatius nach dem Grundherrn von Ohrdruf erkundigt und erfahren, dass ein Hugo, qui dicebatur senior der Eigentümer des Ortes sei. Auf seine Bitte hin hätte dann jener Hugo senior dem Bonifatius sein Erbgut als primus omnium Turingorum geschenkt, und danach hätten schließlich auch ein Albold und viele andere Personen benachbarte Güter übertragen 26 . Über jenen Hugo senior, der nach Otloh den Grund und summa sanctitate, constructum est in loco qu% dicitur Orthorpf; qui propriis sibi more apostolico manibus victum vestitumque instanter laborando adquesierunt. 23 Liudgeri Vita Gregorii abbatis Traiectensis, ed. 0[swald] HOLDER-EGGER (MGH SS 15, 1) c. 3, S. 70. Hieraus im Folgenden zitiert. 24 Vgl. dazu Fred SCHWIND, Fritzlar zur Zeit des Bonifatius und seiner Schüler, in: Fritzlar im Mittelalter. Festschrift zur 1250-Jahrfeier, hg. vom Magistrat der Stadt Fritzlar in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde (1974) S. 69-88, S. 74; Michael GOCKEL, Fritzlar und das Reich, in: ebd. S. 89-120, hier S. 90 und S. 104, und DERS., Erfurt, in: Königspfalzen Thüringen S. 103-148 und S. 678-683, hier S. 110 und S. 142. Zur Identifikation der genannten Erfurter Kirche mit einem Vorgängerbau von St. Marien vgl. ebd. S. 140. Zum archäologischen Befund vgl. Karin SZECH, Der Domberg in Erfurt. Historische Überlieferung, in: Heidenopfer - Christuskreuz - Eichenkult, hg. von Hardy EIDAM U. a. (2004) S. 66-72, die zeigt, dass keiner der bislang im Bereich von St. Marien und dem Erfurter Domberg geborgenen Funde auf einen Bau der Zeit des Bonifatius bezogen werden kann. 25 Zum St. Michaels-Kloster Ohrdruf und seiner Gründung um 725 vgl. GOCKEL, Ohrdruf (wie Anm. 9) S. 390 f f , mit Angaben zur älteren Literatur. Zuletzt hierzu Frank KEILHACK, Ohrdruf. Kloster St. Michael, in: Romanische Wege (wie Anm. 3) S. 185-189. 26 Vita Bonifatii auctore Otloho, Liber 1, in: Vitae sancti Bonifatii archiepiscopi Moguntini, ed. Wilhelm LEVISON (MGH. SS. rer. Germ. [57], 1905) S. 111-217, S. 137 Z. 4-12: Exinde ceptum carpens iter et Turingiam peragrans, diligenter investigavit, cuius ille locus esset [...]. Conpertoque, quod Hugo, qui dicebatur senior, illius loci possessor esset, peciit ab eo, ut sibi dare dignaretur. At ille petita annuens, primus omnium Turingorum hereditatem suam tradidit venerando presuli. Deinde vero Albolt aliique plures contigua predicto loco predia tradiderunt.

HELGE WITTMANN

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Boden für die Errichtung des Klosters Ohrdruf übertragen hat, ist sonst nichts Näheres in Erfahrung zu bringen 27 . Der Name des zweiten Schenkers Albold, der offenbar in Ohrdruf selbst oder in unmittelbarer Nachbarschaft begütert war 28 , begegnet hingegen in einem weiteren aufschlussreichen Zeugnis. Ein Albold wird nämlich in jenem Brief Papst Gregors II. aus dem Jahre 722 erwähnt, der an fünf namentlich genannte viri magnifici [...] et omnes Deo dilecti Thuringi gerichtet war und diese zur Unterstützung des Bonifatius aufrief 29 . Dem päpstlichen Schreiben ist zu entnehmen, dass die genannten Adressaten Christen gewesen sind, die sich zuvor offenbar schweren heidnischen Anwürfen oder gar Todesdrohungen ausgesetzt sahen und trotzdem am einmal angenommenen Glauben festgehalten hatten, weswegen sie vom Papst für diese Standhaftigkeit gelobt wurden 30 . 27 Mehrfach ist die Vermutung geäußert worden, der Personenname Hugo habe sich als Bestimmungswort in dem Ortsnamen Hohenkirchen (ca. 3 km nw. Ohrdruf) erhalten, für den dabei eine ältere Namensform Hugskirchen postuliert wird. Vgl. dazu etwa SCHULZE, Entwicklung (wie Anm. 7) S. 68. Dagegen GOCKEL, Ohrdruf (wie Anm. 9) S. 398, der darauf hinweist, dass eine entsprechende Namensform für diesen Ort nicht nachweisbar ist und dass überdies sprachliche Bedenken bestehen, den Ortsnamen Hohenkirchen auf den Personennamen Hugo zurückzuführen. Bei GOCKEL (wie oben) auch der Hinweis, dass in Eberhards Summarium des Thüringen-Cartulars mehrfach Tradenten von Grundbesitz in Thüringen namens Hugo in karolingischer Zeit begegnen. Insbesondere verweist er auf einen Ougo, der während des Abbatiats Hrabans (822-842) Besitz in Dornheim (ca. 18 km ö. Ohrdruf) an Fulda gegeben hat (Codex Eberhardi S. 145, Nr. 210). Freilich sind verwandtschaftliche Bindungen dieses oder anderer gleichnamiger Tradenten mit jenem Hugo senior von um 722 über Namensgleichheit hinaus nicht wahrscheinlich zu machen. 28 Vgl. Anm. 26. Bischof Lul von Mainz hat nach dem Tode des Bonifatius 754 dessen Privaterbe angetreten. Darunter befand sich u. a. auch das Kloster Ohrdruf, das Lul vor 775 an das von ihm selbst gegründete Kloster Hersfeld übergeben hat. Im zweiten Abschnitt des Breviarium sancti Lulli wird der Besitz als cellulam unam nomine Ordorf, VIII hübas (ebd. S. 17 Z. 17) verzeichnet. Man wird also vermuten dürfen, dass während der übertragene Besitz jenes Hugo senior den unmittelbaren Grund und Boden des späteren Klosters betraf, die von Albold gegebenen predia zumindest einen Teil der im Breviarium genannten acht zugehörenden Hufen ausgemacht hatten. 29 Epp. Bonifatii et Lulli Nr. 19: [...] viri magnifici filii Asulf, Godolauus, Wilareus, Gundhareus, Aluold et omnes Deo dilecti Thuringi. Hieraus auch im Folgenden zitiert. Von der Hand Otlohs von St. Emmeram selbst stammt eine Abschrift der Briefsammlung des Bonifatius. Hier wird der entsprechende Personenname in der Schreibung Albold(us) wiedergegeben. Folglich meinte Otloh mit der Schreibung Albolt in seiner Vita einen Mann desselben Namens wie der, dessen Name in der Adresse des Briefes in anderen Handschriften in der Schreibung Aluold(us) begegnet. Zur Überlieferung der Briefsammlung des Bonifatius vgl. Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius. Nebst einigen zeitgenössischen Dokumenten, bearb. von Reinhold RAU (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 4 b, 2 1988) hier S. 9 ff. Vgl. dazu auch GOCKEL, Ohrdruf (wie Anm. 9) S. 398, und Helge WITTMANN, Zur Frühgeschichte der Grafen von Käfernburg-Schwarzburg, Zs. des Vereins für Thüringische Geschichte 51 (1997) S. 9-59, S. 16, Anm. 20. 30 Insinuatam nobis magnifici in Christo fidei vestrae constantiam agnoscentes, quod paganis conpellentibus vos ad idola colenda fide plena responderitis magis velle feliciter mori quam fidem semel in Christo acceptam aliquatenus violare [...].

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Trotz der späten Entstehungszeit von Otlohs Bonifatius-Vita können dort berichtete Einzelheiten wie die Schenkung des Grundbesitzes an Bonifatius für die Klostergründung Ohrdruf und damit auch Namen der in diesem Zusammenhang genannten ersten Tradenten durchaus Glaubwürdigkeit beanspruchen. Denn Otloh scheint eine noch im 11. Jahrhundert in Ohrdruf lebendige Gründungstradition des Klosters bekannt geworden zu sein, deren Nachrichten er an entsprechender Stelle in seine Bonifatius-Vita einfließen ließ 31 . Obwohl letztlich nicht zweifelsfrei zu erweisen ist, dass es sich bei jenem Albold des päpstlichen Schreibens von 722 um ein und dieselbe Person gehandelt hat, die nach dem Bericht Otlohs über Grundbesitz bei Ohrdruf verfügen konnte und diesen zu Beginn der Tätigkeit des Bonifatius in Thüringen dem Angelsachsen übertragen hat, bleibt ein solcher Zusammenhang doch sehr wahrscheinlich. Denn der rasche Erfolg, der Bonifatius in Thüringen beschieden war, spricht dafür, dass er zu Beginn seines Wirkens im Lande gerade in den angesprochenen Kreisen seine ersten Unterstützer gefunden hat. Die genannten Personen dürften Bonifatius schon vor 723/24 bekannt gewesen sein, da Papst Gregor II. die Namen der zur Hilfe aufgerufenen viri magnifici nur von Bonifatius selbst erfahren haben kann, der sich nach dem Zeugnis von Willibalds Vita Bonifatii im Jahre 719 auf seinem Weg von Rom nach Friesland erstmals einige Zeit lang in Thüringen aufgehalten und hier im Kontakte zu senatores denique plebis totiusque populi principes gestanden hatte 32 . Bevor Bonifatius dann ab 723/24 für längere Zeit in Thüringen tätig wurde, hatte er von 721/22 an im benachbarten Hessen gewirkt und sich hier auf die anschließende Arbeit in Thüringen vorbereitet. In diesen Zusammenhang gehört auch die Ausfertigung des auf das Jahr 722 datierten päpstlichen Unterstützungsaufrufs an führende Thüringer, der erst ab 723/24 tatsächlich eingesetzt werden konnte. Somit bezeichnet der Adressatenkreis des Papstbriefes von 722 jene Persönlichkeiten, deren Unterstützung nach Einschätzung des Bonifatius selbst als wünschenswerte, wenn nicht gar als unverzichtbare Voraussetzung eines erfolgreichen Wirkens im Hessen benachbarten Thüringen galten. Es liegt nahe zu vermuten, dass ihm die Genannten im Jahre 719 persönlich bekannt geworden waren 33 .

31 Vgl. dazu Michael GOCKEL, Ohrdruf (wie Anm. 9) S. 398. 32 Vita Bonifatii auctore Willibaldo (wie Anm. 18) c. 5, S. 23 Z. 3 f. Vgl. zum Bericht Willibalds und den Bezügen auf die Adresse des Papstbriefes von 722 WERNER, Iren und Angelsachsen (wie Anm. 3) S. 284 f., mit Angaben zur älteren Literatur. 33 Vgl. dazu WERNER, Iren und Angelsachsen (wie Anm. 3) S. 285 Anm. 186. Dieser Gedanke ließe sich noch weiter fortführen. Denn bei der Frage nach den Orten, an denen sich Bonifatius bei seinem ersten Besuch in Thüringen aufgehalten hat, kommen wohl am ehesten die angelsächsischen Missionsstationen des Kreises um Willibrord in Frage. Wenn also Bonifatius in Arnstadt und/oder Mühlberg gewesen ist, kann er hier durchaus mit adeligen Grundherren der Region bekannt geworden sein. Ohrdruf jedenfalls liegt räumlich sehr nahe den genannten Besitzungen des Willibrord.

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Mit Albold wird eine Person greifbar, die in den 720er-Jahren als bedeutender adeliger Grundherr in Thüringen durch eine Besitzschenkung an der Gründung des Klosters Ohrdruf mitgewirkt und damit die Tätigkeit des Bonifatius und seiner Begleiter in früher Zeit unterstützt hat. Obwohl sich der Rang jenes ersten Ohrdrufer Schenkers Hugo nicht erschließen lässt34, er insbesondere nicht unter den viri magnifici von 722 genannt wird, darf doch auch für seine Person adelige Standesqualität vermutet werden. Immerhin war es ihm möglich, ohne Vorbehalt prekarischen Nießbrauchs soviel an Grundbesitz aus seinem Erbe abzugeben, dass darauf ein Kloster errichtet werden konnte. Die Überlieferung gestattet aber weder für jenen Hugo senior noch für den vir magnificus Albold die Zuordnung zu einem größeren adeligen Verwandtschaftskreis. Auch im Falle der gleich Albold im päpstlichen Unterstützungsaufruf genannten Godolaus und Wilareus bleiben verwandtschaftliche Verbindungen unbekannt. Indes lassen sich die im Brief Gregors II. mit genannten Asulf und Gunther durchaus mit einem adeligen Verwandtschaftskreis in Verbindung bringen, der in jüngerer Überlieferung begegnet 35 .

III. Die Gunther-Asulf-Sippe Die Namen Gunther und Asulf begegnen zusammen wieder bei Personen, die in einem Kreis adeliger Schenker genannt werden, der am 3. März des Jahres 802 in der Königspfalz Erfurt 36 einen Teil der St. Peter und Pauls-Kirche (qclesia constructa in honore sanctorum apostolorum Petri et Pauli) in Kölleda an das Kloster Hersfeld übergeben hat 37 . Wie die darüber ausgestellte Urkunde berichtet, waren an der Stiftung ein comes Katan und die in der Intitulatio summarisch ebenfalls als Grafen bezeichneten Gunther, Gumbracht, Rimis, Gunther und Asolf sowie die zur Nonne geweihte Berhtrat (bzw. Bietha, Beratrude) beteiligt. Der Ort der Beurkundung und die Häufung der Grafen unter Tradenten und Zeugen lassen den hohen Rang dieser Ver-

34 Vgl. Anm. 27. 35 Vgl. dazu und zum Folgenden WITTMANN, Frühgeschichte (wie Anm. 29) S. 12 ff. 36 Actum ad Erfesfurt in palatio publico. Die Identifizierung des Ausstellungsortes mit einer königlichen Pfalz und nicht etwa einer Versammlung im königlichen Gericht hat Thomas ZOTZ, Palatium publicum, nostrum, regium. Bemerkungen zur Königspfalz in der Karolingerzeit, in: Die Pfalz. Probleme einer Begriffsgeschichte vom Kaiserpalast auf dem Palatin bis zum heutigen Regierungsbezirk. Referate und Aussprachen, hg. von Franz STAAB (Veröffentlichung der Pfalzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer 81, 1990) S. 71-99, hier bes. S. 77 ff., sichergestellt. Vgl. dazu auch Michael GOCKEL, Erfurts zentralörtliche Funktion im frühen und hohen Mittelalter, in: Erfurt - Geschichte und Gegenwart, hg. von Ulman WEISS (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 2, 1995) S. 81-94, bes. S. 84, und DERS., Erfurt (wie Anm. 23) S. 683. 37 UB Hersfeld Nr. 21. Hieraus auch im Folgenden zitiert.

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Sammlung erkennen, der wiederum eine größere Bedeutung der Schenkung für Hersfeld vermuten lässt. In dieselbe Richtung weist der Umstand, dass sich die Schenkungsurkunde überhaupt als eine von nur äußerst wenigen Privaturkunden aus früher Zeit im Archiv der Benediktinerabtei erhalten hat38. Der offenbar höhere Rang der Kölledaer Kirchenschenkung von 802 dürfte vor allem aus einer reichen Ausstattung des Gotteshauses resultiert haben, zu der nach Auskunft der Pertinenz der Schenkungsurkunde unter anderem reliquiis capsis crucibus, in auro et argento gehört hatten. Auch die Dotation des Gotteshauses mit Grundbesitz muss weit umfangreicher gewesen sein, als das für sonstige adelige Eigenkirchen im karolingerzeitlichen Thüringen vermutet werden darf. Mehr noch als die entsprechende Wendung der Pertinenzformel39 spricht dafür der offenbare Niederschlag der Schenkung von 802 im dritten Abschnitt des Breviarium sancti Lulli, wo die Kölledaer Erwerbung mit 20 Hufen und 12 Mansen beziffert wird40. Die ursprüngliche Ausstattung dieser

38 Dies nach Durchsicht der im Hersfelder Urkundenbuch edierten Stücke. Die Kölleda betreffende Schenkungsurkunde hat sich abschriftlich im Kopialbuch des Klosters Hersfeld aus der Mitte des 12. Jahrhunderts erhalten, wo sie sich auffalligerweise als einzige Privaturkunde zwischen Abschriften von Königsurkunden für Hersfeld findet. Vgl. dazu die Einleitung zur Edition. 39 [...] qdificiis terris araturis mansis mancipibus campis silvispratis pascuis aquis aquarumve decursibus, mobilibus et inmobilibus, cultum et incultum [...]. 40 Breviarium s. Lulli S. 21 Z. 14: In Collide hüb(q) XX, m(ansus) XII. Nach Überschrift des dritten Abschnitts des Breviarium, der diese Nachricht bietet, erfolgten alle hier genannten Schenkungen nach der Übertragung Hersfelds an Karl den Großen (775). Vgl. ebd. S. 21 Z. 4 f. Die Tradenten werden summarisch als liberi homines bezeichnet. Dass die im Zitat wiedergegebene Nachricht auf dieselbe Schenkung zu beziehen ist, über die die Urkunde von 802 berichtet, kann als zumindest sehr wahrscheinlich gelten, wenn dies auf Grund der stark verkürzten Wiedergabe im Breviarium auch letztlich nicht beweisbar ist. In diesem Sinne auch die Editoren Hans WEIRICH und Thomas FRANKE (vgl. jeweils die Einleitung zur Edition in: UB Hersfeld Nr. 38, S. 69 f., und Breviarium s. Lulli S. 10). Der Hinweis, dass in der kurzen Notiz nicht von der Kirche die Rede ist, kann dieser Einschätzung jedenfalls nicht entgegenstehen. Denn auch im Falle der im zweiten Abschnitt des Breviarium sancti Lulli mit Erwerbungen der Zeit zwischen 754 und 775 (vgl. dazu unten bei Anm. 43) genannten villa Sülzenbrücken wird der dortige Besitz allein in hüb(ae) und m(ansus) bemessen (ebd. S. 17 Z. 19), obwohl sich aus den Berichten der Vita Willibaldi episcopi Eichstetensis, ed. Ofswald] HOLDER-EGGER (MGH SS 15, 1) c. 5, S. 104 f., und der Vita Wynnebaldi abbatis Heidenheimensis (ebd.) c. 4, S. 108 f., ergibt, dass am Ort eine Eigenkirche des Bonifatius bestanden hat, die folglich auch mit dem sonstigen Privaterbe des Missionars nach 754 an Lul gekommen sein muss. Entsprechend vermutet auch GOCKEL, Fritzlar (wie Anm. 24) S. 101 f., Anm. 53, weitere der sechs Kirchen, die der Bonifatiusschüler Wynnebald von Sülzenbrücken aus betreut hat (Vita Wynnebaldi [wie oben] S. 109 Z. 26) und die gewiss in der näheren Umgebung gelegen haben, vorzugsweise in den Orten, in denen nach Auskunft des zweiten Abschnitts des Breviarium Bischof Lul persönlich Besitz von liberi homines erworben hatte (S. 17 Z. 13). Zur Frage der von Wynnebald betreuten Kirchen vgl. auch Kurt-Ulrich JÄSCHKE, Zu Breitunger Urkunden des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts. Zweiter Teil, DA 16 (1970) S. 142-213, S. 185 ff.; WERNER, Ersterwähnung Arnstadts (wie Anm. 3) S. 26, und Marko SCHUBERT, Sülzenbrücken. Dorfkirche St. Wigbert, in:

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früh bezeugten adeligen Eigenkirche in Kölleda muss sogar noch umfangreicher gewesen sein, da die Stiftung der Schenker um Katan nur deren portio an dem zum damaligen Zeitpunkt bereits geteilten Gesamtbesitz umfasst hat. Ihren jeweiligen Anteil hatten die namentlich genannten Stifter nach Auskunft der Schenkungsurkunde aus väterlichem oder mütterlichem Erbe oder sie hatten ihn auf andere, nicht näher bestimmte Weise erworben41. Bevor auf den Schenkerkreis weiter eingegangen werden soll und dessen verwandtschaftliche Traditionslinien in frühere Zeit zurückzuverfolgen sind, gilt es als wichtige Voraussetzung dafür zunächst die Eigentumsverhältnisse und die Besitzgeschichte der Kölledaer Peter und Pauls-Kirche noch näher in den Blick zu nehmen. Jüngere Überlieferung erweist die Abtei Hersfeld seit dem frühen 11. Jahrhundert als bedeutendsten Grundherrn in Kölleda und als uneingeschränkten Eigentümer der dortigen Kirche42. Da weitere Erwerbungen des Klosters am

Romanische Wege (wie Anm. 3) S. 205-210, S. 207. Zur Datierung der einzelnen Abschnitte des Breviarium vgl. die Vorbemerkungen zur Edition S. 9 f.; UB Hersfeld Nr. 38, S. 68-71, und Josef HÖRLE, Breviarium Sancti Lulli - Gestalt und Gehalt, Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 12 (1960) S. 18-52, bes. S. 18-31. Zuletzt hierzu Ulrich HUSSONG, Die Ersterwähnung „Rittahe" im Breviarium Lulli, in: Chronik der Stadt Baunathal 2: Mittelalter und frühe Neuzeit, hg. vom Magistrat der Stadt Baunathal (1995) S. 127-138, S. 129-132. 41 [...] hoc quod donamus: in pago Englide in villa quq dicitur Collide %clesiam unam, qu% est constructa in honore sanctorum apostolorum Petri et Pauli, portionem nostram, quicquid in ipsa aciesia de paterno vel materno haereditate vel collaboratu visi sumus habere [...]. 42 Im Jahre 1005 gab im Rahmen eines umfangreichen Tauschgeschäftes Abt Godehard von Hersfeld (1005-1022) die Vogteien über mehrere Orte an Vorfahren der Grafen von Schwarzburg-Käfernburg, worunter auch Kölleda genannt wird (UB Hersfeld Nr. 77 S. 147, Z. 25 ff. Neu abgedruckt in: Mathias KÄLBLE / Thomas LUDWIG, „in villa, que vocatur Gellinge". Die Ersterwähnung des Klosters Göllingen 1005, hg. von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen in Verbindung mit der Sparkassen-Kunststiftung für den Kyffhäuserkreis [2005] S. 29, hier Z. 13 ff. Zur Datierung und Bewertung der Urkunde vgl. Thomas LUDWIG, Zur urkundlichen Überlieferung, in: ebd. S. 23-28). Der Vorgang kann kaum anders interpretiert werden, als dass zum damaligen Zeitpunkt der gesamte Ort in der Verfügungsgewalt Hersfelds gewesen ist und sich folglich auch die dortige Kirche im uneingeschränkten Eigentum der Benediktinerabtei befunden hat. In diesem Sinne bereits WLTTMANN, Frühgeschichte (wie Anm. 29) S. 27 und S. 29 f., Anm. 51. Zur Orts- und Pfarreigeschichte Kölledas vgl. Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Eckartsberga, unter Mitwirkung von Heinrich OTTE bearb. von Gustav SOMMER (Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen 9, 1883) S. 16-23, bes. S. 16 ff.; Louis NAUMANN, Geschichte des Kreises Eckartsberg (1927) S. 317-324, und Erich NEUß, Kölleda, in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 11: Provinz Sachsen Anhalt, hg. von Berent SCHWINEKÖPER ( 2 1987) S. 247 f. Offenbar hat in Kölleda die in jüngerer Überlieferung genannte St. Johannes-Kirche die Nachfolge der einzig im Jahre 802 erwähnten St. Peter und Pauls-Kirche angetreten. Man wird also von einem Patrozinienwechsel nach 802 ausgehen können. Die Reste des frühmittelalterlichen Kirchenbaus dürften folglich unter den Fundamenten von St. Johannes zu suchen sein. Zum heutigen Kirchenbau vgl. neben dem gen. Artikel des Bau- und Kunstdenkmäler-Bandes (hier S. 22 f.) Franz JÄGER, Kölleda, in: Dehio Thüringen S. 717-721, hier S. 719 f.

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Ort nach 802 nicht überliefert sind und damals nur ein Besitzanteil an der Kölledaer Kirche erlangt wurde, kann vermutet werden, dass die Abtei mit der umfangreichen Schenkung des Kreises um Katan vorhandenen älteren Besitz am Ort und seiner Kirche vervollständigt hat, um dann nach 802 als alleiniger Eigentümer über das Gotteshaus verfugen zu können. Immerhin erweist eine im zweiten Abschnitt des Breviarium sancti Lulli genannte Erwerbung, dass die Abtei tatsächlich bereits vor 802 Besitz in Kölleda erhalten hatte. Das Verzeichnis notiert im genannten Abschnitt Schenkungen von liberi homines an Erzbischof Lul (754-786), die über ihn an seine Gründung Hersfeld gekommen sind43. Sie lagen nach Angabe des Zeugnisses sämtlich vor der Übertragung der Abtei in königliche Schutzherrschaft (775)44. Als terminus post quem für die Übertragungen an Lul hat dabei jedoch nicht etwa die Gründung Hersfelds zwischen 769 und 775 zu gelten, wie die Überschrift des entsprechenden Abschnitts nahe zu legen scheint45, sondern das Jahr des Todes des Bonifatius (754), mit dem Lul in dessen Privaterbe eingetreten ist. Denn im zweiten Abschnitt des Breviarium werden mit dem Kloster Ohrdruf und Sülzenbrücken auch Besitzungen genannt, die Lul aus dem Erbe des Bonifatius lange vor der Gründung Hersfelds zugefallen waren46. Folglich könnten im genannten Abschnitt auch weitere Erwerbungen Luis verzeichnet sein, die zeitlich vor der Gründung Hersfelds lagen. Die im zweiten Abschnitt des Breviarium berichtete Erwerbung von Gütern in Kölleda zwischen 754 und 775 unterscheidet sich von den anderen knappen Nachrichten des Verzeichnisses über Güterschenkungen in Thüringen an Hersfeld in diesem Zeitraum vor allem dadurch, dass diese im Rahmen einer außergewöhnlich umfangreichen Stiftung an die Abtei gekommen sein muss. Denn der Abtei wurden damals offenbar in einer einzigen Schenkung insgesamt 30 Hufen an elf verschiedenen Orten übergeben, zu denen neben Kölleda auch Behringen (ca. 16 km sw. Bad Langensalza), Aschara (ca. 7,75 km ssö. Bad Langensalza), Griefstedt (ca. 11,5 km nw. Kölleda), Groß-/Klein43 Breviarium s. Lulli S. 17 Z. 12-16: In isto breve continetur, quicquid beatus Lvllvs archiepiscopus acquisivit et ei liberi homines tradiderunt in elemosinam illorum tradere ad monasterium Herolfesfelt, quod ille construxit in Bächonia in marca Hassorum et tradidit Karolo imperatori. 44 Vgl. neben dem in Anm. 43 zitierten Passus auch den Abschlusssatz des zweiten Abschnitts im Breviarium sancti Lulli: Isla omnia superius nominata tradita fuerunt ad monasterium Herolfesfelde, quando sanctus Lvllvs archiepiscopus illam traditionem fecit domno Karolo imperatori (ebd. S. 21 Z. 1-3). Thomas FRANKE (wie Anm. 40) hält einzelne Nachträge von Schenkungen im zweiten Abschnitt des Breviarium für möglich, die nach der Übertragung in königliche Schutzherrschaft (775) bis zum Tode Luis im Jahre 786 erfolgt sind. Vgl. dagegen HUSSONG, Ersterwähnung „Rittahe" (wie Anm. 40) S. 130 f., der diese Annahme als unbegründet zurückweist. 45 Wie Anm. 43. 46 Zu beiden Orten vgl. KEILHACK, Ohrdruf (wie Anm. 25), und SCHUBERT (wie Anm. 40), jeweils mit Angaben zur älteren Literatur.

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Brembach (ca. 15 bzw. 12 km ssö. Kölleda), Guthmannshausen (ca. 12 km sö. Kölleda), Groß-/Klein-Neuhausen (ca. 4,75 bzw. 5,5 km ssö. Kölleda), WüSeeshaupt (unbekannt), Ober-/Nieder-Trebra (ca. 6 km bzw. 7,75 km nö. Apolda), Gebstedt (ca. 11 km nnw. Apolda) und Zottelstedt (ca. 4 km nnw. Apolda) gehörten 47 . Freilich lässt die knappe Nachricht des Breviarium nicht erkennen, ob im Ort Kölleda tatsächlich auch ein Anteil an der St. Peter und Pauls-Kirche mit übertragen worden ist. Sollte dieser jedoch wirklich mit zu den tradierten Gütern gezählt haben und hatte dann - wie vermutet - die Schenkung des Jahres 802 das Hersfelder Eigentum an der Kirche vervollständigt, so dürfte die ältere Erwerbung nur einen deutlich geringeren Anteil am Gotteshaus und seinem Zubehör umfasst haben. Denn die Zugehörungen können kaum ebenfalls aus 20 Hufen und zwölf Mansen in Kölleda bestanden haben, wie dies fiir die Stiftung des Anteils an St. Peter und Paul im Jahre 802 zu erschließen ist48. Ansonsten müsste man annehmen, dass in den zehn anderen im selben Zusammenhang mit Kölleda genannten Orten nur jeweils noch eine einzige Hufe mit vergabt worden war, wenn die Summe von insgesamt 30 Bauernstellen an allen elf Orten richtig verzeichnet worden ist. Das ist allerdings wenig wahrscheinlich, spricht doch auch die Nennung von Kölleda an fünfter Stelle der Notiz über die umfangreiche Schenkung der Zeit zwischen 754 und 775, eingereiht zwischen Brembach und Guthmannshausen, eher gegen einen außerordentlichen Rang oder Umfang der dortigen Besitzungen im Vergleich zu den anderen. Mit Blick auf die Besitzgeschichte der St. Peter und Pauls-Kirche ist also zu vermuten, dass weder der oder die namentlich unbekannten Stifter in früherer Zeit noch der Kreis um Katan jeweils die Hälfte des Kölledaer Gotteshauses besessen haben, sondern dass jene erste Stiftung einen kleineren und die Schenkung des Jahres 802 dann einen deutlich größeren Anteil am ur47 Breviarium s. Lulli S. 18 Z. 6-9: In Beringe et Ascrohe et in Grifistede et in Brantbah et in Collide et in Wdaneshusun et in Niwihusun, in Seheshobite, in Dribure, in Gebunstete et in Zotanesstede /i«°(bas) XXX. Die Einschätzung, dass diese Notiz in stark verkürzter Form die Angaben einer einzigen Schenkungsurkunde wiedergibt, die zum Zeitpunkt der Anlage des Breviarium in Hersfeld noch vorlag und später verlorengegangen ist, folgt Mathias KÄLBLE, Vor tausend und mehr Jahren. Die Anfänge der Hersfelder Propstei in Göllingen, in: DERS. / LUDWIG, Ersterwähnung Kloster Göllingen (wie Anm. 42) S. 5-22, hier S. 12 mit Anm. 11. Im ersten Teil des Breviarium, das Schenkungen Karls des Großen an Hersfeld verzeichnet, sind weit mehr Notizen enthalten, die offenbar gleichzeitige Güterschenkungen an mehreren Orten betreffen, und wo die Arbeitsweise des Schreibers deutlich wird, diese Orte aufzuzählen und den Umfang der übertragenen Besitzungen jeweils summarisch am Ende der entsprechenden Notiz anzugeben (vgl. Breviarium s. Lulli S. 14 Z. 14 ff.). Zur Bewertung solcher Einträge als Widerspiegelungen jeweils einer einzigen Karlsschenkung, die gleichzeitig Besitz an mehreren Orten betraf, vgl. Michael GOCKEL, Ritteburg, in: Königspfalzen Thüringen S. 402-419 und S. 704, S. 413. Auch im ersten Teil des Breviarium beschließen die Notizen über Erwerbungen an mehreren Orten den Thüringen betreffenden Teil des Verzeichnisses. 48 Vgl. bei Anm. 40.

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sprünglichen Gesamtbesitz umfasst hatte. Weiter ist festzuhalten, dass alle erschließbaren Besitzanteile, sowohl der im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts als auch der im Jahre 802 gestiftete, aus dem Erbe eines gemeinsamen Vorbesitzers gestammt haben müssen. Dieser gemeinsame Erblasser hat dabei gewiss nicht der Elterngeneration der Tradenten von 802 angehört, da die Stifter jenes Jahres nach Angaben der Schenkungsurkunde keinesfalls Geschwister gewesen sein können, sondern höchstens Vettern waren 49 . Folglich hat der ursprüngliche Erblasser des zunächst ungeteilten Gesamtbesitzes an St. Peter und Paul mindestens der Großelterngeneration des Katan und seiner Mitstifter angehört 50 . Da die beiden feststellbaren Erwerbsschritte Hersfelds in Kölleda zeitlich deutlich auseinander lagen, wird man davon ausgehen dürfen, dass die ursprünglich ungeteilte Eigenkirche in Kölleda in einem ersten Erbfall der Zeit vor 754/75 in mehr als zwei Besitzanteile zerfallen ist, von denen einer im genannten Zeitraum an Lul übertragen wurde, während die anderen in mindestens einem weiteren Erbgang nochmals aufgeteilt worden sind, um dann schließlich im Jahre 802 von dem in einem ferneren Grade verwandten Eigentümerkreis um Graf Katan in einer gemeinsamen Stiftung an die Abtei Hersfeld übergeben zu werden, womit die Benediktiner ihren zuvor über Lul erworbenen Anteil an der Kölledaer Kirche ergänzt und damit den Gesamtbesitz am Gotteshaus und seinem Zubehör in ihrer Hand wiedervereinigt haben. Soweit die erschließbare Besitzgeschichte von St. Peter und Paul in Kölleda im 8. Jahrhundert. Obwohl das Ergebnis mit einigen Unsicherheiten behaftet bleibt, bietet es doch wichtige Anhaltspunkte, um das Alter und damit die wahrscheinliche Gründungszeit dieser frühen adeligen Eigenkirche in Thüringen abschätzen zu können. Dafür sei zunächst wiederholt, dass St. Peter und Paul in Kölleda mindestens in der Großelterngeneration der Tradenten von 802 bzw. der Elterngeneration des oder der Stifter der Zeit von 754/75 entstanden sein muss. Setzt man nun eher jüngeres Alter des einstigen Kirchengründers zum Zeitpunkt der Errichtung der Kölledaer Kirche voraus und geht man von eher höherem Alter seiner Nachfahren aus, als sie Teile des ererbten Besitzes an Erzbischof Lul bzw. das Kloster Hersfeld vergaben, dann wird wahrscheinlich, dass die Kölledaer Kirche spätestens in der Zeit des Wirkens angelsächsischer Missionare in Thüringen vor der Mitte des 8. Jahrhunderts, wahrscheinlich sogar in den 730er oder bereits in den 720er errichtet worden ist. Für eine noch frühere Gründung, wie ich sie in meiner ersten 49 Dafür spricht neben dem doppelten Auftreten des Personennamens Gunther unter den Tradenten auch, dass der jeweilige Anteil an der Kölledaer Kirche auf väterliches oder mütterliches Erbe zurückgeführt wurde und dass zusätzlich Beteiligte ihre Besitzrechte offenbar auf andere Weise erworben hatten, die also nicht aus väterlichem oder mütterlichem Erbe stammten. Vgl. Anm. 41. 50 In diesem Punkt korrigiere ich meine vor zehn Jahren geäußerte Meinung, jener Erblasser habe mindestens der Urgroßelterngeneration der Tradenten um Katan angehört.

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Untersuchung zu dieser Frage vor einem Jahrzehnt noch für möglich gehalten habe, fehlt es nach der hier vorgetragenen modifizierten Bewertung der frühen Besitzgeschichte von St. Peter und Paul an hinreichenden Anhaltspunkten. Eine vorbonifatianische oder gar vorwillibrordische Entstehung der Kölledaer St. Peter und Pauls-Kirche ist auf Grund schriftlicher Überlieferung nicht wahrscheinlich zu machen und noch weniger beweisbar, freilich ist sie aber auch nicht sicher auszuschließen. Ausgehend vom Ergebnis der Untersuchung zur Besitzgeschichte an der Kölledaer St. Peter und Pauls-Kirche kann jedoch abermals festgehalten werden, dass der namentlich unbekannte Gründer der Eigenkirche in Kölleda (bzw. bei tatsächlich schon längerem Bestand deren damaliger Besitzer) gewiss ein Zeitgenosse jener fünf Personen gewesen ist, die Papst Gregor II. in seinem Schreiben von 722 zur Unterstützung des Bonifatius aufgefordert hat. Weiter ist daran festzuhalten, dass er als Gründer (bzw. damaliger Eigentümer) einer Eigenkirche, die später als besonders reich ausgestattet in der Überlieferung hervortritt, gewiss auch wie die viri magnifici zu den ranghöchsten Adeligen im Lande gehört hat. Wenn also drei der Nachfahren jenes Kölledaer Kirchengründers (oder -eigentümers) Namen trugen, die auch bei dem Personenkreis der im Jahre 722 Angesprochenen begegnen, kann es als sehr wahrscheinlich gelten, dass mit Asulf und Gunther mindestens zwei der damals genannten viri magnifici und der 802 schenkende Verwandtschaftskreis der comités um Katan verwandtschaftlich verbunden waren. Es scheint an dieser Stelle nicht notwendig, erneut die Argumente dafür vorzutragen, dass dieser so erschlossene Verwandtschaftskreis einer GuntherAsulf-Sippe des 8. Jahrhunderts zu den Vorfahren des seit dem 12. Jahrhundert als Grafen von Schwarzburg-Käfernburg begegnenden hochmittelalterlichen Adelsgeschlechts gezählt hat 51 . Im Folgenden steht stattdessen die Frage nach dem politischen Rang der Gunther-Asulf-Sippe im 8. Jahrhundert und deren Bedeutung als Stifter im Vordergrund. In diesem Zusammenhang gilt es nochmals auf die bereits angesprochene ungewöhnlich umfangreiche Schenkung von insgesamt 30 Hufen an elf Orten in Thüringen der Zeit zwischen 754 und 775 zurückzukommen, deren hohe Relevanz für die hier zu untersuchenden Zusammenhänge kürzlich Mathias Kälble aufgezeigt hat. Kälble hat nämlich wahrscheinlich machen können, dass der damalige Stifter oder Schenkerkreis, über den die kurze Notiz im zweiten Abschnitt des Breviarium sancti Lulli nichts mitteilt, zur Gunther-Asulf-Sippe gehört hat. Dafür spricht zunächst, dass jene Person oder Personengruppe wie später der Kreis um Katan über Besitz in Kölleda verfugen konnte und dass darüber hinaus auch in Behringen Güter an Hersfeld gegeben wurden, wo dann im Jahre 1005 mit den Sizzonen wiederum Vorfahren der Schwarzburg-Käfernburger als

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Vgl. dazu WITTMANN, Frühgeschichte (wie Anm. 29) S. 2 4 ff.

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Grundeigentümer begegnen52. Zudem hat Kälble darauf hingewiesen, dass zahlreiche der von der umfangreichen Schenkung des dritten Viertels des 8. Jahrhunderts betroffenen Besitzungen in Orten nahe Kölleda lagen, wo nach Ausweis der Schenkung von 802 und ihres Niederschlags im Breviarium sancti Lulli ein Besitzzentrum der Gunther-Asulf-Sippe gelegen hat. Eine Zuordnung des bzw. der Stifter des dritten Viertels des 8. Jahrhunderts zur Gunther-Asulf-Sippe kann sogar durch zusätzliche Indizien weiter gestützt werden. Denn in dem im Zusammenhang der großen Schenkung des 8. Jahrhunderts an Hersfeld mit genannten Guthmannshausen (ca. 12 km sö. Kölleda) sind durch zahlreiche Einzelschenkungen der Zeit von 780/802 bis 822/842 an das Kloster Fulda eine Reihe weiterer Grundeigentümer namentlich bekannt. Darunter findet sich auch ein Gunther, der an diesem Ort über Besitz unbekannten Umfangs verfügen konnte, der zwischen 780 und 802 an Fulda geschenkt worden ist53. In jenem Gunther einen Angehörigen der Gunther-Asulf-Sippe zu sehen und in ihm wahrscheinlich sogar einen der beiden gleichnamigen Tradenten des Kreises um Katan wiederzuerkennen, sollte unschwer möglich sein. Zu den Grundeigentümern, die Güter in Guthmannshausen an Fulda gaben, gehörten sodann auch Personen namens Gutmann und Eggerih, die Besitz am Ort zwischen 780 und 817 bzw. zwischen 822 und 842 verschenkten54. Beide Personennamen begegnen auch unter den Zeugen der Schenkungsurkunde von 80255, was sich am besten daraus erklärt, dass sie oder ihre Familien Besitznachbarn von Angehörigen der Gunther-Asulf-Sippe im unweit Kölleda gelegenen Guthmannshausen gewesen sind. Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass dem Eintrag der Kölleda betreffenden Schenkung von 802 im dritten Abschnitt des Breviarium sancti Lulli unmittelbar eine Notiz über eine im Vergleich zu den anderen Nachrichten des Verzeichnisses ebenfalls auffällig umfangreiche Einzelstiftung im Umfang von zwölf

52 UB Hersfeld Nr. 77, hier S. 147 Z. 24 (Beringgi). Neu abgedruckt in: KÄLBLE / LUDWIG, Ersterwähnung Kloster Göllingen (wie Anm. 42) S. 29 Z. 11 f. Zur Bewertung der Urkunde vgl. Thomas LUDWIG, Zur urkundlichen Überlieferung (wie Anm. 42) S. 23-28. 53 UB Fulda Nr. 478 bzw. Codex Eberhardi S. 135, Nr. 64: Gunther tradidit bona sua in Wotenehusen. Zur Zuweisung der undatierten Notiz von Eberhards Summarium des Thüringen-Cartulars zum Abbatiat Baugulfs vgl. auch Walter MÜLLER, Die Urkundenauszüge Eberhards von Fulda aus dem Thüringen-Cartular des Klosters Fulda und deren Aussagewert zu sozialökonomischen Problemen, 2 Teile (Diss. masch. Halle-Wittenberg, 1987) Teil 2, S. 162-164. 54 Codex Eberhardi S. 137, Nr. 83: Gutman tradidit bona sua in villa Wotaneshusen und ebd. S. 146, Nr. 221: Eggerih tradidit sancto Bonifacio bona sua in villa Wteneshusen: aream unam latam virgarum XII et LXX virgarum in longum et infra terminos eiusdem villq cultorum agrorum iugera CXX. Die Zuweisung der undatierten Notizen zu den Abbatiaten Baugulfs (780-802) oder Ratgars (802-817) bzw. Hrabans (822-842) nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 200 f. und ebd. S. 430-433. 55 Wie Anm. 37 (Zeuge an Position 23: Signum Gütmanni und Zeuge an Position 32: Signum Eggerici).

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Hufen und zehn Mansen in Guthmannshausen folgt 56 . Sollte die Reihenfolge des Breviarium hier nicht völlig zufällig sein oder sich allein aus der geographischen Nähe beider Orte oder dem vergleichbaren Umfang der Übertragungen erklären, so könnte sie dafür sprechen, dass der Stiftung der Kölledaer Besitzungen unmittelbar darauf eine ähnlich große Schenkung von Gütern in Guthmannshausen nachgefolgt war, was wiederum ein Hinweis dafür sein könnte, dass diese Besitzungen von Angehörigen desselben hochrangigen Personenkreises übertragen worden sind 57 . Sicherheit ist hierüber freilich nicht zu erlangen. Wie immer man im Einzelnen die verschiedenen Nachrichten zu den Besitzübertragungen des 8. und frühen 9. Jahrhunderts in Guthmannshausen als Hinweise auf eine weitere bedeutende Besitzkonzentration der Gunther-AsulfSippe unweit Kölledas werten mag, so gilt es doch festzuhalten, dass mehrere besitz- und personengeschichtliche Argumente dafür sprechen, dass jener Schenker oder Schenkerkreis, der Bischof Lul in der Zeit zwischen 754 und 775 umfangreichen Besitz von insgesamt 30 Hufen in Kölleda, Guthmannshausen und neun weiteren Thüringer Orten übertragen hat, der Gunther-AsulfSippe zugehört hat. Da der vorauszusetzende Gesamtbesitz des adeligen Verwandtschaftskreises ungleich umfangreicher als der durch die überlieferte Stiftung in dieser Generation fassbare Besitz gewesen sein dürfte, da zudem die Lage der im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts übertragenen Güter zeigt, dass die Besitzungen des adeligen Verwandtschaftskreises in einem weiten Bogen, konzentriert auf die Räume (Bad) Langensalza, Kölleda und Apolda, das gesamte Thüringer Becken von West nach Ost überspannten und da schließlich die ergänzenden Nachrichten zur Übertragung von 802 für den Ort Kölleda das Bestehen eines Besitzzentrums mit reich ausgestatteter Kirche im 8. Jahrhundert erweisen, muss man der Gunther-Asulf-Sippe eine überragende politische Bedeutung im Thüringen der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts zusprechen. Umso weniger überrascht dann, dass an der Wende zum 9. Jahrhundert gleich mehrere Angehörige dieses Verwandtschaftskreises als Inhaber von Grafschaften begegnen 58 . Dass deren Vorfahren bereits im Jahre 722 56 Breviarium s. Lulli S. 21 Z. 15 f . . I n Woteneshusun hüb(^) XII, m(ansus) X. 57 Im Thüringen betreffenden Teil des Codex Eberhardi, der vergleichbar knapp eine Zusammenstellung früherer Schenkungen an Fulda darstellt, lassen sich solche Zusammenhänge feststellen, da hier anders als im Hersfelder Breviarium sancti Lulli die Namen der Tradenten mit verzeichnet sind. Vgl. bspw. S. 133: Guntharius episcopus tradidit [...] (Nr. 29) und Idem Guntharius episcopus tradidit [...] (Nr. 30); S. 134: Herwin et uxor eius tradiderunt [...] (Nr. 47) und Iten (!) tradidit [...] (Nr. 48), und S. 135: Ratpolt et uxor eius Diterat tradiderunt [...] (Nr. 51) und Item Rihbalt (!) et uxor eius tradiderunt [...] (Nr. 52). Zudem verzeichnet das Summarium Eberhards in aufeinander folgenden Einträgen auch Schenkungen von Verwandten, die offenkundig gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander an Fulda gestiftet haben (vgl. dazu etwa unten bei Anm. 127). 58 Vgl. zur entsprechenden Forschungsdiskussion WITTMANN, Frühgeschichte (wie Anm. 29) S. 3 8 f. mit Anm. 76.

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durch Papst Gregor II. als viri magnifici bezeichnet wurden, erweist für die Gunther-Asulf-Sippe bereits in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts einen vergleichbar hohen Rang. Mit Blick auf das Nachfolgende ist schließlich hervorzuheben, dass es sich bei dieser Gunther-Asulf-Sippe um einen adeligen Verwandtschaftskreis thüringischer Stammeszugehörigkeit und nicht etwa um zugewanderte Franken gehandelt hat, wie mit hinreichender Deutlichkeit die Anrede der beiden frühen Angehörigen in der Adresse des Papstbriefes von 722 als Thuringi erweist. Zudem haben sich auch bislang keine deutlichen Hinweise auf außerthüringische Besitzungen ergeben59, was unter Umständen als Indizien für Zuwanderung in früherer Zeit nach Thüringen gewertet werden könnte. Vor dem Hintergrund der für die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts zu erschließenden außerordentlich machtvollen Position der Gunther-Asulf-Sippe in Thüringen wird noch deutlicher, welche Kreise Bonifatius bei seinem Auftreten im Lande ein oder zwei Generationen zuvor angesprochen hat. Mit der Gunther-Asulf-Sippe tritt ein hochbedeutender adeliger Verwandtschaftskreis hervor, der mit Kirchengründung(en)60 und Grundbesitzübertragungen an die im Zuge der angelsächsischen Mission gegründeten Klöster Hersfeld und Fulda zum Aufbau dauerhafter kirchlicher Strukturen beigetragen hat und damit zu den wesentlichen Trägern der Christianisierung Thüringens im 8. Jahrhundert zu zählen ist.

IV. Der Geisenheimer Alwalah Ausnehmend hoher adeliger Rang wie die Angehörigen der Gunther-AsulfSippe muss auch jenen Alwalah gekennzeichnet haben, der am 20. Januar 772 umfangreiche Besitzungen vorbehaltlich lebenslangen Nießbrauchs an das Kloster Fulda gegeben hat und der bei dieser Gelegenheit als Inhaber von Eigentumsrechten an einer Kirche in Thüringen hervortritt. Die entsprechende 59 Allerdings begegnet der markante Personenname Asolf auch außerhalb Thüringens mehrfach. Vgl. dazu Reinhard WENSKUS, Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel (Abh. Göttingen, Dritte Folge 93, 1976) S. 86 f., S. 418 u. ö.; Karl BOSL, Franken um 800. Strukturanalyse einer fränkischen Königsprovinz ( 2 1969) S. 78, und FWGV a 354 mit den Erläuterungen zum Belegfeld ebd. S. 448. Verwandtschaftliche Traditionslinien zu den in Thüringen begegnenden Personen dieses Namens ließen sich über die Namensgleichheit hinaus bislang nicht mit hinreichender Sicherheit aufzeigen. Noch wesentlich häufiger ist der Personenname Gunther überliefert (vgl. dazu das Belegfeld FWGV g 237). Vertiefende personengeschichtliche Forschungen vermögen zukünftig vielleicht, deutlich über Thüringen hinausreichende Verbindungen der Gunther-Asulf-Sippe zu erweisen, die angesichts des feststellbaren hohen Ranges dieses Verwandtschaftsverbandes nicht überraschen würden, gehörte die Sippe im 8. Jahrhundert doch sicher zu den bedeutenderen im ostrheinischen Reichsteil. 60 Zur Berechtigung des unter Vorbehalt verwendeten Plurals vgl. unten bei Anm. 81.

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Schenkungsurkunde überliefert abschriftlich der um 1160 entstandene Codex Eberhardi, wo in der Überschrift zur entsprechenden Urkundenabschrift jener Alwalah als nobilissimus et liberalissimus clericus bezeichnet wird61. Wahrscheinlich war Alwalah zum Zeitpunkt der Stiftung tatsächlich Geistliche^ 2 , ohne dass sich dazu Näheres ermitteln ließe. Der mit einer einzigen Schenkung an Fulda übergebene Grundbesitz Alwalahs verteilte sich auf 21 Orte in Ostfranken, Thüringen und am Mittelrhein. Dabei wird unter den in Thüringen gelegenen Besitzungen auch eine halbe Kirche (ecclesia) in der villa 61 U B Fulda Nr. 57. Hieraus im Folgenden zitiert. Zum Codex Eberhardi vgl. die Einleitung zur Edition mit Angaben zur älteren Literatur. Die Textwiedergabe der Alwalah-Schenkung hier S. 95-97. Wie die zusätzliche Aufnahme der Alwalah-Stiftung als stark verkürzte Notiz ohne Nennung der thüringischen Orte in Eberhards Summarium des Thüringen-Cartulars an 17. Stelle (vgl. Codex Eberhardi S. 132) erweist, war eine Abschrift der originalen Schenkungsurkunde in dem um 835 angelegten Thüringen-Cartular enthalten. Zum ThüringenCartular, das bis auf ein stark beschädigtes Fragment verloren ist und dessen ursprünglicher Inhalt und Umfang sich sonst allein aus dem im Codex Eberhardi enthaltenen Summarium, einer Liste äußerst knapper, zum Teil verfälschender Kurzregesten, zu erschließen ist, sowie zur einschlägigen urkundlichen Überlieferung Fuldas insgesamt vgl. Edmund E. STENGEL, Über die karlingischen Cartulare des Klosters Fulda (Fuldensia II), A U F 7 (1921) S. 1-46. Neu abgedruckt in: DERS., Abhandlungen und Untersuchungen zur Geschichte der Reichsabtei Fulda (Veröffentlichungen des Fuldaer Geschichtsvereins 36, 1960) S. 147-193; Paul LEHMANN, Mitteilungen aus Handschriften IX. Zu Hrabanus Maurus und Fulda und Register zu VII-IX, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 50/9 (1951) S. 3-30, S. 6-18; Edmund E. STENGEL, Fragmente der verschollenen Cartulare des Hrabanus Maurus (Fuldensia III), A f D 2 (1956) S. 116-127. Neu abgedruckt in: DERS., Abhandlungen und Untersuchungen (wie oben) S. 194-202; UB Fulda S. XVII-XXXVII; Walter HEINEMEYER, Ein Fragment der verschollenen karolingischen Cartulare der Abtei Fulda, A f D 17 (1971) S. 126-135; DERS., Zum frühmittelalterlichen Urkundenwesen des Klosters Fulda, in: Geschichte und ihre Quellen. Festschrift für Friedrich Hausmann (1987) S. 403-412, S. 408 ff., und Codex Eberhardi S. IX-XIV. Nach Edmund E. Stengel habe Eberhard von Fulda für seine vollständige Textwiedergabe der Alwalah-Schenkung im Codex die damals noch vorhandene Originalurkunde vorgelegen (Vorbemerkungen zur Edition S. 95), doch ist diese Annahme unzureichend begründet, so dass sich der Fuldaer Mönch durchaus auch auf die im Thüringen-Cartular enthaltene Abschrift der Originalurkunde gestützt haben kann. Vgl. dazu Michael GOCKEL, Zur Verwandtschaft der Äbtissin Emhilt von Milz, in: Festschrift für Walter Schlesinger 2, hg. von Helmut BEUMANN (Mitteldeutsche Forschungen 74, 2, 1974) S. 1-70, S. 68, Anm. 266, und Eckhard FREISE, Studien zum Einzugsbereich der Klostergemeinschaft von Fulda, in: FW 2.3 S. 1003-1269, S. 1128, Anm. 660. 62 Vgl. dazu die Vorbemerkung zur Edition von Edmund E. STENGEL (wie Anm. 61) S. 95, und die korrigierenden Bemerkungen von FREISE, Einzugsbereich (wie Anm. 61) S. 1127 ff. mit Anm. 660, und FW 3 GV/a 121 mit den Erläuterungen zum Belegfeld ebd. S. 444. Vgl. zur Person auch Walther HEINS, Königsgut und Grundherren im östlichen Grabfeld während der Karolingerzeit, in: Coburg mitten im Reich. Festgabe zum 900. Gedenkjahr der ersten Erwähnung der Ur-Coburg und ihres Umlandes, hg. von Friedrich SCHILLING (1956) S. 91116, S. 101 f.; Wolfgang METZ, Austrasische Adelsherrschaft des 8. Jahrhunderts. Mittelrheinische Grundherren in Ostfranken, Thüringen und Hessen, HJb 87 (1967) S. 298 f.; BOSL, Franken um 800 (wie Anm. 59) S. 72 f., und GOCKEL, Emhilt von Milz (wie Anm. 61) S. 68 ff. mit Anm. 266.

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Tricusti genannt, von der ausdrücklich festgehalten wurde, dass sie aus Alwalahs Erbe stammte63. Der Ort selbst wird als im Altgau gelegen bezeichnet64, der das Gebiet zwischen Unstrut und Wipper östlich des Eichsfelds einnahm65. Bei dem genannten Tricusti handelt es sich um eine Wüstung, die auf Grund hochmittelalterlicher Überlieferung im Raum Westerengel-OtterstedtBliederstedt-Niederspier nordwestlich von Greußen lokalisiert werden kann. Offenbar weist der Flurname „Kirchberg" an der Straße zwischen Otterstedt und Niederspier unmittelbar auf die Lage der Kirche von Wü.-Tricusti hin, wie Hans Eberhardt wahrscheinlich machen konnte66. Im Ort, der bis in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts hinein genannt wird67 und danach wüst ge-

63 Die von Eberhard gebotene Textwiedergabe lautet: in regione vero Turingorum [...] et in villam Altgewe, in villa nuncupata Tricasti dimidiam partem qcclesiq, qu% mihi ibidem in hereditatem convenit. Offenkundig liegt hier eine Verschreibung vor, die Edmund E. Stengel wie folgt emendiert: in regione vero Thuringorum [...] et in Altgeuue in villa nuncupante Tricusti dimidiam partem ecclesiae, que mihi ibidem in hereditatem convenit. Nach Stengel liegt insbesondere auch in der Wiedergabe des Ortsnamens bei Eberhard eine Verlesung von u zu a vor. Vgl. die Einleitung zur Edition S. 95 mit Verweis auf S. 97, Anm. gg. 64 Vgl. Anm. 63. 65 Zum Altgau vgl. Hans PATZE, Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen 1 (Mitteldeutsche Forschungen 22, 1962) S. 16, und die Karte „Gaue und Burgwardhauptorte im 10. und 11. Jahrhundert", bearb. von W[olfgang] HESSLER als Beilage zu, DERS., Mitteldeutsche Gaue des frühen und hohen Mittelalters (Abh. Leipzig 49, 2, 1957). 66 Nach Hans WALTHER, Namenkundliche Beiträge zur Siedlungsgeschichte des Saale- und Mittelelbegebietes bis zum Ende des 9. Jahrhunderts (Deutsch-Slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte 26, 1971) S. 236, Nr. 103, weist der Ortsname zunächst auf ein hohes Alter der Siedlung („vorgerm[anisch]") hin. Nach Walther bezeichnet er eine Stelle am Zusammenfluss dreier Bäche, während noch Ernst FÖRSTEMANN, Altdeutsches namenbuch 2: Orts- und sonstige geographische namen (1913/16) Sp. 1057, eine Deutung im Sinne von „die drei zipfel", evt. bezogen auf Gaugrenzen, vorgeschlagen hatte. Walther lokalisiert die Wüstung - von seiner sprachlichen Deutung ausgehend - mit der Flurstelle „Alten Burg" sö. Bliederstedt, wo drei kleinere Bäche mit der Helbe zusammenfließen. K[urt] RÖ[HE], Tricasti, in: Thüringische Landeszeitung vom 7.12.1973, sucht WüTricusti hingegen etwa 2,5 km ö. Otterstedt. Er argumentiert dabei mit dem ungewöhnlichen Verlauf der Flurgrenzen in diesem Raum, was nach Ansicht Röhes auf die Aufteilung der Feldflur des untergegangenen Ortes Tricusti zurückzufuhren sei. Dabei bleibt allerdings die im Ortsnamen anklingende Lagebestimmung der Siedlung unberücksichtigt. Hans EBERHARDT, Mittelalterliche Gerichtsstätten im nördlichen Thüringen, Zs. des Vereins für Thüringische Geschichte 51 (1997) S. 61-96, hier S. 63-68, wiederum bezieht die nach Walther im Siedlungsnamen angesprochene Lage von Tricusti an drei Bächen auf die Flurstelle „Kirchberg" nö. Bliederstedt an der Straße von Otterstedt nach Niederspier. Unmittelbar am Fuße dieses Hügels mit dem bemerkenswerten Flurnamen fließen zwei kleine Wasserläufe zusammen in den Spierenbach. Zur Lage vgl. Karte des Deutschen Reiches (1:25000) (Meßtischblatt) Nr. 2743 (Greußen), hg. von der Preußischen Landesaufnahme 1905. Reichsamt für Landesaufnahme berichtigt 1929. Einzelne Nachträge 1936. Nach freundlicher Auskunft von Frau Dr. Ines SPAZIER, Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Erfurt/Weimar, liegen bislang keinerlei archäologische Befunde von der genannten Flurstelle vor. 67 Mainzer Urkundenbuch 1: Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137),

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fallen ist, hatte Fulda zeitnah zur Übertragung Alwalahs auch Grundbesitz aus anderer Hand erworben. Eberhard von Fulda fuhrt als erste Schenkung im Summarium des Thüringen-Cartulars die Übertragung eines Nordunc und seiner namentlich nicht genannten Gemahlin auf, die dem Kloster ihre Besitzungen in der villa Tricasten und im nahe gelegenen Bellstedt (ca. 5,25 km osö. Ebeleben) zugeeignet haben68. Diese Stiftung ist sicher dem Abbatiat Sturmis (um 750-779) zuzuordnen69. Da ihr die stark verknappende Notiz der Alwalah-Stiftung von 772 an 17. Stelle folgt, ist die Übertragung Norduncs und seiner Gemahlin wohl früher als diese, ihr jedoch zeitlich eher nahe anzusetzen. Wie umfangreich die Besitzrechte waren, die das Ehepaar an Fulda übertragen hat, und ob insbesondere die zweite Hälfte der Kirche von Wü.Tricusti mit zu den gestifteten Besitzrechten gehört hat, lässt die verkürzende Wiedergabe der ursprünglichen Kopie der Urkunde im Thüringen-Cartular nicht erkennen. Doch wird man angesichts der Arbeitsweise Eberhards aus dem Fehlen eines Hinweises auf die Kirche des Ortes im Regest der NorduncSchenkung kaum schließen dürfen, dass diese nicht Teil der entsprechenden Übertragung gewesen sein kann70. Jedenfalls war die Abtei - ohne dass wir von weiteren Besitzerwerbungen Fuldas hier erfahren - später im ungeteilten bearb. von Manfred STIMMING (Arbeiten der Historischen Kommission für den Volksstaat Hessen 1, 1932) Nr. 551 zu 1128 Juli 7 (Dricten). Zur Identifizierung mit Wü.-Tricusti vgl. EBERHARDT, Gerichtsstätten (wie Anm. 66) S. 64, der von sprachlicher Seite nichts entgegensteht (vgl. WALTHER, Beiträge [wie Anm. 66]). 68 UB Fulda Nr. 122 bzw. Codex Eberhardi S. 131, Nr. 1: Nordunc et uxor sua tradiderunt sancto Bonifacio bona sua in villa Tricasten et in Bilstat. 69 Vgl. UB Fulda Nr. 122. Vgl. dazu auch MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 2 4 f.

70 Das erweist allein der Blick auf die knappe Wiedergabe der Alwalah-Schenkung an 17. Stelle des Thüringen-Summariums, wo nicht einmal die eigentlich in Thüringen gelegenen Orte und damit auch nicht die halbe Kirche von Wü.-Tricusti erwähnt werden. Die Durchsicht des Materials hat zu dem Eindruck geführt, dass Eberhard von Fulda die Übertragung von Kirchen im Summarium des Thüringen-Cartulars nur dann auffuhrt, wenn diese im Zusammenhang der jeweiligen Schenkung der einzige bzw. der dominierende Besitztitel gewesen ist. Vgl. dazu die Nachrichten Eberhards zu den Übertragungen der Kirchen von Heringen (unten Anm. 75) oder des unbekannten Ortes Tu e rinstat (Codex Eberhardi S. 145, Nr. 203: Dithart tradidit sancto Bonifacio ecclesiam unam cum areis et pratis atque mancipiis, que ad eam pertinent, in Tu'rinstat.). Diese Arbeitsweise Eberhards ist neben dem vollständigen bzw. nahezu vollständigen Verlust der frühen Fuldaer Privaturkunden und ihrer Abschriften im Thüringen-Cartular verantwortlich dafür, dass überhaupt nur wenige Kirchenschenkungen an die hessische Reichsabtei aus früher Zeit bekannt sind. An dieser Stelle sei ergänzend hinzugefügt, dass die Überlieferungssituation für Hersfeld noch deutlich schlechter ist, da hier Privaturkunden aus früher Zeit kaum überliefert sind und das Breviarium sancti Lulli überhaupt keine Nachrichten zu Kirchenübertragungen bietet, obwohl die Beispiele Sülzenbrücken und Kölleda (vgl. jeweils bei Anm. 40) - abgesehen von allgemeinen Überlegungen - deutlich erweisen, dass urkundliche Nachrichten über Kirchenschenkungen in das Besitzverzeichnis aufgenommen worden sind. Schließlich trägt die schüttere erzbischöflich-mainzische Überlieferung urkundlicher Quellen das Ihrige dazu bei, dass aus dem thüringischen Raum kaum Nachrichten zu adeligen Eigenkirchen überliefert sind.

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Besitz der Kirche von Wü.-Tricusti, wie die Nennung des Gotteshauses im zweiten Teil der in der Mitte des 10. Jahrhunderts angefertigten Abschrift einer Urkunde König Ludwigs des Deutschen (833-876) aus dem Jahre 876 erweist, die in Zehntstreitigkeiten zwischen Erzbischof Liutbert von Mainz (863-889) und Fulda zugunsten des Reichsklosters entschied 71 . Zur Kirche von Wü.-Tricusti liegen außer den vorgestellten Zeugnissen keine weiteren Nachrichten vor 72 . Ihr Patrozinium ist unbekannt. Immerhin ist aber aus der Mitteilung der Schenkungsurkunde von 772, dass Alwalah die Hälfte der Kirche aus seinem Erbe zugefallen war, zu schließen, dass die Gründung dieses Gotteshauses spätestens in der Elterngeneration des Tradenten erfolgt sein muss. Folglich hat in Wü.-Tricusti seit mindestens der Mitte des 8. Jahrhunderts eine adelige Eigenkirche bestanden. Wenn auch in diesem Falle eher fortgeschrittenes Alter des Stifters zum Zeitpunkt der Schenkung und im Vergleich dazu eher jüngeres Alter des Kirchengründers zum Zeitpunkt der Errichtung des Gotteshauses vorausgesetzt werden darf, dann ist die Kirche von Wü.-Tricusti wie jene zu Kölleda vermutlich ebenfalls in den 730er- oder bereits in den 720er-Jahren gegründet worden. Einschränkend muss freilich hinzugefügt werden, dass der Schenker Alwalah von der Forschung zumeist mit einem gleichnamigen Fuldaer Mönch identifiziert wird, der im Jahre 781 genannt wird und im Jahre 803 verstorben ist73. Folglich wäre Alwalah zum Zeitpunkt der prekarischen Schenkung, als sein Klostereintritt offenbar noch nicht beschlossene Sache gewesen ist, kein sehr alter Mann gewesen. Entsprechend dürfte die Gründung der von ihm im Jahre 772 zur Hälfte an Fulda übertragenen Kirche von Wü.-Tricusti nicht weit vor Mitte des 8. Jahrhunderts angesetzt werden.

71 DLdD Nr. 170, S. 240 Z. 22 f.: in Thricuste ad aecclesiam tradita sunt iugera LXX1 infra XXXannos [...]. Der zweite Teil dieser Aufzeichnung, dem diese Nachricht zu verdanken ist, nennt Schenkungen, die Fulda im Zuge der Nachforschungen zu den Zehntverhältnissen gemacht bzw. damals verschriftlicht worden sind. Zu der für die thüringische Geschichte in frühmittelalterlicher Zeit hochbedeutenden Quelle, die bislang noch nicht hinreichend ausgewertet worden ist, vgl. Traut WERNER-HASSELBACH, Die älteren Güterverzeichnisse der Reichsabtei Fulda (Marburger Studien zur älteren deutschen Geschichte. 2. Reihe 7, 1942) S. 50 ff., und Michael GOCKEL, Die Westausdehnung Thüringens im frühen Mittelalter im Lichte der Schriftquellen, in: Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, hg. von DEMS. (1992) S. 49-66, S. 52 f. Zum Zehntstreit zwischen Mainz und Fulda vgl. Franz STAAB, Die Mainzer Kirche im Frühmittelalter, in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 1: Christliche Antike und Mittelalter. Teil 1, hg. von Friedhelm JÜRGENSMEIER (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 6, 1, 1, 2000) S. 87-194, S. 172 f. 72 In unserem Zusammenhang können die Nennungen von Wü.-Tricusti und der dortigen Kirche im Codex Eberhardi S. 310, Nr. 13; S. 311, Nr. 19; S. 99 Z. 8 f., und S. 286 Z. 13 f., unberücksichtigt bleiben, da sie von Traut WERNER-HASSELBACH, Güterverzeichnisse (wie Anm. 71), als Niederschläge des Ingelheimer Protokolls bzw. als Fälschungen Eberhards auf der Grundlage dieser Aufzeichnung erwiesen worden sind. 73 Vgl. dazu die Anm. 62 genannte Literatur.

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Mit Alwalah begegnet in zweiter Generation ein Angehöriger eines hochbedeutenden adeligen Verwandtschaftskreises als Kirchenbesitzer in Thüringen. Die nach frühem gemeinsamen Besitz mehrerer Linien im mittelrheinischen Geisenheim benannte Sippe, deren bedeutendster Zweig in der Forschung als Mattonen bezeichnet wird, war bereits Mitte des 7. Jahrhunderts in Ostfranken ansässig, wo im 8. Jahrhundert ihr herrschaftlicher Schwerpunkt gelegen hat 74 . Ob diese fränkische Familie auch bereits in einer früheren als der Elterngeneration Alwalahs in Thüringen begütert gewesen ist, kann nur im Rahmen weit ausgreifender personengeschichtlicher Untersuchungen geklärt werden, die hier freilich vom eigentlichen Gegenstand zu weit abfuhren würden.

V. Reginhilt von Heringen und Graf Katan Den Auszügen Eberhards von Fulda aus dem Thüringen-Cartular ist eine weitere Nachricht zu einer adeligen Eigenkirche im karolingerzeitlichen Thüringen zu verdanken. Es handelt sich um die Notiz über die Schenkung einer Reginhilt, die während des Abbatiats Ratgars (802-817) eine Kirche (ecclesia) in der villa Heringen samt Ausstattung und Zehnten sowie drei Hufen mit einer Wiese, einem Bifang und 30 Hörigen am selben Ort an Fulda übertragen hat 75 . Von den Siedlungen, die aufgrund ihres Ortsnamens für eine Identifizierung mit der genannten villa in Frage kommen, ist wohl am ehesten an Großheringen (ca. 16 km nö. Apolda) zu denken. Dafür spricht, dass Fulda im Jahre 876 im Zuge des Ausgleichs mit dem Erzbischof von Mainz Zehntrechte u. a. in Heringa bestätigt wurden, das bei dieser Gelegenheit zusammen mit Orten genannt wird, die dem weiteren Raum um Apolda zugehören 76 . Bei

74 Vgl. GOCKEL, Emhilt von Milz (wie Anm. 61) S. 64-70. 75 Codex Eberhardi S. 141, Nr. 159: Reginhilt de Heringen tradidit in eadem villa ipsam ecclesiam cum omni suppellectilit et decimatione sua et hubas tres cum prato et ambitu suo et insuper XXX mancipia. Die Zuweisung der undatierten Notiz zum Abbatiat Ratgars nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 316. Sicher ist die anachronistische Benennung Reginhilts als de Heringen auf Eberhard zurückzufuhren, der die Dame - hochmittelalterlichem Brauch folgend - nach dem Ort benannt hat, an dem allein sie mit der ihm vorliegenden Urkundenabschrift Güter vergeben hat. 76 DLdD Nr. 170, S. 240 Z. 9 f.: [...] Zotanesstat, Neueri, Nelibi, Heringa. Ratingesstat, Gebenstat, Trumbestorph, Zutileba, Gozheresstat, [...] (Hervorh. d. Vf.). Bei den identifizierbaren Orten handelt es sich um Zottelstedt (ca. 4 km nnw. Apolda), Nebra (ca. 35 nnö. Apolda), Rettgenstedt (heute OT von Ostramondra ca. 33 km nw. Apolda), Gebstedt (ca. 11 km nnw. Apolda), Tromsdorf (ca. 14 km nnw. Apolda), Teutleben (ca. 20 km nnw. Apolda) und Herrengosserstedt (ca. 18 km nnw. Apolda). Eine Identifizierung des im Zusammenhang der Reginhilt-Schenkung genannten Ortes mit Heringen bei Nordhausen oder Heringen an der Werra kommt wegen der Lage dieser Orte kaum in Betracht. Ebenfalls auszuschließen ist der Nachbarort Großheringens, Kleinheringen, da dieser rechts der Saale und damit be-

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Großheringen handelt es sich um einen verkehrstopographisch besonders exponierten Ort, der etwas erhöht unmittelbar an der Mündung der Ilm in die Saale liegt. In frühkarolingischer Zeit verlief unmittelbar hier die Grenze des fränkischen Reiches zu den slawisch besiedelten Gebieten im Osten. Heute dominiert die in ihren ältesten Teilen romanische Kirche Großheringens das Ortsbild 77 . Leider ist ihr ursprüngliches Patrozinium aus jüngerer Überlieferung bislang nicht erschlossen. Mit Blick auf die Heringer Kirche in karolingischer Zeit lässt die knappe Mitteilung Eberhards zunächst darauf schließen, dass diese sich vor ihrer Übertragung an Fulda 802/817 im uneingeschränkten Besitz der genannten Reginhilt befunden hat. Weil aber jene Reginhilt gleichzeitig auch anderen Besitz in Heringen, der offenbar nicht direkt mit dem Gotteshaus verbunden war, an Fulda gegeben hat und weil aus dem 8. und 9. Jahrhundert weitere, teils umfangreiche Übertragungen von Grundeigentum am selben Ort aus anderer Hand bekannt sind 78 , dürfte die Heringer Kirche anders als etwa St. Peter und Paul zu Kölleda nur mit einem kleineren Teil der landwirtschaftlich genutzten Grundfläche am Ort ausgestattet gewesen sein. Der vollständige Besitz der Heringer Eigenkirche in der Hand Reginhilts lässt zudem vermuten, dass das Gotteshaus erst zu Lebzeiten der Schenkerin errichtet und daher das Eigentumsrecht noch keinen Erbteilungen unterworfen worden war. Dass Reginhilt selbst die Gründerin jener Eigenkirche gewesen ist, scheint aber eher fraglich. Man wird vielmehr vermuten dürfen, dass der Dame das Verfügungsrecht über die ungeteilte Kirche erst beim Tode ihres Gemahls zugefallen war, der folglich als der eigentliche Gründer jenes Gotteshauses zu gelten hätte. Mithin könnte die von Eberhard verstümmelt wiedergegebene Traditionsnotiz Reginhilts Seelgerätstiftung für den zuvor verstorbenen Gatten wiedergeben. Unabhängig von dieser Frage wird man zunächst aber in jedem Falle festhalten können, dass die Gründung der Heringer Kirche - soweit feststellbar - kaum weit vor dem letzten Viertel des 8. Jahrhunderts angesetzt werden darf. reits außerhalb der Erzdiözese Mainz und jenseits der Reichsgrenzen lag. In keinem einzigen Ort rechts der Saale haben die Klöster Fulda und Hersfeld in frühmittelalterlicher Zeit Besitz erworben. Vgl. dazu das Verzeichnis des nördlich des Thüringer Waldes gelegenen „Besitzes) des Klosters Fulda in Thüringen bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts", in: PATZE, Landesherrschaft (wie Anm. 65) S. 569-575, und die Karte der „Hersfelder Besitzungen in Thüringen nach dem Breviarium sancti Lulli", in: KÄLBLE, Vor tausend und mehr Jahren (wie Anm. 42) S. 16 f. 77 Zum heutigen Kirchenbau vgl. Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens. Heft XIV: Grossherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach. Amtsgerichtsbezirke Apolda und Buttstädt, bearb. von P[aul] LEHFELDT (1892) S. 321 f., Stephanie EISSING, Großheringen, in: Dehio Thüringen S. 538, und Rainer MÜLLER, Mittelalterliche Dorfkirchen in Thüringen dargestellt anhand des Gebietes des ehemaligen Archidiakonats St. Marien zu Erfurt (Arbeitshefte des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege NF. 2, 2000) Teil 2, S. 50. 78 Codex Eberhardi S. 132, Nr. 11; S. 146, Nr. 227 und Nr. 229, und S. 152, Nr. 301.

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Die weiteren Nachrichten über Grundeigentümer des 8. und 9. Jahrhunderts in Heringen geben keinerlei direkte Hinweise auf verwandtschaftliche Beziehungen der Stifterin Reginhilt. Derselbe Personenname wird allerdings im Summarium des Thüringen-Cartulars im Zusammenhang früherer Schenkungen an Fulda mehrfach erwähnt. Während des Abbatiats Baugulfs (780802) hat eine Adalbirn zusammen mit ihrer Tochter Reginhilt Güter in Orlishausen (ca. 6 km sö. Kölleda) dem Reichskloster übertragen 79 . Unter Abt Ratgar (802-817) schenkte dann eine Libmut zusammen mit einer Reginhilt 17 Hörige an unbekanntem Ort, ohne dass dabei das verwandtschaftliche Verhältnis beider Damen mitgeteilt wird 80 . Im selben Zeitraum zwischen 802 und 817 erfolgte schließlich die Übertragung der Eheleute Katan und Reginhilt, die die villa sui nominis und damit offenbar den gesamten Besitz zu Wü.Kettenbyren bei Großburschla (ca. 16 km sö. Eschwege) an Fulda gegeben haben 81 . Da die vollständige Verfügungsgewalt der Eheleute über einen nach dem Gemahl benannten, offenbar von diesem selbst gegründeten Ort auf adelige Standesqualität der Stifter schließen lässt und da jener Katan einen ausgesprochen seltenen Personennamen führte 82 , kann dieser Schenker gewiss mit dem gleichnamigen Grafen identifiziert werden, der im Jahre 802 als erster unter den Tradenten jenes Teils der Kölledaer St. Peter und PaulsKirche genannt wurde und der so als ein führender Vertreter der GuntherAsulf-Sippe in dieser Zeit hervortritt 83 . In jenem comes Katan von um 802 nun den Gemahl der Heringer Eigenkirchenherrin Reginhilt und damit wahrscheinlich auch den Gründer und Erblasser der Heringer Kirche zu erkennen, setzt voraus, die im Zusammenhang der Schenkung der villa sui nominis von 802/17 genannte Gemahlin Katans mit der gleichnamigen Stifterin der Heringer Kirche zu identifizieren. Ein tatsächlicher Beweis für eine solche Personenidentität über Namensgleichheit hinaus ist jedoch nicht zu führen 84 . 79 UB Fulda Nr. 468 bzw. Codex Eberhardi S. 135, Nr. 54: Adalbirn et filia eius Reginhilt tradiderunt bona sua in Arolfeshusen. Zur Zuweisung der undatierten Notiz zum Abbatiat Baugulfs vgl. auch MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 141 f. 80 Codex Eberhardi S. 138, Nr. 111: Libmut et Reginhilt tradiderunt familiam suam: XVII mancipia. Die Zuweisung der undatierten Notiz zum Abbatiat Ratgars nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 238 f. 81 Codex Eberhardi S. 141, Nr. 152: Katanes et uxor eius Reginhilit (!) tradiderunt sancto Bonifacio villam sui nominis. Die Zuweisung der undatierten Notiz zum Abbatiat Ratgars nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 306-309. Die Identifizierung des Ortes gestattet die Erwähnung von Katonbure in: DLdD Nr. 170, S. 240 Z. 45 (allein genannt in der etwas jüngeren Abschrift des Ingelheimer Protokolls B 1 selber Archivprovenienz). Vgl. dazu Wilhelm A. ECKHARDT, Ersterwähnungen, Zs. des Vereins für Hessische Geschichte 85 (1985) S. 15-23, hier S. 20 f. mit Karte S. 23, und GOCKEL, Westausdehnung (wie Anm. 71) S. 53. 82 Vgl. das Belegfeld FWGV k 6. 83 Vgl. dazu bei Anm. 37. 84 Die Aufnahme der Reginhilt-Schenkung an 159. Stelle von Eberhards Summarium nach der an 152. Stelle verzeichneten gemeinsamen Stiftung Katans und Reginhilts erweist immerhin,

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Immerhin auffällig ist aber, dass nach Auskunft von Eberhards Summarium eine Reginhilt in Orlishausen und damit in unmittelbarer Nähe von Kölleda begütert war85. Falls die Schenkerin der Heringer Kirche mit jener Reginhilt identisch war, die dort zwischen 780 und 802 zusammen mit ihrer Mutter Adalbirn Güter an Fulda gegeben hat, so war sie in einem Raum begütert, wo die Gunther-Asulf-Sippe in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts über verschiedene Besitzungen und mit Kölleda über ein Besitzzentrum verfugt hat86. Freilich wird man auf Grund der knappen Nachricht Eberhards zur Übertragung in Orlishausen eher vermuten wollen, dass es sich bei den dort vergebenen Gütern um Besitz aus dem Erbe von Reginhilts Vater bzw. Adalbirns Gemahl gehandelt hat. Folglich wäre aus der Übertragung kaum mehr zu schließen, als dass jene Reginhilt einer Familie entstammte, die im Raum Kölleda Besitznachbar der Gunther-Asulf-Sippe gewesen ist, was nur höchst eingeschränkt die vermutete Personenidentität der Heringer Schenkerin mit der gleichnamigen Gemahlin Katans zu stützen vermag. Letztlich wird sich also die Frage, ob sich der durch die gemeinsame Stiftung eines bedeutenden Teils der Kölledaer St. Peter und Pauls-Kirche im Jahre 802 bekannte Graf Katan als Kirchengründer in (Groß-)Heringen betätigt hat, nicht eindeutig beantworten lassen. Eine entsprechende Vermutung kann aber durch den Hinweis darauf gestützt werden, dass die Gunther-AsulfSippe im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts in mehreren Orten im Raum Apolda über Besitzungen verfugt hat87, wovon Ober-/Nieder-Trebra nur etwa 10 km bzw. 8,5 km von Großheringen entfernt liegt. Eine weite, Thüringen von West nach Ost überspannende Erstreckung von Besitzrechten vom Raum Großburschla bis Großheringen in der Hand Graf Katans würde zudem eine vergleichbare Struktur aufweisen, wie sie für die Herrschaft der GuntherAsulf-Sippe insgesamt aus der Schenkung an Hersfeld im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts zu erschließen ist88. Gerade angesichts der verkehrstopographisch exponierten Lage Großheringens unmittelbar an der Reichsgrenze würde es nicht überraschen, wenn sich hier ein Angehöriger eines der bedeu-

85 86 87 88

dass die Übertragung der Heringer Kirche einige Zeit, wenn auch nicht lange nach der Schenkung von Wü.-Kettenbyren erfolgt ist (vgl. dazu auch unten Anm. 124). Sollte eine Personenidentität der jeweils genannten Stifterin bestanden haben, so wäre - eingedenk der oben geäußerten Vermutung, die Stiftung der Kirche von Heringen sei zum Seelenheil des Gatten der Reginhilt erfolgt - jener Katan im Zeitraum um die gemeinsam mit der Gemahlin vorgenommene Schenkung verstorben. Das scheint angesichts des Umstandes durchaus denkbar, dass Katan und Reginhilt den für sie gewiss bedeutenden Ort, die villa sui nominis, für die Stiftung an Fulda ausgewählt haben. Wie Anm. 79. Vgl. dazu bei Anm. 37. Vgl. dazu bei Anm. 47. Vgl. dazu bei Anm. 51.

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tendsten adeligen Verwandtschaftskreise Thüringens und ein von Karl dem Großen eingesetzter comes als Kirchengründer betätigt hätte. Unabhängig von der Frage, ob der durch die Schenkung eines Teils der Kölledaer St. Peter und Pauls-Kirche im Jahre 802 als führender Vertreter der Gunther-Asulf-Sippe des späten 8. Jahrhunderts bekannte Graf Katan als der Gründer einer adeligen Eigenkirche in (Groß-)Heringen zu gelten hat, ist in jedem Falle festzuhalten, dass die Nachricht über die Kirchenübertragung durch Reginhilt zeigt, dass im frühen 9. Jahrhundert adelige Frauen über Eigenkirchen in Thüringen verfugen konnten. Das ist insofern bemerkenswert, als die in jener Zeit aufgezeichnete Lex Thuringorum Rechtsverhältnisse beschreibt, die Frauen die Verfügungsgewalt über Grundbesitz eigentlich unmöglich machen 89 .

VI. Die Teutlebener Klostergründerin Gertrud Ein weiteres bemerkenswertes Zeugnis weiblicher Stiftungstätigkeit bietet die Urkunde über die Schenkung einer Gertrud, mit der am 18. Februar 819 Besitzungen in Roßdorf im fränkischen Grabfeld (ca. 19 km wsw. Schmalkalden) und im thüringischen Teutleben (ca. 20 km nnw. Apolda) an das Kloster Fulda übertragen wurden 90 . In unserem Zusammenhang besonders wichtig sind die Nachrichten über den in Thüringen gelegenen Ort. Gertrud stiftete hier die Hälfte eines Grundstücks und ein ganzes Haus aus eigenem Besitz (totum aedificium meum) sowie die zu jenem Hause und der zugeordneten curtis gehörenden Liegenschaften (ariolae) und zwei Bauernstellen mit Zubehör. Bestimmt wurde dabei, dass in Teutleben - hier offenbar in dem genannten aedificium - eine zu diesem Zeitpunkt bereits bestehende Gemeinschaft heiliger Frauen bzw. Nonnen weiterhin wohnen und Gott dienen sollte 89 Lex Thuringorum, ed. Claudius Freiherr von SCHWERIN (MGH. Fontes iuris [4], 1918) S. 57-66, bes. S. 60 f. (De Alodibus). Vgl. dazu SCHLESINGER, Frühmittelalter (wie Anm. 2) S. 354-358; R[uth] Schmidt-Wiegand, Lex Thuringorum, in: Lex.Ma 5 (1991) Sp. 1931 f., und Peter LANDAU, Die Lex Thuringorum - Karls des Großen Gesetz für die Thüringer, ZRG GA 118 (2001) S. 23-57. 90 CDF Nr. 379. Hieraus im Folgenden zitiert. Bei der genannten villa Teitilebu ist kaum an Teutleben w. Gotha, Tottleben nw. Bad Tennstedt, Töttieben nö. Erfurt oder Tüttleben ö. Gotha zu denken, wie dies z. T. von der älteren Forschung erwogen worden ist (vgl. unten Anm. 92), da sich in keinem dieser Orte später Fuldaer Besitzungen nachweisen lassen. Dies nach freundlicher Auskunft von Herrn Dr. Michael Gockel, Berlin. Auch im Falle Teutlebens bietet die Abschrift des Ingelheimer Protokolls von 876 einen wichtigen Hinweis zur Identifizierung des Ortes (DLdD Nr. 170). Ein Zutileba wird hier im Kreise von Orten genannt, die dem weiteren Raum um Apolda zugehören (vgl. Anm. 76), und das so als das heutige Eßleben-Teutleben identifizierbar wird. Trotz der unterschiedlichen Schreibweise bei der genannten villa ist am ehesten an diesen Ort zu denken. Zu (Eßleben-) Teutleben vgl. Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens XIV (wie Anm. 77) S. 477-481.

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(ut Ulis sanctis monialibus feminis ibidem habitare ac deo seruire liceat). Schließlich ließ sich Gertrud mit derselben Urkunde ihre Versorgung bis zum Lebensende von einem fuldischen beneficium zusichern. Bestimmungen über die Zeit nach ihrem Tode beschließen dann den dispositiven Teil der Urkunde 91 . Obwohl die vorgestellte Schenkungsurkunde erst einige Jahre nach dem Tode Karls des Großen (f 814) ausgestellt worden ist und damit der Untersuchungszeitraum überschritten wird, durfte dieses wichtige Zeugnis im Rahmen einer Studie zur Rolle des Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern in Thüringen nicht unberücksichtigt bleiben. Denn es handelt sich nicht nur um den ältesten Beleg für das Bestehen eines Nonnenkonvents in Thüringen, sondern auch um das früheste Zeugnis für eine adelige Eigenklostergründung im Lande insgesamt. Trotzdem ist die Urkunde in der landesgeschichtlichen Literatur bislang fast durchweg übersehen worden. Allein die ältere Forschung hat sie herangezogen, wobei allerdings das genannte Teitilebu nicht mit dem Ort unweit Apolda, sondern mit Teutleben (ca. 10 km w. Gotha) identifiziert worden ist92. Erhalten hat sich der vollständige Wortlaut dieser für die frühen kirchlichen Verhältnisse in Thüringen höchst aufschlussreichen Urkunde nur, weil von den Übertragungen Gertruds zunächst Besitzungen im fränkischen Roßdorf betroffen waren und das Dokument deshalb abschriftlich ins Grabfeld-Cartular des Klosters Fulda aufgenommen worden ist, das sich zwar nicht im Original aber im Druck des Pistorius von 1607 vollständig erhalten hat93. Diese Überlieferung hat freilich auch dazu gefuhrt,

91 [...] et in Thuringia in uilla Teitilebu dimidiam terrae partem et totum aedificium meum et illas ariolas quae ad ipsa aedificia et ad illam curtem pertinent et duas mansas uestitas cum omnibus suis substantiis. haec omnia trado atque transfundo de iure meo in ius domini atque sancii Bonifatii martyris Christi traditaque in perpetuum esse uolo. ea duntaxata ratione ut Ulis sanctis monialibus feminis ibidem habitare ac deo seruire liceat et ut ego quamdiu in hoc seculo uiuam usufructuario habeam per uestrum beneficium. post obitum quoque meum si aliqua digna fuerit hoc honore hoc fìat, sin autem ille abbas monasterii Fuldae praeuideat hoc et sicut illi uideatur sie faciat. 92 Vgl. Johann Georg BRÜCKNER, Sammlung verschiedener Nachrichten zu einer Beschreibung des Kirchen- und Schulstaates im Herzogthum Gotha 1, 8 (1757) S. 19 und S. 20; U[lrich] STECHELE, Die von 700-900 vorkommenden thüringischen Ortsnamen. Ein Beitrag zu einer historischen Karte Thüringens besonders in karolingischer Zeit, Zs. des Vereins für Thüringische Geschichte 9 (1878) S. 117-134, S. 129; Regesta diplomatica neenon epistolaria historiae Thuringiae 1: c. 500-1152, hg. von Otto DOBENECKER (1896) Nr. 105; Bauund Kunstdenkmäler Thüringens, Heft VIII: Herzogthum Sachsen-Coburg und Gotha, bearb. von P[aul] LEHFELDT (1891) S. 178, und Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens XIV (wie Anm. 77) S. 477. 93 Zum Grabfeld-Cartular und seiner Überlieferung vgl. die Anm. 61 genannte Literatur. Entsprechend nahm auch Eberhard von Fulda in seinem Codex eine kurze Notiz dieser Schenkung im Summarium des Grabfeld-Cartulars auf (Codex Eberhardi S. 164, Nr. 98: Gerdrud tradidit deo et saneto Bonifacio bona sua in pago Graphelt super ripam fluminis Fulde cum XXX maneipiis et rebus eorum.). Die Arbeitsweise des Fuldaer Mönches wird an diesem

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dass aus thüringischer Perspektive die Urkunde leicht hat übersehen werden können94. Obwohl die Schenkungsurkunde von 819 die Beschreibung der Besitzrechte und die Bestimmungen über die künftigen Versorgungspflichten Fuldas in den Vordergrund stellt und so die Nachrichten zum erwähnten Teutlebener Nonnenkonvent äußerst knapp bleiben, wird man doch auf Grund des Mitgeteilten davon ausgehen müssen, dass die genannte Gertrud die klösterliche Gemeinschaft selbst gegründet hat. Da sie bei der Übertragung an Fulda allein handelte und sich dabei eine persönlich Versorgung bis zu ihrem Lebensende vorbehalten hat, wird man jene Gertrud für eine damals bereits ältere, verwitwete Dame halten dürfen. Vermutlich hatte sie nach dem Tode ihres Gemahls im repräsentativen Wohnhaus (aedificium) des in Teutleben gelegenen adeligen Hofkomplexes (curtis) jenen weiblichen Klosterkonvent versammelt. Dafür spricht jedenfalls, dass sie über das volle Besitzrecht an dem vom Konvent bewohnten Haus und dessen Zubehör verfügen konnte. Auffällig bleibt allerdings, dass von einer Kirche in Teutleben im Zusammenhang der Schenkung an Fulda nicht die Rede ist. Wo der Konvent Gottesdienst gefeiert hat und wo auch das Hofgesinde und die sonstige bäuerliche Bevölkerung Teutlebens kirchlich versorgt wurden, bleibt somit offen 95 . Nur zu vermuten ist, dass sich die Nonnen zu den liturgischen Handlungen in einem dafür bestimmten Teil des genannten Hauses versammelt haben. Unabhängig davon wird man aus der Nichterwähnung einer Kirche oder Kapelle in der Urkunde

Beispiel besonders deutlich. Die Wiedergabe der im Wortlaut bekannten Schenkungsurkunde ist nicht nur unvollständig, sondern auch verfälschend. Die thüringischen Besitzungen werden nicht erwähnt. Die Anzahl der in Roßdorf übertragenen Mancipien wird falsch - 30 statt der im Kopiar des Originals namentlich genannten 40 - angegeben. Roßdorf als der Ort, an dem diese Mancipien saßen, wird nicht genannt. Die Lage der tradierten Besitzungen wird zwar in Übernahme der Pagus-Angabe des Cartular-Eintrags richtig angegeben, zusätzlich aber mit dem dort eigentlich das Kloster Fulda näher erläuternden Passus super ripam fluminis Fulde kontaminiert. Allein angewiesen auf das Summarium Eberhards würde man den Ort an völlig falscher Stelle suchen und von deutlich anderen Hintergründen der Tradition auszugehen haben. 94 Der Vf. gesteht gern ein, dass wohl auch ihm dieses wichtige Zeugnis entgangen wäre, wenn er nicht von Herrn Dr. Michael Gockel, Berlin, darauf aufmerksam gemacht worden wäre. Ich bin Michael Gockel nicht nur für diesen wertvollen Hinweis zu großem Dank verpflichtet. Seit über einem Jahrzehnt darf ich mich seiner wohlwollenden Förderung erfreuen. 95 Das Bestehen der Teutlebener Pfarrkirche ist durch dendrochronologische Untersuchungen für 1135 +/- 10 gesichert. Schriftzeugnisse aus früherer Zeit sind nicht überliefert. Das mittelalterliche Patrozinium des Gotteshauses ist bislang unbekannt. Vgl. dazu Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens XIV (wie Anm. 77) S. 477-480; MÜLLER, Dorfkirchen in Thüringen (wie Anm. 77) S. 141 f., und DERS., Westemporen im romanischen Dorfkirchenbau Thüringens, in: Kirche und geistiges Leben im Prozess des mittelalterlichen Landesausbaus in Ostthüringen/Westsachsen, hg. von Peter SACHENBACHER / Ralph ELNICKE / Hans-Jürgen BEIER (Beiträge zur Frühgeschichte und zum Mittelalter Ostthüringens 2, 2005) S. 109-116, S. 109 ff.

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von 819 aber schließen dürfen, dass Einkünfte aus einer Eigenkirche weder zur materiellen Ausstattung des Konvents noch zum persönlichen Besitz der Gründerin Gertrud in Teutleben gehört haben. Vermutlich war die Dotierung des gewiss kleinen Klosters insgesamt recht bescheiden. Dafür spricht, dass Gertrud einerseits nur über Teile der Besitzrechte am Ort verfugen konnte 96 und dass andererseits der Konvent offenbar nur von diesen Teutlebener Gütern versorgt wurde und keine Einkünfte anderswoher bezogen hat. Einblicke in die inneren Verhältnisse des Teutlebener Nonnenkonvents gestatten die wenigen Nachrichten der Schenkungsurkunde von 819 kaum. Doch wird man davon ausgehen dürfen, dass Gertrud zum Zeitpunkt der Übertragung ihrer Klostergründung an Fulda selbst im Konvent lebte und hier auch bis zu ihrem Lebensende zu verweilen gedachte. Da Gertrud die Übertragung des Klösterchens an Fulda als Privatperson vollziehen konnte und sich persönlich Versorgungsansprüche sicherte, hat sie sich wohl trotzdem weder vor noch nach der Übertragung an Fulda einer geistlichen Leitungsgewalt unterstellt. Ganz im Gegenteil wird man davon ausgehen dürfen, dass Gertrud selbst vor und nach 819 die volle geistliche Leitungsgewalt über die Teutlebener Nonnen zugestanden hat. Dafür spricht der Passus der Schenkungsurkunde, der bestimmt, dass nach Gertruds Tod zunächst eine andere (ialiqua) - ob Konventsangehörige oder eher weibliche Verwandte der Stifterin steht dahin - auf ihre Eignung zu prüfen sei, bevor der Fuldaer Abt anderweitig den genannten honor verleihen könne. Dem Abt sollte offenbar nicht mehr zustehen, als die Nachfolgerin Gertruds in ihr Amt einzusetzen. Auch im Falle der Teutlebener Klosterstifterin Gertrud soll versucht werden, deren verwandtschaftliche Bindungen zu ermitteln und damit den Rang ihrer Familie näher zu bestimmen. Dabei ist zunächst bei den Nachrichten über weitere Grundbesitzerwerbungen Fuldas im thüringischen Teutleben anzusetzen, die in Eberhards Summarium des Thüringen-Cartulars als kurze Notizen aufgenommen sind. Berichtet wird hier die Übertragung eines Adalrich, der während des Abbatias Baugulfs (780-802) Güter in Teutleben sowie in Ottstedt am Berge (ca. 11 km nw. Weimar) und Schwerstedt (ca. 11 km nnw. Weimar) an Fulda gegeben hat 97 . Anhaltspunkte für eine Verwandtschaft Gertruds mit jenem Adalrich über die Besitznachbarschaft in Teutleben hinaus ergeben sich jedoch bislang nicht 98 . Im Gegensatz dazu scheint aber 96

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Zumindest die zweite Hälfte der erwähnten terra in Teutleben (vgl. Anm. 91) muss zum Zeitpunkt der Schenkung an Fulda in anderer Hand gewesen sein oder sie ist - weniger wahrscheinlich - von Gertrud einbehalten worden. Zeitnah sind jedenfalls weitere Grundeigentümer am Ort feststellbar (vgl. dazu unten bei Anm. 98f.). Codex Eberhardi S. 133, Nr. 30a: Adalrich tradidit bona sua in Odestat et Tuteleibe et in Suegerestete, que habuit. Die Zuweisung der undatierten Notiz zum Abbatiat Baugulfs nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 91 f. Verwandtschaftlich verbunden war Adalrich sehr wahrscheinlich mit Personen, die im selben Zeitraum durch Übertragungen von Grundbesitz in Ottstedt hervortreten. Eberhards

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eine verwandtschaftliche Beziehung Gertruds zu einer Ingilhilt bestanden zu haben, die unter Abt Ratgar (802-817) Besitzungen in Teutleben übertragen hat". Denn auffälligerweise stiftete eine Dame dieses Namens am 8. Januar 824 auch im Grabfeld, wo sie in Ostheim vor der Rhön (ca. 7,75 nw. Mellrichstadt) zwei Hufen und vier Mancipien an Fulda übertragen hat 100 . Wenn es sich dabei jeweils um dieselbe Person gehandelt hat, so hätte jene Ingilhilt wie Gertrud außer über Güter in Teutleben auch über Besitzungen im fränkischen Grabfeld verfügt, was als wichtiger Hinweis auf verwandtschaftliche Beziehungen zwischen beiden zu werten wäre. Allerdings liegt Ostheim ca. 41 km von Roßdorf entfernt. Doch ist auffällig, dass neun der 14 Zeugen von Ingilhilts Schenkung in Ostheim Namen trugen, die auch unter den 32 Zeugen der Gertrud-Schenkung über Güter in Roßdorf und Teutleben fünf Jahre zuvor begegnen 101 . Diese Häufung ist so auffällig, dass sie mit allgemeinen Testierungsgepflogenheiten in der Region oder bloßem Zufall kaum zu erklären ist. Das erweist etwa auch der Vergleich mit der urkundlichen Überlieferung zu weiteren zeitnahen Schenkungen von Gütern in Roßdorf. Dort hatten bereits am 6. August 791/94 die famula dei Folmuot zusammen mit ihrer Schwester Frahunt für ihren Todesfall Güter übertragen, was von elf namentlich Genannten bezeugt wurde 102 . Später, am 15. April 825, stiftete eine indigna ancilla dei Sigiloug ebenfalls auf Todesfall für ihr und ihrer Eltern Seelenheil sieben Hufen und mehrere Mancipien in Roßdorf und Urnshausen (ca. 5,5 km nnw. Roßdorf). Diese Übertragung wurde vor zwölf Zeugen vollzogen. In beiden Fällen gibt es keine einzige Übereinstimmung der Zeugennamen mit den festes der Gertrud-Schenkung. Mithin entfallen so auch jegliche Anhaltspunkte dafür, in weiteren bekannten Roßdorfer Grundbesitzern bzw. Grundbesitzerinnen Verwandte Gertruds zu erkennen. Stattdessen wird man davon ausgehen dürfen, dass zwischen den Teutlebener Grundbesitzerinnen Gertrud Summarium verzeichnet zum Abbatiat Baugulfs (780-802) auch die Stiftungen eines Lipher in Ottstedt (Nr. 25; UB Fulda Nr. 306), einer Hiltegunt in Ottstedt, Mölsen und Bechstedt (Nr. 27; UB Fulda Nr. 308) und einer Guthilt in Wölfis, Ottstedt, Mölsen, Umpferstedt und Schwarzhausen (Nr. 70a; UB Fulda Nr. 485). Von den Genannten waren Hiltegunt und Guthilt nicht nur in Ottstedt, sondern auch in Groß-/Klein-Mölsen (ca. 19 bzw. 20 km nw. Weimar) begütert. Die Zuweisungen der undatierten Notizen Eberhards zum Abbatiat Baugulfs nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 75 f.; S. 78 ff., und S. 178 ff., der anders als noch Edmund E. STENGEL im UB Fulda alle Belege dem genannten Zeitraum zuordnet. 99

Codex Eberhardi S. 139, Nr. 113: Ingilhilt tradidit bona sua in Tutelieba. Die Zuweisung der undatierten Notiz Eberhards zum Abbatiat Ratgars nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 239 f. 100 CDFNr. 425. 101 Es handelt sich dabei in alphabetischer Reihenfolge der 819/824 genannten Zeugen um: Abraham/Abraham, Eggiperaht/Eggibraht, Friduhelm/Friduhelm, Gundhart/Gundhart, Helmolt/Herimolt, Margolf/Magolf, Ratmar/Ruodmar, Sturmi/Sturmi und Theotmar/ Theotmar. 102 UB Fulda Nr. 208.

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und Ingilhilt verwandtschaftliche Bindungen bestanden haben, da beide Damen im selben Zeitraum nicht nur in Thüringen, sondern auch im fränkischen Grabfeld über Grundbesitz verfügen konnten. Die Art dieser Verwandtschaft bleibt freilich unbekannt. Die Besitzungen beider Damen im Grabfeld lassen immerhin vermuten, dass ihr adeliger Verwandtschaftskreis fränkischer Stammeszugehörigkeit gewesen ist. Seit wann ihre Sippe in Thüringen begütert war, ist vorerst jedoch nicht zu ermitteln.

VII. Die Sippe des comes Asis Ursprünglich fränkischer Stammeszugehörigkeit dürfte auch jene adelige Sippe gewesen sein, die vertreten durch die Brüder Asis, Liutpraht und Gozbraht im August/September des Jahres 833 Besitzungen in Kapellendorf (ca. 9 km sw. Apolda), Eckstedt (ca. 22 km nw. Weimar), einem der mittelthüringischen ,,-vippach"-Orte (ca. 20 bis 25 km nw. Weimar) und Apfelstädt (ca. 20 km sw. Erfurt) an das Kloster Fulda gestiftet hat 103 . Die Übertragung ist aus dem im Jahre 1949 aufgefundenen Fragment des Thüringen-Cartulars 104 und dem entsprechenden Summarium-Eintrag des Codex Eberhardi 105 zu erschließen. Im Vergleich beider Zeugnisse fallt unmittelbar auf, dass Eberhard von Fulda willkürlich den Namen des ersten Tradenten, der in seiner Vorlage mehrfach eindeutig als Graf Asis (Asis comes) bezeichnet worden ist, in Graf Hesso {Hesso comes) verändert hat. Das ist von Teilen der Forschung übersehen worden und hat schon von daher zu verfehlten Rekonstruktionen der verwandtschaftlichen Traditionslinien jener Stifter geführt 106 . Obwohl die 103

Vgl. dazu und zum Folgenden Helge WITTMANN, Zur Frühgeschichte der Kirche von Kapellendorf, in: Die Kirche von Kapellendorf. Studien zu Geschichte und Architektur einer ländlichen Pfarr- und Klosterkirche, hg. von DEMS. (2003) S. 11-27. Wegen der Lage Eckstedts in Nachbarschaft zu den ,,-vippach"-Orten ist wohl eher an diesen Ort als an das ca. 8 km ssö. Erfurt gelegene Egstedt zu denken. 104 Vgl. LEHMANN, Mitteilungen (wie Anm. 61) S. 6-18 mit Edition S. 16-18. Abb. in: WITTMANN, K a p e l l e n d o r f ( w i e A n m . 1 0 3 ) S. 18 f. u n d S. 2 2 f.

105 Codex Eberhardi S. 147, Nr. 237: Hesso comes et fratres eius Liutpraht et Gozpraht tradiderunt bona sua beato Bonifacio in Capeldorf, Eggestat et Bitenbah et Aplateslibe. Abb. dieses Eintrags in: WITTMANN, Kapellendorf (wie Anm. 103) S. 10. 106 Zur Person und Verwandtschaft des Grafen Asis vgl. METZ, Austrasische Adelsherrschaft ( w i e A n m . 6 2 ) S. 2 8 7 ; BOSL, F r a n k e n u m

8 0 0 ( w i e A n m . 5 9 ) S. 9 1 f.; WENSKUS,

Stammesadel (wie Anm. 59) S. 348 f. u.ö.; Franz-Josef JAKOBI, Die geistlichen und weltlichen Magnaten in den Fuldaer Totenannalen, in: FW 2.2 S. 792-887, hier S. 829 und S. 8 7 7 ; FREISE, E i n z u g s b e r e i c h ( w i e A n m . 6 1 ) b e s . S. 1 2 1 1 f.; FRIESE, H e r r s c h a f t s g e -

schichte (wie Anm. 11) S. 95 Anm. 65; Klaus NASS, Untersuchungen zur Geschichte des Bonifatiusstifts Hameln. Von den monastischen Anfangen bis zum Hochmittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 83. Studien zur Germania Sacra 16, 1986) S. 80-88, bes. S. 81, und Heinrich WAGNER, Mellrichstadt (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken 1, 29, 1992) S. 45 f.

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Übertragung einer Kirche oder von Eigenkirchenrechten weder in dem stark gestörten Text des Cartular-Fragments noch in der diesbezüglichen Summarium-Notiz Eberhards direkt angesprochen wird, ist das Zeugnis über die Stiftung von 833 für die hier zu untersuchenden Zusammenhänge von hoher Relevanz. Denn der erwähnte Ortsname Capelladorf lässt zweifelsfrei darauf schließen, dass zum Zeitpunkt der Stiftung des Grafen Asis und seiner Brüder in Kapellendorf eine Kirche bestanden hat. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, hat es sich bei diesem Gotteshaus sehr wahrscheinlich um eine adelige Eigenkirchengründung gehandelt, die spätestens gegen Ende des von dieser Studie erfassten Untersuchungszeitraums errichtet worden ist. Eine Kapellendorfer Kirche wird ausdrücklich erst im Jahre 1235 anlässlich der geplanten Gründung eines Zisterzienserinnenklosters bei dem Gotteshaus erwähnt107. Aus jüngerer Überlieferung ist ein Bartholomäus-Patrozinium für diese Pfarrkirche zu erschließen, das aber wohl nicht ursprünglich gewesen sein dürfte108. Im Ergebnis der seit den 1970er Jahren vor Ort durchgeführten bauarchäologischen Forschungen sind für das heutige Kirchengebäude in Kapellendorf mehrere Bauphasen zu unterscheiden, von denen drei die vorklösterliche Zeit betreffen. Allerdings konnten bislang noch keine Befunde gewonnen werden, die aus einer Zeit vor 1080/90 stammen109. 107 Fuldische Frauenklöster in Thüringen. Regesten zur Geschichte der Klöster Allendorf, Kapellendorf und Zella/Rhön, bearb. von Johannes MÖTSCH (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe 5, 1999) Nr. K 3. Zur Klostergeschichte vgl. die einschlägigen Beiträge in: Die Kirche von Kapellendorf (wie Anm. 103). 108 In spätmittelalterlicher Zeit ist das Doppelpatrozinium Maria und St. Bartholomäus bezeugt. Maria dürfte mit Gründung des Zisterzienserinnenklosters dem ursprünglichen Bartholomäus-Patrozinium der Pfarrkirche hinzugefugt worden sein. Da sich der St. Bartholomäus-Kult im Reich erst seit ottonischer Zeit stark verbreitet hat (vgl. Stefan TEBRUCK, Der Reliquienschatz der Kapellendorfer Zisterzienserinnen im 15. Jahrhundert, in: Die Kirche von Kapellendorf [wie Anm. 103] S. 55-81, bes. S. 77 Anm. 35 mit Angaben der einschlägigen Lexikonartikel), ist wohl mit einem Patrozinienwechsel der seit karolingischer Zeit bestehenden Kapellendorfer Kirche zu rechnen. Zum Patrozinium der Kapellendorfer Kirche, den dortigen Altären und dem Reliquienschatz der Zisterzienserinnen vgl. neben dem genannten Beitrag von TEBRUCK auch Johannes MÖTSCH, Kapellendorf, in: Repertorium der Zisterzen in den Ländern Brandenburg, MecklenburgVorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Eine Dokumentation aus Anlaß des Jubiläums 900 Jahre Abtei Citeaux, hg. von Gerhard SCHLEGEL unter Mitarbeit von Michael BERGER / Christa CORDHAGEN / Annelie KANSY (1998) S. 305-309, S. 305; DERS., Das Zisterzienserinnenkloster, in: Die Kirche von Kapellendorf (wie Anm. 103) S. 29-53 passim, und: Das Mainzer Subsidienregister für Thüringen von 1506, bearb. von Enno BÜNZ (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Große Reihe 8, 2005) S. 444. 109 Vgl. dazu Reinhard SCHMITT, Zur Baugeschichte der Kirche von Kapellendorf, in: Die Kirche von Kapellendorf (wie Anm. 103) S. 141-181, mit Angaben zur älteren Literatur. Zu den jüngsten Grabungsbefunden vgl. den Vorbericht von DEMS. und I[nes] SPAZIER, Zur Baugeschichte einer Dorfkirche, in: Archäologie in Deutschland 4 (2006) S. 55.

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Als besonders bemerkenswert ist hervorzuheben, dass aus der frühen Klosterzeit eine Urkunde überliefert ist, die zumindest bedeutende Teile, wenn nicht die vollständige Ausstattung der Kapellendorfer Pfarrkirche unmittelbar vor 1235 erschließen lässt. Danach gehörten zum Zeitpunkt der Gründung des Zisterzienserinnenkloster sechseinhalb Hufen, Kornzinsen und drei Kapellen in Nachbarorten zur Pfarrkirche110. Ausgehend von dieser Nachricht ist andernorts wahrscheinlich gemacht worden, dass zum Pfarrsprengel der Kapellendorfer Kirche ursprünglich mehrere Nachbarorte wie Wü.-Aspa, Frankendorf, Hohlstedt, Wü.-Hausdorf, Kötschau und wohl auch Großromstedt gehört haben111. Diese gewiss bis in die Gründungszeit der Kirche zurückreichenden Verhältnisse und der Umstand, dass das Gotteshaus den Ortsnamen von Capeiladorf geprägt hat, lassen auf eine hohe Bedeutung der Kapellendorfer Kirche in früher Zeit schließen. Die überlieferten Zeugnisse zur Gründung des Zisterzienserinnenklosters Kapellendorf erweisen, dass die Reichsabtei Fulda vor 1235 Eigentümerin der örtlichen Pfarrkirche gewesen ist. Da die Abtei aber offenbar erst durch die Übertragung des Asis und seiner Brüder Besitz in Kapellendorf erworben hatte, ein Gotteshaus am Ort zu diesem Zeitpunkt aber schon bestanden haben muss und im Übrigen auch das typischer Weise auf Fuldaer Einfluss verweisende Bonifatius-Patrozinium nie im Zusammenhang mit der Kapellendorfer Pfarrkirche begegnet112, müssen die Eigentumsrechte ursprünglich bei einem adeligen Kirchengründer gelegen haben113. Der später bezeugte Besitz Fuldas an der Kapellendorfer Kirche ist so gewiss auf eine Übertragung adeliger Vorbesitzer zurückzuführen. Falls nicht Überlieferungsverluste zu einem Fehlschluss fuhren, kommt als Tradent jener eigenkirchlichen Rechte in Kapellendorf wohl allein die Familie des Asis in Betracht. Denn jener Graf und seine Brüder sind die einzigen nachweisbaren Stifter von Grundbesitz in Kapellendorf in früher Zeit. Wenn auch die erheblichen Textverluste des CartularFragments und die bekanntermaßen oberflächliche Arbeitsweise Eberhards bei der Paraphrase seiner Vorlagen für die einzelnen Summarium-Notizen nicht eindeutig erkennen lassen, ob Asis, Liutpraht und Gozbraht nicht nur irgendwelchen Grundbesitz sondern tatsächlich auch die Kirche von Kapellendorf an Fulda übertragen haben, so erweist sich doch die Schenkung der

110 Fuldische Frauenklöster (wie Anm. 107) Nr. K 10 zu 1259. Vgl. dazu WITTMANN, Kapellendorf (wie Anm. 103) S. 13 ff. 111 Vgl. WITTMANN, Kapellendorf (wie Anm. 103) S. 21 ff. 112 Vgl. Anm. 108. 113 Das Summarium des Thüringen-Cartulars verzeichnet keine weitere Erwerbung Fuldas in Kapellendorf außer jener des Jahres 833. Da Eberhard von Fulda um 1160 offenbar vollständig das ihm vorliegende Thüringen-Cartular über sämtliche Schenkungen von Grundeigentümern in Thüringen seit der Gründung seines Klosters ausgezogen hat, dürfen Erwerbungen Fuldas in Kapellendorf vor dem August/September 833 und danach bis zum Abschluss der Redaktion des Cartulars um 835 nahezu sicher ausgeschlossen werden.

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Brüder von August/September 833 insgesamt als außergewöhnlich umfangreich. Das Cartular-Fragment lässt nämlich in Abschrift eine Traditionsurkunde erkennen, die weit umfangreichere und ausführlichere Bestimmungen enthalten hat, als die meisten vergleichbaren Fuldaer Dokumente und insbesondere auch als die durch das Fragment selbst mit überlieferten 114 . Die erkennbar lange Liste namentlich genannter Höriger spricht zusätzlich für eine Übertragung größeren Umfangs an den vier genannten Orten insgesamt. Bleibt trotz dieser Feststellungen letztlich doch unbeweisbar, dass Graf Asis und seine Brüder im Jahre 833 zusammen mit Grundbesitz in Kapellendorf und den drei weiteren thüringischen Orten tatsächlich auch die namengebende Kirche von Capeiladorf als Ganzes oder in Teilen an Fulda übertragen haben, so können sich doch andere denkbare Erklärungen für die später bezeugte Verfügungsgewalt des Reichsklosters über die Kapellendorf Pfarrkirche weder auf die bekannte Überlieferung noch auf einen höheren Grad an Wahrscheinlichkeit berufen. Das gilt zum einen für die Annahme, die Kapellendorfer Kirche sei bereits von einem Vorfahren des Asis und seiner Brüder an Fulda gegeben worden, ohne dass der entsprechende Vorgang überliefert worden sei115. Zum anderen bleibt auch eine vermutete Existenz anderer Grundeigentümer neben der Familie des Asis am Ort, denen die Gründung der Kapellendorfer Kirche zugeschrieben werden könnte und die das Gotteshaus zu einem Zeitpunkt vor oder nach 833 (eventuell erst nach Abschluss des Thüringen-Cartulars um 835) an Fulda übertragen haben könnten, rein hypothetisch. Unabhängig davon, ob Graf Asis und seine Brüder tatsächlich im Rahmen der überlieferten Schenkung von August/September 833 die sicher zuvor gegründete adelige Eigenkirche in Kapellendorf an Fulda übertragen haben, gilt es festzuhalten, dass der gemeinsame Grundbesitz der Brüder an diesem und den drei weiteren genannten Orten dafür spricht, dass sie dort jeweils das Erbe eines gemeinsamen Vorbesitzers angetreten haben. Folglich war die Familie in Kapellendorf und den anderen drei Orten seit mindestens einer Generation begütert. Da die Tradenten von 833 Brüder waren, hat gewiss ihr Vater als jener Vorbesitzer und Erblasser zu gelten. Mit Blick auf die Kapellendorfer Kirche kann daher weiter festgehalten werden, dass mit dem Ort Capeiladorf auch bereits die namengebende Kirche zu Lebzeiten des Vaters von Asis, Liutpraht und Gozbraht bestanden haben muss. Ob jener adelige Herr, dessen Name zunächst noch unbekannt ist, der eigentliche Gründer der Kapellen-

114 Auf dem erhaltenen Doppelblatt haben sich im Umfang mehr oder weniger vollständig Abschriften von fünf Privaturkunden erhalten (wie Anm. 104). Es handelt sich dabei um die im Summarium Eberhards an 236. bis 240. Stelle verzeichneten Übertragungen. Die Abschrift der hier an Nr. 237 notierten Stiftung von Gütern u. a. in Kapellendorf nimmt allein etwa zwei der vier Seiten des Doppelblattes ein. 115 Vgl. dazu Anm. 113.

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dorfer Kirche gewesen ist, kann nicht ermittelt werden. Der erschlossene umfangreichere Besitz seiner Erben u. a. in Kapellendorf begründet jedoch die Annahme, dass der Vater jener Brüder wenn nicht der einzige, so doch ein sehr bedeutender Grundherr hier gewesen ist. Der Schluss scheint daher naheliegend, in ihm auch den Besitzer der spätestens in seiner Generation gegründeten adeligen Eigenkirche zu sehen, die dann von seinen Erben - ob im Rahmen der Schenkung seiner drei Söhne im Jahre 833 oder doch bei anderer Gelegenheit - an Fulda gegeben worden ist und so im Eigentum der Reichsabtei vier Jahrhunderte später nachweisbar ist. Über den Grafen Asis und seine Verwandtschaft ist bereits verschiedentlich gehandelt worden 116 . Dabei konnte vor allem dank der wesentlich günstigeren Überlieferung des Grab- und Gozfeld-Gaues jener Asis als bedeutender Grundherr erwiesen werden, was durch seinen comes-Titel und nachdrücklicher noch durch den bemerkenswerten Umstand unterstrichen wird, dass sein Name in dem insgesamt nur elf adelige Laien verzeichnenden so genannten Dyptichon des Codex Vaticanus Ottobonianus lat. 2531 der Fuldaer Totenannalen von 875 aufgenommen worden ist117. Offenkundig hatten die überlieferten umfangreichen Schenkungen des Asis an Fulda eine besonders enge Verbindung zum Mönchskonvent begründet. Große Teile oder gar den gesamten ostfränkischen Besitz des Asis lassen zwei Urkunden über Stiftungen erschließen, die erst nach seinem Tod im Jahre 837118 vollzogen worden sind. Genannt werden unterschiedlich große Besitzanteile an insgesamt elf Orten in Ostfranken mit deutlichem Schwerpunkt im Flussdreieck von Kreck und Rodach sowie der vollständige Besitz an dem in diesem Raum gelegenen, nach dem Grundherrn selbst benannten Ort Asishus/Aseshuson (Eishausen ca. 6,5 km ssö. Hildburghausen). Diese Güter hatte zunächst am 17. Oktober 837 ein Treuhänder des Asis namens Sigibald an Fulda gegeben, wobei der Vorbehalt lebenslangen Nießbrauchs durch die Mutter des Verstorbenen festgeschrieben wurde 119 . Am 2. Oktober des Folgejahres hat dann jene Theotrat selbst zusammen mit zwei anderen Treuhändern die prekarische Schenkung in erweiterter Form wiederholt 120 .

116 Vgl. Anm. 106. 117 Vgl. Otto Gerhard OEXLE, Die Überlieferung der fuldischen Totenannalen, in: FW 2.2 S. 447-594, hier S. 455-467. Abb. in: FW 1, S. [393] Abb. 6. Dazu insbesondere FREISE, Einzugsbereich (wie Anm. 62) S. 1204-1216. 118 In den Fuldaer Totenannalen ist der Name Asis zum Jahre 837 verzeichnet (vgl. FW 1 S. 288). 119 C D F N r . 507. 120 CDF Nr. 520. Die zeitliche Abfolge beider Übertragungen lässt vermuten, dass Asis am 2. Oktober des Jahres 837 verstorben ist. So wäre die von Asis noch selbst veranlasste Schenkung durch den Treuhänder Sigibald etwa zwei Wochen nach seinem Tode erfolgt und dann von der durch den Nießbrauchsvorbehalt begünstigen Mutter Theotrat am ersten Jahrtag des Sohnes in erweiterter Form wiederholt worden.

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Während diese neuerliche Übertragung im Kloster Fulda vorgenommen wurde, war die erste Übertragung in villa Zimbra beurkundet worden. Wegen der Nähe des thüringischen (Nieder-)Zimmern (ca. 13 km nw. Weimar) zu Eckstedt und den ,,-vippach"-Orten, wo Asis selbst zusammen mit seinen Brüdern im Jahre 833 über Besitz verfügt hat, ist dabei wohl am ehesten an diesen Ort zu denken 121 . Unter den jeweils genannten Zeugen beider Urkunden begegnet von den Namen der im Jahre 833 erwähnten Brüder des Asis allein der Liutprahts an dritter bzw. elfter Stelle, der Gozbrahts erscheint hingegen nicht. Man wird folglich offen lassen müssen, ob die Brüder überhaupt beteiligt waren. Bemerkenswert an den überlieferten Schenkungsurkunden von 837 und 838 erscheint schließlich auch, dass Asis darin nicht wie noch bei der gemeinsamen Schenkung mit seinen Brüdern im Jahre 833 comes genannt wird. Offenbar hat seine den co/wes-Titel begründende Grafschaft in Thüringen gelegen, obwohl Asis in Ostfranken reich begütert war und hier in Asishus/Aseshuson ein eigener bedeutender Herrschaftsschwerpunkt gelegen hat. Welche Bedeutung die Sippe des Grafen Asis im karolingerzeitlichen Thüringen hatte, ist von der Forschung noch nicht eingehender untersucht worden 122 . Hier bieten allein die Summarium-Einträge Eberhards von Fulda die Möglichkeit, über eine kombinierte Personennamen- und Besitzgeschichte den adeligen Verwandtschaftsverband und seine thüringischen Besitzrechte weiter zu erfassen, um von diesen Ergebnissen ausgehend die politische Bedeutung der Sippe im Lande und ihre Rolle als Stifter näher bestimmen zu können. Auszugehen ist dabei von jenem Asis comes, dessen seltener Personenname 123 bereits die Identifizierung des im Jahre 837 verstorbenen reichen Grundbesitzers in Franken mit einem der drei Tradenten thüringischer Güter von 833 ermöglicht hat. Der Name Asis begegnet freilich bei Eberhard nicht. Dieselbe willkürliche Verschreibung durch den Fuldaer Mönch vorausgesetzt, fällt aber die im Summarium des Thüringen-Cartulars an 255. Stelle verzeichnete Stiftung eines Hassi comes ins Auge, der einige Zeit nach August/September 833 Güter in Zimbera, Berlstedt (ca. 12 km nw. Weimar) und Wü.-Kornberg (nö. Berlstedt) an Fulda übertragen hat 124 . Die genannten

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Andere ,,-zimmern"-Orte in Thüringen und Franken kommen wegen ihrer Lage weniger in Betracht, doch bleibt die Identifizierung angesichts der Häufigkeit entsprechender Ortsnamen in einem gewissen Maße unsicher. 122 Neben einigen Hinweisen in der Anm. 106 genannten Literatur ausfuhrlicher nur MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, bes. S. 505 ff. und S. 528 ff., in den Kommentaren zu den im Folgenden zu diskutierenden Summarium-Einträgen im Codex Eberhardi. An dieser Stelle sei angemerkt, dass es überaus bedauerlich ist, dass die Dissertation Müllers nie im Druck erschienen ist. Trotz mancher Mängel hätte die Studie die landesgeschichtliche Forschung in Thüringen so noch weit mehr beflügeln können. 123 Vgl. das Belegfeld FWGV a 329. 124 Codex Eberhardi S. 149, Nr. 255: Hassi comes tradidit sancto Bonifacio predia sua Zim-

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Orte liegen in Nachbarschaft zu den Besitzungen des Grafen Asis und seiner Brüder in Eckstedt und -Vippach. Schließlich spricht auch die Erwähnung von -Zimmern in diesem Zusammenhang für die vermutete Personenidentität des genannten Hassi comes mit Asis comes (alias Hesso comes), da die umfangreiche Stiftung zum Seelenheil des Asis am 17. Oktober 837 in einer villa des selben Namens beurkundet worden ist. Auch einer der beiden anderen Tradenten des Jahres 833, nämlich Liutpraht, ist ein weiteres Mal als Wohltäter Fuldas in Thüringen nachweisbar. Denn gewiss ist der Bruder des Asis in dem Stifter namens Liutbrant wiederzuerkennen, der einige Zeit nach 833 Besitz an mehreren Orten im Raum nördlich und westlich von Weimar an Fulda übertragen hat125. Die wohl nur kurz nach der Schenkung des Grafen Asis (alias Hassi comes) tradierten Güter des Liutpraht verteilten sich auf -Zimmern, Berlstedt, Wü.-Kornberg, Udestedt (ca. 22 km nw. Weimar), Wü.-Getörn (sö. Ottstedt am Berge), Wü.Wudemar (n. Utzberg, ca. 11 km w. Weimar), Niunheim (unbekannt) und Hopfgarten (ca. 9,75 km wnw. Weimar)126. In drei der genannten Orte waren Liutpraht und Asis (alias Hassi comes) gemeinsam begütert, worunter wieder das offenbar für die Familie in besonderer Weise wichtige -Zimmern begegnet. Der bereits gewonnene Eindruck einer bemerkenswerten Besitzkonzentration der adeligen Asis-Sippe im Raum westlich und nördlich von Weimar verstärkt sich angesichts der umfangreichen Stiftung Liutprahts noch. Schließlich verfügte auch eine weibliche Angehörige der Asis-Sippe über Besitz im beschriebenen Raum. Denn offenbar gleichzeitig mit Asis (alias Hassi comes) hat eine Waltrat an Fulda Güter in -Zimmern, Bechstedtstraß (ca. 11 km wsw. Weimar), Wü.-Ranstedt (s. Sömmerda), Udestedt und Hammerstedt (ca. 11 km osö. Weimar) übertragen127. Erneut bieten die Nennung bera, Berolfestat et Cornberc cum XX m(ancipiis). Die Zuweisung dieser und der folgenden undatierten Notizen zum Abbatiat Hrabans (822-842) nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 505 ff. und S. 528 ff. Die Zeitstellung nach 833 August/Oktober ergibt sich aus dem Eintrag der Hassi-Stiftung an 255. Stelle nach der an 237. Stelle des Summarium notierten Schenkung des Asis und seiner Brüder, die durch die erhaltenen Datierungsangaben des Cartular-Fragments sicher zu August/September 833 zu stellen ist. Das Fragment erweist im Übrigen, dass das Cartular und auch das Summarium - zumindest in diesem Teil - die einzelnen Urkundenabschriften bzw. Notizen in chronologischer Reihenfolge verzeichnet haben. 125

Codex Eberhardi S. 150, Nr. 266. Hieraus im Folgenden zitiert. Zur zeitlichen Einordnung der undatierten Notiz vgl. MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 528. 126 Liutbrant tradidit sancto Bonifacio predia sua in Zimbra, Berolfestat, Cornberc, Zutestat, Geture, Widemare, Niunheim, Hophgarto cum familiis et aliis substantiis suis. 127 Codex Eberhardi S. 149, Nr. 256. Da die Stiftung unmittelbar der an 255. Stelle notierten Schenkung des Hassi comes (wie Anm. 124) folgt, war sie wohl nach dieser, jedoch sicher zeitlich sehr nahe erfolgt. Da beide Male Güter in -Zimmern übertragen worden sind und die sonstigen genannten Besitzungen nah beieinander lagen, darf gewiss von zwei gleichzeitigen Schenkungen naher Verwandter ausgegangen werden, die ursprünglich in jeweils separaten Urkunden verschriftlicht worden waren.

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von -Zimmern und die Lage der Orte in Nachbarschaft bereits erschlossener Besitzungen der Asis-Sippe entscheidende Hinweise auf die Zugehörigkeit der Tradentin zu diesem adeligen Verwandtschaftskreis. Die Erwähnung des etwas abseits der beschriebenen Besitzkonzentration westlich und nördlich von Weimar gelegenen Ortes Hammerstedt ist ein zusätzliches Argument für enge familiäre Bindungen zwischen Waltrat, Asis, Liuthpraht und Gozbraht, da der Ort nahe bei Kapellendorf (ca. 3,25 km ssw.) gelegen ist, wo die Brüder im Jahre 833 Besitz an Fulda gegeben haben. Von den bislang namentlich genannten Sippenangehörigen begegnet allein der Personenname Liutprahts noch einige weitere Male in den Thüringen betreffenden Summarium-Notizen Eberhards von Fulda 128 . Doch müssen angesichts der Häufigkeit des Namens 1 2 9 besonders in diesem Falle zusätzliche Argumente eine Personenidentität des jeweils genannten Liutpraht mit dem gleichnamigen Bruder des Grafen Asis wahrscheinlich machen. Das scheint im Falle jenes Liutbraht möglich, der zusammen mit seinem Vater Reginfrit zwischen 822 und 826 Güter an Fulda übertragen hat, was an 179. Stelle von Eberhards Summarium verzeichnet ist 130 . Die Besitzungen lagen in -Vippach und in Ditolfesheim (unbekannt). Im Falle -Vippachs ergibt sich eine Entsprechung zu den im Jahre 833 von Asis, Liutpraht und Gozbraht gemeinsam übertragenen Besitzungen. Freilich bleibt die vermutete Personenidentität des jeweils genannten Liutpraht einigermaßen unsicher, da im Zusammenhang der Schenkung - jedenfalls in der Paraphrase Eberhards - nur ein Sohn des Reginfrit genannt wird, Liutpraht einige Jahre später aber zusammen mit zwei Brüdern genannt wird, von denen Asis comes wenn nicht der ältere so doch zumindest dem Range nach der bedeutendere gewesen sein muss. Auch handelte es sich bei -Vippach um eine sehr große Gemarkung im altbesiedelten Land, da hier in jüngerer Zeit mehrere Dörfer mit aufeinander bezogenen Ortsnamen bestehen. Folglich muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass dort bereits im 8./frühen 9. Jahrhundert mehrere Grundherren begütert gewesen sind, die nicht verwandtschaftlich verbunden waren. Doch kann trotz dieser Einschränkungen zumindest als Möglichkeit festgehalten werden, dass mit jenem Reginfrit der gemeinsame Vater von Asis, Liutpraht und Gozbraht namhaft wird, der vor der Stiftung der Brüder im August/September 833 verstorben war. Jener Reginfrit hätte so auch als der Gemahl der Theotrat zu gelten, die ihren Sohn Asis comes (f 837) um einige Jahre überlebt hat und später vor dem 17. November 842 verstorben ist, wie eine Stiftung von ost128

Codex Eberhardi S. 134, Nr. 50; S. 136, Nr. 74; S. 137, Nr. 95, und S. 143, Nr. 179 (vgl. unten Anm. 130). 129 Vgl. dazu das Belegfeld in FWGV 191. 130 Codex Eberhardi S. 143, Nr. 179: Reginfrit et filius eius Liutbrath tradiderunt bona sua, que habuerunt in villa Bitebechen et Ditolfesheim: XII iugera. Die Zuweisung der undatierten Notiz zum genannten Zeitraum nach MÜLLER, Urkundenauszüge (wie Anm. 53) Teil 2, S. 357 ff.

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fränkischen Besitzungen an Fulda zu ihrem Seelenheil erweist 131 . Reginfrit könnte also auch jener Erblasser gewesen sein, der seinen Nachkommen den später an Fulda tradierten reichen innerthüringischen Besitz hinterlassen hat, zu dem weiter östlich auch Eigengüter in Kapellendorf gehört haben. Vielleicht war also Reginfrit jener bislang namenlos gebliebene Besitzer oder gar Gründer der bereits in früher Zeit bedeutenden Kirche von Kapellendorf, die später in Fuldaer Besitz begegnet. Wie auch immer die vorgeschlagene namentliche Identifizierung des Fuldaer Wohltäters Reginfrit der 820er Jahre mit dem Erblasser der in den 830er Jahren stiftenden Personen um den comes Asis bewertet werden mag, so gilt es doch als Ergebnis der vorausgegangen personen- und besitzgeschichtlichen Untersuchung festzuhalten, dass der dabei hervorgetretene adelige Verwandtschaftskreis nicht erst in der Generation des Asis und seiner Brüder, sondern bereits Jahrzehnte zuvor am Beginn des 9. Jahrhunderts im altbesiedelten Raum um Weimar eine hervorragende Position eingenommen haben muss. Die Sippe verfügte damals sowohl in Thüringen als auch in Ostfranken über außerordentlich reichen Besitz 132 . Der Rang und die politische Bedeutung des Verwandtschaftskreises müssen auf dieser Grundlage sehr hoch gewesen sein. In einer fast beispiellos zu nennenden Weise hat die Sippe des comes Asis in den 830er Jahren reiche Besitzungen in Thüringen und Franken an das Kloster Fulda übertragen. Dieses herausragende Engagement als Stifter lässt fast in den Hintergrund treten, dass für die Familie spätestens gegen Ende der Regierungszeit Karls des Großen die Gründung einer adeligen Eigenkirche in Kapellendorf wahrscheinlich gemacht werden kann, die schon in früher Zeit überörtliche Bedeutung hatte und deren Erwerb für Fulda lange von großem Wert gewesen ist.

VIII. Ergebnisse Trotz einer insgesamt geringen Anzahl von Einzelzeugnissen für adelige Kirchen- und Klosterstiftungen des 8. bis frühen 9. Jahrhunderts, hat diese Studie den Eindruck erheblich verstärken können, dass der grundbesitzenden adeligen Führungsschicht ein entscheidender Anteil an der Christianisierung Thüringens und am Aufbau langfristig wirkender kirchlicher Strukturen zugemessen werden muss. Seit uns die vom frühen 8. Jahrhundert an reicher

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CDF Nr. 548. Vgl. dazu BOSL, Franken um 800 (wie Anm. 59) S. 91. Dass auch große Teile der von Asis für die eigene Seelgerätstiftung bestimmten ostfränkischen Güter aus seinem Erbe stammten und so die jenseits des Thüringer Waldes erschlossenen reichen Besitzungen schon eine Generation zuvor in der Hand des Verwandtschaftsverbandes gewesen sind, erweisen die an verschiedenen der dort genannten Orte gleichgroßen Besitzanteile Asis' im Umfang von quartae partis (wie Anm. 120).

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fließenden Quellen tiefere Einblicke gestatten, begegnen immer wieder einzelne Grundherren und adelige Verwandtengruppen, die sich als Stifter betätigt haben. Die herzogliche Familie Hedens ermöglichte durch Besitzschenkungen das Wirken Willibrords in Thüringen. Nach Hedens Sturz waren es fuhrende Vertreter der grundbesitzenden Oberschicht, die Bonifatius und dessen Anhänger gefördert haben. Die später gegründeten Klöster Fulda und Hersfeld haben dank reicher Schenkungen von Freien und insbesondere von Adeligen bedeutende Besitzkomplexe in Thüringen aufbauen können, die Grundlage einer stärkeren kirchlichen Durchdringung des Landes auf Betreiben beider Reichsabteien gewesen sind. Schließlich haben Adelige durch die Errichtung und Ausstattung von Eigenkirchen offenbar ganz erheblich zum Aufbau des später flächendeckenden Pfarreinetzes beigetragen, obwohl der tatsächliche Anteil dieser so entstandenen Gotteshäuser nicht näher bestimmt werden kann. Durch Schenkungen und eigene Gründungen haben Vertreter der grundbesitzenden Oberschicht darüber hinaus an der Entstehung erster Keimzellen monastischen Lebens in Thüringen mitgewirkt. Um den Einzelzeugnissen adeliger Stiftungstätigkeit größere Aussagekraft zu verleihen, ist im Rahmen dieser Studie versucht worden, mit Hilfe prosopographischer Methoden die adeligen Verwandtschaftskreise näher zu bestimmen, denen die jeweiligen Stifter angehört haben. Angesichts der erheblichen Überlieferungs- und Methodenprobleme ist dabei ganz bewusst größtmögliche Zurückhaltung geübt worden, wohl wissend, dass Teile der Forschung schon heute viel weitreichendere personen- und besitzgeschichtliche Zusammenhänge rekonstruieren, und dass breiter angelegte personengeschichtliche Untersuchungen zukünftig gewiss zusätzliche Ergebnisse erbringen werden. Doch konnte es in unserem Zusammenhang keineswegs um eine möglichst vollständige Erfassung aller verwandtschaftlichen Bindungen einzelner Stifter und auch nicht um eine möglichst umfassende Rekonstruktion der Besitzrechte ihrer Familien gehen. Das Ziel war vielmehr, die regionalen Herrschaftszentren und den Rang derjenigen adeligen Verwandtschaftskreise stärker zu konturieren, deren Vertreter im Untersuchungszeitraum als Stifter hervorgetreten sind. Trotz der angesprochenen Zurückhaltung konnte dabei festgestellt werden, dass die als Stifter begegnenden Adeligen verschiedenen Verwandtschaftskreisen angehört haben, die sich offenbar erheblich nach Rang und politischem Einfluss unterschieden haben. Gleichwohl haben sich offenbar die besonders mächtigen Familien wie etwa die Gunther-AsulfSippe, die Geisenheimer oder die Sippe des comes Asis in besonderer Weise durch Stiftungen und Kirchengründungen hervorgetan. Im Zusammenhang der personengeschichtlichen Einzeluntersuchungen wurde schließlich nochmals deutlich, dass einige dieser Familien - auch einige der offenbar weniger mächtigen - bereits seit früher Zeit, gestützt auf ihren jeweiligen Grundbesitz, einzelne Regionen in Thüringen und Ostfranken herrschaftlich verklammert

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haben 133 . Freilich bleibt festzuhalten, dass ein erheblicher Teil der in Thüringen bestimmenden adeligen Führungsschicht und der hier begegnenden Stifter thüringischer Stammeszugehörigkeit gewesen sind. Richtet man von den gewonnenen Einzelergebnissen dieser Studie ausgehend den Blick unmittelbar auf die Zeit, in der mit dem ersten Auftreten angelsächsischer Missionare mehr Licht auf die Verhältnisse im Lande fällt, so wird man im Anschluss an die bisherige Forschung nochmals deutlich unterstreichen müssen, dass der Adel in Thüringen bereits vor dem Auftreten des Willibrord und später des Bonifatius mindestens zu einem erheblichen Teil christianisiert gewesen ist. Das galt nicht nur für die Thüringer Herzöge seit Radulf, sondern etwa auch für jene viri magnifici134 und andere seniores plebis populique principesns, deren Unterstützung sich Bonifatius vom Beginn seiner Tätigkeit an zu sichern suchte. Trotzdem hat es den Anschein, als habe erst der Impuls der angelsächsischen Mission zu nachhaltigen Wirkungen adeliger Stiftungstätigkeit geführt. In diesem Zusammenhang sei betont, dass sich in keinem einzigen Falle die Gründung einer der früh bezeugten adeligen Eigenkirchen auf eine Zeit vor dem Auftreten der Angelsachsen zurückführen ließ. Bedenkt man zudem, dass auch kein einziges Zeugnis aus dem Umfeld von Willibrord und Bonifatius die Übergabe einer bereits bestehenden Kirche an die Missionare berichtet, die Viten aus dem Bonifatiusumfeld stattdessen mehrfach die Übertragung von Grund und Boden erwähnen, auf denen dann erst Gotteshäuser errichtet wurden 136 , und dass schließlich Bonifatius Papst Gregor II. die Thüringer brieflich auffordern ließ, Kirchen zu bauen {Facite ergo [...] qcclesias, ubi orare debeatis, ut Deus indulgeat peccata vestra et donet vobis vitam perpetuam)131, so wird man die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass die später im Lande bestehenden Pfarr-, Kloster- und Stiftskirchen keine bis in das 7. Jahrhundert zurückreichende Entstehungsgeschichte aufweisen. Obwohl davon auszugehen ist, dass die zuvor bereits christianisierte Oberschicht über eigene dem christlichen Kult gewidmete Gebäude oder Räume verfügt hat, scheinen doch die Angelsachsen ein völlig neues Konzept von Kirche mitgebracht zu haben, das sich in eigentums-, vor allem aber wohl in kirchenrechtlicher, liturgischer, personaler und wahrscheinlich auch baulicher Hinsicht von den bisherigen christlichen Kultstätten unterschieden hat und das in dieser neuen Form vor allem auch Keimzelle der jüngeren Pfarreiorganisation geworden ist. Dem Adel boten 133 Vgl. in diesem Zusammenhang auch GOCKEL, Emhilt von Milz (wie Anm. 61). 134 Wie Anm. 29. 135 Vita Bonifatii auctore Willibaldo (wie Anm. 18) c. 6, S. 32 Z 5-8. Vgl. bei Anm. 21. 136 Vgl. bei Anm. 22. 137 Epp. Bonifatii et Lulli Nr. 25, S. 44 Z. 4-7. Vgl. dazu auch die darauf bezogene Wendung im Brief Gregors II. an Bonifatius (ebd. Nr. 24, S. 42 Z. 32-34): Igitur Thuringis et Germaniae populo ea, qu% ad animg respiciunt utilitatem et salutem, scribere non omisimus, inter alia, ut construant [...] aeclesias condant, iniungentes.

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Eigenkirchen jenseits der religiösen Aspekte die Möglichkeit der Integration ihrer Grundherrschaften und der Intensivierung von Herrschaft über abhängige Personen. In der Situation des 8. Jahrhunderts, als das Herzogtum als bestimmender politischer Faktor in Thüringen ausgefallen war, die Zentralgewalt die verstärkte Integration des Landes in das Frankenreich betrieb und sich die äußeren Verhältnisse stabilisierten, eröffneten sich den fuhrenden Familien in Thüringen Möglichkeiten verstärkten Herrschaftsausbaus. Dieser Prozess konnte über die Gründung von Eigenkirchen begleitet und befördert werden. Vielleicht erklärt daher auch eine noch vergleichsweise kurze Tradition besitzrechtlich bedeutsamer Kirchen und ihre noch uneingeschränkte Verwurzelung in der Grundherrschaft das völlige Fehlen von auf Kirchen bzw. Kirchenbesitz abgestimmten Rechtsgrundsätzen und -traditionen in der Lex Thuringorum, die sich darin durchaus von anderen Volksrechten unterscheidet 138 . Die These von einer kaum in das 7. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte des Kirchen- und Klosterwesens in Thüringen ist hier durchaus in dem Wissen um eine lange landesgeschichtliche Forschungstradition formuliert, die in rückschließendem Verfahren, von den Patrozinien oder den Besitz- und Parochialverhältnissen jüngerer Zeit ausgehend, insbesondere die Anfange einzelner Pfarrkirchen bzw. des Niederkirchenwesens insgesamt weit in frühe Zeit zurückzuverfolgen sucht. Für die hier untersuchten früh bezeugten adeligen Eigenkirchen, das sei als Ergebnis wiederholt, kann die Annahme längeren, in das 7. Jahrhundert zurückreichenden Bestandes in keinem einzigen Falle begründet werden. Freilich wird man der schriftlichen Überlieferung auch nicht abverlangen können, die frühere Existenz von Kirchen insgesamt sicher auszuschließen. Immerhin ist in diesem Zusammenhang aber darauf zu verweisen, dass das Königtum seit dem Tode Dagoberts I. (f 639) keinen Einfluss mehr auf die thüringischen Verhältnisse hatte und so bis in die Zeit von Hedens Sturz die Zentralgewalt als Träger der Christianisierung ausgefallen ist. Die Gründung oder auch nur den Erhalt von Königskirchen über die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts hinweg wird man daher ausschließen dürfen 139 . Von archäologischer Seite ist schließlich erst in Zukunft ein Beitrag zur Lösung der angesprochenen Fragen nach den Anfängen der ältesten Kirchen in Thüringen zu erwarten. Die bisherigen Grabungsbefunde lassen in keinem einzigen Fall auf die Existenz der untersuchten Kirchen vor dem 9. Jahrhundert schließen. Vielleicht kann diese Studie ihrerseits dazu anregen,

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Vgl. die Anm. 89 genannte Edition und die dort verzeichnete Literatur. Die erste durch eine Übertragung an Fulda sicher nachweisbare königliche Kirche in Thüringen ist für 779, März 13 bezeugt (UB Hersfeld Nr. 12). Vgl. dazu Waldemar KÜTHER, Lupnitz. Fiskus - Villa - Gau - Mark - Wildbann, in: Festschrift für Walter Schlesinger 2 (wie Anm. 61) S. 162-237. Weder in ihrem Falle noch bei später bezeugten lässt sich die Gründungszeit in weit frühere Zeit zurückverfolgen.

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gezielter bei denjenigen Gotteshäusern archäologisch nachzuforschen, die nach Auskunft der Schriftzeugnisse zu den ältesten Kirchen des Landes zu rechnen sind. Abschließend sei hervorgehoben, dass diese Studie zur adeligen Stiftungstätigkeit im 8./frühen 9. Jahrhundert in Thüringen einzelne Adelige hervortreten ließ, die sich in ganz außergewöhnlicher Weise als Stifter betätigt haben. Sowohl der clericus Alwalah als etwa auch der Graf Asis haben offenbar ihren gesamten Besitz an Fulda übergeben. Die Schenkungen der Sippe des comes Asis insgesamt zeigen eine adelige Familie, die in kurzer Zeit große Teile ihres Grundbesitzes und damit ihrer herrschaftlichen Grundlagen an ein Kloster gestiftet hat. Obwohl die Familiengeschichte in jüngerer Zeit nicht weiter zu verfolgen ist, wird man davon ausgehen müssen, dass diese gewaltigen Schenkungen den Rang, ja den herrschaftlichen Bestand der Sippe spätestens in der nächsten Generation bedroht haben. Vergegenwärtigt man sich insgesamt die Dimensionen, in denen freie und adelige Stifter Grundbesitz an die Klöster Fulda und Hersfeld übertragen haben - nur für diese ist der Umfang annäherungsweise aus den überlieferten Besitzverzeichnissen zu erschließen - , so wird deutlich, dass es in Thüringen innerhalb von nur zwei bis drei Generationen zu völlig veränderten Besitzverhältnissen gekommen ist. Vergleichbare Dimensionen adeliger Stiftungstätigkeit und religiös motivierter Förderung monastischer Gemeinschaften sollte es in Thüringen erst lange Zeit später im 11./12. Jahrhundert wieder geben.

THOMAS

ZOTZ

Markgraf Hermann von Verona und Graf Eberhard von Nellenburg Religiöser Aufbruch und adlige conversio im Schwaben des * 11. Jahrhunderts Zum Jahr 1083 notiert Bernold von St. Blasien in seiner Chronik: Eo tempore in regno Teutonicorum tria monasteria cum suis cellulis regularibus disciplinis instituta egregie pollebant, quippe coenobium sancii Blasii in Nigra Silva et Sancii Aurelii, quod Hirsaugia dicitur, et Sancii Salvatoris, quod Scefliusin, id est navium domus, dicitur. Ad quae monasteria mirabilis multitudo nobilium et prudentium virorum hac tempestate in brevi confugit et depositis armis evangelicam perfectionem sub regulari disciplina exequi proposuit, tanta inquam numero, ut ipsa monasteriorum aedificia necessario ampliarent, eo quod non aliter in eis locum commanendi haberent1.

Im Umfeld dieser vielzitierten Passage schildert Bernold, Konstanzer Kleriker und spätestens seit Beginn der achtziger Jahre Mönch in St. Blasien, bevor er 1092 nach Allerheiligen wechselte 2 , die Situation im Reich und ihre Polarisierung in die Anhänger König Heinrichs IV. und Papst Gregors VII.: Bereits seit sieben Jahren leide das ganze Romanum imperituri am Bürgerkrieg, an der Spaltung des Schismas (scismatis discidio), und die wenigen katholischen Bischöfe, so das düstere Bild, seien von ihren Sitzen vertrieben und nicht in der Lage, ihre Herden zu versorgen. Daher wichen fast alle Frommen (religiosi), Kleriker wie Laien, in die Schlupfwinkel der Klöster aus, um nicht die Verwüstung der heiligen Kirche mit anzusehen, der sie in keiner Weise beistehen könnten. Hier, in den Klöstern, lasse sich wenigstens für das eigene Heil Sorge tragen.

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Mit Matthias Werner verbindet mich eine schon Jahrzehnte währende Freundschaft, und immer wieder galten unsere Gespräche dem gemeinsamen Interesse an Fragen der Adelsgeschichte. So ist es mir eine große Freude, dem Jubilar einen Beitrag im Schnittfeld der Themen Adel und Religiöse Bewegungen, seines anderen großen Forschungsschwerpunkts, hier überreichen zu können. Die Chronik Bernolds von Konstanz, in: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz 1054-1100, hg. von Ian S. ROBINSON (MGH SS rer. Germ. N. S. 14, 2003) S. 436 f. Zu seiner Vita vgl. Wilfried HARTMANN, Bernold von Konstanz (von St. Blasien), in: Lex.MA 1 (1980) Sp. 2007 f.; Ian S. ROBINSON in der Einleitung zu seiner MGH-Edition (wie Anm. 1) S. 100 ff.

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Dann folgt die zitierte rühmende Erwähnung der drei Klöster St. Blasien, Hirsau und Schaffhausen, die Fluchtstätten für eine Vielzahl von adligen und klugen Männern geworden seien. Nach Niederlegung der Waffen als Zeichen für den Austritt aus der Welt suchten sie hier, die evangelica perfectio, die Vervollkommnung gemäß dem Evangelium 3 , unter der Zucht der Regel zu erreichen. In diesen Klöstern würden selbst die äußeren Dienste nicht durch Weltliche, sondern durch fromme Brüder verrichtet. Je edler sie in der Welt waren, desto mehr würden sie sich danach sehnen, mit verächtlichen Aufgaben beschäftigt zu werden, so daß diejenigen, welche Grafen und Markgrafen in der Welt gewesen sind, jetzt für die höchste Wonne hielten, den Brüdern in der Küche oder in der Mühle zu dienen oder Schweine auf ihren Feldern zu hüten. Bernolds Lob der drei schwäbischen Klöster im deutschen Reich 4 ist zugleich ein eindrucksvolles Zeugnis für die Hinwendung zahlreicher Adliger zu diesen Leuchttürmen des religiösen Aufbruchs nach 1050, dem dieser Beitrag gelten soll. Derartige „Adelsbekehrungen", bereits am Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter belegt 5 , sind seit längerem Gegenstand der Forschung, insbesondere durch den wegweisenden Beitrag von Herbert Grundmann6. Dieser hat die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts, die hier näher interessierende Zeit, allerdings übersprungen: Vom Beispiel des zum Mönch und Eremiten gewordenen thüringischen Grafen Gunther von Käfernburg-Schwarzburg (f 1045), des vir nobilis ac potens de Thuringia,1

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In der zweisprachigen Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe der Chronik ist die besagte Stelle sinnentstellend mit ,engelsgleicher Vollkommenheit' übersetzt. Bertholds und Bernolds Chroniken, hg. von Ian Stuart ROBINSON, übersetzt von Helga ROBINSONHAMMERSTEIN und Ian Stuart ROBINSON (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 14, 2002) S. 329. Hierzu jüngst zusammenfassend Steffen PATZOLD, Die monastischen Reformen in Süddeutschland am Beispiel Hirsaus, Schaffhausens und St. Blasiens, in: Canossa 1077 - Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik 1: Essays, hg. von Christoph STIEGEMANN und Matthias WEMHOFF (2006) S. 199-208. Vgl. etwa Hagen KELLER, Mönchtum und Adel in den Vitae patrum Jurensium und in der Vita Germani abbatis Grandivallensis. Beobachtungen zum frühmittelalterlichen Kulturwandel im alemannisch-burgundischen Grenzraum, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding zum 65. Geburtstag, hg. von Kaspar ELM, Eberhard GÖNNER und Eugen HILLENBRAND (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden -Württemberg B 92, 1977) S. 1-23. Herbert GRUNDMANN, Adelsbekehrungen im Hochmittelalter: Conversi und nutriti im Kloster, in: Adel und Kirche. Festschrift für Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag, hg. von Josef FLECKENSTEIN und Karl SCHMID (1968) S. 325-345. Ebd., S. 332 ff., Zitat aus Annalista Saxo zu 1006 S. 332. Zur Person Tilman STRUVE, Gunther, Eremit, in: Lex.MA 4 (1989) Sp. 1793; Helge WITTMANN, Zur Frühgeschichte der Grafen von Käfernburg-Schwarzburg, Zs. des Vereins für Thüringische Geschichte 51 (1997) S. 9-59, hier S. 20-27. Zur Klostergründung Gunthers im thüringischen Göllingen

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geht die Darstellung gleich „vier Menschenalter" weiter zu Adelsbekehrungen des 12. Jahrhunderts im Umfeld der Zisterzienser und Prämonstratenser. Will man sich dem von Grundmann ausgesparten Themenfeld Adel und Kloster in der Aufbruchsstimmung nach 1050 nähern, so liegen für den deutschen Südwesten die wichtigen Arbeiten von Klaus Schreiner8, Hermann Jakobs9 und nicht zuletzt Karl Schmid10 vor. In seiner Studie über Adel und Reform in Schwaben hat Schmid bereits auf den Rückzug zahlreicher schwäbischer Adliger in die Reformklöster hingewiesen, doch lohnt es sich, diesen adligen conversiones und ihren spezifischen Rahmenbedingungen im deutschen Südwesten des späteren 11. Jahrhunderts genauere Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn Bernold in seinem unmittelbar zeitgenössischen Bericht11 zu 1083 auf Grafen und Markgrafen anspielt, die jetzt danach strebten, die niedersten Dienste für die klösterlichen Mitbrüder zu verrichten, so dürften ihm vor allem zwei Adlige vor Augen gestanden haben, die wenige Jahre zuvor eine offenbar Aufsehen erregende conversio vollzogen haben: Markgraf Hermann von Verona und Graf Eberhard von Nellenburg. Markgraf Hermann, Stammvater der Markgrafen von Baden12, war der älteste Sohn Herzog Bertholds I. von Kärnten und seiner Gemahlin Richwara13; seine Brüder Gebhard, ab 1084 Bischof von Konstanz, und Bert-

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jüngst Mathias KÄLBLE / Thomas LUDWIG, „in villa, que vocatur Gellinge". Die Ersterwähnung des Klosters Göllingen 1005 (2005). Klaus SCHREINER, Sozial- und standesgeschichtliche Untersuchungen zu den Benediktinerkonventen im östlichen Schwarzwald (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 31, 1964); DERS., Mönchsein in der Adelsgesellschaft des hohen und späten Mittelalters. Klösterliche Gemeinschaftsbildung zwischen spiritueller Selbstbehauptung und sozialer Anpassung, HZ 248 (1989) S. 557620. Hermann JAKOBS, Die Hirsauer. Ihre Ausbreitung und Rechtsstellung im Zeitalter des Investiturstreites (Kölner Historische Abhandlungen 4, 1961); DERS., Der Adel in der Klosterreform von St. Blasien (Kölner Historische Abhandlungen 16, 1968). Karl SCHMID, Adel und Reform in Schwaben, in: Investiturstreit und Reichsverfassung, hg. von Josef FLECKENSTEIN (VUF 17, 1973) S. 295-319, wieder in: DERS., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge (1983) S. 336-359. Nach dem Schriftbild des Autographs (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 432) sind die gegenüber früher deutlich umfangreicheren Jahresberichte ab 1083 vermutlich gleichzeitig zu den Ereignissen eingetragen worden. Vgl. ROBINSON, Einleitung zur MGHEdition (wie Anm. 1) S. 86 f.; DERS., Einleitung zur Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe (wie Anm. 3) S. 12. Hansmartin SCHWARZMAIER, Baden. Dynastie - Land - Staat (2005). Joachim WOLLASCH, Hermann I., Markgraf „von Baden", in: Die Zähringer. Anstoß und Wirkung, hg. von Hans SCHADEK und Karl SCHMID (1986) S. 184 f.; DERS., Markgraf Hermann und Bischof Gebhard III. von Konstanz - Die Zähringer und die Reform der Kirche, in: Die Zähringer in der Kirche des 11. und 12. Jahrhunderts, hg. von Karl Suso FRANK ( 1 9 8 7 ) S. 2 7 - 5 3 ; K a r l SCHMID, V o m W e r d e g a n g d e s b a d i s c h e n

Markgrafenge-

schlechtes, ZGORh 139 (1991) S. 45-77; DERS., Baden-Baden und die Anfänge der Mark-

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hold II., Herzog von Schwaben 1092-1098, gehörten zur päpstlichen, antisalischen Partei in Schwaben: Gebhard als treuer Anhänger Gregors VII. und der späteren Päpste und Berthold als weltliches Haupt der päpstlichen Partei in Schwaben gegen den auf salischer Seite stehenden Herzog Friedrich I. von Schwaben (1079-1105) 14 . Nach seinem Verzicht auf das schwäbische Herzogtum 1098 zugunsten des Staufers wurde Berthold II. zum Begründer des Hauses der Herzöge von Zähringen und ihrer den Zuständigkeitsbereich der Herzöge von Schwaben empfindlich beschneidenden Herrschaft15. Hermann begegnet erstmals in einer auf 1050 datierten Urkunde Graf Eberhards (von Nellenburg), der hier mit Herzog Berthold I. von Kärnten als dem Vogt der Bamberger Kirche einen Gütertausch zum Zweck seiner Klostergründung in Schaffhausen vornahm16. Hermann marchio, der Sohn Herzog Bertholds, und die drei Söhne Burkhard, Eberhard und Adalbert, Söhne Graf Eberhards, führen die Zeugenliste an. Hierbei bezieht sich Hermanns Markgrafentitel auf die zum Herzogtum Kärnten gehörende Mark Verona17. Da aber Berthold erst im Jahre 1061 das Herzogtum Kärnten mit der Mark Verona erhalten hat, ist davon auszugehen, daß die Urkunde frühestens 1061 ausgefertigt wurde, während der Tauschakt selbst bereits ein Jahrzehnt früher stattgefunden hat18. Insofern hat erst die Nennung Hermanns als Graf im grafen von Baden, Z G O R h 140 (1992) S. 1-37. Zur Herkunft Richwaras vgl. die kontroverse Diskussion bei Heinz KRIEG, Adel in Schwaben: Die Staufer und die Zähringer, in: Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich (1079-1152), hg. von Hubertus SEIBERT und Jürgen DENDORFER (Mittelalter-Forschungen 18, 2005) S. 6597, hier S. 74 ff., und Eduard HLAWITSCHKA, Zur Abstammung Richwaras, der Gemahlin Herzog Bertholds I. von Zähringen, Z G O R h 154 (2006) S. 1-20. 14 KRIEG, Staufer und Zähringer (wie Anm. 13). 15 Vgl. grundlegend Ulrich PARLOW, Die Zähringer. Kommentierte Quellendokumentation zu einem südwestdeutschen Herzogsgeschlecht des hohen Mittelalters (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg A 50, 1999); Thomas ZOTZ, Zähringer, in: Lex.MA 9 (1998) Sp. 464-467. 16 Das Kloster Allerheiligen in Schaffhausen, hg. von Franz Ludwig BAUMANN, in: Quellen zur Schweizer Geschichte 3 (1883) Nr. 3, S. 6 ff. 17 Gian Maria VARANINI, Verona, Mark, in: Lex.MA 8 (1997) Sp. 1567 f. 18 So bereits Franz Ludwig BAUMANN in der Nachbemerkung zu der in Anm. 16 zitierten Edition. Anders Rudolf GAMPER, Studien zu den schriftlichen Quellen des Klosters Allerheiligen von 1050 bis 1150, Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 71 (1994) S. 7-41, hier S. 11, der eine gleichzeitige urkundliche Niederschrift des Tausches von 1050 grundsätzlich für denkbar hält. In ihr könnte, was in der Abschrift nicht mehr erkennbar wäre, später Carinthiorum interlinear ergänzt worden sein. Dazu ist zu bemerken, daß dann auch der mehrfach verwandte dux-Titel Bertholds und eben auch der marchio-Titel Hermanns hätten nachgetragen werden müssen; denn Berthold hat bis 1061 den Grafentitel geführt. Die in solchem Fall notwendigen größeren Änderungen an mehreren Stellen im Text der Urkunde sind gewiss möglich, aber die bisherige A n n a h m e erscheint auch aus inhaltlichen Gründen plausibler. Nimmt man nämlich an, daß Hermann bereits 1050 als Handlungszeuge aufgetreten ist, müßte er damals mindestens 14 Jahre alt gewesen sein. Dazu würde schlecht passen, daß er bei seinem Eintritt in das Kloster Cluny im Jahre 1073 mit über 35 Jahren ein

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Breisgau in der Urkunde König Heinrichs IV. von 1064 für Ottmarsheim als frühester sicherer Beleg zu gelten 19 . Er zeigt Hermann als Inhaber der für die Bertholde, die Vorfahren der Zähringer, seit der Jahrtausendwende wichtigen Grafschaft im Breisgau, jenem Raum, in dem die Zähringer später ihr Herrschaftszentrum mit der Burg Zähringen, der Burg und frühstädtischen Siedlung Freiburg und dem Hauskloster St. Peter errichten werden 20 . Als marchio marchie Veronensis hat Hermann wohl im Jahre 1072 treuhänderisch an der Gründung und Ausstattung einer Kirche in Rimsingen durch den Adligen Hesso und deren Übertragung an die Abtei Cluny mitgewirkt 21 , wie sie Heinrich IV. am 27. Juli 1072 für Cluny und seinen damals am Königshof weilenden Abt Hugo bestätigte 22 . Damit ist bereits eine Nähe Hermanns zu dem „Licht der Welt" 23 in Burgund greifbar, und ein Jahr später, vielleicht in der Fastenzeit24, wurde der Markgraf Mönch in Cluny, starb allerdings nach wenig mehr als einem Jahr, am 26. April 1074, und fand dort seine letzte Ruhe. Bernold von St. Blasien hat in dem seiner Chronik vorangestellten Kalender zum 26. April eingetragen: Heremannus ex marchione monachus obiit25. Diese conversio Hermanns hatte sogleich in der zeitgenössischen Überlieferung Resonanz, hinterließ aber auch später noch Spuren: Bereits Berthold von Reichenau widmet in seiner Chronik zum Jahr 1073 dem Klostereintritt Markgraf Hermanns einige Aufmerksamkeit 26 : Der Sohn Herzog Bertholds,

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adolescens gewesen sein soll, wie Berthold von Reichenau berichtet. Vgl. dazu unten, bei Anm. 26. Zu Hermanns zeitlicher Einordnung vgl. auch Thomas ZOTZ, Besigheim und die Herrschaftsentwicklung der Markgrafen von Baden, in: Das Land am mittleren Neckar zwischen Baden und Württemberg, hg. von Hansmartin SCHWARZMAIER und Peter RÜCKERT (Oberrheinische Studien 24, 2005) S. 73-94, hier S. 77 f. D H IV. 126. Vgl. Thomas ZOTZ, Die Situation des Adels im 11. und frühen 12. Jahrhundert, in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert - Positionen der Forschung, hg. von Jörg JARNUT und Matthias WEMHOFF (Mittelalter-Studien 13, 2006) S. 341-355, S. 350 f. SCHMID, Werdegang (wie Anm. 13) S. 73; Heinz KRIEG und Thomas ZOTZ, Der Adel im Breisgau und die Zähringer. Gruppenbildung und Handlungsspielräume, ZGORh 150 (2002) S. 73-90, hier S. 81. D H IV. 255. Vgl. Armin KOHNLE, Abt Hugo von Cluny (1049-1109) (Beihefte der Francia 32, 1993) S. 142. So die Kennzeichnung Clunys in einer Urkunde Papst Urbans II. von 1097. Vgl. Joachim WOLLASCH, Cluny - „Licht der Welt". Aufstieg und Niedergang der klösterlichen Gemeinschaft (1996) S. 12 f. ZOTZ, Besigheim (wie Anm. 18) S. 81. Rolf KUITHAN und Joachim WOLLASCH, Der Kalender des Chronisten Bernold, DA 40 (1984) S. 478-531, hier S. 484 f. Zur Frage der politischen Motive für diesen Schritt vgl. Alfons ZETTLER, Geschichte des Herzogtums Schwaben (2003) S. 175 f. Die Chronik Bertholds von Reichenau, in: Die Chroniken (wie Anm. 1) S. 216; (wie Anm. 3) S. 72.

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noch im Jünglingsalter (adolescens adhuc) nach der evangelica perfectio strebend, habe seine Gattin und seinen einzigen Sohn und alles, was er sonst noch besaß, zurückgelassen27 und sei als Christi secutor verus et nudus nudae crucis baiulus in Cluny revera, d. h. vollgültig28, Mönch geworden. Hermann als wahrer Nachfolger Christi und nackter Träger des nackten Kreuzes: So, im Verzicht auf alle personellen Bindungen und materiellen Güter, ließ sich das Herrenwort des Evangeliums erfüllen! Im Vergleich schärft sich das Nachfolge-Christi-Profil des Markgrafen: Berthold von Reichenau hat auch Herzog Gottfried den Bärtigen anläßlich seines Todes 1069 besonders gewürdigt: Er sei inter seculares prestantissimus und in der Verteilung von Almosen largissimus gewesen, die er in solchem Ausmaß seinem Besitz und seinen Schätzen zur Verteilung an Arme und Kirchen entnommen habe, daß er ferme nudus nudae crucis baiulus, fast als nackter Träger des nackten Kreuzes, zurückgeblieben sei29. Gottfried hat - anders als Hermann - sein Leben im Laienstand beendet, sich vieler, aber nicht aller Dinge zugunsten von Armen und Kirche entäußert, so daß für Berthold kein Zweifel daran besteht, daß Gottfried glücklich das Bürgerrecht der supercaelestis curia erlangt hat. Doch er wurde nur zum beinahe nackten Träger des Kreuzes. Zu Hermann merkt Berthold von Reichenau dann noch an, daß er in Cluny nach wenig mehr als einem Jahr regelgerechten Lebens am 25. April (korrekt 26. April) gestorben sei. Wenn der Chronist hinzufugt, daß Hermann noch jetzt {adhuc) die Brüder von Cluny wegen ihrer Heimlichkeiten und Nachlässigkeiten durch häufige Offenbarungen (crebris revelationum oraculis) ermahne, so ist dies in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich: für Hermanns vorbildliches Verhalten in der kurzen Zeit seines mönchischen Daseins, für den sich alsbald bildenden Ruf seiner Heiligkeit, der allerdings nicht in eine offizielle Verehrung mündete, und für die Verbreitung dieses Rufes auch und gerade in die „alte Heimat" des Markgrafen. Hierzu mag nicht zuletzt der aus 27 In der MGH-Edition (Die Chroniken [wie Anm. 1] S. 216 Anm. 184) wird erläutert, daß die unrichtige Angabe Bertholds, Hermann sei mit Frau und Sohn in Cluny eingetreten, von Bernold in dem Eintrag über Hermann zu 1074 in seiner Chronik (Die Chroniken [wie Anm. 1] S. 403) korrigiert worden sei. Mag Bernold die Formulierung wohl in klärender Absicht sprachlich überarbeitet haben (Eliminierung des mißverständlichen cum uxore...), so dürfte doch auch Berthold den Sachverhalt richtig verstanden und wiedergegeben haben. Denn einen Klostereintritt mit Frau und Kind hat es nicht gegeben. In der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe (Die Chroniken [wie Anm. 3] S. 73) wird Bertholds Text sachlich richtig übersetzt. 28 Vgl. Wolfgang TESKE, Laien, Laienmönche und Laienbrüder in der Abtei Cluny. Ein Beitrag zum ,Konversen-Problem', I. Teil, FmSt 10 (1976) S. 248-322; II. Teil, ebd. 11 (1977) S. 288-339. 29 Die Chroniken (wie Anm. 1) S. 208; Die Chroniken (wie Anm. 3) S. 64; Vgl. Matthias WERNER, Der Herzog von Lothringen in salischer Zeit, in: Die Salier und das Reich 1, hg. von Stefan WEINFURTER ( 2 1992) S. 367-473.

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Bayern stammende Cluniazenser Ulrich beigetragen haben, der seit den späten siebziger Jahren Kontakte in den deutschen Südwesten unterhielt: zu dem von Rimsingen nach Grüningen verlegten cluniazensischen Priorat, dessen Leitung er wohl Anfang der achtziger Jahre übernahm und dessen Verlegung in das Möhlintal am Schwarzwaldrand er wenig später betrieb 30 , oder zu Abt Wilhelm von Hirsau, mit dem Ulrich in St. Emmeram zu Regensburg gemeinsam erzogen worden war 31 und auf dem er im Anschluß an seinen Besuch in Hirsau 1079 Texte über die cluniazensischen Gewohnheiten als Vorlage für Wilhelms ,Constitutiones Hirsaugienses' zur Verfügung stellte 32 . Es bleibt auch zu erwägen, ob nicht auch die von Ulrich (f 1093) stammende Lebensbeschreibung seines Mitbruders, des Mönch gewordenen Markgrafen, schon bald zur Verbreitung der Kenntnis von dessen Vorbildhaftigkeit, geradezu Heiligkeit beigetragen hat. Jedenfalls stellt diese biographische Würdigung, die leider ebensowenig wie die von Ulrich verfaßte Inschrift auf dem Epitaph Hermanns im Kloster Cluny erhalten ist, ein gewichtiges Zeugnis der Wirkung und Nachwirkung dieses schwäbischen Adligen dar. Von beiden Werken ist beim Anonymus Mellicensis die Rede, der in seinem auf bald nach 1130 zu datierenden Katalog kirchlicher Schriftsteller auch Ulrich, Ratisponensis ecclesiae canonicus ac postmodum Cluniacensis monasterii monachus, anführt: Composuit quoque vitam et epitaphium sancti Hermanni ex marchione monachifilii ducis Berchtoldi fratris Gerhardi Constantiensis episcopfi3. Der rund ein halbes Jahrhundert nach Hermanns Tod geschriebene Eintrag spiegelt zum einen den Ruf seiner Heiligkeit, wie sie gewiss bei Ulrich zum Ausdruck gebracht worden ist, zum anderen die Nähe zu der aus Bernolds Kalendar bekannten Formulierung. Es ist gut vorstellbar, daß sie auf Ulrich und dessen Vita Herimanni zurückgeht und von Bernold von St. Blasien aufgegriffen worden ist.

30 Emst TREMP, Ulrich von Zell, in: Lex.MA 8 (1997) Sp. 1205 f.; KRIEG / ZOTZ, Adel im Breisgau (wie Anm. 21) S. 81 ff.; Florian LAMKE, Die Viten des Ulrich von Zell. Entstehung, Überlieferung und Wirkungskontext, in: in frumento et vino opima. Festschrift für Thomas Zotz zu seinem 60. Geburtstag, hg. von Heinz KRIEG und Alfons ZETTLER (2004) S. 163-180. Künftig die für dieses Themenfeld einschlägige Dissertation von Florian Lamke über „Die Cluniacenser am Oberrhein. Konfliktlösungen und adlige Gruppenbildung in der Zeit des Investiturstreits". 31 Joachim WOLLASCH, Cluny und Deutschland, StMGBO 103 (1992) S. 7-32, hier S. 22. 32 Norbert REIMANN, Die Konstitutionen des Abtes Wilhelm von Hirsau, in: Hirsau St. Peter und Paul 1091-1991, 2: Geschichte, Lebens- und Verfassungsformen eines Reformklosters, hg. von Klaus SCHREINER (Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 10/2, 1991) S. 101-108. 33 Anonymus Mellicensis, De scriptoribus ecclesiasticis, in: MLGNE PL 213, Sp. 959-984, hier Sp. 983 (cap. 110). Zum Autor und seiner in Frage gestellten Gleichsetzung mit Wolfger von Prüfening vgl. Günter GLAUCHE, Anonymus Mellicensis, in: Lex.MA 1 (1980) Sp. 673, Franz Joseph WORSTBROCK, Wolfger von Prüfening OSB und Anonymus Mellicensis, in: VL 2 10 (1999) Sp. 1352-1360, hier Sp. 1355-1358.

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Der eben wieder erwähnte Bernold hat auch in seiner Chronik den Schritt Markgraf Hermanns aus der Welt gewürdigt, allerdings knapper als Berthold, wenn er zu 1074 notiert: Heremannus marchio, filius Bertaldi ducis, Cluniaci angelicam vitam perfectissime arripiens, adhuc adolescens, uxore et unico filio et omnibus quae possederat, derelictis, vere monachus migravit ad Dominum, VII. Kai. Maii34. Bernold hat Bertholds Text nicht nur gekürzt, sondern auch leicht abgewandelt wiedergeben: Aus der evangelica perfectio wurde hier die angelica vita, hier nun tatsächlich das engelsgleiche, fromme Leben - eine Wendung, die von Bernold nur hier gebraucht wurde, wohingegen die evangelica perfectio öfters begegnet, so auch im eingangs zitierten Lob der schwäbischen Klöster 35 . Statt relinquere benutzt Bernold das verstärkende Wort derelinquere, womit er wohl das endgültige Verlassen zum Ausdruck bringen wollte. Noch an einer späteren Stelle kommt Bernold auf die Lebensgeschichte Markgraf Hermanns zu sprechen, nämlich anläßlich des Todes seiner Gemahlin Judith im Jahre 1091 in Salerno: Juditha piae memoriae marchionissa, nobilis genere sed nobilior in sanctitate, uxor quondam Heremanni religiosissimi marchionis, migravit ad Dominum V. Kai Octobris. Ipsa enim cum marito suo religiöse vixit, post cuius obitum XVIIII annos in viduitate et sancta conversatione permansit36. Von dieser Judith, die in der Forschung lange Zeit als Tochter Graf Adalberts von Calw, des Neugründers des Klosters Hirsau, galt, bevor sie von Karl Schmid der Familie der Herren von Backnang zugeordnet wurde 37 , berichtet die ,Historia Hirsaugiensis monasterii', daß sie den in den achtziger Jahren wegen Platzmangels in Angriff genommenen Neubau des Hirsauer Aureliusklosters und der nun den Apostelfürsten gewidmeten Kirche unter dem im selben Jahr wie sie verstorbenen Abt Wilhelm 38 aus eigenen Mitteln gefördert, dies dann aber wegen einer nicht näher erläuterten Kränkung aufgegeben habe 39 . In einem Nebensatz ist 34 Die Chroniken (wie Anm. 1) S. 403, Die Chroniken (wie Anra. 3) S. 296. 35 Vgl. Wortregister zur MGH-Edition (Die Chroniken [wie Anm. 1]) S. 625 s. v. perfectio; S. 644 s. v. vita. Zur Wortbedeutung von angelicus vgl. MLW 1 (1967) Sp. 638 f. 36 Die Chroniken (wie Anm. 1) S. 492; Die Chroniken (wie Anm. 3) S. 384. 37 Vgl. SCHMID, Werdegang (wie Anm. 13) S. 75 ff., jüngst dazu Florian LAMKE, Die frühen Markgrafen, von Baden, die Hessonen und die Zähringer. Konstellationen südwestdeutscher Adelsfamilien in der Zeit des Investiturstreits, ZGORh 154 (2006) S. 21-42, der die Frage der Herkunft Judiths wieder öffnet. 38 Vgl. dazu Hirsau St. Peter und Paul (wie Anm. 32) und neuerdings zusammenfassend Stefan MOLITOR, Hirsau, in: Württembergisches Klosterbuch. Klöster, Stifte und Ordensgemeinschaften von den Anfangen bis in die Gegenwart, hg. von Wolfgang ZIMMERMANN und Nicole PRIESCHING (2003) S. 279 ff. 39 Codex Hirsaugiensis, hg. von Eugen SCHNEIDER (Württembergische Geschichtsquellen 1, 1887) S. 9. Vgl. auch Karl SCHMID, Sankt Aurelius in Hirsau 830 (?) - 1049/75. Bemerkungen zur Traditionskritik und zur Gründerproblematik, in: Hirsau St. Peter und Paul (wie Anm. 32) S. 11-43, hier S. 39.

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dabei auch von Markgraf Hermann die Rede: Er sei den Seinen heimlich (clam) entflohen und aus Liebe zum himmlischen Hirten pastor pecorum der Mönche von Cluny geworden. Mit dieser durchaus kritisch gefärbten Reminiszenz an den in die ferne Abtei Cluny eingetretenen Markgrafen, der diesen Entschluß ohne Abstimmung mit seiner Familie gefaßt haben soll, ist die Nachwirkung dieses Ereignisses nicht zu Ende. Auf merkwürdige Weise legendenhaft ausgesponnen begegnet Hermanns Klostereintritt in den Pöhlder Annalen des späten 12. Jahrhunderts 40 : Hier wird als Einschub zwischen Jahreseinträgen zu 1121 und 1122 unter dem Stichwort aliud laudabile factum die Geschichte eines auf der Burg Baden in der Ortenau zur Zeit Heinrichs V. sitzenden Markgrafen Hermann berichtet. Die Präsenz der Markgrafen von Baden in der Reichsgeschichte seit dem frühen 12. Jahrhundert 41 hat zu einer zeitlichen Verlagerung des Erzählguts geführt. Hermann habe gleich wie der Mönch gewordene fränkische Hausmeier Karlmann, fälschlich als Sohn des zweiten Pippin bezeichnet, weltliche Würden, Reichtümer und Vergnügungen gering achtend zurückgelassen, nur von einem Begleiter umgeben. Auf dem Weg nach Cluny habe sich Hermann von diesem getrennt, um unerkannt seine Aufnahme im Kloster zu erbitten, die ihm auch gewährt wurde. Seinem Wunsch entsprechend sei er für die Viehweide eingeteilt worden. Dort hätten ihn Landsleute von ihm, die nach St. Gilles pilgerten, und darunter auch seine homines honesti, also wohl seine früheren adligen Vasallen, erkannt und gefragt, weshalb ihm, der reich und mächtig und von seinem ganzen Vaterland geliebt {omni sue patrie acceptus) wird, solches Unrecht widerfahre. Die Pilger hätten im Kloster gemeldet, um wen es sich handelte, und die Mönche hätten daraufhin Hermann ehrenvoll bei sich behandelt, was aber gar nicht dessen Willen entsprach. Deshalb habe er Cluny verlassen, um sein Leben in Demut unerkannt irgendwo zu Ende zu führen. So stellt sich die auch in die Sächsische Weltchronik aus dem 13. Jahrhundert eingegangene Geschichte 42 von der conversio eines hochrangigen Adligen dar, dessen Versuch, inkognito sich im monastischen Habitus zu erniedrigen, an seiner Bekanntheit in der Welt scheiterte, so daß er letztlich nur auf der Wanderschaft die erstrebte via humilitatis erfolgreich beschreiten konnte. Ein laudabile factum, das Exemplum einer Adelsbekehrung, bei der selbst der Weg ins Kloster nicht den radikalen Bruch mit der Welt bedeutete!

40 M G H SS 16, S. 76 f. Vgl. hierzu in größerem Zusammenhang Klaus SCHREINER, Geschichtsschreibung im Interesse der Reform. Die ,Hirsauer Jahrbücher' des Johannes Trithemius (1462-1516), in: Hirsau St. Peter und Paul (wie Anm. 32) S. 297-324, hier S. 310 f. 41 SCHMID, Werdegang (wie Anm. 13); DERS., Baden-Baden (wie Anm. 13); SCHWARZMAIER, Baden (wie Anm. 12) S. 49 ff. 42 Sächsische Weltchronik, hg. von Ludwig WEILAND, in: M G H Dt. Chron. 1, S. 194 f.

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Es ließe sich noch auf den Widerhall von Markgraf Hermanns Geschichte in der Zähringer-Genealogie im Liber vitae des Sanpetriner Abtes Petrus Gremmelsbach vom späten 15. Jahrhundert hinweisen, die nach den Forschungen von Alfons Zettler ihre Wurzeln in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hat 43 : Das ehemals zähringische Hauskloster erinnerte sich seines Gründergeschlechts, und dazu zählte auch der confrater Herzog Bertholds II. und Bischof Gebhards von Konstanz, die St. Peter ins Leben gerufen haben, nämlich Markgraf Hermann: Confrater vero eorum Hermannus in marchionem sublimatus est, quam dignitatem postea pro deo deseruit clamque fugiens Cluniacum peciit ibique occultus in monachico habitu usque ad finem vitae pauper Christi feliciter delituil44. Spuren hirsauischer Überlieferung mischen sich hier mit der Vorstellung von Flucht aus dignitas und Welt und von Verborgensein im mönchischen Habitus. Mit der Überlieferung in St. Peter, zu der auch der die Namen Hermanns und seiner Gattin Judith enthaltende Eintrag der ,Nomina fundatorum' gehört 45 , ist bereits das Feld der liturgischen memoria berührt, die dem Mönch gewordenen Markgrafen galt: innnerhalb des cluniazensischen Klosterverbandes 46 , ferner in Backnang, der Stiftsgründung der Hessonen, deren Nachfolge die markgräfliche Familie antrat47, im Reformkloster Zwiefalten 48 , oder im Kalendar-Nekrolog von St. Blasien. Doch Hermanns sanctitas, wie sie sich in den frühen Zeugnissen spiegelt und wie sie wohl auch in der verlorenen Vita aus der Feder Ulrichs von Cluny zum Ausdruck gekommen ist, hat zu keinem Heiligenkult geführt, anders als bei Ulrich von Cluny. Dieser vermochte, indem er das cluniazensische Priorat an der Möhlin neu fundiert, dessen Konvent geleitet und in seiner Mitte die letzte Ruhe gefunden hat, die Bedingungen zu schaffen, um die Verehrung als Heiliger zu erlangen, worauf Karl Schmid einmal hingewiesen hat49. Vergleichen wir nun damit das andere frühe Beispiel der conversio eines schwäbischen Adligen in der Zeit des religiösen Aufbruchs nach 1050, nämlich Graf Eberhards von Nellenburg, um nach deren Eigenart und Bedingun-

43 Alfons ZETTLER, Zähringermemoria und Zähringertradition in St. Peter, in: Das Kloster St. Peter auf dem Schwarzwald. Studien zu seiner Geschichte von der Gründung im 11. Jahrhundert bis zur frühen Neuzeit, hg. von Hans-Otto MÜHLEISEN, Hugo OTT und Thomas ZOTZ (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 68, 2001) S. 99-134, bes. S. 129 ff. 44 Ebd., S. 132. 45 Ebd., S. 129. 46 Vgl. Synopse der cluniacensischen Necrologien 2, hg. von Joachim WOLLASCH (Münstersche Mittelalter-Schriften 39/2, 1982) S. 232 Z. 19: Eintrag größtenteils mit bloßem Namen, einmal mit dem Zusatz c(onversus). 47 LAMKE, Die frühen Markgrafen (wie Anm. 37). 48 Dazu SCHMID, Werdegang (wie Anm. 13) S. 50. 49 Ebd. S. 77.

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gen zu fragen. Eberhard war der Sohn eines Eberhard/Eppo und einer Hedwig, die eine Verwandte Kaiser Heinrichs II. gewesen sein soll 50 , und gehörte zur Familie der Eberhardinger bzw. späteren Nellenburger, die im Klettgau, Zürichgau und Thurgau verankert waren und in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts die Vogtei über die Reichsabtei Reichenau innehatten51. Im Jahre 1030 fiel ein Bruder Eberhards, Manegold, als Sachwalter Kaiser Konrads II. im Kampf mit dem aufständischen Herzog Ernst II. von Schwaben 52 . Die Nähe zum salischen Haus bildete den Hintergrund für eine folgenreiche Vergünstigung König Heinrichs III.: Im Jahr 1045 verlieh er seinem Getreuen, dem Grafen Eberhard, wegen dessen ergebenen Dienstes {ob fidele et devotum eins famulamen) das Recht und die Gewalt, in der villa Schaffhausen, die in der Grafschaft des Grafen Ulrich und im Klettgau gelegen ist, eine Münze einzurichten53. Erhielt dieser Ort damit die Rahmenbedingungen für Marktverkehr und wirtschaftlichen Aufschwung, so brachte Graf Eberhard wenig später, im Jahre 1049, die Gründung eines Klosters zu Ehren des Salvators und aller Heiligen auf den Weg 54 ; an ihr wirkte auch der damals am Ober- und Hochrhein weilende Papst Leo IX. mit, als er am 22. November 1049 die dortige Auferstehungs-Kapelle weihte 55 . Der aus dem Haus der Grafen Egisheim-Dagsburg 56 stammende Papst war mit einer Reihe südwestdeutscher Adelsfamilien verwandt, darunter mit Graf Adalbert von Calw, den

50 Vgl. Alfons ZETTLER, Neuenbürg - Kloster Reichenau - Allerheiligen in Schaffhausen. Stationen in der Geschichte der älteren Nellenburger, in: Das Kloster Allerheiligen in Schaffhausen. Zum 950. Jahr seiner Gründung am 22. November 1049, hg. von Kurt BÄNTELI, Rudolf GAMPER und Peter LEHMANN (1999) S. 146-154. 51 Kurt HLLS, Die Grafen von Nellenburg im 11. Jahrhundert. Ihre Stellung zum Adel, zum Reich und zur Kirche (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 19, 1967); Hans KLÄUI, Grafen von Nellenburg („Eberhardinger"), in: Genealogisches Handbuch zur Schweizer Geschichte 4 (1980) S. 179-204; Hubertus SEIBERT, Nellenburg, Grafen von, in: Lex.MA 6 (1993) Sp. 1087 f. 52 ZETTLER, Nellenburg (wie Anm. 50) S. 147. 53 D H III. 138. 54 Vgl. Elisabeth SCHUDEL, Allerheiligen in Schaffhausen, in: Helvetia Sacra III/1, 3 (1986) S. 1490-1535; Rudolf GAMPER, Die Rechts- und Herrschaftsverhältnisse des Allerheiligenklosters im 11. und 12. Jahrhundert, in: Das Kloster Allerheiligen (wie Anm. 50) S. 125145; jüngst Martina LÜTTGEN, Kloster und Konflikt. Allerheiligen und sein Beziehungsnetz Anfang des 12. Jahrhunderts, Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 80 (2006) S. 307336. 55 GAMPER, Rechts- und Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 54) S. 130; Jörg OBERSTE, Papst Leo IX. und das Reformmönchtum, in: Léon IX et son temps, hg. von Georges BISCHOFF und Benoît-Michel TOCK (2006) S. 405-433, hier S. 432. 56 Frank LEGL, Studien zur Geschichte der Grafen von Dagsburg-Egisheim (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 31, 1998); DERS., Die Herkunft von Papst Leo IX., in: Léon IX (wie Anm. 55) S. 61-76.

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Leo IX. bei seinem damaligen Besuch zur Wiedergründung des Klosters Hirsau bewog, und mit Graf Eberhard von Nellenburg 57 . Welche Bedeutung Leo IX. für die Anfänge des Klosters in Schaffhausen hatte, wird an der bereits erwähnten, auf 1050 datierten Urkunde Graf Eberhards von nach 1061 deutlich 58 : In der erhaltenen Abschrift aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts 59 , die in merkwürdiger Weise verschiedene Bestandteile wiedergibt 60 , findet sich die Angabe: Anno namque dominice incarnationis millesimo L., pontificatus domini Leonis noni pape secundo, Heinrici vero tertii imperatoris anno undecimo61. Die Datierung des im unmittelbaren Anschluß genannten Gründungsvorhabens Graf Eberhards, in dessen Rahmen das Tauschgeschäft mit der Bamberger Kirche erforderlich wurde, nach dem zweiten Amtsjahr Papst Leos IX. und nach dem elften Jahr Kaiser Heinrichs III. erscheint durchaus ungewöhnlich und weist auf die Verbundenheit Graf Eberhards und seiner Klosterstiftung mit dem Reformpapst hin, wobei die Verwandtschaft zwischen beiden eine zusätzliche Rolle gespielt haben mag. Die „Papstnähe", wie sie Helmut Maurer angesichts des Konstanzer Nekrologeintrags Ebirhardus l(aicus) f(rater) papae obiit, von ihm in nellenburgischen Kontext gestellt, beobachtet hat, scheint sich hier auf eigene Weise zu spiegeln 62 . Das von Eberhard gegründete Kloster wurde bereits vor 1064, dem Datum der Münsterweihe durch Bischof Rumolt von Konstanz, von einem namentlich nicht genannten Abt, dessen Herkunft ebenso wie die der ersten Mönche unbekannt ist, geleitet, danach von dem bis 1080 amtierenden Abt Liutolf 53 . Wenig später, im Jahre 1067, erhielt Eberhard für sein Kloster ein Privileg Papst Alexanders II., der es in seinen Schutz nimmt und Eberhard und seinen Nachkommen die Vogtei, die Gewalt, den Abt einzusetzen, und die gesamte Verwaltung des Klosters zugesteht 64 . Damit wurde der Status

57 Vgl. übersichtlich Helmut MAURER, Eberhard, der „Bruder" des Papstes. Zur Bedeutung von „Papstnähe" im 11. Jahrhundert, in: Ex ipsis rerum documentis. Beiträge zur Mediävistik. Festschrift für Harald Zimmermann zum 65. Geburtstag, hg. von Klaus HERBERS, Hans Henning KORTÜM und Carlo SERVATIUS (1991) S. 287-294, hier S. 290, 292. 58 Hierzu und zur weiteren schriftlichen Überlieferung in Schaffhausen vgl. GAMPER, Studien (wie Anm. 18) S. 9 ff. 59 GAMPER, Studien (wie Anm. 18) S.10 f., sieht ein Motiv für die Abschrift in der Bamberger Bestätigung des Gütertauschs aus dem Jahr 1122. 60 Vgl. Theodor MAYER, Die älteren Urkunden des Klosters Allerheiligen in Schaffhausen, ZGORh 110 (1962) S. 1-15. 61 Beleg wie Anm. 16. 62 Vgl. Nachweis in Anm. 57. 63 Hierzu und zum Folgenden GAMPER, Rechts- und Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 54) S. 131 ff. 64 Germ. Pont. II, 2, S. 10 f.. Nr. 2. Das Privileg ist nicht erhalten, sein Inhalt lediglich aus dem Widerruf Papst Gregors VII. von 1080 bekannt. Vgl. Das Kloster Allerheiligen (wie

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von Allerheiligen als ein mit der erblichen Stiftervogtei versehenes Hauskloster der Grafen von Nellenburg bekräftigt 65 , und Graf Eberhard brachte dies sichtbar zum Ausdruck, indem er eine Außenkrypta als Grablege für seine Familie anlegen ließ 66 . Diese blühte damals mit der reichen Kinderschar Graf Eberhards und seiner Gemahlin Ita, bestehend aus sechs Söhnen und zwei Töchtern 67 : Zwei der Söhne schlugen die geistliche Laufbahn ein, Udo wurde Erzbischof von Trier (1066-1078), Ekkehard Abt der Reichenau (1071/72-1088); ein Sohn Adalbert war jung verstorben, von den drei übrigen sind Eberhard und Heinrich im Juni 1075 in der von König Heinrich IV. gegen die Sachsen geführten Schlacht bei Homburg an der Unstrut gefallen, so daß letztlich einzig der Sohn Burkhard zur Fortsetzung des Hauses übrig blieb. Die beiden Töchter Adelheid und Irmengard heirateten in die Familie der Grafen von Laufen bzw. der Herren von Toggenburg ein. Hat sich Graf Eberhard bereits durch die Klostergründung in Schaffhausen als frommer Adliger gezeigt, indem er sich dem Herrenwort entsprechend einen Schatz im Himmel anlegte, so verdient im selben Zusammenhang Beachtung, daß er zusammen mit seiner Gemahlin Ida wohl in den frühen siebziger Jahren eine Pilgerfahrt nach Santiago di Compostela unternommen hat, wie das Stifterbuch des Klosters Allerheiligen aus dem späten 14. Jahrhundert überliefert 68 . Die Pilgerfahrt Eberhards und Idas zum hl. Jakobus fügt sich in eine Reihe anderer solcher Fahrten deutscher Geistlicher (Erzbischof Siegfried von Mainz, Abt Ruthard von Fulda) und adliger Laien (Gräfin Richardis von Sponheim) genau in diesen Jahren ein. Gegen Ende seines Lebens faßte Eberhard (f 25.126. März 1078 oder 1079) dann den Beschluß, als Mönch in das von ihm gegründete Kloster einzutreten. Der genaue Zeitpunkt läßt sich nicht festmachen, das Stifterbuch spricht davon, daß Eberhard seine letzten sechs Jahre dort gelebt habe 69 . Wenn man dieser Angabe Glauben schenken darf 70 , würde der Klostereintritt Eberhards eng an

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Anm. 16) Nr. 8, S. 20 ff. Zur Datierung auf 1067 vgl. GAMPER, Rechts- und Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 54) S. 132 f. mit Anm. 1159. Zum Thema Hauskloster vgl. SCHMID, Adel und Reform (wie Anm. 10); Thomas ZOTZ, St. Peter unter den Zähringern und unter den Grafen von Freiburg, in: Das Kloster St. Peter (wie Anm. 43) S. 51-78. Kurt BÄNTELI, Gebaut für Mönche und Adelige - Eine neue Baugeschichte des Klosters Allerheiligen, in: Das Kloster Allerheiligen (wie Anm. 50) S. 13-108, hier S. 33 ff. Übersicht bei KLÄUI, Grafen von Nellenburg (wie Anm. 51). Das Stifterbuch des Klosters Allerheiligen zu Schaffhausen, hg. von Heinz GALLMANN (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 104, 1994) S. 52* ff. Vgl. Robert PLÖTZ, Deutsche Pilger nach Santiago di Compostela bis zur Neuzeit, in: Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte, hg. von Klaus HERBERS (1988) S. 1-27, hierS. 12. Vgl. Stifterbuch (wie Anm. 68) S. 58*. So etwa HlLS, Grafen von Nellenburg (wie Anm. 51) S. 75. Es bleibt das Problem, wie die Nennung Graf Eberhards als Zeuge in dem Allensbacher Marktprivileg seines Sohnes Abt

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die Pilgerfahrt nach Santiago anschließen und überdies etwa in die Zeit von Markgraf Hermanns Gang nach Cluny fallen, wodurch sich eine interessante Parallelität im Handeln der beiden ergäbe. Die neuere Forschung vermutet allerdings eher einen Zeitpunkt kurz vor Eberhards Tod 71 , als das von Bernold von St. Blasien in seinem eingangs zitierten Eintrag zu 1083 genannte scismatis discidium, die große Auseinandersetzung zwischen der päpstlichen und der salischen Seite gerade in Schwaben ihren Ausgang nahm 72 . Man sollte sich indessen noch einmal vor Augen fuhren, daß noch 1075 die beiden Söhne Eberhards Heinrich und Eberhard auf Seiten Heinrichs IV. gestanden haben und daß Erzbischof Udo in den Jahren 1076/77, also dem Beginn des Schismas im Reich, keine eindeutige Haltung für die eine oder andere Seite eingenommen hat 73 . Ekkehard, von Heinrich IV. als Abt der Reichenau ausdrücklich anerkannt, hat dann im Frühjahr 1077, nach der Wahl Herzog Rudolfs von Schwaben zum Gegenkönig, eindeutig dessen Partei ergriffen und ihm bei dessen Zug durch Schwaben sein Kloster geöffnet 74 . Ebenso klar wie Ekkehard gibt sich Eberhards Sohn Burkhard 1080 nach dem Tod seines Vaters als reformfreundlich und Parteigänger Gregors VII. zu erkennen, als er Abt Wilhelm von Hirsau zur Reformierung des Konvents nach Schaffhausen holte 75 . Damals bestätigte Gregor VII. in einem Brief an den Schaffhauser Reformator Wilhelm unter Aufhebung des oben erwähnten Privilegs seines Vorgängers Alexanders II. den Verzicht Burkhards auf die Vogtei und sonstige Vorrechte und dem Kloster die Romane sedis libertas, die es nun, sicher vor aller weltlicher Gewalt, so genießen könne wie die monasteria Cluny und St. Victor in Marseille 76 .

Ekkehards von Reichenau von 1075 zu bewerten ist. Ausgewählte Urkunden zur Erläuterung der Verfassungsgeschichte Deutschlands im Mittelalter, hg. von Wilhelm ALTMANN und Ernst BERNHEIM ( 4 1909) Nr. 187 S. 387 ff.: Nomina testium qui presentes fuerunt et consenserunt: ipse abbas Eggehardus et pater eius Eberhardus comes. Vgl. HLLS, Grafen von Nellenburg (wie Anm. 51) S. 69, GAMPER, Rechts- und Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 54) S. 133 mit Anm. 1163 (S. 260). Nach Peter WEISS, Frühe Siegelurkunden in Schwaben (10.-12. Jahrhundert) (elementa diplomatica 6, 1997) S. 75-79 handelt es sich hierbei um eine Reichenauer Fälschung des 12. Jahrhunderts. Daher ist die Zuverlässigkeit der Zeugenliste durchaus in Frage zu stellen (anders GAMPER, a. a. O.), nicht zuletzt wegen der merkwürdigen Zeugenschaft des ausstellenden Abtes. 71 GAMPER, Rechts- und Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 54) S. 133. 72 Vgl. Thomas ZOTZ, Ottonen-, Salier- und Frühe Stauferzeit (911-1167), in: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte 1, 1, hg. von Meinrad SCHAAB (F) und Hansmartin SCHWARZMAIER (2001) S. 381-528, hier S. 426 ff. 73 HILS, Grafen von Nellenburg (wie Anm. 51) S. 75 ff. 74 Ebd. S. 108. 75 GAMPER, Rechts- und Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 54) S. 133 ff. 76 Das Kloster Allerheiligen (wie Anm. 16) Nr. 8, S. 20 ff.

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So hat letztlich offen zu bleiben, welche Haltung Graf Eberhard in dem großen Konflikt seit 1076/77 eingenommen hat. Wurde sein Eintritt in das Kloster Allerheiligen durch ihn ausgelöst, durch den mutmaßlich in diese Zeit fallenden Entzug eines königlichen Lehens in Kreuznach, das Heinrich IV. dann an die Speyrer Bischofskirche weitergab, und des ihm zu eigen geschenkten Gutes im Heiligen Forst im nördlichen Elsaß77 und weiter durch den Entzug der Zürichgaugrafschaft 107778, die damals an Heinrichs IV. Parteigänger Graf Ulrich von Lenzburg fiel? Dies läßt sich so sehen, aber die Maßnahmen Heinrichs IV. sind ebenso gut als Eingriffe in die Nellenburger Herrschaft zu verstehen, deren bisheriges Haupt, Graf Eberhard, bereits das Mönchsgewand angezogen hatte und damit aus der Welt getreten war, während seine Söhne, der. künftige Träger der weltlichen Herrschaft Graf Burkhard und Ekkehard als Abt der Reichenau der antisalischen Partei angehörten, was für Ekkehard bereits 1077 nachweislich gilt und für Burkhard von 1080 her vermutet werden darf. Doch soll uns nicht weiter die ohnehin kaum lösbare Frage nach einem Motiv Eberhards für den Klostereintritt jenseits seiner religiösen Grundhaltung beschäftigen, sondern die Nachwirkung dieses Ereignisses, durchaus im Vergleich mit der Geschichte Markgraf Hermanns. Unmittelbar nach dem Tod Eberhards, der, wie in der ,Relatio Burchardi comitis' 79 umschrieben, ex religioso comite in eodem monasterio Mönch geworden sei, hat auch seine Witwe Ida, monachicam vitam professa, in der gleichfalls in Schaffhausen errichteten cella der hl. Agnes mit mehreren Dei ancillae nach der Regel des hl. Benedikt gelebt. Sie ist ca. 1105 gestorben, nachdem bereits 1101/02 ihr Sohn Burkhard kinderlos das Zeitliche gesegnet hat. Hier sind nun nicht die zahlreichen Konflikte und Turbulenzen, in die das Kloster durch das Aussterben seiner Stifterfamilie geriet, darzustellen 80 , sondern nach Formen und Rahmenbedingungen der Erinnerung an den Mönch gewordenen Grafen Eberhard zu fragen. Sein Grab in dem von ihm gegründeten Kloster, später ergänzt durch die Gräber Idas und Burkhards, hat als wesentlicher Anker der Erinnerung fungieren können. Wohl aus Anlaß der Weihe des heutigen Münsters vermutlich 1106 wurde im Kloster eine Gedenkplatte für die Stifterfa-

77 Heinrich BÜTTNER, Die Anfange der Stadt Kreuznach und die Grafen von Sponheim, ZGORh 100 (1952) S. 431-444, hier S. 438. Zu Lenzburg vgl. Immo EBERL, Lenzburg, Grafen von, in: Lex.MA 5 (1991) Sp. 1874. 78 Nachricht Bernolds zu 1077. Die Chroniken (wie Anm. 1) S. 415; Die Chroniken (wie Anm. 3) S. 306 ff. 79 Zu dieser Sammelaufzeichnung aus der Zeit nach 1091 vgl. GAMPER, Studien (wie Anm. 18) S. 14 ff. 80 GAMPER, Rechts- und Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 54) S. 137 ff.; LÜTTGEN, Kloster und Konflikt (wie Anm. 54).

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milie der Nellenburger geschaffen 81 : Die beiden Mittelfelder dieses eindrucksvollen, allerdings in seiner bildlichen Darstellung stark verblaßten Monuments aus hellrotem Sandstein zeigen das Stifterpaar, Graf Eberhard in geistlicher Tracht vor einer als Christus zu deutenden Gestalt, war das Kloster doch dem Salvator geweiht, während die Gräfin Ida sich der hl. Agnes nähert. Nicht weniger bedeutsam ist das von der Forschung mit unterschiedlichen Ansätzen in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts datierte Grabmal des Stifterehepaars und ihres Sohnes Burkhard, auf dem die Figur Eberhards die Kirche in Händen hält82. Neben der bildlich-monumentalen memoria hält die schriftliche Überlieferung des Klosters das Andenken seines Gründers wach. Dies gilt für den wiederum uneinheitlich innerhalb der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts datierten Güterbeschrieb, in dem beate memorie Eberhardus comes, institutor et fundator huius loci neben seiner Frau Ida und seinem Sohn den ersten und prominenten Platz einnimmt 83 . Graf Eberhard ist bereits „auf dem Weg" zu Eberhard dem Seligen, wie er spätestens im Stifterbuch benannt wurde. Dieser durch einen Versprolog eingeleitete deutsche Prosatext, in drei Papierhandschriften aus dem späten 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert, ist ein beredtes Zeugnis der Verehrung Eberhards in seinem Kloster84. In dieser „Mischung zwischen Stifter(doppel-)vita und Klostergründungsgeschichte" (Volker Honemann) ist ausführlich vom heiligmäßigen Leben der Stifter Eberhard, Ita und Burkhard ebenso wie von Gründung, Bau und Weihe des Klosters die Rede, weiter von den Wunderheilungen am Grabe des als heilig bezeichneten Eberhard (Und als ir der hailig Eberhardus hatte gekünt, das beschach ouch kurtzelich dar nacKf5. Die Frage der Datierung und der Vorlagen ist in der Forschung strittig. So schwankt der zeitliche Ansatz zwischen dem 13. und dem späten 14. Jahrhundert, und mit Blick auf die Quellen wird diskutiert, ob es eine lateinische Vita Eberhards gegeben hat, auf die im Prolog hingewiesen wird (als ich sin

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GAMPER, Studien (wie Anm. 18) S. 29 f. Abbildung bei Hans LIEB, Inschriften, in: Das Kloster Allerheiligen (wie Anm. 50) S. 155-157, hier S. 156 f. 82 Kunstfuhrer durch die Schweiz 1, hg. von Hans R. HAHNLOSER und Alfred A. SCHMID ( 1 9 7 1 ) S. 5 3 2 (Anfang 12. Jahrhundert). Vgl. Hans SEELIGER, Die Grabplatten der Grafen v o n Nellenburg und die Nellenburger Memorialtafel im M u s e u m zu Allerheiligen in Schaffhausen, Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 4 9 ( 1 9 7 2 ) S. 9-52 (Datierung um 1129). Vgl. auch Christine SAUER, Fundatio und Memoria. Stifter und Klostergründer im Bild 1100 bis 1350 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 109, 1993) S. 93 ff., 134 ff. (Wiedergabe der Grabplatten in Abb. 20). 83

Das Kloster Allerheiligen (wie Anm. 16) S. 125. Zur schwankenden Datierung SAUER, Fundatio (wie Anm. 82) S. 136 Anm. 189. 8 4 Hierzu vgl. GALLMANN, Stifterbuch (wie Anm. 68), ferner Volker HONEMANN, ,Eberhard und Itha v o n Nellenburg', in: V L 2 2, Sp. 2 8 4 ff., GAMPER, Studien ( w i e Anm. 18) S. 31 ff. 85 GALLMANN, Stifterbuch (wie Anm. 68) S. 102*. Zitat in leicht veränderter Graphie.

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leben geschriben vant, V. 18)86. Zuletzt hat sich Rudolf Gamper sehr eindringlich mit dieser Frage beschäftigt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß „das meiste, was das Stifterbuch zur Geschichte von Allerheiligen aussagt, [...] auch aus zuverlässigen Quellen aus dem 12. Jahrhundert bekannt" sei 87 . Im übrigen hätten die im Kloster vorhandenen Gräber und ihre Inschriften Informationen zu den im Stifterbuch vorkommenden Personen geliefert. Gampers Argumentation ist überzeugend ebenso wie sein Zeitansatz zwischen 1360 und 1380 für die Abfassung des vorliegenden Textes 88 . Allerdings bleibt die Frage nach einer (lateinischen) Vorlage offen. Nachrichten wie jene über die Pilgerfahrt Eberhards und Itas nach Santiago sind nirgends sonst überliefert. Zwar kann man mit mündlicher Überlieferung im Kloster rechnen, aber der Hinweis im Prolog auf ein geschriebenes Leben Eberhards ist nicht unbedingt zu verwerfen. Wenn man soweit folgt, dann ergäbe sich erneut eine Analogie zwischen der conversio Markgraf Hermanns und Graf Eberhards: Die Hinwendung der beiden hohen weltlichen Adligen zum mönchischen Stand in der Frühzeit des religiösen Aufbruchs im Schwaben des 11. Jahrhunderts hätte eine biographische Würdigung bewirkt, im Falle Hermanns aus der Feder seines cluniazensischen Mitbruders Ulrich nicht lange nach dem Tod des sanctus Hermannus, wie der Anonymus Mellicensis nach 1130 festgehalten hat; im Falle Eberhards ist die Existenz einer solchen Vita weniger strikt belegt, dafür bot das Kloster Allerheiligen den örtlichen, institutionellen Rahmen für ein wie immer zustande gekommenes Werk in deutscher Sprache aus dem späten 14. Jahrhundert, also drei Jahrhunderte nach dem Tod des seligen, ja heilig verstandenen Klostergründers. Eine solche Konstellation fehlte für Markgraf Hermann, der in ein hochrenommiertes, aber fremdes Kloster eingetreten ist. Markgraf Hermann und Graf Eberhard, die gewiss für Bernolds bekannte, hier mehrfach erwähnte Äußerung zum religiösen Aufbruch in Schwaben in den siebziger Jahren des 11. Jahrhunderts Pate gestanden haben, sind zwei prominente Beispiele von adligen conversiones „der ersten Stunde", deren Vergleich Gemeinsamkeiten, aber auch interessante Unterschiede hervortreten ließ. Ihnen folgten im späten 11. Jahrhundert bald andere schwäbische Adlige nach: Graf Liutold von Achalm (f 1098) trat gegen Ende seines Lebens in das von ihm mit begründete Kloster Zwiefalten ein 89 oder Graf

86 Überblick zur Forschungsdiskussion bis zu Gallmann, der eine solche lateinische Vita und eine Gründungsgeschichte als Vorlage für wahrscheinlich hält, bei GAMPER, Studien (wie Anm. 18) S. 33 ff. 87 Ebd. S. 35. 88 Ebd. S. 39 ff. 89 Liutold von Achalm ( t 1098) - Graf und Klostergründer. Reutlinger Symposium zum 900. Todesjahr, hg. von Heinz Alfred GEMEINHARDT und Sönke LORENZ (2000).

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Adalbert von Calw ( t 1099) in sein Kloster Hirsau 90 . Beide würdigt Bernold auf den letzten Seiten seiner Chronik: Graf Liutold, in causa sancti Petri contra scismaticorum pravitatem propugnator indefessus, sei, tándem ex secular! dignitate in monachicam religionem transmutatus, gestorben und in dem Kloster, das er auf eigenem Grund und mit eigenen Mitteln gegründet habe und in dem er sich selbst zum Mönch gemacht habe, ehrenvoll bestattet worden 91 . Mit einiger Emphase wird hier die Verbindung von Klostergründung, Klostereintritt und Sepultur hervorgehoben, nicht die schlechteste Voraussetzung für eine nachhaltige memoria. Wenn Bernold fast unmittelbar anschließend Graf Adalbert piae recordationis erwähnt, der in fidelitate sancti Petri contra scismaticos iam ex antiguo studiosissimus gewesen und schließlich ex comité monachus geworden sei, kommt hier wie dort der kirchenpolitische Einsatz, der Kampf für die Sache Petri, zum Ausdruck, anders als noch 1083 in der Aussage Bernolds über die „erste Generation" adliger conversiones, bei deren Bewertung die Suche nach dem persönlichen Heil und der evangelica perfectio in schwierigen Zeiten, da der Kirche ohnehin nicht zu helfen sei, im Vordergrund stand. Auch zu Adalbert vermerkt Bernold, daß er in dem von ihm aus eigenem Vermögen erbauten Kloster, in welchem er das Mönchsgewand empfangen habe, beigesetzt worden sei. Wieder andere Klostergründer im deutschen Südwesten jener Jahre blieben bis zuletzt in der Welt, so Herzog Friedrich I. von Schwaben (f 1105), der Stifter des Klosters Lorch 92 , oder Herzog Berthold II. von Zähringen (f 1111), der zusammen mit seinem Bruder Bischof Gebhard von Konstanz das Kloster St. Peter auf dem Schwarzwald ins Leben gerufen hat 93 . Wenn die Mönche von St. Peter an dem christianissimus dux Berthold II. rühmten, unter seinem patrocinium seien die Christi pauperes besonders geschützt worden 94 , so wird hier eine andere Saite in der Zuordnung von Adel und Kloster im Zeitalter des religiösen Aufbruchs der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert angeschlagen, die aus Sicht eines Hausklosters offenbar nicht minder wichtig war. Auch wenn in beiden Fällen die conversio ausblieb, so zählten durchaus das Verdienst der Klostergründung und die fortdauernde Präsenz des Stifters in der klösterlichen Grablege.

90 SCHMID, Adel und Reform (wie Anm. 10) S. 299 (340). 91 Bernold zum Jahr 1099. D i e Chroniken (wie Anm. 1) S. 537 f.; D i e Chroniken (wie Anm. 3) S. 430. 92 9 0 0 Jahre Kloster Lorch: eine staufische Gründung v o m Aufbruch zur Reform, hg. von Felix HEINZER (2004). 93 Das Kloster St. Peter (wie Anm. 43). 9 4 Der Rotulus Sanpetrinus, hg. v o n Friedrich VON WEECH, Freiburger Diözesan-Archiv 15 ( 1 8 8 2 ) S. 133-184, hier S. 138. Zur Stelle vgl. auch ZETTLER, Zähringermemoria (wie Anm. 43) S. 109 f.

ULRICH

RITZERFELD

Der Ritter Tammo von Beltershausen, Kloster Berich und die Stadtgründung von Frankenberg an der Eder Ein Beitrag zur Klostergeschichte und zur ludowingischen Ministerialität in Hessen Mitte des 13. Jahrhunderts Mit Tammo von Beltershausen ist ein Herr und Ritter Gegenstand dieser Untersuchung, der 1235 erstmals urkundlich belegt ist, gemeinsam mit seiner Frau um 1240 seine Tochter Sophia mit Ausstattung in das Kloster Berich (heute wüst im Edersee) übergab, 1243 als Ministeriale des Landgrafen von Thüringen bezeichnet wird und als erster Schultheiß in der zu diesem Zeitpunkt gegründeten Stadt Frankenberg an der Eder eine Schlüsselfunktion innerhalb der landgräflichen Administration übernahm. Verspricht allein diese nüchterne Aufzählung der Belegstellen ein aussagekräftiges Fallbeispiel zur bislang nur unzureichend erforschten hessischen Ministerialität der Ludowinger im Spannungsfeld von sozialem Aufstieg und Stadtgründung, so bildet der vergleichsweise gut dokumentierte Eintritt der Tochter in das Kloster Berich das thematische Bindeglied zum Schwerpunkt dieser Festschrift. Die Beschäftigung mit Rittertum und Ministerialität in einem regional begrenzten Raum, deren spezifische Voraussetzungen, Genese, Ausprägungen und personelle Verflechtungen brachte in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl methodisch unterschiedlich aufgebauter Studien hervor 1 . Als wenig aufgearbeitet müssen diesbezüglich die Verhältnisse im nördlichen Hessen gelten. Zwar liegen für eine Reihe hiesiger Adelshäuser monographische Untersuchungen vor, doch fehlt es an systematischen Forschungen, die die Strukturen der Herrschaft in der für Hessen charakteristischen Gemengelage

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Hierzu jetzt der Überblick mit Nennung einschlägiger Literatur bei Werner HECHBERGER, Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 72, 2004) S. 27-37, S. 74-79 und S. 91-106. Als wegweisend für die methodische Vorgehensweise seien die Arbeiten von Roger SABLONIER, Adel im Wandel. Eine Untersuchung zur sozialen Situation des ost-schweizerischen Adels um 1300 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 66, 1979, 2 2000), und Dieter RÜBSAMEN, Kleine Herrschaftsträger im Pleissenland. Studien zur Geschichte des mitteldeutschen Adels im 13. Jahrhundert (Mitteldeutsche Forschungen 95, 1987), genannt. Die Vielschichtigkeit der Lehnsverhältnisse innerhalb des niederen Adels wurde in Untersuchungen der benachbarten Regionen betont. Vgl. etwa Lutz FENSKE, Soziale Genese und Aufstiegsformen kleiner niederadliger Geschlechter im südöstlichen Niedersachsen, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein, hg. von Lutz FENSKE u.a. (1985), besonders S. 695-698.

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zwischen den mächtigen Territorialherren, den Mainzer Erzbischöfe, den Landgrafen von Thüringen sowie den Grafen von Ziegenhain, erkennen und abgrenzen ließen 2 . Eine Aufarbeitung dieser Problematik kann hier nicht in Aussicht gestellt werden, doch sollen anhand eines markanten Beispiels die Komplexität der organisatorischen und verwandtschaftlichen Zusammenhänge innerhalb der Ritterschaft aufgezeigt sowie methodische Ansätze und deren Grenzen erprobt werden. Der personengeschichtliche Ansatz ergab sich im Rahmen der Bearbeitung laufender Projekte des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 3 , bei der eine vergleichsweise dichte und aussagekräftige Überlieferung zu Tammo von Beltershausen registriert wurde, die auch das Verhältnis eines kleineren Herrn zu klösterlichen Einrichtungen erörtern lässt. Der in der neueren Forschung akzentuierte Begriff der Memoria als Motivationsbündel ist hier zumindest ansatzweise thematisierbar, was insofern aufschlussreich ist, da die Anfänge ritterlicher Memorialkultur im betrachteten Raum noch kaum untersucht wurden und nur selten vor 1250 in den Quellen zu greifen sind 4 . Mit der neu gegründeten Stadt Frankenberg lässt sich zudem von Beginn an ein Wirkungsschwerpunkt Tammos ausmachen. In der frühen Überlieferung des Ortes ist er häufig an prominenter Stelle belegt, so dass nach seinem Einfluss, Handlungsspielraum und personellem Umfeld zu fragen ist, um somit einen Einblick in die Herrschaftsstrukturen in Hessen zu gewinnen. Die Erwähnungen Tammos stehen dabei in einem Kontext, der zunächst entscheidend von der sich verschärfenden Rivalität zwischen den Mainzer Erzbischöfen und den Landgrafen von Thüringen um die Vorherrschaft in Hessen gekennzeichnet ist. Die einzelnen Etappen im mainzisch-ludowingischen Konflikt sind seit langem Gegenstand der Forschung und wurden jüngst von Matthias Werner im Rahmen seines Beitrages zu Heinrich Raspe

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Auf dieses Desiderat hat Matthias WERNER, Reichsfürst zwischen Mainz und Meißen. Heinrich Raspe als Landgraf von Thüringen und Herr von Hessen (1227-1247), in: Heinrich Raspe - Landgraf von Thüringen und römischer König (1227-1247). Fürsten, König und Reich in spätstaufischer Zeit, hg. von Matthias WERNER (Jenaer Beiträge zur Geschichte 3, 2003) S. 204 Anm. 323 und S. 227 Anm. 427, nachdrücklich hingewiesen. Es kann daher nur auf wenige jüngere Arbeiten zur Ministerialität im nördlichen Hessen verwiesen werden. Vgl. unten Anm. 118. Es handelt sich hierbei einerseits um die Arbeiten zum Historischen Ortslexikon des Landes Hessen für den Landkreis Waldeck-Frankenberg, das im Landesgeschichtlichen Informationssystem (LAGIS) bereits in einer ersten Erfassungsstufe online verfügbar ist (http://web.uni-marburg.de/hlgl/lagis/), andererseits um den Hessischen Städteatlas Frankenberg; hierzu unten Anm. 97. Hierzu Sigrid SCHMITT, Zwischen frommer Stiftung, adliger Selbstdarstellung und standesgemäßer Versorgung. Sakralkultur im Umfeld von Rittersitzen, in: Rittersitze. Facetten adligen Lebens im Alten Reich, hg. von Kurt ANDERMANN (Kraichtaler Kolloquien 3, 2002) S. 11-43.

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eingehend untersucht und in reichspolitische Zusammenhänge eingeordnet 5 . Zu Beginn der 1230er Jahre hatte Landgraf Konrad in der Auseinandersetzung durch zahlreiche Maßnahmen, u.a. die Gründung eigener Städte wie Wolfhagen (1231) und Biedenkopf (1231/32), die Intensivierung der Stadtherrschaft in den bereits vorhandenen Städten, die Reaktivierung des Gerichts Maden bei Gudensberg, die Zerstörung der mainzischen Städte Landsberg (Herbst 1231) und Fritzlar (15. September 1232) sowie den Ausbau von Kontakten zu den Klöstern Berich, Breitenau und Hasungen (1231/32) ein gewisses Übergewicht in Hessen erzielen können. Sein Eintritt in das Marburger Deutschordenshaus im November 1234 bedeutete insofern einen Einschnitt in dieser offensiven ludowingischen Politik, als sein Bruder Heinrich Raspe, der die Regierung übernahm, sich in Bezug auf Hessen auffallend passiv verhielt, so dass es dem Mainzer Erzbischof Siegfried III. durch eine aggressive Politik gelang, verlorene Positionen zurückzugewinnen. Erst die kurze Regierungszeit Landgraf Hermanns II. (1238-1241), dessen Herrschaftsbereich deutlich von dem thüringisch-sächsischen getrennt wurde, lässt trotz nur weniger überlieferter Zeugnisse vor allem durch eine Selbstbewusstsein bekundende Titulatur wieder eine energischere Wahrnehmung landesherrlicher Interessen in Hessen erkennen. Zwar fugte Heinrich Raspe nach dem frühen Tode seines Neffen Hermann II. am 3. Januar 1241 und der erneuten Übernahme der Regierung erstmals auch selbst Hessen in seiner Titulatur ein, doch blieb sein Engagement hier - nicht zuletzt bedingt durch seine gestiegene reichspolitische Bedeutung - wie in den Jahren 1234/1238 zunächst gering. Nach seinem Parteiwechsel in das päpstlich-antistaufische Lager (Frühjahr 1243) und der Hinwendung zu den Erzbischöfen von Köln und Mainz lassen urkundliche Nachrichten und Aufenthalte ab Anfang 1244 wieder eine stärkere Einbindung Hessens in seine Politik erkennen. Der hiermit freilich nur angedeutete Konflikt zwischen den Landgrafen von Thüringen und dem Erzstift Mainz stellt sich als wechselhafter Prozess dar, in dem es immer wieder darum ging, Lehns- oder Dienstbande zu verschiedenen Grafen- und Herrengeschlechtern zu knüpfen. Dieser Umstand lässt bereits erahnen, dass sich kleineren Herrschaftsträgern, auf die es bei der Durchdringung des Raumes entscheidend ankam, durch Parteiwechsel oder die Intensivierung der Beziehung erhebliche Einflussmöglichkeiten eröffnen konnten. Am Beispiel der Person Tammos kann somit für eine entscheidende

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WERNER, R e i c h s f i i r s t ( w i e A n m . 2 ) v o r a l l e m S . 1 5 6 - 1 7 6 , 2 0 3 - 2 1 9 , 2 4 5 - 2 6 0 . A l s M a t e r i a l -

sammlung immer noch grundlegend Theodor ILGEN / Rudolf VOGEL, Kritische Bearbeitung und Darstellung der Geschichte des thüringisch-hessischen Erbfolgekrieges (1247-1264), Zs. des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde N. F. 10 (1883) S. 151-380. Überblicksartig Fred SCHWIND, Thüringen und Hessen im Mittelalter. Gemeinsamkeiten - Divergenzen, in: Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, hg. von M i c h a e l GOCKEL ( 1 9 9 2 ) S . 1 5 - 2 2 .

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T A M M O VON BELTERSHAUSEN

Phase der Auseinandersetzung zwischen den Landgrafen von Thüringen und den Mainzer Erzbischöfen der Frage nachgegangen werden, inwieweit ein kleinerer Herr Einfluss auf die Entwicklung nahm, an welchen Lehnsherren er sich orientierte und welchen Handlungsspielraum er hatte.

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Die Aufarbeitung der Nachrichten über Tammo von Beltershausen geht zunächst von der Lokalisierung des namengebenden Ortes Beltershausen aus. Hierfür stehen im Untersuchungsraum grundsätzlich drei Siedlungen zur Verfügung, ein Umstand, der zu Verwechslungen geführt hat. Es handelt sich dabei um den ca. 6 km südöstlich von Marburg gelegenen, noch heute so benannten Ortsteil der Gemeinde Ebsdorfergrund, ein wüst gefallenes, durch Flurnamen in der Gemeinde und Gemarkung Bromskirchen lokalisiertes Beltershausen sowie um die ebenfalls wüste, aber sowohl durch Flurnamen als auch archäologische Funde gut dokumentierte Burgsiedlung Beltershausen ca. 0,8 km südsüdwestlich von Altendorf im heutigen Kreis Kassel. Heinrich Reimer hat in seinem 1926 erschienenen Ortslexikon bereits alle drei Orte aufgeführt, nach seinem Kenntnisstand lokalisiert und Belegstellen hinzugefügt6. Tammo von Beltershausen hat er der im Gericht Bromskirchen gelegenen Siedlung zugeordnet, worin ihm ein Großteil der Forschung und der vorliegenden Klosterbücher gefolgt ist7. Der auf Georg Wilhelm Justin 6

Historisches Ortslexikon für Kurhessen, bearb. von Heinrich REIMER (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 14, 1926, 2 1974) S. 33 f. Die Ausführungen Reimers gehen im wesentlichen auf die Wüstungsuntersuchungen von Johann Adolph Theodor Ludwig VARNHAGEN, Grundlage der waldeckischen Landes- und Regentengeschichte [nebst Urkundenbuch] (1825) S. 35, Georg LANDAU, Historisch-topographische Beschreibung der wüsten Ortschaften im Kurfürstenthum Hessen und in den großherzoglich hessischen Antheilen am Hessengaue, am Oberlahngaue und Ittergaue (Zs. des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Supplement 7, 1858, 2 1999) S. 162 und 215 f. und Georg Wilhelm Justin WAGNER, Die Wüstungen im Großherzogthum Hessen 1: Provinz Oberhessen (1854) S. 353 f., zurück, in denen bereits unterschiedliche Auffassungen zutage traten. Zu Beltershausen im heutigen Kreis Marburg-Biedenkopf ist der entsprechende Artikel im Historischen Ortslexikon Marburg. Ehemaliger Landkreis und kreisfreie Stadt, bearb. von Ulrich REULING (Historisches Ortslexikon des Landes Hessen 3, 1979) S. 29 f., heranzuziehen. Hierin finden sich wesentliche Korrekturen zu dem von Reimer verfassten Artikel. Das im heutigen Landkreis Gießen, 8 km nordöstlich von Gießen gelegene Wüstung Beltershausen kann hingegen aufgrund seiner Ersterwähnung 1489/91 nicht in Betracht kommen. Vgl. hierzu den entsprechenden Artikel im Historischen Ortslexikon für Gießen (wie Anm. 3).

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So etwa Ulrich LENNARZ, Die Territorialgeschichte des hessischen Hinterlandes (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 1, 1973) S. 72 und 163; Wilhelm A. ECKHARDT, Die Ludowinger in Biedenkopf, Hessisches Jb. für Landesgeschichte 45 (1995) S. 28; Kloster Haina. Regesten und Urkunden 1: 1144-1300, bearb. von

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Wagner, Georg Landau und Heinrich Reimer zurückgehende Ansatz steht nunmehr erneut auf dem Prüfstand, wobei als ein Ergebnis der vorliegenden Untersuchung vorweggenommen werden kann, dass es sich bei dem namengebenden Herkunftsort Tammos um die wüste Siedlungsstätte in der Gemarkung Altendorf (Stadt Naumburg, Kreis Kassel) handelt. In der Schutzurkunde des Mainzer Erzbischofs Konrad für das Augustiner-Nonnenkloster Berich von 1196 wird Besitz in Beltershausen erwähnt8. Durch die gleichzeitige Nennung klösterlichen Besitzes in Bettenhausen (Wüstung), Niederwerbe und Alraft (beides heute Ortsteile von Waldeck) ist die Identifizierung mit Beltershausen bei Altendorf nicht anzuzweifeln 9 . In der Zeugenliste tauchen eine Reihe Kleriker aus Fritzlar und Adlige aus der Region auf, die das verwandtschaftliche Umfeld erkennen lassen, in dessen Rahmen die Klostergründung stattfand: Graf Werner von Wittgenstein, Volkwin von Naumburg, Hermann von Itter, Heinrich von Gasterfeld und sein Bruder Eberhard mit Werner, Hermann der Jüngere von Itter, Werner von Bischofshausen, Eberhard von Gudenberg, Heylas sowie Werner und Konrad von Bringhausen. Ein päpstlicher Schutzbrief von 1206 bestätigte den in der Gründungsurkunde genannten Besitz, u.a. zwei Hufen in Beltershusen, und führte weitere Eigengüter (predia) pauschal auf 10 . 1226 bestätigte

Eckhart G. FRANZ (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 9, 5, 1962) Personen- und Ortsindex S. 483; Die oberhessischen Klöster. Regesten und Urkunden 2, bearb. von Albrecht ECKHARDT (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 9, 4, 1967) Personen- und Ortsindex S. 489. In dem Band Klöster, Stifter und Hospitäler der Stadt Kassel und Kloster Weißenstein. Regesten und Urkunden, bearb. von Johannes SCHULTZE (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 9, 2, 1913) Personen- und Ortsregister S. 670, ist Tammo von Beltershausen der Wüstung bei Altendorf zugewiesen, wobei dieser Bearbeiter noch nicht auf das Ortslexikon Kurhessen von Reimer (wie Anm. 6) zurückgreifen konnte. 8

Maßgebliche Edition im Mainzer Urkundenbuch 2: Die Urkunden seit dem Tode Erzbischof Adalberts I. (1137) bis zum Tode Konrads (1200), bearb. von Peter ACHT (1971) S. 1049 f. Nr. 645. Da das Urkundenfragment an der entscheidenden Stelle abbricht, wissen wir zumindest nicht aus dem Original, wie viele Hufen Kloster Berich in Beltershausen besaß. Im Kopialbuch aus dem 15. Jh. findet sich die Angabe von zwei Hufen. Hierzu immer noch grundlegend Ulrich BOCKSHAMMER, Ältere Territorialgeschichte der Grafschaft Waldeck (Schriften des Hessischen Amts für geschichtliche Landeskunde 24, 1958) S. 73 f. und der Exkurs von Claus CRAMER, Zur Gründung des Klosters Berich, ebd. S. 79-83. Ergänzende Hinweise bei Jürgen RÖMER, Bemerkungen zur Geschichte des Klosters Berich und des Dorfes Neu-Berich. Vorstellungen und Realitäten, Geschichtsblätter für Waldeck 91 (2003) S. 49 f. mit einer Abbildung des Bruchstückes der Urkunde, auf dem sich der Hinweis auf Besitzungen des Klosters Berich in 5e/f[hershausen] befindet (S. 51).

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BOCKSHAMMER, Territorialgeschichte ( w i e A n m . 8) S. 73.

10 Regesta Pontificum Romanorum inde ab a. post Christum natum MCXCVIII ad a. MCCCIV 1, hg. von August POTTHAST (1878) S. 238 Nr. 2780; Westfälisches Urkundenbuch 5: Die Papsturkunden Westfalens bis zum Jahre 1378 1: Die Papsturkunden Westfalens bis zum Jahre 1304, bearb. von Heinrich FLNKE (1888) S. 98 Nr. 209. Die Urkunde gehört in den Pontifikat Papst Innozenz III., wurde jedoch bei VARNHAGEN, Waldeckische

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TAMMO VON BELTERSHAUSEN

der Mainzer Erzbischof Siegfried II. von Eppstein den inzwischen um zehn weitere Hufen angewachsenen Besitz des Klosters, wobei hier wiederum nicht explizit von zwei Hufen die Rede ist11. Mit den Benediktinerklöstern Hasungen und Werbe verfugten weitere geistliche Institutionen der Region zumindest zeitweise über Besitz in Beltershausen an der Elbe. Das etwa 15 km westlich von Kassel gelegene Kloster Hasungen (Burghasungen, Ortsteil Zierenberg, Kreis Kassel) geht auf eine Gründung im 11. Jahrhundert zurück und war von Beginn an eng an den Mainzer Eigenkirchenherrn gebunden12. Der Besitz von fünf Hufen in Beltershausen geht nach Bekunden des Abtes Hildebold von Hasungen auf Tausch und Erwerb in seiner Amtszeit in der Mitte des 12. Jahrhunderts zurück13. Es handelt sich im übrigen zugleich um die erste Nennung des Beldericheshusen bei Altendorf. Ähnliches gilt für das Kloster (Ober-)Werbe (heute Gemeinde Waldeck, ca. 3 km nordöstlich von Vöhl im Landkreis Waldeck-Frankenberg), das auf eine von einem Grafen Temmo oder Diemo zwischen 1125 und 1129 getätigte Stiftung zurückgeht14. Besitz in Beldricheshusen im Umfang von einer

Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 93 f. Nr. 38, fälschlicherweise Papst Innozenz IV. zugewiesen und in das Jahr 1252 datiert. Dieser Datierung folgend und deshalb mit irrigen Rückschlüssen KOCH, Wirtschaftsgeschichte des Klosters und Dorfes Berich in Waldeck, Geschichtsblätter für Waldeck 14 (1914) S. 11, und RÖMER, Berich und Neu-Berich (wie Anm. 8) S. 59. S. hierzu auch unten Anm. 52. 11 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8277 (Kloster Berich); Regesta archiepiscoporum Maguntinensium. Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe 2: Von Konrad I. bis Heinrich II. 1161-1288, bearb. von Johann Friedrich BÖHMER / Cornelius WILL (1886) S. 192 Nr. 504 (nur Regest); VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 44 f. Nr. 14. 12 Einen fundierten Überblick der geschichtlichen Entwicklung bietet jetzt der von Christoph NOLL und Johannes BURKARDT verfasste Artikel "Hasungen", in: Die benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Hessen, bearb. Regina Elisabeth SCHWERDTFEGER / Friedhelm JÜRGENSMEIER / Franziskus BÜLL (Germania Benedictina 7, 2004) S. 535-559; darin auch eine Skizze der Besitzentwicklung (S. 544 f.). Die Entwicklung eines Hasunger Klosterhofes mit interessanten Vergleichsmöglichkeiten bei Wilhelm A. ECKHARDT, Der Hasunger Klosterhof in Bodenhausen, Hessisches Jb. für Landesgeschichte 43 (1993) S. 237248, besonders S. 240 mit dem Hinweis, dass die meisten Klosterbesitzungen im nordwestlichen Hessen sowie in Waldeck lagen. 13 Acta Maguntina Seculi XII. Urkunden zur Geschichte des Erzbisthums Mainz im zwölften Jahrhundert, hg. von Karl Friedrich STUMPF (1863) S. 73 f. Nr. 70, zu (1155-1158); korrigierte Datierung (1154-1159) nach Reimer bei Margarete EISENTRÄGER / Eberhard KRUG, Territorialgeschichte der Kasseler Landschaft (Schriften des Instituts für geschichtliche Landeskunde von Hessen und Nassau 10, 1935) S. 60 f. Anm. 88. 14 Zur Geschichte des Klosters siehe jetzt den Artikel von Volker KNÖPPEL, "Werbe (OberWerbe)", in: Die benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Hessen (wie Anm. 12) S. 1011-1024, hier besonders S. 1011-1013. Ergänzend hierzu unter Einbeziehung neuer archäologischer Befunde Jürgen RÖMER, Zur Frühgeschichte des Klosters Werbe - die Schriftquellen, Geschichtsblätter für Waldeck 92 (2004) S. 23-38. Zu den Befunden selbst:

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Hufe wurde dem Kloster in einem Schutzprivileg von Papst Gregor IX. von 1231 bestätigt und konnte bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts um eine Hufe erweitert werden15. Die Identifizierung mit Beltershausen an der Elbe ergibt sich aus den im Umfeld genannten Siedlungen Alraft (Ortsteil Waldeck), Bettenhausen (wüst bei Freienhagen), Immenhausen (wüst bei Naumburg), sowie der grundsätzlichen Beobachtung, dass das Kloster in der Umgegend von Naumburg und im Elbetal Besitz konzentriert hatte. Durch das zwischen 1200 und 1220 angelegte Mannlehenverzeichnis des Stifts Wetter (Stadt Wetter, Kreis Marburg-Biedenkopf) ist schließlich eine weitere geistliche Einrichtung mit Gütern in Beltershausen belegt16. Das Verzeichnis fuhrt stiftischen Besitz von jeweils einer Hufe in Beldericheshusen und Beldereshusen an - ganz offensichtlich also Hufen an zwei verschiedenen Orten, die als Mannlehen an Werner von Bischofshausen ausgetan waren17. Beldereshusen ist mit dem bei Marburg gelegenen Beltershausen identifiziert worden18, Beldericheshusen bezieht sich aufgrund der im Umfeld genannten Orte zweifellos auf Beltershausen bei Altendorf19. Das ge-

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Petra EISENACH / Heiko KRALING, Die romanische dreischiffige Basilika von Oberwerba, Kr. Waldeck-Frankenberg, in: ebd. S. 14-22. Westfälisches UB 5 (wie Anm. 10) S. 170-172 Nr. 367; vgl. VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) S. 35 und 93 f. mit Anm. b. Zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Klosters insgesamt siehe KNÖPPEL, Werbe (wie Anm. 14) S. 1016-1019. Eine dezidierte Untersuchung der Besitzgeschichte steht jedoch noch aus. Oberhessische Klöster UB 2 (wie Anm. 7) Text II, S. 376 f. = ebd. S. 257 f. Nr. 546 (Regest). Zur räumlichen Verteilung des Besitzes siehe Hans-Peter LACHMANN, Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte des Burgwaldes im Mittelalter (Schriften des Hessischen Landesamts für geschichtliche Landeskunde 31, 1967) S. 68-70, der daraufhinweist, dass ein Teil des Besitzes im Gebiet um Fritzlar-Naumburg um 1240 und 1271 an das Kloster Spiesskappel gelangte, ein anderer vermutlich gewaltsam entfremdet wurde. Zur Familie siehe Die von Loewenstein. Geschichte einer hessischen Familie 1: Darstellung, bearb. von Friedrich SCHUNDER (1955) S. 11-55, zu Werner besonders S. 23-32; das erst 1967 gedruckt erschienene Mannlehenverzeichnis des Stifts Wetter konnte in den Ausführungen freilich noch keine Berücksichtigung finden. S. femer Karl Ernst DEMANDT, Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter. Ein "Staatshandbuch" Hessens vom Ende des 12. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, 2 Bände (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 42, 1981) S. 69 f. Nr. 243; UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 487. Vgl. auch Anm. 38. Historisches Ortslexikon Marburg (wie Anm. 6) S. 29 f.. Die Lage der beiden zuvor genannten Orte (Nieder-) Walgera (ca. 9,5 km südwestlich Marburg) und Schmaleichen (ca. 1,5 km südöstlich Rauschenberg) legt die Wahl der Schreibweise Beldereshusen nahe. Ortslexikon Kurhessen (wie Anm. 6) S. 33, hat hingegen beide Formen auf Beltershausen im Ebsdorfergrund bezogen. Richtige Zuweisung in: Oberhessische Klöster UB 2 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 489. Genannt werden als Mannlehen des Werner von Bischofshausen: Kerstenhausen (8,5 km südwestlich Fritzar), Rückersfeld (7,8 km südöstlich Homberg / Efze), Uttershausen: hierzu Historisches Ortslexikon Fritzlar-Homberg. Ehemaliger Landkreis, bearb. von Waldemar KÜTHER (Historisches Ortslexikon des Landes Hessen 2, 1980) S. 173 f., 259 f., 301-303, und Heimarshausen, sowie die in dessen Nähe gelegenen Wüstungen Dip-

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nannte Lehen dürfte auch mit der Ersterwähnung Tammos in Verbindung zu bringen sein, worauf noch einzugehen ist. Die bisherigen Ausfuhrungen werden durch die archäologischen Befunde bestätigt, die auf eine komplexere, wüstgefallene Siedlungsanlage mit Burg und Kirche hindeuten 20 . Während eine Burg (ca. 0,8 km südsüdwestlich von Altendorf) auch ohne hochbauliche Reste und trotz nur sehr schwacher Geländerelikte als Gesamtanlage noch gut erkennbar ist21, lassen sich auf der höchsten Stelle einer Kuppe 0,3 km südöstlich der Burg Grundmauerrelikte eines größeren Gebäudes der Kirche zuweisen, für die bereits 1266 ein Pleban erwähnt wird 22 . Weitere Befunde zur Kirche liegen vor, ebenso wurden Grabfunde ohne Beigaben gemacht, die allerdings nur grob mittelalterlichfrühneuzeitlich datiert sind und keine wissenschaftliche Auswertung erfahren haben. Die Dorfstelle befand sich unmittelbar unterhalb der Kirche und ist in späterer Zeit wüst gefallen. Eine zu 1403 überlieferte Nachricht von der Zerstörung des Ortes durch Landgraf Hermann von Hessen, über die der Mainzer Erzbischof Johann vor König Ruprecht Klage führte, lässt Beltershausen zum Amt Naumburg gehören 23 . Der Zeitpunkt der Wüstwerdung ist nach 1534 anzusetzen, da in diesem Jahr noch Einwohner erwähnt werden 24 . Die vorgelegten schrift- und bodenkundlichen Quellen lassen bislang folgenden Schluss zu: In Beltershausen in der Gemarkung Altendorf befanden sich mehrere Hofstellen, die als Grundausstattung, über Schenkung, Tausch oder Erwerb in den Besitz von nachweislich vier verschiedenen geistlichen Institutionen der Region gelangt sind. Aus welchem Besitz die Hofstellen ursprünglich stammen, ist schwer zu entscheiden, unterschiedliche Provenienzen sind anzunehmen. Die Tatsache, dass bereits von der Mitte des 12.

pelshausen und Gershausen. Hierzu REIMER im Ortslexikon Kurhessen (wie Anm. 6) S. 91, 167, 217 f. 20 Für die freundliche Bereitstellung des noch unveröffentlichtem Fundberichts für die Gemarkung Altendorf (Stand 16.02.2005) danke ich Herrn Dr. Klaus Sippel vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Abt. Archäologische und Paläontologische Denkmalpflege, Marburg. 21 In diesem Bereich ist der Flurname "Bei der Burg" zu finden. Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde (Marburg), Flurnamenstelle. 22 Georg LANDAU, Beschreibung des Hessengaues (Beschreibung der deutschen Gaue 2, 1857) S. 203; Ortslexikon Kurhessen (wie Anm. 6) S. 34; Wilhelm CLASSEN, Die kirchliche Organisation Althessens im Mittelalter samt einem Umriß der neuzeitlichen Entwicklung (Schriften des Instituts für geschichtliche Landeskunde von Hessen und Nassau 8, 1929, 2 1980) S. 159, 161. 23 Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht, 2. Abteilung 1401-1405, hg. von Julius WEIZSÄCKER (Deutsche Reichstagsakten 5, 1885) S. 475 Nr. 337 § 40; vgl. Erich KLIBANSKY, Die topographische Entwicklung der kurmainzischen Ämter in Hessen (Marburger Studien zur älteren deutschen Geschichte 1, 1925) S. 55; VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) S. 35 Anm. ss. 24 KLIBANSKY, Entwicklung kurmainzischer Ämter (wie Anm. 23) S. 56 und 62.

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Jahrhunderts bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts zahlreiche Hufen aus Beltershausen in die Verfügungsgewalt der Klöster Hasungen, Berich und Werbe sowie des Stiftes Wetter gelangt sind, macht eine ansonsten nicht weiter dokumentierte Entstehung einer Ortsherrschaft zunächst nur wahrscheinlich, sie beweist die Herkunft Tammos aus diesem Beltershausen jedoch nicht. Der Zusammenhang erschließt sich erst aus der weiter unten erörterten Urkunde aus dem Jahre 1243, in der Tammo dem Kloster Berich seine Güter an diesem Ort überträgt. Zunächst ist jedoch auf die Argumente einzugehen, die für eine Lokalisierung des namengebenden Ortes Beltershausen in der Gemarkung Bromskirchen (9 km nördlich Battenberg/Eder) in den Bereich der Flur "Alte Mühle" am unteren Linsphebach (1,8 km südlich der Ortsmitte von Bromskirchen) angeführt wurden 25 . Diese gehen zunächst davon aus, dass die Herren von Beltershausen - wie in späterer Zeit belegt - Zentgrafen in der Zent Bromskirchen waren 26 . Ob schon Tammo diese Funktion ausgeübt hat, soll noch erörtert werden, entscheidend ist zunächst die grundsätzliche Feststellung, dass Gerichte zwar eine Tagungsstätte, keineswegs aber den namengebenden Ort des Richters im Gericht voraussetzen. Blendet man also die Überlieferung zu Tammo aus, so bleibt als ältester Beleg aus dem Jahr 1286 die Schenkung eines Zinses von der Mühle in Beltershausen an das Kloster Georgenberg (Stadt Frankenberg, Landkreis Waldeck-Frankenberg) durch Godbert von Diedenshausen 27 . 1298 stimmten die Brüder Hermann und Arnold von Beltershausen dem von ihrem Bruder Heinrich vorgenommenen Verkauf von Gütern im Dorf Brunstadt (bei Battenfeld/Allendorf Eder vermutet) 28 an den Nonnenkonvent Georgenberg zu und verzichteten auf alle Rechte, die ihnen nach Erbrecht zustanden 29 . Ob sie in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu Tammo standen, oder ob es sich um ein aufstrebendes Geschlecht gleichen Namens handelt, ist vorerst nicht zu klären. Anders als Beltershausen an der nordhessischen Elbe, in dem sich bereits seit Mitte des 12. Jahrhunderts Klosterbesitz nachweisen lässt, was die Entstehung eines Herrensitzes wahrscheinlich macht, finden sich hier jedoch keine

25 WieAnm. 6. 26 Vgl. hierzu Anm. 127 f. 27 Die oberhessischen Klöster. Regesten und Urkunden 1, hg. von Friedrich SCHUNDER (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 9, 3, 1961) S. 107 Nr. 323; bei Christina VANJA, Besitz- und Sozialgeschichte der Zisterzienserinnenklöster Caldern und Georgenberg und des Prämonstratenserinnenstiftes Hachborn in Hessen im späten Mittelalter (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 45, 1984) S. 226; S. 45 Anm. 51, ist fälschlicherweise ein Beleg zu Beltersberg (Wüstung bei Birkenbringhausen) von 1254 auf Beltershausen bezogen. 28 WAGNER, Wüstungen (wie Anm. 6) S. 357 f., vermutet es am Linspher Bach, nordwestlich von Allendorf, unterhalb der Kämmersmühle. 29 Oberhessische Klöster UB 1 (wie Anm. 27) S. 114 Nr. 345.

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entsprechenden Hinweise. Während das um 1300 entstandene Synodalregister für den Sendbezirk Bromskirchen eine dazugehörige Wüstung Beltershausen festhält, ist im Gericht Bromskirchen 1539 ein Hof Beltershausen belegt30. Der archäologische Befund deutet ebenso allenfalls auf eine schwach bezeugte Wüstung in diesem Bereich hin31. Als terminus ante quem für die Durchsetzung des Geschlechternamens Beltershausen ist bislang 1235 anzusetzen. In diesem Jahr wird Tammo von Beltershausen {Beltershusen) erstmals als Zeuge in einer Urkunde erwähnt32. Der im Untersuchungsraum nicht sehr häufige, von Thankmar abzuleitende Name Tammo begegnet etwa bei den Herren von Elnhausen (6 km westlich von Marburg) und Gladenbach33, aber auch ohne Beinamen in der bereits erwähnten Urkunde für Kloster Hasungen 1154-1159. Es dürfte hingegen kaum gelingen, eine zwingende Verbindung zwischen diesem Tammo, einem in gleichzeitigen Breitenauer Urkunden gelegentlich erwähnten Tammo von Albshausen (bei Melsungen) und dem 1235 erstmals belegten Tammo von Beltershausen nachzuweisen34. Vor der Hinzufügung von Geschlechternamen bleiben daher solche Überlegungen mehr oder weniger gut begründete Spekulation35. In der Urkunde von 1235 genehmigte die Äbtissin Lutrud von

30 CLASSEN, Organisation Althessens (wie Anm. 22) S. 135; Ulrich WEISS, Die Gerichtsverfassung in Oberhessen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 37, 1978) S. 172 f. 31 Auch hier konnte dankenswerterweise auf den entsprechenden Bericht des Landesamts für Denkmalpflege (wie Anm. 20) zur Gemarkung Bromskirchen (Stand 11.3.2005) zurückgegriffen werden, in dem gleichfalls auf Verwechslungen in der Literatur hingewiesen wird, wodurch eine Identifizierung nicht zweifelsfrei erfolgen konnte. 32 UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 60 f. Nr. 88 = Oberhessische Klöster UB 2 (wie Anm. 7) S. 259 Nr. 550. Schreibweise überprüft im Lichtbildarchiv älterer Orginalurkunden vor 1250 (Marburg), Zugangsnummer 6067; Negativ D 871. 33 UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 506, 516, 537. In einer 1253 in Frankenberg ausgestellten Urkunde, die einen Tammo von Gladenbach als Zeugen nennt, werden zahlreiche Herren und Ritter aufgeführt, die aus dem Umfeld Tammos von Belterhausen bekannt sind. UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 123 Nr. 209. 34 Hierzu die Hasunger Urkunde (siehe Anm. 13). In den genannten Zeugen (De Cassela laici: Gerlach, Tammo, Meginwardus, Leo, Gotefrid) sind mit EISENTRÄGER / KRUG, Territorialgeschichte (wie Anm. 13) S. 60 f., und Karl HEINEMEYER, Königshöfe und Königsgut im Raum Kassel (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 33, 1971) S. 209 f. besonders Anm. 470 f.; sowie vor allem Robert FRIDERICI, Genealogische Beobachtungen zur Frühgeschichte der Stadt Kassel und des Kasseler Patriziats, Hessisches Jb. für Landesgeschichte 13 (1963) S. 51 und 55-68, Kasseler Burgmannengeschlechter zu vermuten. Eine mögliche Verbindung des hier genannten Tammo mit Tammo von Albshausen (bei Melsungen) ist unter Bezug auf Otto GROTEFEND, Ein Beitrag zur älteren Geschichte des Klosters Breitenau, Zs. des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde N. F. 49/50 (1934) S. 53-56, bei FRIDERICI, Beobachtungen Kassel (wie diese Anm. oben) S. 55 Anm. 76, angedeutet. 35 Die Herkunftsangabe im UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 92 f. Nr. 147 „von Loshausen" (3 km südlich von Ziegenhain) geht auf ein Regest im Inventar aus dem 18. Jh. zurück (ebd.

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Wetter mit Zustimmung ihres Konventes die Güterübertragung des Andreas von Goßfelden, der in den geistlichen Stand übertrat, an Kloster Haina. In der Zeugenliste wird Tammo als Zeuge zusammen mit den Rittern Konrad von Mandern 36 , Hermann Hossiken, Heinrich von Rosphe und Gottfried von Goßfelden genannt, als weitere Zeugen werden Geistliche, Bürger und Schöffen aufgeführt. Vermutlich war Tammo von Beltershausen also Lehnsmann der Äbtissin von Wetter, zu denen laut Mannlehenverzeichnis mit Arnold von Hohenfels und Werner von Bischofshausen Vertreter einflussreicher Dynastenfamilien der Region gehörten 37 . Denkbar ist auch, dass die Hufe in Beltershausen - vielleicht von Werner von Bischofshausen - an Tammo weiterverlehnt worden war 38 . In diesem Fall wäre Tammo als Aftervasall der Äbtissin anzusprechen. Sein erster Beleg 1235 fallt in das Jahr, in dem Heinrich Raspe nach dem Eintritt Landgraf Konrads in den Deutschen Orden erstmals deutlich als Inhaber des vom Mainzer Erzbischof zu Lehen genommenen kleinen und großen Zehnten in Wetter in der Herrschafts- und Lehnsnachfolge in Hessen in Erscheinung trat 39 . Der nächste Hinweis auf Tammo von Beltershausen findet sich in einer am 18. Dezember 1236 ausgestellten Urkunde, in der Propst Karl von St. Stephan (Mainz) einen vor ihm in Frankenberg mit Zustimmung Widekinds, Vogt von Keseberg, geschlossenen Tauschvertrag (der Ort Banfe, wüst bei Bringhausen, Gemeinde Edertal, gegen zwei Hufen in Elkhausen, wüst bei Frankenau) zwischen dem Propst Hartmud und dem Kapitel von des Klosters Berich und Pleban Arnold in Quernhorst (wüst, nördlich von Frankenau,

S. XXI Amn. 32). In den zeitgenössischen Quellen finden sich hierfür keine Anhaltspunkte. 36 1227 ist er als thüringischer Lehnsmann und Ministeriale belegt. Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae 2: 1152-1227, bearb. und hg. von Otto DOBENECKER (1900) S. 423 f. Nr. 2385; vgl. Hans PATZE, Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen 1 (Mitteldeutsche Forschungen 22, 1962) S. 319, 364. Über seinen gleichnamigen Sohn und Deutschordensbruder in Marburg siehe Dieter WOJTECKI, Studien zur Personengeschichte des Deutschen Ordens im 13. Jahrhundert (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 3, 1971) S. 29 Anm. 89, S. 40 Anm. 210; zuletzt mit Unterscheidung zwischen Vater und Sohn siehe Ulrich WEISS, Dorf und Herrschaft Holzheim im Mittelalter. Analyse der historischen Überlieferung nach den Schriftquellen, in: Holzheim bei Fritzlar. Archäologie eines mittelalterlichen Dorfes, bearb. von Norbert WAND (Kasseler Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 6, 2002) S. 451, besonders Anm. 325. 37 Für das Geschlecht von Hohenfels (bei Biedenkopf) hat ECKHARDT, Ludowinger (wie Anm. 7) S. 18-23, eine edelfreie Herkunft wahrscheinlich machen können. Ein Werner von Bischofshausen wird schon 1196 in der Schutzurkunde für Kloster Berich genannt (wie Anm. 8) und besaß (1200-1220) 11 Hufen als Mannlehen des Stifts Wetter, u.a. in Beltershausen (wie Anm. 16). 38 1244 begegnet wiederum ein Werner von Bischofshausen (1221-1262) im direkten Umfeld von Tammo. UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 92 f. Nr. 147. 39 WERNER, R e i c h s f ü r s t (wie A n m . 2) S. 2 0 3 mit A n m . 3 1 9 .

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Kreis Waldeck-Frankenberg) bekräftigt40. Als Zeugen werden Pfarrer Ekkebert von Geismar, Konrad von Netphen, Ludwig von Bottendorf, Konrad von Moischeid, Gottschalk Dekan in Christenberg sowie die milites Tammo von Beltershausen, Siegfried, genannt Rust, und Gottschalk von Goßfelden aufgeführt - allesamt zusätzlich mit dem Titel dominus. Ihr Lehnsherr ist der Erzbischof von Mainz, als dessen Vertreter die Pröpste von St. Stephan im 12. und 13. Jahrhundert häufig auftreten41. Erzbischof Siegfried III. befand sich zum fraglichen Zeitpunkt vermutlich schon im Gefolge des Kaisers bei dessen Zug gegen Herzog Friedrich von Österreich und war mit Vorbereitungen für die Ende Februar 1237 in Wien stattfindende Königswahl Konrads IV. beschäftigt 42 . Er lässt sich von Januar bis August 1237 am Hof Kaiser Friedrichs II. nachweisen 43 . 1240 findet sich Tammo von Beltershausen {Beltershusen) schließlich als letzter in der Zeugenliste einer Urkunde, in der Graf Albert von Wallenstein (1240-1284) den Güterverkauf eines Lehens durch Hermann von Wolfershausen an das Kloster Weißenstein bestätigte44. Der Graf verzichtete zudem zugunsten des Klosters auf gewisse Zehnten, die er vom Mainzer Erzbischof zu Lehen trug. Zu den Zeugen der von Fritzlarer Pröpsten besiegelten Urkunde zählen neben den Geistlichen mit Hermann von Rengshausen, den Brüdern Hermann, Bertold sowie Hermann von Meisenbug, Ulrich von Kau-

40 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8287 (Kloster Berich). Es handelt sich zugleich um die Ersterwähnung von Frankenberg. Zur Identifizierung des um 1234— 1236 belegten Propstes Karl siehe Alois GERLICH, Das Stift St. Stephan zu Mainz. Beiträge zur Verfassungs-, Wirtschafts- und Territorialgeschichte des Erzbistums Mainz (Jb. für das Bistum Mainz. Ergänzungsband 4, 1954) S. 20. 41 Michael HOLLMANN, Beiträge zur Geschichte des Stifts St. Stephan in Mainz, in: 1000 Jahre St. Stephan in Mainz. Festschrift, hg. von Helmut HLNKEL (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen KG 63, 1990) S. 200-203. 42 Über den Zug des Kaisers gegen Österreich vgl. Friedrich H A U S M A N N , Kaiser Friedrich II. und Österreich, in: Probleme um Friedrich II., hg. von Josef F L E C K E N S T E I N ( V U F 1 6 , 1974) S. 247-254. Zu den Umständen der Wahl Konrads IV. vgl. Otto Heinrich B E C K E R , Kaisertum, deutsche Königswahl und Legitimitätsprinzip in der Auffassung der späteren Staufer und ihres Umkreises (mit einem Exkurs über das Weiterwirken der Arengentradition Friedrichs II. unter seinen Nachkommen u. d. Angiovinen) (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, 51, 1975) S. 12-15; zu Siegfried III. von Eppstein und seiner Rolle als "Königsmacher" vgl. Friedhelm J Ü R G E N S M E I E R , Das Bistum Mainz. Von der Römerzeit bis zum II. Vatikanischen Konzil (Beiträge zur Mainzer KG 2, 1988) S. 101-105. 43 Regesten Erzbischöfe Mainz 2 (wie Anm. 11) S. 245 f. Nr. 232-254; WERNER, Reichsfurst (wie Anm. 2) S. 176 f. mit Anm. 214. 44 Klöster Kassel (wie Anm. 7) S. 517 f. Nr. 1392; weitere Belegstellen zu Graf Albert ebd. Personen- und Ortsregister S. 776; zur Person Gustav Freiherr SCHENK ZU SCHWEINSBERG, Zur Genealogie der Grafen von Schaumburg-Willofsbach-Wallenstein, Zs. des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde N. F. 5 (1874) S. 285-287. Die Burg Wallenstein 11 km südöstlich von Homberg/Efze. Siehe Ortlexikon Fritzlar-Homberg (wie Anm. 19) S. 319 f.

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fangen, Heinrich von Urf, Gumpert von Züschen und Cuno von Holzheim weitere Lehns- und Dienstleute des Grafen45. Auch wenn sich keine weiteren Kontakte zu den Wallensteinern nachweisen lassen, bestätigt diese Urkunde zumindest die Einbindung Tammos in das mainzische Netz von Schutzbündnissen.

II Die bislang vorgestellten Belegstellen zu Tammo von Beltershausen zeigen ihn ausschließlich als Zeugen seiner Lehnsherren, der Äbtissin von Wetter, des Mainzer Erzbischofs und möglicherweise des Grafen von Wallenstein. Mit einer um 1240 zu datierenden Urkunde, in der Tammo und seine hier erstmals belegte Frau Sophia46 ihre Tochter mit Ausstattung in das Kloster Berich übergeben, ändert sich dies, und es lässt sich parallel zum territorialpolitischen Kontext ein weiterer Aspekt beobachten, der unmittelbar zum Kernthema dieser Festschrift fuhrt. Die Gründe für den Eintritt bzw. die Übergabe adliger Töchter ins Kloster sind in zahlreichen jüngeren Untersuchungen für Klostergemeinschaften und Orden in unterschiedlichen Regionen und Zeitstellungen erörtert worden. Ein bilanzierender Überblick hierzu steht derzeit noch aus47. Bevor die Umstände untersucht werden sollen, unter denen Tammo von Beltershausen und seine Frau ihre Tochter Sophia ins Kloster übergaben, ist die Situation des Augustinerinnenklosters Berich um 1240 zu beschreiben48.

45 Zur Gesamtentwicklung und der Entwicklung des Besitzes der Schaumburger siehe EISENTRÄGER / KRUG Territorialgeschichte (wie Anm. 13) S. 33-46; zu den genannten Zeugen besonders S. 42 f. 46 Die Tatsache, dass auch die Tochter den Namen Sophia trägt, deutet auf einen Leitnamen hin. Bei kursorischer Durchsicht der Register der einschlägigen Klosterbücher (Haina, Georgenberg, Stift Wetter, Caldern usw.) findet sich der Name bei zahlreichen kleineren Familien, u.a. Borken, Breidenbach, Keseberg, Kirchberg, Knibo, Uttershausen usw. aber auch bei den Grafen von (Ziegenhain-)Wildungen und Waldeck. Der Nachweis einer Eheverbindung lässt sich allerdings nicht erbringen, wodurch auch eine Bewertung des Heiratsverhaltens entfallen muss. In der Familie Konrads von Mandern ist keine Sophia belegt. Vgl. unten Anm. 83. 47 Verwiesen werden soll daher auf die im Internet zugängliche Literaturdatenbank zu mittelalterlichen Frauenklöstern http://www.frauenkloester.de/litt.htm. Hier insbesondere die Datenbanken "Damenstifte" und "Arbeiten zu Grundbesitz und Grundherrschaft von Frauengemeinschaften". 48 Eine übergreifende Darstellung der Klosterlandschaft, wie sie etwa mit dem Beitrag von Peter JOHANEK, Die westfälische Klosterlandschaft von 1100-1300. Ein Zeitalter der Differenzierung, in: Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung 3: Institutionen und Spiritualität, hg. von Karl HENGST (Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte 2 = Veröf-

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Kloster Berich (heute wüst im Edersee, Kreis Waldeck-Frankenberg) gehört zu den kleineren, weniger bedeutenden Klöstern in Hessen, deren urkundliche Überlieferung nicht geschlossen ediert ist und über deren Geschichte keine umfassendere monographische Bearbeitung vorliegt. Dies mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass seine Bedeutung etwa in Bezug auf den hochmittelalterlichen Landesausbau im nördlichen Hessen weit hinter der anderer Klöster - zumal der zisterziensischen - blieb 49 . Im Rahmen des vorliegenden Beitrages kann nur für das relativ kleine Zeitfenster von etwa 1235 bis 1250 der Frage nachgegangen werden, wie sich die Situation der Gemeinschaft in den Quellen niedergeschlagen hat und welche Aussagen über Frömmigkeit, Größe und soziale Zusammensetzung des Konventes sowie die wirtschaftliche Entwicklung möglich sind 50 . Das kurz vor 1196 gegründete Kloster gehört neben Ahnaberg (Stadt Kassel, 1140/1148), Arolsen (1131/1135), Eppenberg (vor 1219), Fritzlar (1254), Höhnscheid (1235), Immichenhain (1173/1231), Merxhausen (1213), Volkhardinghausen (1220/1221), Weißenstein (1143) und Wetter (1107) zu den hochmittelalterlichen Niederlassungen der Augustinerinnen in Hessen 51 . Auch wenn die Identität des Stifters Egelolf {nobilis vir) von Berich nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden kann, sprechen enge Kontakte zu den Herren von Itter, Bischofshausen bzw. Löwenstein sowie den Grafen von Schwalenberg/Waldeck für eine Herkunft aus einem alteingesessenen Geschlecht. Die Schutzurkunde des Mainzer Erzbischofs Konrad I. von 1196 bestätigt den Besitz von insgesamt 18 Hufen und zwei Mühlen in Berich,

fentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 44, 2003) S. 155-180, für die Nachbarregion Westfalen vorliegt, fehlt für Hessen. 49 Vgl. hierzu Winfried SCHICH, Der hochmittelalterliche Landesausbau im nördlichen Hessen und im Raum östlich der mittleren Elbe im Vergleich - mit besonderer Berücksichtigung der Klöster und Städte, in: Nordhessen im Mittelalter. Probleme von Identität und überregionaler Integration, hg. von Ingrid BAUMGÄRTNER und Winfried SCHICH (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 64, 2001) S. 29-40. 50 Die Sinnhaftigkeit der Frage nach der Exklusivität von Kanonissenstiften für den Adel hat jüngst Franz J. FELTEN, Wie adelig waren Kanonissenstifte (und andere weibliche Konvente) im (frühen und hohen) Mittelalter?, in: Studien zum Kanonissenstift, hg. von Irene CRUSIUS (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 167. Studien zur Germania Sacra 24, 2001) S. 39-128, besonders S. 104-123, in Zweifel gezogen. 51 Zum Überblick grundlegend Wilhelm DERSCH, Hessisches Klosterbuch. Quellenkunde zur Geschichte der im Regierungsbezirk Kassel, im Kreis Grafschaft Schaumburg, in der Provinz Oberhessen und dem Kreis Biedenkopf gegründeten Stifter, Klöster und Niederlassungen von geistlichen Genossenschaften (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 12, 2., erg. Aufl. 1940, 3 2000) S. 181 und Matthias WERNER, Kirchliche Einteilung. Stifte und Klöster bis in das 16. Jahrhundert, in: Geschichtlicher Atlas von Hessen. Text- und Erläuterungsband, hg. von Fred SCHWIND (1984) S. 66-68 mit Karte 12; speziell zu Waldeck vgl. BOCKSHAMMER, Territorialgeschichte (wie Anm. 8) S. 70-83; Klöster in Waldeck. Zeugnisse aus einer fernen Epoche. Begleitheft der Ausstellung im Museum Bad Arolsen, hg. von Jürgen RÖMER (2001).

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Bettenhausen, Niederwerbe, Alraft und Beltershausen, wohingegen die Urkunde von Papst Innozenz III. vom 25. Mai 1206 weitere Güter in der Region nennt, die möglicherweise schon 1196 vorhanden waren 52 . In der Folgezeit wurde der Besitzstand des Klosters einerseits durch Schenkungen oder Eintritte adliger und niederadliger Damen vermehrt, andererseits durch Vergabungen und Entfremdungen geschmälert, so dass das Schutzprivileg Erzbischof Siegfrieds II. von 1226 Abweichungen enthält, die Gründungsausstattung und damit auch Beltershausen jedoch noch erwähnt werden 53 . Eine Besitzkonzentration lässt sich im Raum Altendorf und im Bereich des heutigen Edersees konstatieren. Die Urkunden von 1196 und 1226 halten fest, dass die in der neuen Niederlassung (novella plantacio) ansässigen Frauen sub régula beati Augustini leben sollten. Nimmt man den in einer Urkunde von 1200 verwendeten Terminus collegio dominarum hinzu, so ist davon auszugehen, dass es sich bei Berich um ein Damenstift handelte, dass die Aufnahme von Frauen niederadliger Herkunft zumindest bevorzugte 54 . Wie in vergleichbaren anderen Fällen auch, sind die Bezeichnungen fur die Einrichtung im Folgenden uneinheitlich, meist ist in den Quellen von cenobium, monasterium, congregatio, oder ecclesia55 die Rede. Aufmerksamkeit verdient hingegen die Sprachwahl des Mainzer Erzbischofs 1241, der die Gemeinschaft als conventus ancillarum christi in Beriche ordinis sancti Augustini maguntini diocesis bezeichnet56, wodurch ein gewisser Führungsanspruch des Oberhirten zum Ausdruck kommt. Die Leitung des Klosters lag in den Händen eines Propstes und einer Priorin. Dokumentiert eine von Propst Hartmud 57 , Priorin Alheidis von Itter 52 Wie Anm. 10. Auf die Überlieferungsproblematik kann hier nicht weiter eingegangen werden. Genannt werden zusätzlich eine Mühle in Geismar bei Fritzlar sowie pauschal Güter in Altenstädt, Altendorf, Bringhausen, Viermünden, Notfeld, Viermünden und Rickersbruch. 53 Wie Anm. 11. Die Besitzgeschichte bedarf einer Neubearbeitung. Hierzu bislang BOCKSHAMMER, Territorialgeschichte ( w i e A n m . 8) S. 73 f., 2 4 4 .

54 VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 30-32 Nr. 8. RÖMER, Berich und Neu-Berich (wie Anm. 8) S. 59-61, hält diese Urkunde für eine spätere Konstruktion. Zum Themenkomplex und zur Unterscheidung zwischen Kloster und Stift siehe Amalie FÖSSEL/Anette HETTINGER, Klosterfrauen, Beginen, Ketzerinnen. Religiöse Lebensformen von Frauen im Mittelalter (Historisches Seminar N. F. 12, 2000) S. 16-28. 55 VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 53 f. Nr. 18; Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8287 (1236); Nr. 8303 (um 1240) und 8305 (um 1250) (alle Urkundenbestand Kloster Berich). 56 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, 133 f Berich Nr. 2 fol. 74 r. Zum Erzbischof als geistlichem Oberhirten und zur Einbindung der Klöster und Stifte in die Mainzer Diözese und das Erzstift siehe Karl HEINEMEYER, Territorium ohne Dynastie: Der Erzbischof von Mainz als Diözesanbischof und Landesherr, Hessisches Jb. für Landesgeschichte 44 (1994) S. 1-15. 57 Er wird bereits 1236 und um 1240 genannt (dominus) (wie Anm. 55 und 56). Sein Vorgän-

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und dem Nonnenkonvent (totaque collegio sanctimonialium in Beriche) ausgestellte Urkunde aus dem Jahr 1241, in der die Verpflichtungen der Leibeigenen geregelt sind, das Selbstbewusstsein des Stifts58, so zeugt die Führung eines eigenen Konventsiegels zu diesem Zeitpunkt von einem gewissen Wohlstand des Stiftes59. Die Verwendung des Beinamens durch die Priorin lässt niederadliges Standesbewusstsein erkennen, zumal im Unterschied zum Kloster weniger strenge Regeln galten, Privatbesitz und Vermögen erlaubt waren und die Möglichkeit eines Austritts bestand60. Über den Status des Propstes sind zu diesem Zeitpunkt kaum Aussagen möglich, dies gilt auch für die Frage, ob der Konvent das Recht der Propstwahl besaß61. Offensichtlich waren die Pröpste für die Güterverwaltung verantwortlich, da sie in Zusammenhang mit Gütervergabungen meist ausdrücklich genannt werden62. Wenig überraschend ist die Beobachtung, dass um 1240 mit Alheim und Waltmann zwei Konversen, vermutlich aus dem Niederadel, namentlich ge-

ger war der möglicherweise über einen langen Zeitraum belegte Hermann (1200/12251233), der in der allerdings umstrittenen Urkunde von 1200 als Getreuer und Freund des Propstes Johannes von Fritzlar bezeichnet wird; VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 30-32 Nr. 8, S. 45-48 Nr. 15, S. 51 f. Nr. 17, S. 53-55 Nr. 18, S. 63-65 Nr. 21; UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 27 Nr. 33, S. 35 Nr. 49, S. 54 f Nr. 77. (meist als dominus bezeichnet). Als Nachfolger sind 1241 und 1243 ein Konrad und (1250) ein Ludwig belegt. Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8305 (Kloster Berich); Marburg, Hessisches Staatsarchiv, 133 f. Berich Nr. 2 fol. 74 v; VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 83 f. Nr. 33; Die von Loewenstein. Geschichte einer hessischen Familie 2: Regesten und Urkunden 1160-1539, bearb. von Friedrich SCHUNDER (1955) S. 13 Nr. 5. 58 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8296 (Kloster Berich) = VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 81 f. Nr. 31. 59 In Merxhausen ist es ab 1282 nachweisbar. Karl HEINEMEYER, Domus sancti Johannis Baptistae in Merkeshusen (Merxhausen), in: Monasticon Windeshemense 2: Deutsches Sprachgebiet, hg. von Wilhelm KOHL u.a. (Archives et bibliothèques de Belgique. Numéro spécial 16, 1977) S. 288 f.; in Volkhardinghausen erst 1288: Karl HEINEMEYER, Domus sancti Johannis Baptistae in Volkerdinchusen (Volkhardinghausen), in: ebd. S. 439 f. 60 Irene CRUSIUS, Sanctimoniales quae se canónicas vocant. Das Kanonissenstift als Forschungsproblem, in: Studien zum Kanonissenstift (wie Anm. 50) S. 38; SCHMITT, Sakralkultur (wie Anm. 4) besonders S. 15 f. mit weiterer Literatur. Zu den Begrifflichkeiten am Beispiel des Damenstiftes Kaufungen vgl. Petra BRÖDNER, "Eck kann mek nycht toffrede geven, eck mot to Koffungen", Kloster und Damenstift. Kaufungen im Mittelalter, in: Kunigunde - eine Kaiserin an der Jahrtausendwende, hg. von Ingrid BAUMGÄRTNER (1997) S. 93-97. 61 In Merxhausen besaß der Konvent dieses Recht bereits 1213, in Volkhardinghausen Ende des 13. Jahrhunderts; HEINEMEYER, Merxhausen (wie Anm. 59) S. 291; HEINEMEYER, Volkhardinghausen (wie Anm. 59) S. 443. 62 Die Übergabe der Hufe in Mandern erfolgte um 1240 ad manum domini Hartmodi; Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8303 (Kloster Berich); weitere Beispiele Marburg, Hessisches Staatsarchiv, 133 f. Berich Nr. 2 fol. 74 f., VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 53-55 Nr. 18, S. 81 f. Nr. 31, S. 83 f. Nr. 33.

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nannt werden63. Ein Alheim von Weidelberg taucht bereits 1235 als Konverse64 auf und ist offensichtlich mit dem 1238 als Prokurator des Klosters auftretenden frater Alheim identisch65. Männliche Geistliche wurden vor allem für Messopfer und Predigt, liturgische und seelsorgerische Aufgaben benötigt, so bereits 1200 ein Conradus sacerdos66. Unter geschickter Ausnutzung unterschiedlicher Kontakte gelang es dem Kloster, die Herren von Itter 1233 zur Aufgabe ihrer Vogtei und zur Rückgabe der Rechte zu bewegen, was zweifellos als wichtiger Schritt in Richtung auf die Selbständigkeit zu werten ist67. Hierzu mag auch die bereits angedeutete Annäherung an die Landgrafen von Thüringen beigetragen haben, denn bereits 1231 übergab Landgraf Konrad sein Eigentumsrecht an dem Steinhaus zu Fritzlar zum Gedächtnis seines Vaters, seines Bruders und seines Onkels, des Herzogs von Bayern, sowie zu seinem eigenen Seelenheil dem Kloster68. Unverkennbar ist der ab etwa der Mitte der 20er Jahre des 13. Jahrhunderts durch zahlreiche Schenkungen und Eintritte Niederadliger sich abzeichnende wirtschaftliche Aufschwung des Klosters, der einen gewissen Wohlstand begründete und schließlich um 1300 zum Bau einer neuen, größeren 63 Auch in der Urkunde von um 1250 werden zwei Konversen genannt (wie Anm. 55 und 57). Möglicherweise war diese Anzahl in der Anfangszeit konstant. Im Augustinerchorfrauenstift Merxhausen (10 km nördlich von Fritzlar) werden schon in der Gründungsurkunde 1213 ausdrücklich auch Brüder genannt. Vgl. HEINEMEYER, Merxhausen (wie Anm. 59) S. 284-295, hier S. 291. Zur Problematik der Konversen immer noch grundlegend Herbert G R U N D M A N N , Adelsbekehrungen im Hochmittelalter. Conversi und nutriti im Kloster, zuletzt in: D E R S . , Ausgewählte Aufsätze 1 (Schriften der MGH 25, 1976) S. 125-149. 64 UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 59 Nr. 85, im Personen- und Ortsindex (S. 623) wird hingegen eine Zugehörigkeit zu Kloster Hasungen vermutet. 65 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8291 (Kloster Berich) = Loewenstein-UB (wie Anm. 57) S. 12 f. Nr. 4. 66 V A R N H A G E N , Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 30-32 Nr. 8. Bei dem 1231 genannten Priester Eckehard ist die Zugehörigkeit zu Kloster Berich ebenso ungesichert wie bei den beiden gleichfalls genannten Mönchen Berthold und Albert Ketel; UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 45 Nr. 64; im Personen- und Ortsindex (S. 484). 1237 wird ein Priester (sacerdos) Friedrich von Berich genannt. Westfälisches Urkundenbuch 4: Die Urkunden des Bisthums Paderborn vom Jahre 1201-1300, bearb. von Roger WLLMANS und Heinrich FINKE (1877-1894) S. 170 f. Nr. 262. Sicher belegt ist ein Bruder Reinbold von Berich 1252; Oberhessische Klöster UB 1 (wie Anm. 27) S. 94 Nr. 277. 67 V A R N H A G E N , Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 63-65 Nr. 21; BOCKSHAMMER, Territorialgeschichte (wie Anm. 8) S. 74. Bei der Beurkundung war der Konvent des Klosters anwesend. Auffallig ist 1235 der fast zeitgleiche Verzicht der Herren von Gudensberg auf die erblich besessene Vogtei in Volkhardinghausen, die mit Rücksicht auf die Armut der Kirche begründet wird. V A R N H A G E N , Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 69-71 Nr. 25. HEINEMEYER, Volkhardinghausen (wie Anm. 59) S. 442. 68 UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 45 Nr. 64. Das Haus ist 1266 im Besitz des Klosters Haina (ebd. S. 245 Nr. 461).

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einschiffigen Klosterkirche führte69. Die einzelnen Schenkungen können hier nicht vollständig aufgelistet werden, sie belegen die Attraktivität des Klosters und die Einflussnahme bekannter Familien, die hier die Memoria ihrer Familie gepflegt wissen wollten70. Zu den herausragenden Schenkgebern und Förderern gehörten neben den Grafen von Schwalenberg71, die Herren von Itter72, vor allem aber die Grafen von Waldeck, die sich damit die Zusage auf Totengedenken sicherten73. Hinzuweisen ist hier schon darauf, dass nahezu zeitgleich mit dem Eintritt von Sophia weitere ritterbürtige Geschlechter ihre Töchter mit entsprechender Ausstattung ins Kloster Berich gaben74. Auf diese Fälle wird noch näher einzugehen sein, um vor diesem Hintergrund die Voraussetzungen und Umstände zu prüfen, unter denen der Übergang erfolgte. Über die Klosterzucht bzw. -disziplin - Kanonissenstifte hatten nicht selten gegen das Klischee der Unsittlichkeit zu kämpfen - fanden sich in den Quellen allerdings keinerlei Hinweise75.

III Der Eintritt von Sophia, der Tochter Tammos von Beltershausen und seiner Frau Sophia, in das Kloster Berich hat in den Schriftquellen vergleichsweise viele Spuren hinterlassen. Ein erster Kontakt von Tammo mit Kloster Berich 69 Gerhard NEUMANN, Kirche und Gesellschaft in der Grafschaft Waldeck am Ausgang des Mittelalters (Waldeckische Forschungen 11, 2001) S. 138-140. 1470 mussten in diesem gotischen Bau von 50 m Länge, 9 m Breite und 12 m Höhe 2 Rektoren, 13 Chorfrauen (sanctimoniales), 2 Novizinnen, 1 angehende Schülerin, 1 Küchenmeisterin, 6 Laienschwestern, 4 Laienbrüder sowie 18 Knechte und Mägde, also insgesamt 47 Personen, Platz finden; ebd. S. 139. Im benachbarten Kloster Arolsen geht man von ähnlichen Zahlen aus; hierzu Klöster in Waldeck (wie Anm. 51) S. 32. 70 Einen gerafften Überblick auf der Grundlage eines Kopialbuches im Hessischen Staatsarchiv Marburg bietet KOCH, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 10) S. 7-26. 71 VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 45-48 Nr. 15 (1226), S. 53-55 Nr. 18 (1228). 72 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8295 (1241 April 26) und 8305 (1250) (Kloster Berich) = Anton FÜHRER, Die Edelherren von Itter (1167-1262) (1951) Nr. 79 (hier zu um 1240) und S. 44-46 Nr. 82. 73 VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 71 f. Nr. 26 (1237) und S. 139-142 Nr. 63 (1315). Hierauf wird im Folgenden noch einzugehen sein. 74 Generelle Aussagen über die Herkunft der Nonnen und die soziale Zusammensetzung des Konventes können auf der Grundlage des gesichteten Materials nicht getroffen werden. Diesbezüglich sind die Verhältnisse des Klosters Berich noch unerforscht. Zur vergleichenden Einordnung sei auf die Klöster Caldern, Georgenberg und Hachborn verwiesen. Hierzu VANJA, Besitz- und Sozialgeschichte (wie Anm. 27) S. 126-131. 75 Hierzu anhand sächsischer Beispiele Ulrich ANDERMANN, Die unsittlichen und disziplinlosen Kanonissen. Ein Topos und seine Hintergründe, aufgezeigt an Beispielen sächsischer Frauenstifte (11.-13. Jh.), Westfälische Zs. 146 (1996) S. 39-63.

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lässt sich 1236 nachweisen 76 . In einer undatierten Urkunde von um 124077, die in der Stadt {oppidum, civitas) Frankenberg verhandelt wurde, bestätigt zunächst der Pastor Eckebert von Geismar und Pleban in Frankenberg, dass der dominus Tammo nobilis von Beltershausen in Übereinstimmung mit seiner Ehefrau Sophia für die Ausstattung ihrer einzigen (unica) Tochter Sophia eine curia in Mandern 78 bei Wildungen mit Zubehör an das Kloster Berich in die Hände des Propstes Hartmud sowie der beiden Konversen Alheim und Waltmann gibt. Durch die Formulierung [...] ut memoria parentum suorum defunctorum perpetuo agatur [...] wird zugleich festgehalten, dass die Einrichtung auch für das Seelenheil der Verstorbenen Sorge zu tragen habe. Als Zeugen werden genannt: Andreas und Heinrich, sacerdotes; Werner von Bringhausen, Ruding von Herbelhausen, Rüdiger Osse, Adelwart von Meiboldeshusen, milites; Gerlach Baschard, Pilgrim von Hemfurth und sein Bruder Hermann, Arnold Huhn, illius civitatis homines. Interessant ist der darauffolgende, von anderer Hand, aber wohl nicht viel später geschriebene Zusatz, in dem das leider nur schlecht erhaltene Siegel Tammos angekündigt wird: Ego Tammo hoc factum approbo praesenti scripto cum sigilli mei appensione confirmo19. Ob schon zum Zeitpunkt der Abfassung der Urkunde die Absicht bestand, den Stammsitz in Beltershausen aufzugeben und als ludowingischer Ministeriale in Frankenberg die Funktion des Schultheißen zu übernehmen, ist nicht zu entscheiden. Hinzuzunehmen ist zu diesem Vorgang die Bestätigung durch den Mainzer Erzbischof Siegfried III., die dieser am 28. März 1241 in Fritzlar vornahm. Der eigentliche Verwendungszweck, die Ausstattung der Tochter, wird hier nicht festgehalten, wohl aber wird zusätzlich eine Kapelle in Man-

76 WieAnm. 40. 77 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8303 (Kloster Berich). Wie sich aus dem Folgenden ergibt, hat als terminus ante quem für diese Urkunde 1241 März 28 zu gelten. Zum Zeitpunkt der Stadtwerdung Frankenbergs vgl. unten Anm. 98. 78 Das Kloster Berich erwarb noch weitere Güter und Rechte in Mandern: 1253 beurkunden Konrad von Hebelde, Adolf von Waldeck, Heinrich Vogt von Glizberg und Werner von Bischofshausen, dass der Edle von Grenzebach Güter in Mandern an Kloster Berich verkauft hat. Westfälisches UB 4 (wie Anm. 66) Nr. 532; vgl. EISENTRÄGER / KRUG, Territorialgeschichte (wie Anm. 13) S. 54; WEISS, Holzheim (wie Anm. 36) S. 450 f. 79 Vgl. Anm. 77. Das ursprüngliche Dreiecksiegel (Breite ca. 4 cm, Höhe ca. 4,5-5 cm) ist rechts neben dem des Pastors Eckebert angebracht, so dass es vorgesehen gewesen sein muss, da letzteres sonst in der Mitte zu finden wäre. Soweit die Reste erkennen lassen, zeigt es ein Wildtier, vermutlich einen steigenden Löwen. Möglicherweise gab es eine Anlehnung an das Siegel des Landesherm. Vgl. Die Chroniken des Wigand Gerstenberg von Frankenberg, bearb. von Hermann DLEMAR (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 7, 1909, 2 1989) S. 409. Als Umschrift ist noch schwach Dammo zu lesen. Ein ähnliches Siegel führte 1260 Volkwin von Naumburg; UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 181 Nr. 325. Herrn Dr. Wolfhard Vahl vom Hessischen Staatsarchiv Marburg danke ich für seine Unterstützung bei der Interpretation des Siegels.

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dem (capella sibi annexa) erwähnt, die in der enumeratio bonorum der Übertragungsurkunde fehlt80. Mit der Bestätigung der Übertragung, die per manus nostras erfolgte, dokumentierte der Erzbischof seinen Führungsanspruch als Diözesan- und Lehnsherr. Als Zeugen werden aufgeführt: Heinrich Propst von Heiligenstadt, Konrad Propst von Berich, Heinrich Dekan in Fritzlar, Eggbert Dekan in Amöneburg, Heidenreich, Vitztum von Rusteberg (Burgruine bei Rustenfelde, Eichsfeld), Albert von Schartenberg und Herdegen von Alartshausen. Der nächste Hinweis auf den Klostereintritt der Tochter Sophia findet sich in der in vielerlei Hinsicht aufschlussreichen Urkunde vom 1. Oktober 1243, in der nunmehr Graf Siegfried von Battenberg als Lehnsherr die Güterübertragung von drei Höfen und einer Mühle (tres curias et molendinum) in der villa Beltershausen (Beltirshusin) an Kloster Berich zur Ausstattung der Tochter beurkundet81. Tammo wird hierin ausdrücklich als miles de Beltirshusin, ministerialis Domini //[enrici] Lantgravii Thuringiae illustris bezeichnet, was nicht zwingend auf einen zeitnahen Eintritt in die Ministerialiät der Landgrafen zurückzuführen sein muss. Die Übergabe erfolgte ad manum Conradi et eiusdem ecclesie priorisse. Offensichtlich lebte Sophia schon als Nonne (cenobite) im Kloster, und aus Fürsorge (dilectio) für ihre Tochter übertrug Tammo zusammen mit seiner Frau Sophia nun noch die Höfe in Beltershausen. Als Zeugen treten Ekkebert, Pleban in Frankenberg, Gottfried von Hatzfeld, Gotbert von Diedenshausen, Amelbertus von Battenfeld, Heinreh von Alraft als Ritter sowie Helwig von Lindenborn, Volpert von Wickersdorf auf. Die Motive für diese Ausstattungsnachbesserung werden nicht explizit genannt. Ob sie vom Kloster gefordert, von der Tochter erbeten oder aus Fürsorge zur Verbesserung der Lebensumstände gegeben wurde, muss daher offen bleiben82. Auffällig ist der enorme Umfang der Ausstattung, der für die Aufgabe des Herrensitzes in Beltershausen spricht. Zunächst ist jedoch nach den religiösen Hintergründen zu fragen.

80 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, 133 f Berich Nr. 2 fol. 74. Die damit bislang älteste Erwähnung der Kapelle ist bei WEISS, Holzheim (wie Anm. 36) S. 441 und 450 f. noch nicht berücksichtigt, der von einer Schenkung der Kapelle an Kloster Berich 1253 durch die Familie von Grenzebach ausgeht. Hier weitere Angaben zu Schenkungen an Kloster Berich. 81 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8300 (Kloster Berich) = VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) UB S. 83 f. Nr. 33. Dabei werden in der Urkunde mit agris, pratis, silvis et paseuis erstmals Güter in Beltershausen differenziert aufgeführt. Die Formulierung pleno iure contulit et libere assignavit deutet d a r a u f h i n , dass die Güter wie Allodialbesitz betrachtet wurden. Bei der Mühle könnte es sich um die Altendorfer Mühle an der Elbe handeln. Zur Mühle am Linspher Bach vgl. oben Anm. 28. 82 Grundsätzliche Überlegungen zur Versorgung geistlicher Töchter bei Karl-Heinz SPIESS, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts ( V S W G Beiheft 111, 1993) S. 370-397.

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Spätere Nachrichten dokumentieren in der Hauptsache Streitigkeiten um die vergebenen Güter in Mandern und ihre Verwendung, deren Herkunft sich damit allerdings auch nicht klären lässt. Es ist denkbar, dass sie zur Brautausstattung Sophias gehörten, die bei der Übertragung eigens genannt wird 83 . In einer nicht datierten, (1250-1255) in Frankenberg ausgestellten Urkunde bekunden Eckebert, Propst von St. Georgenberg und Pfarrer in Frankenberg, sowie Rudolf von Helfenberg die Beilegung des Streites zwischen Kloster Berich und den zwei Gläubigern W. [Volpert] von Berengersdorf und Ritter Gerlach Baschard um die Nutzung der Güter des verstorbenen Tammo von Beltershausen und seiner Tochter Sophia in Mandern 84 . Die Urkunde fuhrt den ersten Hinweis auf den Tod Tammos {hone memorie) und legt familiäre Bande zu den Helfenbergern nahe. Sophia wird hingegen hier nur als Tochter bezeichnet. Während in der in Wildungen von Graf Otto von Waldeck anlässlich der Beilegung des Streites zwischen Kloster Berich und denen von Gifflitz (heute Gemeinde Edertal ca. 4 km nördlich von Bad Wildungen) bezüglich der Güter in Mandern gegebenen Urkunde vom 16. März 1287 der Klostereintritt der Tochter und die Seelgerätstiftung noch einmal ausdrücklich festgehalten wurde 85 , findet er 1308 beim Verzicht der Brüder Rudolf, Ludwig, Heinrich und Walter von Holzheim vor dem Grafen Heinrich von Waldeck auf deren Güter im Dorf Mandern, die auf Ritter Tammo von Beltershausen zurückgehen, zugunsten des Klosters wiederum keine Erwähnung 86 . Genannt werden hier nur die übergebenen Güter, Hof, Kapelle und alles Zubehör. Trotz dieser zahlreichen Belege für den Klostereintritt von Sophia bleiben die genauen Umstände und Motive im Dunkeln. Über ihren weiteren Werdegang ist ebenfalls nichts bekannt, im Rang einer Priorin lässt sie sich - soweit ich sehe - nicht nachweisen 87 . Auffällig ist jedoch der Umstand, dass nahezu zeitgleich zwei weitere Töchter ritterbürtiger Familien zu ähnlichen Bedingungen in das Kloster Berich eintraten. Am 19. September 1240 genehmigte der Mainzer Erzbischof Siegfried von Mainz als Lehnsherr, dass Herdegen von Alartshausen (miles) dem Kloster Berich für die Aufnahme

83 Ob Sophia deshalb der Familie Konrads von Mandern zuzuordnen ist, bleibt freilich Spekulation. Vgl. Anm. 46. 84 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8311 (Kloster Berich) = Westfälisches UB 4 (wie Anm. 66) S. 150 Nr. 469a [Nachträge], 85 Westfälisches UB 4 (wie Anm. 66) S. 890 f. Nr. 1929: [...] quod felicis recordationis Tammo miles de Beilershusen et Sophia eius uxor cum unica ipsorum fllia in diclo cenobio Beriche domino oblata pie devotionis intuitu pro suarum quoque ac parentum suorum animarum remedio et salute. 86 Westfälisches Urkundenbuch 9: Die Urkunden des Bistums Paderborn 1301-1325, bearb. von Joseph PRINZ (1972-1993) S. 291 Nr. 615. Vgl. hierzu WEISS, Holzheim (wie Anm. 36) S. 451. 87 Um 1250 ist eine domina L. priorissa bekannt (wie Anm. 84).

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seiner Tochter eine Hufe in Holzheim überträgt88. Dabei handelt es sich um jenen Herdegen, der im Jahr darauf in Fritzlar bei der Bestätigung der Schenkung von Tammo durch den Erzbischof als Zeuge genannt wird. Ludwig von Uschlag (ca. 8,5 km östlich von Kassel) wiederum übereignete 1242 (März 24) mit seiner Tochter Lutgart zwei Drittel zweier Hufen in Altenstädt (ca. 3,5 km nordöstlich von Naumburg) dem Kloster89. Das übrige Drittel erwarb der Konvent für 6 Talente von Isentrud von Uschlag. Der Konvent des Klosters Ahnaberg und der Rat der Stadt Kassel siegelten mit. Die genannte Lutgart war möglicherweise in den 1250er Jahren Priorin des Klosters90. Häufigere Eintritte niederadliger oder ritterbürtiger Töchter in das Kloster Berich sind erst wieder zu Beginn des 14. Jahrhunderts nachweisbar, weitgehend jedoch wiederum auf Versorgungsaspekte beschränkt, so dass sie keine Auskunft über die Motive der Frauen geben91. Der erkennbare Schwerpunkt der Urkunden liegt in dinglichen Aspekten; diesbezüglich stellt unser Fallbeispiel keine Besonderheit dar92. 88 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8294 (Kloster Berich). Vgl. WEISS, Holzheim (wie Anm. 36) S. 441 Anm. 241. Bei Adelardeshusen handelt es sich nach UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 475, um die Wüstung Alartshausen bei Ellershausen im (heutigen) Kreis Waldeck-Frankenberg. 89 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8297 und 8298 (Kloster Berich). Hierzu Georg FEIGE, 1150 Jahre Alahstat - Aldenstede - Altenstädt, 831-1981 (1981) S. 27-30 mit Regest auf S. 29. In Altenstädt hatten auch die Klöster Netze, Werbe, Breitenau und Hasungen sowie das Stift St. Peter in Fritzlar Besitz. Uschlag wiederum heute Gemeinde Staufenberg im Kreis Göttingen. Vgl. Niedersächsisches Ortsnamenbuch 4: Die Ortsnamen des Landkreises Göttingen, bearb. von Kirstin CASEMIR / Uwe OHAINSKI / Jürgen UDOLPH (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 44, 2003) S. 399 f. 90 Wie Anm. 87. 91 1303 schenkten Werner von Löwenstein und seine Frau Adelheid dem Kloster für die Ausstattung ihrer Tochter {in suam conmonacham receperunt) eine halbe Hufe Eigengut in der Gemarkung von Mehlen und verzichten mit der Zustimmung ihrer Kinder auf alles Recht an diesem Gut. Loewenstein-UB (wie Anm. 57) S. 51 Nr. 90. 1309 schenkte Hermann Holzhausen dem Kloster Berich zum Unterhalt für seine Tochter Elisabeth 1 Vi Hufen in Heimershausen und verkaufte ihm ebenda noch 1 Hufe. Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. Waldeck Nr. 8350 (Kloster Berich). KOCH, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 10) S. 16 f. Zum Vergleich in Bezug auf die Höhe der Zuwendungen siehe ROBSAMEN, Herrschaftsträger (wie Anm. 1) S. 232-234. 92 Einige Beispiele religiöser Beweggründe für den Eintritt in das Kloster Altenberg (bei Wetzlar) Mitte des 13. Jahrhunderts führt Thomas DOEPNER, Das Prämonstratenserinnenkloster Altenberg im Hoch- und Spätmittelalter. Sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchungen (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 16) 1999, S. 155 f., an. Generell ist aber der Einschätzung von SPIESS, Familie (wie Anm. 82) S. 376 f. mit Anm. 316, zuzustimmen, dass die bewusste Wahl des Klosterlebens beim Adel eher die Ausnahme darstellte. Zur vergleichenden Einordnung für die benachbarte Region Niedersachsen siehe Nathalie KRUPPA, Kloster, Adel und Memoria an der Oberweser, in: Stupor Saxoniae Inferioris, Festschrift für Ernst Schubert (Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters 6, 2001) S. 33-50.

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Eine bislang im Rahmen der Forschungen zur mittelalterlichen Memoria kaum herangezogene Urkunde aus dem Jahre 1315 (Februar 27) legt hingegen anschaulich dar, wie das Familiengedächtnis im Kloster Berich - in diesem Falle das der Grafen von Waldeck - zu pflegen war 93 . Darin schenkten Graf Heinrich von Waldeck und Frau Adelheid dem Kloster Berich die Hainstadt und das Burgfeld unterhalb der Burg Waldeck. Im Gegenzug gelobten Propst Konrad, die Priorin und der Konvent des Klosters, in ihrem Kalender die Todestage aller Verstorbenen und den diesen Nachfolgenden von Waldeck aufzuschreiben und mit feierlichen Messen und Nachtwachen, Reden, Gebeten und anderen Taten zu begehen. In besonderer Weise war das Jahrgedächtnis des Grafen Otto und seiner Mutter Mechthild sowie der berühmten Herrin Sophia (von Hessen) mit einer zusätzlichen Speisung (pitantia spiritualis) zu feiern. Jeder Klosterinsasse sollte Weizenbrot im Werte eines leichten Fritzlarer Pfennigs und ein Maß gutes Bier ebenfalls für einen Pfennig erhalten. Ähnliche Vereinbarungen wird man sich bei der Familie von Beltershausen vorzustellen haben 94 . Fragt man abschließend zu diesem Komplex nach den Gründen für die Wahl von Berich, so sind räumliche Nähe, Attraktivität durch gleichzeitigen Eintritt anderer Niederadliger und bereits bestehende Kontakte zu diesem Kloster vordringlich zu nennen. Die Entscheidung wurde pragmatisch getroffen, die Ordensangehörigkeit spielte wenn überhaupt eine untergeordnete Rolle. Ob Alternativen zu Berich bestanden und abgewogen wurden, ist nicht bekannt. Die Kenntnis der Klosterlandschaft lässt sich zunächst durch Tammos Zeugenschaft belegen (Stift Wetter sowie die Klöster Haina und Weißenstein), umfasste aber mit Sicherheit etwa auch die Klöster Netze, Oberwerbe und Schaaken 95 .

IV Die AuSBtattungsnachbesserung für seine Tochter Sophia mit umfassenden Gütern in dem für das Geschlecht namengebenden Ort Beltershausen und die in der Urkunde von 1243 dokumentierte Zugehörigkeit Tammos zur Ministe-

93 Westfälisches UB 9 (wie Anm. 86) S. 603 f. Nr. 1301. Als Grablege diente hingegen von 1270 bis 1601 das nahegelegene Kloster Netze. Vgl. Klöster in Waldeck (wie Anm. 51) S. 57. 94 Zum Kontext grundlegend siehe Karl-Heinz SPIESS, Liturgische Memoria und Herrschaftsrepräsentation im nichtfürstlichen Hochadel des Spätmittelalters, in: Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Werner RÖSENER (Formen der Erinnerung 8, 2000) S. 97-123. Die Frage, ob Tammo von Belterhausen in Kloster Berich seine Grablege gefunden hat, lässt sich nicht entscheiden. 95 Zu diesen überblicksartig zuletzt Klöster in Waldeck (wie Anm. 51) S. 18-29 und 55-62.

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rialität des Landgrafen von Thüringen stehen in Zusammenhang mit dem Wirken Tammos in der zu diesem Zeitpunkt gegründeten Stadt Frankenberg an der Eder, als deren erster Schultheiß er zu gelten hat. Vermutlich war die Übertragung der drei Höfe und der Mühle an das Kloster Berich mit der Aufgabe des Stammsitzes in Beltershausen verbunden, zumal sich Tammo später nicht mehr im Raum Kassel/Naumburg nachweisen lässt. Unter welchen Konditionen die Aufnahme in die Ministerialität des Landgrafen erfolgte, ist nicht bekannt. Burgmannen und kleinere Herren wurden in der Regel mit Lehen gewonnen, wie im Falle der Mainzer Erzbischöfe sind aber auch zusätzliche Geldzahlungen nicht auszuschließen 96 . Frankenberg wird erstmals 1236 urkundlich erwähnt, um 1240 bereits als oppidum bezeichnet und seine Bewohner treten als illius civitatis homines in Erscheinung 97 . Der planmäßige Ausbau der Stadt erfolgte auf battenbergischem Boden, vermutlich unter der kurzzeitigen Herrschaft Landgraf Hermanns II.98 Ab 1240 verdichten sich die Hinweise auf die Stadtwerdung von Frankenberg, in den Quellen greifbar zunächst in kirchenorganisatorischen Nachrichten. Der Pleban der Pfarrkirche in Geismar nennt sich 1240/41 nach dem Filialort dominus Ekebertus de Vrankenberg plebanus", da er offensichtlich zumindest zeitweise hier - möglicherweise in einer Kapelle an gleicher Stelle wie die spätere Liebfrauenkirche - residierte100. Die Tatsache, dass Siegfried von Battenberg 1243 die Güterübertragung für den Ritter und

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Dem Mainzer Erzbischof Siegfried III. gelang es in den Jahren zwischen 1234-1238, einflussreiche Grafen und Herren in Hessen u.a. durch hohe Geldzahlungen auf seine Seite zu bringen. Vgl. WERNER, Reichsfürst (wie Anm. 2) S. 203-208; zur Praxis des Einsatzes päpstlicher Gelder für die Durchsetzung der Politik unter Heinrich Raspe vgl. ebd. S. 249-256. 97 Die genannten Urkunden wie Anm. 40 und 77. Neuerdings hierzu Christian JÖRG, Frankenberg (Eder), in: Die Urbanen Zentren des hohen und späteren Mittelalters. Vergleichende Untersuchungen zu Städten und Städtelandschaften im Westen des Reiches und in Ostfrankreich, hg. von Monika ESCHER / Frank G. HIRSCHMANN (Trierer Historische Forschungen 50, 2, 2005) S. 198-200. Demnächst auch Hessischer Städteatlas Lieferung 2, 3: Frankenberg, bearb. von Ulrich RITZERFELD (2008). 98 Während die ältere, auf Willi GÖRICH, Wann wurde Frankenberg gegründet?, Heimatkalender Kreis Frankenberg [4] (1952) S. 16-21, zurückgehende Literatur von einer Stadtgründung kurz vor 1234 ausging - vgl. etwa Wolfgang HESS, Hessische Städtegründungen der Landgrafen von Thüringen (Beiträge zur hessischen Geschichte 4, 1966) S. 132 - tendiert die neuere Forschung zu dem hiermit bestätigten, späteren Zeitpunkt zwischen 1238 und 1240/41, der sich unproblematisch mit der schriftlichen Überlieferung in Deckung bringen lässt. Vgl. ECKHARDT, Ludowinger (wie Anm. 7) S. 28 f.; WERNER, Reichsfurst (wie Anm. 2) S. 211 Anm. 360. 99 UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 80 Nr. 126, mit Zusatz in Anhang S. 457 Nr. VII. Über ihn siehe CLASSEN, Organisation Althessens (wie Anm. 22) S. 109 Anm. 3. 100 Regesten der Landgrafen von Hessen 1: 1247-1328, bearb. von Otto GROTEFEND / Felix ROSENFELD (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 6, 1929, 2 1991) S. 6 f. Nr. 18; CLASSEN, Organisation Althessens (wie Anm. 22) S. 130 f.

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ludowingischen Ministerialen Tammo von Beltershausen an das Kloster Berich beurkundete, setzt voraus, dass zumindest zu diesem Zeitpunkt kein Gegensatz zwischen ihm und den Landgrafen bestand, die Stadtgründung von Frankenberg, mit der auch die Errichtung einer Burg einherging, also im Einvernehmen stattfand. Die wenigen Urkunden, die von Heinrich Raspe in der fraglichen Zeit überliefert sind, bieten keinen Hinweis auf konkrete Beziehungen zu den Battenbergern. Möglicherweise aber ist der Eintritt des bis dahin eng an der Seite der Ludowinger belegten Widukind von Naumburg in die Burgmannschaft der mainzischen Burg Battenberg im Juli 1244 in diesem Kontext zu sehen 101 . Auf die allgemeinen Entwicklungslinien der ludowingischen Städtepolitik kann hier nicht eingegangen werden. Nach den älteren, grundlegenden Arbeiten von Hans Patze und Wolfgang Hess 102 hat jüngst Christine Müller die ludowingische Städtepolitik untersucht und auf grundsätzliche Unterschiede zwischen den Städtelandschaften in Thüringen und Hessen hingewiesen. Stadtgründungen erfolgten in Hessen überwiegend in den letzten Jahrzehnten der Ludowingerzeit als unmittelbare Reaktion auf politische bzw. strategische Gegebenheiten zu einem Zeitpunkt, als in Thüringen keine Neugründungen oder Stadterhebungen mehr nachweisbar sind 103 . Die dürftige Quellenüberlieferung lässt weder bei Landgraf Hermann II. noch bei Heinrich Raspe in Hessen stadtplanerische Maßnahmen erkennen, so dass die Nachrichten nur in den allgemeineren Kontext eines stärkeren territorialpolitischen Engagements nach 1244 gebracht werden können. Frankenberg weist typische Merkmale einer Gründungsstadt - Anlehnung an eine Burg und zügige planerische Baumaßnahmen - auf. Hinzu kommt als gezielte Maßnahme die Verlegung des 1242 von den Gebrüdern von Itter (Thalitter/Eder, nördlich von Frankenberg) in Butzebach (Wüstung nördlich Frankenberg an der Nuhne zwischen Hommershausen und Sachsenberg) gegründeten Zisterzienserinnenklosters vor die Stadt Frankenberg im Jahre 1245, die 1248/49 abgeschlossen war 104 . Für die Zeit Heinrich Raspes hat Wolfgang Hess zudem die Existenz einer Münze vermutet 105 .

101 102

Hierzu unten Anm. 124. HESS, Städtegründungen (wie Anm. 98) und PATZE, Entstehung Landesherrschaft (wie A n m . 3 6 ) S. 4 0 4 - 4 9 6 .

103

Christine MÜLLER, Ludowingische Städtepolitik in Thüringen und Hessen, Hessisches Jb. für Landesgeschichte 53 (2003) S. 51-69; sowie DIES., Landgräfliche Städte in Thüringen. Die Städtepolitik der Ludowinger im 12. und 13. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 7, 2003) S. 327-341. 104 Hierzu mit Quellennachweisen VANJA, Besitz- und Sozialgeschichte (wie Anm. 27) S. 15-18; WERNER, Reichsfürst (wie Anm. 2) S. 236 f. Anm. 460 f. Der Vorgang ist auch bei Wigand Gerstenberg dargestellt. Gerstenberg, Chroniken (wie Anm. 79) S. 411-414. 105 Wolfgang HESS, Der Marburger Pfennig, Hessisches Jb. für Landesgeschichte 8 (1958) S . 9 7 - 9 8 , S . 101 N r . 1, S . 1 0 4 N r . 15; DERS., S t ä d t e g r ü n d u n g e n ( w i e A n m . 9 8 ) S . 1 3 3 .

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In der Gründungphase von Frankenberg spielte Tammos von Beltershausen offensichtlich eine zentrale Rolle. Die Ersterwähnungsurkunde von 1236 fuhrt ihn als Zeugen, die um 1240 erstellte Urkunde mit der erstmaligen Bezeichnung Frankenbergs als Stadt wurde von ihm veranlasst und besiegelt. Als Schultheiß und Vorsitzender des landesherrlichen Stadtgerichts hatte er nachweislich 1244 eine Schlüsselstellung in Frankenberg inne, die zwar eine persönliche Bindung an den Landgrafen voraussetzte, seinen Status aber nicht minderte106. Drei Belegstellen weisen ihn ausdrücklich als Schultheißen von Frankenberg aus: 1244 war er zusammen mit dem Ritter Heinrich von Uttershausen107 als Zeuge zugegen, als Graf Gottfried von Reichenbach eine Güterübertragung des Ritters Rüdiger gen. Osse an Kloster Haina bekundete108. Daneben werden Heinrich Friling und der Magister Gerhard von Anzefahr als Priester genannt. Im gleichen Jahr bekundete Tammo die Beilegung einer Streitsache zwischen Landgraf Heinrich von Thüringen und dem Kloster Haina in Gegenwart der Frankenberger Schöffen 109 . Dabei ging es 106

Wigand Gerstenberg weist in seiner Stadtchronik ausdrücklich daraufhin, dass der erste Schultheiß adliger Herkunft war: Der [sc. König Konrad; hier zu 912] hatte die stad Franckenberg so lieb, das he eynen ritter dar sattzste vor eynen schultheissin, der stad zu eren. Gerstenberg, Chroniken (wie Anm. 79) S. 406. Zum Schultheißenamt in Frankenberg vgl. Werner SPIESS, Verfassungsgeschichte der Stadt Frankenberg an der Eder im Mittelalter (Deutschrechtliche Beiträge 12, 1930) S. 363 f. Zum Amt allgemein mit weiterführender Literatur am Beispiel südwestdeutscher Städte siehe Jürgen TREFFEISEN, Schultheiß und Bürgermeister. Führungspositionen in spätmittelalterlichen Breisgaukleinstädten, in: Bene vivere in communitate. Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter. Festschrift für Hagen Keller, hg. von Thomas SCHARFF / Thomas BEHRMANN (1997), besonders S. 109-116.

107

Es gibt zwei Ritter mit diesem Namen, die in einigen Urkunden gemeinsam auftreten. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 619. Zusammen mit Tammo von Beltershausen ebd. S. 92 f. Nr. 146 f. Die Familie von Uttershausen (6,7 km südöstlich von Fritzlar bei Borken) hatte enge Beziehungen zu Fritzlar, etliche sind hier als Stiftsherren belegt. Karl E. DEMANDT, Das Chorherrenstift St. Peter zu Fritzlar. Quellen und Studien zu seiner mittelalterlichen Gestalt (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 49, 1985) S. 68 f. Heinrich der Ältere wird im November 1233 im Vergleich zwischen Landgraf Konrad und den Grafen Gottfried und Berthold von Ziegenhain von letzteren als wohl ranghöchster Vertreter der Ministerialität als Bürge genannt und war bis 1238 landgräflicher Landrichter zu Maden, dem höchsten Gericht in Hessen. Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae 3: 1228-1266, bearb. und hg. von Otto DOBENECKER (1925) S. 70 Nr. 369; hierzu WERNER, Reichsfurst (wie Anm. 2) S. 163 A n m . 160. DEMANDT, P e r s o n e n s t a a t ( w i e A n m . 17) S. 8 9 0 f. N r . 3 1 2 0 . B e i d e n v o n U t -

tershausen handelt es sich um Edelfreie, die aber dennoch auch als Burgmannen in Homberg (Efze) zu finden sind. Hierzu jetzt Wilhelm A. ECKHARDT, Die Heerschildordnung im Sachsenspiegel und die Lehnspyramide in hessischen Urkunden, Hessisches Jb. fiir Landesgeschichte 54 (2004) S. 53 f.; vgl. HEINEMEYER, Homberg in Hessen (wie Anm. 116) S. 33. 108 109

UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 92 Nr. 146. Zu den Reichenbachern zuletzt ECKHARDT, Heerschildordnung (wie Anm. 107) S. 51 f. UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 92 f. Nr. 147. ECKHARDT, Ludowinger (wie Anm. 7) S. 28f.

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um die Zugehörigkeit von Gütern zu Bringhausen, die nicht der landgräflichen Burg Keseberg, sondern dem Kloster zugewiesen wurden. Die Burgmannen des Landgrafen durften allerdings ihren Holzbedarf weiterhin im Wald decken 110 . In der umfangreichen Zeugenliste werden zunächst die des Klosters aufgeführt, die Priester Arnold, Pleban zu Lotheim, Hartmud, Pleban zu Gemünden, die Konversen Bruder Gunthard zu Haina und Bruder Rabolo zu Schaaken. Es folgen als Ritter Ruding von Herbelhausen, Volpert von Wickersdorf, Anton von Goddelsheim und Konrad Spore, dann die Edelknechte Gerlach Baschart und Arnold Huhn, die Schöffen zu Frankenberg Heinrich Friling und Heinrich Kirchwedel sowie die Bauern Kuno von Orke und Ameren von Bringhausen. Als Zeugen der Verhandlung werden dann die Ritter Heinrich von Uttershausen, Gottfried von Hatzfeld, Werner von Bischofshausen und Gerlach von Biedenfeld genannt. Angekündigt ist das Siegel der Stadt Frankenberg, das nicht mehr vorhanden ist. Die Tatsache, dass Tammo als Richter in einer Streitsache zwischen dem Landgrafen und dem Kloster Haina auftrat, hebt ihn von den genannten Rittern ab. Als letzter Beleg für Tammo findet sich schließlich im undatierten Bericht des Güterverzeichnisses von Haina aus der Mitte des 13. Jahrhunderts die Nachricht, dass der Bruder Volkmar um 1245 coram domino Tammone de Beltershusen scultheto in Frankenberg und Anton von Goddelsheim auf Burg Keseberg auch das Waldrecht einer zuvor gekauften Mühle in Lotheim erworben habe 111 . Damit enden die lebenszeitlichen Nachrichten zu Tammo von Beltershausen, bezeichnenderweise auf der landgräflichen Burg Keseberg, die mit landgräflichen Burgmannen besetzt war 112 . 1245 ist bereits ein Schultheiß L. in Frankenberg belegt 113 , danach Gerlach von Biedenfeld 114 , Walter (1253 und 1255), Heinrich Kirchwedel und Gumpert von Anraff

110

Die Burg Keseberg war 1233 November 25 von Landgraf Konrad von den Grafen von Ziegenhain erworben worden. Regesta diplomática Thuringiae 3 (wie Anm. 107) S. 70 Nr. 369. ILGEN / VOGEL, Thüringisch-hessischer Erbfolgekrieg (wie Anm. 5) S. 252. 111 UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 97 Nr. 156 und Anhang VII S. 446, ohne Zeugen. 112 Vgl. Anm. 110. Die Aufgaben des Schultheißen reichten offensichtlich über das Stadtgebiet hinaus. 113 Oberhessische Klöster UB 1 (wie Anm. 27) S. 89 Nr. 264. Vgl. ECKHARDT, Ludowinger (wie Anm. 7) S. 28. 114 Namensgebend für das Geschlecht ist eine Wüstung bei Goldhausen, Kreis WaldeckFrankenberg. Stammsitz der Herren von Biedenfeld war Berghofen, ca. 2 km südöstlich Battenberg (Eder). Hierzu LENNARZ, Territorialgeschichte (wie Anm. 7) S. 13 Anm. 40. DEMANDT, Personenstaat (wie Anm. 17) S. 60 Nr. 207; UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 486. Zusammen mit Tammo von Beltershausen ist er 1244 zu finden. Um 1250 ist er als Schultheiß von Frankenberg belegt. Ein Siegfried von Biedenfeld war - wohl als gräflicher Ministeriale - im März 1228 in Marburg zugegen, als Heinrich Raspe ein Schutzbündnis mit den Grafen von Battenberg abschloss. Regesta diplomática Thuringiae 3 (wie Anm. 107) S. 2 Nr. 9. Hierzu WERNER, Reichsfürst (wie Anm. 2) S. 142 mit Anm. 66.

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TAMMO VON BELTERSHAUSEN

(1263-1265)' 15 . Keiner der genannten lässt sich über längere Zeit hinweg mit Titel nachweisen, so dass wie in anderen Städten auch von einer temporären Amtsausübung auszugehen ist 116 . Der Umstand, dass Tammo von Beltershausen 1245 bei der für Frankenberg zentralen Entscheidung, das Kloster Butzebach vor die Tore der Stadt zu verlegen, nicht genannt wird - unter den Zeugen wird mit dem Schenken Guntram von Schweinsberg der wichtigste landgräfliche Amtsträger in Hessen genannt - , lässt sich am ehesten mit seinem Tode erklären. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Nachrichten über Tammo von Beltershausen ist seine Rolle im Stadtwerdungsprozeß von Frankenberg und sein Verhältnis zum Landgrafen von Thüringen näher zu beleuchten. Der Eintritt Tammos in die landgräfliche Ministerialität erfolgte zu einem nicht exakt bestimmbaren Zeitpunkt vor dem Oktober 1243 - ob zeitlich parallel zum Übertritt Heinrich Raspes in das antistaufische, päpstliche Lager, in dem sich der Mainzer und der Kölner Erzbischof bereits befanden und den man nach der schlüssigen Argumentation von Matthias Werner spätestens im Frühjahr 1243 ansetzen muss 117 - ist kaum zu entscheiden. Die Aktivitäten Heinrich Raspes in Bezug auf den Ausbau der Landesherrschaft in Hessen nahmen spürbar erst Anfang 1244 zu, haben aber in der Aufnahme Tammos in die Ministerialität möglicherweise einen Vorläufer 118 . Gehörte Frankenberg zu den gezielt geforderten Projekten Heinrichs, wofür die Verlegung des Klosters Butzebach, vielleicht eine Münzprägetätigkeit und auch die allerdings nicht datierbare - Privilegierung Frankenaus sprechen, dann war

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Siehe hierzu die Auflistung bei Erich ANHALT, Der Kreis Frankenberg. Geschichte seiner Gerichte, Herrschaften und Ämter von der Urzeit bis ins 19. Jahrhundert (Marburger Studien zur älteren deutschen Geschichte 1: Arbeiten zum geschichtlichen Atlas von Hessen und Nassau 4, 1928) S. 134. 116 Dies deckt sich mit den Beobachtungen, die Karl HEINEMEYER, Homberg in Hessen. Die Anfänge einer hessischen Stadt in ihrer Landschaft, Zs. des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 90 (1984/85) S. 29 f., für die ebenfalls ludowingische Stadt Homberg / Efze für die Jahrzehnte nach 1230 gemacht hat. In Marburg wurde 1248 der bürgerliche Schultheiß Rudolf Raustein durch den Ritter Konrad von Rotenstein ersetzt. VERSCHAREN, Stadt Marburg (wie Anm. 149) S. 105. 117

WERNER, R e i c h s f ü r s t ( w i e A n m . 2 ) S . 2 1 9 - 2 3 5 .

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Stellt, wie bereits betont (vgl. Anm. 2), die Ministerialität der Ludowinger generell ein Forschungsdesiderat dar, so gilt dies im besonderen für die ludowingischen Ministerialen in Hessen. Hierzu bislang PATZE, Entstehung Landesherrschaft (wie Anm. 36) S. 361370, der im Unterschied zur thüringischen Dienstmannschaft auf die geringere Belegdichte der Ministerialensitze hinweist. Ein aufschlussreiches und nunmehr gut aufgearbeitetes Parallelbeispiel stellen die Herren von Holzheim dar, die sich mit Widekind II. spätestens 1254 in der thüringischen Ministerialität nachweisen lassen. Hierzu WEISS, Holzheim (wie Anm. 36) S. 432-442. Für den Vergleich mit Thüringen ist künftig die Arbeit von Helge WITTMANN, Im Schatten der Landgrafen. Studien zur adeligen Herrschaftsbildung im spätmittelalterliche Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 17, 2007) heranzuziehen.

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mit Tammo ein bereits in den Stadtwerdungsprozess Frankenbergs involvierter miles gefunden und dienstrechtlich eingebunden worden, der nunmehr den landesherrlichen Willen zu vertreten und umzusetzen hatte. Als Zeuge ist er jedoch weder in den Urkunden Hermanns II. noch in denen Heinrich Raspes vertreten, so dass keine Aussagen über seine Stellung innerhalb der landgräflichen Ministerialität möglich sind119. Die Quellen geben keinen Hinweis auf einen Wechsel des Lagers in der Auseinandersetzung zwischen dem Mainzer Erzbischof und dem Landgrafen von Thüringen120. 1235 wird Tammo zunächst offensichtlich als Vasall, vielleicht auch Aftervasall der Äbtissin Lutrud des Stifts Wetter aufgeführt121. In der Urkunde von 1236 ist er dann als Lehnsmann des Mainzer Erzbischofs zugegen 122 , 1243 ist Graf Siegfried von Battenberg Lehnsherr Tammos123. Möglicherweise war Tammo an Siegfried von Battenberg in ähnlicher Weise gebunden, wie die Grafen von Naumburg, für die 1244 eine ausführliche Regelung des Burgmannendienstes auf der mainzischen Burg Battenberg überliefert ist124. Aufgrund der räumlichen Nähe des Familiensitzes zu den Grafen von Naumburg 119

In der einzigen Urkunde, in der Tammo mit einem Landgrafen auftritt, richtet er als Frankenberger Schultheiß in einer Streitsache zwischen Landgraf Heinrich und dem Kloster Haina (vgl. Anm. 35 und 109). 120 Als Beispiele für einen Lagerwechsel in diesem Konflikt, der nach dem Eintritt Landgraf Konrads in den Deutschen Orden im November 1234 durch eine konzertierte Politik von der Mainzer Seite verschärft wurde, sind die Grafen von Wittgenstein-Battenberg, Ziegenhain-Reichenbach sowie Waldeck und die Herren von Merenberg zu nennen. Die groben Linien der Territorialpolitik der Mainzer Erzbischöfe in Hessen und das Verhältnis zu den einzelnen Geschlechtem sind Gegenstand der bislang kaum berücksichtigten Arbeit von Irmtraud REICHEL-MÜLLER, Mainzer Territorialpolitik in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Element der Reichs- und Erzstiftsgeschichte (1995) S. 100-186; mit differenziertem Bild WERNER, Reichsfürst (wie Anm. 2) S. 203-208. 121

Wie Anm. 32. Zur Geschichte des Stiftes Wetter vgl. LACHMANN, Verfassungsgeschichte Burgwald (wie Anm. 16) S. 60-79; Jakob HENSELING, Die Geschichte von Oberrosphe (1976) S. 35 f. In den zur Grafschaft Battenberg gehörenden Zenten war einer Urkunde von 1238 Juli 20 zufolge der Landgraf gewaltsam eingedrungen. ECKHARDT, Ludowinger (wie Anm. 7) S. 22 f., 25; WERNER, Reichsfurst (wie Anm. 2) S. 162 f. mit Anm. 155 und 161, S. 206 mit Anm. 332. 122 Wie Anm. 40. 123 Die Bestätigung der Schenkung von Mandern durch Erzbischof Siegfried 1241 (wie Anm. 80) erfolgte für Kloster Berich. 124 Helfrich Bernhard WENCK, Hessische Landesgeschichte 2 (1789) UB S. 161 Nr. 128. Als verkürztes Regest bei BÖHMER und WILL in den Regesten der Erzbischöfe von Mainz 2 (wie Anm. 11) S. 280 Nr. 494. Zum Hintergrund zuletzt WERNER, Reichsfurst (wie Anm. 2) S. 206 mit Anm. 334 und S. 234 Anm. 454, der darauf hinweist, dass die Grafen von Naumburg auch in den kritischen Jahren 1234/38 an der Seite der Landgrafen überliefert sind und erst mit dieser Urkunde ein Lehnsverhältnis zum Mainzer Erzbischof eingingen. Allgemein zu den Rechten und Pflichten der Mainzer Burgmannen siehe jetzt Stefan GRATHOFF, Mainzer Erzbischofsburgen. Erwerb und Funktion von Burgherrschaft am Beispiel der Mainzer Erzbischöfe im Hoch- und Spätmittelalter (Geschichtliche Landeskunde 58, 2005) S. 457-474.

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und gemeinsamer Beziehungen zu Kloster Berich ist es hingegen überraschend, dass keine gemeinsamen urkundlichen Nachrichten überliefert sind. Graf Widekind II. von Naumburg erhielt 1235 den großen und kleinen Zehnten von Wetter vom Landgrafen zu Lehen - den dieser wiederum vom Erzbischof von Mainz zu Lehen innehatte - und blieb bis Juli 1244 offenbar im ludowingischen Lager 125 . Auszuschließen ist daher nicht, dass die Schwerpunktverlegung Tammos nach Frankenberg auf eine Konkurrenzsituation im Elberaum zurückzufuhren ist 126 . Problematisch ist in diesem Zusammenhang, wie oben angedeutet, die Verbindung mit der Zent im Gericht Bromskirchen, als deren Zentgrafen die von Beltershausen gelten. Die Entstehung der Zenten ist im 13. Jahrhundert anzusetzen, der Erstbeleg für das Gericht Bromskirchen (Item centa de Geismar, et centa de Fromolskirke in istis duabus sunt centgravii residentes et ius comitis liberum est omnino) findet sich in einer Urkunde von 1238, in der der Verkauf der halben Grafschaft Stiffe-Battenberg an den Mainzer Erzbischof Siegfried III. durch Graf Siegfried von Wittgenstein-Battenberg festgehalten ist 127 . Den Bezug stellt jedoch erst eine Urkunde von 1329 her, der zufolge ein Tammo von Beltershausen den Brüdern Gottfried und Konrad von Diedenshausen die von den Herren von Itter lehnrührige halbe Vogtei zu Linsphe und das halbe Gericht Bromskirchen verkaufte 128 . Aufgrund dessen gingen Reimer, Lennarz und zuletzt Eckhardt davon aus, dass die von Beltershausen von Beginn an Zentgrafen in der Zent Bromskirchen waren, was zwar denkbar, aber nicht belegt ist129. Zwischen der Ersterwähnung Tammos 1235 und dem Nachweis über einen Zentgrafen mit diesem Namen liegen 94 125 UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 59 Nr. 85, S. 60 Nr. 87. 126 Vgl. WERNER, Reichsfiirst (wie Anm. 2) S. 206 mit Anm. 334. 127 Zum Kontext siehe WERNER, Reichsfiirst (wie Anm. 2) S. 204-207, mit Quellenangaben in Anm. 332. Zur Gerichtsorganisation grundlegend LACHMANN, Verfassungsgeschichte Burgwald (wie Anm. 16) S. 79-108, hier besonders S. 99 mit Anm. 127, und WEISS, Gerichtsverfassung (wie Anm. 30) S. 172 f. 128 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. A VI von Diedenshausen (1329 Juli 8). Das anhängende Siegel zeigt drei Ringe und lässt keinerlei Anknüpfung an das Siegel Tammos an der um 1240 ausgestellten Urkunde erkennen (vgl. Anm. 79). Zum Kontext August HELDMANN, Zur Geschichte des Gerichts Viermünden und seiner Geschlechter. I: Die Vögte von Keseberg. Mit einer Stamm- und Siegeltafel, Zs. des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde N. F. 15 (1890) S. 16 f.; DERS., Zur Geschichte des Gerichts Viermünden und seiner Geschlechter. IV: Das Geschlecht von Viermünden, Zs. des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde N. F. 27 (1903) S. 94 f.; Karl-Ernst RIEDESEL, Die Grundherrschaft der Herren von Diedenshausen, in: 800 Jahre Diedenshausen 1194—1994. Geschichte des Dorfes und seiner Familien, hg. vom Heimat- und Verkehrsverein Diedenshausen (1997) S. 42. 129

Ortslexikon Kurhessen (wie Anm. 6) S. 68; ECKHARDT, Ludowinger (wie Anm. 7) S. 28 f. Skeptisch bereits LENNARZ, Territorialgeschichte (wie Anm. 7) S. 163: "Undurchsichtig ist die Stellung der Herren von Beltershausen [...], der Centgrafen des Gerichtes Bromskirchen."

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Jahre, ohne dass eine verwandtschaftliche Beziehung erkennbar ist. Bekannt ist bislang eben nur eine Tochter Sophia. Unter welchen Umständen also Nachkommen Tammos oder Herren anderer Abkunft, die sich ebenfalls wieder nach Beltershausen benannten, an die Gerichtsrechte in Bromskirchen gelangt sind, wäre an anderer Stelle zu erörtern. Denkbar ist dabei auch, dass sich diese Rechte aus einem Lehns- oder Dienstverhältnis Tammos zu den Battenbergern ableiten, in dem er nachweislich 1243 stand, und mit stadtgerichtlichen verknüpft wurden. In den Urkunden Tammos, in denen er in richterlicher Funktion belegt ist, wird er jedenfalls stets als Schultheiß von Frankenberg, nie als Zentgraf bezeichnet. Versucht man eine Einordnung Tammos von Beltershausen in die Heerschildordnung des Sachsenspiegels wie sie jüngst Wilhelm A. Eckhardt am Beispiel von Urkunden für zahlreiche hessische Adelsgeschlechter durchgeführt hat 130 , so fällt zunächst die Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und der Einordnung seiner Person durch andere auf. In den Urkunden der Äbtissin Lutrud von Wetter 1235, des Propstes Karl von St. Stephan 1236, des Grafen Albert von Wallenstein 1240 sowie 1244 wird Tammo jeweils nur als miles und dominus bezeichnet bzw. unter den milites genannt. Graf Siegfried von Battenberg führt ihn 1243 als miles et ministerialis. Einzig in der von Pastor Eckebert von Geismar um 1240 ausgestellten Urkunde, die Tammo mitbesiegelte und die auf seine eigene Initiative zurückgeht 131 , wird er als dominus Tammo nobilis de Beltershusen bezeichnet 132 . Der Mainzer Erzbischof Siegfried spricht dann wiederum in seiner Bestätigungsurkunde für das Kloster Berich von 1241 nur von miles. Offensichtlich haben wir es mit einem von seinem Selbstverständnis und Standesbewusstsein her hochambitionierten Ritter und Burgmannen zu tun, der vermögend war, seine Tochter mit guter Ausstattung ins Kloster gab und durch den der Eintritt in

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ECKHARDT, Heerschildordnung (wie Anm. 107) S. 47-67. Wie Anm. 77. Die Siegelführung Tammos ist damit zu einem frühen Zeitpunkt belegt. In der Regel ist mit ritterlicher Siegelführung in größerer Dichte erst in der zweiten Hälfte des 13. Jh. zu rechnen. Bei den Herren von Itter etwa ist interessanterweise für das Jahr 1233 die Problematik überliefert, dass von den drei urkundenden Herren nur einer, Konrad, über ein Siegel verfugte, und daher für die anderen mitsiegelte. U B Haina 1 (wie Anm. 7) S. 54 f. Nr. 77. Ein Siegel führte dieser schon 1227; VARNHAGEN, Waldeckische Geschichte (wie Anm. 6) U B S. 51 f. Nr. 17. Vgl. zur Problematik Wolfhard VAHL, Die Siegel des niederen fränkischen Adels im 13. und 14. Jahrhundert (1992); RÜBSAMEN, Herrschaftsträger (wie Anm. 1) S. 79-84 und S. 422-427.

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Forschungsüberblick bei HECHBERGER, Adel (wie Anm. 1) S. 99-106. Zum Rittertum Josef FLECKENSTEIN, Rittertum und ritterliche Welt. Mit einem Beitrag von Thomas ZOTZ (2002), mit umfassender Bibliographie S. 233-247. Zur Diskussion der Begriffe miles, dominus, nobilis siehe RÜBSAMEN, Herrschaftsträger (wie Anm. 1) S. 375-408; WEISS, Holzheim (wie Anm. 36) S. 436-439, weist auf den Unterschied zwischen liberi und miles am Beispiel der Herren von Holzheim hin.

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die Ministerialität des Landgrafen keine Standesminderung erfuhr 133 . Ob er allerdings auch die aktive Lehnsfähigkeit besaß und Lehen an ritterbürtige Personen vergeben hat, ist nicht bekannt. Einzuordnen wäre er wie der gräflich-ziegenhainische Ministeriale Bruno von Gerwigshain oder die Brüder Wigand Fraß und Bruno Buchsorge als Dienstmannen der Herren von Itter auf der 6. Stufe der Lehnspyramide, wobei diese beiden nach Eckhardt im Gegensatz zu Tammo nachweislich über Lehnsleute verfugten. Zur weiteren Erhellung der Stadtgründung von Frankenberg ist das personelle Umfeld von Tammo von Beltershausen zu betrachten. Seit 1236 begegnen, meist als Zeugen, eine Reihe von Burgmannen und Schöffen in den Urkunden, die bei der Stadtgründung eine Rolle spielten und möglicherweise bewusst angeworben wurden. 1253 urkunden zusammen mit dem Schultheiß die Burgmannen und Bürger (universitas castrensium ac burgensium), 1264 die Burgmannen mit den Schöffen (castrenses et scabini) von Frankenberg 134 . Ein Bürgermeister findet sich hingegen in der Stadtgründungsphase nicht, als solcher (magister civium in Vrankenberc) wird erstmals Werner Friling 1281 bezeichnet 135 . Die Erbauungszeit der Burg in Frankenberg, in der Burgmannen ihren Dienst zu leisten hatten, ist nicht überliefert. Erwähnt wird sie erstmals 1263 in den sogenannten Langsdorfer Verträgen, dürfte aber zeitlich vor oder parallel zur Stadtgründung entstanden sein136. Folgende Burgmannen lassen sich zu Beginn der Stadtwerdung Frankenbergs im Umfeld Tammos von Beltershausen nachweisen 137 : Gerlach Baschard (1231-1265) 138 , Ruding von 133

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Einen interessanten Parallelfall hat DOEPNER, Altenberg (wie Anm. 92) S. 214-216, mit dem Ritter Erwin von Garbenheim beschrieben, dessen drei Töchter als Nonnen in das Kloster Altenberg eintraten. U B Haina 1 (wie Anm. 7) S. 123 Nr. 209 (1253); Hessisches Urkundenbuch. Urkundenbuch der Deutschordens-Ballei Hessen 1: Von 1207 bis 1299, bearb. von Arthur WYSS (Publicationen aus den königlich Preussischen Staatsarchiven 3, 1 8 7 9 , 2 1 9 6 5 ) S. 163 Nr. 208 (1264). Vgl. SPIESS, Verfassungsgeschichte Frankenberg (wie Anm. 106) S. 352359. U B Deutschordensballei 1 (wie Anm. 134) S. 294 Nr. 394. Zur Person des Werner Friling siehe Jakob HENSELING, Die Hessischen Frilinge (Freilinge). Geschichte einer Familie (1968) S. 22-24. Regesten Landgrafen Hessen (wie Anm. 100) S. 28-30 Nr. 77-79. Ein eindeutiger archäologischer Befund liegt trotz geophysikalischer Prospektion im Jahr 2000 nicht vor. Ein Anknüpfen an einen karolingischen Vorgängerbau ist jedoch auszuschließen. Hierzu Hans BECKER, WO ist die Frankenberger Burg geblieben?, Frankenberger Hefte 8 (2003); Karl-Hermann VÖLKER, Eine Vorgängerburg? Geophysikalische Untersuchungen im Jahr 2 0 0 0 , F r a n k e n b e r g e r H e f t e 8 ( 2 0 0 3 ) S. 3 9 - 4 6 .

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Hierzu ohne Belege Jakob HENSELING, Die ersten Burgmannenfamilien von Frankenberg, Unser Frankenberger Land 10 (18. Okt. 1975). Für das Erzstift Mainz hat GRATHOFF, Mainzer Erzbischofsburgen (wie Anm. 124) S. 4 7 4 f., jüngst die Feststellung getroffen, dass um 1220 Edelfreie und Ritter für den Burgmannendienst gewonnen wurden, während im 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts Ministeriale überwiegend

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Herbelhausen (1227-1254) 139 , Gerlach von Biedenfeld 140 , der Edelknecht Arnold Huhn von Ellershausen (um 1240-1268) 141 , Siegfried Rust (12361245) 142 sowie Heinrich (1240/41-1264) und Konrad (um 1240-1272) von Linne (Wüstung bei Bottendorf, Kreis Waldeck-Frankenberg), wobei letztere zwar zeitgleich, aber nie zusammen mit Tammo nachgewiesen sind143. Zudem lässt sich mit den Helfenbergern eine Familie aus dem Fritzlarer/ Naumburger Raum nachweisen, die nach Frankenberg umgesiedelt ist144. Ein Lehnsverhältnis zu Tammo ist in keinem Falle nachweisbar. Bei den meisten Burgmannengeschlechtern in Frankenberg handelt es sich offensichtlich um Vertreter namhafter Familien der Umgegend. Ob und wenn ja, ab wann und unter welchen Umständen sie in einem persönlichen Verhältnis zum Landgrafenhaus standen, ist nicht feststellbar145. Aufschlussreich für die Art und Ausführung des Burgmannendienstes ist die bereits angesprochene Urkunde von 1244, die den Umstand regelt, dass Graf Widukind II. von Naumburg nicht ständig in Battenberg seinen Dienst tun könne und deshalb nur bei Bedarf selbst und ansonsten durch Vertretung Präsenz zeige. Für weiter entfernt sitzende Geschlechter mag in Bezug auf Frankenberg eine ähnliche Regelung getroffen worden sein, so dass man nicht davon

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im Rahmen ihrer Dienstpflichten Burghut geleistet haben. Eine entsprechende Untersuchung für die ludowingischen Burgen steht noch aus. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 482. Zusammen mit Tammo von Beltershausen: um 1240 (wie Anm. 77) sowie um 1250 (wie Anm. 84). Wie Anm. 77. Der Ort liegt 3,6 km nördlich Gemünden a. d. Wohra. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 555. Ruding wird 1227 in einer Zeugenliste Landgraf Ludwigs IV. vor den Ministerialen aufgeführt. Regesta diplomatica Thuringiae 2 (wie Anm. 36) S. 423 f. Nr. 2385. 1235 testiert Gertrud von Herbelhausen, eine Stiftsfrau zu Wetter, die in einem nicht näher bestimmten Verwandtschaftsverhältnis zu Ruding stand. Wie Anm. 32. Wie Anm. 114. Ferner PATZE, Entstehung Landesherrschaft (wie Anm. 36) S. 476. Wie Anm. 77. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 564. 1236: wie Anm. 40; 1245: Oberhessische Klöster UB 1 (wie Anm. 27) S. 89 Nr. 264. Er ist zusammen mit Guntram Schenk zu Schweinsberg bei der Entscheidung über die Verlegung des Zisterzienserklosters Butzebach nach Frankenberg als Lehnsmann des Landgrafen zugegen. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 572. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 554. Rudolf II. von Helfenberg (1241-1280?) ist nach HENSELING, Burgmannenfamilien (wie Anm. 137) bereits 1240 als Burgmann von Frankenberg zu finden. Nach Reimers Ortslexikon für Kurhessen (wie Anm. 6) S. 220 f. nennt sich ein Zweig derer von Gasterfeld im Laufe des 13. Jahrhunderts nach der neuerrichteten Burg. Die Tatsache, dass Rudolf von Helfenberg um 1250 in der Beilegung des Streites um die Güter des verstorbenen Tammo als Schlichter auftritt, lässt familiäre Bande zu Tammo von Beltershausen vermuten. Wie Anm. 84. FENSKE, Niederadel in Niedersachsen (wie Anm. 1) S. 695-698, hat in seinem Beitrag über das Gebiet des südöstlichen Niedersachsens auf die Heterogenität und lehnrechtliche Differenzierung sowohl innerhalb der ritterlichen Eigenleute als auch der Ministerialität hingewiesen.

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ausgehen kann, dass die angesprochenen Geschlechter ihren Dienst hier ständig versehen haben. Die Bedeutung der Ministerialen und Burgmannen sowie der Regelungsbedarf und Steuerungswillen ihrer Angelegenheiten lassen sich hingegen unschwer in einer Urkunde Heinrich Raspes vom Januar 1244 erkennen, in der er seine Zustimmung zur Heirat einer Tochter eines seiner Ministerialen mit einem Ministerialen der Grafen von Ziegenhain erteilt146. Ferner kam Heinrich Raspe 1246 einer Bitte seiner Burgmannen in Wolfhagen nach und stattete eine Kapelle mit Eigengütern aus147. Auch in Frankenberg nahm in den ersten Jahrzehnten nach der Stadtgründung eine sich im Schöffenkollegium formierende Führungsschicht politische Interessen wahr148, wobei sich wohlhabende und einflussreiche Familien durch Kooptation für lange Zeit die Teilhabe am Stadtregiment sicherten149. Die genauen Umstände ihrer Ansiedlung sind wie bei den Burgmannen nicht überliefert. Auffalligerweise befanden sich unter der ersten Schöffengeneration auch Familien aus den Städten Fritzlar und Wetter. Mit Heinrich Kirchwedel, Heinrich Friling und Otto von Wetter sind aus der Anfangszeit drei Schöffen bekannt. Heinrich Kirchwedel ist bereits 1240/41 als Schöffe in Frankenberg belegt; als Schultheiß 1254 und 1258/1260. Seine Herkunft ist in unmittelbarer Nachbarschaft zu Frankenberg zu vermuten150. Heinrich Friling (1235-1264) ist hingegen von 1235 bis 1237 zunächst als Schöffe in Fritzlar nachgewiesen und erscheint 1244 erstmals als solcher in Frankenberg151. Der dritte Schöffe der Anfangszeit, Otto von Wetter, ist von 1223 bis 1239 zunächst in Wetter zu finden und testiert um 1250 in Frankenberg152. Die in der Folgezeit in Frankenberg belegten Schöffenfamilien - zu den prominenteren, die zeitweise zwei und mehr Mitglieder im Kollegium 146 147 148

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Regesta diplomatica Thuringiae 3 (wie Anm. 107) S. 188 Nr. 1139; Vgl. WERNER, Reichsfiirst (wie Anm. 2) S. 232 Anm. 445, MGH DD H.R. Nr. 2 = Regesta diplomatica Thuringiae 3 (wie Anm. 107) S. 211 f. Nr. 1309. Erstmals belegt sind scabini 1244. UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 92 f. Nr. 147. Zur Entwicklung des Stadtgerichts allgemein SPIESS, Verfassungsgeschichte Frankenberg (wie Anm. 106) S. 362-374; WEISS, Gerichtsverfassung (wie Anm. 30) S. 167. Der weitere Gang der Entwicklung kann hier nicht verfolgt werden. Zum ähnlichen Verlauf der Entwicklung in anderen landgräflichen Städten in Hessen (Marburg, Alsfeld und Grünberg), vgl. Franz-Josef VERSCHAREN, Gesellschaft und Verfassung der Stadt Marburg beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Sozialer und politischer Wandel der Stadt vom 13. bis zum 16. Jahrhundert im Spiegel ihrer politischen Führungsschicht (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 9, 1985) S. 99-109, besonders Anm. 36. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 498. HENSELING, Frilinge (wie Anm. 135) S. 18-20. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 527. Über ihn mit weiteren Belegen siehe HENSELING, Frilinge (wie Anm. 135) S. 16-22. UB Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 626. HENSELING, Frilinge (wie Anm. 135) S. 20, besonders Anm. 26.

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stellten, zählten die von Münchhausen, Bringhausen und Klinghard stammen in der Regel aus dem engeren Umland 153 . Die Frage, inwieweit sie durch Privilegien angelockt wurden, ist nicht mit Gewissheit zu beantworten. Bei der nur durch Wigand Gerstenberg überlieferten Nachricht, Heinrich Raspe habe der Stadt Frankenberg zum Bau und zur Instandhaltung ihrer Pforten, Mauern und Türme alle Beden und den Geschoß der umliegenden Güter überlassen und einen neuen Weinzapf eingeführt, handelt es sich offensichtlich um eine Projektion der Verhältnisse des 15. Jahrhunderts durch den Chronisten 154 . Eher lässt die nur erschließbare Privilegierung Frankenaus durch Heinrich Raspe, die 1266 sein Neffe Landgraf Heinrich I. tätigte, Rückschlüsse auf die Art der Vergünstigungen zu. Dieser bestätigte in einer nur abschriftlich aus dem 18. Jahrhundert überlieferten Urkunde den Bürgern von Frankenau (Wrankenowe) alle ihnen von seinem verstorbenen Onkel, dem römischen Könige Heinrich {Raspe), Landgrafen von Thüringen, verliehenen Rechte und Freiheiten und gewährte ihnen die Gnade, dass niemand einem Bürger das Erbe oder das Besthaupt {optimale) abnehmen darf, dass sie vielmehr hierin das gleiche Recht wie seine übrigen Städte haben sollten. Ferner dürften, wie es vielleicht bisher geschehen ist, außerordentliche Steuern {exactiones indebitae) von ihnen nicht eingefordert werden, auch sollten alle zu Häusern und Höfen Frankenaus gehörigen Acker zehntfrei sein 155 . Ähnliche Anreize mögen auch den Zuzüglern in Frankenberg geboten worden sein, die sich in der Hauptsache aus den Familien der Dörfer in der Nachbarschaft rekrutierten. Denkbar ist auch, dass sie Bau- und Wirtschaftsgrundstücke zu günstigen Konditionen

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U B Haina 1 (wie Anm. 7) Personen- und Ortsindex S. 525, mit Auflistung der wichtigsten Familien. Oberhessische Klöster U B 1 (wie Anm. 27) Personen- und Ortsindex S. 453. Vgl. VERSCHAREN, Stadt Marburg (wie Anm. 149) S. 104 mit Anm. 36, HENSELING, Frilinge (wie Anm. 135) S. 16-19. Gerstenberg, Chroniken (wie Anm. 79) S. 412 f. = Regesta diplomatica Thuringiae 3 (wie Anm. 107) S. 236 Nr. 1464. Regesten Landgrafen Hessen (wie Anm. 100) S. 4 4 Nr. 114; Regesta diplomatica Thuringiae 3 (wie Anm. 107) S. 537 Nr. 3425 und Nachträge S. 566 Nr. 83; Reg. Imp. 5: Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV., Friedrich II., Heinrich (VII.), Conrad IV., Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard 1198-1272, nach der Neubearbeitung und dem Nachlasse J. F. BÖHMERS hg. und ergänzt von Julius FlCKER / Eduard WINKELMANN 4: Nachträge und Ergänzungen bearb. von Paul ZINSMEIER (1983) S. 101 Nr. 711 A, hier falschlich mit Frankenau bei Kösen (westlich von Naumburg in Sachsen-Anhalt) identifiziert. Der Zeitpunkt der Privilegierung durch Heinrich Raspe ist nicht exakt zu bestimmen, der Vorgang muss nicht in die Zeit nach seiner Wahl zum König vom 22. Mai 1246 datiert werden. Ein Zusammenhang mit der seit Anfang 1244 wieder aktiver werdenden Politik in Hessen ist hingegen wahrscheinlich. Hierzu WERNER, Reichsfurst (wie Anm. 2) S. 235 f. und 245 f.

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erhielten, wie sie etwa im Gründungsprivileg Landgraf Heinrichs II. für die Neustadt von 1335 dokumentiert sind156. Burgmannen und Schöffen bilden die beiden wichtigsten Personengruppen der Stadtgründungsphase in Frankenberg und als Schultheiß, Ritter und Ministeriale hatte Tammo von Beltershausen mit beiden enge Berührung. Mit den Burgmannen war er zusammen für die militärische Sicherung der Gesamtanlage - Burg und Stadt - zuständig, und sie hatten im Landgrafen von Thüringen einen gemeinsamen Dienst- bzw. Lehnsherr. Im Schöffenkollegium fanden sich die einflussreichen Familien der entstehenden Stadt zusammen und bildeten den Umstand des Gerichts, dem Tammo vorsaß. Frühzeitig kam es zu Austausch und Verschmelzung der beiden Personengruppen, aus der sich ein Stadtregiment rekrutierte. Diese Entwicklung ist aber in den Quellen der Anfangszeit noch nicht zu greifen.

V Im vorliegenden Beitrag wurde das Spannungsfeld ausgelotet, in dem sich der Herr und Ritter Tammo von Beltershausen Mitte des 13. Jahrhunderts bewegte. Erkennbar wurde auf der einen Seite ein durch Titulatur, Siegelführung und Pflege der Memoria dokumentierter Herrschaftsanspruch verknüpft mit sozialem Aufstiegsstreben und Lehnsbindung an verschiedene Herren. Geht man mit Karl-Heinz Spiess davon aus, dass sich die effektivste Form des Aufstiegs in den Adel im Ansammeln unterschiedlicher Adelsattribute über ein oder zwei Generationen hinweg dokumentiert, so lässt sich bei Tammo von Beltershausen ein durchaus vielversprechender Beginn eines Aufstiegs konstatieren, der aber nach seinem Tod in offensichtlicher Ermangelung direkter männlicher Nachkommenschaft keine Fortsetzung fand157. Auf der anderen Seite markieren eine neu gegründete Stadt mit sich abzeichnender sozialer Schichtung, landesherrlichem, durch Schultheiß und Burgmannen verkörperten Führungsanspruch und bürgerlichen Selbstverwaltungsstreben sowie ein Kloster als Versorgungsstätte der unverheirateten Tochter die Handlungsspielräume eines kleineren Herrschaftsträgers. Gebo-

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Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Urk. X 1 Frankenberg, 1335 Dez. 26; Druck bei WEISS, Gerichtsverfassung (wie A n m . 30) S. 2'C f. (Beilage 2) mit falscher Datierung zu 1336. Karl-Heinz SPIESS, Aufstieg in den Adel und Kriterien der Adelszugehörigkeit im Spätmittelalter, in: Zwischen Nicht-Adel und Adel, hg. von Kurt ANDERMANN / Peter JOHANEK ( V u F 53, 2001) S. 1-26, besonders S. 25, w e n n auch schwerpunktmäßig für das 15. Jh. Interessant hierzu ist der Vergleich zu den Herren von Holzheim, bei denen sich ein ähnlicher Emanzipationsprozess z u m niederen (Dienst-)Adel beobachten lässt. WEISS, Holzheim (wie A n m . 36) S. 439-442.

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ten wurde somit eine Momentaufnahme, die einen Einblick in die Komplexität der Ereignisse auf der Lehnsstufe eines ritterlichen Herrn im nördlichen Hessen gewährte und durch die relative Informationsdichte die Erörterung zentraler Fragen ermöglichte. Ein Ergebnis ist zunächst die Aufarbeitung der Anfänge der später wüst gefallenen Siedlung Beltershausen bei Altendorf an der nordhessischen Elbe. Der aus mehreren Höfen bestehende Siedlungskomplex, in dem seit dem 12. Jahrhundert Besitz der hessischen Klöster und Stifte Berich, Hasungen, Werbe sowie Wetter nachweisbar ist und als Lehen ausgeben werden konnte, wurde bislang in seiner Bedeutung nicht erkannt. In diesem Kontext errichtete ein im Verwaltungs-, Kriegs-, und Burgmannendienst bewährtes Rittergeschlecht zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt einen Burg- oder Herrensitz und führte nachweislich unter Tammo 1235 den Namen des Ortes als Geschlechternamen. Im Zusammenhang mit der Ausstattung der Tochter Sophia wurden 1243 dem Kloster Berich drei Höfe und ein Mühle in Beltershausen übertragen und der Familiensitz damit offensichtlich aufgebeben, was zeitlich mit dem Eintritt Tammos in die Ministerialität Heinrich Raspes und seinem Auftreten als Schultheiß in Frankenberg zusammenfällt. Bei der Wahl des Klosters Berich für ihre Tochter Sophia ließen sich Tammo und seine Frau Sophia von pragmatischen Überlegungen wie der räumlichen Nähe leiten, prinzipiell hätte auch ein anderes Kloster in Betracht kommen können. Religiöse Motive der Tochter beim Eintritt in das Kloster sind nicht zu erkennen, im Vordergrund stand die dingliche Versorgung, die mit der Übertragung 1243 nachgebessert wurde. Das Kloster war auch für die Pflege der Memoria zuständig und ist diesem Auftrag auch nachgekommen. Interessanterweise erfolgte parallel der Eintritt weiterer Töchter von Rittern, was für die Attraktivität des Klosters Berich Mitte des 13. Jahrhunderts spricht. Eine weitergehende Einordnung scheitert jedoch an der ungenügenden Aufarbeitung der Klostergeschichte sowohl hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung des Konvents als auch der wirtschaftlichen Grundlagen. Mit der aufschlussreichen Momentaufnahme konnte jedoch gezeigt werden, welche Aussagemöglichkeiten der noch weitgehend unbekannte Klosterbestand bietet. Die Aufnahme Tammos in die Ministerialität des Landgrafen von Thüringen, die in der Urkunde Siegfrieds von Battenberg 1243 eigens festgehalten wurde, war nicht unbedeutend für die Festigung der ludowingischen Herrschaft in Hessen, zumal Tammo mit dem Schultheißenamt in der neugegründeten Stadt Frankenberg eine zentrale Funktion übernahm und 1244 als Richter das Verfahren um eine Güterstreitigkeit zwischen dem Landgrafen und dem Kloster Haina leitete. Die Stadtwerdung Frankenbergs hatte Tammo von Beginn an begleitet - zunächst offensichtlich noch als Lehns- und Burgmann der Battenberger. Zu dem Pastor Eckebert in Geismar, der zunächst

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T A M M O VON BELTERSHAUSEN

noch für die Filiale in Frankenberg zuständig war, bestand zumindest eine so enge Verbindung, dass dieser ihm um 1240 die Ausstattungurkunde anlässlich des Klostereintritts der Tochter ausfertigte. Der Eintritt in die ludowingische Dienstmannschaft wiederum minderte Tammos Stand nicht und setzte zudem eine entsprechende Dienstbelehnung voraus, die den Verlust der dem Kloster Berich zur Ausstattung der Tochter übertragenen Güter in Beltershausen ausgeglichen haben dürfte. Dennoch war sein politisches Gewicht im Vergleich zu den prominenten ludowingischen Ministerialen Konrad von Elben oder Guntram von Schweinsberg, und erst recht zu den edelfreien Geschlechtern, die als Vasallen der Landgrafen belegt sind, wie die Herren von Felsberg, Gudensberg, Homberg und Naumburg, gering, sein Wirken blieb auf den lokalen Raum beschränkt158. Zum Umfeld, in dem er sich bewegte, zählten u.a. die Familien von Helfenberg (ehemals von Gasterfeld), Bischofshausen bzw. Löwenstein und Itter, dann die Herren und Ritter Gerlach Baschard, Gerlach von Biedenfeld, Werner von Bringhausen, Gottfried und Gottschalk von Goßfelden, Konrad von Mandern und Herdegen von Alartshausen, sowie die Schöffen Heinrich Friling und Heinrich Kirchwedel. Konkrete territorialpolitische Maßnahmen der Ludowinger - etwa mit Hermann II. die erneute Wiedereinsetzung einer eigenen Regierung in Hessen159 - ließen sich in der Person Tammos nicht spiegeln, da sich zu diesem Zeitpunkt keinerlei direkte Berührungspunkte ausmachen lassen. Die eingangs aufgeworfene Frage, inwieweit Tammo als Nutznießer der Konfliktsituation zwischen dem Mainzer Erzstift und den Landgrafen von Thüringen zu gelten hat, dem es gelang, sich durch mehrere Lehnsbündnisse Vorteile zu verschaffen, ist jedoch dennoch insofern positiv zu entscheiden, als er nachweislich mehrere Lehnsherren hatte, ohne dass sich daraus erkennbar eine Konfliktsituation ergeben hätte. Man wird vermuten können, dass er ihnen in ligischer Vasallität verpflichtet war, die im Nordwesten des Reiches verbreitet war. Trotz nur kurzer Belegzeit und trotz der Tatsache, dass Tammo von Beltershausen offenbar keinen direkten männlichen Nachfolger hatte160, haben seine Handlungen in den Quellen noch lange ein Echo gefunden. Die Informationsdichte ist für einen Ritter in Hessen in der Mitte des 13. Jahrhunderts ungewöhnlich. Dennoch bleiben Fragen offen. Die Anfänge und genauen Umstände des Aufstiegs der Familie von Beltershausen ließen sich nicht rekonstruieren. Weder ist der Zeitpunkt der Herrensitz- oder Burgerrichtung

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PATZE, Entstehung Landesherrschaft (wie Anm. 36) S. 377 f.; DEMANDT, Personenstaat (wie Anm. 17) S. 178 f. Nr. 574; S. 741 Nr. 2627. 159 WERNER, Reichsfurst (wie Anm. 2) S. 214. 160 Ob und gegebenenfalls in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis zu Tammo ein 1266 als Bürger zu Fritzlar belegter Konrad von Beltershausen stand, wissen wir nicht. UB Haina 1 (wie Anm. 7) S. 250 f. Nr. 473.

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bekannt, noch konnten gesicherte Aussagen über Tammos Funktionen, Allodial- oder Lehnsbesitz getroffen werden. Zentrale Fragen nach dem zahlenmäßigen Eintritt Freier in die Ministerialität, Mehrfachvasallität, Bedeutung und Zeitpunkt der Rittererhebung sowie deren ständischer Abgrenzung konnten ebenso wenig erörtert werden wie die komplexe Problematik der Entwicklung von Dienstlehen zu echten Lehen. Somit bleibt die systematische Untersuchung der ludowingischen Ministerialität und Ritterschaft in Hessen ein dringendes Desiderat, wobei der Beitrag zumindest die Vielschichtigkeit der Verhältnisse aufgezeigt zu haben hofft.

HOLGER K U N D E

Der Westchor des Naumburger Doms und die Marienstiftskirche Kritische Überlegungen zur Forschung Seitdem Carl Peter Lepsius 1822 mit seinem Beitrag „Über das Alterthum und die Stifter des Domes zu Naumburg" die wissenschaftliche Erforschung des Naumburger Westchores und seiner Bildwerke begründete 1 , ist die Zahl der Arbeiten, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, fast unüberschaubar geworden 2 . Sie kreisen um die Frage, welche Auftraggeber hinter der Errichtung des berühmten frühgotischen Westchors der Kathedralkirche mit seinem aufwändig gestalteten Lettner und der Anfertigung der im Chorpolygon aufgestellten zwölf Standbilder standen. Der Versuch, Motive und Hintergründe der Entstehung dieser Kunstwerke zu erklären, gewinnt nicht zuletzt dadurch immer wieder neu an Faszination, als es sich beim Naumburger Westlettner und bei den derselben Werkstatt zugeschriebenen Bildnissen im Westchor und im Dom zu Meißen um nahezu einzigartige Arbeiten eines anonymen Meisters handelt, dessen Schaffen zu den Höhepunkten der sakralen Plastik des 13. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gehört. Überblickt man die Naumburg-Forschung der letzten Jahrzehnte, so lassen sich zwei Zäsuren zur Frage der Datierung und Motivierung der Arbeiten des Naumburger Meisters am Westchor des Doms erkennen. Zum einen fanden die Überlegungen Walter Schlesingers zum Meißner Dom und

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Carl Peter LEPSIUS, Ueber das Alterthum und die Stifter des Doms zu Naumburg und deren Statuen im westlichen Chor desselben, Mittheilungen aus dem Gebiete historischantiquarischer Forschungen 1 (1822); Neudruck in: DERS., Kleine Schriften. Beiträge zur thüringisch-sächsischen Geschichte und deutschen Kunst- und Alterthumskunde 1 (1854/55) S. 1-40. - Für die Unterstützung bei der Abfassung dieses Beitrages danke ich Herrn Matthias Ludwig (Domstiftsarchiv Naumburg) besonders herzlich.

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Vgl. dazu die Zusammenstellungen und Literaturberichte bei Ernst SCHUBERT, Der Westchor des Naumburger Doms. Ein Beitrag zur Datierung und zum Verständnis der Standbilder (Abh. Berlin 1, 1964) Anm. 1; Neudruck in: DERS., Dies diem docet. Ausgewählte Aufsätze zur mittelalterlichen Kunst und Geschichte in Mitteldeutschland, hg. von HansJoachim KRAUSE (2003) S. 9-76, Anm. 1; DERS., Zur Naumburg-Forschung der letzten Jahrzehnte, in: Wiener Jb. für Kunstgeschichte 35 (1982) S. 121-138; Neudruck in: DERS., Dies diem (wie oben in dieser Anm.) S. 158-179; DERS., Die Erforschung der Bildwerke des Naumburger Meisters (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 133,4, 1994); DERS., Bemerkungen zu Studien zur frühgotischen Architektur und Skulptur des Naumburger Doms, Kunstchronik 52 (1999) S. 577-587, zugleich in: Sachsen und Anhalt 22 (1999/2000) S. 345-360.

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DER WESTCHOR DES NAUMBURGER D O M S

zum Naumburger Westchor3 große Resonanz und werden in modifizierter Form von Teilen der Forschung bis heute vertreten4. Zum anderen haben die zahlreichen Arbeiten von Ernst Schubert zu diesem Thema bestimmenden Einfluss gewinnen können5. Seine in der Auseinandersetzung mit Schlesingers Ansichten entstandenen Ergebnisse gelten bislang weithin als anerkannt6. Das aus Ausgrabungsbefunden, historischer Quellenanalyse und kunsthistorischem Sachverstand gezimmerte Gebäude schien über die geäußerte Kritik erhaben zu sein7. Erst seit der von Dethard von Winterfeld grundlegend anderen Bewertung8 der von Gerhard Leopold und Ernst Schubert vorgelegten Ergebnisse der Naumburger Domgrabung9 und dem Erscheinen neuerer Studien über die Baugeschichte des Meißner Doms und seiner Plastik des 13. Jahrhunderts10 zeigten sich zunehmend Risse im Ge-

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Walter SCHLESINGER, Meissner D o m und Naumburger Westchor. Ihre Bildwerke in geschichtlicher Betrachtung (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 2, 1952); vgl. auch DERS., Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter 2 (Mitteldeutsche Forschungen 27,2, 2 1983) S. 122-138. Vor allem Willibald SAUERLÄNDER, Die Naumburger Stifterfiguren. Rückblick und Fragen, in: Die Zeit der Staufer 5 (1979) S. 169-245, besonders S. 218ff. und im Anschluß daran Helga SCIURIE/Friedrich MÖBIUS, Der Naumburger Westchor. Figurenzyklus, Architektur, Idee (1989) S. 73 (MÖBIUS). Die wichtigsten Beiträge sind in unverändertem Nachdruck enthalten in: SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2). Vgl. auch Gerhard LEOPOLD und Ernst SCHUBERT, Zur Baugeschichte des Naumburger Westchors, in: Kunst des Mittelalters in Sachsen. Festschrift Wolf Schubert (1963) S. 97-106; DERS., Der Naumburger D o m (1997). Vgl. beispielsweise Heinz WLESSNER, Das Bistum Naumburg. Die Diözese (Germania Sacra N F 35,1-2, 1997/98) S. 136; Caroline HORCH, Der Memorialgedanke und das Spektrum seiner Funktionen in der Bildenden Kunst des Mittelalters (2001) S. 155-189. Grundlegende Kritik von SAUERLÄNDER, Stifterfiguren (wie Anm. 4), S. 223ff.; DERS. und Joachim WOLLASCH, Stifterfiguren und Stiftergedenken in Naumburg, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. von Karl SCHMID / Joachim WOLLASCH, (1984) S. 354-383, besonders S. 370ff. Zur Entgegnung vgl. vor allem Ernst SCHUBERT, Memorialdenkmäler für Fundatoren in drei Naumburger Kirchen des Hochmittelalters, FmSt 25 (1991) S. 188-225, besonders S. 222ff.; Neudruck in: DERS., Dies diem (wie Anm. 2) S. 378-422. Vgl. zur Kontroverse Schubert-Sauerländer auch Joachim WOLLASCH, Zu den Ursprüngen der Tradition in der Bischofskirche Naumburg, FmSt 25 (1991) S. 171-187, hier S. 171. Dethard von WINTERFELD, Zur Baugeschichte des Naumburger Westchores. Fragen zum aktuellen Forschungsstand, architectura 24 (1994) S. 289-318; Neudruck in: DERS., Meisterwerke mittelalterlicher Architektur. Beiträge und Biographie eines Bauforschers, hg. v o n U t e ENGEL / K a i KAPPEL / C l a u d i a A n e t t e MEIER ( 2 0 0 3 ) S. 2 7 3 - 3 0 2 .

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Gerhard LEOPOLD / Ernst SCHUBERT, Die frühromanischen Vorgängerbauten des Naumburger Doms (Corpus der romanischen Kunst im sächsisch-thüringischen Gebiet A/IV, 1972). 10 Matthias DONATH, Die Baugeschichte des D o m s zu Meißen 1250-1400 (1998); Heinrich MAGIRIUS, Kunstgeschichtliche Aspekte zu den Figuren der Bistumsgründer und Bistumsheiligen im Hohen Chor und den drei Figuren im Achteckbau, in: DERS., Architektur und Skulptur des Meißner D o m s im 13. und 14. Jahrhundert (Forschungen zur Bau- und Kunst-

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bälk11, wenn auch ein Teil der von großem Medienecho begleiteten neueren Arbeiten nicht hat überzeugen können12. Die vorliegende Studie möchte zunächst in einem knappen Überblick die wichtigsten Ergebnisse Schlesingers und Schuberts zur Datierung und Motivation des Naumburger Westchors und seiner Bildwerke in Erinnerung rufen. Da bislang - abgesehen von wenigen Ausnahmen - eine eingehende quellenkritische Auseinandersetzung mit dem von Ernst Schubert gelegten Fundament unterblieben ist13, soll im Anschluss daran auf der Grundlage des bis zum Jahr 1304 edierten Naumburger Urkundenbestandes14 seine zentrale und für die Interpretation des Gesamtensembles folgenreiche These von der Existenz eines alten, im frühen 11. Jahrhundert von den in Naumburg

geschichte des Meißner Domes 2, Forschungen und Schriften zur Denkmalpflege II, 2, 2001) S. 279ff. Vgl. dazu die Rezensionen von Bruno KLEIN, Neues Archiv für Sächsische Geschichte 77 (2006) S. 350-356. 11 So sind im Rahmen von Kolloquien und Tagungen, deren Ergebnisse bislang leider ungedruckt geblieben sind, wichtige und weiterfuhrende Forschungsimpulse entstanden. Ich bin Herrn Dr. Markus Hörsch (Bamberg) für die Zusendung seines Vortragsmanuskriptes mit dem Titel „Der Westchor des Naumburger Domes im historischen und baulichen Kontext. Überlegungen für künftige Forschungen" (gehalten 2002 in Naumburg) und Herrn Dr. Gerhard Lutz (Hildesheim) für die Überlassung seines Tagungsvortrages mit dem Titel „Im Angesicht der Stifter. Fragen zu Form und Funktion des Naumburger Westchors" (gehalten 2005 in Meißen) sehr zu Dank verpflichtet. Beide Arbeiten sind für den Druck vorgesehen. 12 Folkhard CREMER, Das antistaufische Figurenprogramm des Naumburger Westchors. Ein Beitrag zur Erforschung des Gegenkönigtums Heinrich Raspes IV. und der Politik des Mainzer Erzbischofs Siegfrieds III. von Eppstein (Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte 1, 1997) suchte in fast jeder Hinsicht neue Wege in der Datierung und Interpretation des Gegenstandes aufzuzeigen. Trotz wertvoller Einzelbeobachtungen mangelt es dem Buch jedoch an detaillierter Quellenkenntnis, so dass die vorgeschlagenen Deutungen, insbesondere die Deutung der Stifterfiguren als im Kampf gegen die Salier und Staufer gefallene kirchen- und papsttreue Märtyrer (S. 184) in keiner Weise überzeugen können und zu Recht auf massive Ablehnung stießen. Wolfgang HARTMANN, Vom Main zur Burg Trifels vom Kloster Hirsau zum Naumburger Dom. Auf hochmittelalterlichen Spuren des fränkischen Adelsgeschlechts der Reginbodonen (2004) S. 142-191, suchte aufgrund z.T. fragwürdiger genealogisch-besitzgeschichtlicher Analysen und der gewagten Interpretation von Haltung, Gebärden und Formensprache der Naumburger Stifterfiguren eine besondere politische Dimension des Ensembles auszumachen. Nach seiner Ansicht stellte das im Naumburger Westchor memorierte Ereignis „die - gerade auch aus kirchlicher Sicht - politisch sehr bedeutende, besonders in den sächsisch-thüringischen Landen noch lange gerühmte Schlacht am Weifesholz dar" (S. 190). Diese Aussage, für die Hartmann nicht einen wirklich überzeugenden Beleg vorbringen kann, geht jedoch völlig an der überlieferten Quellenlage vorbei. 13 Wichtige Ansätze dazu aber in den ungedruckten Manuskripten von HÖRSCH und LUTZ (wie Anm. 11), in Einzelfallen auch bei CREMER, Figurenprogramm (wie Anm. 12). 14 Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg 1 (967-1207), ed. Felix ROSENFELD (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt NR 1, 1925), Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg 2 (1207-1304), ed. Hans PATZE / Joseph DOLLE (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 2, 2000).

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begüterten ekkehardinischen Markgrafen gegründeten Marienstifts westlich des ersten Naumburger Doms einer Überprüfung unterzogen werden. Das 1952 publizierte, knapp 100 Seiten umfassende Buch Schlesingers „Meissner Dom und Naumburger Westchor" 15 besticht bis zum heutigen Tag durch seine intellektuelle Brillanz und einen fast suggestiv zu nennenden Sprachstil. Schlesinger suchte durch die historische Beleuchtung der Amtszeit Bischof Konrads von Meißen (1240-1259) und insbesondere durch die Interpretation verschiedener Ablassurkunden für den Meißner Dom den Beginn der Tätigkeit des Naumburger Meisters und seiner Werkstatt in Meißen und die Entstehung der Meißner Bildwerke auf die Zeit um 1250 anzusetzen. Dementsprechend argumentierte er entgegen der älteren Forschung für eine Frühdatierung der Hauptwerke des Meisters im Naumburger Westchor in die 1240er Jahre. Nach seiner Ansicht sei durch Bischof Engelhard von Naumburg (1207-1242) der geniale Bildhauerarchitekt, dessen Arbeiten er 1235 in Mainz persönlich in Augenschein hätte nehmen können, nach Naumburg berufen und das einzigartige Programm des Westchors und seiner Bildwerke im Zusammenwirken mit dem Domkapitel bestimmt worden. Der von Schlesinger als provinziell eingestufte Nachfolger Engelhards, Bischof Dietrich II. von Wettin (1243-1272), sei hingegen „nur" für einen Planungswechsel des Bildprogramms und für die Vollendung des Westchors verantwortlich gewesen. Das Hauptmotiv für die Ausführung des einzigartigen Figurenzyklus im Westchor sah Schlesinger in dem langwährenden Streit zwischen den Dombzw. Kollegiatstiftskapiteln von Naumburg und Zeitz um den Bischofssitz und das Recht der Bischofswahl. Dieser Konflikt resultierte aus der 1028 erfolgten, in der deutschen Kirchengeschichte des Mittelalters singulären Verlegung des Bischofssitzes von Zeitz nach Naumburg. Das Naumburger Domkapitel habe mit der Aufstellung der Stifterfiguren seinem Selbstverständnis einer von einem hochrangigen Adelskreis gegründeten und über die Zeiten hinweg getragenen Kooperation Ausdruck verleihen und durch die außerordentliche Pflege des Stiftergedenkens den Makel des fehlenden kaiserlichen Gründers und der geringeren Anciennität gegenüber Zeitz überspielen wollen. Für seine Interpretation bezog Schlesinger auch das Bischofsgrabmal im Ostchor des Dom ein. Denn die im 16. Jahrhundert noch erhaltenen Darstellungen und Inschriften auf einem Holzaufbau, der dieses Bischofsgrab bedeckte, erinnerten an die Bistumsverlegung. Ernst Schubert, gerüstet durch die Erfassung der Naumburger Inschriften 16 , den unmittelbaren Zugang zum Naumburger Domstiftsarchiv und die zusammen mit .Gerhard Leopold durchgeführten Ausgrabungsarbeiten im 15 SCHLESINGER, Meissner Dom (wie Anm. 3). Auf Einzelnachweise wird hier verzichtet. 16 Ernst SCHUBERT / Jürgen GÖRLITZ, Die Inschriften des Naumburger Doms und der Domfreiheit (1959).

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Naumburger Dom 17 , begründete mit seiner 1964 erschienenen Schrift über den Naumburger Westchor 18 eine ganz andere Sicht der Dinge, die er in den Folgejahren durch zahlreiche Detailstudien und Aufsätze zu untermauern und durch die Einbeziehung der Baugeschichte des Meißner Doms und des Zisterzienserklosters Pforte 19 sowie durch die Zuweisung weiterer, in Merseburg erhaltener Kunstwerke an die Werkstatt des Naumburger Meisters 20 in ein „geschlossenes System" zu überfuhren suchte. Im Unterschied zu Schlesinger und im Einklang mit dem Großteil der älteren Forschung sieht Schubert den Beginn der Arbeiten des Naumburger Meisters am Westchor nach dem berühmten Stifteraufruf von 1249 einsetzen. Zuvor sei die Werkstatt des Naumburger Meisters in Mainz und Merseburg tätig gewesen, während in Naumburg die dortige ältere Bauhütte den südlichen Kreuzgang in Angriff genommen habe. Innerhalb von ca. 10 Jahren seien dann die Arbeiten am Westchor vollendet gewesen, während das Bischofsgrabmal im Ostchor des Domes die sterblichen Überreste des 1272 verstorbenen Bischof Dietrichs II. enthielten, dem Naumburger Meister und seiner Werkstatt zuzuweisen seien und um das Jahr 1260, also lange vor Dietrichs Tod, entstanden sein soll. Der Naumburger Meister und seine Werkstatt seien dann im Anschluss nach Meißen weitergezogen. Gestützt auf die gemeinsam mit Leopold erzielten Ausgrabungsbefunde sowie auf bis dahin unbekannte bzw. nicht in die Diskussion einbezogene Urkunden des Naumburger Domstiftsarchivs entwickelte Schubert die folgenreiche Ansicht, dass eine nach 1021 von den ekkehardinischen Markgrafenbrüdern Ekkehard II. und Hermann I. gegründete und der Gottesmutter Maria geweihte Kollegiatstiftskirche auf dem Gebiet des jetzigen Westchores gestanden habe. Diese von ihm auch als „Burgstiftskirche" bezeichnete Heimstatt eines Kollegiatstifts St. Marien hätte dem Domneubau des 13. Jahrhunderts weichen müssen. Der neue Westchor sei dabei zunächst für die Kanoniker des Kollegiatstifts St. Marien errichtet worden. Deshalb sei der Westlettner mit seinen Passionsreliefs auch nicht als Lettner, sondern als ein Portal für einen rechtlich abgesonderten, vom Dom verschiedenen Kirchenbereich anzusprechen 21 . Auf Betreiben des Naumburger Domkapitels seien

17 Gerhard LEOPOLD / Ernst SCHUBERT, Die frühromanischen Vorgängerbauten des Naumburger Doms (1972). 18 SCHUBERT, Westchor (wie Anm. 2). 19 Ernst SCHUBERT, Der Westchor des Naumburger Doms, der Chor der Klosterkirche in Schulpforta und der Meißner Domchor, in: Architektur des Mittelalters. Funktion und Gestalt, hg. von Friedrich MÖBIUS / Ernst SCHUBERT (1983) S. 160-183; Neudruck in: SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 228-247. 20 Ernst SCHUBERT, Das Grabmal des Ritters von Hagen im Merseburger Dom, in: Jb. für Regionalgeschichte und Landeskunde 17,11 (1990) S. 62-72; Neudruck in: SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 365-377. 21 Ernst SCHUBERT, Der Westlettner des Naumburger Doms, in: Kunstwissenschaftliche Bei-

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die Marienkanoniker dann im Verlauf des 13. und frühen 14. Jahrhunderts aus dem Westchor in die Pfarrkirche St. Marien am Dom vertrieben und zu Vikaren degradiert worden. Die Stifterfiguren im Westchor hingegen sind nach Schuberts Ansicht vor allem als in Stein gehauene Ersatzgrabbilder für die beim Umbau des Doms und der Stiftskirche zerstörten älteren Stiftergrabstätten zu interpretieren. Soweit - auf das Knappste zusammengefasst - die von Schlesinger bzw. von Schubert entwickelten Datierungen und Deutungen. Angesichts der Tragweite der von Schubert ins Spiel gebrachten und aus seiner Sicht durch Ausgrabungsergebnisse und Urkunden gesicherten Annahme eines der hl. Gottesmutter geweihten Kollegiatstifts hat sich jede Beschäftigung mit den Stifterfiguren und dem Naumburger Westchor zunächst mit dieser Deutung auseinanderzusetzen. Wie schon erwähnt, sind die von Leopold/Schubert für die einstige Existenz einer Marienstiftskirche im Bereich des jetzigen Westchors der Domkirche geltend gemachten Ausgrabungsbefunde von Dethard von Winterfeld mit gewichtigen Argumenten in Frage gestellt und stattdessen für die Annahme einer früheren Westausdehnung des ersten Domes in Anspruch genommen worden. Angesichts dieser fundamental entgegengesetzten Ausgrabungsinterpretationen gilt es nun für den Historiker zu prüfen, ob es in den schriftlichen Quellen tatsächlich Zeugnisse gibt, welche die von Schubert entwickelte Abfolge der Ereignisse stützen. Bekanntlich schloss Schubert aus der in der Merseburger Bischofschronik enthaltenen, vor 1136 aufgeschriebenen Nachricht einer nach 1021 von Markgraf Hermann gegründeten prepositura noviter fundata22 sowie aus den mit dem Jahr 1258 einsetzenden urkundlichen Belegen 23 auf die kontinuierliche Existenz des Marienstifts seit dem frühen 11. Jahrhundert 24 . Auf welch dünnem Eis diese gewagte Schlussfolgerung steht, wird offensichtlich, wenn ein für die Fragestellung zentrales Dokument aus dem Jahr 1228 in die Betrachtung einbegezogen wird 25 . Die großformatige, mit Rota, Bene-Valete-Zeichen und den Unterschriften des Kardinalskollegiums versehene Papsturkunde Gregors IX. vom 28. November 1228 für Bischof Engelhard und das Naumburger Domkapitel ist

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träge 2 (Beilage zu Bildende Kunst 27, 1979) S. 7-15; Neudruck in: SCHUBERT, Dies diem (wieAnm. 2) S. 124-145. Chronica episcoporum Merseburgensium, ed. Roger WLLMANS (MGH SS 10) S. 178: [...] promittebat enim Ekkardus ecclesie sue [dem Merseburger Bischof Bruno] abbatiam in Jena tunc conflrmatam, Hermannus praeposituram in Numburg noviter fundatam. Vgl. dazu unten. Vgl. SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 50ff.; S. 382f.; 399ff. UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 77. Vgl. zum folgenden: Der Naumburger Domschatz. Sakrale Kostbarkeiten im Domschatzgewölbe, hg. von Holger KUNDE (2006) S. 60-62 und die dort angegebene Literatur.

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für die Geschichte des Hochstifts von nicht zu überschätzender Bedeutung. Zusammen mit einer zwanzig Tage zuvor ausgestellten Urkunde desselben Papstes gibt sie Zeugnis von dem Bemühen des Naumburger Domkapitels um abermalige Sanktionierung des seit 1028 geschaffenen Rechtszustandes. Beide Dokumente lassen auf die stete Infragestellung der Naumburger Position durch das Kapitel des Kollegiatstifts Zeitz zurückschließen. In der hier näher zu betrachtenden Urkunde vom 28. November 1228 werden die Verlegung des Bischofssitzes von Zeitz nach Naumburg sowie alle jetzigen und zukünftigen Besitzungen durch den Papst bestätigt. Anscheinend hat den Naumburger Kanonikern jedoch eine pauschale Verbriefung der Besitzungen und Rechte besonders im Hinblick auf die Auseinandersetzungen mit Zeitz nicht ausgereicht. Aus diesem Grund wurden in der Urkunde sämtliche Besitzungen und Rechte, die Bischof und Domkapitel bis zu diesem Zeitpunkt erworben hatten, namentlich aufgezählt. Den Klöstern, Stiftskirchen, Kapellen und Kurien, Pfarrkirchen, Städten, Burgen und Dörfern folgen Einzelbesitzungen in Sachsen, in der Mark Meißen, in Thüringen und im Pleißenland. Es schließt sich die Bestätigung des Begräbnisrechts, des Zehntrechts, der geistlichen Immunität sowie aller sonstigen erlangten Freiheiten an. Aus Sicht des Naumburger Domkapitels wird die ausdrückliche Aufzählung der Stiftskirche St. Peter in Zeitz, des dortigen Stephansklosters sowie der gesamten Stadt und der Burg Zeitz von besonderem Interesse gewesen sein. Geht doch aus ihr die eindeutige Unterstellung der genannten Institutionen unter Bischof und Domkapitel von Naumburg - bzw. wenigstens ihr Anspruch darauf - mit der gewünschten Klarheit hervor. In unserem Zusammenhang ist mit Nachdruck hervorzuheben, dass in der sehr genauen Zusammenstellung dieser Urkunde ein der Gottesmutter Maria geweihtes Kollegiatstift in Naumburg nicht aufgeführt ist. Wollte man trotzdem der Ansicht Schuberts folgen, hieße das in der Konsequenz, dass das Kollegiatstift nicht der Jurisdiktion des Naumburger Bischofs und seines Kapitels unterworfen gewesen wäre und den Status der Reichsunmittelbarkeit erlangt hätte. In der seit dem 12. Jahrhundert immer dichter werdenden urkundlichen Überlieferung Mitteldeutschlands und des gesamten Reichs werden aber bis zum Jahr 1258 keine Angehörigen des Naumburger Marienstifts oder dieses selbst erwähnt. Selbst wenn man die Reichsunmittelbarkeit und den Totalverlust des Archivs dieser Institution unterstellen wollte, müsste sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Zeugenreihe einer Urkunde der Propst bzw. ein anderer Kanoniker des Naumburger Marienstift finden lassen, was aber nicht der Fall ist. Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, dass die in der Merseburger Bischofschronik ohne ein Patrozinium genannte, von Schubert indes auf eine mutmaßliche ekkehardinische Marienstiftskirche bezogene prepositura noviter fundata des Jahres 1021 mit weitaus besseren Argumenten mit einem

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Kollegium von Geistlichen in Verbindung gebracht werden kann, das zur geistlichen Versorgung der auf dem Naumburger Moritzberg angesiedelten Nonnen benötigt worden ist und an dessen Spitze ein prepositus stand. Denn im Gegensatz zur urkundlich nicht belegbaren Existenz eines Marienstifts vor der Mitte des 13. Jahrhunderts lassen die Quellen erkennen, dass das Naumburger Moritzstift mit einem Frauenkonvent besiedelt war, der um das Jahr 1119 einem Augustinerchorherrenkonvent weichen musste 26 . Die Gründung von St. Moritz könnte daher durchaus auf die zum Jahr 1021 erwähnte Propstei Markgraf Hermanns zurückgeführt werden, während für das angebliche Marienstift kein Beleg existiert. Die hier getroffenen Feststellungen, insbesondere das Fehlen urkundlicher Belege im Zeitabschnitt von 1021 bis 1257, schließen die Existenz eines der Gottesmutter Maria geweihten Kollegiatstifts in Naumburg vor der Mitte des 13. Jahrhunderts zwingend aus 27 . Um so spannender ist die Frage nach der Einordnung der mit dem Jahr 1258 einsetzenden urkundlichen Zeugnisse, in denen von Kanonikern der Gottesmutter Maria die Rede ist. Aus einer Urkunde Bischof Dietrichs II. vom 22. September 1258 geht der Verkauf von vier Naumburger Hofstätten an den sacerdos Cunradus, canonicus beate Marie virginis civitatis nostre, hervor. In der Zeugenreihe wird zudem ein Arnuldus canonicus sancte Marie genannt 28 . Diesen ersten Zeugnissen für die Existenz von Marienkanonikern folgen bis 1290 nur wenige weitere Erwähnungen 29 , danach treten sie in den Urkunden bis zur Begründung eines vom Naumburger Domkapitel abhängigen Unterstifts der Gottesmutter Maria durch Bischof Withego im Jahr 1343 nicht mehr auf 30 . Bereits die beiden zuerst genannten Marienkanoniker lassen erkennen, dass es sich bei ihnen nicht um Angehörige einer altehrwürdigen Institution 26 Vgl. UB Naumburg 1, Nr. 120 und 140. 27 Vorsichtiger VON WINTERFELD, Baugeschichte (wie Anm. 8) S. 275: „Die Gleichsetzung der praepositura ohne Patrozinium von 1021 mit dem gegen Ende des 13. Jahrhunderts noch zu erschließenden Marienstift ist bei der dürftigen Quellenlage des 11. bis 13. Jahrhunderts methodisch wohl nicht anzuzweifeln, vielleicht aber doch nicht ganz zwingend." HÖRSCH und LUTZ (wie Anm. 11) weisen Schuberts Ansicht hingegen entschieden zurück. Vgl. auch die Ausführungen von CREMER, Figurenprogramm (wie Anm. 12) S. 32ff. 28 UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 299. Vgl. SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 39; SAUERLÄNDER S t i f t e r f i g u r e n ( w i e A n m . 4 ) S. 2 2 4 .

29 UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 301 (1258 Oktober 18): Cunradus canonicus beate Marie virginis civitatis nostre [...]; ebd., Nr. 307 (1259 Mai 24): dominus Lutholfus de sancta Maria [...] (dieser Beleg ist nicht eindeutig zuzuordnen); ebd., Nr. 617 (1290 März 1): Bertoldus sacerdos dictus de Dippoldiswalde canonicus ecclesie sancte Marie in Nuenburg prope sanctum Petrum [...] dominus Ulricus de Bibera, dominus Albertus, sacerdotes et canonici sancte Marie [...]. Es ist erstaunlich, dass Ernst Schubert aus der Grundlage dieser überaus schmalen Quellenbasis derart weitreichende Schlüsse zog. 30 Vgl. dazu unten.

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handeln kann. Der Marienkanoniker Arnold wird noch am 18. August 1258, also knapp einen Monat vor seiner Bezeichnung als Kanoniker, als plebanus sancte Marie in Naunburc genannt 31 . Als Pfarrer der Marienkirche ist er bereits seit dem 18. Juni 1247 bezeugt 32 . Auch in jüngeren Urkunden tritt er unter dieser und ähnlichen Bezeichnungen auf 33 . Ähnliches gilt für den Priester und Marienkanoniker Konrad. Dieser wird noch am 1. Juli 1247 als Kaplan des Bischofs bezeichnet 34 . In einer Urkunde Bischof Dietrichs II. vom 25. Februar 1271 wird er sacerdos beate Marie virginis genannt 35 . Aus demselben Dokument geht auch hervor, dass er der Bruder des bischöflichnaumburgischen Burgmanns Bertold von Schönburg gewesen ist, was die niedere ständische Qualität des „Marienstifts" ebenso wie die anderen erkennbaren Zubenennungen seiner Kanoniker erhellt. Nirgends werden in den aufgeführten Urkunden Propst, Dekan, Scholaster oder andere Amtsbezeichnungen des „Marienstifts" genannt, ja nicht einmal das Siegelrecht scheint es gehabt zu haben. Niemals erscheinen mehr als vier Vertreter der Marienkanoniker gemeinsam, so dass wohl generell von keiner größeren Anzahl auszugehen ist. Aus den Urkunden sind die vollständige Abhängigkeit und das eindeutige Unterstellungsverhältnis der Marienkanoniker gegenüber dem Naumburger Domkapitel zu ersehen 36 . Ebenso lässt sich aus den Urkunden erschließen, dass die Marienkanoniker, die nach 1290 nur noch als Vikare erscheinen, liturgische Dienste auch im Westchor des Doms zu verrichten hatten 37 . Dass die Marienkanoniker in der Pfarrkirche und eben nicht im Westchor angesiedelt waren, ist ebenso offensichtlich. Sämtliche von Schubert angeführten urkundlichen Belege des 13. Jahrhunderts, die die Existenz eines eigenstän-

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UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 297. Ebd., Nr. 216. Ebd., Nr. 358 u. 394. Ebd., Nr. 218. Ebd., Nr. 387. Ebd., Nr. 617 (1290 März 27, Naumburg): Der Marienkanoniker Bertold von Dippoldiswalde erwähnt die Besiegelung venerabilium dominorum meorum, videlicet domini Brunonis maioris ecclesie prepositi et domini Cunemundi eiusdem ecclesie decani, necnon sigillo sepedicte ecclesie capituli [...]. Besser lässt sich wohl Unterordnung nicht ausdrükken. 37 Ebd., Nr. 576 (1287 April 9, Schönburg): Die Vikarie Hermanns von Zechau, perpetui vicarii ecclesie sancte Marie site apud ecclesiam nostram Nuenburgensem dient dem altari sancte Marie Magdalene in novo choro. Vgl. hierzu und insgesamt zu den vier Altären im Westchor dieser Zeit (Maria, Maria Magdalena, Jakobus, Thomas) die Ausfuhrungen von SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 31 ff. der fast alle diesbezüglichen Belege bringt (der wichtige Beleg für die Existenz des wohl im Westchor zu lokalisierenden Marienaltars UB Naumburg 2 [wie Anm. 14] Nr. 684 von 1293 März 10 ist zu ergänzen), jedoch unnötig und unverständlicherweise - als Beweis dafür ansieht, dass die Vikarien im Westchor und nicht in der Marienpfarrkiche angesiedelt gewesen wären.

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digen Marienstifts im Westchor des Naumburger Doms erweisen sollten, lassen sich völlig zwanglos auf die Marienpfarrkirche südlich des Domes und die dort installierten Marienkanoniker beziehen, wie die folgende Zusammenstellung der Belege zur Geschichte der Marienkirche südlich des Doms erweist. Der Kirche wurde aufgrund ihrer zur Domachse verschiedenen Ausrichtung von der Forschung ein hohes Alter attestiert38. In der schriftlichen Überlieferung lässt sie sich erstmals im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts fassen. So hat sich der 1172 zuletzt erwähnte Naumburger Domkanoniker Trutwin, der Bruder Bischof Bertholds I. von Naumburg, in ihr bestatten lassen. Sein Jahrgedächtnis wird noch 1518 feierlich begangen39. Auf die Erwähnung des Pfarrers Arnold im Jahr 1247 wurde bereits oben hingewiesen, im gleichen Dokument wird auch dessen verstorbener Amtsvorgänger Sibandus genannt40. Dieser Kleriker ist in Urkunden des Jahres 1213 und 1228 bezeugt41. Als capella beate marie virginis erscheint die Kirche 1229, 1236, 1281, 1288 in den Urkunden42. Weitere Benennungen sind: ecclesia beate Marie in Nuenburg (1258), ecclesia beate Marie virginis civitatis nostre Nuemburgensis (1277), Ecclesia seu capella beate Mariae gloriose virginis (1281), ecclesia sancte Marie site apud ecclesiam nostram Nuenburgensem (1287), ecclesie sancte Marie in Nuenburg prope sanctum Petrum oder secundaria ecclesia seu capella beate Marie gloriose virginis (1303/3. Die Schwankungen der Bezeichnung der Marienkirche südlich des Doms zwischen capella und ecclesia sind offensichtlich, aber nichts rechtfertigt eine Gleichsetzung auch nur einer dieser Nennungen mit dem Westchor, der einfach chorus novus genannt wird (1281, 1287, 1288)44. In einer Urkunde Bischof Withegos von Naumburg vom 20. Oktober 1343, mit der die Gründung eines funktionsfähigen und dauerhaften Unter-

38 SCHLESINGER, Kirchengeschichte 2 (wie Anm. 3) S. 403f.; SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 27. 39 Vgl. UB Naumburg 1 (wie Anm. 14) Nr. 284 und das 1518 auf der Grundlage älterer Nekrologe angelegte Naumburger Totenbuch: Domstiftsarchiv Naumburg, Tit. XXXIV 3 , la, 93r (zum 7.Juli): Hic agitur anniversarius Trutwini piissimi canonici, qui sepultus est in dicta ecclesia beate Marie virginis et ministrat plebanus beate Marie virginis candelam. Insofern könnte der von Heinrich BERGNER, Beschreibende Darstellung der älteren Bauund Kunstdenkmäler der Stadt Naumburg (1903) S. 203 leider ohne Belege angeführten Nachricht über die Gründung der Marienkirche unter dem Episkopat Bischof Udos II. (1161-1186) eine gewisse Wahrscheinlichkeit zugebilligt werden. Das Totengedenken für den Naumburger Kanoniker Trutwin wurde auch im Bamberger Benediktinerkloster St. Michael zum 7. Juli begangen, vgl. Das Nekrolog des Klosters Michelsberg in Bamberg, hg. von Johannes NOSPICKEL (MGH Libri mem. N.S. 6, 2004) S. 453. 40 41 42 43 44

UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 216. Ebd., Nr. 13 (1213), Nr. 78 (1228). Ebd., Nr. 84f„ 148, 488, 592. Vgl. die Belege ebd., Nr. 301, 456, 492, 576, 830. Ebd., Nr. 488, 576, 591.

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stifts des Domkapitels eingeleitet wurde, ist die Rede von den vergeblichen Versuchen seiner Vorgänger, an der Marienpfarrkirche ein Kollegiatstift zu etablieren 45 . Die hier vorgestellten urkundlichen Belege lassen erkennen, dass der erste Gründungsversuch eines Unterstifts des Domkapitels an der Pfarrkirche St. Marien von Bischof Dietrich II. und seinem Domkapitel unternommen worden, aber aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen kaum über die ersten Anfänge hinausgelangt ist. Fast scheint es, als ob die neu erhobenen Marienstiftsherren für die Ausstattung ihrer neuen Institution auf eigene Kosten aufkommen mussten 46 . In mehreren Urkunden dieser Zeit ist von den erheblichen Schulden des Bischofs die Rede, in die er propter defensionem iuris ecclesie nostre geraten war 47 . Der Hintergrund hierfür ist in den politischen Auseinandersetzungen zu suchen, in die der Naumburger Bischof mit seinem Halbbruder, Markgraf Heinrich dem Erlauchten, verstrickt war und die in jener Zeit einen Höhepunkt erreichten 48 . Da die urkundlichen Belege für Marienkanoniker am 22. September des Jahres 1258 einsetzen und noch im vorausgehenden August der Pfarrer der Marienkirche Arnold nicht als Kanoniker bezeichnet wird, hat man wohl die Erhebung der genannten Kleriker zu Marienkanonikern in den Zeitraum vom 19. August bis 21. September des Jahres 1258 zu setzen. Der hier von Bischof Dietrich und seinem Domkapitel fassbare Versuch der Gründung eines Unterstifts lässt aufhorchen. Er zeugt trotz der außerordentlich bedrängten Lage des Bischofs von dem ehrgeizigen Vorhaben, die geistige Ausstrahlung des Naumburger Bischofssitzes durch die Begründung einer neuen Institution in unmittelbarer Nähe des Domes zu erhöhen und die Zahl der Geistlichen für den Gottesdienst in seiner Kathedralkirche aufzustocken. Lässt dieses Vorhaben, oder genauer, das Auftreten von Marienstiftsherren im Jahr 1258 Rückschlüsse auf den zu diesem Zeitpunkt erreichten Stand des Naumburger Dombaus zu? Ohne den weitgehend noch ausstehenden Ergebnissen exakter Bauforschung vorgreifen zu wollen, ist diese Frage unter Heranziehung der hierfür zur Verfugung stehenden schriftlichen Quellen mit aller gebotenen Vorsicht zu bejahen. Vergegenwärtigen wir uns die einschlägigen Zeugnisse 49 . 45 Domstiftsarchiv Naumburg, Urkunden Nr. 399 und 400. 46 UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 299 und 301. Aus beiden Dokumenten geht hervor, dass der Marienkanoniker Konrad für die Erwerbung bestimmter Besitzungen nicht unerhebliche Geldsummen aufzuwenden hatte (insgesamt 13 Mark Silber). 47 Ebd., Nr. 299; vgl. Nr. 297 (1258 August 18): propter multas expensas, quas fecimus pro nostre ecclesie libertate conservanda. Vgl. zu diesen Belegen auch SCHLESINGER, Meissner Dom (wie Anm. 3) S . 35 Anm. 106. 48 Vgl. dazu zusammenfassend WLESSNER, Bistum Naumburg (wie Anm. 6) S. 804, der daraus freilich im Hinblick auf die Entstehung der Stifterfiguren falsche Schlüsse zieht. 49 Vgl. zu den folgenden Baubelegen auch SCHLESINGER, Meissner Dom (wie Anm. 3) S. 40

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Im Jahr 1213 hören wir zum ersten Mal vom Plan des Domkapitels, die Erneuerung der Baulichkeiten seiner Kirche in Angriff zu nehmen. In dem in diesem Jahr getroffenen Vergleich mit dem Zisterzienserkloster Pforte wird letzteres u. a. verpflichtet, dem Domkapitel pecuniam X marcarum ad ecclesie nostre edificia instauranda zu überweisen50. Dass der Dom im genannten Jahr noch benutzbar war, zeigt die Einladung des Bamberger Bischofs und seines Domkapitels zu Verhandlungen in die maiori ecclesia51. Die vom Domkapitel veranlassten Bauarbeiten dürften wohl auf der Nordseite des Domes begonnen worden sein. 1217 wird in großer Gesellschaft in der curia maioris prepositi getagt und geurkundet52, unter der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die heute noch bestehende Ägidienkurie mit ihrer romanischen Kapelle gemeint gewesen sein dürfte, die zu diesem Zeitpunkt vollendet gewesen sein muss. Am 27. August 1223 finden in der offenbar noch benutzbaren Naumburger Domkirche Verhandlungen mit dem Benediktinerkloster Bosau über den Status der Pfarrkirche in Profen statt. Das Kloster wird beauflagt, ad opus fabrice ecclesie nostre que subsidio indigebat XXXV marcas argenti zu zahlen. Der Domherr Albert von Griesheim und der Vikar Walung, in denen wir die Bauverantwortlichen seitens der Naumburger Kirche sehen dürften, sollen Sorge dafür tragen, dass von diesem Geld der Kapitelsaal und das Dormitorium vollendet werden53. Auch diese Räumlichkeiten sind wohl auf der Nordseite des Domes zu vermuten. Vom 6. Juli 122954 bis zum 7. August 123655 werden Urkunden in der capella beate virginis in Nuenburg, also in der Marienpfarrkirche südlich des Doms, ausgestellt. Der Dom scheint in dieser Zeit nicht benutzbar gewesen zu sein, auch wenn wir am 19. Juni und 30. August 1234 von einer feierlichen Synode und einer zahlreich besuchten Versammlung in Naumburg hören56. Bis zum Tode Bischof Engelhards am 4. April 1242 fehlen weitere Zeugnisse, die Rückschlüsse auf den Fortgang der Bautätigkeit vermitteln würden. Am 29. Juni 1242 soll aber nach einem ausfuhrlichen Bericht des

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Anm. 134; SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 20ff.; Helge WITTMANN, Gerlach von Heldrungen. Kanoniker und Propst des Domstifts St. Peter und Paul zu Naumburg (11961233/34), Sachsen und Anhalt 22 (1999/2000) S. 147-187. UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 13. Zu den Hintergründen dieses Vergleichs ausführlich Holger KUNDE, Das Zisterzienserkloster Pforte. Die Urkundenfälschungen und die frühe Geschichte bis 1236 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 3, 2000) S. 223ff. U B Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 11. Ebd., Nr. 24. Ebd., Nr. 49. Vgl. dazu WITTMANN, Gerlach von Heldrungen (wie Anm. 49) mit weiterer Literatur. UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 85. Ebd., Nr. 148. Ebd., Nr. 132.

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18. Jahrhunderts der Naumburger Dom feierlich im Beisein von zwei Herzögen von Sachsen, des Magdeburger Erzbischofs, der Bischöfe von Merseburg, Brandenburg, Havelberg und Meißen sowie des Abtes von St. Georg in Naumburg und des Propstes von St. Moritz in Naumburg und der gesamten Klerikerschaft geweiht worden sein57. Der Wahrheitsgehalt dieser verderbt überlieferten Nachricht ist nur schwer abzuschätzen, jedoch sprechen die beiden zutreffend mit ihren Namen bezeichneten Zeugen (Erzbischof Wilbrand von Magdeburg und Abt Heinrich von St. Georg) sowie manche Einzelheit im ausfuhrlich geschilderten Weiheablauf eher für ihre Glaubwürdigkeit58. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind zu diesem Zeitpunkt Ostchor, Langhaus und Erdgeschosszonen der Westtürme vollendet und diese Bauteile wieder benutzbar gewesen. Ob die beiden ersten Urkunden des Erwählten Dietrich vom 8. Juni 124359 und 27. August 124360 in der Domkirche ausgestellt worden sind, ist nicht zu erweisen. Mit Sicherheit ist der Dom 1244 benutzbar. Dies geht aus dem vom Mainzer Erzbischof Siegfried am 30. September in Erfurt erteilten Visitationsabschied und den darin erteilten Bestimmungen zum Vollzug liturgischer Handlungen eindeutig hervor. Allerdings ist hier auch die Rede davon, dass die Klausur ad presens non extat und die Kanoniker beim Einzug in loco alio ad hoc magis apto in festivis diebus conveniant, quousque claustrum reparari contingat61. Der Kreuzgang (der Nordklausur?) ist also zu diesem Zeitpunkt nicht benutzbar. Am 18. September 124662 und am 12. Juni 125163, und nicht erst 1268, wie Schlesinger angibt64, wird in der Domkirche geurkundet. Aus einer am 26. Mai 124865 ausgestellten Ablassurkunde des Bischofs Nikolaus von Prag sowie aus dem berühmten Aufruf Bischof Dietrichs II. und des Naumburger Domkapitels von 124966 geht hervor, dass zur Vollendung des Werks noch Gelder benötigt werden. Hingegen enthalten die Ablassurkunden Papst Innocenz' IV. vom 20. Februar 125467 und von Papst Alexander IV. vom 6. März 125768 keine Hinweise auf noch fehlende Bau-

57 Johann Carl SCHOCH, Kurtze Nachricht von den Merkwürdigkeiten der Domkirche (1773), S. 9f. (ungedruckte Handschrift des 18. Jahrhunderts im Stadtarchiv Naumburg, SA 27). Woher Domküster Schoch seine Nachricht bezog, ist bislang unbekannt. 58 Die Analyse des Textes durch einen Liturgiespezialisten wäre mehr als wünschenswert. 59 UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 188. 60 Ebd., Nr. 191. 61 Ebd., Nr. 197. 62 Ebd., Nr. 210: Datum in maiori ecctesia Nuenburc. 63 Ebd., Nr. 247: Acta sunt hec Nuemburc in ecclesia kathedrali. 64

SCHLESINGER, Kirchengeschichte 2 ( w i e A n m . 3) S. 128.

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UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 223. Ebd., Nr. 236. Ebd., Nr. 266. Ebd., Nr. 290.

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gelder. Vielmehr wird hier ausschließlich zum Besuch der Naumburger Domkirche aufgerufen und 40 bzw. 100 Tage Ablass der auferlegten Buße gewährt. In der Urkunde Alexanders IV. wird im Unterschied zur Papsturkunde von 1254 von der Domkirche als ecclesia [...] in beatorum apostolorum Petri et Pauli honorem constructa gesprochen, während 1254 noch von der ecclesia in honorem beatorum apostolorum Petri et Pauli fundata die Rede war. Auch die 1257 erfolgte päpstliche Bestätigung der weiteren, leider nicht erhaltenen Ablassurkunden von Erzbischöfen, päpstlichen Legaten und Bischöfen für den Dom - die 1254 noch keine Erwähnung fanden - , deuten auf einen Abschluss der Bauarbeiten hin. Es kann also mit der gebotenen Vorsicht der Schluss gezogen werden, dass im März 1257 der Naumburger Dom - abgesehen von den Obergeschossen der Westtürme - in all seinen Teilen, d. h. einschließlich des Westchors und der Klausur, vollendet gewesen ist. Dies würde auch mit den historischen Gegebenheiten korrespondieren. Für aufwendige Baumaßnahmen ab 1257 fehlten dem Bischof und dem Domkapitel aufgrund der existenziellen Auseinandersetzungen mit Markgraf Heinrich dem Erlauchten einfach die Mittel. Jüngere Quellen, die auf Baumaßnahmen an der Domkirche verweisen, wie die Schenkung eines Steinbruchs in Balgstädt zugunsten des Domes im Jahr 1278 bzw. Nachrichten aus den 1320er Jahren sind dann auf die Aufstockung des Nordwestturmes bzw. auf die Ostchorerweiterung des 14. Jahrhunderts zu beziehen69. Auf den Beginn der Bauarbeiten an der Klausur südlich des Doms ist eine am 18. Juni 1247 in Schönburg ausgestellte Urkunde Bischof Dietrichs II. zu beziehen, in welcher der Abbruch der Pfarrwohnung des Marienpfarrers südlich des Chors der Domkirche erwähnt wird70. Aus dem Umstand, dass die 1247 getroffenen Entscheidungen hinsichtlich des für den Marienpfarrer zu schaffenden Ausgleichs am 15. Oktober 1253 von Bischof Dietrich II. in einer im Wortlaut identischen Urkunde wiederholt werden mussten71, kann möglicherweise auf Stockungen im Baufortschritt der Südklausur geschlossen werden. Das erstmalige Auftreten von Marienkanonikern an der Marienpfarrkirche im Jahr 125872 ist aber aus Sicht des Verfassers ein gewichtiges Indiz dafür, dass zu diesem Zeitpunkt die Südklausur fertiggestellt und für die neuen Marienkanoniker benutzbar gewesen ist. Wenn diese Deutung zutrifft, so stellt sich auch die Frage nach der Funktion des vom Prager Bischof

69 Ebd., Nr. 465 (1278 Dezember 1); SCHLESINGER, Meissner Dom (wie Anm. 3) S. 40f. mit Anm. 134. 70 UB Naumburg 2, Nr. 216: .[...] curiam ad parrochiam sancte Marie virginis in Nuenburg iuxta corum sitam fecisset destrui et deleri [...]. Vgl. dazu SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S . 24. 71 UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 264. 72 Ebd., Nr. 299.

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ausgestellten Ablassbriefes aus dem Jahr 1248 und des Aufrufs von Bischof und Domkapitel von Naumburg von 1249. In der Urkunde des Bischofs von Prag heißt es zur Motivierung nur allgemein, dass es sich geziemt, den Kirchenfabriken mit dem Gnadenerweis von Ablassurkunden beizustehen, die aus eigener Kraft nicht zum Abschluss gelangen können. Genaueres ist diesem Dokument nicht zu entnehmen73. Betrachten wir nun den berühmten Spendenaufruf von 124974. Die gemeinsam von Bischof und Domkapitel ausgestellte Urkunde wendet sich an alle Geistlichen und Gläubigen jeglichen Standes unabhängig ihres Geschlechts. Weiter erfährt man, dass Bischof und Kapitel zum Wohl der Verstorbenen als auch der Lebenden folgendes beschlossen haben: die Erststifter der (Dom-) Kirche (primi ecclesie nostre fundatores), Markgraf Hermann, Markgräfin Reglindis, Markgraf Ekkehard [II.], Markgräfin Uta, Graf Syzzo, Graf Konrad, Graf Wilhelm, Gräfin Gepa, Gräfin Berchta, Graf Dietrich (Theodericus) und Gräfin Gerburch haben sich durch ihre Stiftung größte Verdienste und Erlass ihrer Sünden bei Gott erworben. Ebenso sicher ist dies den Nachfolgenden, die durch Spendengaben für den Bau des Stifts (per largitionem elemosinarum suarum in edificatione monasterii) beigetragen haben und beitragen. Da Bischof und Domkapitel sich die Vollendung des Gesamtwerks (consummationem totius operis) zum Ziel setzen, versprechen sie allen Verstorbenen und Lebenden, die Spendengelder gegeben haben bzw. geben, die Aufnahme in ihre Brüderschaft und die Teilhabe an ihrem Gebet von diesem Tag an. Das vieldiskutierte Dokument ist in der Interpretation seines Inhalts umstritten. Der eigentliche Zweck der Urkunde, nämlich Spendengelder für den Abschluss des Bauvorhabens durch Gewährung besonderer geistlicher Vergünstigungen einzuwerben, wird jedoch allgemein anerkannt. Wie man sich dies jedoch konkret vorstellen soll, bleibt weitgehend offen. Es existiert nur das Exemplar der Urkunde im Domstiftsarchiv Naumburg, weitere Ausfertigungen - die man ja bei einer möglichen Versendung des Dokuments zur Einwerbung von Geldern vermuten könnte - , sind nicht bekannt. Auch auf eine öffentliche Aushängung der Urkunde weisen keine Spuren hin. Das wenig feierliche Erscheinungsbild der Urkunde - kleines Format, geschäftsmäßige diplomatische Minuskel mit kursiven Tendenzen - lässt in Verbindung mit der merkwürdigen Adressierung der Urkunde eigentlich nur an die öffentliche Verlesung des Textes im Rahmen einer Synode (?) bzw. während einer anderen Gelegenheit denken. Sollten mit dieser Urkunde Spendengelder für den Beginn der Arbeiten am Westchor bzw. für dessen Vollendung 73 Ebd., Nr. 223: Quoniam expedit et condignum esse videtr, ut fabricis ecclesiarum, que de propriis facuhatibus consummari nequeunt, larga indulgenciarum subveniatur gracia [...]. 74 Ebd., Nr. 236. Vgl. zu diesem Dokument SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 60-75, und: Naumburger Domschatz (wie Anm. 25) S. 62-65 mit Verweis auf die ältere Literatur.

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eingeworben werden, wie dies ein Großteil der Forschung annimmt? Ist die Formulierung per largitionem elemosinarum suarum in edißcatione monasterii für eine solche Interpretation wirklich zwingend? Die angestrebte consummatio totius operis schließt doch wohl auch die Vollendung der Südklausur ein. Und dass unter monasterium auch der Kreuzgang mit den Klausurgebäuden verstanden werden kann, lehrt der Blick nach Mainz. Der Mainzer Dom wurde am 4. Juli 1239 durch Erzbischof Siegfried III. in Anwesenheit König Konrads IV. und unter Assistenz der Mainzer Suffraganbischöfe zu Ehren Jesu Christi, der Jungfrau Maria, des hl. Martin und weiterer Heiliger geweiht75. Am 27. Juni 1243 wurden dann der Kreuzgang und die Stiftsgebäude des Mainzer Doms (monasterium in maiori ecclesia Moguntinae) von Bischof Friedrich von Eichstätt geweiht. Unter dem hier freilich genauer spezifizierten monasterium in Mainz versteht die Forschung einhellig Kreuzgang und Stiftsgebäude76. Natürlich wird auch in Naumburg die Domkirche mit ecclesia maior oder ecclesia cathedralis bezeichnet. Aufschlussreich ist auch, dass in Mainz zuerst die Kathedrale fertig gestellt wurde und dann die Arbeiten am Kreuzgang abgeschlossen worden sind. Sollte dies in Naumburg wirklich anders gewesen sein, wie Ernst Schubert aus stilistischen, aber auch inhaltlichen Argumenten folgerte?77 Wohl ist ihm zuzustimmen, dass der Nordflügel der Südklausur aufgrund des organischen Zusammenhangs mit dem Langhaus und den weitgehend identischen Schmuckformen vor dem Westchor errichtet worden ist. Diese Einschätzung trifft jedoch nicht auf den West- und Südflügel der Klausur zu, deren Formensprache deutlich jünger, freilich aber auch verschieden von derjenigen des Westchors ist. Dieser stilistische Unterschied der Bauformen ließe sich zwanglos mit dem Wegzug des Naumburger Meisters und seiner Werkstatt nach Meißen und der Hinzuziehung anderer Baukräfte zum Abschluss des Kreuzgangs in Naumburg erklären, zumal die jüngste Forschung zur Baugeschichte Meißens von einem Beginn der Naumburger Werkstatt in Meißen um 1250 ausgeht78. Und in der Tat ist das Auftauchen von gezielten Ablässen für die Hauptheiligen der Meißner Domkirche und die urkundlich feststellbare Rückbesinnung auf den verehrten Gründer, Kaiser Otto I., ein so deutlicher Hinweis auf die genau diesen Sujets gewidmeten Meißner Skulp75 Johann Friedrich BÖHMER/Cornelius WILL, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Uriel von Gemmingen 742-1514, 2: Von Konrad I. bis Heinrich II. 1161-1288 (1886) Nr. 334. 76 BÖHMER/WILL, Regesten (wie Anm. 75) Nr. 446. Ein weiterer, freilich älterer Beleg zur Gleichsetzung von monasterium und clausura bei Günther BLNDING und Susanne LLNSCHEID-BURDICH, Planen und Bauen im frühen und hohen Mittelalter nach den Schriftquellen bis 1250 (2002) S. 469; vgl. auch die Bedeutungsebenen von monasterium bei Jan Frederik NIERMEYER, Mediae latinitatis lexicon minus (2002) S. 702. 77 SCHUBERT, Dies diem (wie Anm. 2) S. 23f. 78 DONATH, Baugeschichte (wie Anm. 10) S. 324.

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turen des 13. Jahrhunderts, die im Ostchor und in der Achteckkapelle ihre Aufstellung gefunden haben, dass es eigentlich kaum mehr eines anderen Beweises für die von Schlesinger zuerst erkannte Chronologie der Entwicklung bedarf 7 9 , zumal die Anfertigung der Figuren sich genau in den von Schlesinger herausgearbeiteten Zusammenhang der Auseinandersetzungen Bischof Konrads mit Markgraf Heinrich den Erlauchten einfügen. Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, ob denn nicht gerade auch der Hinweis auf die in der Urkunde von 1249 namentlich aufgeführten ersten also hervorragenden - Stifter der Naumburger Kirche ein schlagender Beweis für die Existenz der Stifterfiguren im Westchor des Naumburger Doms zu diesem Zeitpunkt ist. Wie hätte man sonst ein breites Publikum zu besonderen Spendengaben aufrufen können, denen die in der Urkunde genannten Persönlichkeiten weitgehend unbekannt gewesen sein dürften? Nur eine bereits bestehende bildliche Darstellung vermag doch den aufgerufenen Gläubigen die im Urkundentext versicherten Verdienste der Stifter bei Gott und den ihnen dafür gewährten Erlass ihrer Sündenstrafen zu vermitteln. Natürlich wird man zu Recht einwenden, dass Anzahl und Namen der in der Urkunde genannten Persönlichkeiten mit den im Westchor dargestellten Figuren nicht vollständig übereinstimmen. In der Urkunde werden elf Personen genannt, im Westchor sind zwölf dargestellt. Zwei im Westchor dargestellte und durch ihre Schildumschriften als Graf Dietmar und als Thimo von Kistritz bezeichnete Figuren werden in der Urkunde nicht erwähnt, zugleich ist in der Urkunde eine weibliche Person genannt, die nicht im Westchor dargestellt worden ist. Die Forschung, und hier ist insbesondere Joachim Wollasch zu nennen 80 , hat jedoch zweifelsfrei herausgearbeitet, dass in Naumburg eine Gruppe, die mehr Personen umfasst als im architektonisch vorgegebenen Raum des Westchores darstellbar waren, die ehrende Zubenennung als fundator bzw. fundatrix und das damit verbundene hervorgehobene Totengedenken erfahren hat. Ihren Niederschlag hat die ausgewählte Gruppe sowohl in den dargestellten Stifterfiguren, dem Spendenaufruf als auch in den Totenbüchern der Kathedrale, deren älteste nur in Auszügen bekannt sind, gefunden 8 1 . Es ist

79 SCHLESINGER, Meissner Dom (wie Anm. 3) S. 12-32. Die aus heutiger Sicht falsche Bezugnahme der Meißner Skulpturen auf eine einst geplante Marienpforte kann ihm nicht angelastet werden, da er hier auf die damaligen Ergebnisse der kunsthistorischen Forschung Bezug nehmen musste. 80 SAUERLÄNDER/WOLLASCH, Stiftergedenken (wie Anm. 7) S. 335ff. 81 Vgl. dazu die im Servitienverzeichnis der Naumburger Dompropstei von 1367 (Domstiftsarchiv Naumburg, Tit. XLIII, 24; Druck und Übersetzung in: Naumburger Domschatz [wie Anm. 25] S. 68-71) enthaltenen Ministrationen, in denen hier jedoch nur Graf Dietrich als fundator bezeichnet wird. In einer verlorengegangenen Handschrift, von der Zader einen Auszug liefert (Stadtarchiv Naumburg, SA 27, 4. Bd., Bl. 17; Druck: LEPSIUS, Alterthum und Stifter [wie Anm. 1] S. 33), wird außer dem nicht genannten Sizzo der Personenkreis,

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daher von einer durch Bischof und Domkapitel bewusst vorgenommenen Hervorhebung einer bestimmten Personengruppe für die Darstellung im Westchor auszugehen, die als traditionsbildend und konstitutiv für die Identität des Naumburger Kapitels fungieren und gelten sollte. Welche Gründe auch immer Bischof und Domkapitel bewogen haben, Thimo und Dietmar nicht im Aufruf von 1249 erscheinen zu lassen, und an ihrer Stelle eine weitere, auch anderweitig als fundatrix bezeichnete Gräfin zu nennen, wird wohl niemals mit letzter Sicherheit zu klären sein. Aber die Unterschiede zwischen dem in der Urkunde genannten Personenkreis und den im Westchor dargestellten Persönlichkeiten schließen doch nicht das Vorhandensein der zwölf Stifterfiguren im Jahr 1249 aus. Es ist noch nach den Auswahlkriterien für den Personenkreis zu fragen, der als Stifter in der Naumburger Überlieferung herausgehoben wird. Maßgeblich für die Auswahl scheinen vor allem erhaltene Schenkungsurkunden sowie in Nekrologen enthaltene Schenkungsnotizen gewesen zu sein 82 . Dies gilt aber beispielsweise nicht für die kaiserlichen Donatoren Konrad II., Heinrich III. und Heinrich IV., deren Schenkungsurkunden die große Mehrzahl der Naumburg zugedachten Privilegien im 11. Jahrhundert ausmachen 83 . Sie sind offensichtlich bewusst nicht für die Zusammenstellung des Stifterkreises berücksichtigt worden, auch wenn zumindest die Memoria für Heinrich III. und seine Gemahlin ebenso wie die für Kaiser Otto den Großen (seit

wie ihn die Urkunde von 1249 nennt, aber auch eine comitissa Adelhaid, mit dem Beiwort fundator bzw. fundatrix gewürdigt. Nur die Markgräfin Reglindis wird in dem von Perlbach aufgefundenen Fragment eines Kalendariums für die Monate März und April (Druck: Max PERLBACH, Fragment eines Naumburger Anniversariums, Neue Mitteilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 17 [1889] S. 249-255) als fundatrix bezeichnet. Das so genannte Naumburger Mortuologium von 1518 (Domstiftsarchiv Naumburg, Tit. XXXIV 3 , la) bezeichnet neben den Personen, die auch in der Urkunde von 1249 vorkommen, aber hier nicht sämtlich enthalten sind, auch drei Gräfinnen mit Namen Adelhaid (f. 19v, f. 129v und f. 159v) mit dem Beiwort fundatrix. 82 Die Schenkungstätigkeit der Markgrafenbrüder Hermann und Ekkehard geht aus zahlreichen Urkunden im Domstiftsarchiv hervor, ihre Ehefrauen wird man der Form halber hinzugenommen haben. Auf Schenkungen der Grafen Dietrich und Wilhelm und der Gräfin Bertha verweist UB Naumburg 1 (wie Anm. 14) Nr. 97. Die Ehefrauen der Grafen wird man deshalb ebenfalls berücksichtigt haben. Auf den im Westchor dargestellten Graf Dietmar könnte sich eine in Naumburg am 10. Oktober 1039 ausgestellte Urkunde Heinrichs III. beziehen lassen (UB Naumburg 1 [wie Anm. 14] Nr. 39). In dieser Urkunde schenkt König Heinrich III. cuidam [...] fideli Diemaro ein Dorf im Wethagau. Nach Dietmars Tod ist - wie das Vorhandensein der Urkunde im Domstiftsarchiv eindeutig erweist - die Besitzung an das Domkapitel gelangt. Der Schenkungen Thimos wird im Auszug Zaders gedacht (LEPSIUS, Althertum und Stifter [wie Anm. 1] S. 59). Für Graf Konrad und für Sizzo sind keine Schenkungsnotizen im Naumburger Bestand erhalten. 83 UB Naumburg 1 (wie Anm. 14) Nr. 25f., 28 f., 39, 42, 45, 46, 48-50, 53, 59-61, 64, 71f., 74, 83, 95f. Vgl. hierzu die Zusammenstellung zu den Naumburger Bischöfen von Kadeloh bis Walram bei WLESSNER, Bistum Naumburg (wie Anm. 6) S. 740-757.

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1230) begangen wurde 84 . Die bewusste Nichtwürdigung Konrads II., Heinrichs III. und Heinrichs IV. bestätigt doch eindeutig die eingangs dargestellten Überlegungen Walter Schlesingers hinsichtlich der Konkurrenz der Naumburger Kirche zum Kollegiatstift Zeitz, in dem vor allem Kaiser Otto I. als Gründer verehrt wurde. Freilich bleibt einschränkend zu berücksichtigen, dass zumindest Kaiser Konrad II. ein Andenken als fundator sedis Neumburgensis auf der Grababdeckung des figürlichen Bischofsgrabes im Naumburger Ostchor erhalten hatte 85 . Jedoch wird die Diskussion um die Programmatik dieser Darstellung und die Identität des im Grab beigesetzten Bischofs erst nach Publikation der von Ernst Schubert angekündigten, aber noch ausstehenden Graböffnungsdokumentation auf einem soliden Niveau möglich sein. Immerhin ist bereits zum jetzigen Zeitpunkt festzustellen, dass die dem Grab im Ostchor entnommene Bischofskrümme wohl aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert stammt 86 . Dass das Begräbnis im Naumburger Dom ein zwingendes Kriterium für die Auswahl der besonders hervorgehobenen Stifterpersönlichkeiten gewesen ist, kann nicht behauptet werden. Denn die Grabstätten von Markgraf Hermann und Reglindis gehen aus der erhaltenen Nekrologüberlieferung nicht hervor und sind auch sonst nicht bekannt, bei Markgraf Hermann fehlt sogar die Verzeichnung des Todestages 87 . Ähnliches gilt für Graf Sizzo, dessen Schenkung für den Naumburger Dom und seine Bestattung dort nicht in der Naumburger Überlieferung auftauchen, und nur in der bruchstückhaft erhaltenen Schwarzburg-Käfernburgischen Hausüberlieferung überliefert sind 88 . Bei Markgraf Ekkehard II. und bei Graf Konrad ist der Bestattungsort in den Auszügen des 1685 gestorbenen Naumburger Dompredigers Johannes Zader mit in monasterio angegeben, was eine Bezugnahme auf das von Markgraf Eckkehard II. nach Naumburg verlegte ekkehardinische Hauskloster St. Georg nahe legt. Freilich ist wiederum der Begräbnisort der Markgrä-

84 Vgl. dazu SAUERLÄNDER / WOLLASCH, Stiftergedenken (wie Anm. 7) S. 365. 85 SCHUBERT / GÖRLITZ, Inschriften (wie Anm. 16) S. 16f. Nr. 9. 86 Hans LOSERT, K r ü m m e aus dem Grab von Bischof Dietrich II., in: Naumburger Domschatz (wie Anm. 25) S. 88f. 87 Bei den in den verschiedenen Nekrologen genannten Hermannus comes et canonicus handelt es sich um einen Naumburger Domkanoniker des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts aus dem Mansfelder Grafenhaus. Sein Anniversar ist sowohl im Fragment des 14. Jahrhunderts (vgl. PERLBACH, Fragment [wie Anm. 81]) unter dem 16. April, als auch im so genannten Mortuologium von 1518 unter dem 3. April aufgeführt (Domstiftsarchiv Naumburg, Tit. XXXIV 3 , la, 45 v ). 88 Chronica Reinhardsbrunnensis, ed. Oswald HOLDER-EGGER ( M G H SS 30, 1896), S. 490656, hier S. 559. Vgl. hierzu Helge WITTMANN, Zur Frühgeschichte der Grafen von Käfernburg-Schwarzburg, Zs. des Vereins für thüringische Geschichte 51 (1997) S. 9-59, hier S. 53f.

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fin Uta mit dem Kreuzaltar des Naumburger Domes gekennzeichnet89. Sollten sie an verschiedenen Orten bestattet worden sein? Die verwandtschaftlichen Beziehungen der ausgewählten Stiftergruppe zu den in der Mitte des 13. Jahrhunderts handelnden Persönlichkeiten im Domkapitel bzw. auf dem Bischofsthron wird darüber hinaus natürlich nicht ohne Bedeutung für deren Auswahl gewesen sein. Zusammenfassend ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass der wichtigste Grund für die Darstellung von zwölf Stifterpersönlichkeiten im Westchor des Domes und die besondere Hervorhebung von weiteren Stifterpersönlichkeiten in den Nekrologen wohl tatsächlich ihre Bedeutung als Donatoren der Naumburger Bischofskirche gewesen ist, unabhängig davon, ob die Persönlichkeiten im Dom bestattet worden sind oder nicht. Die Figuren stellen mit Sicherheit keine Ersatzgrabstätten für im Zusammenhang des Domneubaus zerstörte Grablegen dar. Dass trotz umfangreicher Schenkungen keinem Kaiser der Status des Stifters zugebilligt worden ist90, verdient höchste Beachtung und lässt sich nur aus der besonderen Rivalität Naumburgs gegenüber Zeitz erklären, dessen Stiftergedenken ganz dem ersten ottonischen Kaiser gewidmet war. Zwangsläufig stellt sich im Rahmen dieser Überlegungen erneut die Frage nach dem Auftraggeber des Skulpturenensembles im Naumburger Westchor. Für den aus Schwaben stammenden Bischof Engelhard spricht sein Mainzer Aufenthalt 123591 und die möglicherweise dort erfolgte Bekanntschaft mit dem Naumburger Meister. Zudem fällt die Schlichtung des zwischen den Kapiteln von Zeitz und Naumburg schwelenden Konflikts sowie die Inangriffnahme des Naumburger Domneubaus in seine Amtszeit. Dennoch ist er nicht der Initiator für das Programm des Westchors. Zum einen, weil bis zu seinem Tode zwar Ostchor, Langhaus und die Erdgeschosszonen der Westtürme vollendet, der Westchor aber noch nicht begonnen worden sein kann. Zum anderen ist er in den sich bis 1237 hinziehenden Bestätigungen des Naumburg-Zeitzer Interessenausgleichs von 1230 nie selber als aktiver Protagonist der einen oder anderen Seite hervorgetreten. An einer demonstrativen Hervorhebung der Naumburger Position gegenüber Zeitz kann ihm eigentlich nicht gelegen gewesen sein, wie seine überaus häufigen Aufenthalte in Zeitz belegen. Was sollte der im Reichsdienst eifrige Bischof auch für ein Interesse gehabt haben, die Einflusssphäre der Markgrafen von Meißen durch die Präsentation einzelner Vertreter im Westchor des Naumburger Doms zu betonen?

89 Vgl. LEPSIUS, Alterthum und Stifter (wie Anm. 1) S. 16. 90 Zur Problematik bezüglich der Verehrung Kaiser Konrads II. im Ostchor vgl. oben. 91 Vgl. SCHLESINGER, Meissner Dom (wie Anm. 3) S. 43f. mit Nachweisen.

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Ganz anders verhält es sich mit seinem Nachfolger, Bischof Dietrich II. von Wettin 92 . Der uneheliche Sohn Markgraf Dietrichs des Bedrängten war von Kindheit an Mitglied des Naumburger Kapitels und erlebte die existenziellen Auseinandersetzungen mit dem Kollegiatstift Zeitz als Naumburger Domherr. Zwar offenbaren sich bei seiner Bischofserhebung durchaus Differenzen mit dem Teil des Kapitels, welches den Scholaster Peter von Hagen dem wettinischen Kandidaten vorzog und sich nur aufgrund des mächtigen markgräflichen Einflusses beugte. Doch konnte er sehr schnell die Lage beruhigen. Vor allem aber knüpft Dietrich II. enge Beziehungen zu Erzbischof Siegfried III. von Mainz, denen letztlich auch die Vermittlung des genialen Bildhauerarchitekten nach Naumburg zu verdanken ist 93 . Für einen Bischof aus dem Hause Wettin dürfte auch die Darstellung von Markgrafen und bestimmter Verwandter im Westchor seiner Kirche weitaus unproblematischer gewesen sein als für seinen im Reichsdienst ergrauten Vorgänger. Freilich war Bischof Dietrich II. keineswegs nur eine Marionette im Dienste seines Halbbruders, Markgraf Heinrichs des Erlauchten, der in der Mitte des 13. Jahrhunderts zum mächtigsten Territorialfürsten in Mitteldeutschland avancierte. Denn der engsten Anlehnung Dietrichs an Heinrich den Erlauchten während seiner Propst- und frühen Bischofsjahre 94 folgten schon bald erste Differenzen, die sich vor allem an der Besetzung von Domherrenstellen entzündeten 95 . Territorialpolitische Auseinandersetzungen kamen hinzu. Für die Rechte seiner Kirche war Bischof Dietrich II. jedenfalls bereit, gegen seinen mächtigen Schutzherrn zu kämpfen, ein Konflikt, der mit der Niederlage des Bischofs im Seußlitzer Vertrag von 125996 und dem einzigen urkundlich belegten Aufenthalt Markgraf Heinrichs des Erlauchten in Naumburg und auf der bischöflichen Schönburg endete 97 . Heinz Wiessner und Irene Crusius

92 Vgl. zum folgenden die Belege bei WIESSNER, Bistum Naumburg (wie Anm. 6) S. 802807. 93 Vgl. unten (Anm. 101) die Nachricht der Erfurter Peterschronik, in der das bewusste Herantreten des Elekten Dietrich an den Erzbischof von Mainz (nicht Magdeburg!) und dessen durch Geschenke erreichte Zuwendung geschildert wird. Aufgrund des Interdikts gegen den Erzbischof von Magdeburg konnte Erzbischof Siegfried III. von Mainz erheblichen Einfluss auf Naumburg und seinen Oberhirten ausüben. Bischof Dietrich ist später häufig als Stellvertreter des Mainzers Erzbischofs in Erfurt nachweisbar, wo er verschiedene Weihehandlungen durchführt, vgl. WIESSNER, Bistum Naumburg (wie Anm. 6) S. 802ff. 94 Vgl. die zahlreichen Aufenthalte Dietrichs bei Heinrich dem Erlauchten zwischen 1238 und 1243, siehe: Regesten deutscher Minnesänger des 12. und 13. Jahrhunderts, hg. von Uwe MEVES unter Mitarbeit von Cord MEYER u. Janina DROSTEL (2005) Nr. 52f., 55f., 59, 61, 66, 68, 75-78, 83, 87f. u. 96. 95 UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 213 und 217. 96 Zum Seußlitzer Vertrag vgl. SCHLESINGER, Kirchengeschichte 2 (wie Anm. 3) S. 136; WIESSNER, Bistum Naumburg (wie Anm. 6) S. 804. 97 Regesten deutscher Minnesänger (wie Anm. 94) Nr. 260, 262, 264-267.

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wollen deshalb in Markgraf Heinrich dem Erlauchten den eigentlichen Initiator der Aufstellung der Stifterfiguren im Westchor des Naumburger Doms erkennen 98 . Dies ist jedoch schon aus zeitlichen Gründen unmöglich. Als Heinrich der Erlauchte 1259 nach Naumburg kam, waren die Figuren und der Chor längst vollendet und die Werkstatt des Naumburger Meisters in Meißen tätig. Auch ist keine eigentliche Stiftung des Markgrafen für den Dom überliefert, in den Nekrologen taucht sein Name nicht auf. An versteckter Stelle findet sich jedoch ein Hinweis auf eine große Summe Geldes, die der Markgraf der Naumburger Kirche zukommen ließ. Sie ist in dem bereits erwähnten Visitationsabschied Erzbischof Siegfrieds III. von Mainz für den Erwählten Dietrich II. und sein Kapitel aus dem Jahr 1244 enthalten. Hier ist die Rede von einer Wiedergutmachungszahlung des Markgrafen in Höhe von 100 Mark für die Schäden, die er einem gewissen Kanoniker angetan hat. Erzbischof Siegfried III. von Mainz bestimmte ihre Verwendung zum Kauf eines Gutes für den Naumburger Dompropst, der mittels dieser Einkünfte für die bessere Auszahlung der Präbendengelder an die Domherren sorgen sollte". Die Frage nach der Identität des geschädigten Domherren führt zwangsläufig zu einer Persönlichkeit, die nach Ansicht Walter Schlesingers für die Baugeschichte des Naumburger Doms ohne Bedeutung ist: Magister Petrus von Hagen 100 . Schlesingers Einschätzung ist indes nicht zu teilen, im Gegenteil. Zunächst lässt die eindeutige Parteinahme Heinrichs des Erlauchten für seinen Halbbruder Dietrich im Konflikt mit dem Scholaster Petrus von Hagen um die Bischofswahl 101 und die zeitliche Nähe der Wiedergutmachungszahlung nach der Durchsetzung Dietrichs mit hoher Wahrscheinlichkeit in Magister Petrus den vom Markgrafen geschädigten Kanoniker erkennen. Der

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Heinz WlESSNER / Irene CRUSIUS, Adeliges Burgstift und Reichskirche. Zu den historischen Voraussetzungen des Naumburger Westchores und seiner Stifterfiguren, in: Studien zum weltlichen Kollegiatstift in Deutschland, hg. von Irene CRUSIUS (1995) S. 232258, hier S.250ff.; vgl. auch WlESSNER, Bistum Naumburg (wie Anm. 6) S. 808. 99 UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 197: Precipimus eciam, quod de centum marcis, quas nobilis vir marchio Misnensis dedit ecclesie in restaurum dampni, quod olim cuidam canonico irrogaret, predium comparetur, cuius proventus prepositus ecclesie percipiat, ut fratribus de prebendis suis melius valeat respondere. 100 SCHLESINGER, Meissner Dom (wie Anm. 3) S. 39: „Ich möchte meinen, dass seine Gestalt aus der Geschichte des Naumburger Dombaus verschwinden sollte." 101 Cronica S. Petri Erfordensis moderna, ed. Oswald HOLGER-EGGER, in: Monumenta Erphesfurtensia (MGH SS Germ. [42] 1899 S. 238: [1242] Eodem anno obiit Engelhardt Nuwenburgensis episcopus, cui successit Ditericus frater marchionis Misnensis; ipso marchione agente, ut a quibusdam, licet paucis, eligeretur. Nam Petrus magister in studio positus canonice fuit electus; et dum nuncii, ut rediret, missi fuissent, predictus Ditericus archiepiscopum adiens muneribus datis in episcopum se conßrmari obtinuit. Egressoque eo veniens magister Petrus, dum super sua rata electione multa allegaret, nisi taceret, baculandum se esse intelexit, sicque confusus abscessit.

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bei seiner Bischofswahl abwesende, zu Studienzwecken reisende und offenbar von großen Teilen des Naumburger Kapitels sehr geschätzte Petrus lässt sich schon bald nach Beendigung des Konflikts mit Dietrich in den Naumburger Urkunden nachweisen 102 . Ob er in Paris studiert hat, wie es der Bosauer Mönch Paul Lang behauptet 103 , bzw. seine Studien nach der Bischofseinsetzung Dietrichs weitergeführt hat, ist nicht mit Bestimmtheit zu erweisen. Sein angeblicher Aufenthalt in Corvey ist eine Fiktion der Geschichtsfälschung Paullinis und aus der Überlieferung zu streichen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist hingegen ein Werk des Naumburger Meisters auf seine Vermittlung zurückzufuhren. Die Rede ist von der Grabplatte des Ritters Hermann von Hagen im Merseburger Dom. In stilistischer Hinsicht wird dieses Grabbild von der kunsthistorischen Forschung in engstem Zusammenhang mit den Stifterfiguren gesehen, so dass seine Anfertigung durch den Naumburger Meister und seine Werkstatt als weitgehend gesichert angenommen werden d a r f 0 4 . Unter den Werken des Naumburger Meisters fallt das Merseburger Grabbild durch eine Besonderheit auf: es ist der einzige bekannte „Privatauftrag" der Naumburger Werkstatt, alle anderen Skulpturen sind im Zusammenhang von Großaufträgen für geistliche Institutionen entstanden. Dass der vergleichsweise unbedeutende edelfreie Hermann von Hagen, der 1242 eine umfangreiche Seelgerätstiftung im Merseburger Dom begründete 105 , eine derart herausragende Grabplatte vom Naumburger Meister erhalten hat, ist nur durch die Einflussnahme seines Bruders,

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UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 188 (1243 Juni 8); Nr. 191 (1243 August 27); 210 (1246 September 18). 103 Paul LANGE, Chronik des Bistums Naumburg und seiner Bischöfe, hg. von Felix KÖSTER (1891) S. 27. 104 Vgl. zu diesem Grabmal SCHUBERT, Grabmal (wie Anm. 20); Markus HÖRSCH, Grabmal des Ritters von Hagen (Hayn), in: Zwischen Kathedrale und Welt. 1000 Jahre Domkapitel Merseburg, hg. von Karin HEISE / Holger KUNDE / Helge WITTMANN (2004) S. 123f.; beide mit Verzeichnis der älteren Literatur. Die von SCHUBERT, Grabmal (wie Anm. 20) entwickelte These, dass auch der einstige Lettner des Merseburger Doms ein Werk der Naumburger Werkstatt gewesen sei, ist von HÖRSCH, Grabmal (wie oben in dieser Anm.) anhand der in Merseburg erhaltenen Fragmente des Lettners überzeugend widerlegt worden. Es entfallt somit die Annahme, dass der Naumburger Meister über einen längeren Zeit in Merseburg tätig gewesen sei. Die Grabplatte fiir den Ritter Hermann von Hagen ist wohl in Naumburg geschaffen und dann nach Merseburg gebracht worden. 105

Urkundenbuch des Hochstifts Merseburg 1, ed. Paul KEHR (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 36, 1899) Nr. 251; vgl. dazu ausführlich Petra SKODA, Urkunde Bischof Rudolfs von Merseburg und des Domkapitels über die Stiftung des Ritters Hermann von Hagen, in: Zwischen Kathedrale und Welt (wie Anm. 104) S. 255f. Zum Gedenken an Hermann von Hagen und seine Familienangehörigen vgl. Ulrich RASCHE, Memoriengelder und Präsenzverzeichnisse, in: Zwischen Kathedrale und Welt (wie Anm. 104) S. 256-258.

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Magister Petrus von Naumburg, erklärbar 106 . Die hier fassbare Nähe des Naumburger Domscholasters zum Bildhauerarchitekten lässt die Vermutung zu, dass Magister Petrus als gebildeter Vertreter des Naumburger Domkapitels neben Bischof Dietrich II. für die Absprachen mit dem Naumburger Meister hinsichtlich des auszuführenden Bildprogramms verantwortlich oder zumindest maßgeblich beteiligt war. In diesem Zusammenhang sei noch auf eine bemerkenswerte Urkunde hingewiesen. In einer am 18. September 1246 in der Naumburger Domkirche ausgestellten Urkunde bezeugen vier Naumburger Domherren, der Kustos Friedrich, der Scholaster Petrus, Dietrich von Crimmitschau und Heinrich von Flößberg, dass in ihrer Gegenwart und vor dem Abt Heinrich von St. Georg in Naumburg, der Magister Johannes, genannt ,Dialektik', öffentlich bekannt und erklärt hat, dass er eine Hufe in Wismusle nur auf Lebenszeit von St. Georg in Naumburg gekauft hat, und sein jetziger Sohn bzw. seine künftigen Erben und Verwandten darauf keinen Anspruch erheben werden. Zur Bezeugung dieses Sachverhaltes hat der genannte Magister die erwähnten Domherren herbeigerufen 107 . Der hier genannte Magister Johannes ist offensichtlich kein Kleriker, da freimütig von seinem jetzigen Sohn bzw. künftigen die Rede ist. Er steht offensichtlich in einem wie auch immer gearteten engeren Verhältnis zum Naumburger Domkapitel, da er vier Domherren zur Bezeugung eines ihn betreffenden Rechtsgeschäfts in der Domkirche bewegen kann. Dass sich unter den Domherren der Kustos und der Domscholaster befinden, könnte bloßer Zufall, zugleich aber auch ein Hinweis auf eine besondere Dienstbeziehung sein. Die Zubenennung dictus Dialetica scheint im ersten Moment auf einen Lehrer der Artes liberales hinzuweisen, sie könnte aber auch auf einen Meister hindeuten, der es auf andere Weise versteht, das Gegensätzliche miteinander vereinend darzustellen. Kurzum, die Urkunde vom 18. September 1246 könnte auch ein erstes Lebenszeugnis des Naumburger 106 Das Verwandtschaftsverhältnis geht aus UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 133 (1234 September 1) eindeutig hervor. Vgl. dazu auch das Testament des Magisters Petrus von Hagen (UB Naumburg 2 [wie Anm. 14] Nr. 259 vom 24. oder 25. Oktober 1252, in dem die Anniversarien seiner Eltern Otto und Cecilie von Hagen erwähnt werden. 107 UB Naumburg 2 (wie Anm. 14) Nr. 210: Nos dei gratia Fridericus custos, magister Petrus scolasticus, Theodericus de Crimaschowe, Heinricus de Vlogelsberc, canonici Nuenburgensis ecclesie, recognoscimus et protestamur, quod in presencia nostra coam domino Heinrico abbate sancii Georii in Nuenburc magister Iohannes dictus Dialetica recognovit publice et confessus fuit, quod mansum quendam situm in Wismusle ad tempus vite sue emit ab ecclesia sancii Georii in Nuenburc, et quod nec heres scilicet fllius, quem nunc habet vel quem vel quos in futuro haberet, vel aliquis suus propinquus vel consanguineus ipsam ecclsiam super manso predicto inpetere posset, cum tantum ad tempus vite sue ipsum habere debeat; de hoc nos testesposuit. [...] Datum in malori ecclesia Nuenburc; quarto decimo kal. Octobris, anno domini M°.CC°.XL.°VI°., quinte indiccionis.

HOLGER K U N D E

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Meisters darstellen, wenn es gelänge, weitere urkundliche Zeugnisse für diesen Magister Johannes z. B. in Mainz oder Meißen auszumachen 108 . Abschließend sollen die Ergebnisse der vorliegenden Studie zusammengefasst werden. Ausgehend von der Analyse der über Jahrzehnte von Walter Schlesinger und Ernst Schubert weitgehend geprägten Naumburgforschung wurden grundlegende Ergebnisse der bisherigen Forschung einer Überprüfung anhand der zur Verfügung stehenden Quellen unterzogen. Es konnte gezeigt werden, dass die zentrale These Ernst Schuberts von der Existenz eines seit 1021 bestehenden Marienstifts westlich des ersten Naumburger Doms keine Stütze in den Quellen findet. Ein solches, altes Marienstift hat niemals existiert. Alle von Emst Schubert auf dieser Grundlage abgeleiteten Folgerungen in Bezug auf die ursprüngliche Funktion des Naumburger Westchores, seines Lettners und insbesondere auf die Interpretation der Naumburger Stifterfiguren als Ersatzgrabbilder für die vermeintlich im Zuge des Domneubaus zerstörten Grabstätten der Ekkehardiner sind damit hinfällig. Vielmehr konnte herausgearbeitet werden, dass Bischof Dietrich II. und sein Domkapitel im Herbst des Jahres 1258 Schritte unternahmen, um in der Pfarrkirche St. Marien südlich des Doms ein Unterstift des Naumburger Domkapitels zu installieren, was jedoch aufgrund der krisenhaften Zuspitzung des Konflikts mit Markgraf Heinrich dem Erlauchten und den daraus resultierenden Folgen bis zum Ende des 13. Jahrhundert nicht über bescheidene Anfänge hinausgelangt ist. Die erstmalige Einordnung aller für die Baugeschichte des Doms und seiner Klausur relevanten Dokumente konnte wahrscheinlich machen, dass die versuchte Begründung eines Marienstifts wohl erst nach Fertigstellung der Südklausur erfolgt ist. Es konnten darüber hinaus weitere Argumente geltend gemacht werden, dass der Naumburger Westchor bereits im Jahre 1249 vollendet gewesen ist. Mit dieser Datierung entfallen auch sämtliche Thesen, die Markgraf Heinrich den Erlauchten nach seinem für ihn vorteilhaften Vertragsabschluss von Seußlitz im Jahr 1259 als den alleinigen Initiator des Figurenprogramms im Westchor ausmachen wollten. Auch der von Walter Schlesinger favorisierte Bischof Engelhard kommt als spiritius rector für den Westchor nicht in Frage. Vielmehr sind als Auftraggeber Bischof Dietrich II. und Magister Petrus von Hagen in Betracht zu ziehen. Die von Schlesinger bereits 1952 aufgestellte und später von Willibald Sauerländer unter anderen Gesichtspunkten modifizierte These, dass die Darstellung der Stifter im Westchor im Wesentlichen ein Reflex auf die Auseinandersetzungen mit dem Kollegiatstift Zeitz über die Frage des Bischofssitzes und der Bischofswahl gewesen ist, und damit der Bekräftigung

108 Die Fortsetzung des Mainzer Urkundenbuches über das Jahr 1200 hinaus ist ein dringendes Forschungsdesiderat.

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juridischer Positionen diente, kann ausdrücklich bestätigt werden. Die Stifterfiguren sind daher nicht als Ersatzgrabbilder anzusprechen.

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SCHIEFFER

Aus dem „Hafen des Klosters" auf die Cathedra Petri Zur monastischen Herkunft frühmittelalterlicher Päpste Neuerdings wieder zum Vorschein gekommen ist das Problem, ob Gregor VII. (1073-1085) aus dem Mönchsstand hervorgegangen ist, wovon er in seinen zahlreichen päpstlichen Verlautbarungen nirgends spricht, während in den polemischen Äußerungen seiner Gegner und seiner Anhänger das Thema keine geringe Rolle spielt 1 . Die Frage betrifft nicht allein Gregors Biographie und die geistlichen Wurzeln seines Denkens und Handelns, sondern macht auch die methodische Schwierigkeit bewußt, aus den verfügbaren Quellen überhaupt Auskunft in dieser Hinsicht erwarten zu wollen. Hatte der Papst in seinen Urkunden und Briefen Anlaß, explizit auf bestimmte Stationen seines Werdegangs einzugehen? Lassen sich aus seiner Amtsführung in klösterlichen Belangen Rückschlüsse auf seine persönliche Herkunft ziehen? War der Aufstieg aus einem monastischen Konvent zur römischen Bischofswürde derart bemerkenswert, daß mit einem Echo in den erzählenden Quellen zu rechnen ist? Gibt gar die Wahl des neuen Namens am Beginn des Pontifikates, wie sie seit dem 10. Jahrhundert üblich wurde 2 , Aufschluß über ein spezifisches Bewußtsein der Kontinuität zu früheren Päpsten, die gleichfalls Mönche gewesen waren? Dies alles läßt sich nicht in der Fixierung auf den prominenten Einzelfall Gregors VII. klären, sondern erfordert eine längerfristige Beobachtung, die auf den folgenden Seiten unternommen werden soll. Dabei geht es jenseits der quellenkritischen Einzelfragen um die nähere Bestimmung eines monastischen Anteils an der älteren Papstgeschichte, die bekanntlich bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts ganz eindeutig von der Dominanz des stadtrömischen Klerus bestimmt war und auch nach dem Zeugnis normativer Quellen wie Synodalbeschlüssen oder Weiheordines eigentlich nur die Bischofswahl von Presbytern oder Diakonen der eigenen Kirche zuließ 3 . Demgegenüber stand

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Vgl. Uta-Renate BLUMENTHAL, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform (2001) S. 24-43, dazu Rudolf SCHIEFFER, War Gregor VII. Mönch?, HJb 125 (2005) S. 351-362. Vgl. Friedrich KRÄMER, Über die Anfänge und Beweggründe der Papstnamenänderungen im Mittelalter, Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 51 (1956) S. 148-188; Bernd-Ulrich HERGEMÖLLER, Die Geschichte der Papstnamen (1980) (im Detail fehlerhaft). Vgl. Michel ANDRIEU, La carrière ecclésiastique des papes et les documents liturgiques du moyen âge, Revue des sciences religieuses 21 (1947) S. 90-120.

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Z U R MONASTISCHEN H E R K U N F T FRÜHMITTELALTERLICHER PÄPSTE

das Mönchtum, das seit dem 4. Jahrhundert auch in Rom Eingang gefunden hatte 4 , nach Ursprung und Wesen als „charismatische Laienbewegung" 5 außerhalb aller hierarchischen Rangstufen und bot an sich keine Voraussetzung für den Weg zum obersten Hirten der Gläubigen. Wenn sich gleichwohl klösterliche Lebensabschnitte im Werdegang bestimmter Päpste des Frühmittelalters abzeichnen, wird dies im Verhältnis zu ihrer klerikalen Laufbahn eigens zu gewichten sein. Immerhin gibt es bei allen Unwägbarkeiten der Gesamtentwicklung einen klar fixierten Ausgangspunkt in der Gestalt Papst Gregors des Großen (590604)6. Hier ist die Quellenlage vorzüglich, denn es liegt an herausragender Stelle, im Widmungsbrief zu den weitverbreiteten Moralia in Job an Bischof Leander von Sevilla, ein Selbstzeugnis vor, in dem Gregor um 595 bekennt, wie schwer ihm die Lösung aus dem weltlichen Leben (gipfelnd in der praefectura bzw. praetura urbana)1 gefallen sei, bis er sich schließlich in den „Hafen des Klosters" (portum monasterii) geflüchtet habe 8 . Der Zeitgenosse Gregor von Tours berichtet unter Berufung auf einen nach Rom entsandten Diakon, Gregor habe aus väterlichem Erbe sechs Klöster in Sizilien gegründet und ausgestattet, ein weiteres aber innerhalb der Mauern Roms 9 , das nach Gregors eigenen Angaben mit dem Elternhaus auf dem Monte Celio gleichzusetzen ist10. Daß er eine Zeitlang dieser Gemeinschaft mit allen Konsequenzen angehört hat, ohne deren Abt zu sein, ergibt sich aus einer ganzen Reihe von Äußerungen im Briefregister und in den theologischen Werken 11 . Allerdings geht aus diesen Bemerkungen auch hervor, daß er noch während

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Vgl. Georg JENAL, Italia ascetica atque monastica. Das Asketen- und Mönchtum in Italien von den Anfangen bis zur Zeit der Langobarden (ca. 150/250-604), 2 Bde. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 39, 1995) 1 S. 28-93 u. ö. 5 Angelus Albert HÄUSSLING, Mönchskonvent und Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 58, 1973) S. 115. 6 Vgl. Erich CASPAR, Geschichte des Papsttums von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft 2 (1933) S. 339-350; JENAL, Italia (wie Anm. 4) 1 S. 266-270. 7 Vgl. (divergierend in der textkritischen Beurteilung der einschlägigen Briefstelle) CASPAR, Geschichte (wie Anm. 6) S. 341, und Jeffrey RICHARDS, Consul of God. The Life and Times of Gregory the Great (1980) S. 30. 8 S. Gregorii Magni Moralia in lob 1: libri I-X, cura et studio Marci ADRIAEN (CC 143, 1979) S. 1 f.; vgl. Claude DAGENS, Saint Grégoire le Grand. Culture et expérience chrétiennes (1977) S. 284-299. 9 Gregorii episcopi Turonensis Libri Historiarum X, edd. Bruno KRUSCH / Wilhelm LEVISON (MGH SS rer. Merov. 1, 2 1951 ) S. 477 f. (X, 1); vgl. Thomas F. X. NOBLE, Gregory of Tours and the Roman Church, in: The World of Gregory of Tours, ed. by Kathleen MITCHELL / Ian WOOD (Cultures, Beliefs and Traditions 8, 2002) S. 145-161. 10 Vgl. Guy FERRARI, Early Roman Monasteries. Notes for the history of the monasteries and convents at Rome from the V through the X century (Studi di antichità cristiana 23, 1957) S. 138-151. 11 Vgl. das Material zuletzt bei JENAL, Italia (wie Anm. 4) 1 S. 267 Anm. 6.

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der Zugehörigkeit zu dem Konvent die Weihe zum Diakon empfing und an der Last der Seelsorge (pondus curae pastoralis) beteiligt wurde12, bevor er im Auftrag Papst Pelagius' II. als Apokrisiar der römischen Kirche an den Kaiserhof nach Konstantinopel entsandt wurde. Er scheint demnach von 574/75 bis 579 in dem Andreas-Kloster auf dem Celio gelebt zu haben und kehrte offenbar nach dem Ende seiner Mission am Bosporus um die Wende 585/86 auch wieder dorthin zurück, soweit es seine Pflichten als (Regionär-) Diakon in der städtischen Kirchenverwaltung erlaubten; erst die Papstwahl 590 bedeutete den endgültigen Abschied. Gregors (zeitweiliges) Mönchtum blieb der Nachwelt nicht allein durch seine eigenen Mitteilungen und die Historien Gregors von Tours erinnerlich, sondern auch durch die drei Viten des Papstes, die freilich inhaltlich auf den Primärzeugnissen beruhen13. Eine ausdrückliche Feststellung, Gregor sei der erste gewesen, der als Mönch Papst wurde, habe ich indes in den folgenden Jahrhunderten nicht gefunden. Wer sich in dieser Hinsicht während des Mittelalters im Liber Pontificalis umgesehen hätte, wäre auch gar nicht auf Gregor den Großen gestoßen, von dem es dort bloß heißt, er habe „sein Haus" zu einem Kloster gemacht14, sondern auf den sonst wenig bekannten Papst Adeodatus (672-676). Ihn stellt seine Vita im Liber Pontificalis vor als Adeodatus natione Romanus ex monachis de patre Iobiano [...], was im weiteren Verlauf ergänzt wird um die Nachricht, der Papst habe das Kloster des hl. Erasmus auf dem Monte Celio, in dem er aufgewachsen sei (concrevisse visus est), um neue Gebäude und Besitzungen bereichert und dort einen Abt und einen Konvent eingesetzt (abbatem vel congregationem ibidem instituit)15. Das Verständnis dieser Mitteilungen fallt nicht ganz leicht, was in der Literatur auch schon zu der Vermutung geführt hat, der anonyme, aber einigermaßen zeitgenössische Autor der Vita Adeodati sei sich der Jugend des Papstes in jenem Kloster nicht so sicher gewesen und habe deshalb visus est geschrieben. Das verkennt jedoch den Sprachstil des Papstbuches, dem eher wohl zu entnehmen sein dürfte, daß der dankbare Adeodatus dem (griechischen) Erasmus-Kloster zu einem gehobenen Status und personeller Erneuerung verholfen hat16. Auch wenn

12 WieAnm. 8. 13 Zur Herleitung der biographischen Tradition aus Gregors eigenen Schriften sowie Gregor von Tours vgl. Walter BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 2 und 3 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 9 und 10, 1988-1991) 2 S. 150-153 (Paulus Diaconus), 2 S. 261-266 (Anonymus von Whitby), 3 S. 372-387 (Johannes Diaconus). 14 Le Liber Pontificalis. Texte 1-2, introduction et commentaire par Louis DUCHESNE (18861892) 1 S. 312 (Vita Gregorii c. 5). 15 Liber Pontificalis (wie Anm. 14) 1 S. 346 (Vita Adeodati c. 1, 4). 16 Vgl. FERRARI, Monasteries (wie Anm. 10) S. 124 f.; Girolamo ARNALDI, Adeodato II, in: Dizionario biografico degli italiani 1 (1960) S. 272 f.; Jean-Marie SANSTERRE, Les moines

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Z U R MONASTISCHEN HERKUNFT FRÜHMITTELALTERLICHER PÄPSTE

der Liber Pontificalis keinen von Adeodatus erreichten Weihegrad angibt, besagt das Wort concrevisse nicht unbedingt, daß er sogleich aus dem Kloster auf den Papststuhl gelangt ist17. Ohne Rückhalt am Liber Pontificalis hat die benediktinische Ordensgeschichtsschreibung zwei weitere Päpste des 7./8. Jahrhunderts zumindest „möglicherweise" als Mönche in Anspruch nehmen wollen, nämlich Agatho (678-681) und Zacharias (741-752) 18 . Im Falle Agathos hat das Resonanz in allerlei einschlägigen Lexika gefunden 19 , obgleich schon vor geraumer Zeit geklärt werden konnte, daß die einzige Grundlage eine wenig glaubhafte Gleichsetzung des gebürtigen Sizilianers Agatho mit einem Gleichnamigen bildet, der in der Korrespondenz Papst Gregors des Großen (also 80 Jahre früher) als eintrittswillig in ein Kloster in Palermo erwähnt ist20. Bei Papst Zacharias, dem letzten Griechen auf dem Stuhl Petri, stützt sich die Kombination anscheinend allein darauf, daß er Gregors Dialogi (mit der Lebensbeschreibung Benedikts in Buch II) in seine Muttersprache übertragen und das vermeintliche Autograph der Regula Benedicti dem wiedererstandenen Kloster Montecassino hat zukommen lassen21. Ernster zu nehmen ist der Bericht des Liber Pontificalis, wonach der nachmalige Papst Stephan III. (768-772), ebenfalls aus Sizilien stammend, als Kind (parvulus) nach Rom gekommen und von Gregor III. dem eben von ihm gegründeten Kloster San Grisogono übergeben worden sei, wo Stephan zum Kleriker und Mönch wurde (illicque clericus atque monachus effectus est). Später habe ihn dann Papst Zacharias aus diesem Kloster entfernt {ex ipso abstollens monasterio), an den Lateran geholt und zum Presbyter des Titels Santa Cecilia gemacht, als welcher er auch den Nachfolgern Stephan II. und Paul I. zu Diensten gewesen sei22. Hier zeigt sich - wesentlich grecs et orientaux à Rome aux époques byzantine et carolingienne (milieu du VIe s. - fin du IXe s.) (Académie royale de Belgique. Mémoires de la Classe des lettres, Collection in 8°, 2. série 66, 1, 1983) 1 S. 35. 17 Anders offenbar CASPAR, Geschichte (wie Anm. 6) S. 587; Jeffrey RICHARDS, The Popes and the Papacy in the Early Middle Ages 476-752 (1979) S. 266. 18 Vgl. Philibert SCHMITZ, Geschichte des Benediktinerordens 1 (1947) S. 320. 19 Vgl. Johann Peter KIRSCH, Agathon, in: DHGE 1 (1912) Sp. 916-918 („peut-être"); Girolamo ARNALDI, Agatone, in: Dizionario biografico degli italiani 1 (1960) S. 373-376 („forse"); Ireneo DANIELE /Maria Chiara CELLETTI, Agatone, in: Bibliotheca Sanctorum 1 (1961) Sp. 341-343; John N. D. KELLY, The Oxford Dictionary of Popes (1986) S. 77 f.; Jean DURLIAT, Agathon, in: Dictionnaire historique de la papauté, sous la direction de P h i l i p p e LEVILLAIN ( 1 9 9 4 ) S. 6 0 f.

20 Vgl. Horace K. MANN, The Lives of the Popes in the Early Middle Ages 1/2 ( 2 1925) S. 24 Anm. 1. 21 Vgl. jüngst noch: Gregorio Magno, Vita di s. Benedetto nella versione greca di papa Zaccaria. Edizione critica a cura di Gianpaolo RLGOTTI (Helenica 8, 2001) S. Vili, über Zacharias: „pare sia stato monaco vicino alla spiritualità benedettina". 22 Liber Pontificalis (wie Anm. 14) 1 S. 468 (Vita Stephani III c. 1-2); vgl. FERRARI, Monasteries (wie Anm. 10) S. 92 f.; SANSTERRE, Moines grecs (wie Anm. 16) 1 S. 81.

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deutlicher als hundert Jahre zuvor bei Adeodatus - das Kloster als vorübergehende Stätte der Ausbildung und geistlichen Formung des höheren römischen Stadtklerus, von der gerade keine lebenslang bindende Wirkung gegen weiteren hierarchischen Aufstieg ausging. Der jeweilige Papst war es, der über den Personalbestand der Klöster offenbar ebenso wie der sonstigen Kirchen Roms verfügen konnte. Nur ein weiteres Beispiel für dieses Wechselspiel dürfte es darstellen, daß über Papst Paschalis I. (817-824) wiederum im Liber Pontificalis mitgeteilt wird, er habe sich am Lateran gelehrten Studien gewidmet und sei zum Subdiakon, später zum Presbyter befördert worden, bevor ihm dann Leo III. das Kloster Santo Stefano (Maggiore) unmittelbar bei der vatikanischen Petersbasilika zur Leitung übertrug (ad regendum commisit)2i. Augenscheinlich war Paschalis kein aus dem Konvent hervorgegangener Abt, sondern wurde für eines der vier Basilikalklöster von St. Peter 24 zum externen Verwalter bestellt, bei dem von einer spezifisch monastischen Prägung kaum auszugehen ist25. Noch ein letztes Mal läßt sich der Liber Pontificalis zu unserem Thema vernehmen, und zwar bei Papst Leo IV. (847-855). Er wurde der Vita zufolge von seinen Eltern zum Studium dem Martinskloster bei St. Peter anvertraut und soll dort nicht nur bestens gelernt, sondern auch als Kind, das er war {puer, sicut tunc erat), das geistliche Leben wie ein vollkommener Mönch (velut perfectus monachus) sich zueigen gemacht haben, so daß er zum Vorbild für den Konvent wurde: quasi unus ex Ulis26. Der Biograph will offenbar sagen, daß Leo ein hervorragender Mönch hätte werden können, doch tatsächlich führte sein Lebensweg wie bei Stephan III. aus der Klosterschule zum Dienst als Subdiakon am Lateran und weiter als Presbyter des Titels SS. Quattro Coronati in die höheren Ränge des römischen Klerus. Mit größerem zeitlichen Abstand ist auch einer der Päpste des „saeculum obscurum", Leo VII. (936-939), als ehemaliger Mönch in Erwägung gezogen worden 27 . Fest steht von ihm, daß er als Presbyter des Titels San Sisto (und 23

Liber Pontificalis ( w i e A n m . 14) 2 S. 52 (Vita Paschalis I c. 1-2); vgl. FERRARI, Monasteries ( w i e A n m . 10) S. 3 2 0 - 3 2 4 . 2 4 V g l . dazu Louis DUCHESNE, N o t e s sur la topographie de R o m e du m o y e n - â g e XII. Vaticana (suite), M é l a n g e s d'archéologie et d'histoire 3 4 ( 1 9 1 4 ) S. 3 0 7 - 3 5 6 , hier S. 3 1 4 - 3 3 1 , auch in: DERS., Scripta minora. Etudes de topographie romaine et de géographie ecclésiastique ( 1 9 7 3 ) S. 2 5 3 - 3 0 2 , hier S. 2 6 0 - 2 7 7 . 25

D i e s e l b e Konstellation ergibt sich in der Lebensgeschichte Hildebrands (Gregors VII.) im Hinblick auf dessen langjährige Verwaltung von S a n Paolo fuori le mura in päpstlichem Auftrag; vgl. SCHIEFFER, Gregor VII. ( w i e A n m . 1) S. 355 f.

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Liber Pontificalis (wie A n m . 14) 2 S. 106 (Vita Leonis IV c. 2); vgl. FERRARI, Monasteries ( w i e A n m . 10) S. 2 3 1 - 2 3 6 ; Klaus HERBERS, Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts. Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27, 1996) S. 95 f.

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V g l . Horace K. MANN, The Lives o f the P o p e s in the Early Middle A g e s 4 ( 2 1 9 2 5 )

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ZUR MONASTISCHEN HERKUNFT FRÜHMITTELALTERLICHER PÄPSTE

gewiß auf einen Wink des römischen Stadtherrn Alberich) zum Petrusamt gelangt ist28. Für eine monastische Herkunft aus einem unbekannten Kloster scheinen zwei Indizien zu sprechen, nämlich die Bezeichnung Leo quidam Dei servus beim zeitgleichen Geschichtsschreiber Flodoard von Reims29, die sich jedoch auch aus dem gängigen Papsttitel servus servorum Dei ableiten ließe, sowie die Tatsache, daß in einer seiner päpstlichen Urkunden die Formulierung beatissimi patris nostri Benedicti auftaucht30, die indes ohne weiteres einem Konzept der begünstigten Mönche von Subiaco entstammen könnte31 und kein persönliches Bekenntnis Leos VII. darzustellen braucht. Unzweifelhaft war er um die Reform und Förderung von Klöstern bemüht, doch setzt das für sich genommen keine monastische Vergangenheit des Papstes voraus. Aus der Zeit Kaiser Ottos III. sei eher beiläufig auf den Gegenpapst Johannes XVI. (997-998) verwiesen, den Griechen Johannes Philagathos, der nur unter anderem (seit 982) Abt von Nonantola war, als er sich auf das Abenteuer eines gegen den Kaiser gerichteten Papsttums einließ32. Mit größerem Recht verdient Silvester II. (999-1003) Mönchspapst genannt zu werden, denn Gerbert war als Kind - ohne jede Aussicht auf das Papsttum ins Kloster Aurillac aufgenommen worden und verblieb dort bis etwa zum 20. Lebensjahr, als ihm sein Abt einen längeren Studienaufenthalt in Katalonien gestattete33, was zum Sprungbrett für seine außerordentliche wissenschaftliche, politische und kirchliche Laufbahn wurde. Dabei spielt der kurze

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S. 205f.; KELLY, Dictionary (wie Anm. 19) S. 123 f.; Harald ZIMMERMANN, Léon VII, in: Dictionnaire historique (wie Anm. 19) S. 1023 f.; DERS., Leo VII., in: LThK 6 ( 3 1997) Sp. 824. Vgl. Papstregesten 911-1024, bearb. von Harald ZIMMERMANN (Reg. Imp. II, 5, 2 1998) S. 36 Nr. 119. Les Annales de Flodoard, par Philippe LAUER (Collection de textes pour servir à l'étude et à l'enseignement de l'histoire 39, 1905) S. 64 (zu 936). Papsturkunden 896-1046, bearb. von Harald ZIMMERMANN (Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Denkschriften 174, 2 1988) 1 S. 120-124 Nr. 72, hier S. 120. Vgl. generell Hans-Henning KORTÜM, Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896-1046 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 17, 1995), der jedoch S. 156 eher dazu neigt, die Einleitung der Urkunde für ein Kanzleiprodukt zu halten. - Ein analoger Befund spielt in der Diskussion u m das Mönchtum Gregors VII. eine Rolle; vgl. SCHIEFFER, Gregor VII. (wie Anm. 1) S. 354. Vgl. Papstregesten (wie Anm. 28) S. 239 f. Nr. 784. Richer von Saint-Remi, Historiae, hg. von Hartmut HOFFMANN ( M G H SS 38, 2000) S. 191 f. (III, 43); vgl. Edmond-René LABANDE, La formation de Gerbert à St-Géraud d'Aurillac, in: Gerberto: scienza, storia e mito. Atti dei Gerberti Symposium (Bobbio 25-27 luglio 1983) (Archivum Bobiense, Studia 2, 1985) S. 21-34, Michel SOT, Le moine Gerbert, l'église de Reims et l'église de Rome, in: Gerbert, l'européen. Actes du colloque d'Aurillac, 4-7 juin 1996, rassemblés par Nicole CHARBONNET / Jean-Eric IUNG (1997) S. 135-149.

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Abbatiat in Bobbio (982/83) nur eine untergeordnete Rolle, hervorzuheben ist dagegen die fortwährende, warmherzige Verbundenheit mit dem Kloster seiner Jugend, die in den Briefen des Reimser Domscholasters und auch noch des Erzbischofs nach Aurillac zum Ausdruck kommt. In den Urkunden seines päpstlichen Pontifikats findet dieser Eindruck indes keine Bestätigung mehr. Im Unterschied zu allen bisher Genannten war Stephan IX. (1057-1058) der erste Papst, der unmittelbar aus der Leitung eines großen Klosters auf die Cathedra Petri überwechselte 34 . Allerdings war Friedrich erst zwei Jahre zuvor in Montecassino eingetreten und gerade seit zehn Wochen dort Abt, nachdem er als Kanoniker am Lütticher Dom 1050 von Papst Leo IX. nach Rom berufen und im Range eines Kardinaldiakons zum Kanzler und Bibliothekar der römischen Kirche erhoben worden war 35 . Seine Papstwahl beruhte hauptsächlich darauf, daß er der Bruder des mächtigen Herzogs Gottfried (des Bärtigen) von Lothringen, zugleich Markgrafen von Tuszien, und beim Eintreffen der Nachricht vom Tode Papst Viktors II. in Rom präsent war 36 ; sie bedeutete kaum eine programmatische Entscheidung für einen Mönch als Papst, sondern eher die Rückkehr Friedrichs in die Spitzengruppe der Reformer, aus der er sich 1055 wegen der Spannungen zwischen seinem Bruder und Kaiser Heinrich III. zurückgezogen hatte. Nach dem Tod des Saliers setzte er die Reihe der nicht mehr im römischen Klerus verwurzelten, sondern von jenseits der Alpen gekommenen Päpste fort, freilich mit der Variante, daß er nicht ein Reichsbistum als Rückhalt einbrachte, sondern eine reiche und mächtige Abtei, deren Leitung er auch als Pontifex beibehielt, ebenso wie seine unmittelbaren Vorgänger ihre angestammten Bischofssitze 37 . Als er nach nur achtmonatiger Amtszeit im März 1058 gestorben war, setzten sich mit Nikolaus II. 38 und Alexander II. zunächst wieder auswärtige 34 Ausführlich geschildert sind die Umstände seiner eiligen Wahl am 2. August 1057 in der Chronik von Montecassino, hg. von Hartmut HOFFMANN (MGH SS 34, 1980) S. 352 f. (II, 94); vgl. Paul SCHMID, Der Begriff der kanonischen Wahl in den Anfangen des Investiturstreits (1926) S. 106-112. 35 Vgl. Rudolf HÜLS, Kardinäle, Klerus und Kirchen Roms 1049-1130 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 48, 1977) S. 168 f., 248. 36 Vgl. Elke GOEZ, Beatrix von Canossa und Tuszien. Eine Untersuchung zur Geschichte des 11. Jahrhunderts (VuF Sonderbd. 41, 1995) S. 151-154. 37 Vgl. Werner GOEZ, Papa qui et episcopus. Zum Selbstverständnis des Reformpapsttums im 11. Jahrhundert, AHP 8 (1970) S. 27-59, der S. 29 u.ö. auch die Montecassiner Äbte Stephan IX. und Viktor III. einbezieht. 38 Vgl. Joachim WOLLASCH, Die Wahl des Papstes Nikolaus II., in: Adel und Kirche. Gerd Teilenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, hg. von Josef FLECKENSTEIN / Karl SCHMID (1968) S. 205-220, der u. a. die These vertrat, Nikolaus sei Cluniacenser gewesen; dagegen Armin KOHNLE, Abt Hugo von Cluny (1049-1109) (Beihefte der Francia 32, 1993) S. 81-83.

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Z U R MONASTISCHEN HERKUNFT FRÜHMITTELALTERLICHER PÄPSTE

Bischöfe in Rom durch, so daß sich eher die 1073 erfolgte Wahl Gregors VII., der seinen Aufstieg nach eigenem Bekunden allein in der römischen Kirche genommen hatte (ob nun als Mönch oder nicht) 39 , wie eine Ausnahme oder gar die Rückkehr zu den Gepflogenheiten vor 1046 ausnimmt. Abt Desiderius von Montecassino, der in der tiefen Krise des gregorianischen Papsttums 1086 in die Bresche sprang und sich auch als Pontifex mehr in seinem Kloster als in Rom aufhielt 40 , war insofern ein Mönchspapst neuen Typs, als er nicht wie Friedrich/Stephan IX. als Kardinal ins Kloster gegangen, sondern als Mönch (und Abt) zum Kardinal erhoben worden war41. Das wurde der Weg, auf dem es im zweiten Jahrtausend zu Mönchspäpsten kam, bedingt durch das exklusive Wahlrecht der Kardinäle, die sich bis heute in erster Linie untereinander nach geeigneten Kandidaten umsehen. Was weder Humbert von Silva Candida (f 1061) noch Petrus Damiani von Ostia (f 1072) oder Bonifaz von Albano (f 1072) aus der ersten Kardinalsgeneration der Reformzeit mit monastischem Vorleben 42 vermocht hatten, schafften, nachdem Viktor III. vorangegangen war, in dichter Folge Kardinalbischof Odo von Ostia (vormals Prior in Cluny) 43 , Kardinalpriester Rainer von San d e m e n t e (vormals Mönch eines unbekannten Klosters) 44 und Kardinaldiakon Johannes von Santa Maria in Cosmedin (vormals Mönch in Montecassino) 45 , die als Urban II., Paschalis II. und Gelasius II. von 1088 bis 1119 den Stuhl Petri innehatten. Unter ihnen war Odo/Urban II., soweit zu sehen ist, der einzige, der seine klösterliche Herkunft auch noch als Papst dankbar hervorkehrte. In einem feierlichen Privileg für Abt Hugo und den Konvent von Cluny bekannte er gleich im ersten Pontifikatsjahr, Schuldner (debitores) dieses Klosters zu sein, weil er persönlich dort die monasticae religionis rudimenta empfangen habe und per secundam sancti Spiritus gratiam wiedergeboren worden sei46. Auch für die Mehrzahl der weiteren im Mittelalter feststellbaren Mönchspäpste, seit dem 13. Jahrhundert vorwiegend aus den Bettelorden, muß das Kardinalat, also der Vertrauensbeweis einer der vorangegangenen Päpste und der hervorgehobene Dienst für die Vorgänger, als die entscheidende Voraus-

39 Vgl. zuletzt BLUMENTHAL, Gregor VII. (wie Anm. 1) S. 24-138. 40 Vgl. Herbert Edward John COWDREY, The Age of Abbot Desiderius. Montecassino, the Papacy and the Normans in the Eleventh and Early Twelfth Centuries (1983) S. 177-213. 41 Seit 1059 Kardinalpriester von Santa Cecilia; vgl. HÜLS, Kardinäle (wie Anm. 35) S. 154 f. 42 Vgl. HÜLS, Kardinäle (wie Anm. 35) S. 131 f., 99 f., 89. 43 Vgl. Alfons BECKER, Papst Urban II. (1088-1099) 1 (MGH Schriften 19, 1, 1964) S. 4151. 44 Vgl. Carlo SERVATIUS, Paschalis II. (1099-1118). Studien zu seiner Person und seiner Politik (Päpste und Papsttum 14, 1979) S. 10-12. 45 Vgl. HÜLS, Kardinäle (wie Anm. 35) S. 231 f. 46 JL 5372; Text: MLGNE PL 151 Sp. 291 Nr. 9, dazu KOHNLE, Abt Hugo (wie Anm. 38) S. 119.

RUDOLF SCHIEFFER

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Setzung ihres Aufstiegs zur höchsten Würde angesehen werden 47 . Allerdings kennt die Papstgeschichte des hohen und späten Mittelalters auch einzelne Fälle, in denen dem Kardinalskolleg gerade die Entscheidung für einen Mönch außerhalb des eigenen Kreises als die probate Lösung erschien. So gelangten Eugen III. (1145-1153) als erster Zisterzienser 48 , der Einsiedler Peter vom Morrone als Coelestin V. (1294) 49 und in avignonesischer Zeit der Benediktinerabt Guillaume Grimoard als Urban V. (1362-1370) 50 auf die Cathedra Petri. Speziell von ihnen gilt, daß sie ohne ihr Mönchtum diesen Aufstieg nicht genommen hätten. Von den hier hauptsächlich betrachteten Päpsten des ersten Jahrtausends wird man indes in keinem Falle behaupten können, sie seien um ihres Mönchtums willen oder gar in bewußter Abkehr von der üblichen Praxis der Wahl aus dem städtischen Klerus zum römischen Bischofsamt gelangt. Das gilt selbst von Gregor dem Großen, der nach den Begriffen der Zeit zweifellos Mönch (wenn auch nicht Benediktiner im späteren Sinne) gewesen ist, aus dem „Hafen des Klosters" zur höchsten Würde jedoch deshalb kam, weil er, abgesehen von seinem angestammten Sozialprestige, in den bevorzugten Stand der Diakone aufgenommen wurde und als Apokrisiar am Kaiserhof wie auch nach der Rückkehr als Berater und Formulierungshelfer Pelagius' II. zum ersten Anwärter für dessen Nachfolge avancierte. Als Papst blieb er auf Jahrhunderte der einzige, der sich ausdrücklich zu seiner Zeit im Kloster äußerte, doch hat die Analyse seines Briefregisters ergeben, daß ihm „die Sorge für die monastischen Gemeinschaften Teil einer größeren Aufgabe" war und er „keineswegs versuchte, das Mönchtum in einen kirchenjuristisch oder kirchenorganisatorisch dominierenden Rang zu versetzen" 51 . Über seine Nachfolger auf dem Stuhl Petri berichtet allein der Liber Pontificalis in je einem Fall des 7., des 8. und des 9. Jahrhunderts von einer vorangegangenen Lebensphase im Kloster, die sich freilich nicht anders als bei

47 Im einzelnen Anaklet II. (1130-1138), Innocenz V. OP (1276), Nikolaus IV. OFM (12881292), Benedikt XI. OP (1303-1304), Benedikt XII. SOCist. (1334-1342), Clemens VI. OSB (1342-1352), Alexander V. OFM (1409-1410), Sixtus IV. OFM (1471-1484). Lucius III. (1181-1185) scheint lediglich in die Gebetsgemeinschaft der Zisterzienser aufgenommen worden zu sein; vgl. Karl WENCK, Die römischen Päpste zwischen Alexander III. und Innocenz III. und der Designationsversuch Weihnachten 1197, in: Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters, Paul Kehr zum 65. Geburtstag dargebracht, hg. von Albert BRACKMANN (1926) S. 415-474, hierS. 421 f. 48 Vgl. Michael HORN, Studien zur Geschichte Papst Eugens III. (1145-1153) (Europäische Hochschulschriften III 508, 1992) S. 42-45. 49 Vgl. Peter HERDE, Cölestin V. (1294). (Peter vom Morrone), der Engelpapst (Päpste und Papsttum 16, 1981) S. 1-30. 50 Vgl. Ludwig VONES, Urban V. (1362-1370). Kirchenreform zwischen Kardinalkollegium, Kurie und Klientel (Päpste und Papsttum 28, 1998) S. 24 f., 155. 51 JENAL, Italia (wie Anm. 4) 2 S. 831.

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Z U R M O N A S T I S C H E N H E R K U N F T FRÜHMITTELALTERLICHER P Ä P S T E

Gregor dem Großen anscheinend bald mit der Zugehörigkeit zum römischen Klerus verband und weder in Selbstzeugnissen noch in außerrömischen Quellen einen Widerhall gefunden hat, also Adeodatus, Stephan III. und Leo IV. nicht signifikant von ihren Vorgängern und Nachfolgern abhebt. Darüber hinausgehende Mutmaßungen, gar Rückschlüsse aus einer aktiven Klosterpolitik, die eine monastische Herkunft weiterer frühmittelalterlicher Päpste besagen sollen, sind vermutlich bis zu Gerbert/Silvester II. regelmäßig haltlos. Daraus ergibt sich, daß im mittleren 11. Jahrhundert etwas grundsätzlich Neues geschah, als zu dem für Auswärtige geöffneten und rasch zunehmend bevorrechtigten Kardinalskolleg auch (ehemalige) Mönche aus Konventen fern von Rom Zutritt fanden. Erst dadurch wurde ihnen zugleich der Weg auf die Cathedra Petri geebnet, wobei kaum anzunehmen ist, daß sich Stephan IX., Viktor III. und ihre Nachfolger in einer besonderen Traditionslinie zu Mönchspäpsten aus früherer Zeit empfanden, von denen sie schwerlich etwas wußten. Auch Gregor VII., der sich selbst ohnehin nie als Mönch zu erkennen gab, hat Gregor den Großen als idealen Papst, als kanonistische Autorität, als Lehrer des geistlichen Lebens verehrt, aber nirgends als Mönch gerühmt, weshalb es trotz der Autorität Erich Caspars 52 einiges für sich hat, gemäß Otto von Freising 53 Hildebrands Wahl seines Papstnamens nicht auf den ersten, sondern den sechsten Gregor zu beziehen, mit dem er 1047 invitus über die Alpen gezogen war 54 . Nach jenem römischen Erzpriester war der Archidiakon Hildebrand der erste, der wieder aus dem städtischen Klerus an die Spitze der Kirche trat 55 .

52 Vgl. Erich CASPAR, Gregor VII. in seinen Briefen, HZ 130 (1924) S. 1-30, hier S. 7-9. 53 Ottonis episcopi Frisingensis Chronica sive Historia de duabus civitatibus, hg. von Adolf HOFMEISTER (MGH SS rer. Germ. [45], 1912) S. 299 f. (VI, 32). 54 Vgl. Giovanni Battista BORINO, „Invitus ultra montes cum domino papa Gregorio abii", Studi Greg. 1 (1947) S. 3-46; BLUMENTHAL, Gregor VII. (wie Anm. 1) S. 61 f. 55 Vgl. Franz STAAB, Zur „romanitas" bei Gregor VII., in: Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. Festschrift für Alfons Becker, hg. von Ernst-Dieter HEHL / Hubertus SEIBERT / Franz STAAB (1987) S. 101-113.

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Brüder und Schwestern der Wilhelmiten - das Kloster in Limburg an der Lahn und die Klause in Fachingen I. Die Anfange der Wilhelmiten in Limburg Häufige Überschwemmungen und Eisgang 1 machten den Verbleib auf der kleinen Insel in der Lahn unmöglich. Die Brüder des Wilhelmitenordens 2 , die hier in unmittelbarer Nähe der Stadt Limburg Aufnahme gefunden hatten, mussten den Ort verlassen, der über einen hölzernen Steg mit dem rechten Flussufer verbunden war und in Richtung des Heilig-Geist-Hospitals zur Brückenvorstadt führte. Ihr Haus war durch Hochwasser stark beschädigt und wurde abgerissen. Doch sie erhielten von der nicht näher mit Namen benannten herschaft einen neuen Platz und siedelten 131V3 - so die Annalen des Chronisten Johann Gensbein aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts - mit Bestätigung der Verlegung durch den Trierer Erzbischof Baldewin 4 an jene Stelle um, an der noch heute ihre Kirche und Reste der einstigen Niederlassung neben schmuckarmen Zweckbauten des 20. Jahrhunderts stehen. Wann und von wem die Brüder nach Limburg geholt worden sind, ist nicht zeitgenössisch überliefert, sondern durch Nachrichten des 17. Jahrhunderts in den Geschichtswerken des Jesuiten Christoph Brower, der die Gründung Gerlach von Limburg 5 zuschreibt. Den ersten gesicherten Hinweis auf die

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Christopher BROWER / Jacob MASENIUS, Antiquitatum et annalium Trevirensium libri XXV duobus tomis comprehensi 1-2 (1671), hier Teil 2 Liber XVII S. 202, rechte Spalte zum Jahr 1322: Eodem tractu temporum Balduini consensu, monachorum congregatio Divi Guilhelmi leges sequentium, ex insula Loganae fluvii, ubi sedem dederat Gerlacus Limburgi Dominus in ipsius oppidi suburbana, ob frequentes, quibus insulani vexabantur, alluviones, transiit; atque ibi, aevo procedente, paullatim monasterium exstruxit, in quo magnis Christianae moderationis exemplis, ad nostram usque memoriam floruit. Dieser Text findet sich auch in Wilhelm Martin BECKER, Das vormalige Wilhelmiten-Kloster zu Limburg a. d. Lahn und dessen Archiv, Nassauische Annalen 14 (1877) S. 302-307, hier S. 303.

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Zur Entstehung und Verbreitung der geistlichen Gemeinschaft und zu der domus fratrum ordinis S. Wilhelmi pontis b. Mariae virginis de Limpurg Kaspar ELM, Beiträge zur Geschichte des Wilhelmitenordens (Münstersche Forschungen 14, 1962) bes. S. 76. Tilemann Elhen von Wolfhagen, Die Limburger Chronik, hg. Arthur WYSS (MGH Dt. Chron. 4, 1, 1883) S. 111, Limburger Annalen. Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 111. „Wenn die Mitteilung Browers [s. o. Anm. 1, Anm. d. Vf.] zutrifft, daß Gerlach von L. der Gründer des Klosters ist, würde sich als terminus post quem der 29. Sept. 1312 ergeben, der Tag, an dem Gerlach die Nachfolge in der Herrschaft L. antrat", so die Argumentation von Struck, Nr. 1459. Wolf-Heino STRUCK, Quellen zur Geschichte der Klöster und Stifte

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B R Ü D E R U N D SCHWESTERN DER WILHELMITEN

Anwesenheit von Wilhelmiten liefert eine Urkunde von 13286, die Prior Konrad und seine Mitbrüder anlässlich einer Güterübertragung ausgestellt haben. Während die schriftlichen Quellen des 15. und 17. Jahrhunderts eindeutig die Insel in der Lahn als ersten Ort einer Niederlassung anführen, geben die auch nach dem Umzug auf das Festland beibehaltenen Siegel durch ihre Bilder und durch ihre Umschriften einen anderen Platz für das ursprüngliche Kloster an: nicht im Fluss, sondern auf dessen Übergang: Das S[IGILLUM] P[RI]ORIS PO[N]TIS D[OMI]NE N[OST]RE LI[M]P[UR]G[EN]SIS ORD[INI]S WILH[ELMITARUM] 7 zeigt über einer Brücke mit Pfeiler einen knienden Anbeter neben zwei Heiligen in langen Gewändern, von denen die männliche Person mit der linken Hand, die weibliche mit einem Stab nach oben auf Gottvater deuten, der als Halbfigur über ihnen schwebt. Auch die Umschrift und das Bild des Konventssiegels greifen die Ortslage auf: S[IGILLUM] CO[N]VE[N]T[US] PO[N]TIS D[OMIN]NE N[OST]RE DOM[US] LI[M]P[UR]G[ENS]IS ORD[INI]S WILL[HELMITARUM] 8 . Ein Heiliger und eine Heilige mit Stab stehen in bodenlanger Ordenskleidung in diesem ebenfalls spitzovalen Bild auf einer Brücke mit zwei Pfeilern und angedeuteten Architekturbögen unter gotischem Maßwerk, zwischen ihnen befindet sich eine Person auf Knien, der beide eine Hand auf das Haupt legen. Brücken und Wasser kommen auf mittelalterlichen Siegeln der Region nicht allzu häufig vor 9 , dürften hier in den Limburger Beispielen etwas von der tatsächlichen topographischen Situation aufgenommen haben, ohne dass sich die unterschiedlichen Angaben „Insel" und „Brücke" im Kontext mit der Lage der ersten Gebäude eindeutig auflösen lassen. Schließt man eine architektonisch nicht belegte, sondern nur über die beiden Siegel symbolhaft angedeutete Platzierung auf dem Übergang aus, bleibt mit kaum stärkeren Argument die schriftliche Überlieferung durch spätere Chronisten,

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im Gebiet der mittleren Lahn bis zum Ausgang des Mittelalters 1: Das St. Georgenstift, die Klöster, das Hospital und die Kapellen an der Lahn. Regesten 910-1500 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 12, 1, 1956). Christopher BROWER / Jacob MASENIUS, Metropolis ecclesiae Trevericae 2, hg. von Christian VON STRAMBERG (1856) S. 351 f. STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie in dieser Anm. oben) S. XLIII STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1460 (1328 Juli 6). Ebd. Nr. 1460 (1328 Juli 6). Die steinerne Brücke über die Lahn soll den Limburger Annalen zufolge 1315 gebaut worden sein, Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 111, 117. STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1460 (1328 Juli 6). Wilhelm EWALD, Rheinische Siegel IV. Die Siegel der Stifter, Klöster und geistlichen Dignitäre (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 27, 1933, 2 1972) Taf. 37 Nr. 1: Kreuzherren Aachen (Schiff auf Wellen), Taf. 84 Nr. 14: Kanoniker von Köln, Mariengraden 1285. Freundlicher Hinweis von Heinrich Meyer zu Ermgassen, Marburg.

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die vielleicht noch bauliche Reste auf dem Schwemmland in der Lahn kannten, ohne dies besonders zu vermerken. Während ein Kloster auf einer Insel im Fluss noch der Abgeschiedenheit entspricht, die man für die Niederlassung eines Eremitenordens erwartet10, lag der zweite Siedelplatz, wie auch bei anderen Einrichtungen dieser Gemeinschaft zu beobachten11, alles andere als einsam und weltfern, sondern vielmehr an einem der Hauptzugänge nach Limburg - einer großen Stadt mit über 5.000 Einwohnern12 an wichtigen Fernstraßen, die zu dieser Zeit als Zentrum zwischen Westerwald und Taunus am Weg vom Rhein- zum Maingebiet bereits kräftig entwickelt war. Unmittelbar vor dem Inneren Diezer Tor errichteten die Wilhelmiten neue Bauten auf Hofstätten und Gärten, die den Zisterziensern aus Eberbach gehört hatten, wie der Überlieferung des 15. Jahrhunderts zu entnehmen ist: 145713 legten Prior und Konvent des Wilhelmsordens den für das überlassene Gelände zu entrichtenden Geldzins neu fest, den sie jährlich im Erbacher Hof, dem Stadthaus der Mönche aus dem Rheingau, abzuliefern hatten. Die zur Verfügung gestellten Grundstücke befanden sich in Tornähe direkt südöstlich vor der Stadtmauer und dem breiten Wassergraben in jenem Bereich, der durch die fast 1,5 km lange, halbkreisförmig vorgelagerte „Schiede" mit ihrer Wall- und SpitzgrabenAnlage geschützt wurde. Durchlass bot in diesem Abschnitt der Befestigung

10 Zur Geschichte des Ordens Kaspar ELM, Der Wilhelmitenorden. Eine geistliche Gemeinschaft zwischen Eremitenleben, Mönchtum und Mendikantenarmut, in: Vitasfratrum. Beiträge zur Geschichte der Eremiten- und Mendikantenorden des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, hg. von Dieter BERG (Saxonia Franciscana. Beiträge zur Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz 5, 1994) S. 55-66. Mitte des 13. Jahrhunderts handelte es sich „bei den Wilhelmiten ihrer Verfassung nach nicht mehr um eine Gemeinschaft eremitisch lebender Ordensleute, sondern um einen monastisch, teilweise mendikantisch beeinflussten Orden mit grundsätzlich konventionell zönobitären Konventualleben", Kaspar ELM, Die münsterländischen Klöster Groß-Burlo und Klein-Burlo. Ihre Entstehung, Observanz und Stellung in der nordwesteuropäischen Reformbewegung des 15. Jahrhunderts, in: DERS., Mittelalterliches Ordensleben in Westfalen und am Niederrhein (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 27, 1989) S. 87-113, hier S. 93 (Erstdruck: Westfälische Forschungen 18 [1965] S. 23-42).

11 Auf die Lage von Wilhelmitenkonventen vor den Toren mittelalterlicher Städte außerhalb urbaner Zentren, in denen Bettelorden zu finden sind, und auf siedlungsfeme Eremitorien, die zur Frühphase des Ordens im 12. Jahrhundert, nicht aber in die Entstehungszeit des Limburger Klosters im 14. Jahrhundert gehören, verweist Wolf-Heino STRUCK in seiner Rezension zu Kaspar Elms Veröffentlichung „Beiträge zur Geschichte des Wilhelmitenordens", Nassauische Annalen 74 (1963) S. 248 f. 12 Hessischer Städteatlas. Lieferung I, 6: Limburg, bearb. von Ursula BRAASCH-SCHWERSMANN / Holger Thomas GRAF (2005) Textheft S. 24. Siehe hierzu auch die Stadtansicht bei Merian, Abb. 6 im Bildteil des vorliegenden Bandes. 13 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1467 (1457 Juni 25).

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BRÜDER UND SCHWESTERN DER WILHELMITEN

das Äußere Diezer Tor14, das vermutlich mit einem festen Mauerzug gesichert war. In diesem weiträumig umwehrten vorstädtischen Areal fanden die Wilhelmiten nun direkt an der Hauptstraße ihren zweiten Siedelplatz, der ans Zentrum anschloss und keineswegs abseits lag. Auch die Umgebung des Klosters apud portam de Dyze15 war nicht mehr unbebaut, sondern mit etlichen, ganz verschiedenen Objekten besetzt16. Hier befanden sich kleinen Häuschen (domunculas)11, Höfe, Hofstätten, Häuser mit Nutzgebäuden und Gärten18, Scheuern19, mindestens ein Born20, eine Kloake21, Gartenland22, Weinbauflächen23 und Grundstücke mit Tuchrahmen24, zu denen der auf handwerkliches Gewerbe und Stoffproduktion deutende Färbhof25 gehört haben könnte. In dem Bereich vor dem Inneren Diezer Tor gab es zudem Badestuben, 134226 wird ein neues estuarium erwähnt, 138627 ein altes Badehaus. 139228 vermacht ein wohlhabender Kantor des Limburger Georgenstifts seine Badestube an Familienangehörige, 143729 kommt es in der Diele dieses Hauses, in dem ein Ehepaar wohnt, zum Abschluss eines Rechtsgeschäfts mit Halm und Mund. Die Lage von Mendikantenklöstern bzw. in diesem Fall eines Eremitenordens vor den Toren von Städten wird der Schutzfunktion geistlicher Institutionen für die Stadtmauer zugesprochen30, aber auch der Tatsache, dass 14 Städteatlas - Limburg (wie Anm. 12) Textheft S. 33 f. sowie die Karte „Siedlungsentwicklung vom Mittelalter bis 1873/74". 15 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 147a [um 1325]. 16 Ebd. Nr. 1472(1472 Juli 15). 17 Ebd. Nr. 1460 (1328 Juli 6); Nr. 1469 (1464 April 19); Nr. 1462 (1393 Mai 8), Volltext in Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) Nr. 52, S. 145 f. 18 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 345 (1347 April 27); Nr. 473 (1358 [o.T.]); Nr. 713 (1388 Sept. 7); Nr. 796 (1400 April 2); Nr. 1472 (1472 Juli 15); Nr. 1475 (1481 Sept. 1); Nr. 1482 (1491 Dez. 26). 19 Ebd. Nr. 1235 (1483). 20 Ebd. Nr. 1469 (1464 April 19). 21 Ebd. Nr. 647 (1377 April 16). 22 Ebd. Nr. 385 (1350 Aug. 16); Nr. 647 (1377 April 16); Nr. 1470 (1464 Nov. 26). 23 Ebd. Nr. 1484 (1497 Mai 16); S. 663 Nr. 1519 (1437) dritte Zeile von oben. 24 Ebd. Nr. 237 (1336 Mai 16); Nr. 385 (1350 Aug. 16). Zur räumlichen Situation vor dem Diezer Tor Ernst SCHIRMACHER, Limburg an der Lahn. Entstehung und Entwicklung der mittelalterlichen Stadt (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 16, 1963) S. 212-223, Skizze zur Lage der Tuchrahmen S. 222. 25 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1482 (1491 Dez. 26). 26 Ebd. Nr. 301 (1342 Dez. 20). Limburg verfugte über weitere Badestuben an der Lahn, am Hammertor, bei der Synagoge (nicht identisch mit der Mikwe) und auf der Plötze, Städteatlas - Limburg (wie Anm. 12) Textheft S. 58 sowie die Karte „Siedlungsentwicklung vom Mittelalter bis 1873/74". 27 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 704 (1386 Okt. 29). 28 Ebd. Nr. 734 (1392 Jan. 28). 29 Ebd. Nr. 976 (1437 März 6). 30 Arend MINDERMANN, Bettelordenskloster und Stadttopographie. Warum lagen Bettel-

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Stifter hier außerhalb der mehr oder weniger dicht aufgesiedelten Innenbereiche über Besitz verfugten. Die oben bereits erwähnten ungenauen Kenntnisse über die Anfänge der Wilhelmiten in Limburg lassen keine schlüssige Begründung zu. Zu erkennen ist nur, dass sie an einen belebten vorstädtischen Platz umgezogen sind. Ihre Niederlassung bestand aus mehreren Gebäuden, zu denen eine eigene Kirche31 gehörte, an deren Ostseite ein Friedhof32 anschloss. Direkt an die Mauer des Remters stieß eine Hofstatt, über die die Wilhelmiten verfügten und die sie gegen Geldzins verliehen33, wie einem Vertrag zu entnehmen ist, in dem sie sich ausdrücklich das Recht vorbehielten, notfalls den harnburn in Richtung des Grundstücks zu entsorgen. Dem Pächter wurde zugleich untersagt, die Hofstatt zuzubauen oder mit Bäumen voll zu pflanzen, um das Kloster unbehindert zu lassen und ihm nicht das Licht zu nehmen. In enger Nachbarschaft zu der Niederlassung lagen weitere Häuser und Gärten. Wenige Meter nördlich der Kirche stießen zwei kleine Wasserläufe zusammen, deren Leitungssysteme große Stauweiher im Süden mit dem Stadtgraben verbanden und ihn fluteten. Die Namen von Rohrbach34 und Windsbach35 wurden in Limburger Urkunden häufig zur Lokalisierung36 und zur Präzisierung von Ortsangaben für Flurstücke verwendet, und schließlich ist der Windsbach, der fast den gotischen Chor der Annakirche berührte37, durch seine Nähe zur Ordensanlage zu einem Teil ihrer Benennung38 für ihr Haus zu der Wyndespach39 geworden. Zumindest

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ordensklöster am Stadtrand?, in: Könige, Landesherr und Bettelorden. Konflikt und Kooperation in West- und Mitteleuropa bis zur Frühen Neuzeit, hg. von Dieter BERG (Saxonia Franciscana. Beiträge zur Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz 10, 1998) S. 83-103. STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 502 (1362 Sept. 14). Ebd. Nr. 345 (1347 April 27). Zu Skelettfunden und der Entdeckung mittelalterlicher Gräber im Zuge von Bauarbeiten im 19. und 20. Jahrhundert Franz-Karl NIEDER, Das Limburger Hospital und die Annakirche (2005) S. 78 f. Vgl. hierzu auch Abb. 7 im Bildteil dieses Bandes. STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1463 (1395 Juni 21). Ebd. Nr. 237 (1336 Mai 16); Nr. 647 (1377 April 16). Ebd. Nr. 237 (1336 Mai 16). Ebd. Nr. 370 (1349 Okt. 14): Wohnhaus bii der Wyndespach. Städteatlas - Limburg (wie Anm. 12) Karte „Siedlungsentwicklung vom Mittelalter bis 1873/74". Die Flurbezeichnung In der Winzbach findet sich noch in der „Katasterkarte von 1873/74", Städteatlas - Limburg (wie Anm. 12); vgl. Abb. 7 im Bildteil dieses Bandes. Der Wasserlauf des Windsbachs ist spätestens mit der Zuschüttung des Stadtgrabens und dem Abriss der Stadtmauer nach 1818 allmählich verschwunden. Zur Kanalisation und dem noch 1867 in Resten offenen Lauf Heinrich OTTO, Die St. Anna-Kirche zu Limburg a. d. Lahn als Wilhelmiten- und als Hospitals-Kirche. Festgabe zu ihrer Wiederherstellung (1918) S. 6. STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 465 (1358 Juni 21); weitere Varianten u.a. in der Windesbach (Nr. 1461, 1370 März 30), Kloster uf der Windsbach (Nr. 502, 1362 Sept. 14), Wilhelmiten zu der Windespach (Nr. 534, 1365 Aug. 29; Nr. 535, 1365 Sept.

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BRÜDER UND SCHWESTERN DER WILHELMITEN

scheint diese Erklärung für den Namenszusatz schlüssiger als die nicht zu belegende Vermutung, die Limburger Brüder seien aus dem Wilhelmitenkloster Windsbach bei Bacharach 40 nach Limburg entsandt worden und hätten von dort ihre Bezeichnung mitgebracht. Zeitlich vor den Wilhelmiten hatten sich bereits 123241 Franziskaner in Limburg niedergelassen, weitere geistliche Einrichtungen kamen im Mittelalter nicht mehr hinzu. Der „Ordo Fratrum Eremitarum S. Guilielmi" war erst nach der Mitte des 12. Jahrhunderts in Italien aus einer Gemeinschaft Gleichgesinnter hervorgegangen, die ihrem Vorbild nachlebte und sich nach ihm benannte. Der aus einer Adelsfamilie in Frankreich stammende Wilhelm 42 hatte sich, bekehrt und nach mehreren Bußwallfahrten ins Heilige Land sowie nach Santiago de Compostela, zur Sühne einer nicht näher überlieferten Schuld in die Toskana zurückgezogen und lebte bis zu seinem Tod 1157 in Malavalle, einem Gebirgstal oberhalb von Castiglione della Pescaia unweit von Siena, als Einsiedler in strengster Askese und Armut in einer abgelegenen Klause. An seinem Grab entstand aus dem lockeren Verband seiner Schüler 43 ein an der Benediktinerregel, an Zisterziensergewohnheiten und später hinzukommenden eigenen Konstitutionen 44 orientierter päpstlich anerkannter Männerorden, der seit Mitte des 13. Jahrhunderts auch in Deutschland zu finden ist und in diesem Raum zahlenmäßig nicht viele, weit gestreute Niederlassungen hervorbrachte. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts entstanden in der „Provincia in Alimannia superiori" insgesamt knapp über 30 Häuser 45 , die hier - wie in den anderen Provinzen Frankreich (mit Nieder-

15), Wendespecher (Nr. 370, 1349 Okt. 14), zu der Wendespach (Nr. 684, 1382 Juni 14). BECKER, Wilhelmiten-Kloster (wie Anm. 1) S. 303 f. 40 OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 7. Eugen STILLE, Limburg an der Lahn und seine Geschichte (1971). Das Wilhelmitenkloster St. Werner in Winzberg am Windsbach bei Oberdiebach in der Nähe von Bacharach existierte bei Einfuhrung der Reformation Mitte des 16. Jahrhunderts nicht mehr und ist in der Neuzeit verfallen. 41 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1360 (1232). Das Barfußerkloster lag innerhalb des ummauerten Zentrums im Südwesten von Limburg unweit des Hammertors, Städteatlas - Limburg (wie Anm. 12) Karte „Siedlungsentwicklung vom Mittelalter bis 1873/74".

42 Kaspar ELM, Die Wilhelmiten. Ordensleben zwischen Einsamkeit und Stadt, in: Das Wilhelmitenkloster zu Witzenhausen, bearb. von Winfried MOGGE (Witzenhäuser Geschichtsblätter 1, 1998) S. 7-22. 43 Gründungsgeschichte sehr ausfuhrlich bei ELM, Münsterländische Klöster (wie Anm. 10) S. 91-95. 44 Kaspar ELM, Zisterzienser und Wilhelmiten. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte der Zisterzienserkonstitutionen, Citeaux 15 (1964) S. 97-124, 177-202, 273-311. 45 Zu den Anfangen, zur Entwicklung und zur Organisation Kaspar ELM, Der Wilhelmitenorden, in: Die Zisterzienser und Zisterzienserinnen, die Reformierten Bernhardinerinnen, die Trappisten und Trapistinnen und die Wilhelmiten in der Schweiz 2, bearb. Cécile SOMMER-RAMER / Patrick BRAUN (Helvetia sacra 3, 3, 2, 1982) S. 1089-1095; DERS., Die Deutsche Wilhelmitenprovinz, in: ebd. S. 1096-1110, hier S. 1097 f.: Zur deutschen Or-

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landen) und Italien 46 - kein einheitliches Bild zeigen. Während in der Frühphase durchaus abgelegene Gegenden, Ausbaugebiete oder Neuländereien in der Abgeschiedenheit bevorzugt wurden und man in agrarisch geprägten Regionen monastisch-eremitische Lebensformen mit zisterziensischer Prägung findet, gab es daneben bald schon teils übernommene aufgegebene Klöster anderer Kongregationen, teils selbst entwickelte Einrichtungen in oder bei Städten, die offenbar nicht in Widerspruch zur Ausgangssituation des Ordens gerieten und eine hohe Anpassung an städtische Konvente der Franziskaner und Dominikaner zeigen. Hinsichtlich ihrer Aufgaben im Bereich von Predigt und geistlicher Versorgung sowie durch andere Ähnlichkeiten den Mendikanten verwandt, unterschied sich die Eremitengemeinschaft von ihnen nicht zuletzt durch ihre strenge Lebensweise, die den Bettel nicht einschloss. Als die Wilhelmiten zu Beginn des 14. Jahrhunderts nach Limburg kamen, hatte ihr Orden unter mehreren Päpsten bereits verschiedene Entwicklungen erfahren, die bis zu einer zeitweiligen, von Clemens IV. 126647 wieder gelösten Fusion mit den Augustiner-Eremiten gefuhrt hatte und von Innocenz IV. 48 kurz zuvor mit starker Betonung seelsorgerischer Aufgaben nahe an die Bettelorden herangeführt worden war.

II. Die wirtschaftlichen Verhältnisse Mit der Expansion in Gebiete nördlich der Alpen konzentrierten sich die Wilhelmiten bei Gründungen in der letzten Phase ihrer Verbreitung außerhalb von Italien deutlich auf Städte, wie auch das Beispiel ihrer Ansiedlung in Limburg zeigt. Der Güterbesitz und die Einnahmen des Klosters waren densprovinz gehörten Marienpforte bei Waldböckelheim, Gräfinthal bei Blieskastel, Oberried, Marienthal, Tübingen, Bacharach, Worms, Freiburg/Breisgau, Klingnau, Mengen, Mühlbach bei Eppingen, Straßburg, Hagenau, Weißenborn bei Ruhla, Weißensee, Sinnershausen, Witzenhausen, Wasungen, Bedernau, Schönthal, Seemannshausen, Regensburg, Wien, Völkermarkt, Speyer, Limburg, Mainz, Mülverstedt, Orlamünde, Gräfentonna, Freienhagen, Fachingen; ELM, Münsterländische Klöster (wie Anm. 10). Zur Übernahme älterer geistlicher Einrichtungen oder aufgelassener Zisterzienserklöster DERS., Zisterzienser und Wilhelmiten (wie Anm. 44) S. 310. 46 ELM, Wilhelmitenorden (wie Anm. 45) S. 1091 f. Der Prior von Malavalle stand allen Provinzen vor, die sich im vierjährigen Rhythmus zum Generalkapitel versammelten. Jede einzelne Niederlassung wurde wiederum von einem Prior geleitet, der vom Konvent auf Lebenszeit gewählt und vom Provinzial bestätigt werden musste und die Aufgaben eines Abtes wahrnahm. Vor ihm legten die Brüder mit Zustimmung des Provinzials ihre Gelübde ab und gelobten ihm Gehorsam. 47 ELM, Wilhelmitenorden (wie Anm. 45) S. 1090. 48 Ebd. S. 1089. Eine Zusammenstellung der Privilegien zur Förderung der Wilhelmiten durch Innocenz IV. befindet sich in der Bibliothèque municipale von Cambrai/Frankreich.

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BRÜDER UND SCHWESTERN DER WILHELMITEN

bescheiden. Seine Vermögensgrundlage bildeten Schenkungen. Es erhielt Getreidezinse49, Naturalleistungen wie Fastnachtshühner50, Weindeputate, Erträge aus Rebgärten, verpachteten Weinländereien51 und Gartenstücken52, hinzu kamen Mieteinnahmen53 und Geldeinkünfte54 aus Häusern am Limburger Rossmarkt55, in der Milchgasse 56 , am Heumarkt57 und an anderen Stellen in der Innenstadt58. Auf manchen Objekten ruhten Auflagen wie Baubesserung59. Nur wenige Besitzungen lagen verstreut in der Umgebung60. Die meisten Liegenschaften haben die Wilhelmiten gegen jährliche Geldzahlungen oder Fruchtgefälle verliehen61 und nicht selbst bewirtschaftet. Die Zuwendungen zur Sicherstellung der materiellen Existenz stammten aus Schenkungen, selten vom Adel 62 , meist von Limburger Bürgern, aus Seel-

49 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 431 (1354 Okt. 20); Nr. 535 (1365 Sept. 15); Nr. 619 (1373 April 12); Nr. 688 (1382 Okt. 27); Nr. 1035 (1447 Juli 1); Nr. 1378 (1372 Okt. 27), Volltext in Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 124 f. Nr. 8. 50 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 734 (1392 Jan. 28). 51 Ebd. Nr. 870 (1409 [o.T.]); Nr. 990 (1441 [April 6]), ein Fass Rotwein; Nr. 1312 (1494 Aug. 12); Nr. 1466 (1453 Jan. 17). 52 Ebd. Nr. 1537 (1483 Feb. 17). 53 Ebd. Nr. 405 (1351 Nov. 11); Nr. 535 (1365 Sept. 15); Nr. 1461 (1370 März 30), Volltext in Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 119 f. Nr. 1, u.a. Geld für eine Essensspende in die Küche des Wilhelmitenklosters. 54 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 147a [um 1325]; Nr. 592 (1370 Mai 31); Nr. 734 (1392 Jan. 28); Nr. 824 (1404 März 29); Nr. 1408 (1458 Dez. 30); Nr. 1460 (1328 Juli 6); Nr. 600 (1371 April 20), Volltext in Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 120-122 Nr. 4, hier S. 121. STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 684 (1382 Juni 14), Volltext in Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 132 Nr. 21. 55 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 647 (1377 April 16). 56 Ebd. Nr. 686 (1382 Sept. 28), Volltext in Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 133 Nr. 22. 57 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1464 (1431 Juni 15); Nr. 1465 (1433 Aug. 16). 58 Ebd. Nr.704 (1386 Okt. 29); Nr. 796 (1400 April 2); Nr. 1461 (1370 März 30), Volltext in Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 119 f. Nr. 1 59 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1464 (1431 Juni 15): Die Wilhelmiten erhielten von einer Limburger Bürgerin als Seelgerätstiftung ein Haus am Heumarkt gegen die Zusage, dort einen Gewölbekeller zu errichten. Diese Baulast übertrugen Prior und Konvent an das Ehepaar, dem sie das Haus zwei Jahre später verpachteten, ebd. Nr. 1465 (1433 Aug. 16). 60 Ebd. Nr. 1478 (1488 Sept. 23): Schenkung eines kleinen Gutes mit Landzubehör in Oberweyer bei Ordenseintritt des Friedrich von Hoenberg durch seinen Onkel, Junker Diethart von Hoenberg, aus dessen Eigenbesitz. Ebd. Nr. 1485 (1500 Okt. 28): Hof und Güter in Offheim. 61 Ebd. Nr. 1482 (1491 Dez. 26); Nr. 1484 (1497 Mai 16); Nr. 1485 (1500 Okt. 28). 62 Ebd. Nr. 870 (1409 [o.T.]).

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gerätstiftungen 63 und Testamenten 64 , durch die auch Realien wie ein Bett und ein Kissen 65 an den Orden gelangten. Die Brüder haben nur sehr wenig Besitz durch Ankauf erworben 66 , dafür scheint ihr Vermögen nicht ausgereicht zu haben. Auf angespannte finanzielle Verhältnisse deutet die Bemerkung in einer Urkunde von 1487. Prior und Konvent hatten wegen der armudt und geprestens67 des Klosters i486 68 von den Junkern Hans und Diethart von Hoenberg das Präsentationsrecht der Kapelle sowie das Benefizium des hl. Servatius in dem 4 km nördlich von Limburg gelegenen Dorf Offheim erhalten. Für diese Schenkung, zu der ein Hof mit etwa 50 Morgen gehörte 69 , verpflichteten sich die Geistlichen zu einem Jahrgedächtnis für die Stifter und ihre Angehörigen in der Limburger Niederlassung. Die Zuwendung könnte im Zusammenhang mit einem vielleicht schon zu dieser Zeit geplanten Ordenseintritt stehen, der die Familie auf das engste mit den Wilhelmiten verband. 148870 wurde Friedrich, Sohn des inzwischen verstorbenen Hans von Hoenberg, von seinem Onkel Diethart in das Kloster gegeben und bekam bei seiner Aufnahme einen kleinen Hof und Güter mit Geldzinsen aus verstreut liegenden Äckern, Wiesen und Gärten in Oberweyer 71 als Ausstattung. Die Einnahmen aus diesem Besitz sollten nicht nur für Friedrichs lebenslange Kost und Kleidung verwendet werden, sondern auch für weitere Messen und Gebetsleistungen für die von Hoenberg. Hier wie an anderen Stellen72 wird der Rat der Stadt Limburg als Vormund und Pfleger des Klosters erwähnt, der die sorgfaltige Einhaltung der von den Brüdern übernommenen Pflichten kontrollieren sollte.

63 Ebd. Nr. 619 (1373 April 12); Nr. 684 (1382 Juni 14), Volltext in Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 132 Nr. 21. 64 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 688 (1382 Okt. 27). 65 Ebd. Nr. 258 (1338 Feb. 3). 66 Ebd. Nr. 1469 (1464 April 19): Prior und Brüder kaufen ein Häuschen in der Borngasse vor dem Diezer Tor. 67 Ebd. Nr. 1477 (1487 Nov. 3). 68 Wolf-Heino STRUCK, Quellen zur Geschichte der Klöster und Stifte im Gebiet der mittleren Lahn bis zum Ausgang des Mittelalters 4: Das Johanniterhaus Pfannstiel und die Klöster Seligenstatt und Walsdorf. Regesten 1156-1634 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 12, 4, 1962) Nr. 2020, 1486 [o.T.]. 69 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1485 (1500 Okt. 28): Prior Johanns Adeller gibt zusammen mit den Konventualen Wigand Molitor, Friedrich von Hoenberg, Johannes Rosendael und Konrad Usingen den sog. Kapellenhof in Offheim zu Erbleihe an drei Pächter, die die jährlich fallige Korngült in das Kloster nach Limburg liefern sollten. Eine erhaltene Güterliste verzeichnet die einzelnen Flächen und die darauf lastenden Abgaben parzellengenau, ebd. Nr. 1486, [1500 Okt. 28], 70 Ebd. Nr. 1478 (1488 Sept. 23). 71 Das Dorf Oberweyer liegt 8 km nördlich von Limburg. 72 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1467 (1457 Juni 25): Die Limburger Schöffen Johann von Siegen und Henne Gile siegeln als Vormünder des Klosters.

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BRÜDER UND SCHWESTERN DER WILHELMITEN

III. Der Limburger Konvent und seine Aufgaben - die Jakobsbruderschaft Geleitet wurde die Niederlassung in Limburg, wie bei den Wilhelmiten üblich, von einem Prior. 132873 wird mit Konrad erstmals ein Vorsteher des Konvents namentlich erwähnt, seine Mitbrüder74 bleiben fast immer anonym, so dass die tatsächliche Größe der Gemeinschaft nicht ermittelt werden kann. Bis zu acht Mitglieder finden sich gleichzeitig in einer Urkunde75. 149776 und 150077 werden fünf Ordensangehörige genannt, doch sagen diese Zahlen nur etwas über die Mindestgröße des Konvents aus, dem Konverse wie jener Nikolaus78 angehören konnten, der in einer Streitsache des Limburger Georgenstifts als Zeuge auftrat. Eher zufällig ist auch Bruder Johann Snelhart79 überliefert. 1511 tritt Johannes von Cleeburg in den Orden ein80.

73 Ebd. Nr. 1460 (1328 Juli 6). Weitere namentlich bekannte Priore: 1395 Johann Meier, Nr. 1463 (1395 Juni 21.); 1433 und 1453 Johannes Greffendoyle, Nr. 1465 (1433 Aug. 16) und Nr. 1466 (1453 Jan. 17). 1467 und wohl auch 1478 Engelbrecht, Nr. 1471 (1467 April 22) und Nr. 1473 (1478 Feb. 17). Johannes Ailbach, Nr. 1479 (1488 Sept. 23). Ende 15. Jahrhundert Ruland von Witzenhausen (vielleicht aus dem Wilhelmitenkloster in Witzenhausen?), Wolf-Heino STRUCK, Quellen zur Geschichte der Klöster und Stifte im Gebiet der mittleren Lahn bis zum Ausgang des Mittelalters 5, 2: Rechnungen und Register (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 12, 5, 2, 1984) S. 275 Nr. 43. 1497, 1500 Johannes Adeller (Aquile), STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1484 (1497 Mai 16) und Nr. 1485 (1500 Okt. 28). 1509, 1511 Peter von Düren, Angelika DÖRFLER-DLERKEN, Wunderheilungen durch das Limburger Annenheiltum. Mit Edition einer Abschrift des Mirakelbuches von 1511 in der Stadtbibliothek Trier, Kurtrierisches Jb. 31 (1991) S. 83-107, hier S. 87, S. 92 Anm. 27 et passim. 74 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1461 (1370 März 30). Weitere Nennungen von Prior und Konvent ohne Erwähnung einzelner Namen: ebd. Nr. 1464 (1431 Juni 15); Nr. 1467 (1457 Juni 25); Nr. 1468 (1461 Feb. 4). 75 Ebd. Nr. 1477 (1487 Nov. 3). 76 Ebd. Nr. 1484 (1497 Mai 16): Prior Johannes Adeller (Aquile) sowie die Konventualen Johannes Mainzer (wohl identisch mit dem 1467 erwähnten Bruder, ebd. Nr. 1471, 1467 April 22), Ewald, Wigand (eventuell identisch mit dem 1500 erwähnten Wigand Molitor) und Friedrich (eventuell identisch mit dem 1500 erwähnten, 1488 in den Orden aufgenommenen Friedrich von Hoenberg). Ebd. Nr. 1485 (1500 Okt. 28): Prior Johannes Adeller (Aqile), Wigand Molitor, Friedrich von Hoenberg, Johannes Rosendael und Konrad Usingen. 77 Ebd. Nr. 1485 (1500 Okt. 28). 78 Ebd. Nr. 489 (nach 1360 Feb. 20); Nr. 1469 (1464 April 19); Nr. 1470 (1464 Nov. 26). STRUCK, Klöster und Stifte 5, 2 (wie Anm. 73) S. 246 Nr. 43 (vor 1470). 79 Wolf-Heino STRUCK, Quellen zur Geschichte der Klöster und Stifte im Gebiet der mittleren Lahn bis zum Ausgang des Mittelalters 3: Die Klöster Bärbach, Beselich, Dirstein und Gnadenthal, das Johanniterhaus Eschenau und die Klause Fachingen. Regesten [vor 1153] 1634 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 12, 3, 1961) S. 508 Nr. 954 (1380-1381): Zinsbuch des Zisterzienserinnenklosters Gnadenthal. 80 OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 19.

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Mehrfach erwähnen die Kellereirechnungen des Georgenstifts von 1492 bis 1500 Zahlungen an den Konventsherrn Wilhelm aus dem Haus in der Windsbach pro ligatura libri, der sich nicht nur besonders auf Bücher verstand, sondern auch die Reparatur von Monstranzen und anderen liturgische Gefäßen ausführte und mit seinen Fertigkeiten Geld für sein Kloster verdiente 81 . Auf eine Schule, in der die eigenen Ordensmitglieder unterrichtet wurden, weist die Bemerkung bei der Aufnahme des jungen Friedrich von Hoenberg hin, der dem Konvent ausdrücklich auch zur Ausbildung übergeben wurde 82 . Eine der Hauptaufgaben der Limburger Wilhelmiten lag in der Seelsorge. Täglich waren neben den in ihren eigenen Vorschriften vorgesehenen Gottesdiensten zahlreiche Messen für lebende und verstorbene Stifter sowie für deren Angehörige in Erfüllung etlicher Testamente zu lesen und Gebetspflichten einzuhalten, für die den Geistlichen Einnahmen aus den Schenkungen zustanden 83 . Sie hatten, je nach Höhe und Art der urkundlich festgehaltenen Vereinbarung, auf Dauer an vorgeschriebenen Tagen zu genauen Zeiten das Totengedächtnis mit Vigilie, Sing- und Lesemessen 84 an den Altären 85 in ihrer Kirche zu pflegen. 1517 haben Prior und Konvent eine Schenkung des Friedrich von Dehrn mit der Auflage entgegengenommen, im dortigen Gotteshaus an bestimmten Festtagen und mehrmals in der Woche Messe zu lesen 86 . Zudem waren sie verpflichtet, in der Kapelle auf der Lahnbrücke für die Insassen des Hospitals in der Limburger Vorstadt Gottesdienst zu halten 87 . Eine größere und ebenfalls langfristige Aufgabe übernahmen sie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. 146788 traf Prior Engelbrecht im Beisein der Konventualen Johann von Mainz und Johann Zimmermann mit zwei Limburgern detaillierte Vereinbarungen für die von Bürgern der Stadt gegründete Jakobsbruderschaft 89 , bei der es sich nicht um eine Pilger81

STRUCK, Klöster und Stifte 5, 2 (wie Anm. 73) S. 123 Nr. 32 (1492): Dominus Wigandus in claustro sancti Wilhelmi. S. 150 Nr. 34 (1493): I ß . dominus Wigando pro ligatura libri. S. 170 Nr. 37 (1496): 1 fl. aureum dorn. Wigando pro ligaturis librorum. S. 178 Nr. 38 (1497): 1/2 ß. dominus Wigando in der Winspach pro ligatura librorum. S. 185 Nr. 39 (1498): Dom. Wigando in der Winßbach 12h., den grossen coppe zu reformern. S. 196 Nr. 41 (1500): Dom. Wigando in der Winspach 11 alb. pro reformacione minstrancie. Nr. 41, S. 198, 1500: Dom. Wigando in der Winspach 7 tn. pro reformacione maioris cope.

82 83 84 85 86 87 88 89

STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1479 (1488 Sept. 23). Ebd. Nr. 719 (1389 März 27). Ebd. Nr. 1473 (1478 Feb. 17); Nr. 1477 (1487 Nov. 3). Ebd. Nr. 1470 (1464 Nov. 26). OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 17. Ebd. STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1471 (1467 April 22). Jakobsbruderschaften sind eine häufig zu findende, typische Form religiösen Lebens in mittelalterlichen Städten. Zu ihren definierten Aufgaben und Zielen im kirchlichen Bereich

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B R Ü D E R U N D SCHWESTERN DER WILHELMITEN

gruppierung zur Durchfuhrung von Wallfahrten nach Santiago handelte, sondern um einen Zusammenschluss von Bürgern zu einer Gebets- und Begräbnisgemeinschaft mit religiösen Zielen. Die Niederschrift der Abmachung mit den Wilhelmiten fertigte der als Stadtschreiber und Notar in Limburg tätige Johannes Fegebudel 90 aus. Die beiden Büchsenmeister und Vormünder sowie weitere Laienbrüder der Vereinigung, deren Namen in einem Register notiert worden sind, legten zusammen mit den Vertretern des Ordens die Rechte und Pflichten der Beteiligten fest. Sofern ein Bruder oder eine Schwester den Wunsch hätte, im Kloster beigesetzt zu werden, sollten die Konventsbrüder den Leichnam vor ihrer Niederlassung entgegennehmen und in ihrer Kirche feierlich in einem Erdgrab bestatten. Als Begräbnisort wurde der Platz links im Gottesraum ausgemacht, genau in dem Bereich zwischen der Haupteingangstür, der Mauer und dem Weihwasserbecken in der Mittelmauer. Prior und Konvent gaben die Zusage, an festgelegten Tagen Morgenmessen am Altar der 12 Apostel für die Jakobsbruderschaft abzuhalten und das Gedächtnis für die lebenden und verstorbenen Mitglieder zu begehen. Für die Angehörigen der Gemeinschaft bestand Präsenzpflicht, wer den Gottesdienst ohne Not versäumte, musste zur Buße eine Flasche Wein geben. Besondere Feierlichkeiten waren am 25. Juli, dem Tag des hl. Jakob, vorgesehen, Prior und Konvent sollten die Messe wiederum am Altar der 12 Apostel zelebrieren, dieses Mal mit Orgelbegleitung. Alle zur Bruderschaft Zählenden wurden namentlich von der Kanzel verlesen. Abwesenheit stand unter Strafe, die auch hier bei einer Flasche Wein lag. Im Anschluss an den Kirchgang fand ein gemeinsamer, von den Büchsenmeistern bestellter Imbiss im Kloster statt. Weitere Verfügungen betrafen das tadellose Verhalten, disziplinierte Beteiligung an den Aktivitäten der Gemeinschaft sowie Regelungen über die Abgabe von Opfergeld, Wachs und Wein, differenziert nach Pflichten für Männer und Frauen aus Limburg und jenen, die nicht am Ort wohnten, demnach aber auch Mitglied der Bruderschaft werden konnten. Wer in diese Gemeinschaft eintreten wollte, musste vor der Aufnahme dem Prior und den beiden Büchsenmeistern ein Handgelöbnis leisten und versprechen, die Vorschriften einzuhalten. Der Konvent erhielt alle Einnahmen aus den Strafzahlungen bei Verstößen, sowohl Wachs für die Beleuchtung als auch Wein und Bußgelder für ihr Kloster. Zu den bisher erwähnten

gehörten die Pflege der Memoria, die Organisation von Begräbnissen für die Mitglieder, die Durchfuhrung von Prozessionen und Gemeinschaft stiftenden Veranstaltungen. Von den Eintretenden wurde diszipliniertes Verhalten nach mehr oder weniger stark geregelten Vorschriften verlangt. Klaus MLLITZER, Bruderschaften als Ausdruck der Volksfrömmigkeit. Das Beispiel Goslar, Niedersächsisches Jb. für Landesgeschichte 77 (2005) S. 131149; Bürgerschaft und Kirche, hg. von Jürgen SYDOW (Stadt in der Geschichte 7, 1980). 90 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1471 (1467 April 22), hier S. 644 zu Fegebudel.

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Pflichten der Wilhelmiten gehörte die Begleitung der Bruderschaft bei Prozessionen, die in ordentlicher Aufstellung um die Stadt Limburg und bis nach Dietkirchen 91 oder Dierstein 92 führten. Die Brüder und Schwestern schufen für ihren Zusammenschluss durch Ankäufe eine finanzielle Grundlage und ein von den Vormündern verwaltetes Vermögen 93 , das der Gemeinschaft und den Wilhelmiten zugute kommen sollte. Das Gotteshaus der Ordensbrüder zur Windsbach vor dem Diezer Tor gehörte zu jenen Stationen, die bei Prozessionen durch Limburg aufgesucht wurden. Der Stiftsdechant Johannes Mechtel 94 erwähnt in seiner 1610 bis 1612 niedergeschriebenen Chronik eine seiner Auskunft zufolge noch 1562 abgehaltene und jährlich stattfindende, angeblich vom Trierer Erzbischof Eckbert von Holland (977-993) eingeführte processio nigra ad 7 tempia mit den Stationen Stiftskirche St. Georg, St. Peter in castro (Peterskapelle auf der Burg), St. Laurentius im Osten der Stadt auf dem Roßmarkt, St. Sebastian im Franziskanerkloster, Wilhelmitenkirche, Kapelle St. Johannis im Erbacher Hof an der Lahn und Heilig-Geist-Kapelle 95 in der Brückenvorstadt. Auch bei anderen Umzügen, im Zusammenhang mit der Pest und Geißlerprozessionen, die 1349 nach Limburg und durch die Stadt führten, dürfe das Gotteshaus am Diezer Tor aufgesucht worden sein 96 .

IV. Die Kirche des Wilhelmitenklosters und ihre Medaillonfenster Durch die genauen Bestattungsvorschriften für die Mitglieder der Jakobsbruderschaft und durch andere, verstreute Angaben liegen Hinweise auf die 91 In Dietkirchen, ca. 3 km nördlich von Limburg, liegt die Stiftskirche mit den Gebeinen des hl. Lubentius. 92 Heute Oranienstein, ca. 4 km westlich von Limburg. Die Prozession dürfte zu dem Kloster der Benediktinerinnen bzw. zur Kirche Johannes des Täufers gefuhrt haben. 93 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1474 (1478 Nov. 24); Nr. 1476 (1483 [o.T.]) 94 Johannes Mechtel, Die Limburger Chronik, hg. Karl KNETSCH (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 6, 1909) S. 60 f. Anm. 4. Gerhard KLEINFELDT / Hans WEIRICH, Die mittelalterliche Kirchenorganisation im oberhessisch-nassauischen Raum (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 16, 1937, 2 1984) S. 146 f. STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) S. XLIII. Die „Schwarze Prozession" zu den sieben Kirchen und Kapellen in Limburg fand am Freitag der dritten Woche nach Ostern und dem Sonntag Misericordia domini statt, die „Weiße Prozession" in der Osterwoche. 95 Johann Georg FUCHS, Die früheren Kapellen der Limburger Brückenvorstadt, Nassauische Annalen 118 (2007) S. 67-108, hier S. 77-86, zur Prozession und ihrem Verlaufs. 79 mit Anm. 72. 96 Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 31-34.

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Ausstattung und die Gestalt im Innenraum der Ordenskirche vor. Das Weihwasserbecken und die Orgel97 wurden bereits erwähnt. Das Instrument hatte Mitte des 15. Jahrhunderts Kosten verursacht: 146198 verliehen Prior und Konvent dem Orgelbaumeister Wigand Sulzbacher und seinen Erben als Lohn für seine Arbeit eine Hofstatt vor dem Kloster. In der Kirche standen mehrere Altäre: der Altar des hl. Wilhelm99, der Altar der 12 Apostel 100 sowie in einer Abseite der Heilig-Kreuz-Altar101 mit vorhängender Ampel, zu deren Beleuchtung Gläubige Öl stifteten102. Im östlichen Chor befindet sich noch heute im Mittelteil des achteckigen Abschlusses zwischen vermutlich verlorenen, ebenfalls prächtigen Fenstern103 eine über 6 Meter hohe hervorragende Glasmalerei aus der Zeit bald nach der Mitte des 14. Jahrhunderts104 mit achtzehn Szenen aus dem Neuen Testament von der Verkündigung bis zum Pfingstwunder105. Die qualitätvollen Medaillons in Vierpässen auf rot-

97 98 99

STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1471 (1467 April 22). Ebd. Nr. 1468 (1461 Feb. 4). Ebd. Nr. 1470 (1464 Nov. 26). Johannes Mechtel, Limburger Chronik (wie Anm. 94) S. 60f. Anm. 4: Mechtels Notiz zufolge war die Kirche dem hl. Wilhelm geweiht. Das Haupt des Ordensgründers Wilhelm soll im 13. Jahrhundert in das Kloster der Dominikaner nach Frankfurt am Main gekommen sein, die die Reliquie 1479 dem Wilhelmitenkloster in Düren überließen, von wo aus sie Mitte des 16. Jahrhunderts nach Antwerpen gelangte, NIEDER, Limburger Hospital (wie Anm. 32) S. 61; OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 9. 100 STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1471 (1467 April 22). 101 Ebd. Nr. 796 (1400 April 2); Nr. 1470 (1464 Nov. 26). 102 Ebd. Nr. 1473 (1478 Feb. 17). 103 Heinrich OLDTMANN, Die rheinischen Glasmalereien vom 12. bis zum 16. Jahrhundert 1 (Preis-Schriften der Mevissenstiftung, 1912) S. 124; Christa WILLE, Die figürliche Glasmalerei des 14. Jahrhunderts aus dem hessischen Raum. Textband und Katalogband (Diss. masch. Mainz 1952), hier Textband S. 104; NIEDER, Limburger Hospital (wie Anm. 32) S. 93: Schon 1739 ist nur von einem großen Fenster die Rede gewesen; ebd. S. 94-97: Nieder weist, wie Oidtmann (S. 121), auf vier Einzelscheiben und ein Fragment hin, die sich im Diözesanmuseum Limburg befinden und von der Kunstgeschichte aufgrund stilistischer Merkmale, der Kleidung der Figuren und der Art der Darstellung profaner Personen in das 14. Jahrhundert datiert werden. Vielleicht haben sie einst in die Seitenfenster im Chor der Annakirche gehört, sie enthalten folgende Motive: „Erschaffung der Tiere", 5. und 6. Schöpfungstag; „Kreuzigung Christ", „Johannes der Evangelist", „Wappenscheibe der Familie Boppe", „Fragmentscheibe HVSN". 104 Daniel HESS, Die mittelalterlichen Glasmalereien in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet (Corpus vitrearum medii aevi. Deutschland 3, 2, 1999) S. 42. Die Zusammenstellung der Argumente zum Alter der Fragmente und zu ihrer Platzierung findet sich bei NIEDER, Limburger Hospital (wie Anm. 32) S. 80 f. 105 Die Datierung der Glasmalereien in der Annakirche leitet sich aus stilistischen Elementen und aus den' historischen Zusammenhängen ab, die sich aus den Stifterwappen erschließen lassen, WILLE, Glasmalerei (wie Anm. 103) Textband S. 92. - Das mittelalterliche Fenster im Hauptchor ist 6,20 m hoch und 1,80 m breit. Die einzelnen Scheiben messen 51 cm in der Breite sowie 63 cm in der Höhe, ausgenommen die oberen drei Medaillons mit 78 cm Höhe, DIES., Glasmalerei (wie Anm. 103) Katalogband S. 64. Alle

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blau-grünem Teppichgrund mit einheitlichem Rautenmuster in den Farben der Trinität teilen sich in drei Bahnen 106 : Links unter dem Brustbild der Maria sieht man von unten aufsteigend die Kindheit Christi (Verkündigung an Maria, Heimsuchung, Geburt Christi, Anbetung der Könige, Darbringung im Tempel, Taufe Christi). In der Mitte steht die Passion von der Leidensgeschichte bis zur Grablegung mit Bildern Christus vor Herodes, Geißelung, Kreuztragung, Kreuzigung, Kreuzabnahme und Einbettung in einen Sarkophag unter dem Brustbild mit Christuskopf. Die rechte Seite, bei der Johannes den Abschluss bildet, ist der Auferstehung bis zur Sendung des hl. Geistes vorbehalten, wieder von unten beginnend in der Reihenfolge Christus in der Vorhölle, Christus erscheint der Maria Magdalena, Jesus und der ungläubige Thomas, Christus lehrt die Jünger, Himmelfahrt, Pflngstfest. Das künstlerisch sorgfältig ausgeführte Fenster wurde von vier Limburger Schöffenfamilien gestiftet, deren Wappen im gotischen Maßwerk je in einem Dreipass, ergänzt durch zwei Ornamentscheiben mit hellen Ästen und grünen und gelben Blättern über den Bibel-Motiven stehen 107 . Die Namen der Patrizier, die zu den fuhrenden Geschlechtern 108 in der Stadt gehörten, sind zwar nicht notiert, können aber durch Siegelvergleich erschlossen werden und waren den damaligen Betrachtern aufgrund der dargestellten Zeichen bekannt. Im Stifterfenster befindet sich in der Mitte oben das Wappen der Familie von Holzhausen, es zeigt ein H mit gelber Krone auf hellem Schild in gelbem Kreis 109 . Gleich darunter weist ein doppelköpfiger Adler auf die von Eschenau 110 . Seitlich versetzt daneben, über der linken Bahn mit Medaillons, stehen zwei schräg gekreuzte, gestürzte Schwerter mit einer Lilienblüte auf hellem Schild in gelbem Kreis für die Borgenit 111 oder Mulich 112 . Auf der

106

107 108

109 110 111 112

Brustbilder sind 48 cm hoch und 51 cm breit. - Schwarzweiße Abbildungen des Gesamtfensters in NIEDER, Limburger Hospital (wie Anm. 32) S. 82, OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) nach S. 8. Detail mit Stifterwappen in STILLE, Limburg (wie Anm. 40) nach S. 96 Abb. V. Zu Restaurierungen des Fensters vom 18. bis 20. Jahrhundert, das nicht mehr die Originalreihenfolge der Christus-Szenen zeigt, und zur Farbigkeit vgl. WILLE, Glasmalerei (wie Anm. 103) Katalogband S. 64-76; NIEDER, Limburger Hospital (wie Anm. 32) S. 83-93. NIEDER, Limburger Hospital (wie Anm. 32) S. 87 f. Die Familien sind in Limburger Urkunden vielfach belegt, STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Register: Borgenit (S. 712), Eschenauer (S. 730), Holzhausen (S. 752), Mulich (S. 808), Nauheim (S. 810). Gleiches Siegelmotiv ebd. Nr. 696 (1384 Sept. 14); Nr. 728 (1391 Jan. 2). Zum Vergleich der Stifterwappen und Siegel auch WILLE, Glasmalerei (wie Anm. 103) S. 176 f. Gleiches Siegelmotiv STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 764 (1396 Feb. 17); Nr. 935 (1426 Feb. 3). Gleiches Siegelmotiv ebd. Nr. 463 (1358 April 24): gekreuzte, gestürzte Schwerter, dazwischen fiinfblättrige Rose. Gleiches Siegelmotiv ebd. Nr. 117 (1317 Feb. 1); Nr. 571 (1368 Dez. 31).

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rechten Seite, über dem Kopf des Johannes, ist das Wappen der von Nauheim113 mit drei Sparren auf gelbem Schild in rotem Kreis eingelassen. Alle Zeichen finden sich auch bei Johannes Mechtel in seiner Skizze mit den graphischen Darstellungen für 20 Limburger Geschlechter114: Ein Adler mit Helm für Eschnauw, das bekrönte, unziale H für Holtzhusen, gestürtzte Schwerter für Mulig, drei Sparren für Hartleib von Nauheim. Angehörige eben dieser Familien waren 1374115 an dem Weistum der Schöffen von Limburg an der Gerichtsverhandlung mit dem Erzbischof von Trier Kuno von Falkenstein, dem Erzbischof von Köln Friedrich von Saarweden, Graf Johann von Limburg sowie Adligen der Umgebung beteiligt, bei der es den Vertretern der Stadt aus den führenden Geschlechtern erfolgreich gelang, ihre Rechte gegenüber den Ansprüchen der geistlichen und weltlichen Prozessgegner zu wahren. Ob die Bürger aus Dankbarkeit über den günstigen Ausgang dieser schwierigen Angelegenheit das Fenster für die Kirche des Wilhelmitenklosters gestiftet haben oder was sie bewogen haben mag, ihre Wappen gemeinsam in das Maßwerk im Chorraum einbringen zu lassen, bleibt offen. Erste Reparaturen am gesamten Fenster sind aus dem 18. Jahrhundert belegt - die Kirche gehörte seit dem Ende des Wilhelmitenklosters und der neuen Nutzung der Gebäude ab 1573 zum städtischen Hospital. Weitere Arbeiten und Restaurierungen, bei denen die richtige Reihenfolge der Szenen vertauscht wurden, folgten bis in die jüngste Zeit, die letzte Reinigung und Sicherung fand 1979116 statt. Schon 1906 berichtete Heinrich Oidtmann117 von der Notwendigkeit „schleunigster Instandsetzung" bei „sehr gefährdetem Zustande" aufgrund „unglaublicher Verwahrlosung"118. Der Sachverständige sah die Szenen im Chor in Gefahr: „Im übrigen war das Glas derart mit einer Schmutzkruste bedeckt, daß man beim besten Willen von der vielgepriesenen Farbenpracht alter Glasmalerei keine Spur zu entdecken mochte [...] Nicht einmal als Ruine durfte man diese Glasfenster malerisch nennen"119. „Ein Sturm würde genügt haben, das herrliche Fenster-

113 Gleiches Siegelmotiv ebd. Nr. 694 (1384 März 26): Zackenbalken im Dreiecksschild. 114 Johannes Mechtel, Limburger Chronik (wie Anm. 94) nach S. 254. Vgl. hierzu Abb. 8 im Bildteil des vorliegenden Bandes. 115 Tilemann Elhen von Wolfhagen, Limburger Chronik (wie Anm. 3) S. 68-70, 1374 Juni 5, Johann von Nauheim, Marquart Borgenit, Helwig von Holzhausen, Johann Mulich. 116 Pressemitteilung der Nassauischen Landeszeitung vom 24. Okt. 1979. 117 Die Familie Oidtmann betreibt seit 1857 bis heute in Linnich eine Werkstätte für Glasmalerei und Restaurierung, die zu den fuhrenden Fachbetrieben in der Herstellung, Pflege und Erforschung künstlerischer Verglasung zählt. 118 NIEDER, Limburger Hospital (wie Anm. 32) S. 90 f.; Heinrich OIDTMANN, Die Glasgemälde der Hospitalkirche zu Limburg an der Lahn, Zs. für christliche Kunst 19 (1906) Sp. 257-276.

119

OIDTMANN, Glasgemälde ( w i e A n m . 118) Sp. 258.

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mosaik gänzlicher Vernichtung zu überantworten" 120 . Der Chor der Wilhelmitenkirche wurde im März 1945 kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs schwer beschädigt, doch das Bibelfenster überdauerte die Bombardierung in vier Kisten in der unteren Sakristei des Limburger Domes 121 . Die künstlerischen Arbeiten im Gotteshaus vor dem Diezer Tor gehören zu Spitzengruppe 122 mittelalterlicher Glasmalereien im heute hessischen Raum, sie besitzen hohe Qualität und werden in ihrer Bedeutung mit den Medaillons zum Leben der hl. Elisabeth in ihrer Marburger Kirche und mit dem Christuszyklus in Frankenberg an der Eder verglichen. Fast wären sie dem gotischen Chor schon im 19. Jahrhundert verlorengegangen. Im Juni 1823123 berichtet Amtmann Justizrat Grüsing dem Limburger Stadtpfarrer Corden nach einer Reise in den Rheingau, dass Geheimrat Freiherr von Zwierlein gezielt Glasmalereien aufkaufe, um den Gartensaal seines Anwesens in Geisenheim nach gotischer Bauart auszuschmücken und zu verschönern. Eine Veräußerung war aus Glüsings Sicht sinnvoll, da: „1. das Fenster ganz durch den Altar verdeckt ist, 2. dasselbe schon sehr ruiniert sei und jeden Tag mehr verfalle, 3. dem Hospital das Geld nützlicher als das durchlöcherte Fenster ist, 4. die Glasmalerei dadurch erhalten werde, daß es an einen Ort komme, wo es konserviert werde" 124 . Im Oktober des Jahres 125 lehnt die Herzogliche Landesregierung durch ihren Präsidenten Möller den vom übergeordneten Staatsministerium vorgesehenen Verkauf der Glasgemälde aus der ehemaligen Wilhelmiten- und jetzigen Hospitalkirche an Freiherrn von Zwierlein ab und sprach sich zugleich gegen die Überlassung der Fenster aus der Kirche in Kirberg aus, die der Sammler ebenfalls erwerben wollte. Die Argumentation zeigt unter anderem auch erste denkmalschützerische Überlegungen: Für die Erhaltung der Kunstwerke im Herzogtum sei besser gesorgt, wenn sie in der Toten Hand und in öffentlichen Gebäuden blieben, da Kunstgegenstände im Privateigentum öfters den Besitzer wechselten, was über kurz oder lang zu deren Zerstörung führe, je nachdem ob der Eigentümer ein Kunstfreund sei oder nur finanziellen Gewinn suche. Zudem könne eine Veräußerung unter der Hand nicht genehmigt werden, da ein solches Vorgehen gegen die Verwaltungsvorschriften verstieße und sich in der Zwischenzeit weitere Interessenten gemel-

120 121 122 123 124

OLDTMANN, Glasmalereien (wie Anm. 103) S. 120-124, Zitat S. 120. NIEDER, Limburger Hospital (wie Anm. 32) S. 91. Ebd. S. 80. Ebd. S. 89 f.; OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 8 Anm. 1 unten. Pfarrarchiv Limburg, Akte Hospitalsachen 1719-1867. Für die weiterführenden Hinweise auf das ungedruckte Material aus dem Pfarrarchiv Limburg und aus dem Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden ist Johann Georg Fuchs, Limburg, sehr herzlich zu danken, der in freundlicher Weise seine umfangreiche Materialsammlung zur Verfugung gestellt hat.

125

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Sig. 2 1 0 Nr. 1622 (1823 Okt. 28).

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det hätten. Von Zwierlein hatte für die Medaillons aus Limburg 88 Gulden und für Fenster aus Kirberg 44 Gulden geboten, die beide auf seine Kosten durch weiße Scheiben ersetzt werden sollten. Trotz der geäußerten Bedenken genehmigte das Staatsministerium am 9. November 1823 von Zwierleins Gesuch und war zum Verkauf der Kunstgüter bereit, die einer Auflage zufolge allerdings nicht außer Landes gebracht werden dürften. Nur der energische Einspruch aus Limburg verhinderte das Geschäft. Im Januar 1824 appellierten das Hospitalsprovisorium und der Stadtvorstand an den Herzog und brachten ihr Anliegen gegen die Veräußerung vor: „In der hiesigen Hospitalskirche befindet sich ein sehr hohes Fenster, dessen Scheiben mit herrlichen Malereien verziert, ein wahres Monument alterthümlicher Kunstbilder und der Kirche zur hohen Zierde gereichend. Von vielen Fremden ist dasselbe bewundert und vor mehreren Jahren darauf von einem solchen die Summe von 500 Gulden geboten, dieses Gebot aber, weil man diesen Schatz der Kirchen- oder vielmehr der Stadtgemeinde als rechtmäßiger Eigenthümer desselben nicht entziehen wollte, ausgeschlagen worden. - Der Geheimrat Freiherr von Zwierlein zu Geisenheim wünscht dieses Glasgemälde für seine Sammlung zu gewinnen, und ohne daß wir darüber früher befragt, ohne daß das Gemälde zuvor von Kunstkennern nach seinem wahren Werth geschätzt worden ist, hat die Hzgl. Landes Regierung, gestützt auf einen hohe Ministerial-Verfugung vom 16. November vorigen Jahres, solches demselben für die geringe Summe von 88 Gulden und das Erbieten, neue Fensterscheiben von weisem Glas einsetzen zu lassen, verkauft. - Die hiesige Amts Armen Commisssion hat das für ihre Pflicht gehalten, ehrerbietige Remonstration dagegen zu machen, allein die Hzgl. Landes Regierung hat derselben unter dem 23. Dezember vorigen Jahres rescribirt, daß die Auslieferung des Gemäldes nicht länger verschoben werden dürfe, weil das Gebot des Herrn Geheimraths von Zwierlein zu 88 Gulden nebst Stellung weißer Fenster Scheiben einerseits und die im Interesse des Hospitalfonds ertheilte Ratification dieses Gebots anderseits einen perfect gewordenen Contract bilde. - Der Freiherr von Zwierlein hat demzufolge auch bereits seinen Rentmeister hierher gesandt um das Kunstwerk sich ausliefern zu lassen. - Bei diesen Umständen bleibt uns nichts übrig als an Euer Herzogliche Durchlaucht höchstselben uns in tiefster Unterthänigkeit zu wenden und folgendes vorzustellen: Schon aus dem, was wir über das obwaltende Sachverhältnis vorgetragen haben, geht klar hervor, daß der in Frage stehende Contract keineswegs perfekt geworden ist, noch werden konnte. - Das Hospitals-Provisorium war vor undenklichen Zeiten und seit der neuen Veraltungs-Ordnung gemeinschaftlich mit der Herzoglichen Amts Armen-Commission die competente Veraltungsbehörde des Fonds; der vorliegende Handel wurde aber, ohne von dieser Behörde Bericht erfordert, ohne, was doch durchaus nothwendig war, durch Kenner des Verkaufs-Objekt geschätzt zu haben, mithin ohne alle Kenntniß des eigentlichen Werths der Sache geschlossen. - Auf denselben Gegenstand sind bereits früher 500 Gulden geboten worden und nach diesem freiwilligen Gebot zu schließen, könnte es leicht seyn, daß bey einer Schätzung von Kunstverständigen sein wahrer Werth auf 1.000 bis 1.500 Gulden sich herausstellen dürfte. [...] Im Interesse des Fonds ist also durchaus nicht durch den Verkauf dieses Kirchenschatzes um den wahren Spottpreis von 88 fl gehandelt

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worden [...]. Zudem ist wohl zu beherzigen, daß das Verkaufs Objekt unstreitig aus einem Vermächtniß eines frommen Wohlthäters herstammt, der dasselbe gewiß zur ewigen Zierde der Kirche bestimmte, und daß daher des Stifters Wille, der den Nachkommen immer heilig seyn muß, offenbar durch den Verkauf desselben verletzt werde und in Zukunft bestimmt andre, die sonst wohl durch milde Geschenke und Vermächtnisse zur Vermehrung des Fonds beigetragen haben würden, durch solche willkührliche Einschreitungen davon abgeschreckt werden müssen. - Unser Wunsch und der Wunsch aller hiesigen Einwohner geht dahin, dieses Kunstdenkmal als eine wahre Zierde der Kirche und der Stadt zu erhalten und, da die Kirche im künftigen Frühjahr ausgebessert und geweißt und statt des das Fenster jetzt zum Theil verdeckende sehr hohen Altars ein römischer Altar errichtet werden soll, so wird dasselbe dem Auge anschaulicher werden und der Kirche eine außerordentliche Verschönerung gewähren."

Die Landesregierung schildert die Abläufe aus ihrer Sicht in einer detailreichen Stellungnahme vom 9. März 1824, in der auf die frühe Einbeziehung der Amtsarmenkommission und auf die ausführliche Debatte um die Höhe des Preises verwiesen wird. Aus zwei Gründen zog sich das Staatsministerium letztlich von dem Vorhaben zurück: Zum einen waren Zweifel entstanden, ob der Betrag dem wirklichen Wert der Fenster entsprach, zum anderen handelte es sich bei dem Kaufobjekt um eine Stiftung, die als dauerhaft und unantastbar angesehen wurde. Durch die Verletzung des Stifterwillens befürchtete man eine abschreckende Wirkung auf künftige Wohltäter. So blieben die Fenster aufgrund finanzieller und juristischer Argumente in Limburg und wurden nicht verkauft 126 . In der Entscheidung über die Medaillons zeigt sich die langfristige Gültigkeit von Vorgängen, die 450 Jahre zurück lagen, und es wird deutlich, welche Wirkung die im Fenster vorhandenen Geschlechterwappen der Familien aus dem Mittelalter hatten, die als Beweis für die Schenkung anerkannt wurden. Von Zwierleins Sammlung ist 1887 127 versteigert worden, viele der von ihm zusammengetragenen Stücke wurden damals zerstreut, manche gelangten in Museen. Mag die Art seines Vorgehens bei der Aneignung von Kunstgütern Anlass zur Kritik geben, so bleibt doch festzuhalten, dass er auf seine Weise manches bewahrt hat, was damalige Geistliche in ihren Gotteshäusern gering schätzten und nur allzu bereitwillig hergaben, um Platz für Modernes zu schaffen.

126

Ebd.

127

OlDTMANN, G l a s m a l e r e i e n ( w i e A n m . 103) S. 72, 160.

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V. Die Klause der Wilhelmitinnen in Fachingen Noch seltener als Niederlassungen mit Brüdern sind Einrichtungen des Wilhelmitenordens für weibliche Mitglieder. Dem Kloster in Limburg war eine solche Anlage für Frauen angeschlossen, die aus einer Klause in dem 8 km südwestlich gelegenen Fachingen 128 hervorgegangen ist. In diesem kleinen Ort an der Lahn hatten sich - zunächst ohne Bindung an eine bestimmte Kongregation - fromme Frauen in einer wohl schon Ende des 14. Jahrhunderts 129 vorhandenen, 1402 130 sicher überlieferten Gemeinschaft zusammengeschlossen. Im Oktober 1458 131 übergab ihnen Cono, Herr zu Westerburg und Schaumburg, mit seiner Gemahlin Metza das seiner Familie seit langem zustehende Patronatsrecht 132 an der Kapelle des hl. Märtyrers Georg in Fachingen mit der Auflage, wie bisher für wöchentliche Messen und Andachten sowie für ein Seelgedächtnis für seine Angehörigen Sorge zu tragen. Über die Gründungsvorgänge und Pflichten waren sich die Konventualinnen noch Jahrzehnte später bewusst: Die cluse zu Vachongen ist gestiefft von eyner herschafft zu Westerburgk und alles dasghiene sie haben, ist yen von derselben herschafft gegeben. - Item muessen mir halden eynen priester zu eynner sontags- und hellichstags- und wertelstagsmissen zcu Vachongen und davon geben 7/7. - Item muessen wir laißen lesen eyne wochenmyß zu Schauwenburg.133

Die Verfügung von 1458 galt den in der baulich direkt an das Fachinger Gotteshaus anschließenden Recluse lebenden Nonnen des hl. Wilhelm (religiosis sororibus ordinis sancti Wilhelmi), die, so bezeichnet, bereits zu dieser Zeit Mitte des 15. Jahrhunderts mit den Ordensbrüdern in Limburg verbunden waren und mit ihnen organisatorisch zusammenblieben. Folgt man einer wenig später vor 1471 134 verfassten Supplik an Papst Paul II., haben die Grafen von Westerburg das Haus der Schwestern des hl. Wilhelm gegründet, die nach der Benediktsregel lebten und auf Geheiß des Stifters unter der Seelsorge, Visitation und Zucht des Priors und Konvents der Wilhelmiten in 128

130 131

Fachingen ist Mitte des 18. Jahrhunderts durch seine Mineralquelle bekannt geworden, Die Bau- und Kunstdenkmäler des Regierungsbezirks Wiesbaden 3: Lahngebiet, bearb. von Ferdinand LUTHMER (1907) S. 253 f. Christian Daniel VOGEL, Beiträge zur Geschichte des Klosters Fachingen, Nassauische Annalen 4 (1850) S. 126-142. STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) Nr. 758 (1380 Jan. 28); Nr. 759 (1382 Jan. 18). Ebd. Nr. 760 (1402 Nov. 30). Ebd. Nr. 767 (1458 Okt. 9), Volltext in VOGEL, Kloster Fachingen (wie Anm. 128) S.

132

STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) Nr. 761 (1423 Dez. 14); Nr. 764 (1449 Nov.

133 134

Ebd. Nr. 801 (1525 Dez. 26). Ebd. Nr. 774 (vor 1471 Mai 31).

129

1 2 7 - 1 3 1 ; KLEINFELDT / WEIRICH, K i r c h e n o r g a n i s a t i o n ( w i e A n m . 9 4 ) S. 176. 8).

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Limburg standen. In diesem Zusammenhang werden auch die derzeitigen Verhältnisse in Fachingen beschrieben: In der Klause gab es zu dieser Zeit eine Priorin mit etwa neun Schwestern (sorores), die Profess abgelegt hatten und geweiht waren, hinzu kam eine unbekannte Zahl von Novizinnen und Dienerinnen (noviciis [...] servifricibusns). Da die Frauen zunächst keine eigene Kapelle für ihre Andacht besaßen und den Gottesdienst in der Georgskirche nur von ihrem direkt anschließend gelegenen Schwesternhaus durch ein Fenster mit Blick auf den Altar verfolgen konnten, hatte ihnen Cono von Westerburg - wie durch die bereits erwähnte Verfugung in der Urkunde von 145 8 136 tatsächlich geschehen - das Patronatsrecht mit der Auflage überlassen, für die Seelen der Gründer und deren Nachfahren zu beten. Die Supplik enthält die Bitte an den Papst, die Schenkung der Kapelle zu bestätigen und zu gestatten, das Haus einschließlich der Kapelle mit ihrem Kreuzgang zu einem Kloster werden zu lassen und der Priorin und den Schwestern zu erlauben, Kloster und Kirche mit einem kleinen Glockenturm, Schlaf- und Speiseräumen, einer Gartenanlage sowie anderen notwendigen Einrichtungen zu erweitern. Außerdem wurde um die Genehmigung nachgesucht, bei Tag und Nacht Messen und Gottesdienste den Vorschriften des Ordens gemäß mit lauter Stimme halten und nach den Regeln leben zu dürfen ([...] quod domus et Capelle predictarum structuras et edificia ampliare et ad formam Monasierii cum ecclesia, campanili humili campana, dormitorio et refectorio, claustro, ortis, ortaliciis et allis necessariis officinis reducere, et in eadem ecclesia missas celebrari facere, nec non alia divina diurna ac nocturna officia, secundum dicti ordinis instituía alta voce cantare, et iuxta regularía instituía ordinis ejusdem viíam ducendo ómnibus eí singulis privilegiis [...]) 137 . Die Reaktion aus Rom vom August 1471 138 zeigt die Unterstützung durch Sixtus IV. Er teilte dem Dekan des St. Kastorstifts in Koblenz mit, dass bereits sein Vorgänger Paul II. von der Priorin und den Schwestern des Wilhelmitenordens in Fachingen um die Zustimmung zur Umwandlung ihres Hauses in ein Kloster gebeten worden sei. Dem Papst folgend solle nun nach einer bereits vorliegenden Anordnung vorgegangen werden. Der angesprochene Dekan des Koblenzer Kastorstifts Johannes Spey nahm sich der Angelegenheit an und forderte mit Schreiben vom 20. Feb. 1472 139 alle Geistlichen in der Diözese Trier auf, die Absichten der geistlichen Frauen in Fachingen der

135

Ebd. Nr. 7 7 5 (1471 Aug. 25), Volltext in VOGEL, Kloster Fachingen (wie A n m . 128) S. 133-138, Z i t a t s . 133.

136

STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie A n m . 79) Nr. 7 6 7 ( 1 4 5 8 Okt. 9).

137

Ebd. Nr. 7 7 5 (1471 A u g . 25), Volltext in VOGEL, Kloster Fachingen (wie A n m . 128) S. 133-138, Z i t a t S . 135 f.

138 139

Ebd. STRUCK, Klöster und Stifte 3 ( w i e A n m . 7 9 ) Nr. 7 7 6 ( 1 4 7 2 Feb. 20).

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Öffentlichkeit von der Kanzel zu verkünden. Zudem sollte ein schriftlicher Anschlag an den Türen sämtlicher Kirchen und Klöster, namentlich auch am Tor der Stiftskirche St. Georg in Limburg angebracht und so publik gemacht werden, unter Hinweis auf die Möglichkeit, Widerspruch gegen die Pläne zu einem festgelegten Termin am 2. März des Jahres zu erheben. Über die Ereignisse an diesem Tag gibt ein weiteres Schriftzeugnis140 detaillierte Auskünfte. Als päpstlich bestellter Kommissar und Executor begab sich Spey nach Fachingen und traf die nächsten juristischen Maßnahmen in dieser Angelegenheit. Die Priorin und ihre Mitschwestern hielten die 1471141 von Sixtus ausgestellte Urkunde mit Bleibulle als Rechtsmittel bereit. Da nach der vorschriftsmäßig durchgeführten öffentlichen Bekanntgabe im gesamten Sprengel niemand gegen die beabsichtigten Veränderungen gesprochen hatte, konnte das Verfahren fortgeführt werden. Erschienen war zu dem angesetzten Tag lediglich Johann von Gießen, Kanoniker des Marienstifts in Diez, der als Sachwalter der Fachinger Konvents tätig war und mit der Urkunde des Cono von Westerburg den Beweis für die Übertragung der Patronatsrechte an der Georgskapelle aus dem Jahr 1458142 an die Nonnen vorlegte. Schließlich wurden Zeugen vor Ort über die Höhe der jährlichen Einkünfte dieser Kirche verhört. Nach Abschluss aller Schritte und Prüfungen folgte neben einer Niederschrift durch einen anwesenden Notar aus Koblenz die Verkündung und Verlesung der von den geistlichen Frauen beantragten Veränderungen, zu der die Bewohner des Dorfes durch Glockengeläut herbeigerufen wurden. Bei diesem förmlichen Akt waren außer den bereits genannten Hauptbeteiligten nicht näher bezeichnete Leute aus dem Ort, mehrere Schöffen sowie einige namentlich erwähnte Personen zugegen, unter ihnen der Baumeister der Georgskapelle sowie ein Maurer, die vielleicht mit. der Umgestaltung der Bauten betraut werden sollten. Zu welchen Maßnahmen es wirklich gekommen ist, lässt sich nicht mehr verfolgen, von der gesamten Anlage sind außer dem kleinen Gotteshaus nur wenige architektonische Reste übrig geblieben143. Über die Zusammensetzung und Größe des Konvents lässt sich außer der Nennung einer Priorin und etwa neun Schwestern sowie der Erwähnung weiterer Novizinnen und Dienerinnen für die folgende Zeit nur wenig aussagen. In den nicht sehr zahlreich erhaltenen Urkunden und Schriftzeugnissen werden die Vorsteherin und die weiteren Mitglieder oft ohne persönliche

140 141 142 143

Ebd. Nr. 777 (1472 März 2). Ebd. Nr. 775 (1471 Aug. 25). Ebd. Nr. 767 (1458 Okt. 9). Georg Dehio - Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Rheinland-Pfalz, Saarland, bearb. von Hans CASPARY / Wolfgang GÖTZ / Ekkart KLINGE (1972) S. 113: Von der 1793 abgebrochenen Wilhelmitinnen-Klause und der Georgskapelle ist der quadratische, gotische Chor mit Kreuzgewölbe erhalten.

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Angaben und nur gelegentlich mit Namen genannt, wie etwa die Zinsbuch führenden Schwestern Grete 144 und Meckel von Birlenbach 145 , 1477 Suster Ele 146 , 1487 147 die Priorin Schwester Elgin oder 1527 die Priorin Katharina von Mainz 148 , die vielleicht mit der 1543149 nicht ausfuhrlicher bezeichneten Priorin Katharina identisch ist. Vermutlich kamen die Konventualinnen aus der näheren Umgebung. Aus dem Jahr 1470 150 liegen Angaben über eine Neuaufnahme vor: Meckela von Langenscheid trat in Fachingen ein und übertrug der Klause gleichzeitig ihre Güter, die nicht zurückgegeben werden mussten, falls sie dort nicht bleiben wollte, d. h. zu dieser Zeit hatte sie erst eine lose Bindung an die Gemeinschaft. Da ihre Eltern offenbar beide verstorben waren und in der Schenkung Stiefgeschwister sowie ein leiblicher Bruder erwähnt werden, dürfte sie vielleicht nicht zuletzt aufgrund dieser familiären Situation zur Sicherung ihrer Unterbringung und Zukunft Anschluss in Fachingen gesucht haben. Wie bei anderen Klöstern stammten die Einnahmen in Fachingen aus Güterübertragungen sowie aus Schenkungen von Natural- und Geldgefällen bei Ordenseintritten, mehr noch aus dem Besitz frommer Stifter der Region 151 , die meist als Gegenleistung die Einbeziehung ins Gebet oder Anniversarien für sich und ihre Angehörigen erwarteten. Ihre Namen und Spenden verzeichnete ein 1477 erwähntes, aber schon älteres selebuch152. Die Zuwendungen verteilten sich auf Fachingen und Umgebung und reichten von Weinschenkungen 153 an die Klause des Wilhelmitenordens über mehr oder weniger bedeutende Höfe und landwirtschaftliche Flächen bis hin zu einzelnen gertgin154, placken155, pleckelgin156 oder einem kleinen kappesgarten157. Die Wirtschaftsverwaltung lag bei der Priorin und den Kon-

144 145 146 147 148

STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) Nr. 771 (1470). Ebd. Nr. 791 (vor 1491). Ebd. Nr. 783 ( 1 4 7 7 Okt. 20), hier S. 431. Ebd. Nr. 789 ( 1 4 8 7 Okt. 31). Ebd. Nr. 802 ( 1 5 2 7 März 24); VOGEL, Kloster Fachingen (wie Anm. 128) S. 139 f.

149 150

STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) Nr. 806 ( 1 5 4 3 Feb. 19). Ebd. Nr. 7 7 0 ( 1 4 7 0 [o. T.]). Genannt auch bei VOGEL, Kloster Fachingen (wie Anm. 128) S. 131 f.

151

STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1035 ( 1 4 4 7 Juli 1); Nr. 1408 ( 1 4 5 8 Dez. 30). STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) Nr. 783 ( 1 4 7 7 Okt. 20). Bemerkungen z u m Seelbuch von Struck ebd. S. 422.

152 153 154 155 156 157

Ebd. Nr. 769 ( 1 4 6 8 N o v . 13). Genannt auch bei VOGEL, Kloster Fachingen (wie Anm. 128) S. 131 STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) Nr. 783 ( 1 4 7 7 Okt. 20). Ebd. Nr. 791 (vor 1491). Ebd. Ebd. Nr. 783 ( 1 4 7 7 Okt. 20).

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BRÜDER UND SCHWESTERN DER WILHELMITEN

ventualinnen, die zur Kontrolle bei der Abrechnung mit Kerbhölzern 158 arbeiteten und selbst - schreib- und lesekundig - im Stande waren, schriftliche Hilfsmittel zu verfassen. 1470159 legte Schwester Grete mit dem Zinsbuch eine in späteren Jahren bis 1564160, unter anderem von Schwester Meckel von Birlenbach 161 fortgeführte aussagekräftige Quelle zur Vermögenssituation an und griff bei ihren Aufzeichnungen auf zwei ältere Register von einem Kaplan und einem Kirchenmeister zurück, von deren Existenz und Funktion wir durch die eigenhändige Vorbemerkung der Verfasserin erfahren. Spätere Nachträge in dieses Notizbuch aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts weisen auf handwerkliche Tätigkeiten der Frauen in Fachingen hin, mit denen sie sich zusätzliche Einnahmen verdienten. Demnach haben sie selbst Tuche gewebt, die gegen Geld verkauft wurden oder für deren Lieferung Dienstleistungen zu erbringen waren, ein Bezieher sollte sich für den Erhalt von Stoff um dy swyne in den eckern162 zur Mast kümmern. Erwähnt werden mit dem vordersten, mittelsten und dem kleinen Webstuhl mindestens drei Rahmen, an denen nach Art, Größe und Qualität verschieden gewirktes Tuch und ein als fles bezeichnetes vliesähnliches Wollzeug hergestellt wurden 163 . Die Verwaltung der Niederlassung mit der Aufgabe, Einnahmen für den Unterhalt zu erzielen und den Wirtschaftsbetrieb mit Erfolg zu führen, lag weitgehend bei den Schwestern, sie haben selbst die Administration organisiert, Ankäufe getätigt 164 , Besitz hinzuerworben 165 , Güterverpachtungen vorgenommen 166 , mit Arbeitskräften über deren Dienstleistungen abgerechnet 167 und durch Register und schriftliche Notizen 168 versucht, den Überblick 158 159

Ebd. Nr. 771 (1470) S. 422 Anm. 3: Abrechnungen erfolgten nach ußwisung deß kerbß. Ebd. Nr. 771 (1470) mit vollen Angaben des Textes und seinen ausführlichen Hinweisen zu dem Band, der auf 51 Blättern Papier nicht nur die Einträge zu Zinsen, deren Herkunftsorten, zur Art der Besitzungen, zu den Pächtern und deren Abgaben enthält, sondern auch verschiedenartige Notizen späterer Zeit, ebd. S. 420-423. 160 Den Inhalt der Zinseinträge gibt Struck im Wortlaut wieder, ebd. Nr. 733 (um 1470); Nr. 778 (vor 1473); Nr. 779 (1473): Ermäßigung einer Gült; Nr. 780 (1473); Nr. 781 (um 1473); Nr. 782 (1476); Nr. 783 (1477); Nr. 784 (nach 1477); Nr. 786 (um 1477); Nr. 787 (um 1477); Nr. 788 (1486): Ermäßigung einer Gült; Nr. 790 (1486-1488); Nr. 791 (vor 1491); Nr. 792 (vor 1491); Nr. 793 (1491); Nr. 794 (1499); Nr. 795 (1500); Nr. 796 (1500); Nr. 797 (1502); Nr. 799 (1517-1519); Nr. 803 (um 1530); Nr. 812 (1564). Ein separates Verzeichnis über Lasten, Gefalle und Güter der Klause Fachingen liegt von 1525/1526 vor, ebd. Nr. 801. 161 Ebd. Nr. 791 (vor 1491); Nr. 809 (1552). 162 Ebd. Nr. 771 (1470) S. 422 Anm. 2. 163 Ebd. Nr. 807 (1528-1543). 164 Ebd. Nr. 792 (vor 1491). 165 Ebd. Nr. 798 (1519 Jan. 8); Nr. 804 (1531 Nov. 11); Nr. 805 (1540 Jan. 17); Nr. 808 (1545 Dez. 6); Nr. 810 (1553 April 5); Nr. 811 (1554 Mai 25). 166 VOGEL, Kloster Fachingen (wie Anm. 128) S. 139. 167 STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) Nr. 797 (1502 Feb. 24).

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über Rechte und Pflichten zu behalten, die mit den zahlreichen Vertragspartnern und den Inhabern ihrer verstreuten Besitzungen bestanden. Die unübersichtliche Situation durch zahllose kleinste Zuwendungen, die über große Zeiträume seit der Gründung an die Klause gefallen waren, und langfristige Abmachungen mit sehr vielen Anteilshabern bereiteten Schwierigkeiten und kommen in sorgenvollen Bemerkungen zum Ausdruck: Item wiechst uns jairs uff unsern eckern, der wir nit wissen, wie viele der siien169. Auch wenn der Gesamtbesitz aus heutiger Sicht ausreichend erscheint, weisen Äußerungen der Schwestern auf ökonomische Probleme hin: und wiiders inkommens hain wir nyt, dan was wir mit unser suwern arbeyt und dem bedelstabe erobern™. Für ihren eigenen Haushalt tätigten sie die verschiedensten Ankäufe und Zahlungen 171 : Die Geldausgaben betrafen Lebensmittel wie Eier, Wecken, Bratenfleisch, Fische, Gewürze, Salz, Butter, Kohl- und Zwiebelsamen, aber auch Bedarfsgüter wie Unschlitt, Nägel, eine Axt, Holz, Hufeisen und Branntwein oder Gerätschaften wie Leder, Zaumzeug, Kummet und Wagenräder. Hinzu kamen Kosten für Kämme und Materialien, die sie für ihre Webstühle benötigten. Ein Teil der finanziellen Aufwendungen entfiel auf Löhne für Mägde, Knechte und deren Gehilfen, die sie als Hausangestellte in ihrer Klause und dem offenbar zugehörigen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb beschäftigten, zu dem auch ein Pferd, eine Kuh und Schweine gehörten, die auf Gemeindegrund zur Bucheckernmast getrieben wurden 172 . Außerdem belasteten externe Leistungen vom Schneider oder Maurer ihre Kasse. Kosten verursachten auch vom Dorf geforderte Beisteuern, die von den ortsansässigen Schwestern zum Beispiel für den öffentlichen Brunnen und für das Backhaus verlangt wurden 173 . Der Alltag in der Niederlassung bestand, den Rechnungsangaben zufolge, nicht nur aus den geistlichen Pflichten der Konventualinnen, sondern zeigt das Leben in einem agrarischen Umfeld mit durchaus arbeitsamen Aufgaben. Den Vorgaben des Schenkers folgend, der ihnen die Kirche in Fachingen überlassen hatte, unterhielten sie den Kaplan 174 , der die Wochenmesse las und Gottesdienste in ihrer Kapelle versah, deren Ausstattung recht bescheiden war, zumindest nennt ein Inventar von 1525175 an verzeichnungswürdigen Gegenständen lediglich zwei schwarze Messgewänder aus Samt sowie zwei Kelche, einer

168 169 170 171 172 173 174 175

Ebd. Nr. Ebd. Nr. Ebd. Ebd. Nr. Ebd. Nr. Ebd. Ebd. Nr. Ebd. Nr.

803 (um 1530). 801 (1525 Dez. 26). 799(1517-1519). 812a ( 1569 Okt. 7). 803 (um 1530). So auch ebd. Nr. 798 (1519 Jan. 8). 800(1525).

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B R Ü D E R U N D SCHWESTERN DER WILHELMITEN

war aus Kupfer und sehr alt, der ander mag vielleicht silbern und ubergult sine, ansonsten gab es nichtz Widders. Die Verbindung der Schwestern in Fachingen zu den Wilhelmiten in Limburg bezieht sich nur selten auf wirtschaftliche Vorgänge wie Mitte des 16. Jahrhunderts 176 , als Priorin Katharina und ihr Konvent ein Gütergeschäft mit Genehmigung von Friedrich Obellauch, dem Provinzial der Wilhelmiten in Deutschland abschlössen, der zugleich Prior in Limburg war. Vielmehr bestanden zu den Brüdern des dortigen Hauses Beziehungen in geistlichen Angelegenheiten. Die Klausnerinnen baten 1487177 den Obersten ihres Ordens, den Provinzial und Prior von Marienpforten Johann Ruß, man möge Johann Aquila zu ihrem Beichtvater, Fürsorger und Helfer beim Erbitten von Almosen machen; der Wilhelmit aus dem Limburger Haus begegnet einige Jahre später178 als dortiger Vorsteher. Nach Beratungen im Ordenskapitel und Rücksprache mit dem Limburger Prior - so die Urkunde von 1487 wurde dem Wunsch stattgegeben und Johann Aquila befugt, den Schwestern alle Sakramente zu spenden und Beichte zu hören; als Priester wurde er weiterhin bevollmächtigt, die kirchlichen Belange zu erfüllen. Sein Handlungsspielraum war nicht unbeschränkt, vielmehr sollte er in Abstimmung, mit Rat und Wissen der Priorin und des Konvents zum Nutzen ihres Hauses vorgehen. Die Schwestern hatten ihn, ob gesund oder krank, nach ihren Möglichkeiten mit Essen und Trinken zu versorgen, d. h. für ihn aufzukommen, wofür sein Besitz, von dem er nichts veräußern durfte, nach seinem Ableben an ihren Konvent in Fachingen fallen würde. Der Bruder aus Limburg löste sich in gewisser Weise durch die zugewiesenen Kompetenzen und Aufgaben von seinem Konvent bzw. er erhielt einen eigens geregelten Status: Niemand durfte ihn von Ordensseite ohne ausdrückliche Erlaubnis des Provinzials visitieren, der sich als Vorsteher aller Wilhelmiten auch die alleinige Strafgewalt gegenüber Johann Aquila sicherte, dem er Beichtmöglichkeiten bei einer frei gewählten Person zugestand. 1564179 führte Graf Johann d. Ä. von Nassau-Dillenburg, dem auch die Grafschaft Diez zugefallen war, die Reformation in seinem Herrschaftsbereich ein, zu dem auch Fachingen gehörte. 1565180 wurden die katholischen Gottesdienste abgestellt, die Priorin und einige Konventualinnen gingen zum lutherischen Glauben über. Mit dem Tod der letzten noch als Schwestern be-

176 177 178 179 180

Ebd. Nr. 806 (1543 Feb. 19). Ebd. Nr. 789 (1487 Okt. 34). VOGEL, Kloster Fachingen (wie Anm. 128) S. 139. Johann Aquila, auch Aquile oder Adeller in STRUCK, Klöster und Stifte 1 (wie Anm. 5) Nr. 1484 (1497 Mai 16); Nr. 1485 (1500 Okt. 28). VOGEL, Kloster Fachingen (wie Anm. 128) S. 140. Ebd. S. 141.

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zeichneten Frauen, die vor 1574181 verstorben waren, erlosch das Ordensleben der Wilhelmitinnen in der Klause Fachingen.

VI. Die Verehrung der hl. Anna im Limburger Wilhelmitenkloster und die Mirakel im 16. Jahrhundert Zu der Betreuung der extern lebenden Schwestern, zu den Tätigkeiten im seelsorgerischen Bereich und zur Erfüllung der Pflichten gegenüber der Limburger Jakobsbruderschaft kam am Ende des Spätmittelalters auf die Wilhelmiten im Kloster vor dem Diezer Tor eine weitere Aufgabe hinzu, die den Ort vorübergehend in bisher nicht gekannter Weise belebte und mit der Entstehung eines Wallfahrtsortes neue Anforderungen an die Ordensbrüder stellte. Die ältesten Belege für ein Annenheiligtum in der Kirche der Limburger Wilhelmiten stammen aus dem beginnenden 16. Jahrhundert 182 . Vor dieser Zeit lassen sich weder Reliquien der Heiligen in ihrer Kirche nachweisen noch gab es hier eine besondere Verehrung ihrer Person. Die frühesten Zeugnisse stehen in engem Zusammenhang mit dem neuen, 15 09 183 erstmals erwähnten Prior Peter, der aus Düren kam und seine dort gewonnenen Erfahrungen mitbrachte. Während seiner Zeit im dortigen Konvent dürfte er den Kult um das Haupt der hl. Anna kennen gelernt haben, das 1500 184 in Mainz geraubt worden war; anschließend gelangte es in die Stadt am Nordrand der Eifel und ließ den Ort zu einer überregional bedeutenden Wallfahrtsstätte werden. Nach seinem Wechsel in die Niederlassung an der Lahn und nach überwundenen Spannungen mit seinen Mitbrüdern, die sich über seine häufige Abwesenheit und ihre schlechte Versorgung mit Nahrungsmitteln und Kleidung beklagt hatten 185 , bemühte sich Peter von Düren als deren Leiter um Reformen, zu denen neben organisatorischen Maßnahmen religiöse Neuansätze gehörten. 1511186 wird erstmals ein wohl auf seine Anregung zurückzuführendes Annenheiligtum erwähnt, das die nunmehr nach der Heiligen benannte Kirche der Wilhel-

181

182

183 184 185 186

STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) S. XLIII. Ebd. zum Streit zwischen den Häusern Nassau und Diez um das Recht an der Kapelle und ihren Einkünften und über den Verfall der Baulichkeit, S. XLIII f. Dörfler-Dierken korrigiert die falsche Annahme, dass sich bereits 1411 ein wunderwirksames Annenheiligtum bei den Limburger Wilhelmiten befunden hätte, DÖRFLER-DIERKEN, Wunderheilungen (wie Anm. 73) S. 84 mit Anm. 3. Ebd. S. 92 Anm. 27. Ebd. S. 88: In Mainz hatte die entwendete und von einem Steinmetzgesellen 1500 nach Düren gebrachte Hirnreliquie keine Wunder bewirkt. OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 25 f. DÖRFLER-DIERKEN, Wunderheilungen (wie Anm. 73) S. 84 mit Anm. 3.

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BRÜDER UND SCHWESTERN DER WILHELMITEN

miten zu einem Zentrum für Pilger werden ließ, deren Spenden die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hauses besserten. Der Rat der Stadt Limburg, der seit langem ein Aufsichtsrecht gegenüber dem Kloster besaß, einigte sich mit Prior und Konvent: Beide Seiten bekamen Schlüsselgewalt und erhielten Zugang zum Heiltum. Eine im Zuge der neuen Entwicklungen entstandene Annenbruderschaft 1 8 7 , über deren Größe und Zusammensetzung kaum etwas bekannt ist 188 , wurde in organisatorische Aufgaben einbezogen. Ihre Büchsenmeister verwalteten die Einnahmen aus den Opferstöcken und die Erträge aus den Spenden der eigenen Mitglieder, die zum Lobe Annas verwendet werden sollten. Einer der Wilhelmiten erhielt den Auftrag, die Wallfahrer mit dem Heiltum zu bestreichen, bei dem undeutlich bleibt, ob die erwähnten partícula reliquiarumm zu einer Figur gehörten oder in einem besonders gefassten Behältnis lagen; Inventare der Neuzeit verzeichnen eine kleine vergoldete Monstranz aus Messing, worin Reliquien von S. Annae aufbehalten werden190. Die Wertschätzung der Heiligen zu Beginn ihrer Verehrung kommt nicht zuletzt durch eine qualitätvolle SelbdrittSchnitzfigurengruppe zum Ausdruck 191 . Nachdem sich mehrere Wunder durch die Anrufung Annas ereignet hatten, baten Prior Peter und der Konvent den Trierer Erzbischof Richard um Förderung und erhielten einen Ablass, den dieser 1512 192 für fromme Andacht in der Kirche an der wöchentlich stattfindenden Messe, für Gebete an Annas Heiligentag (26. Juli), für Prozessionen sowie für Spenden gewährte und auf 40 Tage festlegte. Um den Antrag zu unterstützen und zum Erfolg zu führen, dürfte das Verzeichnis der damals jüngsten Mirakel beigegeben worden sein, die durch eine wohl in einem Trier Frauenkloster angefertigte Abschrift 1 9 3 und durch einen im 17. Jahrhundert erschienenen Teildruck überliefert sind. Anderen mittelalterlichen Aufzeichnungen über Wunderheilungen vergleich-

187 188

189 190

Ebd. S. 90. Angelika DÖRFLER-DLERKJEN, Vorreformatorische Bruderschaften der hl. Anna (Abh. Heidelberg 3, 1992) S. 125-128. DIES., Die Verehrung der hl. Anna in Spätmittelalter und früher Neuzeit (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 50, 1992) S. 116: „In Limburg wurde eine Annenbruderschaft eingerichtet, nachdem sich einige Mirakel vor einem dortigen Annenheiltum ereignet hatten. Zwar ist nicht bekannt, ob die Geheilten Mitglieder der Limburger Annenbruderschaft wurden, aber es leuchtet unmittelbar ein, dass die Menschen sich gerne dem Patronat einer Heiligen unterstellten, die ihre Macht in den alltäglichen Sorgen erweisen konnte".

191

DÖRFLER-DIERKEN, Bruderschaften (wie Anm. 187) S. 127 mit Anm. 500. Stadtarchiv Limburg, Hospitalrechnungen 1764, pag. 106 und ebd. 1787, pag. 98. Monstranz mit Reliquien noch 1840 erwähnt, Pfarrarchiv Limburg, Akte Hospitalsachen 1719-1867. OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 11, dort nach S. 10 schwarzweiße Abbildung.

192

DÖRFLER-DIERKEN, B r u d e r s c h a f t e n ( w i e A n m . 187) S. 127; DIES., W u n d e r h e i l u n g e n

193

(wie Anm. 73) S. 89. DÖRFLER-DIERKEN, Wunderheilungen (wie Anm. 73) S. 92-96.

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bar finden sich auch hier der Name der erhörten Person, ihr Herkunftsort, die Nennung des körperlichen Leidens bzw. die Beschreibung der überlebten Gefahr, Angaben über Art und Umstände der gewährten Hilfe und Ausführungen über den Gang der Ereignisse bis zum Erfolg, gelegentlich ergänzt durch Hinweise auf vorherige Bemühungen durch die Anrufung anderer Heiliger oder den Besuch bei Ärzten. Der Bericht umfasst die Heilungsgeschichten von insgesamt 41 Personen verschiedener sozialer Herkunft 194 , von denen die meisten Hilfesuchenden nicht aus der Stadt Limburg kamen, sondern aus der näheren ländlichen Umgebung stammten. Genesung verschiedenster Gebrechen oder die Überwindung schwerer Krankheit wurde neben dem Betgesuch auch durch das Trinken von Annawasser über ihrem Bild erreicht, während Schutz bei Unfällen in der Regel durch Fürbitte herbeigeführt wurde. Wer nicht ohnehin direkt in die Kirche der Wilhelmiten gekommen war, um an dem Heiltum Hilfe zu bekommen, pilgerte nach erfahrener Wohltat nach Limburg. Einige Wallfahrer überbrachten Opfergaben oder spendeten dem Kloster einen Teil ihres Vermögens. 1516195 erhielten Prior, Konvent und die Verwalter der Annenbruderschaft eine Jahresgült für Messen; im gleichen Jahr erfolgte eine Schenkung zu Ehren der Patronin. In dem Bemühen, die angefangenen Reformen weiterzufuhren, den Annenkult lebendig zu halten und Geldeinnahmen zu erzielen, wandten sich die Limburger Wilhelmiten an den Erzbischof von Mainz und baten Albrecht II. um einen weiteren Ablass, der ihnen am 13. Mai 1517 196 gewährt wurde. Zu dieser Zeit amtierte als Peter von Dürens Nachfolger bereits Friedrich Obellauch von Dehrn, der seit 1516 197 als Prior begegnet und schließlich zugleich die höchste überregionale Aufgabe als Provinzial der deutschen Ordenseinrichtungen 198 inne hatte. Mit den konfessionellen Veränderungen durch die Reformation dürften auch Limburger Wilhelmiten ihren Konvent verlassen haben. Nachdem sein letzter Mitbruder Johannes Sorg im Jahr 1562 verstorben war, lebte, dem Chronisten Johannes Mechtel zufolge, Friedrich

194

Ebd. S. 97: Das Limburger Mirakelbuch enthält aufschlussreiche Angaben zur Sozialgeschichte und dem Alltagsleben im Spätmittelalter. Von den 41 Geheilten oder aus Gefahr Geretteten finden sich 2 0 weiblich und 15 männlich Personen, zu sechs Kindern gibt es keine Hinweise über ihr Geschlecht. Angelika Dörfler-Dierken, der die Edition mit ausfuhrlicher Kommentierung und detaillierter Auswertung der aussagekräftigen Quelle zu verdanken ist, sieht mit Blick auf die vielen, nach Anrufung der hl. Anna am Leben gebliebenen Jugendlichen die Fürsorge und ein ausgeprägtes Sozialgefühl von Eltern für ihre Kinder im Mittelalter.

195 196

Ebd. S. 90. Ebd. Zur Wiederbelebung der Annenverehrung erteilte Papst Leo XIII. 1887 den Ablass für den Besuch der Kirche in Limburg, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrfach erneuert wurde, Pfarrarchiv Limburg, Akte Annakirche. OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 27. STRUCK, Klöster und Stifte 3 (wie Anm. 79) Nr. 806 (1543 Feb. 19); ELM, Wilhelmitenprovinz (wie Anm. 45) S. 1109.

197 198

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BRÜDER UND SCHWESTERN DER WILHELMITEN

Obellauch bis zu seinem Tod 1568199 allein im Kloster, das danach von Mönchen unbesetzt blieb. Mit dem Erlöschen fiel es an den Erzbischof von Trier, der auf Bitten der Stadt sowohl die Gebäude wie auch die bisherigen Einnahmen unter Vorbehalt bestimmter Abgaben in seine Kasse 15 7 3200 für öffentliche wohltätige Zwecke zur Verfugung stellte. In die bisherige Klosteranlage zog den Vereinbarungen gemäß nun das Bürgerhospital aus der Brückenvorstadt, das immer wieder vom Hochwasser der Lahn bedroht und beschädigt worden war - ähnlich wie einst die erste Ansiedlung der Wilhelmiten in Limburg, die aufgrund der widrigen Bedingungen vor das Diezer Tor verlegt worden war.

199 200

Mechtels Text aus dem „Pagus Logenahe" wörtlich in OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 27 Anm. 1. BECKER, Wilhelmiten-Kloster (wie Anm. 1) S. 304. Zur Umgestaltung der Bauten des Wilhelmitenklosters SCHIRMACHER, Limburg (wie Anm. 24) S. 215. Zu den Anfängen des Bürgerhospitals in der Brückenvorstadt und zur Geschichte nach der Umsiedlung in die Niederlassung der Wilhelmiten bis ins 19. Jahrhundert OTTO, St. Anna-Kirche (wie Anm. 38) S. 30-95.

J O A C H I M J. H A L B E K A N N

Zur Geschichte einer bislang unerforschten Bailei des Antoniterordens: Esslingen am Neckar Bei den sich auf den heiligen Antonius den Großen bzw. den Eremiten berufenden Antonitern handelt es sich um einen Hospitalorden, der sich aus einer Ende des 11. Jahrhunderts in La-Motte-aux-Bois (später: Saint-Antoineen-Viennois) in der Dauphiné im heutigen Departement Isère gegründeten Laienbruderschaft entwickelte 1 . Die Bruderschaft spezialisierte sich in ihren Spitälern zunehmend auf die Behandlung des durch Mutterkorn im Getreide hervorgerufenen, in zwei Krankheitsbildern (Gliederbrand, Krämpfe) auftretenden Ergotismus (Mutterkornbrand), dem sog. Antoniusfeuer. Ausgelöst durch eine geradezu sprunghafte Entwicklung mit Gründungen und Übernahmen zahlreicher Hospitäler entwickelte die Bruderschaft zur Finanzierung mit päpstlicher Unterstützung das die Ordensgeschichte prägende System der dezentralen Sammlungstätigkeit (Quest) in festgelegten Bezirken (Termineien) mittels mitgefühlter Reliquien sowie den Brauch, dass die spendenwillige Bevölkerung sog. Antoniusschweine zugunsten des Ordens mästete. Nach der faktischen Umformung der Bruderschaft in einen Orden begabte 1247 Papst Innozenz IV. die in der Folgezeit vielfach privilegierten Antoniter mit der Augustinerregel. 1297 schließlich wurde das Mutterkloster zu Abtei erhoben, die Antoniter zum zentralistisch geführten Chorherrenorden umgeformt und seine Angehörigen und die Niederlassungen von Papst Bonifatius VIII. der bischöflichen Iurisdiktion enthoben. Die Folgezeit des in hohem Maße auf das Papsttum ausgerichteten und in die schismatischen Wirrungen tief verstrickten Antoniterordens war durch erhebliche finanzielle und organisatorische Friktionen bei gleichzeitig rasantem Wachstum der Niederlassungen im gesamten Bereich der römisch-katholischen Kirche geprägt. Die regionalen Niederlassungen des Antoniterordens orientierten sich in der Regel an bestehenden kirchlichen Bezirken und waren hierarchisch gegliedert. An der Spitze standen die schließlich 42 Präzeptoreien bzw. später Generalpräzeptoreien, denen wiederum die kleineren Balleien, Niederlassungen oder Häuser in ihrem Sprengel, die vornehmlich als Stützpunkte für die Sammlungstätigkeit des Ordens und seiner Vertreter dienten, zugeordnet wa-

1

Siehe einleitend Adalbert MISCHLEWSKI, D e r Antoniterorden und seine Generalpräzeptoreien fur die Niederlassungen in der S c h w e i z , in: D i e Antoniter, die Chorherren v o m Heiligen Grabe und die Hospitaliter v o m Heiligen Geist in der S c h w e i z , hg. v o n Eisanne GlLOMEN-SCHENKEL (Helvetia Sacra 4, 4, 1996) S. 3 7 - 7 6 , hier S. 37-52, und DENS., Antoniusorden, Antoniter, in: L e x . M A 1 ( 1 9 9 9 ) Sp. 7 3 4 f.

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BALLEI DES ANTONITERORDENS ESSLINGEN

ren. Die für das Bistum Konstanz eingerichtete Generalpräzeptorei 2 wurde vor 1290 in Freiburg eingerichtet und fand, hoch verschuldet und von ihren Vorstehern systematisch ausgeplündert, mit der Vergabe durch die vorderösterreichische Regierung im Jahr 1527 an den nicht dem Antoniterorden angehörenden Rudolf Ecklin, Propst von St. Ulrich, in gewisser Weise ihr Ende 3 . Nach 1437 unterstanden ihr, ausweislich der benötigten Erlaubnisbriefe des Bischofs für das Sammeln von Almosen, insgesamt zwölf Niederlassungen bzw. Balleien, von denen zum jetzigen Zeitpunkt elf zu identifizieren sind: Konstanz, Uznach, Nimburg, Burgdorf, Kleinbasel, Villingen, Ravensburg, Reutlingen, Rottenburg, Ulm - und eben Esslingen. Die Mehrzahl dieser Niederlassungen entstand - legt man die Ersterwähnungen zugrunde - offenbar erst im 15. Jahrhundert (etwa Reutlingen: 1411, Ravensburg: 1413, Burgdorf: 1450, Villingen: 1451), als der Antoniterorden bereits deutlich den Höhepunkt seiner Geschichte überschritten hatte. Die Strukturen der vielfach in den Quellen nur schemenhaft fassbaren Balleien differieren ganz erheblich voneinander, etwa in Bezug auf das Vorhandensein eines angegliederten Hospitals (wie etwa in Ravensburg), einer von Ordensangehörigen betreuten AntoniusKapelle oder die personelle Ausstattung. So ist zwischen einfachen Häusern, die offenbar ausschließlich als Ausgangspunkte für die Sammliingstätigkeit fungierten - darum handelt es sich in Esslingen - , und Niederlassungen mit Hospital und geistlichem Zentrum (Kapelle) zu unterscheiden. Die 1531 zur Reformation übergetretene innerschwäbische Reichsstadt Esslingen am Neckar kann für ihre mittelalterliche Geschichte ohne Zweifel als eine Stadt mit einer ausgeprägten klösterlichen Prägung bezeichnet werden. Bei einer Einwohnerzahl von ca. 6000-7000 Personen beherbergte Esslingen je einen Konvent der Dominikaner, Franziskaner, Karmeliten und Augustiner-Eremiten sowie je ein Klarissen- und ein Dominikanerinnenkloster 4 .

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Der Terminus Generalpräzeptor bzw. -präzeptorei für die übergeordneten Verwaltungseinheiten des Antoniterordens auf der Ebene eines oder mehrerer Bistümer ist im strengen Sinne vor der Reform der Ordensstatuten im Jahr 1477 anachronistisch, findet hier aber im Folgenden zur Verdeutlichung der unterschiedlichen Hierarchien durchgehend Verwendung; siehe dazu Adalbert MISCHLEWSKI, Der Antoniterorden in Deutschland, Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 10 (1958) S. 39 f. Eine ausführliche Geschichte der Antoniter Generalpräzeptorei Freiburg und der ihr unterstehenden Niederlassungen fehlt bislang; siehe aber Heiko HAUMANN / Hans SCHADEK (Hgg.), Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau 1: Von den Anfängen bis zum „Neuen Stadtrecht" von 1520 (1996) S. 448 f., und MISCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 2) S. 60-62, sowie DENS., Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 55-57. Siehe dazu u. a. Robert UHLAND, Die Esslinger Klöster im Mittelalter, Esslinger Studien 8 (1961) S. 7-42; Joachim J. HALBEKANN, Esslingen, in: Württembergisches Klosterbuch. Klöster, Stifte und Ordensgemeinschaften von den Anfangen bis in die Gegenwart, hg. von W o l f g a n g ZIMMERMANN u n d N i c o l e PRIESCHING ( 2 0 0 3 ) S. 2 3 4 - 2 4 1 u n d 4 5 9 f.; J ö r g

OLSZEWSKL, Das Mendikantenkloster im 13. und 14. Jahrhundert am Beispiel von Esslingen, in: Varia histórica, Beiträge zur Landeskunde und Geschichtsdidaktik. Festschrift Rainer

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Darüber hinaus trugen die verschiedenen, in Esslingen als Pfleghöfe bezeichneten Wirtschaftshöfe geistlicher Institutionen - so etwa der Benediktiner (Blaubeuren, St. Blasien) und vor allem der Reformorden der Zisterzienser (Salem, Bebenhausen, Kaisheim, Fürstenfeld) oder Prämonstratenser (Adelberg) - zu einer ausgesprochen intensiven, bezogen auf die Größe der Stadt geradezu überrepräsentativen Präsenz klösterlicher Organisationen in Esslingen bei5. Sind die einzelnen Pfleghöfe sowie die Niederlassungen der Bettelordensklöster bislang zwar nicht in jedem Fall ausreichend gut erforscht, aber doch zumindest vielfach erwähnt worden, fehlt demgegenüber beinahe jeglicher Hinweise auf eine Esslinger Niederlassung des Antoniterordens6, vor allem in der stadtgeschichtlichen Literatur7, so dass deren Geschichte bis heute als ebenso unbekannt wie unerforscht gelten kann8.

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Jooß zum 50. Geburtstag, hg. von Gerhard HERGENRÖDER (1988) S. 106-181; Iris HOLZWART-SCHÄFER, „Großer gotzdienst, ußschwaiffig wandel". Die Esslinger Mendikanten von den Klosterreformen des 15. Jahrhunderts bis zur Reformation, Esslinger Studien 42 (2003) 5. 65-116. Siehe dazu: Die Pfleghöfe in Esslingen. Katalog zur Ausstellung vom 17. Dezember 1982 6. Februar 1983, hg. vom Stadtarchiv Esslingen (1982). So etwa auch bei Friedrich BRAUN, Die Antoniter und ihr Haus in Memmingen (I.), Beiträge zur Bayerischen Kirchengeschichte 9 (1903) S. 241-270, hier S. 253: Aufzählung der deutschen Niederlassungen ohne Esslingen; MlSCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 2), und DERS., Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 8, 1976), wo Esslingen auch in der beiliegenden Faltkarte II, in der alle Häuser kartiert wurden, im Gegensatz zu den meisten anderen Niederlassungen innerhalb der Präzeptorei Freiburg/Konstanz nicht eingezeichnet ist. Die Esslinger Niederlassung hat Erwähnung gefunden bei: Manfred HERMANN, Das Antoniterhaus in Villingen, Schriften des Vereins für Geschichte und Naturgeschichte der Baar 28 (1970) S. 139, Anm. 7, und Dieter MANZ, Neue Kunde von den Antonitern, Der Sülchgau 17 (1973) S. 9-13, hier S. 9, sowie, auf diese Werke verweisend, dann bei MlSCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 37-76, hier S. 56, und Anton LUTZ, Antonius der Einsiedler. Der Heilige mit dem Schwein - Seine Verehrung in Oberschwaben - Das Antoniterspital Ravensburg (2002) S. 48.

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Die Antoniter fehlen in den Überblicksdarstellungen zur Esslinger Geschichte, so in der noch dem Positivismus des 19. Jahrhunderts verpflichteten, aber materialreichen und aufgrund ihrer Verwendung zwischenzeitlich verlorenen Archivmaterials immer noch wertvollen Arbeit von Karl PFAFF, Geschichte der Reichsstadt Esslingen 1-2 (1840/41), bis zur letzten Gesamtdarstellung von Otto BORST, Geschichte der Stadt Esslingen am Neckar ( 3 1978). Ebenso finden sich keine Hinweise in kirchengeschichtlich orientierten Arbeiten, wie etwa Otto SCHUSTER, Kirchengeschichte von Stadt und Bezirk Esslingen (1946), und Tilmann Matthias SCHRÖDER, Das Kirchenregiment der Reichsstadt Esslingen. Grundlagen - Geschichte - Organisation (Esslinger Studien - Schriftenreihe 8, 1987). Die erste, wenige Zeilen umfassende und dem damaligen Kenntnisstand geschuldet unvollständige Arbeit von Joachim J. HALBEKANN, Esslingen (wie Anm. 4) S. 238.

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Für die bisherige Nichtbeachtung antonitischen Wirkens in Esslingen können verschiedene Ursachen namhaft gemacht werden: die insgesamt geringe Bedeutung der Niederlassung, die sich im Fehlen eines angeschlossenen Spitals, einer Kapelle sowie entsprechenden Personals

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Adalbert Mischlewski als bester Kenner hat für die Antoniter eine strukturelle Quellenarmut konstatiert, die auch aus der größeren ökonomischen Bedeutung des Terminierens gegenüber anderen Wirtschaftsformen resultiere, die ein höheres Maß an Schriftlichkeit generierten. Diese eher schlechte Quellenlage trifft nicht nur für die gesamte Generalpräzeptorei des Bistums Konstanz in Freiburg9, sondern auch für Esslingen zu, für das wir beinahe keine Nachrichten antonitischer Provenienz und keine Spuren eines Archivs besitzen. Außerdem finden sich die Belege einer antonitischen Präsenz in Esslingen vor allem in zwei zwar historisch bedeutenden, aber außerordentlich umfangreichen und ungenügend erschlossenen Quellenbeständen, die durchzusehen waren: zum einen in den zwischen 1360-1460 geführten städtischen Steuerbüchern, zum anderen in den zwischen 1434-1584 vorliegenden Missivenbüchern mit der ausgehenden Korrespondenz des Rats, wobei sich hierbei die zusätzliche Schwierigkeit ergibt, dass eingehende Antwortschreiben durchgehend fehlen.

Die Vorsteher der Esslinger Niederlasung des Antoniterordens Die erste gesicherte Erwähnung eines Antoniters in Esslingen datiert in das Jahr 1427. In diesem Jahr wird in den Steuerbüchern, allerdings ohne Angabe von Vermögen, Steuersumme und Namensnennung, ein Anthoniger aufgeführt10, der unmittelbar neben der Frauenkirche im Nordwesten der Kernstadt wohnte". Anhand anderer Quellen ist es mit hinreichender Sicherheit mög-

manifestiert, ihre vergleichsweise kurze, weniger als ein Jahrhundert umspannende Präsenz in Esslingen sowie quellenspezifische Probleme. 9 Zum Verhältnis zwischen Konstanz und Freiburg siehe MlSCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 2) S. 60, der darüber hinaus konstatiert, dass die Quellenlage bei keiner anderen deutschen Generalpräzeptorei ähnlich schlecht ist. 10 Stadtarchiv Esslingen [künftig: StAE], Bestand Reichsstadt, Steuerbücher [künftig: RS Stb.], 1427, Bl. lr und 24r. Zu den bedeutenden Esslinger Steuerbüchern, ca. 100 Bänden, siehe immer noch Eberhard KlRCHGÄSSNER, Wirtschaft und Bevölkerung der Reichsstadt Esslingen im Spätmittelalter. Nach den Steuerbüchern 1360-1460, Esslinger Studien 9 (1964). Mehrere Nennungen einer Person oder Institution in den einzelnen Bänden der Steuerbücher beruhen auf der Tatsache, dass im heutigen Formierungszustand der Bände sowohl mehrere Versionen eines Steuerbuches als auch - ab ca. 1400 - die Steuerbücher einer zweiten jährlichen Steuer bisweilen physisch miteinander verbunden sind. Ab dem 15. Jahrhundert trat neben die Martinisteuer (9. November) die am Tag des heiligen Georg (23. April) fällige Jörgensteuer, deren Unterlagen - da das Haushaltsjahr jeweils im November begann - hinter (!) den Martini-Steuerbüchern eingebunden wurden. Insofern müsste der überlieferte Band des o.g. Haushaltsjahres korrekterweise als „1427/28" bezeichnet werden. 11 Allerdings kann angesichts des mangelhaften Erschließungsgrades und der wechselhaften Terminologie der Steuerbücher sowie des fragmentarischen Eintrags ohne Vermögensangabe nicht ausgeschlossen werden, dass der 1427 erwähnte Angehörige des Ordens entweder

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lieh, den genannten Antoniter als Trutwin Molitor bzw. Müller zu identifizieren, der sich in einem Brevier Esslinger Provenienz mit der Datierung 1432 als Schreiber dieser Handschrift und vor allem als ehemaligen Antoniter bezeichnet 12 . Aller Wahrscheinlichkeit nach war Molitor bereits vor 1423 dem Orden verbunden13. Ob Molitor aber bereits 1423 in Esslingen tätig war, muss offen bleiben. Die nachträgliche Streichung eines Eintrags betreffend den Antoniter im Steuerbuch der Jörgensteuer von 1429 14 , die sich in der pejorativen Selbstbezeichnung als Anthoniaster15 manifestierende Distanzierung Molitors von dem Orden, noch 1438 bestehende finanzielle Forderungen seinerseits 16 sowie der Nachweis eines nächsten Antoniters in Esslingen im Jahr 1429 lassen vermuten, dass Molitor den Orden Ende 1428/Anfang 1429 vermutlich im Unfrieden verlassen hat. Spätestens seit 1433 bis 1437 amtierte Trutwinus Müller von Upptingen, den man nempt Anthonier11, an der Esslinger Frauenkirche18 als einer der drei Kirchenpfleger 19 . Ebenfalls auf die antonitische Vergangenheit

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selbst zuvor an anderer Stelle in Esslingen gewohnt hat oder aber der Nachfolger eines anderen, in einem anderen Haus wohnhaften Antoniters war. 1432° completus est Uber iste per me Trutwinum Molitorem quondam Anthoniaster (!), habens (!) defectum in dextera (!) police (!) (Esslingen, Kirchenbibliothek, Hs. 1, Bl. 233v); siehe Zitat und Beschreibung der Handschrift bei: Gerd BRINKHUS / Felix HEINZER, Die Esslinger mittelalterlichen Papierhandschriften, Esslinger Studien 36 (1997) S. 41-78, hier S. 47. Als Vorderspiegel des Breviers dient eine fragmentarische Urkunde des Konstanzer Bischofs vom 22. April 1423, die ebenfalls die Antoniter betrifft und für die Molitor wohl nach seinem Ausscheiden aus dem Orden keine Verwendung mehr hatte (Esslingen, Kirchenbibliothek, Hs. 1). Die Urkunde ist insbesondere am oberen Rand beschnitten. In den Regesta episcoporum Constantiensium. Regesten zur Geschichte der Bischöfe von Konstanz von Bubulcus bis Thomas Berlower, 3: 1384-1436, hg. von der Badischen Historischen Commission, bearb. von Karl RIEDER (1913), findet sich das Diplom nicht. StAE RS Stb. 1428 B, Bl. lr (hier und im Folgenden handelt es sich bei den mit "B" gekennzeichneten Bänden der Steuerbücher um die Unterlagen der Jörgensteuer). Esslingen, Kirchenbibliothek, Hs. 1, Bl. 233v. StAE, Bestand Reichsstadt, Missivenbücher [künftig: MB], Bd. 2, Bl. 206. StAE, Bestand Katharinenhospital [künftig: KS], U 1728, ebenfalls am 28. April 1436 (StAE KS U 1745) und am 24. Juli 1437 (StAE KS U 1757). Bei der Herkunftsbezeichnung Müllers handelt es sich wohl um Iptingen, Lkr. Pforzheim, Baden-Württemberg. In der verfügbaren, allerdings wenig umfangreichen Literatur zu einzelnen Antoniterniederlassungen im Bereich der Generalpräzeptorei Freiburg konnte Molitor nicht nachgewiesen werden. Zur Geschichte der nach 1321 erbauten Kirche siehe SCHRÖDER, Kirchenregiment (wie Anm. 7) S. 42 ff. Dem dortigen Allerseelenaltar gehörte später auch das erwähnte Brevier; siehe dazu Moritz FREIHERR VON CAMPENHAUSEN, Der Klerus der Reichsstadt Esslingen 1321-1531. Das Verhältnis des Rates zu den Geistlichen von der Kapellenordnung bis zur Reformation (Esslinger Studien - Schriftenreihe 19, 1999) S. 245. Vom 5. Dezember 1454 datiert die früheste Nachricht über einen Antoniusaltar in der Frauenkirche (StAE KS U 617). Es ist aber unklar, ob es sich dem genannten Titularheiligen um den heiligen Eremiten Antonius oder Antonius von Padua gehandelt hat. Für einen antonitischen Hintergrund des Frauenkirchenpflegers Müller spricht auch die

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Müllers, der zwischen Ende 1433 und April 1436 das Bürgerrecht erwarb20, verweist ein in den städtischen Missivenbüchern erhaltenes Schreiben von Bürgermeister und Rat der Stadt Esslingen vom 30. Januar 1438 an den in Freiburg residierenden Generalpräzeptor des Antoniterordens für das Bistum Konstanz, Wilhelm von Sarron. In diesem Schreiben wird Trutwinus Muller, der alt bitter uwers ordens21, erwähnt, dem offenbar noch Zahlungen in Höhe von 10 Gulden von seinem Nachfolger zustanden. Obwohl wir also wissen, dass Trutwin Molitor mindestens bis 1438 in Esslingen blieb, findet er sich in diesem Zeitraum zumindest unter seinem Namen nicht in den entsprechenden Steuerbüchern. Wahrscheinlich verbirgt er sich aber hinter zwei Einträgen im Steuerbuch von 1435, denenzufolge ein Antonier bi dem Appotegger gesessen bzw. ein Antoniner der alt steuerpflichtig waren22. Auch der anonyme Antoniter in den Jahrgängen 1436-1439 23 wird wohl mit Molitor gleichzusetzen sein, da sich der Wohnsitz just in der Nähe der Frauenkirche befand, an der bereits 1427 ein Antoniter - wohl Trutwin Molitor - wohnte24. Bereits 1429 tritt mit Waithuser Denger von Kalb, wohl Calw, ein zweiter Antoniter in Esslingen in Erscheinung25. An seiner Zugehörigkeit zum Anto-

Esslinger Praxis, temporär einen dritten Pfleger in die Vermögensverwaltung der Frauenkirche miteinzubinden. In solchen Fällen handelte es sich in der Regel um einen Geistlichen, der die beiden anderen patrizischen und zünftischen Pflegern ergänzte; siehe dazu Marc Carel SCHURR, Die Architektur der Esslinger Frauenkirche. Form und Funktion im Mittelalter, in: DERS./U. KNAPP/K. REICHARDT, D i e E s s l i n g e r F r a u e n k i r c h e . A r c h i t e k t u r , P o r t a l e ,

Restaurierungsarbeiten (Esslinger Studien - Schriftenreihe 18, 1998) S. 60. 20 In dem Diplom vom 24. Dezember 1433 bezeichnet sich Molitor noch eindeutig nicht als Bürger (StAE KS U 1728), anders bereits in der Urkunde vom 28. April 1436 (StAE KS U 1745). 21 StAE MB, Bd. 2, Bl. 206. 22 StAE RS Stb. 1435 A, Bl. 16v, 1435 B, Bl. 53v. Beide Nennungen finden sich unter der Rubrik der sogenannten „Ausbürger", also der Esslinger Bürger mit auswärtigem Wohnsitz. 23 StAE RS Stb. 1436 A, Bl. 9r, Stb. 1437 A, Bl. lr, Stb. 1437 B, Bl. lr, Stb. 1438, Bl. lr. 24 Sowohl 1427 als auch 1436 ist jeweils Peter Staiger der unmittelbare Nachbar in der Steuerliste, außerdem ist auch die Position innerhalb des Ganges identisch. Zudem wird das Vermögen dieses Antoniters 1436 mit 60 Pfund Heller auf genau diejenige Summe beziffert, die 1435 als Vermögen des bei dem Apotheker wohnenden Antoniters angegeben worden war. 25 StAE RS Stb. 1427 A, Bl. 24r und 76r, 1427 B, Bl. 20r und 57r. Zeitlich parallel finden sich in den einschlägigen Esslinger Quellen auch ein Peter Walthauser (1424-1450) sowie ein Wilhelm Walthauser (1430-1447), beide Mitglieder des Stadtgerichts, letzterer zudem Zunftmeister der Krämerzunft und Spitalsvogt. Fritz BERGER/Otto R. ETTER, Die Familiennamen der Reichsstadt Eßlingen im Mittelalter (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Reihe B, Forschungen 15 - Esslinger Studien 7, 1961) S. 366 unterscheiden zwischen den diversen Adeligen und Bürgern, die den Namen Walthauser als zum Nachnamen verfestigte Herkunftsbezeichnung tragen, und anderen, bei denen Walthauser als der Vorname Balthasar zu interpretieren ist und die demzufolge in keinem verwandtschaftlichen Zusammenhang mit ersteren stehen. Allerdings erkennen sie ebd. S. 156 die Namensform Denger, Teniger, Teninger fälschlicherweise nicht als Kennzeichen der Verbindung Walthausers zum Antoniterorden.

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niterorden kann kein Zweifel bestehen, da von 1429 bis 1437 ein am selben Ort innerhalb der Vorstadt Pliensau26 wohnhafter Antoniter jeweils dieselbe Vermögenssumme von 216 Pfund Hellern versteuerte27. Das Ende seiner Tätigkeit in Esslingen lässt sich ziemlich genau zwischen Januar28 und Mai/Juli 1438 eingrenzen29, wofür die Verleihung eines Hofes in Haselstadt durch Pfalzgraf Otto an einen pfaff Walthauser von Calw30 als auch der für Anfang November 1438 unstrittige Nachweis eines nächsten Antoniters in Esslingen sprechen. Spätestens am Ende seiner Amtszeit hatte Walthauser offenbar beträchtliche Schulden bei dem Generalpräzeptor in Freiburg31. Der Antoniter selbst schlug zur Tilgung der Schuldsumme den Verkauf seines Haus in Esslingen vor, wofür er entweder sofort 180 Gulden oder in zwei Raten insgesamt 200 Gulden erlösen könne. Erwogen wurde auch die Übergabe der Immobilien an den Generalpräzeptor in Freiburg. Wie und ob der Konflikt gelöst wurde, ist unklar. Unstrittig wird man in den Schulden unbekannter Höhe die erst für seinen Nachfolger dokumentierte jährliche Zahlung an den Generalpräzeptor in Freiburg sehen müssen, die die jeweiligen Esslinger Antoniter als Pfründeninhaber zu leisten hatten. Diese Schulden werden in etwa dem zwischen 180 und 200 Gulden liegenden Wert der Liegenschaften des Walthausers entsprochen haben32. Ebenso wie bei Trutwin Müller lässt

26 Nach der Rekonstruktion des festgelegten Weges der Steuereinnehmer nach KLRCHGÄSSNER, Wirtschaft (wie Anm. 10) S. 60 mit Karte befand sich Walthausers Wohnstatt an dem im Jahr 1333 erstmalig erwähnten Rossmarkt, einem in der Nähe der Kernstadt gelegenen Platz am sog. Rossneckar in der Pliensau, der ältesten, dichtbesiedeltsten und einwohnerstärksten Esslinger Vorstadt; zur Pliensau siehe Iris HOLZWART-SCHÄFER, Stadtwerdung und topografische Entwicklung Esslingens im Mittelalter. Möglichkeiten und Grenzen historischer Erkenntnis, in: Materialien zur Geschichte, Archäologie und Bauforschung in Esslingen am Neckar, hg. vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg (Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 64, 2001) S. 21-48, hier S. 34 f. 27 Seine Bezeichnung in den Steuerbüchern wird im Laufe der Jahre zwar immer summarischer, gilt aber zweifellos jeweils derselben Person: 1429: Waithuser Denger von Kalb (StAE RS Stb. 1429 A, Bl. 24r), 1430: Waithuser Teniger von Kalb (StAE RS Stb. 1430 A, Bl. 74r), 1431: Dennig[er] Waithuser (StAE RS Stb. 1431 A, Bl. 24v), ab 1431 durchgängig: Antonier Waithuser, zuletzt insgesamt viermal im ausfuhrlichen Band des Jahres 1437, in dem der Eintrag allerdings jeweils gestrichen ist (StAE RS Stb. 1437 A, Bl. 21r, die übrigen Einträge ohne Blatt- oder Seitenzählung). 28 StAE MB, Bd. 2, Bl. 205. 29 Der Eintrag zu Waithuser ist im Steuerbuch der Jörgensteuer von 1438 gestrichen (StAE RS Stb. 1437 B, o. Bl.). Da die Steuerbücher des vorigen Rechnungsjahres (hier: 1437/38) zuerst wieder als Vorlagen der Erhebung der Martinisteuer des nächsten Jahres dienten, muss die Streichung zwischen Ende April und Anfang November 1438 angebracht worden sein. 30 Württembergische Regesten [künftig: WR] von 1301 bis 1500 (1916-1940) Nr. 14633 vom August 1438. 31 StAE MB, Bd. 2, Bl. 205. 32 Die Vermögenssumme von 216 Pfund Hellem liegt dabei ein wenig höher als die Einschätzung des Liegenschaftsbesitzes, der sicherlich den größten Teil von Walthausers Besitz aus-

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sich auch bei Waithuser annehmen, dass er ein Kleriker - vielleicht ein Weltgeistlicher mit niederen Weihen - gewesen ist. Dafür spricht zum einen seine Bezeichnung als her in einem Schreiben des Esslinger Rates an den Generalpräzeptor von 1438, zum anderen seine Benennung als pfaff in der Lehenübertragungsurkunde des Pfalzgrafen Otto vom August desselben Jahres33. Die Nachfolge Walthausers hat erneut ein nicht aus der Reichsstadt stammender Antoniter übernommen. Spätestens seit dem 10. November 1438 amtierte in Esslingen der aus Rüdlingen bzw. Schaffhausen34 stammende Hans Stähelin35, der sich möglicherweise zuvor in Straßburg aufgehalten hatte36. Am 10. November 1438 stellte Stähelin, der sich selbst als bruder [...] Sant Anthonien ordes (!) und des huses Sant Anthonien ze Fryburg im Bryßgoew, also als Mitglied der Freiburger Generalpräzeptorei bezeichnet, in Esslingen eine Bestätigungsurkunde über den Kauf eines Hauses des Esslinger Bürgers Hans Bermitter am Rossmarkt37 für günstige 18 Pfund Heller sowie den angrenzenden Stall des Bürgers Ulrich Messinhopt für 15 Pfund, 8 Schilling Heller aus38. Stähelin tätigte den Kauf ausdrücklich nicht für sein Privatvermögen, sondern zu Händen des Heiligen Antonius an das vorgenant sin hus ze Fryburg. Er verpflichtete sich eigens, dass er und alle nachfolgenden antonitischen Besitzer die Liegenschaft öffentlich und jährlich zu versteuern hätten und sie nur an einen Esslinger Bürger weiterzuverkaufen sei. Spätestens 1438 darf man also expressis verbis von einer auf Dauer angelegten antonitischen Niederlassung, einer Ballei 39 , in Esslingen sprechen, deren Rechtsverhältnisse

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gemacht hat; zu Währungsordnung und Wechselkursen in Esslingen siehe ausführlich KlRCHGÄSSNER, Wirtschaft (wie Anm. 10) S. 19 ff. WR (wie Anm. 30) Nr. 14633. Als von Rüdlingen hurtig wird Hans Stähelin nur ein einziges Mal, in einem Schreiben der Stadt Esslingen an Herzog Albrecht VI. von Österreich vom 14. August 1450 (StAE MB, Bd. 3, Bl. 282v) bezeichnet. Da sich auch in seinem diplomatischen Erstnachweis in Esslingen, einer Urkunde vom November 1438, die Selbstbezeichnung als Hans Stähelin von Schaffhausen findet (StAE RS U 1312), wird man davon ausgehen können, dass es sich bei dem Ort um Rüdlingen, Kanton Schaffhausen, Schweiz, handelt. Bislang konnte Stähelin noch nicht in anderen Städten als Antoniter nachgewiesen werden. Sowohl der Vorname als auch die Schreibweise des Nachnamens differiert in den Quellen, wird im Folgenden aber zu Hans Stähelin vereinheitlicht. StAE MB, Bd. 3, Bl. 75v. Dort war zuvor bereits Stähelins Vorgänger Waithuser versteuert worden, wobei es sich angesichts des Kaufpreises aber eher um ein anderes Objekt gehandelt haben dürfte. Allerdings ist auffällig, dass dasselbe Objekt 1447-1449 im Kontext des sog. Esslinger Steuerstreits zwischen der Stadt und den Geistlichen um die Besteuerung geistlicher Güter bereits auf 100 Pfund Heller geschätzt wurde (StAE RS, Fasz. 392 III, Bl. lv). Die deutliche Erhöhung des Werts könnte auch aus einer Neueinschätzung resultieren; zum Steuerstreit siehe CAMPENHAUSEN, Klerus (wie Anm. 18) S. 70-73. So die Bezeichnung des Rats in einem Schreiben an den Rat der Stadt Straßburg (StAE MB, Bd. 3, Bl. 75v).

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der städtische Rat auf der Linie seiner Politik der Sicherung städtischer Steuereinnahmen von geistlichen Personen und Institutionen regelte40. Hans Stähelin ist geraume Zeit, mit Sicherheit bis März 147141, vielleicht noch bis Anfang 147342 als Antoniter in Esslingen tätig gewesen. Obwohl die städtischen Steuerbücher 1460 enden, ist bekannt, dass er durchgehend die Niederlassung am Rossmarkt beibehalten43, vielleicht sogar erweitert hat44. Bislang ist es allerdings noch nicht gelungen, die antonitische Niederlassung am Rossmarkt - der noch heute diesen Namen trägt - zu identifizieren45. Stähelin war anscheinend zumindest anfangs wirtschaftlich recht erfolgreich,

40 Die Stadt Esslingen hatte 1330 von Ludwig dem Bayern ein Privileg zur künftigen Begrenzung des steuerfreien Besitzes geistlicher Institute erhalten, das 1345 dahingehend erweitert wurde, dass ausdrücklich zuvor steuerpflichtiger Besitz beim Übergang an geistliche Personen und Einrichtungen weiterhin steuerbar bleiben sollte; siehe dazu CAMPENHAUSEN, Klerus (wie Anm. 18) S. 69. Die Kaufurkunde Hans Stähelins im Namen des Antoniterordens trägt dem durch die ausdrückliche Besteuerungsverpflichtung und das Verbot des Weiterverkaufs an Nichtbürger Rechnung. 41 StAE MB, Bd. 7, Bl. 198v-199r. 42 StAE MB, Bd. 7, Bl. 264r. Am 24. März 1473 nahm der Rat mit Johann Schreiber den Nachfolger Stähelins an. 43 In den städtischen Steuerbüchern bleibt jeweils die Positionierung des Antoniters innerhalb des „Ganges" der Pliensau gleich. Als Anwohner am Rossmarkt wird Stähelin in drei Diplomen vom 5. November 1441 (StAE RS 2019), 6. September 1445 (StAE RS U 2042) und 8. Mai 1461 erwähnt (StAE KS U 314). In einer Urkunde vom 30. August 1481 nennt sein Nachfolger Johann Schreiber unter den Gütern, die er in Esslingen versteuern wird, eigens auch das Haus, das Hans Stähelin 1438 von Hans Bermitter gekauft hatte (und denne von Sani Anthonien ordens des hawses Sani Anthonien zu Freyburg im Breysgow ain haws, hoffraitin und stadel darbey, darinn ich yetzo sitz, [...] das Johannes Stähenlin von Schaffliawsen, mein vorfaren Anthonier hie zu Esslingen, von Hannsen Biermenter erkoufft) (StAE RS 1315). 44 In der Kaufurkunde von 1438 ist von dem Erwerb des Hauses des Hans Bermitter sowie eines Stalles mit Hof des Ulrich Messinhopt die Rede. In späteren Quellen, erstmals 1448, werden hingegen zway húser in unser statt gelegen erwähnt (StAE MB, Bd. 3, Bl. 75v). Es bleibt unklar, ob es sich dabei nur um den Komplex am Rossmarkt oder außerdem noch ein weiteres Haus an anderer Stelle gehandelt hat. 45 Der Nachbesitzer des Antoniterhauses am Rossmarkt ist unbekannt. Aus einer Stiftungsurkunde vom 8. Mai 1461 ist bekannt, dass der Esslinger Kleriker Eberhard Wagner an den Marienaltar in der nicht mehr erhaltenen Agneskapelle u. a. zwei Gulden aus Haus und Hofraite Hans Stähelins am Rossmarkt gestiftet hatte (StAE KS U 314). Als Rechtsnachfolger der im Gefolge der Reformation von 1531 aufgehobenen Kapellen fungierte der Kirchenkasten, in dessen Archiv sich im Jahr 1700 laut eines Registerbuchs diese Stiftungsurkunde befand (StAE, Bestand Kirchenkasten, Fasz. 198, 2, S. 24 f.). Da sich aber kein Lagerbuch des Kirchenkastens erhalten hat, in dem die ewigen Zinse einzeln erfasst worden sind, und dieser Posten in den vorhandenen Jahresrechnungen des Kirchenkastens nur summarisch aufgeführt wird, konnten der Zins und damit spätere Hausbesitzer noch nicht ermittelt werden.

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da sein steuerbares Vermögen von anfangs 60 Pfund Hellern auf 400 Pfund Heller (1458) anstieg46. Trotz dieses scheinbaren ökonomischen Erfolgs war die Ägide des Antoniters Hans Stähelin in Esslingen äußerst konfliktbeladen. Die erste nachweisbare Zwistigkeit entstand im Dezember 1444 aus der Konkurrenz mit den ebenfalls päpstlich privilegierten Spendensammlern des Heilig-Geist-Spitals in Markgröningen47. Erheblich tiefgreifender waren aber die zahlreichen ordensinternen Konflikte Stähelins, die ein deutliches Schlaglicht auf die enormen wirtschaftlichen Verwerfungen der Generalpräzeptoreien Freiburg und Isenheim, die rein finanziell orientierte Vergabepraxis der antonitischen Termineien sowie die tief greifenden, geradezu rücksichtslos geführten Maßnahmen der zumeist nepotistisch installierten Ordensvorsteher werfen. Vier Schreiben des Esslinger Rates vom 10. April 144848 lassen erkennen, dass von Jean Bertonneau, Generalpräzeptor zu Isenheim49, und etlichen anderen Antonitern gegen Stähelin ein Verfahren eingeleitet und ein Bann ausgesprochen worden war, deren Ziel seine Vertreibung aus der Esslinger Ballei und die Rückgabe seiner Verleihungsurkunden war50. Was der in Isenheim mit seinem finanziellen Sanierungskurs erfolgreiche Generalpräzeptor an der Tätigkeit Stähelins vorrangig auszusetzen hatte - etwa die zu geringe Höhe seiner jährlichen Zahlung an den Orden - geht aus den Schreiben nicht her-

46 Erster Eintrag mit Vermögensangabe 60 Pfund (StAE Stb. 1440 A, Bl. 21r), erster Eintrag mit Vermögensangabe 400 Pfund (StAE Stb. 1458 A, Bl. 21r). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass den unterschiedlichen Vermögenssummen nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern auch Veränderungen der städtischen Steuer- und Bewertungspolitik zugrunde liegen konnten; siehe dazu CAMPENHAUSEN, Klerus (wie Anm. 18) S. 70-73. 47 Siehe zu diesem Vorfall mit Hinweisen zur Datierung: Klaus MLLITZER, Das Markgröninger Heilig-Geist-Spital im Mittelalter. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 15. Jahrhunderts (VuF 19, 1975) S. 42. Da in der Serie der Esslinger Missivenbücher für das Jahr kein Band vorliegt, fehlen weitere Quellen. 48 Adressaten der Schreiben sind die Stadt Straßburg, der Generalpräzeptor des Antoniterordens für das Bistum Konstanz, Wilhelm von Sarron, Jean Bertonneau, und Meister Nikolaus Stainlin lie. utr. iuris, Schaffner der Antoniterniederlassung in Straßburg (StAE MB, Bd. 3, Bl. 75v-76v). Der Konflikt findet außerdem noch nachträgliche Erwähnung in einem Schreiben der Stadt an Herzog Albrecht VI. von Österreich vom 14. August 1450 (StAE MB, Bd. 3, Bl. 282v-283r). 49 Zur Generalpräzeptorei Isenheim siehe aus der Fülle der insbesondere das historische Umfeld des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald beleuchtenden Literatur zusammenfassend MISCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 2) S. 47-50; DENS., Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 57 ff., sowie Elisabeth CLEMENTZ, Les Antonins d'Issenheim. Essor et dérive d'une vocation hospitalière à lumière du temporel (Recherches et documents 62, 1998), zu Jean de Bertonneau bzw. Bertonelli siehe ebd. S. 244-246, und MISCHLEWSKI, Grundzüge (wie Anm. 6) S. 210, der ihn als „rastlos tätig" und „bedeutend" bezeichnet. 50 Dies geht am eindeutigsten aus der retrospektiven Schilderung von 1450 in dem Schreiben an Herzog Albrecht hervor: darmit er von der palye [...] gan werd (StAE MB, Bd. 3, Bl. 282v).

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vor. Der Esslinger Rat forderte die Freilassung des zum Verhör in Straßburg in Gefangenschaft festgehaltenen Stähelin51 und wies daraufhin, dass ihm die Bailei Esslingen von Wilhelm von Sarron auf lebtag und in lipdings wiß verliehen worden sei, wofür er jährlich 80 Gulden zu entrichten und der Generalpräzeptorei bzw. deren Spital in Freiburg im Falle seines Todes zwei Häuser in Esslingen vermacht habe. Angesichts dieser Argumentation und der versuchten Herbeiziehung des zuständigen Generalpräzeptors in Freiburg wird es sich kaum um eine kurzfristige Verstimmung, sondern um einen bereits länger andauernden Konflikt gehandelt haben, hinter dem nicht nur ein Fehlverhalten Stähelins bzw. eine von den Ordensoberen als unrecht- oder unzweckmäßig erachtete Verleihung der Bailei anzunehmen ist, sondern auch ernste Auseinandersetzungen zwischen den Generalpräzeptoren von Isenheim und Freiburg. Der Rechtstitel des Isenheimers zum Eingreifen in die Verhältnisse der Bailei Esslingen, die der für das Bistum Konstanz zuständigen Generalpräzeptorei in Freiburg unterstand, lag wohl in der Funktion Jean de Bertonneaus als Generalvikar des Antoniterordens in Deutschland52, was ihm weitgreifende Vollmachten auch zum Eingriff in andere Sprengel verliehen haben wird. Entscheidend für Stähelins letztendliche Freilassung und seinen Verbleib im Amt scheint schließlich Herzog Albrecht VI. von Österreich gewesen zu sein, der von Stähelin kontaktiert worden war und sich mit einem Schreiben an die Konfliktparteien wandte53. Bereits im August 1450 eskalierten nun auch die Auseinandersetzungen Hans Stähelins mit seinem direkten Vorgesetzten54, dem seit 1449 amtierenden Freiburger Generalpräzeptor Antoine de Lyasse, einem Mann „überdurchschnittlichen Formats", dessen Familie die Präzeptorei bis zu ihrem Ende 1527 wie einen „Erbhof' 5 5 behalten sollte. Im August 1450 war Stähelin erneut in Gefangenschaft geraten, diesmal in Freiburg, vor dessen Toren ihn der Generalpräzeptor trotz der vorherigen Zusage freien Geleits ergriffen und nachts in die Stadt geführt habe56. Die erneut eindeutig ihren antonitischen

51 StAEMB, Bd. 3, Bl. 28 lv. 52 In dem Schreiben der Stadt Esslingen wird er 1448 als gebietter zu Ysenhain, vicarien Sant Anthonien ordern in Tüt'schen landen bezeichnet (StAE MB, Bd. 3, Bl. 76v). MISCHLEWSKI, Grundzüge (wie Anm. 6) S. 251, Anm. 4, weist Jean als Vikar erst für den 30. Oktober 1454 nach. 53 In der nächsten Auseinandersetzung um Stähelin schrieben die Esslinger deshalb an den Herzog und verwiesen ausdrücklich auf dessen vorherige Hilfestellung für den Antoniter, die dieser gerühmt habe (StAE MB, Bd. 3, Bl. 282v-283r). 54 Aus einem Schreiben des Esslinger Rats vom 29. September 1450 an Bischof Heinrich von Konstanz geht eindeutig hervor, dass dieser Konflikt bereits länger bestand (StAE MB, Bd. 3, Bl. 301 v). 55 MISCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 56. 56 Adressaten der Schreiben sind der Rat in Freiburg, der Generalpräzeptor und Herzog Albrecht VI. von Österreich (StAE MB, Bd. 3, Bl. 281v-283r).

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Hintersassen unterstützenden Esslinger schilderten, dass der gutgläubige Stähelin unter dem Vorwand, gegenüber dem Ordensoberen wirtschaftlich Rechenschaft abzulegen, nach Freiburg gelockt worden sei, um ihn nach seiner Festnahme dazu zu nötigen, die Ballei aufzugeben, sich zu Zahlungen zu verpflichten und seine Verleihungsurkunden herauszugeben. Die Esslinger baten um die Entlassung Stähelins sowie die Einschaltung anderer Instanzen wie Herzog Albrecht VI. von Österreich 57 , den Bischof von Konstanz, Dekan und Kapitel der Freiburger Kirche, den Freiburger Rat, aber auch Dekan und Kapitel der Esslinger Kirche oder sich selbst. Gegebenenfalls könnten auch der Generalvikar und Generalpräzeptor in Isenheim als direkter Vorgesetzter der Antoniter (der ir beder ober ist), der Propst von Stuttgart 58 und der mit Stähelin wirtschaftlich verbundene Eberhard Wagner, Chorherr von St. Johann in Konstanz 59 , gemeinsam eine von den Parteien zu befolgende Lösung finden. Aus zwei weiteren Schreiben des Esslinger Rats an Bischof Heinrich von Konstanz und das dortige Domkapitel von Ende September 1450 ergibt sich, dass die Auseinandersetzung offenbar vor dem Bischof bzw. dem geistlichen Gericht in Konstanz ausgetragen werden sollte60. Der Rat kündigte daraufhin an, den offenbar zwischenzeitlich erneut aus der Gefangenschaft entlassenen und nach Esslingen zurückgehrten Hans Stähelin nach Konstanz zu senden. Zur Unterstützung wurde ihm in Eberhard Wagner jener Esslinger Geistliche mit besten Kontakten zum bischöflichen Hof beigesellt, der schon im August als mögliches Mitglied eines Schiedsgerichts avisiert worden war. Das Ergebnis des Schiedsgerichtes scheint schließlich zugunsten Stähelins ausgefallen zu sein und wird wohl in einer Anerkennung der bereits vollzogenen bzw. einer erneuten Verleihung der Esslinger Ballei gelegen haben. Der Freiburger Generalpräzeptor setzte allerdings noch vor dem Ende des Verfahrens in Konstanz alles daran, Stähelins Tätigkeit in der Ballei Esslingen zu sabotieren und unterrichtete die württembergischen Amtsleute in benach-

57 Dem Herzog schmeichelten die Esslinger in ihrem Brief damit, dass er ein liebhaber des rechten sei (StAE MB, Bd. 3, Bl. 283r). 58 Wohl Johann von Westernach; siehe Oliver A U G E , Stiftsbiographien. Die Kleriker des Stuttgarter Heilig-Kreuz-Stifts (1250-1552) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 38,2002) S. 491-497. 59 In einer testamentarischen Stiftung vermachte Wagner vor 1461 der Esslinger Agneskapelle u. a. zwei Gulden Zins aus Stähelins Haus am Rossmarkt (StAE KS U 314). Bei Eberhard Wagner bzw. Esslinger handelt es sich um einen aus einer Esslinger Ratsfamilie stammenden, vielfach bepfründeten Kleriker mit intensivsten Kontakten in die Reichsstadt; siehe CAMPENHAUSEN, Klerus (wie Anm. 18) S. 226 f. Die Bezeichnung Wagners in der Quelle als Chorherr von St. Stefan beruht offensichtlich auf einer Verwechslung, da Wagner auch in Esslinger Quellen als Chorherr von St. Johann in Konstanz (StAE RS U 1570) nachgewiesen ist. In der Liste der Chorherren von St. Stefan bei Theodor HUMPERT, Chorherrenstift, Pfarrei und Kirche St. Stephan in Konstanz (1957) S. 228 fehlt sein Name hingegen. 60 StAE MB, Bd. 3, Bl. 301v-302r.

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harten Vogteien, dass Stähelin zum Terminieren keine Berechtigung mehr besitze61. Postwendend geriet dieser erneut in Haft, diesmal im württembergischen Nürtingen 62 , denn schon am 2. September 1450 mussten sich die Esslinger an den dortigen Vogt, Hans Glaheimer 63 , wenden, da ihnen die Gefangennahme Stähelins, der in unserm schirm und versprechen ist, unter Bruch des Geleitrechts durch Dienstleute des Grafen von Württemberg zu Ohren gekommen sei. Schon im Oktober 1450 beschwerten sie sich erneut bei einem württembergischen Amtmann, diesmal dem Vogt von Waiblingen 64 , sowie auch bei Antoine de Lyasse selbst65. Der Rat argumentierte zum wiederholten Male, dass Stähelin die Bailei Esslingen zugehörig sei, in der er das armüsen und die gaben sant Anthonien innemen sol und mag66. Aus der Sicht Stähelins und der Esslinger bedeutete die Einbindung Württembergs in den ursprünglich ordensinternen Konflikt mit Sicherheit eine weitere Eskalation. Zum einen wurde durch den Versuch der Sperrung des Terminierbezirks - dessen Großteil innerhalb der beiden württembergischen Territorien gelegen haben muss67 - die wirtschaftliche Basis der Bailei Esslingen gefährdet. Viel bedrohlicher musste aber die Verbindung dieses Streits mit dem seit 1445 aufflammenden militärischen Konflikt zwischen der Reichsstadt und Graf Ulrich von Württemberg im Rahmen des „Großen Städtekriegs" anmuten, der sich nach Kriegszügen und gegenseitigen Verheerungen im Herbst 1450 im Stadium eines äußerst labilen Waffenstillstands befand 68 . Bereits zwei Jahre später, 1452/53, sahen sich die Esslinger erneut genötigt, im Geflecht der tiefgreifenden Verwerfungen innerhalb der hierarchischen Ebenen des Ordens zwischen Hans Stähelin, Antoine de Lyasse als dem Generalpräzeptor in Freiburg, dem antonitischen Generalvikar für Deutschland, Jean Bertonneau aus Isenheim, und diesmal zusätzlich auch noch dessen Vorgesetztem, Petrus Mitte de Caprariis, dem antonitischen Multifunktionär

61 Adressat: Michael Keller, Vogt von Waiblingen (StAE MB, Bd. 3, Bl. 305v-306r). 62 StAE MB, Bd. 3, Bl. 291v. 63 Zu Hans Glaheimer (Glahamer) siehe Walther PFEILSTICKER (Bearb.), Neues württembergisches Dienerbuch 2: Ämter, Klöster (1963) § 2699. Zu den Aufgaben der württembergischen Vögte siehe Heidrun HOFACKER, Kanzlei und Regiment in Württemberg im späten Mittelalter (1989) S. 150-153. 64 Zu Michael Keller bzw. Schinnagel siehe PFEILSTICKER, Dienerbuch (wie Anm. 63) § 3011 u. 3016. 65 StAE MB, Bd. 3, Bl. 305v-306r. 66 StAE MB, Bd. 3, Bl. 305v. 67 Württemberg war seit 1441/42 geteilt, wobei die Besitzungen des territorialpolitisch aggressiveren Ulrich V. von Württemberg-Stuttgart die Reichsstadt Esslingen beinahe vollständig umschlossen; siehe Thomas FRITZ, Ulrich der Vielgeliebte (1441-1480), ein Württemberger im Herbst des Mittelalters. Zur Geschichte der württembergischen Politik im Spannungsfeld zwischen Hausmacht, Region und Reich (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 25, 1999) S. 31-48. 68 Siehe FRITZ, Ulrich der Vielgeliebte (wie Anm. 67) S. 106-111.

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und Visitator der deutschen und weiterer Antoniterniederlassungen 69 , intervenieren zu müssen. Noch am 13. Oktober 1452 scheint der Esslinger Antoniter geplant zu haben, nach Memmingen zu reisen, wohl um bei Petrus Mitte endlich um siner sacken ußtrag zu erholen70. Schon am folgenden Tag hatte der Rat aber offensichtlich erfahren, dass der bemitleidenswerte Stähelin in Straßburg, wohin er sich, umb etlich sin schulden an in [Jean Bertonneau, Anm. d. Vf.] zu erfordern71, begeben und nit anders danne rechts begert hatte 72 , erneut von dem Isenheimer Generalpräzeptor gefangen genommen und zu Eidesleistungen, vielleicht einem Verzicht auf die Ballei, und Zahlungen genötigt worden war. Die Esslinger baten de Lyasse in Freiburg unter Hinweis auf das getroffene Übereinkommen zwischen ihm und Stähelin, bei dem Meister in Isenheim auf Rücknahme seiner Maßnahmen zu dringen, drohten bei mangelnder Initiative mit einem erneuten Schiedsspruch des Konstanzer Bischofs und fugten warnend an, dass ansonsten der Meister in Isenheim und der gesamte Orden mit Unbill zu rechnen hätten: das wer uns laid73. Antoine de Lyasse scheint sich allerdings in diesen Konflikt nicht eingeschaltet zu haben. Die in diesem Kontext vorliegenden, vom Oktober 1452 bis in den Oktober 1453 datierenden neun Schreiben Esslingens richten sich an die Räte der Städte Memmingen und Straßburg, jeweils mit Bitte um Unterstützung, und den Schädiger Stähelins, den Isenheimer Generalpräzeptor 74 . Stähelin selbst drang mit Unterstützung der Esslinger darauf, als Kläger vor einem Straßburger Schiedsgericht gegen den Isenheimer Präzeptor aufzutreten 75 . Parallel plante Stähelin offenbar erneut eine Reise nach Memmingen zu Petrus Mitte, etlich Sachen ze handeln und ze tun, daran im vil und mercklichs gelegen ist76, die aber erneut wohl nicht zustande kam. Das letzte Schreiben in diesem Zusammenhang vom 16. Januar 1453 beinhaltet nämlich die erneute Bitte der Esslinger an Meister und Räte in Straßburg, bei dem anberaumten Gerichtstag dem Hans Stähelin zwei ehrbare und weise Ratsherren als Bei-

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Zu Petrus Mitte siehe detailliert MISCHLEWSKI, Grundzüge (wie Anm. 6) S. 171-348. Schreiben an den Rat der Stadt Memmingen (StAE MB, Bd. 4, Bl. 164r). StAE MB 4, Bl. 168r. Schreiben des Rats an Antoine de Lyasse in Freiburg (StAE MB, Bd. 4, Bl. 161 r). StAE MB, Bd. 4, Bl. 161r. 13. Oktober 1452 und 3. Januar und 1453: zwei Schreiben an Memmingen (StAE MB, Bd. 4, Bl. 164r u. 184v); 27. Oktober 1452: zwei Schreiben an Straßburg und Bertonneau (StAE MB, Bd. 4, Bl. 168r); [20.] Dezember 1452: zwei Schreiben an Straßburg und Bertonneau (StAE MB, Bd. 4, Bl. 179v-180r); 31. Dezember 1452: zwei Schreiben an Straßburg und Bertonneau (StAE MB, Bd. 4, Bl. 182r-v); 16. Januar 1453: ein Schreiben an Straßburg (StAE MB, Bd. 4, Bl. 187v). 75 StAE MB, Bd. 4, Bl. 182r-v. Bereits am 27. Oktober 1452 hatten die Esslinger ihre Bitte an Straßburg um Hilfe für Stähelin damit begründet, dass der Isenheimer Generalpräzeptor Hintersasse der Stadt Straßburg sei (StAE MB, Bd. 4, Bl. 168r). 76 StAE MB, Bd. 4, Bl. 184v. Mitte wird in diesem Schreiben als hochmeister bezeichnet.

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stand beizugeben, da es den Esslingern angesichts der unsicheren Zeitläufte 77 nicht möglich sei, ain unsers rats botschafft nach Straßburg zu entsenden 78 . Auch in diesem erneuten Konflikt mit den Hierarchen des Antoniterordens fehlen explizite Hinweise auf den Ausgang des Verfahrens, sieht man von der Tatsache ab, dass Hans Stähelin offenkundig nach Esslingen zurückgekehrt ist und noch ca. zwei Jahrzehnte als dortiger Antoniter wirkte. Auffällig ist aber erneut das große Engagement der Reichsstadt am mittleren Neckar für Stähelin, dessen rechtmäßige Ansprüche vielfach in den Schreiben herausgestrichen werden. Auch mit dieser Episode waren die Schwierigkeiten Stähelins mit seinen Vorgesetzten nicht zu Ende. Im Mai 1461 sah sich der Rat genötigt, zwei Schreiben an den Rat der Stadt Freiburg und den Abt des benachbarten Zisterzienserklosters Tennenbach zu richten 79 , vor dessen Gericht in Freiburg Stähelin erneut von Generalpräzeptor Antoine de Lyasse zitiert worden war 80 . Während es sich bei den vorherigen Interventionen Esslingens um Krisenmanagement im Anschluss an die diversen Gefangennahmen Stähelins handelte, agierte die Stadt diesmal bereits präventiv und bat die Ratskollegen dafür zu sorgen, dass Stähelin bei seinem Aufenthalt in Freiburg kain gewalt angetan und ihm Beistand aus den Reihen des Freiburger Rates beigegeben werde 81 . Da sich kein weiterer Schriftverkehr in dieser Angelegenheit nachweisen lässt, war die Initiative Esslingens wohl erfolgreich. Der letzte dokumentierte Streitfall zu Lebzeiten Stähelins mit Antoine de Lyasse datiert aus dem Jahr 1471. Aus einem undatiertem, nicht ausgefertigten Schreiben 82 und einer Beglaubigungsurkunde geht hervor, dass der Freiburger Generalpräzeptor den Vikar in Konstanz veranlasst hatte, am 1. April dem Esslinger Pfarrer eine Untersuchungsklage gegen Hans Stähelin zuzustellen 83 . Der Esslinger Geistliche wurde darin aufgefordert 84 , Stähelin die

77 Obwohl mit der sog. „Bamberger Richtung" vom 6. Juli 1450 die militärische Auseinandersetzung zwischen Esslingen und Württemberg im Rahmen des „Großen Städtekriegs" beendet worden war, bestanden die äußerst konfliktreichen Beziehungen - etwa in Form einer Blockade Esslingens durch Württemberg - weiterhin fort; siehe dazu FRITZ, Ulrich der Vielgeliebte (wie Anm. 67) S. 109-120. 78 StAEMB, Bd. 4, Bl. 187v. 79 StAE MB, Bd. 6, Bl. 158r. 80 Zu den engen Beziehungen zwischen dem Kloster und der Stadt Freiburg siehe Jürgen TREFFEISEN, Das Zisterzienserkloster Tennenbach und die Stadt Freiburg während des Mittelalters, Zs. des Breisgau-Geschichtsvereins „Schau-ins-Land" 109 (1990) S. 45-70. 81 StAE MB, Bd. 6, Bl. 158r. 82 Das Schreiben (StAE MB, Bd. 7, Bl. 198v) ist im Missivenbuch durchgestrichen, Rubrum und Datierung fehlen. Die Datierung 25.-30. April 1471 ergibt sich aus den vorherigen und folgenden Einträgen, der Adressat - aller Wahrscheinlichkeit nach der Vikar des Bistums Konstanz - aus der Anrede (erwirdiger lieber herr) und dem Inhalt des folgenden Schriftstücks (StAE MB, Bd. 7, Bl. 198v-199r). 83 StAEMB, Bd. 7, Bl. 198v.

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insamlung und colligierens Sant Anthoni zu verbieten, ihm die dazu notwendigen Utensilien wie Heiltümer, Bücher und Privilegien abzunehmen und ihn bei Widerstand zu exkommunizieren 85 . Offenbar wollten die Esslinger zunächst schriftlich dem Konstanzer Vikar antworten, entschieden sich aber dann, einen Gesandten mit einer Bestätigung nach Konstanz zu entsenden, in der Stähelin bescheinigt wurde, sins libs schwerer krankhait halb den Vorladungstermin nicht wahrnehmen zu können. Auch in diesem, offenbar ernsten Fall fehlen weitere Nachrichten. Allerdings ist es diesmal nicht möglich, aus späteren Quellen einen erneuten Erfolg Stähelins abzuleiten, da die beiden folgenden Nachrichten - die Annahme eines nächsten Antoniters in Esslingen im März 1473 und die Streitigkeiten um das Erbe des verstorbenen Stähelin im Sommer 1474 - nicht ausschließen lassen, dass dem viel geprüften Antoniter in extremis tatsächlich die Ballei noch entzogen wurde. Im Juli und August 1474 sah sich die Stadt Esslingen ein letztes Mal genötigt, in Sachen Hans Stähelins, diesmal zugunsten seiner Witwe Verena Möttlerin bzw. Mettlerin 86 , tätig zu werden, die auf Veranlassung Antoine de Lyasses vom Offizial des Bistums Basel vorgeladen worden war 87 . Die Esslinger wandten sich energisch gegen die Bestrebungen de Lyasses, an der Hinterlassenschaft Stähelins zu partizipieren, und beriefen sich dabei vor allem auf eine von Verena Möttlerin vorgelegte, besiegelte Verleihungsurkunde für die Ballei Esslingen, die vom vormaligen Generalpräzeptor Wilhelm von Sarron ausgestellt worden war und offenbar auch Stähelins Erbe regelte. Dass die Streitigkeiten um Stähelin bereits zuvor noch weitere Kreise gezogen hatten, verdeutlicht der Hinweis, dass diese Verleihungsurkunde und andere Dokumente zuletzt auch von Graf Ulrich V. von Württemberg als Tädingsherr für gültig anerkannt worden seien. Deshalb forderten die Esslinger den Generalpräzeptor auf, sein Vorgehen gegen die Witwe einzustellen. Dass der Rat in der Vorladung einer Bürgerin vor ein fremdes Gericht auch einen grundsätzlichen Eingriff in die eigene Rechtssphäre sah, beweist die

84 Der Esslinger Pfarrer Heinrich von Hammelburg war nach dem 9. April 1471 nicht mehr im Amt, sein Nachfolger Jodokus Guglinger wurde erst 1473 investiert; siehe dazu CAMPENHAUSEN, Klerus (wie Anm. 18) S. 168-170. 85 S t A E M B , Bd. 7, Bl. 198v. 86 Eine Verena Möttler bzw. Mettler findet sich ansonsten in Esslinger Quellen nicht. Der Zeitpunkt der Eheschließung ist ebenfalls nicht zu ermitteln. Möglicherweise hat sich Stähelin erst nach 1468 verheiratet, da er in diesem Jahr noch als Esslinger Hintersasse bezeichnet wird (StAE MB, Bd. 7, Bl. lOlr). Erstmals in der Urkunde vom 30. April 1471 wird er dann ausdrücklich als Bürger ausgewiesen (StAE MB, Bd. 6, Bl. 198v), ebenso seine Witwe (StAE MB, Bd.'8, Bl. 3r). 87

StAE MB, Bd. 8, Bl. 3r-v. Zu den intensiven Beziehungen de Lyasses nach Basel siehe Eisanne GLLOMEN-SCHENKEL, Basel (Kleinbasel), in: Die Antoniter, die Chorherren vom Heiligen Grabe und die Hospitaliter v o m Heiligen Geist in der Schweiz, hg. von DERS. (Helvetia Sacra 4, 4, 1996) S. 86-90.

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Aufforderung an de Lyasse oder seinen Rechtsvertreter, Rechtsansprüche gegen die Esslinger Bürgerin zukünftig nur vor unserer statt amman und gericht vorzubringen, auf dessen Fundierung durch das Reich verwiesen wird 88 . Offenbar haben sich die Esslinger mit ihrer Rechtsauffassung nicht durchsetzen können, da am 19. und 20. August 1474 erneut zwei Briefe an den Rat der Stadt Basel mit der Bitte um Rechtsbeistand und den dortigen Offizial mit der Bitte um Anerkennung eines gesandten Esslinger Rechtsvertreters ausgefertigt wurden 89 . Auch in diesem Rechtsfall bleibt der Ausgang des Verfahrens unbekannt. Einerseits erscheint die Amtszeit Stähelins in Esslingen geradezu als eine Folge von Missliebigkeiten, Konflikten, Prozessen und Gefangennahmen, folgerichtig abgeschlossen von Streitigkeiten um sein Erbe. Andererseits erstreckte sich seine Tätigkeit in Esslingen auf insgesamt deutlich über 30 Jahre und hatte, vor allem zu Anfang, offenbar auch längere Phasen des ungestörten Wirkens in der Bailei Esslingen 90 . Die anfängliche und letztlich dauerhafte Verleihung der Bailei durch Generalpräzeptor Wilhelm von Sarron gegen eine jährliche Abgabe von 80 Gulden scheint offenbar von den nachfolgenden Ordensoberen als so ungünstig eingeschätzt worden sein, dass erhebliche Anstrengungen investiert wurden, ihn aus Esslingen zu verdrängen. Demgegenüber spricht die Zähigkeit, mit der Stähelin selbst, aber auch die Stadt Esslingen, an der Bewahrung seines Amtes festgehalten haben, dafür, dass seine Tätigkeit in der Reichsstadt selbst offenbar unumstritten und auch wirtschaftlich hinreichend lukrativ gewesen ist. Hans Stähelins Nachfolger Johann Schreiber, der wie seine Vorgänger und Nachfolger nicht aus Esslingen stammte, wurde dem Rat von den Vorgesetzten im Antoniterorden präsentiert und am 24. März 1473 vom Esslinger Rat als neuer Inhaber der Bailei Esslingen angenommen 91 . Auch er verpflichtete sich, seine Güter in der Stadt wie die übrigen Esslinger Bürger zu versteuern. Zudem schrieb die Stadt nun fest, dass Schreiber im Streitfall nur in der Stadt recht zu nemen und zu geben habe. Der neue Antoniter, über den bis zu seinem Tod 1481/82 92 kaum Quellen vorliegen, hat entweder bereits ein stattliches Vermögen in die Reichsstadt mitgebracht, günstig geheiratet oder aber erhebliche Mittel aus seiner Sammlungstätigkeit geschöpft. Am 30. August

88 Ein flankierendes Schreiben - allerdings in höflicherer Tonlage - und eine Abschrift des Briefes an de Lyasse ließen die Esslinger auch dem Offizial in Basel zugehen (StAE MB, Bd. 8, Bl. 9v). 89 StAE MB, Bd. 8, Bl. 9r-v (Rat), Bl. lOr (Offizial). 90 So die Aussage in einem Schreiben an den Rat der Stadt Freiburg aus dem Jahr 1450 (StAE MB, Bd. 3, Bl. 28 lv). 91 StAE MB, Bd. 7, Bl. 264r. 92 Schreiber stellte noch am 30. August 1481 eine Urkunde aus (StAE RS U 1315), zwischen dem 11.-19. November 1482 wird er in einem Schreiben des Rats eindeutig als verstorben bezeichnet (StAE MB, Bd. 9, Bl. 57v).

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1481 stellte er eine Urkunde aus, in der er sich zur Versteuerung namhafter Besitzungen verpflichtete: Demnach besaß Schreiber in Esslingen insgesamt drei Häuser (im Heppächer in der östlichen Kernstadt, am Rossmarkt in der Pliensauvorstadt sowie in der östlichen Obertorvorstadt), eine Scheune (in der Metzgergasse) und diverse Äcker, Baum- und Weingärten mit einem Anschaffungswert von insgesamt 799 Gulden und 135 Pfund Hellern 93 . Zusätzlich - und in dieser Summe nicht enthalten - hatte er weiterhin das der Freiburger Generalpräzeptorei zustehende Anwesen am Rossmarkt inne, das er ausdrücklich als seinen sitz, also die antonitische Niederlassung bezeichnete. Es wundert demnach nicht, dass auch das Hinscheiden des als Esslinger Bürger bezeichneten Schreibers Begehrlichkeiten des chronisch finanzschwachen Freiburger Generalpräzeptors weckte 94 . Aus einem Schreiben des Rats an Antoine de Lyasse geht aber nur hervor, dass Schreibers namentlich nicht genannte Witwe und den beiden gemeinsamen ehelichen Kindern von Esslinger Seite Erbpfleger beigegeben worden waren, die Ansprüchen auf zwei Häuser Schreibers entgegentraten. Da weitere Quellen fehlen, ist in diesem Fall nicht nur offen, welchen Ausgang die Angelegenheit nahm, sondern auch, wer - die Generalpräzeptorei oder ein erwähnter Priester Ulrich aus Stuttgart95 - Ansprüche auf Teile des Erbes erhoben hatte. Einen direkten Nachfolger Schreibers in Esslingen kennen wir nicht. Erst 1490 wird die offenbar momentan vakante Antoniterniederlassung wieder erwähnt, als die Stadt Esslingen eindringlich versuchte, den neuen Generalpräzeptor 96 davon zu überzeugen, dem jungen Esslinger Bürger Peter Schinnagel das Amt des Antoniters in Esslingen zu übertragen 97 . Als Hauptargument zugunsten des als ehrbar und tugendsam bezeichneten Schinnagels bringen die Esslinger nicht nur dessen persönliche Befähigung, sondern vor allem den Umstand in Anschlag, dass er priester [sei, Anm. d. Vf.] unnd nach unnserenn beduncken toegenlicher ist gemeldt ampt mitt ainem priester dann mitt einem layen zuo bestellen. Während sich der Rat mit dieser Argumentation auf der Linie der meisten bisherigen Besetzungen der Antoniterpfründe mit Geistlichen mit niederen Weihen bewegte, fällt hier das offenbar vergebliche Bemühen auf 98 , den lukrativen Posten einem bislang unversorgten Esslinger Bürger aus einer einflussreichen Bürgerfamilie zukommen zu lassen.

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StAE RS U 1315. StAE MB, Bd. 9, Bl. 57v. Bei AUGE, Stiftsbiographien (wie Anm. 58) finden sich diverse Priester namens Ulrich. Zu dem seit 1483 amtierenden Robert de Lyasse, einem Verwandten seines Vorgängers Antoine des Lyasse, siehe MLSCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 131 f. 97 StAE MB, Bd. 11, Bl. 59v-60r. Schinnagel entstammte einer Esslinger Rats- und Zunftmeisterfamilie. 98 Schinnagel versuchte noch 1492/93 mehrmals vergeblich, eine Pfründe an einer Esslinger Kirche zu erhalten; siehe CAMPENHAUSEN, Klerus (wie Anm. 18) S. 208.

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In den Jahren 1510/11 findet sich mit dem vermutlich aus Wertheim stammenden, akademisch gebildeten Johann Fridel" der vorletzte Antoniter in Esslingen100. Zunächst teilte der städtische Rat am 4. Juli 1510 dem Prior des St. Valentins-Spitals des Ordens vom Heiligen Geist in Rufach101 schriftlich mit, dass dessen zeitweiliger Botschafter in der Bailei Esslingen 102 mit Namen Hans Mors verstorben sei103. Mors habe nach seinem Tode Schulden hinterlassen, deren Bezahlung aber her Hans Fridel, Sant Anthonien botschafft, zusammen mit einem Angehörigen des Esslinger Rates und anderen Personen den Gläubigern zugesagt habe. Es kann nur spekuliert werden, aus welchen Motiven sich Fridel ausgerechnet der Schulden des Heilig-Geist-Botschafters Hans Mors annahm, wo ansonsten erbitterte Konkurrenz zwischen den Spendensammlern beider Orden herrschte104. Im Folgejahr 1511 erscheint Fridel dann expressis verbis als prister und procurator sant Anthonius botschafft zu Esselingen105. Mit einer Urkunde vom 31. Januar diesen Jahres bestätigte er Bürgermeister und Rat der Stadt, weil diese ihm freundlichst zugelassen

99 Fridel hatte in Heidelberg studiert; siehe CAMPENHAUSEN, Klerus (wie Anm. 18) S. 158. 100 Vom 4. November 1493 datiert eine Verkaufsurkunde, in der ein Johannes Tönger von Esslingen ein Haus am Esslinger Rossmarkt verkauft (StAE RS U 2221). Der Vorname Johannes, die Benennung Tönger und die Lage des Hauses am Rossmarkt könnten daran denken lassen, dass es sich hierbei um Johannes Fridel und die vorherige Esslinger Niederlassung des Antoniterordens gehandelt hat. Andererseits findet sich in dem Diplom weder ein direkter Hinweis auf eine Beziehung des Verkäufers zum Orden, noch ist in der Verkaufsurkunde der für das Jahr 1461 dokumentierte Zins zugunsten des Marienaltars in der Esslinger Agneskapelle erwähnt (StAE KS U 314). Da der Verkäufer das Haus als sein Volleigentum bezeichnet, hätte es zwischenzeitlich von der Generalpräzeptorei Freiburg als Eigentümerin verkauft worden sein müssen, wofür keine Quelle vorliegt. Insgesamt wird man diesen einzelnen Beleg nicht als Beweis für eine Tätigkeit des Johannes Fridel bereits 1493 oder einen ansonsten nicht nachweisbaren Antoniter beanspruchen können. 101

102

103

104

105

Das Spital in Rufach gehörte wie dasjenige in Markgröningen zur Provinz Alemannia superior mit Sitz im elsässischen Stephansfeld; siehe dazu Eisanne GLLOMEN-SCHENKEL, Die Hospitaliter vom Heiligen Geist, in: Die Antoniter, die Chorherren vom Heiligen Grabe und die Hospitaliter vom Heiligen Geist in der Schweiz, hg. von DERS. (Helvetia Sacra 4, 4, 1996) S. 175-288, hier S. 233-254. Auch die Bailei Esslingen der Hospitaliter vom Heiligen Geist ist bislang noch nicht untersucht worden und findet sich auch bei Theobald Walter, Das Spital des Ordens zum heiligen Geist in Ruffach, Jb. für die Geschichte, Sprache und Litteratur ElsassLothringens 15 (1899) S. 24-44, nicht. StAE MB, Bd. 15, Bl. 134r. In einem unvollständigen, undatierten und mittels Durchstreichung ungültig gemachten Schreiben aus demselben Jahr 1510, das sich zwischen zwei Schreiben vom 7. Juli und 21. September befindet (StAE MB, Bd. 15, Bl. 138r), wird der verstorbene Botschafter als Sebastian (!) Mors bezeichnet. Mors lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt in anderen städtischen Quellen nicht nachweisen. Noch 1499 hatten die Hospitaliter des Spitals in Markgröningen eigens ein Mandat der päpstlichen Kammer gegen Pfarrer, Bürgermeister und Rat in Esslingen erwirkt, die sich geweigert hatten, deren Almosensammler zuzulassen. Siehe WR (wie Anm. 30) Nr. 8912. StAE RS U 1605.

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BALLEI DES ANTONITERORDENS ESSLINGEN

hätten, ein Haus beim Friedhof des Franziskanerklosters in der östlichen Kernstadt für 285 Gulden zu erwerben, dass er dieses Haus dauerhaft versteuern werde. Letztmalig in Esslingen lässt sich Fridel dann ein Jahr später, am 8. Januar 1512 nachweisen, als er sich vergeblich um die recht einträgliche Pfründe am Dreikönigs-Altar in der Kapelle des bedeutenden Esslinger Katharinenhospitals bewarb 106 . Ein Priester und Chorherr des Kollegiatstiftes St. Moriz in (Rottenburg-) Ehingen namens Wolfgang Keller war wohl der letzte Inhaber der Antoniterballei Esslingen. Anfang Februar 1512 bestätigte ein Wolfgang Puri/Keller dem Freiburger Generalpräzeptor Robert de Lyasse die Verleihung der Ballei Esslingen mit allem Zubehör gegen die Zahlung von 115 Gulden jährlich und einer zusätzlichen Abgabe in Form von Rottenburger Kerntuch 107 . Dieser zwischenzeitlich zum Chorherrn erhobene Kleriker sollte mit einem herr[n] Wolfen [...] von Rottennburg gleichzusetzen sein, der in einem 1522/23 datierten Schreiben des in chronischen Geldnöten befindlichen Generalpräzeptors Claudius de Lyasse erwähnt wird 108 , wobei allerdings jeglicher Hinweis auf den Amtssitz dieses Antoniters fehlt. Erneut dieselbe Person wird man in demjenigen Ehinger Chorherren gleichen Namens sehen müssen, der bei dem von der vorderösterreichischen Registerung zum Administrator der maroden Generalpräzeptorei berufenen Rudolf Ecklin 109 einige Jahre vor 1533 - gemeinsam mit einem Rottenburger Bürger - das dortige Antoniterhaus nebst Spital gekauft und noch 1533 Schulden hatte 110 . Die Esslinger Antoniterniederlassung wird nochmals im Jahr 1520 erwähnt. Bürgermeister und Rat der Stadt Freiburg im Breisgau wandten sich in

106 107

StAE MB, Bd. 15, Bl. 179v. Johann Jakob Gabelkover, Kollektaneen zur Geschichte von Esslingen (Hauptstaatsarchiv Stuttgart [künftig: HStAS], Best. J 1, Hss., Nr. 34, Bl. 181r-240v, hier Bl. 188v). Zur Handschrift siehe Michael KLEIN, Die Handschriften der Sammlung J 1 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Die Handschriften der Staatsarchive in Baden-Württemberg 1, 1980) S. 100-103. 108 Zu Claude Lyasse siehe MLSCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 57. Abdruck des Schreibens vom 11. November 1522 oder 1523 bei MANZ, Neue Kunde (wie Anm. 6) S. 13. 109 Siehe MlSCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 88. 110 Siehe dazu Dieter MANZ, „Haus und Spital" zu Rottenburg. Erste urkundliche Spuren für eine Niederlassung des Antoniterordens in Rottenburg, Der Sülchgau 15 (1971) S. 26-32. Am 4. April 1534 wird Keller als verstorben bezeichnet. Zusätzlich zu den dortigen Angaben beurkundet am 21. Juni 1531 ein päpstlicher Notar namens Wolfgang Sigismund Keller die Berufung des Magisters Konrad Grieninger auf das Kanonikat an der Kollegiatkirche St. Moriz in (Rottenburg-)Ehingen (HStAS Best. Rottenburg, Chorherrenstift St. Moriz in Ehingen (B 491 II), U 12); bei Peter-Johannes SCHULER, Notare Südwestdeutschlands. Ein prosopographisches Verzeichnis für die Zeit von 1300 bis ca. 1520 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 90 u. 99, 1987), findet sich Keller/Puri nicht.

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diesem Jahr an ihre Kollegen in Ravensburg, Rottenburg und Esslingen, um ihnen den Besuch des Freiburger Bürgers Konrad Planckh anzukündigen 111 . Nachdem der neue Generalpräzeptor Claudius de Lyasse 1520 erhoben worden sei, solle Planckh dafür sorgen, dass die dortigen Niederlassungen jerlich ettlich summa gelts an die preceptorie bey uns geben sollen. Die Freiburger baten unter Hinweis auf die Nöte der armen siechen im dortigen Antoniterhospital, den Bevollmähtigten Planckh beim Eintreiben der Ausstände zu unterstützen. Der Esslinger Vorsteher der Bailei - vermutlich immer noch Keller - wird in dem Schreiben nicht erwähnt, eine schriftliche Antwort des städtischen Rats, wie auch aus Ravensburg, ist nicht bekannt 112 . Schließlich liegt aus den frühen 20er Jahren noch ein letzter, höchst instruktiver Beleg für antonitische Präsenz in Esslingen vor 113 . Der mit Luther persönlich bekannte aus Wittenberg stammende Augustiner-Eremit Johann Lonicer (1499-1569)' 14 , der mit Ordensbrüdern wie Michael Stifel zu den frühesten Unterstützern der neuen Lehre in Esslingen gehörte, war vor April 1522 aus Freiburg in die Reichsstadt gekommen. Der junge Theologe und Gräzist „schaltete sich alsbald in die Esslinger Auseinandersetzungen um die Reformation ein" 115 , die zu dieser Zeit inhaltlich auch um die Marien- und Heiligenverehrung kreisten. In seinem vornehmlich gegen den Esslinger Stadtpfarrer gerichteten „Bericht Büchlin", das nach der Vorrede auf den 26. Mai 1523 datiert ist 116 und wohl erst nach seinem raschen Abgang aus der Reichsstadt in Straßburg gedruckt wurde, beklagt sich Lonicer, dass er in Esslingen verargkwont und verschwetzt worden sei, durch einen Stationierer117 S. Anthonis botschafft, als ob ich einer were, der do leugnet die reine junckfrawschafft Marien der mutter gottesu%. Weiter gibt Lonicer an, auf diese Verleumdung hin vom Stadtpfarrer heimtückisch vor dem Rat und von der Kanzel hinab denunziert worden zu sein. Die geschilderte Episode stellt den

111

Abdruck des Schreibens vom 13. April 1520 bei MANZ, Neue Kunde (wie Anm. 6) S. 13; zu dem Schreiben siehe auch DENS., Haus (wie Anm. 110) S. 27, und LUTZ, Antonius (wie Anm. 6) S. 60 f. 112 In den Esslinger Missivenbüchern ist kein dementsprechender Eintrag vorhanden; zu Ravensburg siehe LUTZ, Antonius (wie Anm. 6) S. 60 f. 113 Diese Episode u. a. bei Martin BRECHT, Esslingen im geistigen Ringen der Reformationszeit, in: Esslinger Studien 20 (1981), S. 65-71, hier S. 59 114 Zu ihm siehe immer noch Adolf HORAWITZ, Johannes Lonicerus, in: ADB 19 (1884) S. 158-163. 115

BRECHT ( w i e A n m . 1 1 3 ) . S. 6 3

116 Johann LONICER, Bericht-Büchlin wie das yegklich Christen Mensch gewiß sey der Gnaden, Huld und guten Willen Gottes gegen ym. Dazu von der Eer und Anruffung der abgestorbenen Heyligen. [Straßburg 1523], Bl. A ii verso. 117 Zur extrem pejorativen Konnotation des Terminus „Stationierer" als eines betrügerischen, wandernden Mönches siehe die Belege bei: Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch 19 (1919, ND 1984) Sp. 943-945. 118

LONICER ( w i e A n m . 1 1 6 ) B l . A ii.

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BALLEI DES ANTONITERORDENS ESSLINGEN

letzten eindeutigen Nachweise eines Antoniters in Esslingen dar. Sie verweist aber auch schlaglichtartig anhand eines lokalen Beispiels auf die vehemente Frontstellung zwischen den Reformatoren und den verhassten Antonitern, die für erstere geradezu paradigmatisch sämtliche Missstände der Papstkirche verkörperten. Insgesamt erlauben die letzten Nachrichten über den Antoniterorden im schließlich 1531 zur Reformation übergetretenen Esslingen kaum mehr als Spekulationen. Bereits die Frage, ob Keller noch eine regelrechte Niederlassung in Esslingen unterhielt - die ja bereits für seinen Vorgänger Fridel nicht mehr nachweisbar war - , ist nicht zu beantworten. Ebenso unklar bleibt, bis wann und in welcher Organisationsform Antoniter in Esslingen wirkten. Der Verleihung der Ballei an Keller im Jahr 1512 gegen die vergleichsweise hohe jährliche Gebühr von 115 Gulden nebst Tuchlieferung, die Beauftragung des Freiburger Bürgers Konrad Planckh zum Eintreiben der Schulden des anonymen Esslinger Antoniters 1520, die Erwähnung Wolfgang Kellers 1522/23, der Streit eines Antoniters mit Lonicer, und die Tatsache, dass der Konstanzer Bischof noch 1523 insgesamt elf Terminiermandate für die Generalpräzeptorei Konstanz/Freiburg ausstellte119, sprechen für eine Aufrechterhaltung der Ballei noch in den frühen zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Anders als bei anderen Balleien bzw. Niederlassungen des Ordens - Konstanz: 1527, Burgdorf (Kanton Bern): 1528, Kleinbasel: vor 1530, Rottenburg: vor 1533, Freiburg: 1542/43 - lassen sich in Esslingen aber weder die Aufhebung der Ballei noch der Verkauf etwaigen Immobilienbesitzes nachweisen. Auch für die Haltung des im Verlauf der zwanziger und frühesten dreißiger Jahre immer mehr ins Lager der Reformation hinübergleitenden Rates zu den Antonitern fehlen jegliche Nachrichten. So hat es geradezu den Anschein, die existentiellen stadtpolitischen und konfessionellen Entscheidungen dieser Jahre hätten die sowieso strukturell marginale, dazu oft problembehaftete antonitische Präsenz in der Reichsstadt am mittleren Neckar in Esslingen rasch und vollends zu einer Randbemerkung der Stadtgeschichte degradiert.

119

Übersetzung des Mandats im Erzbischöflichen Archiv Freiburg im Breisgau, Ha 110-118, bei LUTZ, Antonius (wie Anm. 6) S. 61.

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Fazit Die Geschichte der Esslinger Niederlassung des Antoniterordens ist kaum ruhmreich zu nennen und hat dementsprechend bislang so gut wie keine Beachtung gefunden. Kein ideelles oder dingliches Zeugnis verweist bis heute auf den Kult des Heiligen in der ehemaligen, seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vollständig evangelischen Reichsstadt, kein Gebäude - profan oder kirchlich - verweist auf die Niederlassung des Ordens, die Erinnerung an die Repräsentanten des Ordens verblasste frühzeitig und nachhaltig. Ein knappes Jahrhundert, zwischen spätestens 1427 und mindestens 1520, lassen sich Antoniter in Esslingen nachweisen, wobei erneut darauf zu verweisen ist, dass neben der vielfach unbefriedigenden Überlieferungssituation gerade der peripheren antonitischen Niederlassungen auch der ungünstige Erschließungsgrad zentraler Quellengruppen für die Esslinger Stadtgeschichte zukünftige Quellenfunde denkbar erscheinen lässt. Die Bailei Esslingen der Antoniter entstand erst in einer Zeit, die Adalbert Mischlewski als der beste Kenner der Ordensgeschichte bereits als „Zeit der Krisen" bezeichnet hat 120 und sie spiegelt - auch aufgrund der Quellenlage - dementsprechend kaum die karitative Tätigkeit der Antoniter oder die spezifische Frömmigkeit des Antoniuskultes, sondern vielmehr die grundlegende Kommerzialisierung spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraxis wider. Die Niederlassung wird in den vorhandenen Quellen ausschließlich als Haus, Bailei oder Sitz des Esslinger Antoniters bezeichnet. Es findet sich kein einziger Hinweis auf eine angeschlossene Kapelle oder sonstige Formen antonitischer Frömmigkeit wie eine Bruderschaft, auch keine intensivierte Verbindung zu einer der Esslinger Kirchen, sieht man einmal von der vagen Beziehung Trutwin Molitors zur städtischen Frauenkirche mit ihrem Antoniusaltar ab. Da auch offenbar keine antonitische Krankenpflege in Esslingen betrieben wurde - sieht man von der nur schemenhaft zu interpretierenden Wohnsitznahme Trutwin Molitors bei einem Apotheker ab erscheint es gerechtfertigt, die Niederlassung - wie dies Katrin Utz-Tremp für Burgdorf getan hat - als „einfaches Terminierhaus" 121 zu bezeichnen, dessen Funktion ausschließlich in der Bereitstellung von Sammlungserlösen bestand. Es hat den Anschein, als könnte man für die ersten beiden Esslinger Antoniter Trutwin Molitor und Walthauser - im engeren Sinne auch noch nicht von einer verstetigten und festen Niederlassung des Ordens in Esslingen sprechen, da eine solche, als Eigentum des Heiligen im Besitz der Generalpräzeptorei

120 121

MISCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 48. Karin UTZ-TREMP, Burgdorf, in: Die Antoniter, die Chorherren vom Heiligen Grabe und die Hospitaliter vom Heiligen Geist in der Schweiz, hg. von Eisanne GLLOMEN-SCHENKEL (Helvetia Sacra 4, 4, 1996) S. 111-117, hier S.114.

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BALLEI DES ANTONITERORDENS ESSLINGEN

Konstanz/Freiburg, erst 1438 erworben und bis mindestens 1481 gehalten wurde. Wann und an wen dieser Komplex schließlich veräußert wurde, ist unbekannt, vermutlich konnte aber bereits Johann Fridel, als er 1511 ein Haus in der östlichen Kernstadt, weit entfernt vom Rossmarkt erwarb, nicht mehr auf dieses Haus zurückgreifen. Die insgesamt sechs namentlich bekannten und identifizierbaren Vertreter des Antoniterordens in Esslingen entstammten - obwohl sich der Rat zumindest in einem Fall um die Installierung eines einheimischen Bürgers bemühte - alle nicht der Reichsstadt. Molitor war allem Anschein nach ein Geistlicher mit niederen Weihen, gleiches lässt sich von Walthauser annehmen. Hans Stähelin wird in den Quellen zumeist als Bruder bezeichnet, von einer Priesterschaft ist nur einmal, 1450, die Rede. Eine Besonderheit deuten hingegen die beiden Bezeichnungen Stähelins als marteler122 und dürftigen123 an und könnten auf die nachgewiesene Praxis verweisen, ehemalige Kranke als Balleier des Antoniterordens einzusetzen 124 . Während über Johann Schreibers Stand keine Aussage zu treffen ist - er firmiert schlicht als Antoniter - , sind Johann Fridel und Wolfgang Keller eindeutig als akademisch gebildete Priester gekennzeichnet, letzterer sogar als Chorherr des Stifts in Ehingen, so dass spätestens für die Spätzeit der Antoniter in Esslingen die Begründung des Rates beim Einsatz für Peter Schinnagel, Priester seien für dieses Amt geeigneter als Laien, eine Umsetzung erfuhr. Auffällig ist die Terminologie Johann Fridels als Prokurator des Ordens 125 , die auf eine über Esslingen hinausgehende, vielleicht temporäre Beauftragung hinweisen könnte. Mit Hans Stähelin und Johann Schreiber verfugten zwei Esslinger Antoniter über Ehefrauen und Kinder, gleiches lässt sich auch von Trutwin Molitor oder Walthauser annehmen, da in den Steuerbüchern von 1439/40 bzw. 1447 bis 1454 ein oder mehrere, zum Teil offenbar wohlhabende Antonier kind erwähnt werden 126 .

122 Erstmals in einem Schreiben vom 20. Dezember 1452 (StAE MB, Bd. 4, Bl. 179v-180r). 123 In einem Schreiben 23. Mai 1461 (StAE MB, Bd. 6, Bl. 158r). 124 Siehe dazu MISCHLEWSKI, Grundzüge (wie Anm. 6) S. 286, oder das Beispiel des Berner Antoniterbruders mit dem bezeichnenden Namen „Nikiaus der Krüppel" (DERS., Antoniterorden [wie Anm. 1] S. 97). 125 Als Schaffner, Geschäftsträger und Prokurator des Ordens in der Generalpräzeptorei Konstanz wird im Jahr 1523 der Ravensburger Jakob Hermann bezeichnet (LUTZ, Antonius [wie Anm. 6] S. 61). Der zugrunde liegenden Quelle, einem Terminiermandat des Bischofs, kann man entnehmen, dass die Position des Prokurators offenbar über die Inhaberschaft einer Ballei hinausging, da Hermann offenbar für die Beibringung von Abgaben sämtlicher Balleien der Generalpräzeptorei verantwortlich war. 126 StAE RS Stb. 1439 A, Bl. lr, 1440 A, Bl. 34r. Das zweite (?) Kind erstmals StAE RS Stb. 1447 A (Martinssteuer), letztmalig StAE RS Stb. 1454, Bl. 18v. Auffällig sind Höhe und Entwicklung der Vermögensangabe: Mit 1000 Pfund Hellem in den Jahren 1447-1449 ist das Vermögen exorbitant hoch und bewegt sich im Bereich der höchsten 5 % der Vermögen; siehe dazu KLRCHGÄSSNER, Wirtschaft (wie Anm. 10) S. 107. Aus unbekannten

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Die finanzielle Dimension der antonitischen Tätigkeit steht in den vorhandenen Quellen eindeutig im Vordergrund. Schon bei Trutwin Molitor deuten sich finanzielle Konflikte mit der Ordensleitung in Freiburg an, der Antoniter Walthauser war am Ende seiner Tätigkeit einerseits gegenüber dem Orden verschuldet, andererseits ausweislich der Steuerbücher aber nicht mittellos. Bei beiden sind die Berufungsmodalitäten unbekannt 127 . Entgegen den trotz diverser Reformversuche aufgeweichten Ordensstatuten hatte Hans Stähelin hingegen die Bailei Esslingen von Generalpräzeptor Wilhelm von Sarron auf Lebenszeit verliehen bekommen, worin man - neben den durch die allgemeine Schuldenkrise verschärften Misshelligkeiten zwischen den Ordensoberen und den ungebremsten Aktionen der Selbstbereicherung - die Hauptursache der diversen Konflikte seiner Amtszeit sehen kann. Obwohl sich Stähelin verpflichtet hatte, das erworbene Ordenshaus am Rossmarkt dem Orden posthum vereinbarungsgemäß zu überlassen, wird man in der Zähigkeit seines Verharrens in Esslingen auch einen Beleg für die Lukrativität der erworbenen Position und die offenbar tragbare, für die Ordensoberen in Freiburg und Isenheim erheblich zu geringe jährliche Abgabe sehen können. In die gleiche Richtung weisen auch - wollte man nicht jeweils ausschließlich entsprechenden Vorbesitz der Antoniter annehmen - der sich im Immobilienbesitz manifestierende, respektable Wohlstand seines Nachfolgers Johann Schreiber, der Hauskauf durch Johann Fridel und die Rottenburger Investition Wolfgang Kellers. Dass die Niederlassung Esslingen ihren Inhabern noch in der Spätzeit des Hauses 1512 eine auskömmliche materielle Basis versprach, erhellt sich allein aus der Tatsache, dass Keller nun 115 Gulden und eine Tuchlieferung gegenüber den noch von Hans Stähelin zu zahlenden 80 Gulden jährlich entrichten wollte 128 .

127

128

Gründen sinkt das Vermögen dann über 517 (1450-1452) auf schließlich 234 (1452-1453) Pfund Heller ab. Nach MISCHLEWSKI, Grundzüge (wie Anm. 6) S. 274, sollten Balleien grundsätzlich nicht länger als drei Jahre verpachtet werden, 5- oder 6-jährige Verleihungen waren aber nicht unüblich. Da für Walthauser kein Verleihungsdiplom des zuständigen Generalpräzeptors vorliegt, ist nicht zu entscheiden, ob die Schuldenfrage nebst anschließender Demission Walthausers das Ende eines Verleihungszeitraums widerspiegelt. Denkbar wäre auch ein Kausalzusammenhang des forcierten Bemühens von Seiten der Ordensleitung in Freiburg gegenüber dem Schuldner Walthauser mit dem Wechsel an der Spitze der Generalpräzeptorei, an der Wilhelm von Sarron Ende 1437 Albert d'Urre abgelöst hatte; siehe dazu MISCHLEWSKI, Antoniterorden (wie Anm. 1) S. 57. Eine systematische Untersuchung der jährlichen Abgaben der Balleien der Antoniter und anderer auf Sammlungstätigkeit beruhender Orden wäre eine gesonderte Untersuchung wert. Zum Vergleich: Die sieben Balleien der Generalpräzeptorei Memmingen führten 1474 insgesamt 820 Gulden, davon 741 Gulden in bar ab; siehe Adalbert MISCHLEWSKI, Beobachtungen zur Erwerbspolitik und Wirtschaftsweise des Memminger Antoniterhauses, in: Erwerbspolitik und Wirtschaftsweise mittelalterlicher Orden und Klöster, hg. von

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BALLEI DES ANTONITERORDENS ESSLINGEN

Nur spurenhaft kommt in den Quellen die vornehmliche Aufgabe der eingesetzten Antoniter, das Einsammeln von Spendengeldern durch die Quest, zum Vorschein, so die Konkurrenz zu anderen päpstlich privilegierten Terminierern wie den Boten des Markgröninger Heilig-Geist-Spitals, gelegentliche Abwesenheiten Hans Stähelins 129 und das Vorhandensein von Heiltümern und Büchern. Der Umfang des antonitischen Terminierbezirks Esslingen wird in den Quellen nicht ersichtlich, abgesehen von seiner der beinahe vollständigen Umschließung der Reichsstadt durch Württemberg geschuldeten Erstreckung über mehrere württembergische Vogteien, von denen Waiblingen und Nürtingen mit Sicherheit zu identifizieren sind. Als eine Konstante antonitischer Geschichte in Esslingen ist das überaus engagierte Vorgehen des Esslinger Rats in den diversen Krisen- und Schuldensituationen der jeweiligen Pfleger - vor allem Hans Stähelins - anzusehen. Die Beweggründe dafür scheinen vielfältig gewesen zu sein, so die persönliche Wertschätzung einzelner Antoniter und die Durchsetzung der Versteuerung des Privat- und Ordensvermögens der Esslinger Antoniter, die die Stadt im Ergebnis am ökonomischen Erfolg „ihres" Antoniters partizipieren ließ. Von Bedeutung waren mit Sicherheit auch die zeittypischen Bestrebungen der „normativen Zentrierung" 130 in Form des Ausbaus der Kirchenhoheit, der sich etwa auch gegenüber den Bettelorden manifestierte 131 , sowie ein gerade vor dem Hintergrund militärisch-politischer Bedrohungen lebensnotwendiges Bestehen auf der privilegierten Gerichtshoheit der Reichsstadt insbesondere bei Zitierungen von Hintersassen und Bürgern 132 vor fremde Gerichte. Darüber hinaus, das machen die nachhaltigen Bemühungen des Esslinger Rates deutlich, bedeutete die Präsenz der antonitischen Ballei in Esslingen bis in die engere vorreformatorische Epoche der Stadtgeschichte hinein offenbar auch einen substanziellen Teil der sakralen Topographie der Reichsstadt am mittleren Neckar. Das engen Verhältnis zur Stadtspitze musste sich spätestens mit der Durchsetzung der Reformation zwangsläufig in einen existentiellen Nachteil verwandeln. Johann Lonicer hatte die Antoniter so beschrieben:

129 130

131 132

Kaspar ELM (Berliner Historische Studien 17 - Ordensstudien 7, 1992) S. 175-196, hier S. 189. Erwähnt in dem Schreiben vom 10. April 1448 (StAE MB, Bd. 3, Bl. 76v). Beredt HAMM, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation. Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993) S. 7-82. HOLZWART-SCHÄFER, Esslinger Mendikanten (wie Anm. 4) S. 110 f. In den Quellen wird genauestens zwischen Einwohnern (Bewohner, Hintersassen) und Bürgern unterschieden. Als Bürger Esslingens können eindeutig die Antoniter Trutwin Molitor, Hans Stähelin - allerdings erst seit 1471 - und Johann Schreiber nachgewiesen werden.

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Ach wie vil fauler unnd ungelerter, die nit wissen das wort gottes, von der sect der Anthoniter [...] leben im sauß und werden wol gemöst mit iren huren [...] Die selbigen seel betryger und verförer predigen vor dem gemeynen mann [...] wie sye die heyigen mügen beschützen vor wasser, fewr, petilentz und allem übel und abwenden alle sucht unnd kranckheit. Darnach, wann sye durch ir schmeychlen den seckel geflillt haben, ligen sye im luder, im spyel und treiben alle bubery mit iren dyernen, unangesehen schäm, schand und ergernüss des armen volcks.133 Die Erhebung dieser Einschätzung zur Politik des reformierten Rates bedeutete zwangsläufig das Ende der Antoniterballei Esslingen.

133

LONICER (wie Anm. 116) Bl. hi verso - hii recto.

B E R N D W . B A H N , D I E M I C H A E L S K A P E L L E AUF DEM K L E I N E N G L E I C H B E R G

Abb. 1

Gebiete germanischer Besiedlung in Thüringen, Franken und Hessen zur Römischen Kaiserzeit (schraffierte Flächen; offener Kreis östl. von Sülzdorf: Kleiner Gleichberg). Nach F. TEICHNER, Die germanische Siedlung Sülzdorf in Südthüringen (2004) S. 78 Abb. 65.

B E R N D W. B A H N , D I E MICHAELSKAPELLE AUF DEM K L E I N E N

GLEICHBERG

Kleiner Gleichberg Akropolis Südspitze Michaelskapelle

Auagrabungsb*fund 1940 1 100

Abb. 2

Grundriss der ehemaligen Wallfahrtskapelle St. Michael auf dem Kleinen Gleichberg mit Nebengebäuden; nach den Ausgrabungen von Alfred Götze 1928, 1934-1936 und 1939-1940. Nach R. S P E H R , Archäologische Topographie der Steinsburg bei Römhild (1980) S. 35.

B E R N D W . B A H N , D I E M I C H A E L S K A P E L L E AUF DEM K L E I N E N G L E I C H B E R G

Abb. 3 Bodenfunde des Mittelalters von den Gleichbergen. Nach G. NEUMANN, Vor- und Frühgeschichte, in: Das Gleichberggebiet. Ergebnisse der heimatkundlichen Bestandsaufnahme im Gebiet von Haina und Römhild/Thüringen (1963) S. 48 Abb. 20.

Abb. 4 Figürliche Darstellungen von zwei (tanzenden?) Paaren aus Messing mit Haken auf der Rückseite, Länge ca. 5,5 cm; vielleicht Schlüsselhaken, gefunden bei der Ausgrabung der Mauerreste der Michaelskapelle. Nach G. NEUMANN, Vor- u n d

Frühgeschichte (wie bei Abb. 3) S. 48 Abb. 20, 7

B E R N D W . B A H N , D I E M I C H A E L S K A P E L L E AUF DEM K L E I N E N G L E I C H B E R G

4 " (ruhslawischer Fundplatz (Prager Typ)

Slawen -

UÜL.

#

frühslawisches Brandgräberfeld mit mehr als 10 Grabern |

Einzelfund, awarisch



Einzelfund oder Gräberfeld



Ort, vor 7 5 0 nur schriftlich erwähnt

A Grab oder Graberfeld mit mindestens einem fränkischen Doppelkonus

Hamulurri? •

fränkische StraBenstation

Germanen •

curtis, schriftlich erwähnt

O

Gräberfeld sächsischer Art, 778. Jh.

A ™

durch Funde oder urkundliche Erwähnung erschlossene Burganlagen

Vlrteburati Abb. 5

Wichtige archäologische Fundstellen und schriftlich erwähnte Orte des 7. Jahrhunderts in Thüringen und Unterfranken. Nach B. SCHMIDT, Das Königreich der Thüringer und seine Eingliederung in das Frankenreich, in: Die Franken Wegbereiter Europas vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben 1, h g . v o n K . W E L C K / A . W I E C Z O R E K / H . A M E N T ( 1 9 9 6 ) S. 2 9 4 .

U R S U L A B R A A S C H - S C H W E R S M A N N , B R Ü D E R U N D S C H W E S T E R N DER W I L H E L M I T E N

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Abb. 6

Ansicht von Limburg 1646, in der Mitte vor der Stadtmauer und dem Inneren Diezer Tor liegt das Kloster der Wilhelmiten. Aus Matthaeus Merian, Topographia Archiepiscopatuum Moguntinensis Trevirensis et Coloniensis, Faksimile der 2. Ausgabe 1675 von Martin ZEILLER / Matthaeus MERIAN (1969) nach S. 50.

Abb. 8 a - d Wappen der Limburger Geschlechter Borgenit, Eschenau, Holzhausen und Hartleib. Aus: Johannes Mechtel, Die Limburger Chronik, hg. von Karl KNETSCH (1909) nach S. 254.

U R S U L A B R A A S C H - S C H W E R S M A N N , B R Ü D E R U N D S C H W E S T E R N DER W I L H E L M I T E N

A / /

Abb. 7

Limburg, Detail aus der Katasterkarte von 1873/74. Aus: Hessischer Städteatlas. Lieferung I, 6: Limburg, bearb. von U. BRAASCH-SCHWERSMANN / H. Th. GRAF (2005) Textheft S. 24.

J Ö R G V O I G T , Z U M I N K L U S E N W E S E N IN T H Ü R I N G E N

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Richtung Naumburg

Beuditz

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Ordensniederlassungen im mittleren Saaleraum um 1400 ^

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Entwurf: Jörg Voigt Grafik: Thomas Foerster

Abb. 9

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Ordensniederlassungen im mittleren Saaleraum um 1400 ( J. Voigt/Th. Foerster)

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STÖTTERLINGENBURG

Abb. 11 Klosterkirche Stötterlingenburg, Gemeinde Lüttgenrode. Ansicht von Nordosten (2006)

Abb. 12 Klosterkirche von Südwesten (2006)

R E I N H A R D SCHMITT, D I E K I R C H E DES B E N E D I K T I N E R N O N N E N K L O S T E R S

STÖTTERLINGENBURG

R E I N H A R D S C H M I T T , D I E K I R C H E DES B E N E D I K T I N E R N O N N E N K L O S T E R S

Abb. 15

I n n e n r a u m der Kirche, Blick nach Osten ( 1 9 3 7 )

STÖTTERLINGENBURG

R E I N H A R D SCHMITT, D I E K I R C H E DES B E N E D I K T I N E R N O N N E N K L O S T E R S

Abb. 16

Abb. 17

Kirche von Südwesten (1971)

Kirche von Nordosten (1971)

STÖTTERLINGENBURG

R E I N H A R D S C H M I T T , D I E K I R C H E DES B E N E D I K T I N E R N O N N E N K L O S T E R S

STÖTTERLINGENBURG

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Abb. 18 Ansicht der Kirche von Süden ohne Turm (Bestandszeichnung von Harald Rüssel, 1971)

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Abb. 19 Grundriß der Kirche in Höhe des Erdgeschosses und der Obergadenfenster (Bestandszeichnung von Harald Rüssel, 1971)

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Abb. 20 Querschnitt durch die Kirche mit Blick zur Apsis und Längsschnitt im Bereich der Empore (Bestandszeichnung von Harald Rüssel, 1971)

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Abb. 21 Querschnitt durch den Turm mit Blick nach Osten und Grundriß der „Krypta" (Bestandszeichnung von Harald Rüssel, 1971)

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STÖTTERLINGENBURG

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Abb. 22 Ansicht der Kirche von Norden mit Bauphasenkartierung. Es bedeuten: A) Mauerwerk der Bauphase I; B) Mauerwerk der Bauphase II; C) Mauerwerk der Bauphase III; D) Veränderungen aus verschiedenen Zeiten

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Abb. 23 Ansicht der Nordwand vom ehemaligen Innenraum mit der Empore (links) und der Dreierarkade (2006)

R E I N H A R D S C H M I T T , D I E K I R C H E DES B E N E D I K T I N E R N O N N E N K L O S T E R S

Abb. 24

Nordwand der Kirche mit der Dreierarkade von Nordosten (1971)

Abb. 25

STÖTTERLINGENBURG

Nordwand der Kirche mit Doppelarkade von Nordosten (1971)

Abb. 26 Mittelpfeiler der Doppelarkade (Nordseite), verzierter Kämpfer und Kapitelle der Kantensäulen (1937)

R E I N H A R D S C H M I T T , D I E K I R C H E DES B E N E D I K T I N E R N O N N E N K L O S T E R S S T Ö T T E R L I N G E N BÜRG

Abb. 27

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Abb. 28

„ K r y p t a " u n t e r der ersten steinernen E m p o r e , Blick nach Osten (2006)

R E I N H A R D S C H M I T T , D I E K I R C H E DES B E N E D I K T I N E R N O N N E N K L O S T E R S

Abb. 29 Ansicht der Kirche von Norden mit Baufuge zwischen den Phasen II und III sowie Turm (2006)

STÖTTERLINGENBURG

Abb. 30 Stuckprofi] in der „ K r y p t a " unter dem Turm, Turmostwand. Blick nach Nordosten (2006)

Abb. 31

Kirche von Osten (2006)

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I N G R I D W Ü R T H , ALTERA ELISABETH

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KLAUS KRÜGER

713

Reise, an der neben diesem Orkadenjarl32 auch Erling Ormsson Skakki („der Schiefe") 33 , der Waräger Eindriöi Ungi („der Junge") 34 und Bischof Wilhelm von Kirkwall 35 teilnahmen, führte sie ins Heilige Land, an den byzantinischen Kaiserhof und nach Rom. Durch Parallelquellen lässt sich dieses Unternehmen auf die Jahre 1151 bis 1153 datieren 36 . Die norwegischen Fürsten brachen mit einer Flotte von 15 großen und mehreren kleinen Schiffen von den Orkaden auf, durchquerten den Ärmelkanal und den Golf von Biskaya, segelten um die Iberische Halbinsel und durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer, wo sie sich trennten. Während Eindriöi mit sechs Schiffen die nördliche Route an der spanischen, der französischen und der italienischen Küste entlang nahm, entschied sich der größere Teil der Norweger für die kürzere südliche Route, die sie in südöstlicher Richtung bis ins Heilige Land führen sollte. Während der Aufenthalt in Palästina auch in diesem Falle nur in dürren Worten zusammengefasst wird 37 , widmet sich die Saga ausführlich den Ereignissen auf dem Wege dorthin. In anekdotischer Form und mit liebevoller Detailfreude werden Belagerungen, Seegefechte und ehrenvolle Besuche bei fremden Herrschern geschildert 38 . Dabei beschreibt der Saga-Dichter in gro-

32 Reg. 1136, T 1158, kanon. 1192. Zur Person zuletzt zusammenfassend: WASSENHOVEN, Skandinavier (wie Anm. 3) S. 255 f. 33 t 1179. Als Schwiegersohn Sigurds des Jerusalemfahrers führte er nach 1161 zeitweise die Regentschaft über Norwegen für seinen Sohn, den späteren König Magnus Erlingsson. WASSENHOVEN, Skandinavier (wie Anm. 3) S. 181. 34 T 1163. RIANT, Expéditions (wie Anm. 26) S. 245; BLÖNDAL, Varangians (wie Anm. 16) S. 150 ff.; WASSENHOVEN, Skandinavier (wie Anm. 3) S. 174. 35 T 1168. RIANT, Expéditions (wie Anm. 26) S. 247, Anm. 1; P. B. GAMS, Series episcoporum ecclesiae catholicae quotquot innotuerunt a beato Petro Apostolo ( 1873) S. 241. 36 Annales regii efter 2087 4to i gl. Sämling i kgl. Bibliothek i Kj0benhavn, in: Islandske annaler indtil 1578, hg. von Gustav STORM (1888) S. 77-155, hier S. 114; Gottskalks Annaler efter No. 5 octavo blandt Stockholms kgl. Bibliotheks islandske Haandskrifter (med Varianter fra AM. 412 4to og 429 A 2 4to), ebd. S. 297-378, hier S. 322; Morkinskinna (wie Anm. 19) c. 95, S. 390; Haraldssona Saga, Heimskringla 3 (wie Anm. 19) c. 17. 37 „Rögnvald [und seine Männer] zogen von Akko aus und besuchten alle die heiligsten Stätten im Land von Jerusalem. Sie zogen alle zum Jordan und badeten dort." (t>eir Rognvaldr jarl fôru pâ ôr Akrsborg med liö sitt til Jörsalaborgar ok söttu alla ina helgustu staôi à Jörsalalandi. Peir fôru allir til Jôrôânar ok laugudusk par.) Orkneyinga Saga (wie Anm. 13) c. 88, S. 231. 38 Am berühmtesten wohl die Episode vom Besuch am Hof der Vizegräfin Ermengarde zu Narbonne: Orkneyinga Saga (wie Anm. 13) c. 86, S. 209-212. Das Aufeinandertreffen von Skalden und Troubadours weckte bereits früh das Interesse speziell der Literaturwissenschaftler; vgl. Hugo GERING, Die episode von Rognvaldr und Ermingerör in der Orkneyinga saga, Zs. für deutsche Philologie 43 (1911) S. 428-434; Finnur JÖNSSON, Sagaernes Lausavisur, Aarbager for nordisk Oldkyndighed og Historie, 3. Reihe, 2 (1912) S. 1-57; DERS., Rögnvald jarls Jorsalfaerd, [Dansk] Historisk Tidsskrift, 8. Reihe, 4 (1912/13) S. 151-165; Hugo GERING, Die episode von Rognvaldr und Ermingerör in der Orkneyinga saga. Zweiter artikel, Zs. fur deutsche Philologie 46 (1915) S. 1-17; Rudolf MEISSNER, Ermengarde, Vice-

714

SALADIN DER SEEFAHRER

ßer Breite auch eine Begegnung mit einer sarazenischen Dromone, einer Großgaleere, die in Höhe Sardiniens von den Nordmännern angegriffen wurde. Ausfuhrlich wird der blutige Kampf ausgemalt, in dessen Verlauf sämtliche besiegten Heiden ihr Leben lassen mussten. Lediglich ihr Anführer wurde mit einer Handvoll Männer gefangen genommen, um bei nächster Gelegenheit verkauft zu werden39. Die Skandinavier hatten den gegnerischen höfding an seinem Aussehen erkannt: seine Größe und seine Schönheit waren es, die ihn von der übrigen Besatzung abhoben. Bei der Beschreibung dieses Mannes folgt die Orkneyinga Saga einem in der altnordischen Skaldik und Epik überkommenen Motiv: Der (rechtmäßige) Herrscher wird in aller Regel als besonders groß, stark und gut aussehend dargestellt, jedenfalls ist er stets größer und schöner als sein Gefolge. In einer Zeit voller Thronstreitigkeiten und Bruderkriege konnte der Zuhörer so sicher auf Rang und Legitimität des Dargestellten schließen. Was unter gutem Aussehen zu verstehen war, lässt sich etwa aus den teilweise recht ausfuhrlichen Beschreibungen bei Snorri Sturluson erkennen: helle Haut und langes helles Haar zeichneten meist den schönen Mann aus40. Zwar wird dies in der zitierten Passage in bezug auf den Gefangenen nicht ausdrücklich genannt, der erwähnte Kontrast zu seiner schwarzhäutigen Schiffsbesatzung bringt beides aber indirekt zum Ausdruck41.

gräfin von Narbonne, und Jarl Rögnvald, Arkiv for nordisk filologi 41 (1925) S. 140-191; Jan DE VRIES, Een skald onder de troubadours, Verslagen en mededeelingen der Koninklijke Vlaamse Academie voor Taal- en Letterkunde (1938) S. 701-735; DERS., Jarl Rognvalds Lausavisur, in: Folkloristica, Festschrift für Dag Strömbäck (1960) S. 133-141; Theodore M. ANDERSSON, Skalds and Troubadours, Médiéval Scandinavia 2 (1969) S. 741, bes. S. 11-16; Bjarni ELNARSSON, The Lovesick Skald. A reply to Theodore M. Andersson, Médiéval Scandinavia 4 (1971) S. 21-41; Jacqueline CAILLE, Ermengarde, vicomtesse de Narbonne (1127/29-1196/97). Une grande figure féminine du midi aristocratique, in: La femme dans l'histoire et la société méridionales (IX e -XIX e s.) (Actes du 66 e congrès de la Fédération historique du Languedoc méditerranéen et du Roussillon, 1995) S. 9-50, hier S. 20; VON SEE, Europa (wie Anm. 25) S. 193 ff.: „Ein Skald unter Trobadors"; Klaus KRÜGER, Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle. Zur Rezeption von Pilgerreisen nordischer Herrscher im 12. Jahrhundert, in: Menschenbilder - Menschenbildner. Individuum und Gruppe im Blick des Historikers, hg. von Stephan SELZER / Ulf-Christian EWERT (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 2,2002) S. 69-108. 39 Dazu die Zitate bei Anm. 1, 14, 22, 31, 42, 56. 40 Zum Motiv des großen und schönen Herrschers in der Heimskringla vgl. Heinz KLINGENBERG, Heidnisches Altertum und nordisches Mittelalter. Strukturbildende Perspektiven des Snorri Sturlurson (1999) S. 358-408. 41 Die bei Anm. 22 zitierte Passage ist nicht ganz eindeutig. Eher der Subtext denn der Wortlaut macht deutlich, dass die blämanna, die „schwarzen Männer", nur einen Teil der Schiffsbesatzung ausmachten. Die Hautfarbe des gefangengenommenen Fürsten wird nicht ausdrücklich erwähnt, aber der gesamte Kontext lässt vermuten, dass er - wie die wenigen anderen verschonten Gefangenen - hellhäutig war, und dass es sich bei den Schwarzen um Sklaven handelte.

KLAUS KRÜGER

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5. Marktfrieden „Von dort segelte Rögnvald Jarl südwärts Richtung Serkland, und sie legten vor einer der Städte des Sarazenenlandes an und vereinbarten einen einwöchigen Marktfrieden mit den Einwohnern der Stadt und trieben Handel mit ihnen und verkauften ihnen Silber und andere Kostbarkeiten. Kein Mensch wollte jenen großen Mann kaufen, und deswegen ließ ihn der Jarl zusammen mit fünf anderen gehen." (Orkneyinga Saga, c. 88) 42

Das weitere Schicksal dieses gefangenen Sarazenen nimmt in der Saga ungewöhnlich breiten Raum ein. Ausführlich wird sein Schmerz beschrieben, als er sein von den Wikingern in Brand gesetztes Schiff (mit einem versteckten Goldschatz, wie sich dann herausstellen wird) versinken sieht, und seine Standhaftigkeit, als die Nordmänner ihm - auch unter Androhung der Folter - vergeblich Auskünfte über seine Person abzuringen versuchen43. Schließlich laufen die Nordmänner einen maghrebinischen Hafen an, um ihre Beute, darunter die Gefangenen, zu verkaufen44. Mit den Einwohnern wird dazu ein einwöchiger Handelsfrieden vereinbart. Ein solcher Markt in feindlicher Umgebung, auf dem die erst kürzlich erbeuteten Schätze zum Verkauf angeboten werden, ist auf diesen bewaffneten Pilgerreisen nicht ungewöhnlich, in der Orkneyinga Saga wird auch an anderer Stelle davon berichtet45. Eine genaue Unterscheidung der skandinavischen Reisenden in Seeräuber (hernadr bzw. viking) und Kauffahrer (farmaör bzw. kaupmadr), die Else Ebel in den 42 Peir Rögnvaldr jarl sigldu paöan suör undir Serkland ok lägu undir Serklandsborg einni ok gerdu par sjau natta griö viö staöarmenn ok âttu viô pä kaup ok seldu peim silfr ok annat fé. Engt madr vildi kaupa inn mikla mann, ok eptir pat gaf jarl honom fararleyfl viô flmmta mann. Orkneyinga Saga (wie Anm. 13) S. 228. 43 „Nachdem sie die Dromone geplündert hatten, legten sie darin Feuer und verbrannten sie. Als der große Mann, den sie gefangengenommen hatten, das sah, wurde er sehr niedergeschlagen und blass und mochte sich nicht beruhigen. Obwohl sie versuchten, mit ihm zu reden, sagte er kein Wort und machte keinerlei Zeichen, und nichts gab er preis, was sie ihm auch an Gutem oder Schlechtem verhießen. Als die Dromone in Flammen stand, sahen sie einen Strom von Feuer sich in die See ergießen. Das bewegte ihren Gefangenen sehr. Da befürchteten sie, sie hätten nicht sorgfaltig genug nach Geld gesucht und jetzt sei im Feuer geschmolzen, was einmal Gold und Silber gewesen sei." (Pâ er peir höfdu ruddan drômundinn, pâ lögdu peir i hann eld ok brenndu. Ok er pat sä madrinn sä inn mikli, er peir höfdu hertekit, brâ honum viô mjök ok geröisk litverpr ok mätti sik eigi kyrran hafa. En pô at peir leitaôi orôa viô hann, pâ mœlti hann ekki, ok engan veg bendi hann, ok ekki brâ hann sér viô, hvârt er peir hétu honum gôôu eôa illu. En pâ er drômundrinn tôk at loga, sâ peir, at svâ sem logandi sjôr hlypi i sjoinn. Pat fekk mikils inum hertekna manni. Pat höfdu peir fyrir satt, at peir hefôi ôvandliga leitat fjârins ok nù hefôi runnit mâlmrinn i eldsganginum, hvârt er verit hefôi gull eôa silfr.) Orkneyinga Saga (wie Anm. 13) S. 228. 44 RIANT, Expéditions (wie Anm. 26) S. 256 lokalisiert diesen Hafen in Mahadia oder Tripolis, die 1147-48 unter sizilische Herrschaft gefallen seien. Er geht also von einer christlichen (oder: christianisierten) Bevölkerung aus, was angesichts der unten beschriebenen Pointe der Episode nicht zutreffen kann: die Einwohner der Hafenstadt waren Muslime. 45 Orkneyinga Saga (wie Anm. 13) c. 86, S. 212 f.

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altnordischen Quellen ausmacht, findet sich beim Blick in die hier untersuchte Sagaliteratur nicht bestätigt. Gerade die Berichte über Fernreisen zeigen vielmehr ein buntes Bild von Handel und Raub, und immer wieder eben den friedlichen Handel mit jüngst erbeutetem Gut 46 . Jenseits aller Kreuzzugspropaganda wird an diesen Textpassagen schlaglichtartig deutlich, wie die materielle Versorgung eines solchen Unternehmens, das hunderte oder tausende Männer für mehrere Jahre von jeglicher Verbindung in die Heimat abschnitt, funktionierte. Die unterwegs gemachte Beute wurde gegen Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs eingetauscht, und dazu bedurfte es eines geregelten Umgangs mit den Einheimischen. Dieser Grundkonsens verdient sicher nicht das Wort Vertrauen, wäre aber ohne beiderseitige Vorteile nicht möglich gewesen. Für die Nordmänner bildete er die logistische Basis ihrer Fernreise, für die Sarazenen vermutlich die Möglichkeit guter Geschäfte - einschließlich des Freikaufs eigener Großer aus der Gefangenschaft. Andererseits war dies noch nicht die Zeit, in der eine pragmatische Selbstverständlichkeit in die Beziehungen zwischen christlichen und muslimischen Herrschern eingetreten war, die auch diplomatische Beziehungen zwischen Norwegen und dem islamischen Orient einschloss. Dazu bedurfte es einer regelrechten Einbeziehung des hohen Nordens in die Politik der europäischen Großmächte, und die sollte erst ein Jahrhundert später gelingen, in der langen Regierungszeit des norwegischen Königs Häkon IV. Häkonsson (1217-1263). In dieser Zeit wurden intensive Handelsbeziehungen geknüpft, eine Heiratsallianz zwischen den Königreichen Norwegen und Kastilien geschlossen, Häkon konnte seine eigene Krönung durch einen päpstlichen Legaten erwirken, und ihm wurde die Kaiserkrone angeboten 47 . Litera-

46 Else EBEL, Der Fernhandel von der Wikingerzeit bis in das 12. Jahrhundert in Nordeuropa nach altnordischen Quellen, in: Handel und Verkehr (wie Anm. 16) S. 266-312, hier S. 269-272. Vgl. zur Kontroverse um diese Frage zusammenfassend auch MOHR, Wissen (wie Anm. 10) S. 101 ff. - Zu vertraglichen Übereinkünften zwischen den Konfliktparteien der Kreuzzüge: Michael A. KÖHLER, Allianzen und Vertrage zwischen fränkischen und islamischen Herrschern im Vorderen Orient. Eine Studie über das zwischenstaatliche Zusammenleben vom 12. bis ins 13. Jahrhundert (Studien zur Sprache, Geschichte und Kultur des islamischen Orients, N. F. 12,1991) bes. S. 395 ff. 47 Allgemein: Martin KAUFHOLD, Norwegen, das Papsttum und Europa im 13. Jahrhundert. Mechanismen der Integration, HZ 265 (1997) S. 309-342. - Handelsbeziehungen: Knut HELLE, Trading and Shipping between Norway and England in the Reign of Hákon Hákonsson (1217-1263), Sjöfartshistorisk arbok. Norwegian Yearbook of Maritime History (1967) S. 7-34; Arnved NEDK.VITNE, Der Strukturwandel im nordeuropäischen Seehandel vom 12. zum 13. Jahrhundert; seine Bedeutung für die norwegischen Seehandelsstädte, in: Seehandelszentren im nördlichen Europa (Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 7, 1983) S. 261-269. - Heiratsbündnis zwischen Hákon und König Alfons von Kastilien 1255/57: Bruce Edward GELSINGER, A Thirteenth-Century Norwegian-Castilian Alliance, Medievalia et Humanística. Studies in medieval and Renaissance culture N. S. 10 (1981) S.

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rischen Niederschlag fand diese erfolgreiche Herrschaft in der Saga, die auf den König gedichtet wurde 48 . Sie steht in der Tradition der altnordischen Königssagas, die durch Häkons Zeitgenossen Snorri Sturluson zur Vollendung gebracht worden war, hat aber durch die Verwendung des königlichen Archivs die Funktion einer gleichsam offiziösen Hofgeschichtsschreibung, was sich auch in ihrem annalistischen Stil niederschlägt. Die Saga berichtet für den genannten Zeitraum immer wieder von Reisen norwegischer Höflinge und Adliger ins Heilige Land. Zunächst beteiligten sie sich noch an bewaffneten Kreuzzügen 49 , doch bald gibt es auch Nachrichten über Handels- und Wallfahrten 50 . Des Königs Gefolgsmann Andres Skjaldarband trat 1229 eine Pilgerreise zu Lande an, schiffte sich in einem französischen Hafen an Bord einer Dromone zur Seereise über das Mittelmeer ein und galt seitdem als verschollen 51 . Häkon wandte sich daraufhin um Nachricht an Kaiser Friedrich II., und daraus entspann sich ein reger diplomatischer Austausch. Unter den Geschenken, die Friedrich an den norwegischen Hof sandte, waren auch schwarze Sklaven ( b l ä m e n n f 2 . Als 1257 der diplomatische Kontakt zum kastilischen Königshaus in die Heirat von Häkons Tochter Christina mit dem Bruder des Königs, Prinz Philipp, mündete 53 , nutzten die Männer, die sie nach Spanien begleitet hatten, die Gelegenheit zu einer anschließenden Pilgerfahrt nach Palästina 54 . Heimgekehrt nach Norwegen, berichteten sie von Gesandten aus aller Welt, die ihnen am Hof in Valladolid begegnet waren, darunter auch heidnische. Dies führte zu weiteren Kontakten, denn die Saga berichtet, dass Häkon 1260 zwei Gesandte auf

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55-80. - Verhältnis zum Römischen Reich: Thomas B E H R M A N N , Norwegen und das Reich unter Häkon IV. (1217-1263) und Friedrich II. (1212-1250), in: Hansische Literaturbeziehungen. Das Beispiel der Pidreks saga und verwandter Literatur, hg. von Susanne K R A M A R Z - B E I N (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Erg.bd. 14, 1996) S. 2750. Häkonar Saga Häkonarsonar, verfasst von Sturla I>öröarson um 1265. Hier verwendete Ausgabe: Hakonarsaga, hg. von Gudbrand V L G F U S S O N (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores 88, Icelandic Sagas 2, 1887, ND 1964); weiterhin wurde folgende Übers, verwendet: Gfeorge] W[ebbe] D A S E N T (Übers.), The Saga of Hacon (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores 88, Icelandic Sagas 4, 1894, ND 1964). Kreuzzug von 1217: Beteiligung der kgl. Gefolgsmänner Sigurd und Hroar, des Erlend Torbergsson (beteiligt an der Belagerung von Damiette 1219), des Gaut Jonsson: Häkonar Saga Häkonarsonar (wie Anm. 48) c. 27, S. 30 f., c. 30, S. 33, c. 53, S. 48; vgl. dazu W A S S E N H O V E N , Skandinavier (wie Anm. 3) S. 264, S. 258, S. 187. 1222: Reise des Ogmund von Späneim über die russischen Ströme nach Novgorod, Byzanz und Jerusalem: Häkonar Saga Häkonarsonar (wie Anm. 48) c. 81, S. 70. Häkonar Saga Häkonarsonar (wie Anm. 48) c. 164, S. 144 f. B E H R M A N N , Norwegen (wie Anm. 47) S. 41 f. Häkonar Saga Häkonarsonar (wie Anm. 48) c. 284-294, S. 280-303. Häkonar Saga Häkonarsonar (wie Anm. 48) c. 294-296, S. 303-305. Die Saga berichtet, König Alfons habe vergeblich versucht, König Häkon zur Beteiligung an seinen eigenen Kreuzzugsplänen zu bewegen.

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eine mehrjährige Reise an den Hof „des Sultans von Tunis" schickte, die ihm Falken zum Geschenk überbracht hätten und sehr freundlich aufgenommen worden seien55. Da der König gleich nach ihrer Rückkehr starb, kann nur darüber spekuliert werden, ob diese Verbindung andernfalls von Dauer gewesen wäre. Jedenfalls aber ist zu dieser Zeit in den Texten nichts mehr von irgendwelchen Vorbehalten gegen die sarazenischen Heiden zu spüren.

6. Der edle Heide „Er kam am nächsten Morgen mit großem Gefolge zurück und sagte ihnen, er sei ein Adliger von Serkland, und er sei mit der Dromone und allen Reichtümern darauf unterwegs gewesen. Er sagte, es sei ein großes Unglück, dass sie die Dromone und mit ihr so viele Reichtümer verbrannt hätten, niemandem zu Nutzen. - ,Aber jetzt habe ich euch völlig in meiner Gewalt. Ich will euch vergelten, dass ihr mir das Leben geschenkt und mir soviel Ehre wie möglich entgegengebracht habt. Aber ich hoffe, dass wir uns nie wieder sehen, und nun lebt wohl'." (Orkneyinga Saga, cap. 88) 56

Doch bereits ein Jahrhundert vor König Häkons diplomatischen Beziehungen zu einem afrikanischen Sultan lässt die Episode der Orkneyinga Saga um den sarazenischen Schiffsherrn einen differenzierten Blick auf den muslimischen Gegner erkennen. Mit der Rückkehr des Freigelassenen zu den Nordmännern nimmt die Erzählung eine Wendung, die ihr zum einen eine kapriziöse Pointe verleiht, dem Zuhörer der Saga darüber hinaus einen anderen Aspekt dieses Heiden erschließt. Durch seinen Stand als sarazenischer Adliger (öölingr af Serklandi) wird die neue Machtposition des früheren Gefangenen plausibel: Als Großer in der Hafenstadt und Herr eines militärischen Gefolges verfugt er nun über Leben und Freiheit seiner Feinde. Statt der Rache wählt er die noble Geste - eine ritterliche Attitüde, die dem 12. Jahrhundert wohl angemessen erscheint. Ähnliche dramatische Wendungen erscheinen uns vertraut aus der mittelalterlichen wie der neueren schönen Literatur, wir finden Vergleichbares in allen Kulturkreisen. Interessant aber sind die Begründung des Freigelassenen für seine chevalereske Tat sowie die Haltung des Erzählers dazu.

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[...] til Soldons af Tunis. Hâkonar Saga Hâkonarsonar (wie Anm. 48) c. 313, S. 325. Vgl. die ganz falsch verstandene Zusammenfassung dieser Kontakte bei RIANT, Expéditions (wie Anm. 26) S. 349-351. 56 Hann kom ofan um morgininn eptir med sveit manna ok sagöi peim, at hann var öölingr af Serklandi ok hafôi paöan verit leystr med dromundinum ok öllu pvl fé, er par va à. Lézk honum ok pat verst pykkja, at peir brenndu drômundinn ok foru par svâ illa miklu fé, at engi naut, - ,en mi â ek mikit vald à yöru mâli. Pér skuluâ nu frà mér pess mest njôta, er pér gdfuô mér lif ok leituâuâ mér slikrar sœmdar sem pér mdttuâ. En gjarna vilda ek, at vér sœimsk aldri siôan, ok lifiâ nu heilir ok vel. ' Orkneyinga Saga (wie Anm. 13) S. 228.

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Der namenlose Sarazene argumentiert mit der ihm seitens der Norweger entgegengebrachten Ehre. Damit ist ein Thema angesprochen, das in den Sagas oft eine entscheidende Rolle spielt, wenn die Konfrontation feindlicher Krieger in Szene gesetzt wird. Diese Ehre, die keineswegs mit barmherzigem Verhalten einhergehen muss, ist nicht vollständig kongruent mit der der kontinental geprägten höfischen Dichtung, stellt aber wie diese einen universal gültigen Verhaltenskodex dar. Tatsächlich jedoch hatte dieser Aspekt in der Schilderung der hier beschriebenen Episode nicht die geringste Rolle gespielt. Der Saga-Dichter berichtet lediglich von den vergeblichen Versuchen der Nordmänner, den Gefangenen auszufragen, offenbar mit Versprechungen sowie unter Androhung von Gewalt 57 . Auch seine endliche Freilassung erfolgte nicht als ehrenvoller Gnadenakt, sondern erst nachdem sich die Hoffnung, ihn gewinnbringend auf dem Markt zu verkaufen, nicht erfüllt hatte. Und schließlich entbehrt die geschilderte Szene jeder Reaktion seitens der Norweger auf diese für sie beschämende Wendung. Der Erzähler lässt die in wörtlicher Rede wiedergegebene Ansprache des Sarazenen unkommentiert, verschweigt die Antwort des frappierten Jarls, beschließt die Anekdote stattdessen lapidar: „Dann ritt er ins Land davon, und Rögnvald Jarl segelte von dort südwärts nach Kreta [,..]" 58 . Die Schlacht mit der Dromone ist nicht nur in der Orkneyinga-Saga überliefert, sondern auch in der Morkinskinna, der frühesten Chronik der norwegischen Könige, sowie in der Heimskringla des Snorri Sturluson 59 . Der Heldentat des Lotsen Audun des Roten, der als erster das feindliche Kriegsschiff geentert hatte, wird in allen drei Texten rühmend gedacht. Von dem sarazenischen Gefangenen ist indes nur in der Saga Rögnvald Kalis die Rede. Deren Dichter, der bisher nicht plausibel identifiziert werden konnte, war nach allem, was wir wissen, nicht selbst an der Fahrt beteiligt gewesen; ihm standen aber noch die Erzählungen der überlebenden Reisenden zur Verfügung, die er vermutlich wenige Jahrzehnte nach der Fahrt zu einer Art offiziellem

57 Siehe oben Anm. 43. 58 Eptir pat reiö hann a land upp, en Rögnvaldr jarl sigldi paöan suör til Kritar [...] Orkneyinga Saga (wie Anm. 13) S. 228. 59 Morkinskinna (wie Anm. 19) c. 95, S. 390; Haraldssona Saga, Heimskringla 3 (wie Anm. 19) c. 17. - Zum komplizierten Verhältnis zwischen Orkneyinga Saga und Snorris Werken Dominik Waßenhoven: „Während Snorri Sturluson die Saga der Orkney-Jarle als Quelle benutzte, wurde seine Heimskringla wiederum bei der Überarbeitung der Orkneyinga saga herangezogen." WASSENHOVEN, Skandinavier (wie Anm. 3) S. 48. Vgl. auch: Oskar BANDLE, Tradition und Fiktion in der Heimskringla, in: Schriften zur nordischen Philologie. Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte der skandinavischen Länder. Festschrift zum 75. Geburtstag Oskar Bandles, hg. von Jürg GLAUSER / Hans-Peter NAUMANN (Beiträge zur Nordischen Philologie 31, 2001) S. 311 -327.

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Bericht zusammenfugte 60 . So scheint den selbst Beteiligten die Begegnung einschließlich ihrer lebensgefährlichen und wenig ruhmreichen Wendung in ihren Details immerhin überliefernswert gewesen zu sein. Verglichen mit der kontinentalen höfischen Literatur der Zeit, erscheint die epische Wiedergabe der Episode trocken und knapp. Der Kompilator reduziert das Aufeinandertreffen zweier Vornehmer aus unterschiedlichen Kulturkreisen, die einander auch ohne Worte an ihren ritterlichen Taten erkennen, auf ein bloßes Nacherzählen der Ereignisse, lässt die Gelegenheit zu moralisierender Reflexion oder auch nur zum Kommentar außer Acht. Nun ist bei einem solchen Vergleich allerdings zu berücksichtigen, dass die Skaldik des 12. und 13. Jahrhunderts auf die Konventionen einer langen literarischen Tradition Rücksicht zu nehmen und die auf jahrhundertealten Erzählmustern beruhenden Erwartungen eines vorgebildeten Publikums zu erfüllen hatte. Exkurse, die das Handeln der Protagonisten kommentieren, sind dabei generell nicht zu erwarten. Erscheint die Sagadichtung in der Kürze und Prägnanz ihrer Formulierung kaum mit den Redundanzen zeitgenössischer höfischer Minnedichtung vergleichbar, so sollte daraus keinesfalls der Schluss gezogen werden, der Erzähler habe den kulturellen Hintergrund der handelnden Protagonisten nicht erfasst. Der Blick des Saga-Dichters auf fremde Länder, Orte und Personen ist vielmehr selektiv: Sie interessieren ihn lediglich als Staffage für Konflikte und Heldentaten seiner eigenen Protagonisten. Diese Selektion darf nicht mit Ignoranz verwechselt werden, denn wie ein Bühnenautor weist er auch diesen Marginalien ihre jeweilige Funktion zu, die ihnen angemessen sein muss. Bezogen auf die Religion der sarazenischen Feinde bedeutet dies, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Lehren des Islam für Erzähler wie für Zuhörer überflüssig ist. Muslime sind Heiden, aus diesem Grund wird die sarazenische Dromone ohne Zögern oder weitere Begründung von Rögnvald Kali angegriffen 61 . Auch Snorri, zwei Generationen später, stellt die Anhänger des Islam als Heiden auf dieselbe Stufe wie pagane Nordmänner. Bezeichnenderweise wird in der Heimskringla in einem Atemzug von den

60 Zum Verhältnis des Dichters der Orkneyinga Saga zu seinem Stoff vgl. DE VRIES, Jarl Rognvalds Lausavisur (wie Anm. 38); Ole BRUHN, Earl Rögnvald and the Rise of Saga Literature, in: Viking Age (wie Anm. 9) S. 240-247 und zuletzt KRÜGER, Gesehenes (wie Anm. 38) bes. S. 93 ff.; - vgl. allg.: Klaus VON SEE, Skop und Skald. Zur Auffassung des Dichters bei den Germanen, Germanisch-romanische Monatsschrift 45 (1964) S. 1-14; Dietrich HOFMANN, Vers und Prosa in der mündlich gepflegten mittelalterlichen Erzählkunst der germanischen Länder, FmSt 5 (1971) S. 135-175; Klaus VON SEE, Skaldenstrophe und Sagaprosa. Ein Beitrag zum Problem der mündlichen Überlieferung in der altnordischen Literatur, Medieval Scandinavia 10 (1977) S. 58-82; DERS., Mündliche Prosa und Skaldendichtung. Mit einem Exkurs über Skaldensagas und Trobadorbiographien, Medieval Scandinavia 11 (1978/79) S. 82-91; Dietrich HOFMANN, Sagaprosa als Partner von Skaldenstrophen, ebd. S. 68-81. 61 Vgl. oben bei Anm. 14.

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Kämpfen Sigurds des Jerusalemfahrers nicht nur gegen sarazenische, sondern auch gegen nordische Heiden berichtet: „Als König Sigurd an der spanischen Küste entlangsegelte, geschah es, dass ihm einige Wikinger, die auf Beutezug waren, mit ihren Schiffen entgegen kamen, aber König Sigurd geriet mit ihnen in Kampf, und so hatte er seine erste Schlacht gegen Heiden, und er nahm ihnen acht Ruderschiffe."62. Durch die Kreuzzüge und den dadurch entstehenden Kontakt mit kontinentaleuropäischen wie orientalischen Kulturen boten sich nicht nur der westeuropäischen, sondern auch der Sagadichtung neue Themen. Das literarische Motiv des heidnischen Gegners, dessen ritterliches Handeln denselben moralischen Werten entspringt, die auch dem Christentum zugrunde liegen, war ausgesprochen modern, es entstand eben in der Zeit und unter dem Eindruck der Kreuzzüge63. Bekanntlich sollte sich wenige Jahrzehnte nach den hier geschilderten Ereignissen die neue Sicht auf den muslimischen Gegner in der Gestalt des kurdischen Sultans Saladin bündeln. Er bildete in den folgenden Jahrhunderten die Projektionsfigur des „edlen Heiden", dessen Bild noch in Lessings „Nathan" verklärt wird64. Der im 12. Jahrhundert zunehmende Kontakt mit dem islamischen Kulturkreis65, der Blick auf eine von 62 Pâ er Sigurdr konungr sigldi fyrir Span, barsk pat at, at vikingar nökkurir, peir er föru at féfangi, kômu t môti honum med galeida her, en Sigurdr konungr lagdi til orrostu viö pâ ok höfij svd ina fyrstu orrostu viö heiöna menn ok vann af peim dtta galeidr. Magnüssona Saga, Heimskringla 3 (wie Anm. 19) c. 4, S. 241. 63 Lars LÖNNROTH, The Noble Heathen. A Theme in the Sagas, Scandinavian Studies 41, 1 (1969) S. 1-29. 64 Hannes MÖHRING, Der andere Islam. Zum Bild vom toleranten Sultan Saladin und neuen Propheten Schah Ismail, in: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu, hg. von Odilo ENGELS / Peter SCHREINER (1993) S. 131-155; Jean RICHARD, Les transformations de l'image de Saladin dans les sources occidentales, in: Figures mythiques des mondes musulmans (Revue des mondes musulmans et de la Méditerranée, Série Histoire 89/90, 2000) S. 177-187; Hannes MÖHRING, Saladin. Der Sultan und seine Zeit, 1138-1193 (2005) bes. S. 109 ff.; Martin KLNTZINGER, Curia und Curiositas. Kulturkontakt am Hof im europäischen Mittelalter, in: Konfrontationen der Kulturen? Saladin und die Kreuzfahrer, hg. von Heinz GAUBE / Bernd SCHNEIDMÜLLER / Stefan WEINFURTER (Begleitband zur Sonderausstellung „Saladin und die Kreuzfahrer", Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch 34 = Publikationen der ReissEngelhom-Museen 14, 2005) S. 20-33; vgl. auch die Beiträge in: Saladin und die Kreuzfahrer. Begleitband zur gleichnamigen Sonderausstellung im Landesmuseum fur Vorgeschichte Halle/Saale, im Landesmuseum für Natur und Mensch Oldenburg und in den Reiss-Engelhom-Museen Mannheim, hg. von Alfried WLECZOREK / Mamoun FANSA / Harald MELLER (2005). 65 Nicht in den Kreuzzügen, sondern in einer höfisch-ritterlichen Toleranz des Westens sah Hans Naumann den Grund dieser partiellen Übereinstimmung: Hans NAUMANN, Der wilde und der edle Heide. Versuch über die höfische Toleranz, in: Vom Werden des deutschen Geistes. Festgabe Gustav Ehrismann zum 8. Oktober 1925, hg. von Paul MERKER / Wolfgang STAMMLER (1925) S. 80-101. Dass der Begriff der Toleranz indes in diesem Zusammen-

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einer eigenen Tugendlehre geprägte Lebensform ließ ein Ethos erkennen, das sich zwar aus anderen Wurzeln speiste, im Ergebnis aber mit den Idealen des ,miles christianus' zusammenfiel66. Zu beobachten ist - verbunden mit einer verfeinerten Lebensart an den Höfen des Orients ebenso wie denen Westund Nordeuropas - eine Konvergenz der Tugenden: Bündnistreue, Gastfreundschaft und Milde gegenüber dem Unterlegenen galten als vorbildlich sowohl im Westen als auch im Osten - und im Norden.

hang ganz fehl am Platze ist, geht aus den Beiträgen der Reichenau-Tagung 1994 des Konstanzer Arbeitskreises hervor: Toleranz im Mittelalter, hg. von Alexander PATSCHOVSKY / Harald ZIMMERMANN (VuF 45, 1998). Vgl. auch die kritische Auseinandersetzung mit Naumann bei Klaus VON SEE, Heidentum und Christentum in Snorris Heimskringla, in: DERS., Europa (wie Anm. 25) S. 311 -344, hier S. 320. 66 Vgl. zur Erweiterung des abendländischen Blicks durch die Kreuzzüge etwa: Rudolf HIESTAND, Der Kreuzfahrer und sein islamisches Gegenüber, in: Das Ritterbild in Mittelalter und Renaissance, hg. von Forschungsinstitut fur Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora, 1, 1985) S. 51-68; Peter SCHREINER, Byzanz und der Westen. Die gegenseitige Betrachtungsweise in der Literatur des 12. Jahrhunderts, in: Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers, hg. von Alfred HAVERKAMP (VuF 40, 1992) S. 551-580; Rüdiger SCHNELL, Die Christen und die „Anderen". Mittelalterliche Positionen und germanistische Perspektiven, in: Begegnung (wie Anm. 64) S. 185-202; Friedrich WOLFZETTEL, Die Entdeckung des „Anderen" aus dem Geist der Kreuzzüge, ebd. S. 273-295; John T.OLAN, Veneratio Sarracenorum: dévotion commune entre musulmans et chrétiens selon Burchard de Strasbourg, ambassadeur de Frédéric Barberousse auprès de Saladin (v. 1175), in: Chrétiens et musulmans en Méditerranée médiévale (VIIf-XIlT siècle). Echanges et contacts, hg. von Nicolas PROUTEAU / Philippe SÉNAC (Civilisation Médiévale 15, 2003) S. 185-195; Ernst-Dieter HEHL, Die Kreuzzüge. Feindbild - Erfahrung - Reflexion, in: Kein Krieg ist heilig. Die Kreuzzüge. Katalog zur Ausstellung im Dom- und Diözesanmuseum Mainz, hg. von Hans-Jürgen KOTZUR, bearb. von Brigitte KLEIN / Winfried WLLHELMY (2004) S. 237-247.

HELMUT G. WALTHER

Innocenz III. und die Bekämpfung der Ketzer im Kirchenstaat Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Vergentis in Senium Mitte Oktober 1199, also im letzten Drittel seines zweiten Pontifikatsjahres, richtete Papst Innocenz III. a-pari-Briefe an ausgewählte Bischöfe wichtiger Diözesen im Kirchenstaat und zugleich an mindestens 19 Kommunen des Patrimonium Petri in Tuszien, in der Sabina, im Herzogtum Spoleto und in Umbrien 1 . Anlaß der Mitteilung war die Entsendung des Kardinaldiakons von S. Giorgio in Velabro, Gregor Cecarello, als päpstlichen Legaten. Wie der Papst den Kommunen ausdrücklich ankündigte, habe er den Kardinal dem römischen Stadtpräfekten Pietro de Vico beigesellt. Dieser ehemalige Gefolgsmann Kaiser Heinrichs VI. hatte sich schon am 23. Februar 1188 dem Papst eidlich unterworfen und schien damit ein Zeichen gesetzt zu haben, daß Innocenz III., der als erster Vertreter der ja nicht zum stadtrömischen Adel zählenden Familie der Conti auf den Stuhl Petri gelangt war, sich nun auf dem Weg zur erfolgreichen Unterwerfung der Stadt Rom selbst befand 2 . Allerdings hatten die folgenden Jahre dann mehr als deutlich gemacht, wie schwer es für

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Die Register Innocenz III. (künftig Reg. Inn. III.), Bd. II, bearb. v. Othmar HAGENEDER / Werner MALECZEK / Alfred A. STRNAD (Rom / Wien 1979) Nr. 193 (an die Bischöfe von Città di Castello, Perugia, Chiusi, Gubbio, Spoleto, Foligno, Assisi, Nocera, Rieti und Narni), Nr. 194 (Konsuln und Volk von Sutri, Nepi und Orte, den Einwohnern von Spoleto, Narni, Rieti, Civita Castellana, Amelia, Città di Castello, Tuscania, Vetralla, Todi, Assisi, Bagnoregio, Centocelle, Perugia, Foligno, Orvieto und Corneto), S. 367-371. Zum Aufstieg und der politischen Durchsetzung der Conti Marc DYKMANS (SJ), D'Innocent III à Boniface VIII. Histoire des Conti et des Annibaldi, Bulletin de l'Institut historique Beige de Rome 45 (1975) S. 19-211, hier S. 21 ff. (Innocenz III. und sein Bruder Richard); Matthias THUMSER, Rom und der römische Adel in der späten Stauferzeit (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts Rom 81, 1995) S. 75 ff.; zur Kardinalatszeit Lothars von Segni und seiner kurialen Personalpolitik als Papst Innocenz III.: Werner MALECZEK, Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216 (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom I. 6, Wien 1984) S. 101, 125 ff., 313 ff. und 325 ff.; DERS., Zwischen lokaler Verankerung und universalem Horizont. Das Kardinalskollegium unter Innocenz III., in: Innocenzo III - Urbs et Orbis. Atti del Congresso internazionale Roma, 8-15 settembre, a cura di Andrea SOMMERLECHNER (Miscellanea della Società Romana di Storia Patria 44/1-2 = Nuovi Studi Storici 55/1-2, Roma 2003) S. 102-174; zur Forschungslage seines Pontifikats vgl. zahlreiche Beiträge in diesen Kongreßakten zum Jubiläumsjahr 1998 und den zwei vorausgehenden: Pope Innocent III and his World, hg. von John C. MOORE (Aldershot 1999); Papst Innocenz III., Weichensteller der Geschichte Europas, hg. von Thomas FRENZ (2000).

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INNOCENZ III. U N D DIE KETZER

den ersten Vertreter einer Aufsteigerfamilie aus der Campagna war, sich als Papst gegen die Kommune und die alten römischen Adelsfamilien durchzusetzen. Schließlich waren alle seine Vorgänger entweder mit diesem Vorhaben gescheitert oder hatten sich zu Kompromissen bereitfinden müssen3. Es klang jedoch geradezu programmatisch, was Innocenz als Rahmenbedingungen für die Tätigkeit Kardinal Gregors und des Präfekten in ihren Legationssprengeln ankündigte: dominium apostolicae sedis, que de se vere dicerepotest: „Iugum meum suave est et onus meum leve ", diebus nostris dulcedinem non deponat et nullifiat penitus odiosum4. Konnte der Papst wirklich erwarten, daß es den Kommunen und den kleinen adligen Herren in Teilen des Herzogtums Spoleto und im südlichen Tuszien nach der Beseitigung der bisherigen Belastungen durch die staufische Verwaltung nun so erscheinen könnte, als ob im Vergleich dazu das neue päpstliche Joch süß sei und eine leichte Last? Innocenz versuchte zumindest in seinen Zirkularbriefen seiner Rekuperationspolitik seit 1198 durch betont antistaufische Töne und unter Verweis auf die importabilis Alemannorum tyrannis in den betroffenen Gebieten eine zusätzliche Legitimation zu den keineswegs überzeugenden vorzutragenden Rechtsansprüchen der Kurie zu verschaffen 5 . Gerade den Rektoren der toskanischen Liga glaubte er bereits im April 1198 durch Aufgreifen der Matthäus-Stelle vom süßen Joch und der leichten Last durch die von ihm gewünschten protectio apostolica anstelle des bisherigen iugum durae conditionis der Stauferherrschaft, dem er sie entrissen habe, eine päpstliche Oberherrschaft schmackhaft machen zu können. Als er damit ein wenig zustimmendes Echo fand, wollte er seine Argumente im Herbst 1198 durch den Hinweis ergänzen, daß durch göttliche Wahl Italien das Fundament der christlichen Religion geworden sei, den Prinzipat über alle Provinzen erlangt habe und deshalb insbesondere die päpstliche väterliche Fürsorge verdiene 6 .

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THUMSER, Rom (wie Anm. 2) S. 80 ff.; Edward PETERS, Lotario dei Conti di Segni becomes Pope Innocent III. the Man and the Pope, in: Pope Innocent (wie Anm. 2) S. 3-24. Reg. Inn. III. I (1964) Nr. 88, S. 126-128 (April 1198 an alle Rektoren des Patrimonium in Tuszien und in Umbrien); die Formel vom süßen Joch der weltlichen Herrschaft der Kirche wiederholt Anfang Oktober 1198 in Reg. Inn. III. I Nr. 356, S. 532-534; die weltliche Herrschaft des Papstes in Italien als göttlichen Wunsch und Vorsehung (utraque vero potestas sive primatus sedem in Italia meruit obtinere) im Schreiben vom 30. Okt. 1198 an alle Rektoren in Tuszien und des Spoletaner Ducatus, Reg. Inn. III. I Nr. 401, S. 599-601. So auch der papstfreundliche Autor der Gesta Innocentii PP. III zu den Rundschreiben des Papstes im Zuge seiner Rekuperationspolitik, insbesondere zu Brief Reg. Inn. III. I Nr. 401: Gesta c. XI (Migne PL 214, col. XXVI). Reg. Inn. III. I Nr. 401, S. 600: Utraque vero potestas sive primatus sedem in Italia meruit obtinere, quae dispositione divina super universas provincias obtinuit principatu. Et ideo licet ad universas provincias nostrae provisionis aciem extendere debeamus, specialiter tarnen Italiae paterna nos convenit sollicitudine providere, in qua Christianae religionis fundamentum existit et per apostolicae sedis primatum sacerdotii simul et regni praeeminet

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Die Kommune Viterbos hatte seit Anfang 1198 mit dem im November 1197 geschlossenen Tuskenbund über einen Beitritt verhandelt. Ihr wie derjenigen Perugias untersagte der Papst jedoch den gewünschten Beitritt. Innocenz mußte befurchten, daß diese von Florenz, Lucca, Siena dominierte und vom Bischof von Volterra als Prior geleitete Liga alle seine Bestrebungen, insbesondere die gerade nach dem Zusammenbruch der Herrschaft Philipps von Schwaben erreichte Anerkennung der Herrschaft der römischen Kirche im gesamten Tuszischen Patrimonium, zu einer nominellen Oberhoheit degradieren würde 7 . Der Papst lag mit dieser Deutung sicherlich nicht falsch, da die Bundesakte der toskanischen Kommunen die Herrschaftsrechte der Kirche mit Schweigen übergangen hatte. Erst als Innocenz III. im Oktober 1198 vom Bund das Zugeständnis einer Anerkennung des dominium sedis apostolicae und die für einen Beitritt notwendig einzuholende päpstliche Erlaubnis erreicht hatte, lenkte er in der Frage neuer Mitgliedschaften ein. Schließlich trat jedoch nur die Kommune Viterbos dann aus dem Kreis der Städte des tuskischen Patrimoniums wirklich dem Bund bei. Ob Innocenz dafür seine Erlaubnis gab, wissen wir nicht, erscheint aber angesichts der bisher schon selbstbewußten und konfliktbereiten Politik der Kommune relativ unwahrscheinlich 8 . Viterbo war erst seit 1192 zum neuen Bischofssitz der nun vereinigten Diözese Tuscania-Viterbo-Civitavecchia und Bieda erhoben worden, was den Territorialbildungsbestrebungen der Kommune Viterbos seit 1169 Rechnung trug 9 . Viterbos Bischof war von Cölestin III. schon 1189 zum Kardinalpriester von S. d e m e n t e erhoben worden. Während des offenen Konflikts Roms mit der Kommune 1199 wurde er von Innocenz III. sogar zum Kardinalbischof von Albano promoviert. In der ersten Konfliktphase mit dem Papst hatte Viterbo 1198 erstmals einen Podestà statt der bislang üblichen mehreren Konsuln als kommunales Leitungsorgan bestellt 10 . Im folgenden Jahr riskierte

principatus. - Zum ideologischen und konzeptionellen Hintergrund Bernhard SCHIMMELPFENNIG, Utriusque potestatis monarchia. Zur Durchsetzung der päpstlichen Hoheit im Kirchenstaat mittels des Strafrechts während des 13. Jahrhunderts, ZRG Kan. 94 (1988) S. 304323. 7 Vgl. Daniel WALEY, The Papal State in the Thirteenth Century (London 1961) S. 30-124; zuletzt noch einmal den Ablauf der Vorgänge rekonstruierend Christian LACKNER, Studien zur Verwaltung des Kirchenstaates unter Papst Innocenz III., Römische Historische Mitteilungen 29(1987) S. 127-214. 8 WALEY, Papal State (wie Anm. 7) S. 38 ff.; LACKNER, Studien (wie Anm. 7) S. 132 ff. 9 Jean-Claude MAIRE VLGUEUR, Comuni e signorie in Umbria, Marche e Lazio (Storia d'Italia VII/2, Torino 1987) S. 121 f. 10 Norbert KAMP, Konsuln und Podestà. Balivus communis und Volkskapitän in Viterbo im 12. und 13. Jahrhundert, in: Biblioteca degli Ardenti della Città di Viterbo (Viterbo 1960) S. 41-127, hier S. 59; auch als italienische Monografie unter dem Titel: Istituzioni comunali in Viterbo nel Medioevo I: Consoli, Podestà, Balivi e Capitani nei secoli XII e XII (Viterbo 1 9 6 3 ) S. 7 f.; LACKNER, S t u d i e n ( w i e A n m . 7 ) S. 1 3 2 f f .

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Viterbo sogar die offene Auseinandersetzung mit der römischen Kommune, als es das kleine Kastell Vitorchiano nur knapp 10 km nordöstlich Roms besetzte. Die Entwicklung der militärischen Auseinandersetzungen der beiden Kommunen ließ Innocenz III. gegen Jahresende 1199 dann keine andere Wahl als zugunsten Roms Partei zu ergreifen. Inzwischen hatte sich nämlich sein eigener Bruder Richard, den Innocenz als Hauptstütze seiner Politik nach Rom geholt hatte, finanziell und militärisch für die Tiberkommune engagiert. Innocenz mußte damals freilich innerhalb des komplizierten politischen Kräfteverhältnisses Roms lavieren. Andererseits hatten die Viterbesen im Sommer 1199 den Pfalzgrafen Hildebrand zu ihrem Podestà gewählt, der damit trotz seines vorherigen Treueides für den Conti-Papst zu seiner alten Rolle als Papstgegner zurückkehrte 1 Nicht viel besser hatte sich das Verhältnis Innocenz' III. zu Orvieto entwickelt, der mächtigsten Kommune des Tuszischen Patrimoniums. Orvieto hatte seit 1171 Acquapendente dem eigenen Contado einverleibt. Den Rekuperationsbestrebungen des Conti-Papstes setzte die Kommune dann offenen Widerstand entgegen. Innocenz reagierte schon im Frühjahr 1198 mit dem Interdikt gegen Orvieto und der Zitation seines Bischofs Richard nach Rom, da dieser die Expansionspolitik der Kommune bisher offen unterstützt hatte 12 . Anders als im Fall Viterbos, wo sich die direkte Verwicklung des Papstes durch den militärischen Konflikt mit der Kommune Roms und durch das Eingreifen des Papstbruders Richard ergab, benutzte Innocenz im Fall Orvietos zunächst geistliche Disziplinierungsmittel. Orvieto war kein Mitglied des Tuskenbundes geworden. Dennoch bemühte es die Kommune Sienas als dessen wichtiges Mitglied um eine Vermittlung im Streit um Acquapendente unter Ausschaltung des Papstes. Der Schiedsspruch der Sieneser Konsuln von November 1198 trug nur insofern dem päpstlichen Herrschaftsanspruch Rechnung, als im neu formulierten Unterwerfungsvertrag Acquapendentes für diese Kommune eine Folgepflicht im Krieg gegen den Papst ausgeschlossen wurde 13 . Weshalb Orvieto dann im Konflikt mit dem Papst doch einlenkte und auf die Herrschaft über Acquapendente zugunsten Innocenz' III. verzichtete, schließlich im Februar 1199 auch den stadtrömischen Adligen Pietro Parenzi als Kandidaten des Papstes für das Rektoren-Amt in der Stadt akzeptierte, ist unbekannt. Die folgenden blutigen Ereignisse machen aber wahrscheinlich, 11 KAMP, Konsuln (wie Anm. 10) S. 73 (Ital.: 14 f.); LACKNER, Studien (wie Anm. 7) S. 133; THUMSER, Rom (wie Anm. 2) S. 76 f. (zu Riccardo Conti). 12 Daniel WALEY, Mediaeval Orvieto. The Politicai History of an Italian City-State 1157-1334 (Cambridge 1952) S. 12-21 (mit Verweisen auf die ältere Literatur); ausführlich Michele MACCARONE, Orvieto e la predicazione della crociata, in: DERS., Studi su Innocenzo III (Italia Sacra 17, Roma 1972) S. 1-163, besonders S. 22-61; zuletzt LACKNER, Studien (wie Anm. 7) S. 148 ff. 13 WALEY, Orvieto (wie Anm. 12) S. 12; MACCARONE, Orvieto (wie Anm. 12) S. 27-30.

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daß es innerhalb der orvietanischen Führungssgruppen erhebliche Gegensätze und Konflikte gab, so daß die Entscheidung für einen vermittelten päpstlichen Rektor in der Kommune auch die Lösung eines innerstädtischen Verfassungskompromisses darstellte. Die Ermordung Pietro Parenzis durch orvietanische Anhänger der Katharer erfolgte wegen der Anwendung der Bestimmungen der neuen päpstlichen Ketzerdekretale Vergentis des Conti-Papstes durch diesen Rektor. Diese Gewalttat war freilich nicht nur ein Zeugnis der politischen Fernwirkungen der päpstlichen Ketzerpolitik im Patrimonium Petri, sondern legte zumindest indirekt auch die politischen Ziele offen, die mit dieser Dekretale impliziert waren. Diese Verquickung von politischen Absichten und päpstlicher Ketzerpolitik Innocenz' III. wurden bislang wenig beachtet, da in der Forschung die päpstliche Rekuperationspolitik im Kirchenstaat und die päpstliche Ketzergesetzgebung zumeist getrennt betrachtet wurden 14 . Doch sind bereits die Bestimmungen von Ad abolendam, die 1184 von Papst Lucius III. und Kaiser Friedrich Barbarossa bei ihrem Treffen in Verona vereinbart worden waren, kaum ohne den kommunefeindlichen Grundton richtig zu verstehen, der damals Kaiser und Papst vorübergehend wieder näher brachte. Nicht nur der einleitende Ketzerkatalog der erhaltenen Dekretale, sondern auch ihre Adressierung zielen auf die oberitalienischen Verhältnisse. Die päpstliche Verfügung fordert nämlich die rectores et consules civitatum et aliorum locorum (wie auch Grafen und Barone) zur Ketzerverfolgung nicht nur entsprechend den neuen kirchlichen, sondern auch den - dann freilich von Barbarossa gar nicht mehr in dieser Weise erlassenen - kaiserlichen Statuten auf 15 . Auch Kaiser Heinrich VI. hatte die Bestimmungen von Ad abolendam durchaus als ihn verpflichtendes kirchliches Ketzerrecht akzeptiert, als er 14 Giovanni PARDI, Serie dei supremi Magistrati e Reggitori d'Orvieto, Bolletino della Reale Deputazione di Storia Patria per l'Umbria 1 (1885) S. 337-415, hier S. 367 f. (Pepo und Pietro Parenzi). Zur Rolle Pietro Parenzis in Orvieto WALEY, Orvieto (wie Anm. 12) S. 13 ff.; MACCARONE, Orvieto (wie Anm. 12) S. 30 ff.; LACKNER (wie Anm. 7) S. 148 ff. Ketzerpolitik und Durchsetzung politischer päpstlicher Rechte ist Thema der Studie SCHIMMELPFENNIGS, Utriusque (wie Anm. 6). Gegenüber seinen Ausfuhrungen ist aber auf Differenzierung im Einzelfall zu plädieren. So schritt Innocenz III. nicht von sich aus mit Strafmaßnahmen gegen Viterbo ein, sondern war zunächst nur als Schiedsrichter im Konflikt der Kommunen von Rom und Viterbo tätig geworden. Erst als es zu kriegerischen Handlungen kam, erließ Innocenz die Ketzerdekretale Vergentis in Senium, die er dann freilich konsequent zur Durchsetzung seiner Stellung als weltlicher Oberherr der Kommune nutzte. Vgl. dazu Helmut G. WALTHER, Ziele und Mittel päpstlicher Ketzerpolitik in der Lombardei und im Kirchenstaat 1184-1252, in: Die Anfänge der Inquisition im Mittelalter. Mit einem Ausblick auf das 20. Jh. und einem Beitrag über religiöse Intoleranz im nichtchristlichen Bereich, (1993) S. 103-130, hier besonders S. 115. 15 WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 106-108; Thomas SCHARFF, Häretikerverfolgung und Schriftlichkeit. Die Wirkung der Ketzergesetze auf die oberitalienischen Kommunalstatuten im 13. Jahrhundert (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge 4, 1996) S. 37 ff. (beide zur Ketzerdekretale Ad abolendam von 1184 mit Verweis auf ältere Literatur).

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1195 in seinen Verfugungen über die politische Neuordnung in Rimini ausdrücklich die im Gefolge der Dekretalenbestimmungen 1184 statutarisch festgelegte eidliche Verpflichtung des dortigen Podestà bestätigte, Ketzer nach den Regeln dieser Dekretale zu vertreiben. Er reagierte damit auf ältere Klagen der Kurie über eine in Rimini geduldete Wiederzuwanderung von Patarenern durch die kommunalen Behörden. Der Kaiser versicherte auch im darauffolgenden Jahr Papst Cölestin III., daß er mit seinem weltlichen Schwert dem geistlichen bei der Bekämpfung der Ketzer beistehen werde 16 . Innocenz III. konnte also zu Beginn seines Pontifikats auf die Bestimmungen von Ad abolendam als auf die Grundlage des damals in Italien praktizierten Ketzerverfolgungsrechts zurückgreifen. Der von ihm gleich im Frühjahr 1198 als Legat in die Lombardei entsandte Kardinaldiakon Gregor de Sant Angelo erließ dort unter anderem Statuten zur Bekämpfung der Ketzer, ohne daß dabei von über Ad abolendam hinausgehenden Bestimmungen die Rede wäre 17 . Solche wurden erst in der am 25. März 1199 an Klerus, Konsuln und Volk von Viterbo adressierten Dekretale Vergentis in senium getroffen 18 . In der Tat amtierten damals nach dem Ende des ersten Viterbeser Podestariatas des Rainerius Peponis wieder drei Konsuln in der Kommune. In der Stadt hatten schon seit einiger Zeit die Katharer Anhänger gefunden. Der ehemalige Katharer Petrus Lombardus predigte damals gerade in Viterbo als doctor manicheorum gegen die Anhänger seines vorherigen Glaubens und zog dann in deren zweite Hochburg im Patrimonium Tusciae, nach Orvieto 19 . Die programmatisch an den Beginn des Registers des zweiten Pontifikatsjahres gestellte Dekretale Vergentis kann dabei zweifellos als Ergebnis eines Reflexionsprozesses des Papstes über den Erfolg des geltenden Ketzerstrafrechts gelten. Kardinal Gregor von Sant Angelo war um diese Zeit bereits wieder an der Kurie und hatte also dem Papst Bericht erstattet. Andererseits hielt sich der zuständige Diözesan Viterbos, Johannes, in seiner Funktion als Kardinalpriester von San d e m e n t e nahezu ständig an der Kurie auf und wurde wenig später von Innocenz III. zum Kardinalbischof von Albano promoviert. Die Dekretale Vergentis erging genau zu dem Zeitpunkt, als sich Viterbo dem Tuskenbund anschloß. Das vom Papst in der Dekretale festgelegte neue Verfahrensrecht richtete sich gegen die Personenkreise, die durch die Bestimmungen von Ad abolendam als nur ungenügend erfaßt gelten mußten. Die vom Papst nun verkündeten Maßnahmen gegen die defensores,

16 17 18 19

WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 111 (mit Quellennachweisen). MALECZEK, Papst (wie Anm. 2) S. 98f. Vergentis in senium: Reg. Inn. III. II Nr. 1, S. 3-5. LACKNER, Studien (wie Anm. 7) S. 134 f.; Giorgio SLGNORELLI, Viterbo nella Storia della Chiesa I (Viterbo 1907) S. 154-162; Wanda CHERUBINI, Movimenti patarinici in Orvieto, Bolletino dell'Istituto storico artistico Orvietano 15 (1959) S. 3-42, hier S. 11 (zum Katharer Petrus Lombardus); MACCARONE, Orvieto (wie Anm. 12) S. 30 ff.

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receptatores et fautores der Häretiker mußten bei strikter Anwendung destabilisierend auf die soziale Verfassung der Kommune wirken. Es wäre widersinnig, wenn man diesen politischen Effekt nur als einen von Innocenz III. bei der Formulierung der Dekretale übersehenen und als unbeabsichtigten „Kollateralschaden" der geistlichen Maßnahmen ansehen wollte 20 . Die für die Begründung der Strafmaßnahmen gewählte Analogiekonstruktion mit den Majestätsverbrechern und der Rückgriff auf die entsprechende spätantike Konstitution von 397 Quisquis zur Infamierung der Ketzerbegünstiger und ihrer Nachkommen ist angesichts der Herrschaftsverhältnisse im Tuskischen Patrimonium geradezu als ein ingeniöser Einfall des rechtlich wie politisch versierten Papstes zu bezeichnen 21 . Trotz der kurz zuvor (am 17. März) gegenüber der Kommune Jesi zur erfolgreich abgeschlossen geltenden Rekuperationsphase brieflich gemachten Äußerung, daß dem Apostolischen Stuhl in seinen Besitzungen auch die iurisdictio temporalis zukomme 22 , reagierte der Conti-Papst in realististischer Einschätzung seiner faktischen Herrschaftsmittel gegenüber der Kommune Viterbo in der Dekretale nur mit dem Einsatz der potestas indirecta in temporalibus. Wie er formulierte, wollte er die potestates et principes saeculares mit der Verhängung geistlicher Zwangsmaßnahmen zum Einschreiten gegen die Begünstiger der Häresie zwingen. Schon den zeitgenössische Juristen fiel auf, welche gravierenden Folgen die dem spätantiken kaisergesetzlichen Vorbild entnommene Strafe der Güterkonfiskation auch für die Nachkommen von Förderern von Ketzerei hatte. Sie zielte nicht nur auf Prohibition solchen Förderverhaltens, sondern bei ihrer Anwendung letztlich auf die wirtschaftliche Ausschaltung der Schicht, die den politischen Widerstand der Kommune Viterbos gegen den 20 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte zu Vergentis noch immer am umfassendsten: Othmar HAGENEDER, Studien zur Dekretale "Vergentis". Ein Beitrag zur Häretikergesetzgebung Innocenz' III., ZRG Kan. 4 9 (1963) S. 138-173. Vgl. auch WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) zur jüngeren Forschungsgeschichte. 21

Lothar KOLMER, Christus als beleidigte Majestät. V o n der Lex "Quisquis" (397) bis zur Decretale "Vergentis" (1199), in: Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Festschrift für Horst Fuhrmann zum 65. Geburtstag, hg. von Hubert MORDEK (1991) S. 1-13. Vgl. auch Helmut G. WALTHER, Haeretica pravitas und Ekklesiologie. Zum Verhältnis von kirchlichem Ketzerbegriff und päpstlicher Ketzerpolitik von der zweiten Hälfte des XII. bis ins erste Drittel des XIII. Jahrhunderts, in: Die Mächte des Guten und Bösen, hg. von Albert ZIMMERMANN (Miscellaneda Mediaevalia 11, 1977) S. 286-314; Wiederabdruck in: Helmut G. WALTHER, Von der Veränderbarkeit der Welt. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Stephan FREUND / Klaus KRÜGER / Matthias WERNER (2004) S. 281-310; Kenneth PENNINGTON, "Pro peccatis patrum puniri". A Moral and Legal Problem of the Inquisition, in: Church History 47 (1978) S. 137-154; Wiederabdruck in K. PENNINGTON, Popes, Canonists and Texts 1150-1550 (Variorum Collected Studies 412, Aldershot-Brookfield 1993) Nr. XI; WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 114 ff.

22 Reg. Inn. III. II Nr. 4, S. 9-12 (Cum apostolice sedis iurisdicio spiritualis nullis terminis coarcetur, imo super gentes et regna sortita sit potestatem, in multis etiam per Dei gratiam eius extenditur iurisditio temporalis [...]).

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Papst trug. Solange freilich eine Kommune sich als relativ geschlossene politische Einheit präsentierte, konnte das neue Ketzergesetz nicht als Element zur politischen Disziplinierung wirken. Es war nur dann als Hebel dafür zu verwenden, wenn es gelang, innere soziale und politische Spannungen in der Kommune entsprechend zu instrumentalisieren. Daß es davon gerade in den unbotmäßigen Kommunen des tuskischen Patrimoniums mehr als genug gab, wußte natürlich auch der Conti-Papst. Dennoch konnte Vergentis erst wirklich seine volle politische Wirksamkeit durch die Anwendung der Enteignung auf die Förderer der Ketzer erreichen, als es Innocenz im Februar 1199 gelungen war, mit dem römischen Adligen Peter Parenzi einen päpstlichen Rektor in Orvieto zu etablieren. Nicht also in der ursprünglichen Adressatenkommune der Dekretale, in Viterbo, sondern in Orvieto wurden durch den päpstlichen Vertrauensmann Parenzi die Bestimmungen von Vergentis nun konsequent gegen die defensores, receptatores et fautores der Katharer angewandt und das Vermögen dieser Angehörigen der städtischen Führungsschicht enteignet, wobei sich Parenzi wohl auch persönlich bereicherte 23 . Die Verschwörergruppe, die im Mai 1199 Parenzi dann entführte und damit sein politisches Nachgeben erpressen wollte, läßt sich zwar als aus Angehörigen der papstfeindlichen städtischen Führungsschicht mit Verbindungen zum entsprechend gesonnenen Landadel zusammengesetzt identifizieren, nicht jedoch eindeutig den Förderern der Katharer, auf die die Dekretale zielt, zuordnen. Die städtische Überlieferung verzerrt den Tatbestand im Nachhinein, schon um Orvieto vom pauschalen Vorwurf zu entlasten, eine Ketzerhochburg zu sein. Immerhin wird Papst Innocenz dann in der von einem lokalen Geistlichen verfaßten Passio des Peter Parenzi implizit der Vorwurf gemacht, durch das gegen Orvieto verhängte Interdikt erst zur Verbreitung der Ketzerei beigetragen zu haben 24 . Die Ermordung des Peter Parenzi durch die Entführergruppe brachte der papstfreundlichen Partei dann die Oberhand in Orvieto. Es wurde nun der enge Verwandte des Ermordeten, Parenzo Parenzi, zum orvietanischen Podestà gewählt. Er war es auch, der die Botmäßigkeit der Kommune gegenüber dem Papst dauerhaft durchsetzte. Mehrere Angehörige der Parenzi-Familie wurden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts immer wieder zu Orvietanischen Podestaten gewählt, auch wenn Parenzo Parenzi selbst unter Honorius III. und Gregor IX. als römischer Senator und Politiker zeitweise in Gegensatz zu diesen Päpsten geriet und exkommuniziert wurde. In der Stadt selbst waren es dem nach Orvieto zurückgekehrte Diözesan

23 MACCARONE, Orvieto (wie Anm. 12) S. 35 ff.; Lackner, Studien (wie Anm. 7) S. 148 ff. 24

LACKNER, S t u d i e n ( w i e A n m . 7 ) S . 1 4 9 f f . ; THUMSER, R o m ( w i e A n m . 2 ) S . 1 7 5 f f . Z u r E r -

mordung und den Vorgängen um die Heiligsprechung Vincenzo NATALINI, S. Pietro Parenzo. Le leggenda scritta dal maestro Giovanni canonico di Orvieto (Lateranum n. s. ann. II, n o . 2 , R o m 1 9 3 6 ) .

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Richard und den Parenzi klar, die einen lokalen Kult um den ermordeten päpstlichen Rektor und Ketzerverfolger Peter Parenzi förderten25. Innocenz III., der die politischen Implikationen des angeblichen Glaubensmartyriums Parenzis kannte, verweigerte die offizielle Kanonisation des ermordeten orvietanischen Rektors. Umso deutlicher wurde die Passio aus der Feder eines lokalen Geistlichen und sparte - wie gesagt - auch nicht mit Seitenhieben gegen Innocenz III.26. Als Podesta Orvietos benutzte Parenzo Parenzi wahrscheinlich die Strafbestimmungen von Vergentis gegen die Ketzerbegünstiger, um die papstfeindliche Opposition in der Kommune auszuschalten. Die drei Quaternionenhefte umfassenden Akten seiner darauf verzichteten Prozesse sind heute aber leider verloren 27 . Vergentis hatte seine Praxistauglichkeit am Fall der Disziplinierung Orvietos erwiesen, so daß Innocenz nach 1200 die Dekretale nun auch im Bereich der Langue d'Oc und in Ungarn zur Ketzerbekämpfung einsetzte28. In Viterbo, dem eigentlichen Adressaten, stand die Bewährungsprobe noch aus. Nach der militärischen Niederlage der Kommune gegen Rom, die Innocenz durch die Verhängung von Exkommunikation und Interdikt seit 1200 unterstützt hatte, mußte sich Viterbo schließlich der Kommune Rom unterwerfen. Die Formel des erhaltenen Submissionseides enthielt charakteristischerweise nicht nur eine salvatorische Klausel zugunsten des Papstes als Oberherrn, sondern auch das Versprechen, nun Vergentis anzuwenden: mandata que dominus papa Innocentius fecit de Patarenis firmiter servabo29. Doch war die Selbständigkeit der Kommune Viterbos, in der nun wieder eigene Konsuln an der Spitze standen, noch immer zu groß, als daß der Papst hätte verhindern können, daß es sich dabei recht schnell wieder um Persönlichkeiten handelte, die im Verdacht der Förderung des Katharismus standen. Innocenz wandte gegen sie nun jedoch nicht die scharfen Bestimmungen von Vergentis selbst an, sondern setzte wiederum die Mittel von Interdikt und Exkommunikation ein. Er zog wie zunächst in Orvieto den neuen Bischof aus der Stadt ab und forderte dann die Einwohner der Stadt zum Ungehorsam gegen die Konsuln und ihre Wähler als illegitimen Herrschaftsträgern auf; im Klartext also ein Aufruf zum Bürgerkrieg 30 . Diesmal setzte sich Innocenz durch, zumal die

25

LACKNER, S t u d i e n ( w i e A n m . 7 ) S. 1 5 0 ; THUMSER, R o m ( w i e A n m . 2 ) S. 1 7 8 .

26 Edition der Passio sancii Petri Parentii martiris bei NATALINI, S. Pietro (wie Anm. 24) S. 151-205. 27

NATALINI, S. P i e t r o ( w i e A n m . 2 4 ) S . 1 1 8 f f .

28 HAGENEDER, Studien (wie Anm. 20) S. 152 f.; WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 117 (zur Verbreitung von Vergentis). 29 WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 117 mit Nachweisen. 30 LACKNER, Studien (wie Anm. 7) S. 153 f.; WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 117, auch zur päpstlichen Dekretale Si adversus nos vom 4. Juni 1205 (Reg. Inn. III. VIII Nr. 86, S. 156160), die über die Dekretalensammlung der Compilatio III (5.4.2) Aufnahme in den Liber extra Gregors IX. fand: X 5.7.11.

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militärisch bereits geschwächte Kommune ein direktes Eingreifen Roms mit Waffengewalt befürchten mußte. Nun wählten die Viterbesen 1207 mit Johannes Guidonis das führende Mitglied der einflußreichen römischen Adelsfamilie der Papareschi zum Podestà ihrer Kommune. Dieser selbstbewußte römische Adlige, der bereits 1188 in der Tiberkommune als Senator amtiert hatte, entsprach in seiner Amtsführung nicht ganz den Erwartungen des Papstes, insbesondere beim Problem der Restitution von Vermögen, das katharerfeindlichen Viterbesen in den Jahren zuvor verlorengegangen war 31 . Andererseits war der Papst nun auch selbst bereit, die Strenge der Strafbestimmungen von Vergentis bei der Konfiskation des Besitzes von Ketzerbegünstigern etwas zu lockern. Entsprechend lockerer gefaßte Bestimmungen wurden eigens in die Statuten Viterbos aufgenommen 3 2 . Alle volljährigen Bürger Viterbos mußten unabhängig davon am 26. Juni 1207 die neuen Bestimmungen beschwören 33 . Mehr noch: Auf dem ersten gemeinsamen Landtag für das Patrimonium Petri, der im September 1207 in Viterbo zusammentrat, das Innocenz zu seiner zeitweiligen Residenz gewählt hatte, wurden diese Regelungen zur Bestrafung der Ketzerbegünstiger nun für den Kirchenstaat verallgemeinert: Im Falle einer nachgewiesenen Begünstigung wurde nur noch ein Viertel des Besitzes konfisziert. Der konfiszierte Besitz von Häretikern selbst sollte dagegen unter Denuntiator, Gericht und Kommune gedrittelt werden. Eine völlige Enterbung eines unschuldigen Nachkommen eines fautor, wie es Vergentis 1199 vorsah, sollte nicht mehr stattfinden 34 . Aus diesem Umgang mit den Bestimmungen von Vergentis ergibt sich also eine Fülle von Anhaltspunkten dafür, daß Innocenz III. mit der Erweiterung der Strafbestimmungen für Ketzerbegünstiger in dieser Dekretale vorrangig auf die Durchsetzung seiner Herrschaftsansprüche im Patrimonium gezielt hatte, die Dekretale in seiner konkreten Politik zumindest so instrumentalisierte. Trotz der so aufwendig gehaltenen rhetorischen Begründung der Dekretale zur Legitimation der verschärften Sanktionen im Ketzerrecht vom März 1199

31 KAMP, Konsuln (wie Anm. 10) S. 76, 78 und 112; Ermahnung zur konsequenten Ketzerverfolgung durch den Podestà Johannes Guidonis de Papa, 5. Febr. 1206, Reg. Inn. III. IX Nr. 258, Migne PL 215 col. 1086 f. 32 Carlo PINZI, Storia della città di Viterbo I (Viterbo 1887) S. 219 f. (Kommunale Statuten). Zum Vorgang die Gesta lnnocentii papae c. 123 (Migne PL 214 col. 151 f.). 33 LACKNER, Studien (wie Anm. 7) S. 154. 34 Dekretale vom 23. Sept. 1207: Credentes praeterea et defensores ac fautores eorum quarta bonorum suorum partes multentur, quae ad usum reipublicae deputetur. [...] Statutum istud in capitulari scribatur, ad quod annuatim jurent potestates, consules seu rectores; nec unquam removeatur ex ilio, ut Semper jurent ipsum statutum se flrmiter servaturos (Reg. Inn. III. X Nr. 130, Migne PL 215, col. 1226 f.); dazu HAGENEDER, Studien (wie Anm. 20) S. 152.

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war der Conti-Papst also in konkreten Anwendungsfällen stets zu Revisionen bereit. Dagegen legte Innocenz bekanntlich drei Jahre später im Ketzerkreuzzug gegen die Albigenser Vergentis in der ursprünglichen Fassung des Strafmaßes zugrunde und authentisierte 1210 auch die Erstfassung des Texts für die in seinem Auftrag erstellte Sammlung der eigenen Dekretalen in der Compilatio Tertia. Der Ketzerkanon Excommunicamus des IV. Laterankonzils von 1215 und die Fassung von Vergentis im Uber Extra Gregors IX. benutzten stattdessen die revidierte, d. h. entschärfte Textfassung 35 . Kenneth Pennington hat darauf hingewiesen, daß die Bologneser Kanonisten nur zögerlich zur Rezeption der Aggravierung der Bestrafung der Ketzerbegünstiger durch Infamierung und Enteignung unschuldiger Nachkommen bereit waren, so wie sie der Ursprungstext von Vergentis enthielt. Sie hegten zumindest große Bedenken gegenüber diesem Strafmaß oder waren zunächst überhaupt nicht bereit, Vergentis als neues allgemeines Ketzerrecht zu rezipieren. Schon der Bologneser Kanonistiklehrer englischer Herkunft, Alanus Anglicus, hatte 1206 in seine Dekretalensammlung Vergentis offenbar nur wegen der ihm einleuchtenden Analogiekonstruktion mit dem Majestätsverbrechen aufgenommen. In seiner einzigen Glosse zu dieser Dekretale distanzierte er sich von den materiellen Strafbestimmungen zumindest implizit36. Was sich nach Othmar Hageneders eingehenden Untersuchungen zur Textgeschichte von Vergentis von 1963 zunächst einleuchtend als ein Lernprozeß des Conti-Papstes aus unbeabsichtigten Folgen und Weiterungen seiner ersten großen Ketzerdekretale auszunehmen schien, gewinnt angesichts der Untersuchung der Details ihrer Anwendungsgeschichte im Kirchenstaat 1199 bis 1207 einen anderen Stellenwert 37 . Der Widerstand der Bologneser Kanonisten gegen die aggravierten Strafbestimmungen für die fautores und ihre Nachkommen war rechtssystematisch gut begründet. Die revidierten Bestimmungen von Excommunicamus und der Ketzerkonstitution in den Krönungsgesetzen Friedrichs II. von 1220 bestätigten die Richtigkeit ihrer Bedenken gegenüber der in Vergentis vorgenommenen Ketzerkonstruktion. Der Bologneser Magister Tancred vermutete zudem 35 HAGENEDER, Studien (wie Anm. 20) S. 150 f.; WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 118. 36 PENNINGTON, Pro peccatis puniri (wie Anm. 21) S. 140 ff. Alanus schätzte Vergentis offensichtlich mehr wegen der rhetorischen Figuren im Text als wegen des materiellen Inhalts der verschärften Strafbedingungen für die Förderer der Ketzer. Diese hielt er für problematisch, nahm aber 1206 die Dekretale in die von ihm zusammengestellte Fassung auf. Nur einen einzigen Satz, der die Aufnahme begründet, umfaßt seine Glossierung: potius quam verbis quam pro sententia es hoc capitulum insertum (Vercelli, Biblioteca capitulare ms. 89, fol. 116r, zitiert bei PENNINGTON, Pro peccatis puniri, wie Anm. 21, S. 140 Anm. 10). 37 HAGENEDER, Studien (wie Anm. 20) S. 158 ff.; dagegen WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 119.

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dann auch, daß mit der ursprünglichen Fassung von Vergentis ein Verstoß Innocenz' III. als allgemeiner Gesetzgeber der Christenheit gegen die aequitas vorliege. Nur als Sondergesetz des Papstes, erlassen in seiner Funktion als weltlicher Oberherr im Kirchenstaat, würden letztlich die Bestimmungen von Vergentis akzeptabel erscheinen 38 . Dies war angesichts der sonst geübten Zurückhaltung der Bologneser Kanonisten gegenüber aktueller päpstlicher Gesetzgebung durch Dekretalen eine recht scharfe Kritik an Innocenz III., zumal Tancreds Kommentierung der Compilatio Tertia recht schnell gegenüber konkurrierenden Glossenapparaten den Rang einer Glossa ordinaria errang. Wie wir gesehen haben, bestimmte der aus der Lombardei kommende Kirchenrechtslehrer Tancred in seiner kritischen Einstellung gegenüber Vergentis den „Sitz im Leben" dieser Dekretale recht genau 39 . Sein mit ihm konkurrierender Bologneser Kollege Vincentius Hispanus hielt freilich die Einwände Tancreds gegen Vergentis nur für eine typische Querele eines von den Strafbestimmungen besonders Betroffenen aus der kommunalen Welt Italiens und zeigte seinerseits keinerlei Bedenken, die Dekretale als allgemeinverbindliches Recht zu akzeptieren. Er blieb mit dieser Einstellung jedoch in der Minderheit. Die Redaktionsfassung des Liber Extra von 1234 Raymunds von Penyafort verzichtete nicht nur auf die rhetorische Einleitung von Vergentis und damit auf die Nennung der Adressaten der neuen Strafbestimmungen samt der dafür aufwendig beigebrachten Legitimation, sondern ließ auch durch eine geschickte Wortänderung im übernommenen letzten Fünftel des Textes von eorum zu hereticorum die Enteignungsmaßnahmen wieder nur gegen die Ketzer, nicht aber gegen die Begünstiger und ihre Nachkommen gerichtet sein40. Vergentis spielte in der Folge38 Zu den Textveränderungen bei den Strafbestimmungen für Begünstiger im Ketzerkanon des 4. Laterankonzils Excommunicamus und zum Ketzergesetz Kaiser Friedrichs II. von 1220 schon HAGENEDER, Studien (wie Anm. 20) S. 148 ff. Der Bologneser Kanonist Tancred, der von Honorius III. zum Archidiakon der Universitätsstadt erhoben wurde, formulierte kritisch in seiner Glossa ordinaria zur Compilatio III zu den Bestimmungen von Vergentis: Ego dico harte decretalem prevalere legibus supradictis in terris Ulis dumtaxat que subsunt temporalia iurisdictioni domini pape. [...] In aliis autem terris prevalent leges predicteque maiori equitate nituntur (Fulda, Landesbibliothek, ms. D. 6, fol. 248 v a ). 39 Zur Lehrsituation und zur Entwicklung der Kanonistik in Bologna im frühen 13. Jahrhundert: Helmut G. WALTHER, Spanische und deutsche Kanonisten in Bologna und ihr Dialog über das Imperium, in: España y el "Sacro Imperio". Processos de cambios, influencias y acciones recíprocas en la época de la "europeización" (siglos XI-XIII), hg. von Julio VALDÉON BARUQUE / Klaus HERBERS / Karl RUDOLF (Valladolid 2002) S. 151-178, hier S. 163 ff.; DERS., Das Reich in der politischen Theorie der Legistik und im Umkreis der päpstlichen Kurie, in: Heinrich Raspe - Landgraf von Thüringen und römischer König (12271247). Fürsten, König und Reich in spätstaufischer Zeit, hg. von Matthias WERNER (Jenaer Beiträge zur Geschichte 3, 2003) S. 29-52, hier S. 39-49. 40 HAGENEDER, Studien (wie Anm. 20) S. 170 ff.; WALTHER, Ziele (wie Anm. 14) S. 121. Zur Redaktionstätigkeit Raymunds von Penyafort bei der Erstellung des Liber Extra: Martin BERTRAM, Kompilation oder Kodifikation, in: Magister Raimundus. Atti del Convegno per

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zeit denn auch in der Bologneser Dekretalistik nur noch in der Diskussion über die dem Papst erlaubte Herrscherabsetzung aufgrund des Deliktes des contemptus clavium durch hartnäckigen Ungehorsam gegenüber dem Stellvertreter Petri eine Rolle, weil hier von Innocenz III. Ungehorsam, Häresieverdacht, erwiesene Häresie, Enteignung und damit ein Absetzungsrecht gegenüber weltlichen Herrschern ratione peccati logisch begründet schien41.

il IV Centenario della Canonizzazione di San Raimondo de Penyafort (1601-2001), a cura di Carlo LONGO OP (Institutum Fratrum Praedicatorum. Dissertationes Historicae 28, Rom 2002) S. 61-86. 41 Othmar HAGENEDER, Die Häresie des Ungehorsams und das Entstehen des hierokratischen Papsttums. Römische Historische Mitteilungen 20 (1978) S. 30-47; Helmut G. WALTHER, Das Problem des untauglichen Herrschers in Theorie und Praxis des europäischen Spätmittelalters, ZHF 23 (1996) S. 1-28; Wiederabdruck in WALTHER, Von der Veränderbarkeit der Welt (wie Anm. 21) S. 191-220.

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Die Ritualmordlegende im thüringischen Raum und die Verfolgung der Juden von Weißensee 1303

Daher gibt man jnen offt in den Historien schuld, das sie die Brunnen vergißt, Kinder gestolen und zerpfrimet haben, wie zu Trent, Weissensee etc., schreibt Martin Luther 1543 in seinem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen" 1 . Der Frage, ob diese Beschuldigungen der Wahrheit entsprechen, weicht Luther zwar aus, er unterstellt den Juden aber eine grundsätzliche Bereitschaft zu derartigen Verbrechen. Mehrmals greift er daher das Ritualmordmotiv in seiner Schrift auf und warnt sowohl vor der Judenbekehrung als auch vor einem Dialog mit den Juden 2 . Dieses Zitat verdeutlicht, wie sehr die Ritualmordlegende im damaligen Bewusstsein verhaftet war und dass trotz vorsichtiger Zweifel der generelle Verdacht bestehen blieb. Es zeigt aber auch, dass Luther noch ein Ereignis bekannt war, welches 240 Jahre zurücklag: der vermeintliche Ritualmord an dem Knaben Conrad von Weißensee. Mehrere mittelalterliche und frühneuzeitliche Chroniken berichten für das Jahr 1303, dass die Juden in Weißensee für den Tod eines Knaben namens Conrad verantwortlich gemacht und deshalb hier und in weiteren Orten verfolgt wurden. Derartige Ritualmordbeschuldigungen wurden vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert immer wieder erhoben. Gelegentlich kam es zu längeren Gerichtsprozessen, die gut dokumentiert sind. Zuweilen wurde das angebliche Mordopfer sogar als Heiliger verehrt. Über einen Prozess ist aus Weißensee nichts bekannt. In Ansätzen zeigt sich allerdings eine Verehrung Conrads als Heiliger. Die chronikalischen Berichte über dieses Ereignis sind eher kurz gehalten. Ein diesbezügliches Mandat des späteren Landgrafen Friedrich ist von unklarer Herkunft. Es findet sich zudem nur in älteren Werken abgedruckt und blieb in der neueren Sekundärliteratur unbeachtet. Ein mittelalterliches hebräisches Martyrologium, welches 1898 ediert wurde, nennt zwar die Namen der Opfer, berichtet aber nichts über den genauen Hergang der Ereignis-

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Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen, 1543, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 53 (1920) S. 412-557, hier S. 482. Ebd. S. 520, 522, 538, vgl. S. 412 f. Siehe auch Wolfgang TREUE, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen - Abläufe - Auswirkungen (1475-1588) (Forschungen zur Geschichte der Juden. Schriftenreihe der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden e. V. A 4, 1996) S. 439-441.

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se. Die scheinbar geringe Aussagekraft der Quellen und teilweise auch die fehlende Kenntnis über ihre Existenz dürften der Grund sein, weshalb sie, abgesehen von einer kurzen Auswertung durch Schöttgen und Kreysig 17313, nicht genauer analysiert wurden. Im Folgenden sollen die zeitgenössischen Quellen und deren Rezeption eingehender untersucht werden. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Rolle Friedrichs, der einer zeitgenössischen Chronik zufolge an der Judenverfolgung beteiligt gewesen sein soll - eine Darstellung, die von späteren Chroniken und der Sekundärliteratur übernommen wurde. Anderweitige Quellen, die das Motiv des Ritualmords im thüringischmeißnischen Raum aufgreifen, sollen die Thematik vertiefen: Während sich in Chroniken Beschreibungen von Ritualmordbeschuldigungen finden, die gar nicht stattgefunden haben, gibt das Meißner Rechtsbuch Anweisungen für das Vorgehen bei einem entsprechenden Verdacht. Zunächst soll jedoch ein Blick auf die Anfänge jüdischer Siedlungen in Thüringen und Meißen sowie auf die Ausbreitung der Ritualmordlegende in Europa geworfen werden.

Die Anfange jüdischer Siedlungen in Thüringen und Meißen Belege für die Ansässigkeit von Juden in Thüringen und Meißen finden sich im Vergleich zu anderen Regionen, wie etwa dem Rheinland, verhältnismäßig spät 4 . Erst um 1200 kann von einer jüdischen Ansiedlung in der Stadt Meißen und in der Zeit vor 1240 von einer Siedlung in der Stadt Leipzig ausgegangen werden 5 . Die ersten bekannten Nachrichten über Juden in Thüringen stammen aus Erfurt, Gotha und Eisenach. In Erfurt lässt sich die Ansässigkeit von Juden 3

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Christian SCHÖTTGEN / Georg Christoph KREYSIG, Diplomatische Nachlese der Historie von Ober-Sachsen, und angrentzenden Ländern 1, 4 (1731) S. 595-600, ebd. S. 600-610 auch der Abdruck einer Druckschrift unbekannten Datums zum vermeintlichen Ritualmord in Weißensee. Zum Folgenden siehe künftig auch die ausführlichere Darstellung in meiner Dissertation: Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten. Recht, Verwaltung und Wirtschaft im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, im Druck). Erwähnt in Rechtsgutachten des Rabbiners Isaak ben Moses, genannt Isaak Or Sarua; Yishaq Ben Mose: Sefer or zarua 1 (1861/1862, ND 1958) Nr. 751, S. 215b; Sefer or zarua 4 (1896/1897, ND 1967/1968) S. 55b. Vgl. Haim TYKOCINSKI, Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua, Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 55, N. F. 19 (1911) S. 478-500, hier S. 493; Moses HOFFMANN, Der Geldhandel der deutschen Juden während des Mittelalters bis zum Jahre 1350. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte im Mittelalter (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen 152, 1910) S. 172 Nr. 77.

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für das Jahr 1212 belegen, als deren Einnahmen dem Mainzer Erzstift übertragen wurden. Vermutlich handelte es sich hier schon um eine aus mehreren Familien bestehende Gruppe6. Ab 1235 sind in Köln der Jude Jacob aus Gotha und seine Ehefrau Jutta nachweisbar 7 . Aus Eisenach stammte Jechiel ben Jakob, der ein synagogales Gedicht sowie Klagelieder auf die 1235 nach Ritualmordbeschuldigungen getöteten Juden in Fulda bzw. in Lauda und Bischofsheim verfasste 8 . Weiter ist Samuel ben Jacob aus Eisenach bekannt, welcher mit dem bedeutenden Rabbiner Meir ben Baruch von Rothenburg korrespondierte9. Als die Landgrafschaft Thüringen und die Markgrafschaft Meißen Mitte des 13. Jahrhunderts unter die gemeinsame Herrschaft der Wettiner fielen, dürfte die Anzahl der dort lebenden Juden nicht unerheblich gewesen sein. Hierauf deutet die 1265 von Markgraf Heinrich dem Erlauchten ausgestellte Judenordnung, mit der „manche fragwürdige Artikel"10 in der bisherigen Rechtssprechung ersetzt werden sollten. Sie widmet sich vor allem dem Pfand- und Verfahrensrecht. Die Judenordnung zeigt, dass das Zusammenle6

Am 10. Juni 1212 übertrug Kaiser Otto IV. dem Mainzer Erzstift das Bederecht über Christen und Juden; Urkundenbuch der Stadt Erfurt 1, hg. von Carl BEYER (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 23, 1889) S. 34 Nr. 71; vgl. Reinhold RUF, Juden im spätmittelalterlichen Erfurt. Bürger und Kammerknechte, in: Campana pulsante convocati. Festschrift anläßlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp, hg. von Frank G. HIRSCHMANN / Gerd MENTGEN (2005) S. 487-518, hier S. 497. Siehe künftig auch die Dissertation von Reinhold RUF zu Juden und Christen im spätmittelalterlichen Erfurt.

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Jacobus de Gottha wird 1235 im Grundbuch des Kölner Judenviertels genannt. Zwischen 1248 und 1254 verkaufte er mit seiner Ehefrau Jutta einen Hausanteil, wovon ein Eintrag im Kölner Judenschreinsbuch zeugt. Ob sie zum Zeitpunkt dieses Verkaufs noch in Köln ansässig sind, ist nicht sicher; Adolf KOBER, Grundbuch des Kölner Judenviertels 11351425. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Topographie, Rechtsgeschichte und Statistik der Stadt Köln (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde 34, 1920) S. 65 und Anm. 1, S. 113 Nr. 5; Das Judenschreinsbuch der Laurenzpfarre zu Köln, hg. von Robert HOENINGER / Moritz STERN (Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland 1, 1888), S. 7 Nr. 39.

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Germania Judaica 1. Von den ältesten Zeiten bis 1238, hg. von Ismar ELBOGEN (1934, ND 1963) S. 95; vgl. Leopold ZUNZ, Literaturgeschichte der synagogalen Poesie (1865, ND 1966) S. 336 und DERS.: Die Synagogale Poesie des Mittelalters. Zweite, nach dem Handexemplar des Verfassers berichtigte und durch Quellennachweise und Register vermehrte Auflage, hg. von A. FREIMANN (1920) S. 309. 9 Siegbert NEUFELD, Jüdische Gelehrte in Sachsen-Thüringen während des Mittelalters. Sonderabdruck aus: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 69 (1925) S. 14 Nr. 73; Germania Judaica 1 (wie Anm. 8) S. 94 f. und Anm. 1 . - M e i r ben Baruch von Rothenburg wurde um 1220 geboren und lebte bis 1293; Germania Judaica 2. Von 1238 bis Mitte des 14. Jahrhunderts, hg. von Zvi AVNERI (1968) 2 S. 709. 10 propter diversos quaestionum articulos; Regesten zur Geschichte der Juden im fränkischen und deutschen Reiche bis zum Jahre 1273, hg. von Julius ARONIUS (1970) Nr. 711, S. 292295.

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ben von Juden und Christen einheitlicher rechtlicher Grundlagen bedurfte, die vielleicht sogar auf Wunsch der Juden fixiert worden waren 11 . Die Schutzherrschaft über die Juden lag zu dieser Zeit allerdings noch beim König. Erst seit Ende des 13. Jahrhunderts wurde dieses Herrschaftsrecht und zugleich die damit verbundenen Steuereinnahmen nach und nach an regionale Fürsten übertragen 12 . Die Juden in Thüringen, Meißen und den Osterlanden wurden 1287 dem Erzbischof von Mainz unterstellt 13 . 1330 erhielt jedoch Friedrich II. der Ernsthafte und damit der wettinische Landesherr das „Judenprivileg" für die Juden in seinem Herrschaftsgebiet 14 . In die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datieren erste Nachrichten über Juden in den Städten Mühlhausen, Nordhausen, Arnstadt 15 und Weißensee. Letztere erhielt 1282 ein Privileg von Landgraf Albrecht, in welchem u. a. die Klausel zu finden ist, dass sich Juden wie bisher üblich den Gerichten und Beamten des Landgrafen zu stellen haben 16 , womit eine Bestimmung der Judenordnung Heinrichs des Erlauchten aufgenommen wurde. Vermutlich bestand also schon 1282, einundzwanzig Jahre vor der Verfolgung von 1303, eine jüdische Siedlung in Weißensee. Im Jahr 1298 kam es, ausgehend von Franken, zu den sogenannten Rintfleisch-Verfolgungen, die bis in den thüringischen Raum reichten. Jüdische Martyrologien listen unter den Orten, in denen Verfolgungen stattfanden, Themar, Schleusingen, Meiningen, Königssee, Wasungen, Schmalkalden, Salzungen, Battgendorf und Greußen auf 17 . Nur aufgrund dieser hebräischen Quellen ist die Ansässigkeit von Juden in diesen Orten nachweisbar. Hier deutet sich an, dass vermutlich in weit mehr thüringischen und meißnischen 11 Zu dieser Judenordnung siehe v. a. Wolf Rudolf LUTZ, Heinrich der Erlauchte (12181288). Markgraf von Meißen und der Ostmark (1221-1288); Landgraf von Thüringen und Pfalzgraf von Sachsen (1247-1263) (Erlanger Studien 17, 1977) S. 349-351, 356-358; Friedrich LOTTER, Geltungsbereich und Wirksamkeit des Rechts der kaiserlichen Judenprivilegien im Hochmittelalter, Aschkenas - Zs. für Geschichte und Kultur der Juden 1 (1991) S. 23-64, hier S. 38 f. 12 Vgl. Michael TOCH, Die Juden im mittelalterlichen Reich (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 44, 1998) S. 48. 13 1287 V 9; MGH Const. 3, S. 389 f. Nr. 407. 14 1330 IV 12; MGH Const. 6, S. 622 Nr. 731. Dieses Privileg wurde 1350 II 6 im Zuge der Gesamtbelehnung der Landgrafen von Thüringen und Markgrafen von Meißen durch Karl IV. bestätigt; MGH Const. 10, S. 23 f. Nr. 32. Damit blieb das Judenregal endgültig bei den wettinischen Landesherren. 15 Siehe dazu die entsprechenden Ortsartikel in der Germania Judaica 2 (wie Anm. 9). 16 1282; Regesta Diplomatica necnon epistolaria Historiae Thuringiae 4 (1267-1288), hg. von Otto DOBENECKER (1939) Nr. 2125, S. 305. 17 Diese Ortsnamen finden sich im Nürnberger Memorbuch und im Memorbuch aus Charleville; Das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches, hg. von Siegmund SALFELD (Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland 3, 1898) S. 66, 234. Vgl. die Karte am Schluss der Germania Judaica 2, 2 (wie Anm. 9) und ebd. die entsprechenden Ortsartikel. Siehe auch das Folgende sowie unten Anm. 27 f.

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Orten Juden lebten als von den bekannten nicht-hebräischen Quellen überliefert werden. Dies zeigt auch die in denselben Memorbüchern zu findende Liste jener Orte, die von den Verfolgungen 1303 betroffen waren. Neben Weißensee werden hier Gotha, Kölleda und Tennstedt genannt 18 . Für Kölleda und Tennstedt ist das die jeweils erste Nachricht über die Ansässigkeit von Juden. Zugleich ist dies, nach der Erwähnung eines Gothaer Juden in Köln, auch der erste sichere Beleg für eine jüdische Ansiedlung in Gotha.

Die Ritualmordlegende und ihre Ausbreitung Ritualmordbeschuldigungen und anschließende Judenverfolgungen beruhten auf der Vorstellung, dass Juden gemäß einem alten Brauch alljährlich zu Ostern einen Knaben töten, da sie angeblich glauben, auf diese Weise Erlösung zu erlangen. Nach Verkündigung der Transsubstantiationslehre auf dem vierten Laterankonzil 1215 rückte die Erklärung in den Vordergrund, dass Juden den getöteten Kindern das Blut entziehen, um es für eigene rituelle oder magische Zwecke zu verwenden. Dieser Gedanke dominierte bald die Vorstellung vom Ritualmord 19 . Die erste bekannte Nachricht über einen angeblichen Ritualmord stammt aus Norwich in England, wo 1144 den dortigen Juden der Tod eines Jungen namens Wilhelm zur Last gelegt wurde 20 . Im 13. und 14. Jahrhundert breiteten sich Legende und Motiv des Ritualmords über Frankreich weiter nach Osten aus. Vermeintliche Ritualmorde lösten dabei häufig weitere Beschuldigungen in der gleichen Region aus 21 . Die frühesten derartigen Fälle wurden wohl vor allem deshalb tradiert, um einen Heiligenkult zu etablieren. Dazu gehörte die Verbreitung von 18 SALFELD, Martyrologium (wie Anm. 17) S. 59 f., 79, vgl. S. 215 f., 271. 19 Mit der Durchsetzung der Transsubstantiationslehre kam es später auch zum Vorwurf der Hostienschändung. Georg R. SCHROUBEK, Zur Tradierung und Diffusion einer europäischen Aberglaubensvorstellung, in: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, hg. von Rainer ERB (Dokumente, Texte, Materialien. Veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin 6, 1993) S. 17-24, hier S. 18 f.; TREUE, Trienter Judenprozeß (wie Anm. 2) S. 2931, 37 f.; vgl. Jörg MÜLLER, Eretz geserah - „Land der Verfolgung". Judenpogrome im regnum Teutonicum in der Zeit von etwa 1280 bis 1350, in: Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer vom 20.-25. Oktober 2002, hg. von Christoph CLUSE (2004) S. 261 f. Siehe auch unten Anm. 27. 20 Siehe dazu die ausführliche Darststellung bei Friedrich LOTTER, Innocens virgo et matyr. Thomas von Monmouth und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter, in: Legende (wie Anm. 19) S. 25-72; vgl. TREUE, Trienter Judenprozeß (wie Anm. 2) S. 33. 21 SCHROUBEK, Tradierung (wie Anm. 19) S. 20; vgl. TREUE, Trienter Judenprozeß (wie Anm. 2) S. 34-40.

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Wundergeschichten, aber auch die Suche nach Indizien für die Schuld der Juden. Dies steigerte den Hass auf die Juden, der durch den Heiligenkult um das angebliche Mordopfer aufrechterhalten wurde. Der Kult wiederum begünstigte die grundsätzliche Verdächtigung der Juden und die Entstehung neuer Beschuldigungen. Schon bald hatte sich die Ritualmordlegende soweit verselbstständigt, dass allein der Fund einer Leiche zu Anschuldigungen und Verfolgungen fuhren konnte. Nur noch selten kam es zu einem Heiligenkult um das vermeintliche Ritualmordopfer 22 . Unter den sich häufenden Fällen von Ritualmordbeschuldigungen ist vor allem jene von Fulda 1235 zu erwähnen. Nachdem beim Brand einer Mühle fünf Kinder in Abwesenheit der Eltern ums Leben gekommen waren, wurden Juden des Mordes bezichtigt. Unter der Folter gestanden zwei von ihnen, die Kinder ermordet zu haben, um an ihr Blut zu gelangen. Der Brand hätte demnach der Vertuschung des Mordes gedient. Nach dem Geständnis wurden alle Fuldaer Juden, nach hebräischen Quellen 32 Personen, getötet. Wegen dieser Verfolgung erhob die Judenschaft des Reiches Klage, der sich Kaiser Friedrich II. annahm. Ein Prozess sollte ein Grundsatzurteil bezüglich der Ritualmordbeschuldigung erbringen. Die eigens berufene Kommission stellte fest, dass sich weder im Alten noch im Neuen Testament Nachweise für ein Bedürfnis der Juden nach Menschenblut finden lassen und dass die jüdischen Gesetze sogar die Befleckung mit Tierblut untersagen. Friedrich II. sprach daraufhin im Juli 1236 die Juden von Fulda posthum frei und verbot weitere derartige Klagen und Belästigungen, selbst in Predigten. Zugleich nahm er alle Juden des Reichs auf Grundlage eines früheren Privilegs in seinen Schutz 23 . Auch bei Papst Innozenz IV. ging eine Klage der deutschen Juden ein. In einem Mandat an die Erzbischöfe und Bischöfe in Deutschland erklärte dieser 1247, dass solche Beschuldigungen falsch seien, und gebot, sich vielmehr wohlwollend gegenüber Juden zu verhalten 24 .

22 LOTTER, Innocens virgo (wie Anm. 20) S. 71; TREUE, Judenprozeß (wie Anm. 2) S. 282. 23 1236 VII; MGH Const. 2, S. 274-276; LOTTER, Innocens virgo (wie Anm. 20) S. 54-57. 24 J. Friedrich BATTENBERG, Die Ritualmordprozesse gegen Juden in Spätmittelalter und Frühneuzeit. Verfahren und Rechtsschutz, in: Legende (wie Anm. 19) S. 95-132, hier S. 112. Yacov GUGGENHEIM sieht in den Auftritten der Judenschaft des Reichs 1235 und 1247 ein Indiz für eine Art Gesamtvertretung der Juden, die vielleicht von den Wormser Juden wahrgenommen wurde. So galt auch der Schutzbrief von 1236 den universis ludeis Alemannie; Yacov GUGGENHEIM, A suis paribus et non aliis iudecentur: jüdische Gerichtsbarkeit, ihre Kontrolle durch die christliche Herrschaft und die obersten rabi gemeiner Judenschafft im heiigen Reich, in: Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Christoph CLUSE / Alfred HA VERKAMP / Israel J. YUVAL (Forschungen zur Geschichte der Juden. Schriftenreihe der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden e.V. und des Arye Maimon-Instituts für Geschichte der Juden A 13, 2003) S. 406-439, hier S. 412 f., 418.

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Gegen den weit verbreiteten Glauben an Ritualmorde konnten solche Dekrete jedoch nichts ausrichten. Das Urteil Friedrichs II. wurde sogar als Zeichen seiner Ungläubigkeit ausgelegt 25 . Vor allem seit den 1260er Jahren nahmen die Ritualmordbeschuldigungen weiter zu. Daneben kam seit 1290 auch die Beschuldigung des Hostienfrevels auf 26 . 1298 wurden die Juden im fränkischen Röttingen beschuldigt, eine Hostie geschändet zu haben. Unter einem Anführer namens Rintfleisch kam es daraufhin zu Pogromen an Juden in 130 Orten in Franken, der Oberpfalz, Schwaben, Hessen und, wie schon erwähnt, auch Thüringen 27 . Die schlimmsten Judenverfolgungen im mittelalterlichen Europa waren jedoch die Pestpogrome von 1347 bis 1350. In der Folgezeit verschlechterte sich die rechtliche Lage der Juden. Der Ritualmordvorwurf wurde jetzt offener und auch mit Billigung kirchlicher Autoritäten erhoben und diente später als Argument für Verfolgungen und Vertreibungen 28 . Noch bis ins 19. Jahrhundert kam es in Deutschland zu Prozessen wegen Anklage auf Ritualmord. In anderen Regionen Europas gab es sogar noch nach dem zweiten Weltkrieg vereinzelte Beschuldigungen. Die Heiligenverehrung von vermeintlichen Ritualmordmordopfern dauert bis heute an 29 .

Der Bericht über den Eisenacher Ritualmord Von einem Ritualmord im Thüringischen Raum berichtet erstmals der Liber Cronicorum sive annalis Erfordensis für das Jahr 1280. Diese Schilderung des Mordes an einem Mädchen in Eisenach wurde allerdings aus älteren Vorlagen übernommen 30 . Andere Quellen erwähnen weder eine Beschuldigung der Eisenacher Juden noch eine Verfolgung zu dieser Zeit. 25 LOTTER, Innocens virgo (wie Anm. 20) S. 57. 26 Ebd. S. 64, 69; MÜLLER, Eretz gesera (wie Anm. 19) S. 265. Vergleichbar der Ritualmordlegende beruhte diese Beschuldigung auf der Annahme, Juden wollten an einer Hostie die Marter Christi nachvollziehen. Auch Beschuldigungen der Schändung von Bildern sind bekannt; TREUE, Trienter Judenprozeß (wie Anm. 2) S. 29 f. 27 Vgl. Germania Judaica 2, 2 (wie Anm. 9) S. 719 den Artikel Röttingen; TOCH, Juden (wie Anm. 12) S. 60; MÜLLER, Eretz geserah (wie Anm. 19) S. 265 f. und ebd. die Karte nach S. 272. 28 BATTENBERG, Ritualmordprozesse (wie Anm. 24) S. 112 f.; TOCH, Juden (wie Anm. 12) S. 61-63; Germania Judaica 3: 1350-1519. 3. Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices, hg. von Arye MAIMON / Mordechai BREUER / Yacov GUGGENHEIM (1987-2003), S. 21972199; 2292-2294 sowie ebd. das Kapitel über die Verfolgungen des Spätmittelalters, S. 2298-2327. 29 SCHROUBEK, Tradierung (wie Anm. 19) S. 19, 21-23. Siehe auch den Aufsatz von Albert LICHTBLAU, Die Debatten über die Ritualmordbeschuldigungen im österreichischen Abgeordnetenhaus am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Legende (wie Anm. 19) S. 267-292. 30 Bereits Wenck bezeichnet diese Geschichte als „Wandersage"; Carl WENCK., Liber Croni-

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Wie der Liber Cronicorum berichtet, wurde das Mädchen Margaretha, eine Waise, von der Mutter ihrer Freundin an Juden übergeben. Diese schnitten ihr alle Adern auf und sammelten das Blut in großen Behältern. Dann wurde der Leichnam in eine Wanne gelegt, mit Steinen beschwert und in einem Fluss versenkt. Durch göttliche Fügung fanden jedoch Fischer den Leichnam. Daraufhin strömten viele Leute herbei, darunter auch der Markgraf und die Tochter jener Frau, die Margaretha den Juden übergeben hatte. Das Mädchen berichtete weinend und klagend von der Ermordung ihrer Freundin durch die Juden, worauf der Markgraf die Tore der Stadt schließen und die Juden drei Mal vor die Tote treten ließ. Beim ersten Erscheinen der Juden begannen die Wunden des Mädchens zu bluten, als sie dann ein zweites und drittes Mal kamen, erhoben sich beide Hände der Toten. Der Markgraf erkannte die Zeichen Gottes und ließ vier der Juden wie auch die Frau, die ihnen das Mädchen übergeben hatte, rädern und hinrichten 31 . Diese Erzählung wiederholt in weiten Teilen die Darstellung eines ähnlichen Vorfalls in Pforzheim, der im Jahr 1267 tatsächlich zu einer Ritualmordanklage gefuhrt hatte. Eindeutige Parallelen sind die Waise, die von einer Frau an die Juden übergeben wird, das Versenken der Leiche im Fluss und deren Auffindung durch Fischer. Als Richter tritt der Markgraf von Baden auf. Die Juden werden durch die aufbrechenden Wunden und durch die Aussage der Tochter der Frau überfuhrt. Die Frau und einige der Juden werden gerädert und gehängt, zwei der Juden töten sich hingegen selbst. Letzteres wird durch die Angaben im Nürnberger Memorbuch bestätigt. Darüber hinaus hat sich ein Grabstein erhalten, dem zufolge das getötete Pforzheimer Mädchen ebenfalls Margaretha hieß 32 . Dass Christen als Helfershelfer von Juden auftreten, ist nicht ungewöhnlich. Auch in anderen Berichten findet sich das Motiv des Christen, der Juden gestohlene Hostien verschafft oder Kinder verkauft. Wie tief der Glaube an die angeblich von Juden begangenen Hostienschändungen oder Ritualmorde verwurzelt war, zeigen jene Fälle, in denen Christen tatsächlich versuchten, gestohlene Hostien, Kinder oder auch nur durch Aderlass gewonnenes Blut Juden zum Verkauf anzubieten 33 .

corum (Erfordensis) [Chronicon Thuringicum Viennense], Zs. des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde 12, N. F. 4 (1884/85) S. 185-251, hier S. 197 und 209. In der späteren Edition der Quelle wird auf die mögliche Vorlage verwiesen. Siehe dazu das Folgende. 31 Liber Cronicorum Erfordensis, ed. Oswald HOLDER-EGGER (MGH SS rer. Germ. 42, 1899) S. 773-77-5. 32 ARONIUS, Regesten (wie Anm. 10) Nr. 726, S. 306-308; vgl. LOTTER, Innocens virgo (wie Anm. 20) S. 64 f. 33 In der Regel konnten die angesprochenen Juden solche Versuche zur Anzeige bringen. Den Christen drohte dann die Todesstrafe; Vgl. Wolfgang TREUE, Schlechte und gute Christen.

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Ein Ritualmord als Anlass für eine Schätzung? Im thüringisch-meißnischen Raum findet sich das Motiv des Kindesverkaufs durch einen Christen im Zusammenhang mit einer Schätzung in den Jahren 1410 und 1411 wieder. Diese betraf nach Auskunft einiger zeitgenössischer Chronisten alle Juden in der Markgrafschaft Meißen und der Landgrafschaft Thüringen. Die Gefangennahme der Juden und die Freilassung gegen ein Lösegeld lässt sich allerdings nur für die meißnischen Städte Naumburg und Dresden über entsprechende Vermerke in den Kämmereirechnungen sicher belegen. Dass die Juden weiterer meißnischer Städte betroffen waren, kann allenfalls vermutet werden. Eher unwahrscheinlich ist, dass es auch in Thüringen zu einer Schätzung kam. Weitestgehend unklar bleiben die Gründe für die Schätzung 34 . Der aus Lübeck stammende und zeitweise in Halberstadt und Magdeburg lebende Hermann Korner schildert die Ereignisse von 1410 in einer 1423 entstandenen Überarbeitung seiner „Cronica novella" 35 und nennt einen mutmaßlichen Grund für die Schätzung. Demnach wollten Juden einen Jungen töten, den sie von einem Bauern gekauft hatten. Daraufhin wurden alle jüdischen Familien gefangen genommen und ihr Vermögen eingezogen. Den Bauern ließen die Markgrafen hingegen vierteilen und die vier Teile rädern 36 . Es erscheint seltsam, dass in Korners Schilderung die Juden im Unterschied zu dem Bauern vergleichsweise glimpflich davonkommen. Offenbar handelt es sich hierbei aber nur um eine Legende, welche die Schätzung begründen sollte. Weder die Vermerke in den Kämmereirechnungen von

Zur Rolle von Christen in antijüdischen Ritualmord- und Hostienschändungslegenden, Aschkenas - Zs. fiir Geschichte und Kultur der Juden 2 (1992) S. 95-116, bes. S. 104-106. 34 Völlig ausgeschlossen werden kann eine Vertreibung fiir 1410, auch wenn spätere Chronisten dies gelegentlich behaupten. Die meisten die Schätzung betreffenden Quellen werden bei Hubert ERMISCH, Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen 1407-1418 (Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae [fortan CDS] I B III, 1909) Nr. 214, S. 199, Anm. ee) aufgeführt. Für eine ausfuhrliche Darstellung und Auswertung siehe künftig meine Dissertation (wie Anm. 4). 35 Herman Körner, Chronica Novella, hg. von Jakob SCHWALM (1895) S. 382. Komer datiert die Ereignisse fälschlicherweise auf 1413. - Zu den Entstehungsphasen der Cronica novella siehe VL 5 ( 2 1985), Sp. 317 f. 36 Hoc inquam malum iuste super eos venit propter quendam puerum cristianum, quem emerent a quodam rustico, quem voluissent trucidasse. Rusticum autem illum principes in quatuor partes vivum dividi facientes ad quatuor rotas posuerunt; Herman Körner, Chronica Novella (wie Anm. 35) S. 382; vgl. CDS I B III (wie Anm. 34) Nr. 214, S. 200, Anm. ee), Z. 19-27. Die Schilderung der Chronica Novella diente als Vorlage für die Rufus-Chronik und die Wandalia von Albert Crantz, auf die sich TREUE, Schlechte und gute Christen (wie Anm. 33) S. 98, bezieht. Er datiert das Ereignis jedoch irrtümlich auf 1408.

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Naumburg und Dresden, noch die Berichte anderer Chroniken liefern Hinweise auf einen tatsächlichen Ritualmordvorwurf 37 . Ursprünglich hatte Korner die Schätzung auch den Landgrafen von Thüringen und Hessen zugeschrieben. Dies wurde jedoch aus einer noch späteren Bearbeitung gestrichen. Die Erwähnung des angeblichen Ritualmords blieb dagegen bestehen 38 . Sowohl für 1280 als auch für 1410 wird von einem Ritualmord bzw. einem versuchten Ritualmord berichtet, bei dem jeweils ein Christ als Helfer auftrat. Tatsächlich hat es keinen dieser Vorfalle gegeben. Selbst 1410, als es wirklich zu einer Schätzung kam, dürfte keine Anklage wegen Ritualmords vorgelegen haben. Die Schilderung des angeblichen Vorfalls in Eisenach, die nachweislich eine Darstellung der Ereignisse in Pforzheim wiederholt, spiegelt wohl die Vorliebe des Kompilators für Wundergeschichten wieder 39 . Der vermeintliche Verkauf eines Kindes an Juden 1410 diente Hermann Korner hingegen als Begründung für die in der Markgrafschaft Meißen erfolgte Schätzung. Vielleicht hat er diese Erklärung aus zu dieser Zeit kursierenden Gerüchten übernommen.

Die Verfolgungen in Weißensee und Umgebung Zu einer wirklichen Ritualmordbeschuldigung kam es in Thüringen 1303. Sie führte zu Judenverfolgungen in Weißensee, Gotha, Kölleda und Tennstedt. Über die dortigen Geschehnisse berichten zwei zeitgenössische Chroniken: die Chronik des Erfurter Petersklosters und das Compendium Historiarum des Siegfried von Ballhausen 40 . Ein jüdisches Memorbuch nennt hingegen nur die Orte, in denen Juden getötet wurden und teilweise auch deren Namen. Darüber hinaus ist ein auf dieses Ereignis Bezug nehmender Brief Friedrichs, des Sohnes Landgraf Albrechts, überliefert. Eher knapp ist der Bericht der Chronica St. Petri Erfordensis gehalten. Nach dieser wurden die Juden von Weißensee überführt, gemäß dem Brauch ihrer Vorfahren, einen Jungen heimlich getötet zu haben. Dieser wurde drei 37 An zeitlich nah verfassten Chroniken sind die Chronica von Isenachs Begyn, die Magdeburger Schöppenchronik und die Historia de landgraviis Thuringiae oder Chronica Thuringorum zu nennen; CDS I B III (wie Anm. 34) Nr. 214, S. 199 f., Anm. ee). Keine Erwähnung finden die Ereignisse von 1410 bei Johannes Rothe, der sie aus eigenem Erleben hätte schildern können und der selbst über den angeblichen Ritualmord in Weißensee 1303 ausführlich berichtet. Siehe hierzu das Folgende. 38 Vgl. Körner, Chronica Novella (wie Anm. 35) S. 382 und Anm. 2. 39 Vgl. WENCK, Liber Cronicorum (wie Anm. 30) S. 210. 40 Da Berichte späterer Chroniken nur auf die Erfurter Chronik und Siegfried von Ballhausen zurückgehen können, werden sie erst im folgenden Abschnitt zur Rezeption der Ereignisse ausgewertet.

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Tage nach seinem Tod in einer Hütte in einem Weinberg nahe der Stadt aufgefunden. Er war am eigenen Gürtel erhängt, so als hätte er sich selbst das Leben genommen. Nachdem er in die Stadt zurückgebracht worden war, zeigten sich viele Wunder, woraufhin die Juden in Weißensee und einigen umliegenden Orten getötet wurden. Die Erfurter Juden konnten eine Verfolgung durch die Zahlung einer Geldsumme abwenden 41 . Der Bericht des Priesters Siegfried in seinem vor 1307 verfassten Compendium Historiarum ist wesentlich ausfuhrlicher. Siegfried lebte im nahe bei Weißensee gelegenen Ballhausen, dem heutigen Groß-Ballhausen. Von den Ereignissen in Weißensee muss er unmittelbar erfahren haben. Die Schilderung zeigt jedoch deutlich seine Vorliebe, Wunderberichte und Anekdoten aufzunehmen, vielleicht um sie für Predigten nutzen zu können 42 . Siegfried zufolge war der Name des getöteten Jungen Conrad. Sein Vater war Soldat in Weißensee. Kurz vor dem Osterfest wurde Conrad von Juden getötet, indem sie ihm alle Muskeln und Adern aufschnitten, um sein Blut zu gewinnen. Doch Gott wollte den Tod des Jungen nicht hinnehmen, verriet die Mörder und schmückte Conrads Martyrium mit Wundern. Nach der Ermordung des Jungen hatten die Juden an mehreren Orten in Thüringen versucht, den Leichnam zu vergraben. Gott verhinderte jedoch, dass irgendein Ort geeignet erschien, die Tat zu verheimlichen. Daher brachten die Juden den Toten schließlich wieder zurück nach Weißensee und hängten ihn in einer Weinlaube auf. Schon bald aber kam die Wahrheit ans Licht und die Juden, welche die Anschuldigungen zurückwiesen, wurden von den Soldaten und Einwohnern der Stadt, unter Mitwirkung Friedrichs, des Sohnes des Landgrafen Albrecht, getötet. Später geschahen noch weitere Wunder in Weißensee, die das Volk herbeiströmen ließen 43 . Siegfried von Ballhausen geht mehr ins Detail, wobei grundlegende Angaben denen der Chronik des St. Petersklosters entsprechen: Die Juden töten gemäß einem alten Brauch oder einem alten Zwang, der Junge wird einige Zeit nach dem Mord in einer Hütte im Weinberg erhängt gefunden und nach Überfuhrung des Leichnams in die Stadt verweisen Wunder auf die „wahren" Täter. Welche Wunder sich ereigneten, wird in beiden Berichten verschwiegen. Undeutlich bleibt auch Siegfrieds Erklärung, durch Wunder sei ein Begräbnis des Kindes an einem anderen Ort verhindert worden 44 . Eine indirekte 41 Chronica St. Petri Erfordensis Moderna, ed. Oswald HOLDER-EGGER (MGH SS 30,1, 1896, ND 1976) S. 435. 42 Siegfried von Ballhausen, Historia universalis et compendium historiarum, ed. Oswald HOLDER-EGGER ( M G H S S 25, 1880, N D 1974) S. 6 7 9 f.; vgl. V L 5 ( 2 1 9 8 5 ) Sp. 1199,

1202 f. 43 Siegfried von Ballhausen, Historia universalis (wie Anm. 42) S. 715 f. 44 Im Gegensatz hierzu werden in der bereits erwähnten Schilderung der Vorgänge in Pforzheim, der ebenfalls eine tatsächliche Ritualmordanklage zugrunde lag, Wunder nicht nur

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Entsprechung ist die verzögerte Auffindung Conrads. Der Erfurter Chronik zufolge wurde der Leichnam erst nach drei Tagen gefunden. Die bei Siegfried von Ballhausen erwähnten vergeblichen Versuche, den Toten andernorts zu begraben, sprechen gleichfalls für eine längere Zeitspanne zwischen Ermordung und Auffindung. Die Darstellung Siegfrieds gehört damit aber auch zu den wenigen derartigen Berichten, in denen sich Juden nach dem angeblichen Ritualmord bemühten, das Verbrechen zu verheimlichen. Oft wird dagegen erzählt, dass die Juden den Leichnam eines Kindes mit deutlichen Merkmalen des Ritualmordes an einem häufig begangenen Ort zurückließen, gelegentlich sollen Juden Christen sogar in ihre Tat eingeweiht haben 45 . In Hinblick auf Siegfrieds ausfuhrliche Darstellung verwundert es, dass er zwar erwähnt, Conrads Leichnam sei erhängt gefunden worden, aber nicht wie die Erfurter Chronik hinzufügt, dies hätte den Anschein erweckt, Conrad habe sich selbst das Leben genommen. Von Siegfried von Ballhausen wäre beinahe zu erwarten gewesen, dass er dieses scheinbar hinterlistige Verhalten der Juden erwähnt, denn als vermeintlichem Selbstmörder wäre Conrad ein christliches Begräbnis verwehrt geblieben. Erst ein Jahrhundert später ging Johannes Rothe in seiner Darstellung der Ereignisse genauer auf diese Problematik ein 46 . Während Siegfried und der Erfurter Chronist von den Geschehnissen in Weißensee berichten, listet das Nürnberger Memorbuch lediglich „die Getöteten und Verbrannten in Weißensee am 7. Nissan 5063" auf - nach christlicher Zeitrechnung der 14. März 130347. Die Liste lenkt den Blick auf die Opfer der Verfolgung. Insgesamt werden 123 Personen erwähnt, 22 Familien und Ehepaare sowie drei einzelne Männer. Während die Erwachsenen fast alle namentlich genannt werden, ist dies bei den Kindern nur teilweise der Fall 48 . Da die Liste ganze Familien nennt, ist anzunehmen, dass sämtliche der jüdischen Siedlung angehörenden Personen, einschließlich der Kinder, auf

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erwähnt, sondern auch beschrieben: Der im Fluss versenkte Leichnam des Mädchens wird aufgefunden, weil sich die Hand der Toten zum Himmel reckt. Als nach deren Bergung der Markgraf von Baden vor die Tote tritt, richtet diese sich auf und streckt ihre Hände wie racheflehend zu ihm aus. In Anwesenheit der Juden beginnen die Wunden des toten Mädchens zu bluten, wodurch die Täter überfuhrt werden; ARONIUS, Regesten (wie Anm. 10) Nr. 726, S. 306. Dies rührte von der Vorstellung her, dass Juden sich nur dann an der Schändung einer Hostie oder am Tod eines Kindes erfreuen könnten, wenn die Christenheit von dem gegen sie verübten Verbrechen wisse; TREUE, Schlechte und gute Christen (wie Anm. 33) S. 109. Siehe dazu den folgenden Abschnitt zur Rezeption der Ereignisse. üis 1 ? i d i t n a 'r '3 a v 'TWI» t r ä n e n m n n ; SALFELD, Martyrologium (wie Anm. 17) S. 59, vgl. S. 215.1"D ist wohl zu L"0 zu korrigieren; ebd. S. 215, Anm. 2. Ebd. S. 59 f., vgl. S. 215 f.

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dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Darüber hinaus wurden zwei Männer „auf der Straße" erschlagen 49 und „am gleichen Tag" acht namentlich genannte Männer in Gotha 50 sowie weitere, namentlich nicht genannte Personen in Kölleda und Tennstedt getötet 51 . Auch das Memorbuch von Charleville listet Weißensee, Kölleda und Gotha auf 52 . Obgleich sich die Angaben des Nürnberger Memorbuches auf die Namen konzentrieren, liefert es doch weitere Hinweise zum Hergang der Ereignisse, die die Berichte der Chronik des St. Petersklosters und Siegfrieds von Ballhausen ergänzen. Nur hier findet sich der Vermerk, die Juden seien verbrannt worden. Die Anzahl der Namen verdeutlicht zudem das tatsächliche Ausmaß der Verfolgung. Die weiteren Orte, in denen Juden zu Tode kamen, werden ebenfalls nur hier genannt. In Hinblick auf die wenigen Namen aus Gotha stellt sich die Frage, ob hier tatsächlich nur diese acht Männer und keine weiteren Personen getötet wurden. Denkbar wäre, dass Frauen und Kinder verschont blieben. In der Liste für Weißensee werden ebenfalls nicht alle Namen genannt. Die nicht namentlich genannten Opfer, zumeist Kinder, werden hier aber zumindest aufgezählt. Es ist somit möglich, dass die Verfolgung in Gotha ein nicht ganz so großes Ausmaß hatte wie die in Weißensee. Zu erinnern ist daran, dass zu dieser Zeit in Weißensee wohl schon seit mehr als zwanzig Jahren Juden lebten, während für Gotha nur unsichere und für Kölleda und Tennstedt gar keine früheren Nachrichten überliefert sind. Daher erscheint es plausibel, dass die Siedlung in Weißensee in der Tat die größte dieser vier Siedlungen war. Mit 22 Familien und 123 Personen weist die jüdische Siedlung in Weißensee generell eine beachtliche Größe auf 53 .

49 n m j muffi i m ® ^ N W -O rros ' n . ^ n -itra 'n; ebd. S. 59, vgl. S. 216. 50 nvn u kbu 'unn; ebd. S. 60, vgl. S. 217. 51 iKOQttrcD ' i n n Tnn; ebd. S. 60, vgl. S. 217. 52 .ran .KiNVip .'T3BH, Namen von Opfern werden nicht genannt; ebd. S. 79, vgl. S. 271. 53 Siegbert NEUFELD, Die Juden im thüringisch-sächsischen Gebiet während des Mittelalters 1 (1917) S. 60. NEUFELD scheint es für möglich zu halten, dass die Genannten nicht nur aus Weißenfels stammen. Dagegen spricht, dass bei den beiden Männern, die auf der Straße getötet wurden, dies eigens vermerkt wurde. - Dass die Anzahl der in Weißensee lebenden Juden vergleichsweise hoch war, verdeutlicht eine Untersuchung Michael TOCHS, die allerdings der Zeit zwischen 1350 und 1525 gilt. Aus diesem Zeitraum gibt es für etwa die Hälfte aller bekannten Siedlungen im Reich Angaben zur Größe der Siedlung oder zur Anzahl der Familien. Mehr als die Hälfte davon bestanden aus nur ein oder zwei Familien, während nur 24 Siedlungen 20 oder mehr Familien und nur wenige Siedlungen über 30 Familien aufweisen; vgl. Michael TOCH, Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas im Wandel von Mittelalter zur Neuzeit, in: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, hg. von Alfred HA VERKAMP / Franz-Josef ZLWES (ZHF Beiheft 13, 1992) S. 29-39, hier S. 33-35.

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Dies spiegelt vielleicht noch die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Stadt wider, die sie unter den Ludowingern gehabt hatte 54 . Die Namenliste von Weißensee zeigt, dass wohl sämtliche Familien auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden und nicht nur einige wenige Personen, denen die Tat scheinbar nachgewiesen wurde. Dies, wie auch die Tatsache, dass zwei Juden von der Verfolgung betroffen waren, die sich offenbar nur auf der Durchreise befanden, scheint eher auf ein Pogrom oder auf eine sehr schnell erfolgte Hinrichtung zu deuten als auf einen längeren Gerichtsprozess. Auch in den Schilderungen der Erfurter Chronik und Siegfrieds von Ballhausen fehlen jegliche Hinweise auf einen Prozess. Vielmehr erwähnt Siegfried von Ballhausen, dass Soldaten und Einwohner der Stadt sowie weiteres Volk unter Mitwirkung Friedrichs, des Sohnes von Landgraf Albrecht, die Juden getötet hätten 55 . Hier stellt sich auch die Frage nach der Art der Beteiligung Friedrichs. Ein direkter Befehl seinerseits wird nicht erwähnt. Dies impliziert erst die spätere Schilderung Johannes Rothes 56 und fand wohl von hier aus Eingang in die Sekundärliteratur 57 . Überliefert ist allerdings ein Brief, den Georg Fabricius 300 Jahre später in seine Rerum Misnicarum aufnahm und der nach dessen Auskunft am Portal der Turmkirche ausgehängt worden war 58 . Schöttgen und Kreysig ziehen dies und auch die Echtheit des Mandats in Zweifel 59 . Allerdings dürften auch sie nur den Abdruck bei Fabricius ge54 Hiervon zeugen die besondere architektonische Ausgestaltung sowohl des großen Marktplatzes als auch der Burg, die Nachweise über eine Hofversammlung und Einlager sowie der vergleichsweise frühe Beleg für einen geistlichen Konvent; Christine MÜLLER, Landgräfliche Städte in Thüringen. Die Städtepolitik der Ludowinger im 12. und 13. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 7, 2003) S. 52 f., 57 f. 55 milites de Castro prosilientes et cives eiusdem civitatis reliquumque vulgus una cum marchione Friderico, fllio landgravii Thuringie Adelberti, Iudeos repugnantes turmatim occiderunt\ Siegfried von Ballhausen, Historia universalis (wie Anm. 42) S. 716. 56 Dornoch [Hess der lantgrave] yn Doryngen alle seyne juden slahin unde vahin, das ir gar wenigk mit dem lebin dorvort qwomen\ Johannes Rothe, Düringische Chronik, ed. R. v. LLLIENCRON (Thüringische Geschichtsquellen 3, 1859) S. 501. Die Verfolgungen werden damit auch auf die ganze Landgrafschaft ausgedehnt, was aus den früheren Chroniken und insbesondere der hebräischen Quelle nicht hervorgeht. 57 Vgl. Germania Judaica 3, 2 (wie Anm. 28) S. 875. 58 Litterae sequentes, mandato Principis, & praesulis permissu, ad valuam basilicae appensae sunt, de puero in Turingia ä Iudaeis miserabiliter occiso\ Georg FABRICIUS, Rerum Misnicarum Libri VII (1569) S. 122 f. Ebenso gedruckt bei Lorenz PECKENSTEIN, Theatrum Saxonicum 3. Darinnen Poliographia und historische Beschreibunge aller vonemsten Staedte in Sachsen / Meissen und Thueringen (1608) S. 145 f. PECKENSTEIN bezieht sich zwar nicht hier, jedoch an anderen Stellen oft auf FABRICIUS und dürfte von dort somit auch diesen Brief samt Erklärung übernommen haben. Von PECKENSTEIN übernahm MENKEN den Druck, auf welchen in der Edition der Chronik des Petersklosters verwiesen wird; Chronica St. Petri (wie Anm. 41) S. 435, Anm. 3. 59 Als Gründe werden u. a. die Titulatur Friedrichs, die Sprache des Briefes, dessen Inhalt

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kannt haben und nicht das Original, zu dessen Aufbewahrungsort Fabricius keine Angaben macht60. Mit dem Brief will Friedrich bekannt machen, was in Weißensee vorgefallen ist und was seine Untersuchung der „Passion" Conrads ergeben hat. Beschrieben wird zunächst, was ihm über Conrads Aussehen bei dessen Auffindung im Weinberg berichtet wurde: der liebliche Ausdruck, die weiße und rote Färbung seines Gesichts und die noch nicht erstarrten Gliedmaßen. An jedem Finger, an beiden Händen und Füßen seien Wundmale zu erkennen gewesen, die mit Mehl bestrichen waren. Nachdem der Leichnam in St. Peter in Weißensee bestattet worden war, hätten sich am Grab zahlreiche Wunder ereignet. Diese Wunder hat Friedrich untersucht und dabei mit eigenen Augen Lahme gesehen, die durch Vermittlung Conrads wieder gehen konnten. Das alles bestätigt er, auch auf Wunsch seiner Eltern, mit seinem Brief und Siegel. Datiert ist der Brief auf den 21. August 130361. Aus der Schilderung und dem Ausstellungsdatum des Briefes geht hervor, dass Friedrich erst einige Zeit nach der Auffindung des Leichnams in Weißensee eintraf. Von der Auffindung des Toten wurde ihm nur berichtet. Gesehen hat er lediglich einige Menschen, an welchen Wunder geschehen waund der an der Datierung zu erkennende zeitliche Abstand zu den Ereignissen im März angeführt. Stattdessen wird vermutet, dass das Mandat eine Fälschung ist und evtl. vom Autor einer undatierten Druckschrift stammt; SCHÖTTGEN / KREYSIG (wie Anm. 3) S. 597 f. und S. 610, Anm. b. Zu der Druckschrift siehe den folgenden Abschnitt. Die sprachliche Form des Mandats könnte jedoch von FABRICIUS leicht verändert worden sein. Was die Titulatur angeht, stimmt sie mit der von Friedrich bis spätestens 1301 verwendeten überein. Leider finden sich unter den bei WEGELE abgedruckten Urkunden keine, die zwischen 1301 und 1308 von Friedrich ausgestellt wurden. Erst eine auf 1308 zu datierende Urkunde enthält die längere Titulatur, die die Herrschaft über Thüringen und das Pleißenland anzeigt und auf welche SCHÖTTGEN / KREYSIG verweisen. Dies dürfte jedoch den seit 1307 grundlegend geänderten politischen Verhältnissen geschuldet sein; vgl. Franz X. WEGELE, Friedrich der Freidige, Markgraf von Meißen, Landgraf von Thüringen, und die Wettiner seiner Zeit (1247-1325). Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Reiches und der wettinischen Länder (1870) Nr. 60, S. 428; Nr. 64, S. 432; Nr. 67, S. 438; Nr. 82, S. 450. Zur politischen Lage vgl. Jörg ROGGE, Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel. Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 49, 2002) S. 45-47. Generell finden sich noch weitere Gegenargumente gegen die bei SCHÖTTGEN / KREYSIG gemachten Einwände, wie auch Argumente für die Echtheit des Mandats. Siehe auch das Folgende. 60 Die historiographischen Werke von FABRICIUS werden allgemein nicht sehr positiv bewertet. Sie erschienen zumeist erst nach seinem 1571 erfolgten Tod; NDB 4 (1959) S. 734 f. Auch die „Rerum Misnicarum", in denen das Mandat von 1303 abgedruckt ist, erschienen erst 1598. Die Erklärungen zu dem Mandat sind nur ungenügend und lassen einige Fragen offen. So bleibt unklar, woher bekannt war, dass das Mandat an der Meißner Kirche aushing und ob dies vielleicht ein Vermerk auf der Urkunde besagte. 61 FABRICIUS, Rerum Misnicarum (wie Anm. 58) S. 122 f.; vgl. PECKENSTEIN, Theatrum Saxonicum (wie Anm. 58) S. 145 f.

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ren. Da die Juden dem Nürnberger Memorbuch zufolge bereits im März getötet wurden, ist anzunehmen, dass Friedrich, entgegen dem Bericht Siegfrieds von Ballhausen, bei deren Hinrichtung gar nicht anwesend war. Auffallig ist an Friedrichs Brief aber, dass er die Juden nicht erwähnt. Der Brief setzt im Moment der Auffindung des Leichnams ein. Selbst dass Conrad scheinbar erhängt gefunden wurde, fehlt in Friedrichs Bericht. Allein die erwähnten vielen Wunden Conrads verweisen indirekt auf die Anschuldigung des Ritualmords. Ausdrücklich genannt - und sei es in einem Nebensatz - werden die Juden jedoch nicht. Abgesehen von den erwähnten Wunden, geht Friedrich nicht weiter auf die Todesursache Conrads ein. Aus diesem Grund dürfte sich der Brief auch kaum als eine gegen die Juden gerichtete Schrift klassifizieren lassen62. Friedrichs Brief hebt in erster Linie das noch lebendige Aussehen und damit die scheinbare Unversehrtheit des Toten sowie die geschehenen Wunder hervor. Das Mandat könnte somit vor allem dem Zweck dienen, die Anzeichen für Conrads Heiligkeit festzustellen und die durch ihn bewirkten Wunder zu bestätigen. Zu den gegen die Juden vorgebrachten Beschuldigungen und damit auch zur Verfolgung der Juden im Frühjahr äußert sich das Mandat nicht. Dies steht im Gegensatz zu anderen Fällen, bei denen der angebliche Ritualmord die Heiligkeit des Opfers erhöhen sollte63. Siegfried von Ballhausens Angabe, dass sich Friedrich an den Verfolgungen im März 1303 beteiligt habe, wird durch das Mandat nicht bestätigt, sie erscheint sogar unglaubwürdig. Hier ist auch daran zu erinnern, dass die Juden von Weißensee nicht mehr Friedrichs Vater, dem Landgrafen von Thüringen64, sondern seit 1287 dem Erzbischof von Mainz unterstanden. Nach der Übertragung des Judenprivilegs ist zwar nicht bekannt, inwieweit der jeweilige Erzbischof dieses Privileg wahrnahm, es stellt sich hier aber zumindest die Frage, ob Friedrich die Verfolgung überhaupt ohne weiteres hätte befehlen können. Dies gilt umso mehr für das im Nürnberger Memorbuch genannte Kölleda, das nicht einmal politisch den Landgrafen unterstand65.

62 Eine solche Bewertung des Briefes findet sich in: Die Geschichte der Stadt Weißensee von den Anfängen bis zur Gegenwart. Festschrift anlässlich des 800jährigen Marktrechtes der Stadt Weißensee 1998, hg. von der Stadt Weißensee (1998) S. 170. Dass das oben besprochene Mandat gemeint ist, verdeutlicht der Hinweis, dass der Brief an der Meißner Kirche angeschlagen worden sein soll. Auf einen Abdruck des Briefes wird jedoch nicht verwiesen und bei dem als Referenz angegebenen NEUFELD wird der Brief nicht erwähnt. 63 LOTTER, Innocens virgo (wie Anm. 20) S. 71. 64 Nach dem oben schon erwähnten Privileg, das Albrecht 1282 der Stadt Weißensee erteilt hatte, hätten die Juden von Weißensee vor seinen Gerichten angeklagt werden müssen. 65 Die Herrschaft lag beim Kloster Hersfeld, das diese als Lehen an die Käfemburger weitergab. Zwischen 1249 und 1306 gelangte Kölleda an die Grafen von Beichlingen; Handbuch der historischen Stätten 11. Provinz Sachsen/Anhalt, hg. von Berent SCHWINEKÖPER (1987) S. 247.

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An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass die Ereignisse in Weißensee in eine Zeit fielen, in der es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Landgraf Albrecht und seinen Söhnen Friedrich und Dietrich kam 66 . 1294 hatte Albrecht die Landgrafschaft Thüringen sogar an König Adolf verkauft und sich lediglich die Herrschaft bis zu seinem Tode vorbehalten 67 . Der Kampf Friedrichs und Dietrichs um ihr Erbe zog sich mehrere Jahre hin. Erst 1307 löste sich der Konflikt, 1310 wurde der Verkauf annulliert und das Erbrecht der Wettiner anerkannt 68 . Da Friedrich in dem Mandat aber auf seine Eltern Bezug nimmt, müsste die Judenverfolgung von 1303 in einen Zeitraum fallen, in dem der Konflikt zwischen Landgraf Albrecht und seinen Söhnen ruhte 69 .

Die Rezeption der Ereignisse von Weißensee Insbesondere der Bericht der Chronik des Erfurter St. Petersklosters diente späteren Chroniken als Vorlage für die Darstellung des angeblichen Ritualmordes und der Judenverfolgung von 1303. Aus dem Bericht Siegfrieds von Ballhausen wird vor allem die Angabe aufgegriffen, dass die Juden auf Anweisung Friedrichs getötet wurden. Zu den Chroniken, die die Schilderung der Erfurter Chronik fast wörtlich übernehmen, gehört die thüringische Fortsetzung der Sächsischen Weltchronik. Von der Vorlage abweichend nennt sie Conrad aber den guten sente Conraden 70 und somit einen Heiligen. Die Historia de Landgraviis Thuringiae fasst den Bericht der Erfurter Chronik zusammen, fügt aber hinzu, Conrads Körper sei überall durchbohrt gewesen und das Blut ganz herausgesaugt worden. Zudem heißt es hier, dass

66 Vgl. ROGGE, Herrschaftsweitergabe (wie Anm. 59) S. 34-44. 67 1293 hatte Albrecht die Landgrafschaft Thüringen zunächst an Dietrich verkauft und damit den älteren Friedrich enterbt. Mit dem Verkauf von 1294 brach Albrecht auch den Vertrag mit Dietrich; ebd. S. 34-36. 68 Ebd. S. 47. 69 mandato & iussu parentis nostri pientissimi; FABRICIUS, Rerum Misnicarum (wie Anm. 58) S. 122. WEGELE, Friedrich (wie Anm. 59) S. 250, 255 und Anm. 2 findet außer diesem Mandat (!) noch weitere Indizien für eine zeitweise Besserung der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Erst kurz nach 1303 scheint sich das Verhältnis wieder verschlechtert zu haben; ebd. S. 257 f. - Dies ist ein weiteres, wenn auch schwaches Argument für die von SCHÖTTGEN / KREYSIG in Zweifel gezogene Echtheit der Urkunde. Siehe Anm. 59. 70 Fortsetzungen der Sächsischen Weltchronik. Thüringische Fortsetzung, ed. Ludwig WEILAND (MGH Dt. Chron. 2, 1877) S. 309; vgl. in der Edition der Chronica St. Petri (wie Anm. 4 1 ) S. 4 3 5 , Anm. 17.

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die Juden per totam terram Thuringiae getötet wurden 71 und nicht, wie die Erfurter Chronik vermerkt, nur in einigen Orten. Sehr ausführlich schildert Johannes Rothe in seiner vor 1421 verfassten Düringischen Chronik, wie Conrad von den Juden entfuhrt, gemartert und schließlich in einer Weinhütte aufgehängt wurde, während die Freunde das Kind überall suchten. Rothe geht auch auf die Vortäuschung eines Selbstmords genauer ein. Ihm zufolge waren Eltern und Freunde beschämt über den scheinbaren Selbstmord. Der Leichnam wurde bereits auf ein Feld gebracht, um ihn dort zu begraben, als bei der Abnahme des Oberkleides etwas Blut bemerkt wurde, worauf man den Toten vollständig entkleidete und die Wunden am ganzen Körper entdeckte. Auch stellte man fest, dass kein Blut mehr im Leichnam war. Nach eingehender Untersuchung wurde Conrad schließlich in einem Sarg und „ehrlich", d.h. in geweihter Erde, bestattet. Weiter heißt es, dass daraufhin der Landgraf alle „seine" Juden erschlagen und fangen ließ und nur wenige mit dem Leben davon kamen 72 . Hier wird erneut die Verfolgung der Juden auf ganz Thüringen ausgedehnt und dem Landgrafen, nämlich Albrecht, zugeschrieben. Rothe bezeichnet die Juden als „seine", des Landgrafen Juden. Diese Formulierung war zu Rothes Zeit, in der die Juden tatsächlich unter der Schutzherrschaft des Landgrafen standen, durchaus üblich 73 . Für 1303 kann jedoch, wie erwähnt, nicht davon ausgegangen werden, dass der Landgraf die Schutzherrschaft inne hatte. Weggelassen werden in Rothes Schilderung die Wunder, die sogar der knappe Bericht der Erfurter Chronik erwähnt. Stattdessen verweisen die Wunden und das fehlende Blut auf die mutmaßlichen Täter. Der vermeintliche Tatbestand des Ritualmords war für Rothe möglicherweise bereits so selbstverständlich, dass es keiner Wunder mehr bedurfte, um einen solchen zu erkennen. Infolgedessen fehlen allerdings auch jegliche Verweise auf Conrads Heiligkeit. Auch die Angaben zu Person und Abstammung Conrads erfahren in späteren chronikalischen Schilderungen diverse Veränderungen. In einer auf der Chronik des Petersklosters beruhenden Darstellung wird Conrads Vater als „von Sömmerda" bezeichnet 74 . Dies setzt sich in späteren Tradierungen fort. Gelegentlich wird sein Vater auch Berthold genannt. Auf einem Missverständnis beruht wohl die Überlieferung, der Nachname Conrads sei „Bache-

71 Historia de Landgraviis Thuringiae, in: Historia. Genealogica principium saxoniae superioris, hg. von Johann Georg ECCARD (1722) Sp. 351-482, hier Sp. 451. 72 Rothe, Düringische Chronik (wie Anm. 56) S. 501. 73 In den seit 1364 bekannten Schutzbriefen für einzelne jüdische Familien oder für alle Juden einer Region bezeichneten die Land- und Markgrafen die jeweiligen Empfänger der Briefe regelmäßig als „unsere Juden". 74 dictus de Somerde; Chronica St. Petri (wie Anm. 41) S. 435, vgl. zur zeitlichen Einordnung dieser Handschrift, S. 353.

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rer" gewesen 75 . Bei Fabricius folgt dem Abdruck von Friedrichs Mandat ein Verweis auf zwei weitere Ritualmordbeschuldigungen - dies gleich nach dem Briefdatum und ohne Absatz 76 . Die Opfer dieser vermeintlichen Ritualmorde waren der „Gute Werner" von Bacharach (1287) und Simon von Trient (1475), die in der Folgezeit beide als Heilige verehrt wurden 77 . Pekkenstein fasste die Erwähnung Bacherachs offenbar als Nachname Conrads von Weißensee auf. Zudem gibt er an, Conrad hätte einer reichen und vornehmen Familie entstammt 78 , wofür sich in den beiden frühesten Berichten keine Hinweise finden. Das wohl umfangreichste Zeugnis für die Rezeption der Ereignisse von Weißensee ist eine Druckschrift, die bei Schöttgen und Kreysig abgedruckt ist. Nach der dortigen Beschreibung handelte es sich um einen Druck auf einem Quart-Bogen, welcher, wie die Herausgeber vermuten, „eine ziemliche Zeit vor der Reformation" entstanden sein muss 79 . Dies sagt jedoch nichts über den Zeitpunkt der Abfassung des Textes aus. Der Druck könnte durchaus auf einer älteren handschriftlichen Vorlage beruhen 80 . Eine genauere zeitliche Einordnung ist daher nur schwer möglich. Am Beginn der Druckschrift findet sich ein Holzschnitt mit einer Darstellung Conrads, am Ende das Wappen von Weißensee 81 . Der Holzschnitt zeigt einen Jugendlichen zwischen zwei aus Zweigen sich bildenden ornamentalen Säulen. Conrad wird mit halblangen, gewellten Haaren dargestellt. Er trägt eine weiße, von einem Strick zusammengehaltene Kutte. Nicht deutlich zu erkennen ist, ob er das Gewand leicht öffnet, um eine Wunde auf der Brust zu zeigen. Den Kopf umgibt ein Strahlenkranz. Zu beiden Seiten der Figur stehen die Worte Sankt Conradt. Ein Wappen links unten zeigt auf der linken Seite drei Sterne, auf der rechten Seite einen Frauenkopf und in der Mitte

75

SCHÖTTGEN / KREYSIG, D i p l o m a t i s c h e N a c h l e s e ( w i e A n m . 3) S. 5 9 6 .

76 Simile quiddam legitur de puero Bacheracensi & Tridentino; FABRICIUS, Rerum Misnicarum (wie Anm. 58) S. 123. 77 LOTTER, Innocens virgo (wie Anm. 20) S. 67-69; BATTENBERG, Ritualmordprozesse (wie Anm. 24) 102; vgl. die Arbeit von TREUE, Trienter Judenprozeß (wie Anm. 2) bes. S. 38 und 282 sowie generell Kapitel VI. zum Kult Simons von Trient. 78 eines fuernehmen reichen Mannes Sohn von Weissensee / Conrad Bacherers getoedtet. Dem Abdruck von Friedrichs Mandat folgt, ebenso wie bei FABRICIUS, ohne Absatz die oben erwähnte Anmerkung zu den vermeintlichen Ritualmorden in Bacharach und Trient; PECKENSTEIN, Theatrum Saxonicum (wie Anm. 58) S. 145 f. 79

SCHÖTTGEN / KREYSIG, D i p l o m a t i s c h e N a c h l e s e ( w i e A n m . 3) S. 6 0 0 .

80 Eine „mittelalterliche Passio des Konrad von Weißensee" in der Universitätsbibliothek Erlangen erwähnt TREUE, Trienter Judenprozeß (wie Anm. 2) S. 282 Anm. 98. Genauere Angaben fehlen. Es ist immerhin denkbar, dass es sich hier um eine Vorlage der bei SCHÖTTGEN / KREYSIG w i e d e r g e g e b e n e n D r u c k s c h r i f t h a n d e l t . 81

SCHÖTTGEN / KREYSIG, D i p l o m a t i s c h e N a c h l e s e ( w i e A n m . 3 ) S. 6 0 0 .

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wohl ein Band mit Blüten darauf. Rechts unten befindet sich ein weiteres Wappen mit sechs schräg verlaufenden Wellenlinien82. Die in der Druckschrift wiedergegebene legende des Seligen und guten Conradts zu Weissense begraben soll der Ererbitunge und lobes des Seligen merterers, des guten Conradts dienen83. Sie beginnt mit einer Beschreibung von Conrads Persönlichkeit, seiner Demut, Keuschheit und Gelehrsamkeit. Berichtet wird weiter, dass eine Jüdin mit Namen Sarah, die Frau Abrahams, Conrad mit freundlichen Worten und mütterlicher Liebe an sich zog und dass Conrad oft mit den jüdischen Kindern spielte, da ihm das sündige Verhalten der christlichen Kinder nicht behagte. Die ältesten und vornehmsten Juden beschlossen jedoch Conrads baldigen Tod. Daraufhin wurde er gefangen genommen und in einen Keller gefuhrt, wo ihm an vielen Stellen seines Körpers die Adern geöffnet und sein Blut herausgepresst wurde. Anschließend wurde er erstickt und seine Wunden mit Mehl bestrichen, um sie zu verbergen. Da den Juden bewusst war, dass ihnen für diese Tat der Tod drohte, wollten sie sich des Leichnams entledigen. Ein christlicher Fuhrmann wurde bestochen, der, begleitet von zwei Juden, den Toten nach Frankenhausen bringen sollte. Gottes Wille verhinderte aber, dass sie Frankenhausen erreichten. Als sie daraufhin mehrfach versuchten, den Leichnam andernorts zu begraben oder ins Wasser zu werfen, wurde dieser so schwer, dass er nicht bewegt werden konnte. Erst gegen Morgen gelang es ihnen, den Toten in einem Weinberg des Grafen von Honstein, in einer Hütte an seinem eigenen Gürtel aufzuhängen. Allerdings war die Hütte so niedrig, dass Conrads Füße den Boden berührten. Schon bald kam Conrad von Fredebergk, ein Bruder des Johanniterordens, mit mehreren Arbeitern in den Weinberg. Sie entdeckten den Toten in der Hütte, der auf wundersame Weise mehrmals die Gesichtsfarbe wechselte und zwischendurch sogar ein Lachen zeigte. Nachdem Conrad von Fredebergk seinen Ordenskomtur und die städtischen Autoritäten verständigt hatte, wurde der Leichnam in einer großen Prozession, an der sich alle Bewohner der Stadt Weißensee, aber auch Leute aus der Umgebung beteiligten, nach Weißensee geholt. Dort sollte der Tote in Gegenwart Friedrichs, des Sohnes des Landgrafen, im Chorraum von St. Peter bestattet werden. Doch mitten in der Kirche ließ sich der Leichnam nicht mehr fortbewegen und zeigte somit an, dass er an dieser Stelle begraben werden wollte84.

82 Die Abbildung findet sich ebd. vor S. 501, vor dem Titelblatt zu Teil 4 des 1. Bandes. 83 Ebd. S. 600-610. 84 An dieser Stelle folgt in der Erzählung noch einmal eine Zusammenfassung des zuvor Berichteten. Da dieser Text in der Druckschrift abgesetzt gedruckt war, wird bereits ebd. S. 607, Anm. b vermutet, dass es sich nur um den Text Grabplatte handeln kann.

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Durch alle diese Wunder wurde die Tat der Juden offenbar. Diese berieten sich daraufhin und zahlten Friedrich eine Geldsumme, mit der sie ihre Bestrafung abwenden wollten. Friedrich ließ tatsächlich, entgegen der Anweisung seines Vaters, von einer Bestrafung ab. Daraufhin erkrankte er jedoch schwer und wurde erst wieder gesund, nachdem er Gott und dem seligen Conrad gelobt hatte, nicht nur die Juden in Weißensee, sondern auch die in ganz Thüringen, Meißen und den Osterlanden auf dem Scheiterhaufen hinrichten zu lassen. Wieder genesen, führte er dieses Versprechen auch alsbald aus. Abschließend bemerkt der Verfasser der Druckschrift, dass am Grab Conrads viele Wunder an Blinden, Tauben, Lahmen, Aussätzigen und sogar Toten geschehen seien. Viele dieser Wunderzeichen seien von Fürsten, Grafen und Geistlichen schriftlich bestätigt worden. Doch wären diese Briefe alle bei einem Brand, der 1331 die halbe Stadt vernichtete, mit weiteren Wertsachen und einem versiegeltem Fürstenbrief verloren gegangen. Auch diese Druckschrift scheint vor allem den Zweck zu verfolgen, die Heiligkeit Conrads zu betonen. Diese äußert sich dem Bericht zufolge sogar in seinem Kontakt zu Juden, da dieser aus Conrads Missbilligung des sündigen Verhaltens der christlichen Kinder herrührte. Ein häufiger in Ritualmordlegenden vorkommendes Motiv ist, dass es die vornehmsten Juden waren, die das tödliche Ritual anordneten 85 . Auch sonst berichtet die Druckschrift im Unterschied zu den anderen Darstellungen viel ausfuhrlicher über die Juden. Die Angabe Siegfrieds von Ballhausen, die Juden hätten vergeblich versucht, den Leichnam andernorts zu begraben, wird in der Druckschrift ausgeschmückt und genauer begründet. Der Verdacht des Selbstmords entfällt hingegen, da die Füße des aufgehängten Leichnams den Boden berühren. Darüber hinaus werden Wunder erwähnt, die sich selbst in der Schilderung Siegfrieds von Ballhausen nicht finden: Schon bei seiner Auffindung im Weinberg zeigen sich erste Wunder an dem Toten, weshalb er mit einer großen Prozession nach Weißensee überführt wird. Ein weiteres Wunder ereignet sich während der Beisetzung in der Kirche. Auffällig ist die Erwähnung der mit Mehl bestrichenen Wunden, von denen auch das Mandat Friedrichs berichtet. Friedrich wiederum tritt in der Druckschrift bereits während der Beisetzung des Toten in Erscheinung. Friedrichs Krankheit und wunderbare Genesung wird als weiteres Zeichen Gottes angeführt. Zugleich liefert diese Episode auch eine Begründung dafür, weshalb alle Juden in Thüringen, Meißen und den Osterlanden hingerichtet wurden, obgleich nur die Juden von Weißensee schuldig waren. Die angeblich zuvor erfolgte Zahlung einer Geldsumme durch die Juden von

85

V g l . SCHROUBEK, Tradierung ( w i e A n m . 19) S. 19.

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Weißensee erinnert an die tatsächlich aufgebrachte Abstandszahlung der Erfurter Juden. Zum Abschluss verweist der Autor der Druckschrift auf die Wunder am Grab Conrads und auf diesbezügliche Bestätigungsbriefe, insbesondere einen versiegelten Fürstenbrief. Äußerst fragwürdig erscheint die Angabe, dass alle diese Briefe bei einem größeren Stadtbrand im Jahr 1331 vernichtet worden sein sollen, denn ein solcher Stadtbrand ist nirgends bezeugt86. Der Verfasser der Schrift war offenbar daran interessiert, die Glaubwürdigkeit der Wunder und damit Conrads Heiligkeit hervorzuheben, obwohl es keine entsprechenden Briefe (mehr) gab. Möglich ist einerseits, dass entsprechende Briefe und Niederschriften tatsächlich bei einem Brand vernichtet wurden, der jedoch nicht die halbe Stadt erfasste und deshalb nicht überliefert ist, andererseits könnte es derartige Dokumente auch niemals gegeben haben. Zumindest der in der Druckschrift erwähnte Fürstenbrief könnte aber existiert haben und vielleicht sogar mit dem bei Fabricius abgedruckten Mandat identisch sein87. In diesem Fall könnte der Fürstenbrief mehrfach ausgestellt worden und das in Weißensee aufbewahrte Exemplar tatsächlich verloren gegangen sein. Dem Autor der Druckschrift wäre dann zwar die Existenz des zu seiner Zeit schon verlorenen Briefes bekannt gewesen, nicht aber, dass es weitere Ausfertigungen davon gab. Einen Hinweis auf den Verfasser der Druckschrift liefert vielleicht die mehrfache Erwähnung des Johanniterbruders Conrad von Fredebergk, der als erster die Nachricht von dem toten Kind und den Wundern verbreitet. Die Schrift könnte daher einem Angehörigen des Johanniterordens zuzuschreiben sein88. Der Orden war seit Beginn des 13. Jahrhunderts in Weißensee ansässig89 und hatte seine Kommende gegenüber der Kirche St. Peter90, in der 86 Bereits SCHÖTTGEN / KREYSIG, Diplomatische Nachlese (wie Anm. 3) S. 609, Anm. c verweisen auf fehlende Nachrichten zu einem Stadtbrand 1331. Angaben hierzu finden sich weder in der neueren, auf zahlreichen Quellen beruhenden Geschichte der Stadt Weißensee (wie Anm. 62), noch bei F. D. von HAGK.E, Urkundliche Nachrichten über die Städte, Dörfer und Güter des Kreises Weißensee. Beitrag zu einem Codex Thuringiae Diplomaticus (1867). 87 Dies wird bei SCHÖTTGEN / KREYSIG (wie Anm. 3) vermutet, die jedoch der Ansicht sind, dass dieses Mandat vielleicht vom Autor der Druckschrift gefälscht wurde. Doch warum sollte ein und dieselbe Person einen solchen Brief falschen und zugleich in der Schrift behaupten, dieser Brief existiere nicht mehr? 88 Zumindest für den Ordensstaat der Johanniter auf Rhodos lässt sich bis etwa 1500 eine positive Einstellung gegenüber Juden feststellen; Berthold WALDSTEIN-WARTENBERG, Die Vasallen Christi. Kulturgeschichte des Johanniterordens im Mittelalter (1988) S. 49. Die Verhältnisse auf Rhodos sagen allerdings nur wenig über die Verhältnisse in anderen Regionen aus. 89 1234 wird dem Kloster Walkenried gestattet, vor bestimmten Feiertagen in den Seen von Weißsensee zu fischen. In der Zeugenliste findet sich ein Konrad, Meister des Johanniterhofs zu Weißensee; Urkunden der Markgraf von Meißen und Landgrafen von Thüringen 1196-1234, hg. von Otto POSSE (Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae I A III, 1898) Nr.

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Conrad begraben wurde. Möglicherweise kam St. Peter später sogar an den Johanniterkonvent 91 . Ganz gleich, ob der Verfasser ein Angehöriger des Johanniterordens war oder nicht, die Druckschrift ist dennoch ein Indiz dafür, dass es Ansätze zu einem Heiligenkult um Conrad gegeben hat oder zumindest den Versuch, Conrad als Heiligen zu inszenieren. Hierzu kam es im deutschen Raum nur selten. Conrad von Weißensee gehörte zu den wenigen Fällen, in denen nach einem vermeintlichen Ritualmord ein Heiligenkult zumindest ansatzweise nachzuweisen ist92.

Das Ritualmordmotiv im Meißner Rechtsbuch Zwischen 1357 und 1387 entstand, möglicherweise in Zwickau, das sogenannte Meißner Rechtsbuch, auch Rechtsbuch nach Distinktionen genannt. Dieses war nicht nur in Mitteldeutschland, sondern auch in den benachbarten Regionen weit verbreitet 93 . Aufgrund der Vielzahl von Bestimmungen zum Judenrecht, aber auch aufgrund seiner überwiegend positiven Grundhaltung gegenüber Juden nimmt es unter den mittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern eine Sonderstellung ein. Umso erstaunlicher scheint es, dass das Meißner Rechtsbuch zu den wenigen Rechtssammlungen gehört, in denen das Ritualmordmotiv überhaupt zu finden ist94. Aus diesem Grund soll die entsprechende Distinktion 43 genauer betrachtet werden, auch wenn eine weiterführende Diskussion der rechtlichen Bestimmungen zum Nachweis von Straftaten bzw. zum Strafmaß bei Mord unterbleiben muss 95 .

90 91 92 93

523, S. 367; Regesta Diplomatica necnon epistolaria Historiae Thuringiae 3 (1228-1266), hg. von Otto DOBENECKER (1925) Nr. 447, S. 84 und Anm. 3. Geschichte der Stadt Weißensee (wie Anm. 62) S. 164; MÜLLER, Landgräfliche Städte (wie Anm. 54) S. 53. Für 1506 vermutet Christine MÜLLER, dass die Kirche dem Konvent inkorporiert war, MÜLLER, Landgräfliche Städte (wie Anm. 54) S. 57. TREUE kann hierfür nur wenige Beispiele nennen; TREUE, Trienter Judenprozeß (wie Anm. 2) S. 38, S. 282 und Anm. 98. Meißner Rechtsbuch = Das Rechtsbuch nach Distinctionen nebst einem Eisenachischen Rechtsbuch, hg. von Friedrich ORTLOFF (Sammlung Deutscher Rechtsquellen 1, 1826), S. XXXVIII-XL, XLIII; vgl. Christine MAGIN, „Wie es umb der iuden recht stet". Der Status der Juden in spätmittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern (1999) S. 77 f.; Ulrich-Dieter OPPITZ, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters 1. Beschreibung der Rechtsbücher (1990) S. 56.

94 MAGIN, Status der Juden (wie Anm. 93) S. 82, 89, 401. 95 Den Bestimmungen des Meißner Rechtsbuchs zufolge soll ein Christ einen Juden in allen Sachen nur mit zwei Juden und einem Christen als Zeugen überführen können, ein Jude einen Christen nur mit zwei Christen und einem Juden als Zeugen. Christen sollen für wörtliche und tätliche Angriffe gegen Juden so bestraft werden als hätten sie sich an Christen

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Schon Distinktion 41 greift die Thematik des Ritualmords indirekt auf. Hier wird festgelegt, dass Gerichtsverhandlungen gegen Juden nur vor oder in deren Synagoge geführt werden dürfen. Ausnahmen sind Diebstahl, Notzucht an christlichen Frauen oder die Entführung christlicher Kinder96. In Distinktion 43 wird dann die Entführung christlicher Kinder gesondert behandelt. Wenn ein Kind in warhafter tad entfuhrt wird, so sind die Bewohner und das Gesinde des Hauses, in welchem das Kind tot aufgefunden wird, haftbar zu machen. In den verschiedenen Überlieferungen des Rechtsbuchs ist dieser Artikel unterschiedlich formuliert. Auf die Vorstellung von Ritualmorden verweist am deutlichsten der Zusatz das sy sin blut wolden nuczen91. Die Täter werden in den verschiedenen Handschriften entweder kollektiv als iodden oder einzeln als ein iude ader eine iudinne bezeichnet. Teilweise wird gefordert, dass vor einer Bestrafung Richter und Schöffen über die Tat in Kenntnis gesetzt werden sollen. Die Varianten der verschiedenen Handschriften zeugen von den unterschiedlichen Auffassungen der Rezipienten oder von besonderen lokalen Rechtstraditionen 98 . Es zeigt sich, dass Distinktion 43 Juden vor ungerechtfertigten Ritualmordbeschuldigungen zu schützen sucht. Dies ist auch in den wenigen anderen Rechtsammlungen des Spätmittelalters, welche dieses Thema aufgreifen, die Regel. Hierzu gehört beispielsweise das Judenprivileg des schlesischen Herzogs Bolko II. von Schweidnitz-Jauer aus dem Jahr 132899, das dem Kompilator des Meißner Rechtsbuchs häufig als Vorlage diente 100 . Schon allein die Forderung im Meißner Rechtsbuch, der Mord müsse „in wahrhafter Tat" geschehen sein, rechnet mit der Möglichkeit ungerechtfertigter Beschuldigungen. Als Beweis wird nur anerkannt, dass das Kind tot im vergangen. Juden hingegen sollen für ihre Vergehen wie Christen bestraft werden; Meißner Rechtsbuch (wie Anm. 93) Buch 3, c. 17, Dist. 20, 31-33, 38-39, S. 172, 175 f. Zu den Bestimmungen anderer Rechtsordnungen siehe die Untersuchung von Christine MAGIN (wie Anm. 93). 96 Meißner Rechtsbuch (wie Anm. 93) 3.17.41, S. 176. 97 Ebd. 3. 17. 43, S. 176: Geschege auch eyn geschickte, daz iodden eyme cristen sine kint nemen, durch das sy sin blut wolden nuczen, unde das in warhafter tad abirquemen, in wes gewer man dy tod funde, des hus sted mit alíeme gesinde zcu libe unde zcu gute. - Die Phrase durch das sy sin blut wolden nuczen ist ein Zusatz einer anderen Handschrift; vgl. ebd. Anm. S. 484 sowie MAGIN, Status der Juden (wie Anm. 93) S. 84. 98 Meißner Rechtsbuch (wie Anm. 93) Anm. S. 484; MAGIN, Status der Juden (wie Anm. 93) S. 83 f. und Anm. 185 f. 99 MAGIN, Status der Juden (wie Anm. 93) S. 82, 85. 100 Ebd. S. 79, vgl. S. 85f. den im schlesischen Privileg von 1328 enthaltenen Artikel zur Beschuldigung des Ritualmords. Dieser diente dem Autor des Meißner Rechtsbuchs jedoch nicht als unmittelbare Vorlage. Im schlesischen Privileg wird festgelegt, dass ein Jude, der der Tötung eines christlichen Jungen beschuldigt wird, durch jeweils drei christliche und jüdische Zeugen überführt werden müsse. Nur dann dürfe er mit der gebührenden Strafe belegt werden. Sollten die Zeugen jedoch seine Unschuld bestätigen, müsse der Christ, der ihn verleumdet habe, eben jene Strafe erleiden.

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Haus eines Juden gefunden wird. Die Strafe erstreckt sich nur auf die Bewohner dieses Haushalts, nicht aber auf die gesamte jüdische Siedlung, worauf auch die gelegentliche Erwähnung von Einzeltätern zielt. Indem Richter und Schöffen von der Tat Kenntnis nehmen sollen, wird offensichtlich die Durchfuhrung eines gerichtlichen Verfahrens verlangt. Damit wurde ein Schutz vor spontanen Pogromen erreicht 101 . Wie anders gestalteten sich indes die Ereignisse in Weißensee 1303: Der Leichnam Conrads wurde nicht im Haus eines Juden gefunden, sondern sogar außerhalb der Stadt. Alle Juden in der Stadt wurden haftbar gemacht und getötet - selbst Durchreisende und Juden in benachbarten Orten wurden umgebracht. Der 50-80 Jahre später verfassten Distinktion des Meißner Rechtsbuchs zufolge hätte die Verfolgung der Juden von Weißensee, Gotha, Kölleda und Tennstedt gar nicht stattfinden dürfen.

Resümee und Ausblick Die Ritualmordanklage gegen die Juden von Weißensee war kein singuläres Ereignis. Derartige Anschuldigungen gab es damals schon seit 150 Jahren und sollte es auch noch bis ins 20. Jahrhundert geben. Trotz der spärlichen Nachrichten ist einiges über die Vorgänge in Weißensee bekannt: Ein toter Junge wird entdeckt, die Juden der Stadt werden für den Tod verantwortlich gemacht und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Über einhundert Menschen kommen dabei ums Leben. Zudem springt die Verfolgung auf drei benachbarte Orte über. Das Ausmaß der Verfolgung in Weißensee sowie die Tatsache, dass auch zwei Durchreisende getötet wurden, sprechen für eine rasche Abfolge der Ereignisse und das Fehlen eines längeren Prozesses. Der Ritualmord erschien den Einwohnern von Weißensee vielleicht als einzige denkbare Erklärung für den Tod Conrads. Nach möglichen Einzeltätern wurde nicht gefragt, der aufflammende Hass traf alle Juden. Aufgrund des mutmaßlich schnellen Handlungsablaufs ist auch fraglich, ob Friedrich der Freidige tatsächlich bei der Hinrichtung anwesend war und sie verantwortet haben kann. Zwar nimmt Friedrich in einem Mandat auf die Ereignisse in Weißensee Bezug, er äußert sich hier aber nur zu den vermeintlichen Wundern, die angeblichen jüdischen Täter erwähnt er mit keinem Wort. Auch wenn das Original dieses Mandats unauffindbar und die Edition bei Fabricius nur unzureichend ist, so ist es doch ein Zeugnis für die Anfange eines Heiligenkultes. Hiermit sollen die Heiligkeit Conrads und die von ihm bewirkten Wunder bestätigt und öffentlich bekannt gemacht werden. Während in den Berichten der Chronik des Erfurter Petersklosters und

101

Vgl. ebd. S. 84.

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Siegfrieds von Ballhausen die erwähnten Wunder vor allem dazu dienen, das Martyrium des Toten und damit die Täter aufzuzeigen, wird über letztere im Mandat Friedrichs nichts gesagt. Eine ähnliche Absicht wie Friedrichs Mandat verfolgt wohl die Druckschrift, welche ebenfalls unbekannter Herkunft und zudem nicht einmal datierbar ist. Auch sie dient vor allem der Propagierung von Conrads Heiligkeit und der in Weißensee geschehenen Wunder. Kontrastiert wird dies durch die Schilderung Johannes Rothes, der die Ereignisse zwar durchaus für beachtenswert hielt und sie auch entsprechend ausschmückte, die Wunder und die daraus abgeleitete Heiligkeit Conrads jedoch außen vor ließ. Wie präsent der angebliche Ritualmord an Conrad von Weißensee noch im 16. Jahrhundert war, zeigt dessen Erwähnung bei Luther. Nach 1303 entstanden in Gotha, Weißensee und Tennstedt neue Siedlungen, die 1349 von den Pestpogromen betroffen waren102. Auch nach 1349 siedelten sich hier wieder Juden an103. Für Kölleda dagegen lässt sich lediglich nachweisen, dass hier kurz vor 1430 eine jüdische Familie ansässig war104. Im Jahr 1436 wies Landgraf Friedrich der Friedfertige alle Juden aus der Landgrafschaft Thüringen aus,105 und in die 1440er Jahre fällt wohl die allmähliche Ausweisung oder Abwanderung der Juden aus der Markgrafschaft Meißen106.

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Chronica St. Petri. Continuatio II (wie Anm. 41) S. 470; Gotha wird auch im Nürnberger Memorbuch genannt; SALFELD, Martyrologium (wie Anm. 17) S. 70, 255. 103 Vgl. die entsprechenden Ortsartikel in der Germania Judaica 3, 1 (wie Anm. 28) S. 457460; 3,2, S. 1454 f., 1579 f. 104 Der aus Jena stammende Jude Josef lebte zeitweise in Kölleda und zog dann nach Erfurt. Dies geht aus einem vor dem 25. März 1430 verfassten Brief des Erfurter Rats an den Grafen von Beichlingen hervor; Erfurt, Stadtarchiv, 1-1 XXI l a l a , 1, S. 106 Nr. 468 und S. 108 Nr. 475; vgl. Ernst DEVRIENT, Urkundenbuch der Stadt Jena und ihrer geistlichen Anstalten 2, 1406-1525 (Thüringische Geschichtsquellen 6, N.F. 3, 3, 1903), S. 85 Nr. 177. 105 Dies begründete Friedrich in einer Mitteilung vom 2. Juni 1436 an die Städte Erfurt, Nordhausen und Mühlhausen vor allem mit den wirtschaftlich schlechten Zeiten. Vom 4. Juni ist aus Gotha ein Urfehdebrief der dortigen Juden anlässlich ihrer Ausweisung bekannt; Weimar, Stadtarchiv, Ernestinisches Gesamtarchiv, Copialbuch F 2, Bl. 78; Nordhausen, Stadtarchiv, I, R. 31; Gotha, Stadtarchiv, Geheimes Archiv; QQ Ic Nr. 14 (20); vgl. Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer 1. Eine Bestandsübersicht hg. von Stefi JERSCH-WENZEL und Reinhard RÜRUP (1996) S. 355 Nr. 4808; S. 515 Nr. 7747; 4: Staatliche Archive der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen, München u. a. (1999) S. 526 Nr. 9193. 106

Für eine ausführliche Analyse der entsprechenden Quellen siehe künftig meine Dissertation (wie Anm. 4). In Germania Judaica 3, 3 (wie Anm. 28) S. 2068, wird Kurfürst Friedrich II. mit Landgraf Friedrich verwechselt und entsprechend die in der obigen Anm. genannte Ausweisung von 1436 fälschlicherweise auf die Markgrafschaft Meißen bezogen. Problematisch sind auch die Angaben zu Ausweisungen aus einzelnen Orten, da sie sich oft auf Ausweisungsdekrete der Landesherren, nicht aber auf die viel früher datierenden letzten bekannten Nachrichten zu Juden beziehen.

Verzeichnis der Publikationen von Matthias Werner

Monographien (1.) Die Gründungstradition des Erfurter Petersklosters (Vorträge und Forschungen, Sonderband 12), Sigmaringen 1973. (2.) Der Lütticher Raum in frühkarolingischer Zeit. Untersuchungen zur Geschichte einer karolingischen Stammlandschaft (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 62), Göttingen 1980. (3.) Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger. Die Verwandtschaft Irminas von Oeren und Adelas von Pfalzel. Personengeschichtliche Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Führungsschicht im Maas-Mosel-Gebiet (Vorträge und Forschungen, Sonderband 28), Sigmaringen 1982.

Herausgeberschaften (4.) [zusammen mit Carl GRAEPLER und Fred SCHWIND:] Sankt Elisabeth. Fürstin - Dienerin - Heilige. Aufsätze - Dokumentation - Katalog, hg. von der Philipps-Universität Marburg in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Sigmaringen 1981. (5.) Identität und Geschichte (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1), Weimar 1997. (6.) [zusammen mit Peter JOHANEK. und Ernst SCHUBERT:] Ausgewählte Aufsätze von Hans Patze (Vorträge und Forschungen 50), Stuttgart 2002. (7.) Heinrich Raspe - Landgraf von Thüringen und römischer König (1227-1247). Fürsten, König und Reich in spätstaufischer Zeit (Jenaer Beiträge zur Geschichte 3), Frankfurt (Main)/Berlin/Bern [u.a.] 2003. (8.) „in loco nuncupante Arnestati". Die Ersterwähnung Arnstadts im Jahre 704, hg. von der Historischen Kommission für Thüringen und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Wechmar 2004. (9.) [zusammen mit Volker LEPPIN:] Inmitten der Stadt. St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, Petersberg 2004.

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(10.) [zusammen mit Klaus KRÜGER und Stephan FREUND:] Von der Veränderbarkeit der Welt. Ausgewählte Aufsätze von Helmut G. Walther. Festgabe zu seinem 60. Geburtstag, Frankfurt (Main)/Bern/Berlin [u.a.] 2004. (11.) Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland (Vorträge und Forschungen 61), Ostfildern 2005. (12.) Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 13), Köln/Weimar/Wien 2005. (13.) [unter Mitarbeit von Nici GORFF und Ingrid WÜRTH:] Romanische Wege um Arnstadt und Gotha. Ein Gemeinschaftsprojekt der Jugendstrafanstalt Ichtershausen und der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Weimar 2007. (14.) [zusammen mit Dieter BLUME unter Mitarbeit von Uwe JOHN und Helge WITTMANN:] Elisabeth von Thüringen - eine europäische Heilige. Begleitpublikation zur 3. Thüringer Landesausstellung auf der Wartburg/Eisenach. Band 1: Aufsätze, Band 2: Katalog, Petersberg 2007. (15.) [zusammen mit Ingrid WÜRTH]: Elisabeth von Thüringen. Die frühesten Schriftzeugnisse zu ihrem Leben und Wirken mit deutscher Übersetzung, Petersberg 2007, in Vorbereitung. (16.) [zusammen mit Dieter BLUME:] Mönche auf dem Petersberg. Geschichte und Kunst des Erfurter Petersklosters 1 1 0 3 - 1 8 0 3 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 19), in Vorbereitung.

Aufsätze (17.) [zusammen mit Michael GOCKEL:] Die Urkunde des Beatus von Hönau von 778, in: Die Wüstung Hausen, hg. von Waldemar KÜTHER (Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins NF 56), Gießen 1971, S. 137-167. (18.) [zusammen mit Michael GOCKEL:] Hausen im 8. Jahrhundert, in: Die Wüstung Hausen, hg. von Waldemar KÜTHER (Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins NF 56), Gießen 1971, S. 167-173. (19.) Zu den Anfangen des Klosters St. Irminen-Oeren in Trier, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 42 (1978), S. 1-51.

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(20.) Zur Verwandtschaft des Bischofs Modoald von Trier, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 4 (1978), S. 1-35. (21.) Die Heilige Elisabeth und die Anfänge des Deutschen Ordens in Marburg, in: Marburger Geschichte. Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen, hg. namens des Magistrats der Stadt Marburg von Erhart DETTMERING und Rudolf GRENZ, Marburg 1979, S. 121-164. (22.) Die heilige Elisabeth und Konrad von Marburg, in: Sankt Elisabeth. Fürstin - Dienerin - Heilige. Aufsätze - Dokumentation - Katalog, hg. von der Philipps-Universität Marburg in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Sigmaringen 1981, S. 45-69. (23.) Iren und Angelsachsen in Mitteldeutschland. Zur vorbonifatianischen Mission in Hessen und Thüringen, in: Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, 2 Bde. hg. von Heinz LÖWE (Veröffentlichungen des Europa-Zentrums Tübingen, Kulturwissenschaftliche Reihe), Stuttgart 1982, Band 1, S. 2 3 9 - 3 1 8 .

(24.) Zur Rolle des fränkischen Adels bei der Stiftung von Kirchen und Klöstern im mittleren Maasgebiet, in: Sint-Servatius, bisschop van Tongeren-Maastricht. Het vroegste Christendom in het Maasland, Tagungsband, BorgloonRijkel 1986, S. 97-124. (25.) Die Elisabeth-Vita cher Hagiographie, späten Mittelalter, Sigmaringen 1987,

des Dietrich von Apolda als Beispiel spätmittelalterliin: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hg. von Hans PATZE (Vorträge und Forschungen 3 1 ) , S. 523-541.

(26.) Wege der Reform und Wege der Forschung. Eine Zwischenbilanz, in: Monastische Reformen im 9 . und 1 0 . Jahrhundert, hg. von Raimund KOTTJE und Helmut M A U R E R (Vorträge und Forschungen 3 8 ) , Sigmaringen 1 9 8 9 , S. 2 4 7 - 2 6 9 .

(27.) Kaiserin Theophanu, in: Alt-Köln 80 (1991), S. 8-18. (28.) Der Herzog von Lothringen in salischer Zeit, in: Die Salier und das Reich, Bd. 1: Salier, Adel und Reichsverfassung, hg. von Stefan WEINFURTER unter Mitarbeit von Helmuth KLUGER, Sigmaringen 1992, S. 367-473. (29.) Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen, in: Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, hg. von Michael GOCKEL, Marburg/Lahn 1992, S. 81-137.

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PUBLIKATIONEN VON MATTHIAS WERNER

(30.) Die heilige Elisabeth in Thüringen (novum Castrum. Schriftenreihe zur Rettung und Erhaltung der Neuenburg e. V., Heft 1), Freyburg/Unstrut 1992 (2., unveränderte Aufl. 2000). (31.) Prälatenschulden und hohe Politik im 13. Jahrhundert. Die Verschuldung der Kölner Erzbischöfe bei italienischen Bankiers und ihre politischen Implikationen, in: Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag, hg. von Hanna VOLLRATH u n d S t e f a n W E I N F U R T E R , K ö l n 1 9 9 3 , S . 5 1 1 - 5 7 0 .

(32.) Mater Hassiae - Flos Ungariae - Gloria Teutoniae. Politik und Heiligenverehrung im Nachleben der hl. Elisabeth von Thüringen, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. von Jürgen PETERSOHN (Vorträge und Forschungen, 42), Sigmaringen 1994, S. 449-540. (33.) Johannes Kapistran in Jena, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, hg. von Johannes HELMRATH und Heribert MÜLLER, München 1994, S. 505-520. (34.) Stationen Jenaer Geschichtswissenschaft, in: Identität und Geschichte, hg. von Matthias WERNER (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1), Weimar 1997, S. 9-26. (35.) „Ich bin ein Durenc". Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Identität und Geschichte, hg. von Matthias WERNER (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1), Weimar 1997, S. 79-104. (36.) Neustadt, Orlagau und Thüringen im 12./13. Jahrhundert. Die hochmittelalterlichen Rahmenbedingungen der Anfänge von Neustadt an der Orla, in: Neustadt an der Orla. Vom Ursprung und Werden einer Stadt, hg. von Werner GREILING (Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur 1), Rudolstadt/Jena 1997, S. 15-77. (37.) Landesherr und Franziskanerorden im spätmittelalterlichen Thüringen, in: Könige, Landesherren und Bettelorden. Konflikt und Kooperation in Westund Mitteleuropa bis zur frühen Neuzeit, hg. von Dieter BERG (Saxonia Franciscana 10), Werl 1998, S. 331-360. (38.) Thüringen und die Thüringer zwischen Völkerwanderungszeit und Reformation. Die mittelalterlichen Grundlagen von Vielfalt und Einheit in der thüringischen Geschichte, in: Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen. Texte einer Vortragsreihe zu den Grundzügen thüringischer Geschichte, hg. vom Thüringer Landtag und der Historischen Kommission für Thüringen, Erfurt 1999, S. 11-42.

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(39.) Die Ersterwähnung Pößnecks als Stadt am 13. Juli 1324. Überlegungen zu den städtischen Anfangen von Pößneck, in: Pößnecker Heimatblätter, Sonderheft „650 Jahre Pößneck" (1999), S. 3-27. (40.) Marburg und der Glaube im Mittelalter, in: Hessen. Geschichte und Politik, hg. von Bernd HEIDENREICH und Klaus BÖHME (Schriften zur politischen Landeskunde Hessens 5), Stuttgart [u.a.] 2000, S. 109-120. (41.) Reichsfürst zwischen Mainz und Meißen. Heinrich Raspe als Landgraf von Thüringen und Herr von Hessen, in: Heinrich Raspe - Landgraf von Thüringen und römischer König (1227-1247). Fürsten, König und Reich in spätstaufischer Zeit, hg. von Matthias WERNER (Jenaer Beiträge zur Geschichte 3), Frankfurt (Main) / Berlin / Bern [u.a.] 2003, S. 125-271. (42.) Elisabeth von Thüringen - eine europäische Heilige des 13. Jahrhunderts, in: Sbornik Katolické teologické fakulty, Univerzity Karlovy; sv. 6; hg. von Mlada MIKULICOVÀ und Petr KUBÌN, Praha 2004, S. 297-319. (43.) Die Ersterwähnung Arnstadts 704 im „Liber aureus" des Klosters Echternach. Arnstadt, Herzog Heden und die Anfange angelsächsischen Wirkens in Thüringen, in: „in loco nuncupante Arnestati". Die Ersterwähnung Arnstadts im Jahre 704, hg. von der Historischen Kommission für Thüringen und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Wechmar 2004, S. 923. (44.) Perspektiven einer thüringischen Landesgeschichte im Europa der Regionen, in: Thüringen - Land der Residenzen. 2. Thüringer Landesausstellung, Essays, hg. von Konrad SCHEURMANN und Jördis FRANK, Mainz 2 0 0 4 , S. 13-33. (45.) Gab es ein klösterliches Leben auf dem Erfurter Petersberg schon im Frühmittelalter?, in: 700 Jahre Erfurter Peterskloster. Geschichte und Kunst auf dem Erfurter Petersberg 1103-1803 (Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten 2003), Regensburg 2004, S. 44-53. (46.) Die Anfange der Stadt Jena und die Stadtkirche St. Michael, in: Inmitten der Stadt. St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, hg. von Volker LEPPIN und Matthias WERNER, Petersberg 2 0 0 4 , S. 9 - 6 0 . (47.) „Zur Ehre Sachsens". Geschichte, Stand und Perspektiven des Codex diplomaticus Saxoniae, in: Diplomatische Forschungen in Mitteldeutschland, hg. von Tom GRABER (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 12), Leipzig 2005, S. 261-301.

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(48.) Zur Einfuhrung, in: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland, hg. von Matthias WERNER (Vorträge und Forschungen 61), Ostfildern 2 0 0 5 , S. 7 - 1 5 .

(49.) Thüringen im Mittelalter. Ergebnisse - Aufgaben - Perspektiven, in: Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen, hg. von Matthias WERNER (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 13), Köln/Weimar/ Wien 2005, S. 275-341. (50.) Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, in: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. von Peter MORAW und Rudolf SCHIEFFER (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, S. 251-364. (51.) Burg und Stadt Ranis im Mittelalter. Zur Entstehung einer kleinen Schwarzburgischen Herrschaft und Residenz im Orlagau, in: Der Orlagau im frühen und hohen Mittelalter, hg. von Peter SACHENBACHER und Hans-Jürgen BEIER (Beiträge zur Frühgeschichte und zum Mittelalter Ostthüringens 3), Langenweissbach 2007, S. 117-135. (52.) Historische Einführung. Der Raum um Arnstadt und Gotha im frühen und hohen Mittelalter, in: Romanische Wege um Arnstadt und Gotha. Ein Gemeinschaftsprojekt der Jugendstrafanstalt Ichtershausen und der FriedrichSchiller-Universität Jena, hg. von Matthias WERNER unter Mitarbeit von Nici GORFF und Ingrid WÜRTH, Weimar 2007, S. 18-58. (53.) Elisabeth von Thüringen, Franziskus von Assisi und Konrad von Marburg, in: Elisabeth von Thüringen - eine europäische Heilige. Begleitpublikation zur 3. Thüringer Landesausstellung auf der Wartburg/Eisenach, 2 Bde., hg. von Dieter BLUME und Matthias WERNER unter Mitarbeit von Uwe JOHN und Helge WITTMANN, Petersberg 2007, Band 1, S. 109-135.

Beiträge in Katalogen, Lexika und Handbüchern (54.) Chevremont, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 4 (1981), S. 436-439. (55.-84.) Katalogbeiträge in: Sankt Elisabeth. Fürstin - Dienerin - Heilige. Aufsätze - Dokumentation - Katalog, hg. von der Philipps-Universität Marburg in

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Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Sigmaringen 1981: (55.) Bericht über die Überbringung Elisabeths von Ungarn nach Thüringen, Nr. 13, S. 338f. (56.) Bericht über Elisabeths Begegnung mit den Franziskanern, Nr. 52, S. 379f. (57.) Siegel Konrads von Marburg, Nr. 56, S. 391 f. (58.) Die Summa Vitae des Konrad von Marburg, Nr. 58, S. 394f. (59.) Kreuzzugsaufruf Papst Honorius' III. an Landgraf Ludwig IV., Nr. 59, S. 396. (60.) Kreuzzugsaufruf Papst Gregors IX. an Landgraf Ludwig IV., Nr. 60, S. 397f. (61.) Brief Papst Gregors IX. an Elisabeth, Nr. 70, S. 414f. (62.) Augenzeugenberichte über Elisabeths Wirken in ihrem Marburger Hospital, S. 438f. (63.) Bericht Konrads von Marburg über Elisabeths Hospitaltätigkeit, Nr. 84, S. 439. (64.) Bericht der Hospitalschwestern Elisabeth und Irmgard über die Betreuung der Kranken durch Elisabeth, Nr. 85, S. 440. (65.) Bericht über Elisabeths Küchendienste und Handarbeit, Nr. 86, S. 440441. (66.) Bericht über die große Geldverteilung, Nr. 90, S. 446. (67.) Bericht über die Wunderheilungen am Grab der Elisabeth, Nr. 92, S. 448f. (68.) Der erste Heiligsprechungsantrag für Elisabeth vom 11. August 1232, Nr. 102, S. 462f. (69). Die Einsetzung der ersten Verhörkommission durch Papst Gregor IX. und Anweisung für das Zeugen verhör, Nr. 103, S. 463-465. (70.) Der Bericht der päpstlichen Kommissare von Januar/Februar 1233, Nr. 104, S. 465f. (71.) Siegel Konrads von Marburg, Nr. 107, S. 469f. (72.) Die Einsetzung der zweiten Verhörkommission durch Papst Gregor IX., Nr. 109, S. 471 f. (73.) Der Bericht der zweiten päpstlichen Kommission, S. 472. (74.) Der Bericht über das Leben Elisabeths (sog. Libellus), Nr. 110, S. 472f. (75.) Der Bericht über die Wunder Elisabeths, Nr. 111, S. 473f. (76.) Siegel Bischof Konrads II. von Hildesheim, Nr. 112, S. 474f. (77.) Bericht über die Heiligsprechung Elisabeths, Nr. 114, S. 476-478. (78.) Bericht des Cäsarius von Heisterbach über die Erhebung der hl. Elisabeth, Nr. 132, S. 504f. (79.) Bericht aus St. Pantaleon in Köln über die Erhebung der hl. Elisabeth, Nr. 133, S. 505f.

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(80.) Der Bericht der Schäftlarner Annalen über die Erhebung der hl. Elisabeth, Nr. 134, S. 506f. (81.) Siegel der 1236 in Marburg anwesenden Erzbischöfe, S. 507f. (82.) Siegel Erzbischof Siegfrieds III. von Mainz, Nr. 135, S. 508f. (83.) Siegel Erzbischof Dietrichs II. von Trier, Nr. 136, S. 508f. (84.) Siegel Bischofs Konrads II. von Hildesheim, Nr. 139, S. 510f. (85.) Kirchliche Einteilung. Stifte und Klöster bis in das 16. Jahrhundert, in: Geschichtlicher Atlas von Hessen. Text und Erläuterungsband, hg. von Fred S C H W I N D , Marburg 1984, S. 63-70. (86.) Konrad von Marburg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon 5 (1985), Sp. 218-221. (87.-90.) Beiträge im Band 3 des Lexikons des Mittelalters (1986): (87.) (88.) (89.) (90.)

Cronica Reinhardsbrunnensis, Sp. 353f. Cronica S. Petri Erfordensis moderna, Sp. 353. Dietrich von Apolda, Sp. 1032f. Elisabeth von Thüringen, Sp. 1838-1841.

(91.) Beginen, in: Lexikon für Theologie und Kirche 2 (1994), Sp. 144f. (92.) Modoald, hl., Bischof von Trier, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 599f. (93.-94.) Beiträge im Band 7 des Lexikons des Mittelalters (1995): (93.) Reinhardsbrunn, Sp. 667f. (94.) Rothe, Johannes, Sp. 1050. (95.) Elisabeth v. Thüringen, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 (1995), Sp. 602f. (96.-101.) Beiträge im Band 8 des Lexikons des Mittelalters (1997): (96.) (97.) (98.) (99.) (100.) (101.)

Thüringen, B. Geschichte, Sp. 749-757. Vitztume von Apolda, Sp. 1782. Vögte von Weida, Gera und Plauen, Sp. 1814f. Vogtland, Sp. 1815. Wartburg, Sp. 2055f. Weißensee, Sp. 2139f.

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(102.)

Jovius (Götze), Paul: Chronicon Schwarzburgicum germanicum ab origine fere gentis illustrissimae ad annum 1630. T. 1-7, ed. Georg Christoph Kreyßig (Altenburg: Paul Emanuel Richter, 1753), in: Aus den Sammlungen der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt. Drucke, Handschriften und Autographen des 15. bis 20. Jahrhunderts, hg. von Michael SCHÜTTERLE (Schriften der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt 3), Rudolstadt 1998, S. 78f.

(103.)

Ludowinger, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, 2 Bde. hg. von Werner PARAviCLNL, bearb. von Jan HIRSCHBIEGEL und Jörg WETTLAUFER (Residenzenforschung 15/1), Ostfildern 2003, Band 1, S. 149-154.

Katalogbeiträge in: Elisabeth von Thüringen - eine europäische Heilige. Begleitpublikation zur 3. Thüringer Landesausstellung auf der Wartburg/ Eisenach, 2 Bde., hg. von Dieter B L U M E und Matthias WERNER unter Mitarbeit von Uwe JOHN und Helge W I T T M A N N , Band 2 : Katalog, Petersberg 2 0 0 7 : (104.-122.)

(104.) Elisabeth als Angehörige des europäischen Hochadels [Einführung zu Abteilung I], S. 28f. (105.) Hinwendung zur religiösen Armutsbewegung [Einführung zu Abteilung III], S. 102f. (106.) Die Summa vitae Konrads von Marburg als die älteste Lebensbeschreibung Elisabeths, S. 113f. (107.) Siegel Konrads von Marburg, Nr. 55, S. 115-117. (108.) Die „Vita sánete Elyzabeth lantgravie" des Cäsarius von Heisterbach, Nr. 153, S. 227-229 (zusammen mit Ewald KÖNSGEN). (109.) Jean de Mailly, Abbreviatio in gestis et miraculis sanetorum (1243), Nr. 156, S . 231 f. (zusammen mit Ingrid W Ü R T H ) . (110.) Das Leitbild evangelischer Armut - Die vielen Seiten der Elisabethverehrung [Einführung zu Abteilung VI], S. 244f. (111.) Hochadlige Verwandtschaft in Europa [Einführung zu Abteilung VI. 3.], S. 298-301. (112.) Religiöse Gemeinschaften [Einführung zu Abteilung VI.4.], S. 328f. (zusammen mit Dieter B L U M E ) . (113.) Die älteste franziskanische Vita der heiligen Elisabeth, Nr. 225, S. 339341. (114.) Die franziskanische Kurzvita der hl. Elisabeth in Lektionen, Nr. 226, S. 341 f. (115.) Franziskanisches Prunklektionar mit Elisabeth-Offizium, Nr. 227, S. 342f. (116.) Große franziskanische Elisabeth-Vita (Fragment I), Nr. 229, S. 344347. (117.) Große franziskanische Elisabeth-Vita (Fragment II), Nr. 230, S. 348f.

IIA

PUBLIKATIONEN VON MATTHIAS WERNER

(118.) Gründung des Dominikanerklosters St. Johannes und St. Elisabeth in Eisenach, Nr. 232, S. 354-357. (119.) Europäischer Horizont und regionale Bezüge - Die Elisabethtexte des Spätmittelalters [Einfuhrung zu Abteilung VIII], S. 420-423. (120.) Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda (1289/94), S. 426-428. (121.) Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda, Nr. 281, S. 429. (122.) Die erweiterte Rezension der Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda, Nr. 282, S. 429-431.

Berichte, Ansprachen, Nachrufe (123.)

Laudatio, in: Irmgard Höß zu Ehren. Feier zur 50. Wiederkehr des Tages ihrer Doktorpromotion am 13. Dezember 1996 im Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Historische Kommission für Thüringen, Kleine Vortragsreihe 2), Jena 1997, S. 15-23.

(124.)

Thüringer Pfalzenband übergeben, in: Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte 10 (2000) Heft 1, S. 75-80.

(125.)

Nachruf auf Hans Eberhardt, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 54 (2000), S. 7-13.

(126.)

Die Historische Kommission für Thüringen 1991-2001, hg. von Matthias WERNER, Erfurt 2001.

(127.)

[Ansprache], in: Franz Levi und Berkach. Ansprachen und Vorträge bei der Präsentation des Buches: 12 Gulden vom Judenschutzgeld ... Jüdisches Leben in Berkach und Südwestthüringen, bearb. von Franz LEVI [...] am 6. Mai 2001 in der Synagoge in Berkach (Historische Kommission für Thüringen, Kleine Vortragsreihe 3), Jena 2001, S. 6-9.

(128.)

Die Historische Kommission für Thüringen 1991-2006, hg. von Matthias WERNER, anlässlich des Parlamentarischen Abends „Landesgeschichte und Identität. Landes- und ortsgeschichtliche Vereinsarbeit im Freistaat Thüringen" im Thüringer Landtag am 26. Januar 2006 überreicht von der Historischen Kommission für Thüringen.

(129.)

Geschichtsvereine im Freistaat Thüringen, hg. von Matthias WERNER, anlässlich des Parlamentarischen Abends „Landesgeschichte und Identität. Landes- und ortsgeschichtliche Vereinsarbeit im Freistaat Thüringen" im Thüringer Landtag am 26. Januar 2006 überreicht von der Historischen Kommission für Thüringen.

Verzeichnis der von Matthias Werner betreuten Dissertationen und Habilitationen Dissertationen HALBEKANN, Joachim J.: Die älteren Grafen von Sayn. Personen-, Verfassungsund Besitzgeschichte eines rheinischen Grafengeschlechts 1139-1246/47 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 61), Wiesbaden 1997. Dissertation an der Universität Köln 1993. RITZERFELD, Ulrich: Das Kölner Erzstift im 12. Jahrhundert. Verwaltungsorganisation und wirtschaftliche Grundlagen (Rheinisches Archiv 132), Köln / Weimar / Wien 1994. Dissertation an der Universität Köln 1993. Robert: Das Erzstift Köln in der Zeit des Erzbischofs Konrad von Hochstaden. Organisatorische und wirtschaftliche Grundlagen in den Jahren 1238-1261 (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur 23), Köln 1997. Dissertation an der Universität Köln 1993.

PRÖßLER,

GARBISCH, Uta: Das Zisterzienserinnenkloster Walberberg (1197-1447) (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur 25), Köln 1998. Dissertation an der Universität Köln 1995. DOEPNER, Thomas: Das Prämonstratenserinnenkloster Altenberg im Hoch- und Spätmittelalter. Sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchungen (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 16), Marburg/Lahn 1999. Dissertation an der Universität Köln 1995. TEBRUCK, Stefan: Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter. Klösterliche Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich (Jenaer Beiträge zur Geschichte 4), Frankfurt (Main) / Berlin / Bern [u. a.] 2001. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1997. HAMMER, Elke-Ursel: Monastische Reform zwischen Person und Institution. Zum Wirken des Abtes Adam Meyer von Groß St. Martin in Köln (14541499) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 165), Göttingen 2001. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1997/98. MÜLLER, Christine: Landgräfliche Städte in Thüringen. Die Städtepolitik der Ludowinger im 12. und 13. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Histo-

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DISSERTATIONEN UND HABILITATIONEN

rischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 7), Köln / Weimar / Wien 2003. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1999/2000. KUNDE, Holger: Das Zisterzienserkloster Pforte. Die Urkundenfälschungen und die frühe Geschichte bis 1236 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 4), Köln / Weimar / Wien 2003. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2000. Petra: Ordensreform und Konziliarismus. Der Franziskanerprovinzial Matthias Döring (1427-1461) (Jenaer Beiträge zur Geschichte 7), Frankfurt (Main) / Berlin / Bern [u. a.] 2005. Dissertation an der Friedrich-SchillerUniversität Jena 2001.

WEIGEL,

WOLF, Stephanie: Erfurt im 13. Jahrhundert. Städtische Gesellschaft zwischen Mainzer Erzbischof, Adel und Reich (Städteforschungen. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster, Reihe A/67), Köln / Weimar 2005. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2003. Helge: Im Schatten der Landgrafen. Studien zur adeligen Herrschaftsbildung im hochmittelalterlichen Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 17), im Druck. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2003.

WITTMANN,

Maike: Juden in den wettinischen Herrschaftsgebieten. Recht, Verwaltung und Wirtschaft im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe), im Druck. Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2006.

LÄMMERHIRT,

Habilitationsschriften BÜNZ, Enno: Der niedere Klerus im spätmittelalterlichen Thüringen. Studien zu Kirchenverfassung, Klerusbesteuerung, Pfarrgeistlichkeit und Pfründenmarkt im thüringischen Teil des Erzbistums Mainz. Habilitationsschrift FriedrichSchiller-Universität Jena 1999. Der Editionsteil ist erschienen unter dem Titel: BÜNZ, Enno (Bearb.): Das Mainzer Subsidienregister für Thüringen von 1506 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Große Reihe 8), Köln / Weimar / Wien 2005. Der darstellende Teil der Habilitationsschrift wird in der Reihe „Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte" erscheinen.

DISSERTATIONEN U N D HABILITATIONEN

III

Stefan: Aufbruch und Heimkehr. Studien zu Kreuzfahrern und Jerusalempilgern aus dem Raum zwischen Harz und Elbe (1100-1300). Habilitationsschrift Friedrich-Schiller-Universität Jena 2007 (für den Druck in Vorbereitung).

TEBRUCK,

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

Dipl. phil. Bernd W. Bahn, Feigenweg 14, D-06122 Halle/Saale Prof. Dr. Ursula Braasch-Schwersmann, Direktorin des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde, Wilhelm-Röpke-Sr. 6 C, D-35039 Marburg/Lahn Prof. Dr. Enno Bünz, Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte, Historisches Seminar der Universität Leipzig, Beethovenstr. 15, D-04107 Leipzig Dr. Thomas Doepner, StD, Studienseminar für Lehrämter an Schulen Düsseldorf - Seminar für das Lehramt an Gymnasium und Gesamtschule, Redinghovenstr. 9, D-40225 Düsseldorf Matthias Eifler M.A., Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Leipzig, Beethovenstr. 6, D-04107 Leipzig Prof. Dr. Irmgard Fees, Institut für Mittelalterliche Geschichte der PhilippsUniversität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6 C, D-35039 Marburg/Lahn Dr. Heike Grahn-Hoek, Im Lehmkamp 4 b, D-38100 Braunschweig Prof. Dr. Werner Greiling, Vorsitzender der Historischen Kommission für Thüringen, Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 13, D-07743 Jena Dr. Joachim J. Halbekann, Leiter des Stadtarchivs Esslingen, Marktplatz 20, D-73728 Esslingen am Neckar Dr. Elke-Ursel Hammer, Archivoberrätin, Bundesarchiv Koblenz, Potsdamer Str. 1, D-56075 Koblenz Prof. Dr. Johannes Helmrath, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte II, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin

780

AUTORENVERZEICHNIS

Dr. Mathias Kälble, Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 13, D-07743 Jena PD Dr. Klaus Krüger, Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Kröllwitzer Str. 44, D-06120 Halle/Saale Dr. Petr Kubin, Univerzita Karlova v Praze, Katolickä teologickä faculta, Thakurova 3, CZ-16000 Praha 6 Dr. Holger Kunde, Leiter der Bibliotheken und Archive der Vereinigten Domstifter Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Domplatz 16/17, D-06618 Naumburg/Saale Dr. Maike Lämmerhirt, Döllstädtstr. 42, D-99423 Weimar Prof. Dr. Volker Leppin, Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 6, D-07737 Jena Dr. Johannes Mötsch, Direktor des Thüringischen Staatsarchivs Meiningen, Schloss Bibrabau, D-98617 Meiningen Dr. Ulrich Ritzerfeld, Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Wilhem-Röpke-Str. 6 C, D-35039 Marburg/Lahn Prof. Dr. Rudolf Schieffer, Präsident der Monumenta Germaniae Historica, Ludwigstr. 16, Postfach 340223, D-80099 München Dipl. phil. Reinhard Schmitt, Leiter des Sachgebiets Bauforschung im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, RichardWagner-Straße 9, D-06114 Halle/Saale Dr. Stefan Tebruck, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Neustädter Markt 19, D-01097 Dresden Jörg Voigt M.A., Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 13, D-07743 Jena

AUTORENVERZEICHNIS

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Prof. Dr. Helmut G. Walther, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 13, D-07743 Jena Dr. Petra Weigel, Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 13, D-07743 Jena Dr. Helge Wittmann, Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Bonifaciusstr. 15, D-99084 Erfurt Ingrid Würth M.A., Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 13, D-07743 Jena Prof. Dr. Thomas Zotz, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Historisches Seminar, Abteilung Landesgeschichte, Werderring 8, D-79085 Freiburg

Bildnachweis

Die Abbildungen zu den einzelnen Beiträgen finden sich im Bildteil in der Mitte dieses Bandes. Soweit im folgenden nicht ausgewiesen, stammen die Vorlagen zu den Illustrationen aus den Autoren- bzw. Herausgeberarchiven. Abb. 11, 12, 23, 27-31: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Gunnar Preuß) Abb. 13: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Repro) Abb. 15-17, 24-26: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie SachsenAnhalt, Halle Abb. 18-21: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie SachsenAnhalt, Halle (Harald Rüssel) Abb. 22: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Reinhard Schmitt, Reinzeichnung Gudrun Tratz) Abb. 14: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg Abb. 33 a-e: Assisi, Fondo Antico Comunale presso il Sacro Convento di Assisi

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Herausgegeben von Werner Greiling - Eine A u s w a h l Kleine Reihe

1 5: Ernst II. v o n S a c h s e n Gotha-Altenburg. Ein H e r r s c h e r i m Zeitalter der Aufklärung. Hg. v. Werner Greiling, Andreas Klinger, Christoph Köhler. 2005. XI, 418 S. 19 s/w-Abb. auf 12 Taf. Gb. ISBN 978-3-41 2-1 9905-0 16: J u l i a A n n e t t e S c h m i d t F u n k e : Auf d e m W e g In d i e Bürgergesellschaft. Die politische Publizistik d e s W e i m a r e r Verlegers F r i e d r i c h Justin Bertuch. 2005. IX, 499 S. 3 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-41 2-22305-2 1 7: H e l g e W i t t m a n n : I m S c h a t t e n d e r Landg r a f e n . S t u d i e n zur a d e l i g e n H e r r s c h a f t s b i l d u n g i m spätmittelalterlichen T h ü r i n g e n . 2007. Ca. 576 S. Gb. ISBN 978-3-41 2-20805-9 18: Steffi H u m m e l : Der Borromäusverein 1845-1920. Katholische Volksbildung und Büchereiarbeit zwischen Anpassung und Bewahrung. 2005. 242 S. Gb. m. SU. ISBN 978-3-41 2-23505-5

19: W i e b k e v o n Häfen: L u d w i g Friedrich v o n F r o r l e p (1 7 7 9 - 1 8 4 7 ) Ein W e i m a r e r Verleger zwischen Ämtern, G e s c h ä f t e n u n d Politik 2007. VIII, 345 S. Gb. ISBN 978-3-41 2-03606-5 20: Katja Deinhardt: Stapelstadt d e s Wissens. J e n a als Universitätsstadt z w i s c h e n 1 7 7 0 u n d 1830. 2007. X, 424 S. Gb. ISBN 978-3-41 2-11 806-8

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21: Maike L ä m m e r h i r t : J u d e n In d e n w e t t l n i s c h e n Herrschaftsgebieten. Recht, V e r w a l t u n g u n d Wirts c h a f t i m Spätmittelalter. 2007. XI, 536 S. 2 Stammbäume und 3 Karten. Gb. ISBN 978-3-41 2-1 3006-0 22: Dirk M o l d e n h a u e r : Geschichte der Ware. Der Verleger Friedrich C h r i s t o p h P e r t h e s (1 7 7 2 1843) als Wegbereiter der m o d e r n e n Geschichtsschreibung. 2007. Ca. 320 S. Gb. ISBN 978-3-41 2-1 2706-0 23: M a r k o K r e u t z m a n n : Z w i s c h e n ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. A d e l in S a c h s e n - W e i m a r E i s e n a c h 1 7 7 0 bis 1 830. 2007. Ca. 512 S. Gb. ISBN 978-3-41 2-20031 -2 24: E n n o B ü n z , Stefan Tebruck, H e l m u t G. Walther (Hg.): R e l i g i ö s e B e w e g u n g e n I m Mittelalter. F e s t s c h r i f t für Matthias Werner z u m 65. G e b u r t s t a g . 2007. XXVIII, 782 S. 41 s/w-Abb. auf 24 Taf. Gb. ISBN 978-3-41 2-20060-2

U r s u l a p l a t z i , D - 5 0 6 6 8 K ö l n , T e l e f o n (0221) 9 1 3 9 0 0 , F a x 9 1 3 9 o i i

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Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen H e r a u s g e g e b e n von Werner Greiling - Eine A u s w a h l Große Reihe Bd. 8: Das Mainzer Subsidlenregister für Thüringen von 1 5 0 6 . Bearbeitet v. Enno Bünz. 2005. XLVI, 634 S. 4 s/w-Abb. 1 Faltkarte. Gb. ISBN 978-3-41 2-1 6603-8 Bd. 9: Als Demokrat In der Paulskirche. Die Briefe und Berichte des Jenaer Abgeordneten Gottlieb Christian Schüler 1848/49. Hg. v. Sybille Schüler + und Frank Möller. 2007. X, 339 S. 4 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-14104-2

I Bd. 11: Die Weimarer Stadtbücher des späten Mittelalters. Edition und K o m m e n tar. Hg. v. Henning Steinführer. 2005. XXXVI, 266 S. 5 s/w-Abb. auf 5 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-16104-0 Bd. 12: Das Wunderbuch Unserer Lieben Frau im thüringischen Elende (1419-1517). Hg. u. kommentiert v. Gabriela Signori unter Mitarbeit v. Jan Hrdina, Thomas T. Müller und Marc Müntz. 2006. VI, 230 S. 5 s/w-Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-25505-3 Bd. 1 3: Regesten des Archivs der Grafen von Henneberg-Römhild. Hg. von Johannes Mötsch. 2006. 2 Teilbde. Zus. XIV, 1717 S. Gb. ISBN 978-3-41 2-35905-8

Bd. 10: Die Wallfahrt zu Grimmenthal. Urkunden, Rechnungen, Mirakelbuch. Hg. v. Johannes Mötsch. 2004. VI, 426 S. Gb. ISBN 978-3-412-14004-5

Bd. 14: Henry van de Velde In Weimar. Dokumente und Berichte zur Förderung von Kunsthandwerk und Industrie (1902 bis 1915) Hg. von Volker Wahl. 2007. VI, 532 S. 34 s/w-Abb. auf 1 6 Taf. Gb. ISBN 978-3-41 2-01 306-6

U R S U L A P L A T Z I , D-50668 K Ö L N , T E L E F O N ( 0 2 2 1 ) 9 1 3 9 0 0 , F A X

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Edmund Hermsen

Faktor Religion G e s c h i c h t e der Kindheit v o m Mittelalter bis z u r G e g e n w a r t Bearbeitet v o n T i l m a n n Walter 2 0 0 6 . XII, 2 8 9 S . G b . ISBN 978-3-41 2-05906-4

In einem frühen Stadium des menschlichen Lebens, das vor

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allem durch die Abhängigkeit von Erwachsenen gekennzeichnet ist, erfolgt die Aneignung kultureller und geschieht-

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licher Traditionen. Dadurch kommt der Kindererziehung eine

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Schlüsselstellung für die individuelle, aber auch soziokulturel-


Nibelungenlied< 2005. 267 S. Br. ISBN 978-3-41 2-21405-0 Dirk Jäckel Der Herrscher als Löwe Ursprung und Gebrauch eines politischen S y m b o l s im Früh- und Hochmittelalter 2005. XII, 377 S. 23 s/w-Abb. auf 16 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-21005-2 Yvonne Leiverkus Köln Bilder einer spätmittelalterlichen Stadt 2005. 408 S. 79 s/w-Abb. auf 64 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-23805-6 Gerhard Lingelbach. Wolfgang Weber (Hg.) Die Statuten der Reichsstadt Mühlhausen in T h ü r i n g e n 2005. XXXVI, 122 S. 8 s/w-Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-10503-7

Evamaria Engel Frank-Dietrich J a c o b Städtisches Leben Im Mittelalter Schriftquellen und Bildzeugnisse 2006. VIII, 465 S. 130 s/w-Abb. Gb. mit SU. ISBN 978-3-412-20205-7 Ines Hensler Ritter u n d S a r r a z i n Zur Beziehung von Fremd und Eigen in der hochmittelalterlichen Tradition der » C h a n s o n s de g e s t e « (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Band 62) 2006. IX, 443 S. Gb. ISBN 978-3-412-31505-4 Klaus O s c h e m a Freundschaft und Nähe Im spätmittelalterlichen Burgund Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution (Norm und Struktur, Band 26) 2006. 697 S. 39 s/w-Abb. und 4 Tab. auf 24 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-36505-9 J o h a n n e s Laudage, Yvonne Leiverkus (Hg.) Rittertum u n d h ö f i s c h e Kultur der Stauferzelt (Europäische Geschichtsdarstellungen, Band 12) 2006. 326 S. 8 Farb.-Abb. auf 16 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-34905-9 Benjamin Bussmann Die Historisierung der Herrscherblider (ca. 1000-1200) (Europäische Geschichtsdarstellungen, Band 13) 2006. X, 394 S. 56 s/w-Abb. auf 16 Taf. Gb. ISBN 978-3-41 2-35705-4

U R S U L A P L A T Z I , D - 5 0 6 6 8 K Ö L N , T E L E F O N ( 0 2 2 1 ) 9 1 3 9 0 0 , F A X 9 1 3 9 011

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Das Heilige Römische Reich Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843-1806)

Vor den Augen des Lesers läßt diese reich bebilderte und anschaulich erzählte Darstellung ein herrschaftliches Gebilde aufleben, das etwa ein Jahrtausend lang die kulturelle, soziale und politische Geschichte weiter Teile Europas maßgeblich bestimmt hat. Ausgehend von seinen Schauplätzen spüren die Autoren der Entstehung und Entwicklung, aber auch dem Ende des Heiligen Römischen Reiches nach. So entsteht zum 200. Jahrestag seines Niedergangs ein umfangreicher Querschnitt seiner vielschichtigen Wirklichkeit. 2005. VIII, 343 s . mit 307 s/w-Abb. 38 färb. Abb. auf 24 Taf. 27,5 x 21 cm. Gb. mit SU. ISBN 978-3-412-23405-8

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