Die Neuentdeckung der Gemeinschaft: Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege [1 ed.] 9783666624506, 9783525624500

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Die Neuentdeckung der Gemeinschaft: Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege [1 ed.]
 9783666624506, 9783525624500

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Cornelia Coenen-Marx

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege

Cornelia Coenen-Marx

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege

Vandenhoeck & Ruprecht

Dem Wickrather Gemeindeladen in Mönchengladbach, der seit 1986 mitten in der Einkaufszone die Türen offen hält und das Leben im Quartier bereichert. Petra Vogt, die den »Laden« 30 Jahre lang geführt und vielfältige Netze geknüpft hat – anstelle eines »Diakonissendenkmals«, wie es in diesem Buch beschrieben wird. Und allen Quartiersinitiativen, die in der Coronazeit mit Einkaufshilfen, Telefonketten, Bürgerbussen und mobilen Andachten für Ältere und Einsame da waren.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Adobe Stock/DisobeyArt Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-62450-6

Inhalt

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft – Vorwort von Bischöfin Beate Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 »Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht . . . . . . . . . . . 11 1.1 Einsamkeit – wie Corona die Gemeinschaft neu fokussiert . . . . . . 11 1.2 Neue Erfahrungen – der Kampf um gemeinsame Zeit . . . . . . . . . . . 13 1.3 Fürsorge – das Beziehungsgeflecht des Miteinanders . . . . . . . . . . . . 15 1.4 Wahlfamilien – Kirche als Gemeinschaftsagentur . . . . . . . . . . . . . . 17 1.5 »Gemeinschaft der Schwestern und Brüder« – Traditionen zwischen Selbstkritik und Kraftquelle . . . . . . . . . . . . . . 19 2 Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.1 Zusammenhalt gegen Fliehkräfte – die digitale Single-Gesellschaft 21 2.2 Gemeinschaft am Küchentisch – Sorge hält die Welt zusammen . . 25 2.3 »Globale Nomaden« und moderne Lagerfeuer – Arbeit braucht ­Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.4 »Wo Vertrauen ist, ist Heimat« – die neue Nachbarschaft . . . . . . . . 37 Gemeinschaft – nicht nur in der Coronakrise – Interview mit Christine Falk und Renate Abeßer (Teil 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.5 Alter neu gestalten – Wohngemeinschaften und Unterstützungs­ netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.6 Pflege ist systemrelevant – Familien, Versicherungen und der ­Care-Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.7 Sorgekämpfe und Sorgende Gemeinschaften – Zivilgesellschaft im Quartier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die Kraft des Kollektivs und die Rolle der Kirche – Interview mit Ursula Schoen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.8 Die neue Stadt – Solidarität statt Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Verantwortungsgemeinschaften für die Menschen des 21. Jahrhunderts Interview mit Christine Falk und Renate Abeßer (Teil 2) . . . . . . . . . . . . . . . . 73

3 Pflege-Dienst-Gemeinschaft – für eine neue Sorgekultur . . . . . . . . . . . . 75 3.1 Das Diakonissendenkmal – zurück ins 19. Jahrhundert? . . . . . . . . 75 3.2 Controller, Soziale Roboter und die Kultur der Gemeinschaft . . . . 79 Kraftquellen im Arbeitsalltag – Interview mit Sigrid Pfäfflin . . . . . . . . . . . . 88 3.3 Die neue Mit-Kultur – von der Langzeitpflege zur End-of-Life Care 89 Orte der Verständigung schaffen – Interview mit Thomas Mäule am 5. August 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.4 Die Buurtzorg-Familie – von der Dienstgemeinschaft zur Sorge­ gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Das Markenversprechen einlösen – wie Mitarbeitende Diakonie erfahren Interview mit Veronika Drews-Galle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.5 Fragmente der Vergangenheit – Impulse für morgen? . . . . . . . . . . . 106 Gastfreundschaft und Tischgemeinschaft – Interview mit Günter Tischer 112 4 Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.1 Gemeinschaften brauchen einen Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.2 Dritte Orte – Gemeinde im Quartier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Sorgende Gemeinde und Netzwerklogik im Sozialraum – Interview mit Steffen Merle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.3 Mit allem Sinnen – Kirche als Agentur für Inklusion . . . . . . . . . . . 134 4.4 Gemeinde als Familiaritas – Wahlfamilien in der Single-Gesellschaft 141 4.5 Mit Grenzen leben – Gemeinschaft der Lebenden und der Toten 147 4.6 Erinnerungen teilen – Kirche als Erzählgemeinschaft . . . . . . . . . . . 155 5 Das Eingemachte – was für die Zukunft stärken kann . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.1 Kirchengemeinschaft im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.2 Die Werkstatt für himmlische Gesellschaft – weltweit vor Ort . . . 166 5.3 Alleine einzigartig, gemeinsam stark – Gemeinde von Schwestern und Brüdern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.4 Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und Kirche . . . . . . . . . 179 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Danke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Die Neuentdeckung der Gemeinschaft – Vorwort von Bischöfin Beate Hofmann

»Die Gemeinschaft« – das habe ich oft als Antwort auf die Frage gehört: »Was war für Sie wichtig bei diesem Seminar oder bei dieser Freizeit?« Einhellig kam dieses Stichwort aus dem Mund von Jugendlichen nach Freizeiten, von Eltern nach einer Familienfreizeit oder von Pflegekräften nach einem Seminar über Erfahrungen in der diakonischen Arbeit. Erfahrungen von Gemeinschaft sind wertvoll und sie sind nicht mehr selbstverständlich, gerade in Zeiten einer Pandemie, die uns in soziale Distanz zwingt. Doch der Begriff »Gemeinschaft« ist schillernd: Was bei den einen für schöne Erinnerungen und glänzende Augen sorgt, ist für die anderen eher mit Stress und Zwangserfahrungen verbunden. Gemeinschaft kann auch Individualität rauben und einengen, politisch missbraucht werden oder zum Mantra von sich nach außen abschließenden Gruppen und Kreisen werden. Was ist Gemeinschaft, was macht Gemeinschaft aus? Wie sozial und solidarisch ist Gemeinschaft? Inwiefern ist Gemeinschaft ein unverfügbares Geschenk, etwas, das sich ereignet? Inwiefern ist sie gestaltbar? Wo entstehen durch aktuelle Entwicklungen wie die Coronapandemie neue Formen von Gemeinschaft und was haben Diakonie und Kirche damit zu tun? Wie können Gemeinden an unterschiedlichen kirchlichen Orten als communio sanctorum, als Gemeinschaft der Heiligen, konkrete Erfahrungen von Gemeinschaft ermöglichen und beleben? Und welche Rolle und Zukunft haben diakonische Gemeinschaften als eine besondere Form der gemeinsam gestalteten Spiritualität und sozialen Verantwortung? Mit diesen Fragen beschäftigt sich dieses Buch. Diese Fragen haben Cornelia Coenen-Marx und mich vor 20 Jahren zusammengeführt. Es ging damals um die Diakonissen und Diakonischen Gemeinschaften in Neuendettelsau und Kaiserswerth. Diese alt gewordenen Gemeinschaften werden kleiner und sie verändern sich, weiten sich und gewinnen jüngere Menschen für den Diakonat. In den letzten Jahren sind es die »Caring Communities«, die uns beschäftigen, als Sorgenetze in den Quartieren, in den Städten und Dörfern. Sie wurden gerade jetzt, in der Coronakrise, zu einem hochaktuellen Thema. Und sie sind in viel-

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Vorwort von Bischöfin Beate Hofmann

fältiger Weise verwandt mit den »Sorgenden Gemeinschaften« des 19.  Jahrhunderts, die in Kaiserswerth und Neuendettelsau ihren Ursprung haben. Welche Impulse ähnlich sind und was sich verändert hat, darum geht es in diesem Buch. Aber auch um die Frage, wie unsere Zeit mit Globalisierung, Digitalisierung und Mobilität unser Zusammenleben und den Zusammenhalt herausfordert. Und was die gesellschaftlichen Veränderungen mit unseren Gemeinschaften machen – in Familie, Schule, am Arbeitsplatz und eben auch in der Kirche. Es gibt neue Entdeckungen in diesem Feld, die uns optimistisch stimmen können. Die Erfahrungen des »Lockdowns« in Deutschland haben unseren Alltag und unseren Fokus verändert. Wir haben eine neue Konzentration auf das Wesentliche erlebt; die Entschleunigung ließ viele Menschen sehr intensiv über ihr Leben nachdenken; vielen wurde bewusst, worauf es wirklich ankommt. Gleichzeitig brachte diese Zeit an vielen Stellen Ungerechtigkeiten und Defizite in unserer Gesellschaft zum Vorschein, die uns weiter beschäftigen müssen. Corona hat zu massiven Ausgrenzungen geführt – z. B. im Blick auf Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die im Homeschooling erschwerte Bedingungen haben. In vielen Familien wurden Frauen deutlich stärker mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie belastet; Alleinerziehende gerieten in sehr schwierige, oft überfordernde Situationen; pflegende Angehörige kamen an ihre Grenzen und wurden alleingelassen. Das führt zu einem neuen Nachdenken über die Verletzlichkeit von Leben und das, was Leben ausmacht. Solche Fragen wurden auch im Blick auf die Menschen gestellt, die in Pflegeeinrichtungen und Hospizen leben und von der Außenwelt und ihren Familien isoliert wurden, um ihr Leben zu schützen. Das alles hat in bisher kaum gekannter Schärfe gezeigt, wie wichtig Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit für unser Leben sind. Die Corona­ pandemie hat uns aber auch deutlich vor Augen geführt, dass nicht nur Wirtschaftszweige und Banken »systemrelevant« sind, sondern auch »Care-Arbeit«, also die Pflege und Begleitung von Kindern, kranken, behinderten oder alten Menschen. Diese Sorgearbeit ist das Geflecht, das die Gemeinschaften zusammenhält. Die Coronapandemie hat uns auch als Kirche vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Wie gestalten wir Gemeinschaft in sozialer Distanz? Wie feiern wir Gottesdienst, wenn wir uns nicht in Kirchen versammeln können und vor allem: nicht singen können? Wie feiern wir Abendmahl? Wie gestalten wir kirchenmusikalische Arbeit und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unter Pandemiebedingungen? Wie unterstützen wir die, die durch Corona besonders betroffen sind? Neben viel Verunsicherung, Schmerz und Hilflosigkeit hat die Pandemie auch viel Kreativität freigesetzt. So sind Sorgenetze verstärkt oder weitergeknüpft worden. Viele neue Kontaktflächen zu Menschen, die bisher nicht in unsere Kirchen kommen, haben sich entwickelt. Die Pandemie hat aber zugleich die demo-

Vorwort von Bischöfin Beate Hofmann

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kratischen Prozesse und Möglichkeiten der Teilhabe beschränkt, Formen der kreativen Beteiligung und Beratung behindert und vor allem Gemeinschaftserfahrungen verhindert. Zugleich hat die Krise mit der Digitalisierung einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess beschleunigt, dessen Auswirkungen noch nicht genau absehbar sind, die aber vielerorts neue Wege der Gestaltung von Gemeinschaft eröffnet haben. Noch misstrauen viele vor allem aus dem Bereich der Kirchen der Qualität digitaler Gemeinschaft. Kann das genauso real sein und tragen wie analoge Treffen und Gespräche? Diese Fragen und Erfahrungen zeigen: Corona hat uns den Stellenwert von Gemeinschaft neu vor Augen geführt, aber auch viele neue Fragen aufgeworfen rund um das, was Gemeinschaft ausmacht, wie sie gestaltet und zu einem sozialen Sorgenetz werden kann. Dieses Buch verknüpft ganz unterschiedliche Perspektiven auf Gemeinschaft miteinander und bietet damit eine gute Basis und viele Ideen für alle, die mitknüpfen wollen an Sorgenetzen, die als »Caring Communities« erlebt werden. Kassel, am 1. Advent 2020  

Prof. Dr. Beate Hofmann, Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck

»Noch hallen die Heilsbotschaften im Raum: Du hast es in der Hand, Du bist Deines Glückes Schmied, Du kannst mit Deinem Willen die Wirklichkeit kreieren. So pfiffen es die Spatzen von den Dächern. Nein, nicht die Spatzen, sondern die Spatzenhirne mancher Coaches …, die uns weismachen wollten, eine jede und ein jeder hätte die Verfügungsmacht über das, was sie ›mein Leben‹ nennen. Die Wahrheit aber sieht ganz anders aus. Die Wahrheit, die Corona lehrt, macht ein für alle Mal deutlich: Niemand ist der Herr und Meister seines eigenen Lebens. Alle sind unauflöslich eingebunden in ein umfassendes Netz des natürlichen und des sozialen Lebens, das wir weder mit unserem Narzissmus ignorieren noch mit unserem Egoismus dominieren können. Das Gebot der Stunde lautet: Interaktion, Solidarität, Miteinander.« Aus: Christoph Quarch (2020): Neustart. Fünfzehn Lehren aus der Corona-Krise. Legenda.

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»Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht

1.1 Einsamkeit – wie Corona die Gemeinschaft neu fokussiert »Wenn Menschen in schweren Zeiten soziale Nähe und Hilfe erfahren, kann das die negativen Auswirkungen der Krise abfedern. Es geht um Dinge wie Nachbarschaftshilfe, ob Freunde oder Familien sich um einander kümmern, wie eng diese Bindungen in einer Gesellschaft sind. Diese sozialen Faktoren werden gern unterschätzt, sie entscheiden aber maßgeblich darüber, ob es uns gutgeht oder nicht. Sie kommen direkt hinter den Faktoren Gesundheit und finanzielle Lage«, sagte Jan-Emmanuel De Neve, Ökonom in Oxford.1 Im Coronajahr 2020 haben wir die Bedeutung von Gemeinschaft ganz neu entdeckt. Ich denke an die Einsamkeit im Homeoffice, die leeren Kirchen bei abgesagten Gottesdiensten, geschlossene Gaststätten und Clubs, aber auch an die vielen Quartiersinitiativen, die neu entstanden sind, die Einkaufshilfen, Telefonketten und Briefaktionen in Nachbarschaften und Kirchengemeinden. In der Ellenbogengesellschaft wurde das Herz wiederentdeckt. Und auch der neu erfundene Ellenbogengruß zeigt: Wir haben Sehnsucht nach Berührung, nach Gemeinschaft. »An Einsamkeit stirbt man bloß länger als an Corona«, sagt Elke Schilling. Die 75-Jährige hat den Telefondienst »Silbernetz« gegründet, der sich inzwischen mit einem ganzen Team an einsame Ältere richtet. In der Krise haben sie sich bundesweit aufgestellt. Der Dienst ist nachgefragt wie nie zuvor. Und Elke Schilling hat sich auch vom Lockdown nicht abhalten lassen, ins Büro zu gehen. Auch wenn sie über 70 ist – sie wird gebraucht.

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Weiguny, Bettina (2020): Wie steht’s ums Glück? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.03.2020. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wie-steht-s-ums-glueck-in-corona-zeiten-16690523. html (Zugriff am 11.12.2020).

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»Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht

In Deutschland leben ca. 38 Prozent der über 70-Jährigen allein – meist können sie in Alltagsproblemen nicht auf Familie und Freund*innen zurückgreifen.2 Nur noch ein Viertel der befragten Älteren lebt mit den eigenen Kindern am gleichen Ort. Zwar haben die allermeisten Familien wöchentlich Kontakt zueinander – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-Jährigen immer seltener praktische Hilfe bei Einkäufen, kleinen häuslichen Diensten, Fahrten zum Arzt.3 Nachbarschaftsnetzwerke werden deshalb wichtiger; die Internetplattform »nebenan.de« zum Beispiel ist in der Krise rasant gewachsen. In Großbritannien wurde im Jahr 2018 ein Ministerium gegen Einsamkeit gegründet. 75 Prozent der Landbevölkerung sind dort älter als 65 – sie leben in Gegenden, wo Post und Pub geschlossen sind und immer weniger Busse fahren. Herz-Kreislauf-Probleme oder Depressionen verschlechtern sich, wenn Menschen ihre Wohnung kaum noch verlassen. Deshalb gibt es dort inzwischen die Möglichkeit, soziale Angebote auf Rezept zu verschreiben. Ein Konzert, eine Wanderung mit anderen, einen Chor. Wissenschaftler*innen haben berechnet, dass sich auf diese Weise Termine beim Hausarzt und Krankenhausbesuche um 20 Prozent reduzieren.4 Dass Einsamkeit krank machen kann, zeigen auch Untersuchungen zum Kontaktverbot während der Coronapandemie. Dabei war die psychische Belastung nicht etwa bei den alten, sondern bei den jungen bis mittelalten Menschen zwischen 20 und Ende 40 besonders groß.5 Ihnen fehlten die gewohnten Möglichkeiten des Austauschs bei der Arbeit oder im Sport. Ärzt*innen sprechen inzwischen von einer deutlichen Zunahme von Depressionen.

2 Vgl. https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/Bilder/L75-Einpersonenhaushalten-Alter-WestOst-ab-1950.html (Zugriff am 05.01.2021). 3 Mahne, Katharina/Huxhold, Oliver (2016): Nähe auf Distanz. Bleiben die Beziehungen zwischen älteren Eltern und ihren erwachsenen Kindern trotz wachsender Wohnentfernungen gut? In: Mahne, Katharina/Wolff, Julia K./Simonson, Julia/Tesch-Römer, Clemens (Hg.): Altern im Wandel. Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey (DEAS) (S. 215–230). Wiesbaden, S. 223. https://link.springer.com/book/10.1007 %2F978-3-658-12502-8#toc (Zugriff am 05.01.2021). 4 Hahn, Marten (2019): Spaß auf Rezept. Soziale Medikation in Großbritannien, Deutschlandfunk, 27.12.2019. https://www.deutschlandfunk.de/soziale-medikation-in-grossbritannienspass-auf-rezept.795.de.html?dram:article_id=455906 (Zugriff am 16.12.2020). 5 Vorauswertung der NAKO-Gesundheitsstudie, vgl. Steppat, Timo (2020): Deutsche deutlich depressiver im Frühjahrs-Lockdown. Studienleiter im Interview. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.10.2020. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/wie-es-umdie-psychische-gesundheit-der-deutschen-steht-17017842.html (Zugriff am 14.12.2020).

Neue Erfahrungen – der Kampf um gemeinsame Zeit

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1.2 Neue Erfahrungen – der Kampf um gemeinsame Zeit »Disembedding« ist eine Schlüsselkategorie der Moderne.6 Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte gelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biografien wie für Berufswege. Die allermeisten Menschen wohnen nicht an dem Platz, an dem sie arbeiten, sie wechseln Wohnort und Arbeitsplatz, aber auch Familienkonstellation und Lebensform oft mehrfach im Leben. Single zu sein, ist inzwischen eine Lebensform genauso, wie alleinerziehend zu sein. Und auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen und für viele ist das der selbstverständliche Preis für Beruf und Karriere. Mit Mobilität und Digitalisierung haben wir zusätzliche Freiheit gewonnen – aber mit der Freiheit auch Einsamkeit und neue Unsicherheit. Kein Wunder, dass Familie hoch im Kurs steht. Viele sehnen sich nach einem Raum der wechselseitigen Fürsorge und Entlastung, nach Geborgenheit und Sicherheit. Wenn allerdings die äußeren Rahmenbedingungen mit dem gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt halten, geraten Familien in Zerreißproben. Auch das konnten viele während der Pandemie erleben. Plötzlich fehlten die Großeltern, die sonst einsprangen, wenn das labile Gleichgewicht des Alltags aus dem Tritt geriet. Oder die pflege- und hilfebedürftigen Eltern waren zu weit weg, um unter Coronabedingungen kurz nach ihnen zu schauen. Die studierenden Kinder im Ausland konnten nicht mehr kommen und sogar Paare blieben an den Grenzen getrennt. Der Kampf um gemeinsame Zeit gehört neben der finanziellen Absicherung zu den größten Sorgen der Familien.7 Die Zeitrhythmen von Arbeit, Wirtschaft, Schule, Freizeit sind kaum noch kompatibel. Gemeinsame Mahlzeiten, freie Stunden am Wochenende, selbst Familienbesuche müssen angesichts der vielfältigen Anforderungen oft langfristig geplant werden. Dabei lebt Familie von Kontinuität, von Rhythmen und Ritualen, die die gemeinsame Identität prägen. Die »Inszenierung« der gemeinsamen Zeit spielt eine Rolle, die weit über das rationale Verstehen hinausgeht und alle Sinne anspricht: Die besondere Atmosphäre eines Sonntagsfrühstücks, die Fahrt in den Urlaub, der festliche Osterbrunch mit den bunt gefärbten Eiern, das Lichterfest mit Weihnachtsbaum und Krippe machen auch den Kleinen deutlich, dass wir gerade eine »andere Zeit« 6 Disembedding = Entbettung, Entwurzelung, das Gefühl, nirgendwo zu Hause zu sein. 7 Schneider, Regine/Largo, Remo H. (2020): Zusammenleben – Die Sehnsucht nach Gemeinschaft. MDR Kultur Spezial, 11.08.2020. https://www.mdr.de/kultur/radio/ipg/sendung-581612. html (Zugriff am 05.01.2021).

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»Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht

feiern. Genauso ist es mit runden Geburtstagen und schließlich mit den »Nachfeiern« bei einer Beerdigung, in denen Geschichte erfahrbar wird. Was die Veränderung der Familienstrukturen für die Gestaltung von Familienfesten und -traditionen und damit für die religiöse Sozialisation bedeutet, wird erst allmählich sichtbar. Auch das war während der Coronakrise wie im Brennglas zu sehen. Lange geplante Familienfeste, Taufen, Hochzeiten und Konfirmationen mussten verschoben werden, Beerdigungen fanden im ganz kleinen Kreis statt und noch ist nicht klar, ob die alten Traditionen zurückkehren. Manchmal, wenn sich die Öffentlichkeit über die »Großhochzeiten« von Migrantenfamilien erregte8, tauchte wie im Spiegel die Sehnsucht nach diesem bunten Geflecht unseres Lebens auf. Wie in jeder Krise wurden aber auch neue Möglichkeiten entdeckt: Konfirmationen im eigenen Garten, Taufen am Fluss oder am Strand, Abendmahlsfeiern in der kleinen Hausgemeinde. Neue, sehr persönliche Rituale – religiöse und auch säkulare. Ein Spieleabend mit der ganzen Familie, eine Familienkonferenz mit den erwachsenen Kindern – digital, aber nach langen Jahren zum ersten Mal. »Der moderne Individualismus steht meines Erachtens nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen. […] Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt«, schreibt der Soziologe Richard Sennet in seinem Buch über Kooperation, in dem er darstellt, wie die Fliehkräfte des Marktes und die ökonomische Funktionalisierung nicht nur Familien in Zerreißproben bringen, sondern auch die Zusammenarbeit im Betrieb oder in Vereinen schwächen.9 Denn alle Gemeinschaften brauchen Kontinuität und Vertrauen. Umgekehrt entsteht hier das (Ur-) Vertrauen, das Gesellschaften auch in Krisen zusammenhält, ein Mehrwert, der ökonomisch nicht zu berechnen ist. Das große Gewicht von Berufskarrieren in unserer Erwerbsgesellschaft, die mangelnde Wertschätzung von Erziehungs- und Pflegearbeit, die wachsende Bedeutung von Bildungsabschlüssen implementieren die Fliehkräfte von Markt und Wettbewerb in die Familien. In welchem Maße umgekehrt grundlegende Familienerfahrungen unseren Alltag in Beruf, Politik und Freizeit prägen, habe ich in einem Seminar über diakonische Kultur erlebt. Um ein Symbol für das Miteinander gebeten, brachten 8 Vgl. Korfmann, Matthias (2020): Corona. Wie konnte die Groß-Hochzeit unbemerkt bleiben? WAZ, 24.09.2020. https://www.waz.de/politik/landespolitik/corona-wie-konnte-die-grosshochzeit-unbemerkt-bleiben-id230487408.html (Zugriff am 05.01.2021). 9 Sennet, Richard (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin, S. 374.

Fürsorge – das Beziehungsgeflecht des Miteinanders

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zwei Teilnehmende Fotos von großen Tischen mit: »Solange Zeit genug für Teambesprechungen ist, solange der persönliche Austausch gelingt, können wir auch den stressigen Alltag bewältigen«, sagte eine von ihnen. Die Coronakrise hat gezeigt, dass man mit Skype, Zoom und Co. gut Kontakt halten und in Webkonferenzen Sachfragen klären kann. Aber Konflikte zu klären oder neue Mitarbeiter*innen einzuarbeiten, ist digital deutlich schwieriger. Die mobile Arbeitswelt ist fluide – auf schnelle Wechsel eingestellt, bietet sie wenig Halt. Wer ausbrennt, hat dann anscheinend ein »persönliches Problem« – nur wo ist der Resonanzraum, die Gemeinschaft, die die Einzelnen trägt?

1.3 Fürsorge – das Beziehungsgeflecht des Miteinanders Die Kommission für den Siebten Familienbericht der Bundesregierung hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass ein Care-Defizit droht, sollte es nicht gelingen, den absoluten Vorrang ökonomischen Denkens infrage zu stellen.10 Nicht nur die demografischen Folgen – Geburtenrückgang und die sogenannte Überalterung – sind bedrohlich, sondern auch das Schwinden der privaten und informellen Wohlfahrtsökonomie, die in Familie, Nachbarschaft und Gemeinden nach wie vor die Grundlage des professionellen Hilfesystems ist. Wer Beruf und Familie vereinbaren will und muss, ist heute auf ein breites und differenziertes Dienstleistungsangebot in den Quartieren angewiesen. Was es für Familien bedeutet, wenn Kitas und Tagespflege plötzlich schließen, haben im Coronajahr (2020) viele erlebt. Dabei wurde die Spaltung zwischen mobilen Bildungsgewinner*innen und immobilen »Abgehängten« überdeutlich. Wer als Fachkraft im Homeoffice arbeiten und die eigene Zeit frei gestalten konnte, sah darin vielleicht auch eine Chance, das Familienleben neu zu gestalten. Verkäuferinnen aber und sogar Pflegekräfte mussten oft kürzertreten, wenn Kitas und Schulen geschlossen waren. Und wer selbst Probleme mit der IT oder der deutschen Sprache hatte, sah sich überfordert, als Haus- oder Nachhilfelehrer*in für die eigenen Kinder zu fungieren. Inzwischen ist jedem klar, dass erheblicher Nachholbedarf bei der Digitalisierung der Schulen besteht. Aber Digitalisierung kann nicht alle Probleme beheben. Neue Laptops integrieren die Zurückgelassenen nicht, Pflegeroboter beseitigen nicht den Fachkräftemangel auf dem Land und ein 10 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2012): Zeit für Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik. Achter Familienbericht. Berlin, S. 68. https://www.bmfsfj.de/blob/93196/b8a3571f0b33e9d4152d410c1a7db6ee/8-familienbericht-data.pdf (Zugriff am 05.01.2021).

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»Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht

»SmartHome« ersetzt keine lebendige Nachbarschaft – trotz des verführerischen Slogans, das SmartHome sei »das Zuhause, das sich kümmert«. »Kümmerer« und Sorgende Gemeinschaften sind deshalb zu einem Topthema der Sozialpolitik geworden. Darin gleicht unsere Situation der des 19. Jahrhunderts, als angesichts von Industrialisierung und Migration die Familien überlastet waren und Bindungen zerrissen. Im August 1840 gründeten hannoversche Bürgerinnen auf Initiative von Ida Arenhold den »Frauenverein für Armen- und Krankenpflege«. Inspiriert von Amalie Sieveking und Johann Hinrich Wichern in Hamburg wollte der Frauenverein der wachsenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten in der Industrialisierung begegnen. Die bürgerlichen Frauen gingen selbst in die Häuser, kümmerten sich um Lebensmittel und Brennmaterial, sorgten für die rechtzeitige Reparatur von Kleidern und Schuhen, achteten auf den Schulbesuch der Kinder und sorgten dafür, dass die Frauen Beschäftigung fanden – in Nähstuben, Strickvereinen, als Dienstboten. »Hilfe zur Selbsthilfe« war das tragende Prinzip – ganz ähnlich wie beim »Elberfelder System«11, in dem kommunale Koordinationsstellen das Ehrenamt in den Quartieren unterstützten. Heute kehren die Modelle in vielfältiger Form zurück. Von den Tafeln bis zu den Nähstuben, den Werkstätten und Tauschbörsen. Gleichzeitig entstehen neue Formen zivilgesellschaftlicher Netze: Hospizgruppen, Frühfördernetze, Mehrgenerationenhäuser und Seniorenwohngemeinschaften. Die »Caring Communities« sind zum internationalen Leitbegriff geworden, wenn es darum geht, auf regionaler und lokaler Ebene Verantwortungsstrukturen neu zu beleben. Für Menschen mit Behinderung, Kinder aus Armutsfamilien und demenzkranke Ältere, für Sterbende und Geflüchtete. Es geht um ein neues gesellschaftliches Gegengewicht. Angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems, in dem Zugänge zunehmend über Geld und Wissen gesteuert werden, angesichts der zunehmenden Individualisierung und der Zunahme überforderter Familien stehen die Sorgenden Gemeinschaften für wechselseitige Unterstützung und Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung.

11 Deimling, Gerhard (2003): 150 Jahre Elberfelder System. Ein Nachruf. Geschichte im Wuppertal, 12, S. 46–57.

Wahlfamilien – Kirche als Gemeinschaftsagentur

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1.4 Wahlfamilien – Kirche als Gemeinschaftsagentur Die Apostelgeschichte erzählt, dass schon die ersten christlichen Gemeinden Caring Communities waren. Güter wurden geteilt, Kranke besucht, für alle gemeinsam wurde der Tisch gedeckt (Apostelgeschichte 2,42 ff.). Diese sorgenden Gemeinschaften hatten hohe Anziehungskraft für Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Milieus – so wie im 19. Jahrhundert die Brüderhäuser und Diakonissenmutterhäuser. Auch dort lebte man Gemeinschaft, um Gemeinschaft zu stiften – auf Krankenstationen, in Wohnquartieren und Rettungshäusern. Gemeinschaft wächst in diesem Beziehungsgeflecht – zwischen Helfer*innen und Hilfebedürftigen wird Sinn erfahren, Menschsein erlebt und erlernt. Ganz wie in einer Familie. Die starke Orientierung der Kirche an der Kleinfamilie allerdings hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass es zu wenig Angebote für diejenigen gibt, die in anderen Lebensformen leben. Gerade Singles fühlen sich oft ausgeschlossen, Alleinerziehende fühlen sich nicht gemeint, weil sie der Norm nicht entsprechen.12 Die »uniformierten« Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts mit Diakonissenzölibat und Tracht sind darin leider kein Vorbild für unsere Zeit. Dabei begann die christliche Gemeinde mit Wahlfamilien – Christ*innen, die sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst hatten und nun in den Gemeinden eine neue Familiaritas13 fanden. Füreinander waren sie Brüder und Schwestern, Mütter und Väter – so wie bis heute Menschen Wahlfamilien in Wohngemeinschaften, Mehrgenerationenhäusern oder auch an Mittagstischen bilden. Vor 35 Jahren hat der Sozialpsychiater Klaus Dörner mit seinem Konzept vom dritten Sozialraum für eine neue Wertschätzung der Kirchengemeinden geworben. Ihm ging es um die die Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement. Kirchengemeinden, so seine Hoffnung, könnten wieder Caring Communities werden. Die Älteren, die die Gemeinden oft prägen, sind stärker ortsgebunden; sie engagieren sich in Vereinen – wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden –, aber zunehmend auch in Bürgerinitiativen und Genossenschaften, in der Kommunalpolitik. Sie haben oft starke Netzwerke am Ort, kennen Menschen aus ganz verschiedenen Zusammenhängen und können vielfältige Erfahrungen in ihr Engagement einbringen. Ich denke an ehrenamtliche Kirchenpädagog*innen, Menschen, die 12 Künkler, Tobias/Faix, Tobias/Weddigen, Johanna (2019): Christliche Singles. Wie sie leben, glauben und lieben. Holzgerlingen. 13 Familienbeziehungen, die nicht über »Blutsverwandtschaft«, sondern über Wahlverwandtschaft begründet sind. Von Familiaritas spricht man auch bei den »Laiengemeinschaften«, die sich mit einer gewissen Verbindlichkeit rund um Klostergemeinschaften sammeln – ohne den strengen Gelübden der Ordensgemeinschaft zu unterliegen.

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»Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht

Friedhöfe erhalten, Ortsgeschichte schreiben und Besuchsdienste übernehmen, Lesepat*innen und Leih­omas und -opas, an Stifter*innen – materiell wie immateriell gibt es ein reiches Erbe weiterzugeben. Angesichts des wachsenden Drucks, der in der Phase von Berufseinstieg, Karriere und Familiengründung auf den Jüngeren lastet, können die Älteren ihre Zeit und ihre Freiheit einbringen, um den fragilen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken. Die Zivilgesellschaft lebt von den 55–69-Jährigen. Als während des Frühjahrs-Lockdowns Tafeln und Schulen geschlossen wurden, wurden die Älteren jedoch gebeten, zu Hause zu bleiben, und manche fühlten sich einfach vergessen. Andere engagierten sich mit neuen Ideen: »In der Kirchengemeinde haben wir zu Ostern eine Kerzenaktion für Alleinlebende durchgeführt mit einer Osterbotschaft dazu«, sagt Ilse G.: »Das hat offenbar viele positive Reaktionen hervorgerufen. Aber danach haben wir von der Gemeinde nichts mehr gehört. Das war arg.« Offenbar wird das Engagement der Älteren nicht angemessen gewürdigt. Dabei waren gerade die Älteren krisenerfahren genug, während der Pandemie auf neue Weise Gemeinschaft zu stiften. Vor den Altenzentren und auf Balkonen wurde musiziert. Und in vielen Gemeinden verteilten Ehrenamtliche Oster- und Adventsgrüße: Andachtspäckchen für daheim mit Kerze, Spruchkarte, Gebäck und einem Liedblatt. Gemeinschaft im Social Distancing – wie ist das möglich? In den Kirchen wird die Frage am Beispiel des Abendmahls heftig diskutiert. Schließlich geht es dabei um leibliche Gemeinschaft – in der Gemeinde, mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus. Lässt sich diese sinnlich-leibliche Nähe am Laptop im eigenen Wohnzimmer erfahren? Vielleicht. In den Altenheimen, Krankenhäusern und Hospizen, in denen die Türen verschlossen waren, war oft nicht einmal das möglich. Dabei sind gerade sterbende oder demenzkranke Menschen auf Nähe und Umarmung angewiesen. Christus ist Fleisch geworden, sagt das Johannesevangelium (Joh 1,14). Die wohldurchdachten Begegnungszelte, Glasabtrennungen, Tablets sind da keine Antwort. Aber immerhin halten sie die Wunde offen, die unserer »berührungslosen Gesellschaft«14 erst jetzt bewusst wird. Vielleicht steckt darin eine Chance, wieder neu zu begreifen, was es heißt, dass wir verletzlich und angewiesen sind – angewiesen auf Gemeinschaft. Eigentlich berühre Religion ja immer die Verlorenheit des Menschen, seine Hilflosigkeit, meint Matthias Horx: »Aber in dieser Krise sind eher die Krankenschwestern die Engel, Mediziner oder Laborforscher die Götter und die Virologen die Deuter.«15 Es geht ans Eingemachte. 14 Thadden, Elisabeth von (2018): Die berührungslose Gesellschaft. München. 15 Horx, Matthias (2020): Die Zukunft nach Corona. Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert. Berlin, S. 19.

»Gemeinschaft der Schwestern und Brüder«

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1.5 »Gemeinschaft der Schwestern und Brüder« – Traditionen zwischen Selbstkritik und Kraftquelle »Wie wollen wir leben, um die Zerbrechlichkeit zu verringern, die wir erlebt haben? Wie können wir dauerhaft neue Formen des Zusammenlebens finden, in denen Individualität und Gemeinschaft möglich sind?«, fragt Matthias Horx.16 Lässt sich etwas aus den großen Traditionen der Gemeinschaftsdiakonie lernen? Dieses Buch geht in seinem mittleren Teil der Geschichte der Gemeindeschwestern und ihrer Quartiersarbeit nach, fragt nach den Traditionen des gemeinsamen Dienstes in den Schwestern- und auch den Bruderschaften und der Rolle sorgender Gemeinschaften in modernen Sozialunternehmen. Welchen Anteil haben die kirchlichen Träger an den aktuellen Problemen der Ökonomisierung und Vermarktlichung? Was kann Diakonie dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft den Wert der Gemeinschaft dauerhaft neu entdeckt? Und welche sozialpolitischen Veränderungen sind nötig, um weitere Spaltungen zu vermeiden und die Sorgekräfte zu stärken? Die Erosion der traditionellen diakonischen Gemeinschaften ist eng mit der Geschichte von Frauenbewegung, Pflege und Sozialarbeit verknüpft. Neben Bildungsaufbrüchen und gesellschaftlichen Emanzipationsimpulsen gehörten auch die politische Indienstnahme während des Nationalsozialismus und die ökonomische Abwertung der »weiblich« konnotierten Care-Arbeit dazu. Die Schattenseiten, die damit verbunden waren, müssen unser Verständnis von Gemeinschaft grundlegend verändern – weg von einer funktionalen, auf Anpassung und »Gleichschaltung« ausgerichteten Definition von Gemeinschaft hin zu einer vielfältigen, offenen Gemeinschaft der Ungleichen, die sich gerade im Austausch mit dem »Anderen« immer neu erfindet. Weg von der sozialpatriarchalen Prägung der Gemeinschaftseinrichtungen hin zu einem offenen Miteinander mit Pflegebedürftigen, Bewohner*innen, Angehörigen und Ehrenamtlichen. Wie notwendig das ist, wurde bei der Schließung von Heimen in diesem Coronajahr deutlich wie selten: Selbstbestimmung als Voraussetzung für eine offene Gemeinschaft geriet unter die Räder. Kapitel 3 beschreibt noch einmal, wie das geschehen konnte, und zeigt zugleich, wie ein neues Verständnis von Sorge­ arbeit als Selbstsorge und Mitsorge Teams und Einrichtungen verändern kann. Die Interviews mit Gemeinschaftsmitgliedern machen deutlich, was das für die Entwicklung von Gemeinschaften bedeutet. Welche Impulse können von neuen

16 Horx 2020, S. 66.

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»Herz oder Ellenbogen« – worum es in diesem Buch geht

Unternehmens- und Beratungskonzepten wie »Buurtzorg«17 oder dem »circle of seven«18 ausgehen? Letztlich sind solche Beobachtungen mit der Frage verbunden, in welchem Maße Gemeinschaft machbar und gestaltbar oder eben unverfügbar ist. Die Frage rührt ans »Eingemachte« der Kirchen und ihrer Angebote. Wie kann es gelingen, Kirche als inklusive Gemeinschaft und Wahlfamilie der verschiedenen Generationen, als Tischgemeinschaft, Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft zu stärken? Welche Chancen bieten dabei die digitalen Medien? Und welche Rolle spielen die exklusiven Gemeinschaftssymbole der Kirchen –Taufe und Abendmahl, die uns leiblich erfahren lassen, dass wir Teil einer grenzüberschreitenden Gemeinschaft der Lebenden und Toten sind? Ist es möglich, Menschen in dieses Geheimnis einzuführen, ohne die Grenze zu schließen zwischen »innen« und »außen«, Mitgliedern und Suchenden? Wie also werden die alltäglichen Tischgemeinschaften durchlässig für den auferstandenen Christus? Wenn es wahr ist, dass die Gemeinschaft der Heiligen in den Brüchen unserer alltäglichen Gemeinschaften aufleuchtet, dann gilt es, auf diese Brüche zu achten und wachsam zu bleiben. Das Leuchten bleibt unverfügbar wie die Nordlichter, wir haben es nicht in der Hand, aber wir können damit rechnen. Das Coronajahr hat die Kirchen herausgefordert, zu klären, wie die Schätze aus Evangelium und Tradition helfen können, aus der Vereinzelung herauszufinden. Der Weg, auf den das Buch einlädt, geht von den Alltagserfahrungen in Familien und Quartieren, an Schulen und Arbeitsplätzen aus, wo während der Coronakrise die Bedeutung von Gemeinschaft erkennbar wurde. Über die Tradition der Gemeinschaftsdiakonie und die aktuellen Probleme und Herausforderungen in der Pflege führt er zu einem kritischen Blick auf das historische und sozialpolitische Framing unserer Gemeinschaftsbilder und fragt schließlich, was Kirche und Diakonie heute zum Gemeinwesen beitragen können. Gelungene Beispiele und Interviews mit »Pionier*innen« sollen Mut machen, überholte Muster hinter sich zu lassen. Wir brauchen Menschen, die anderen zeigen, wie wir in den Brüchen unseres Lebens die Augen für das Ganze offenhalten können.

17 Buurtzorg (o. J.): The Buurtzorg Model. https://www.buurtzorg.com/about-us/buurtzorgmodel/ (Zugriff am 14.12.2020). 18 Scharmer, C. Otto (2008): Theorie U. Von der Zukunft her führen. Precensing als soziale Technik. Heidelberg. S. 162.

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Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft

2.1 Zusammenhalt gegen Fliehkräfte – die digitale Single-Gesellschaft »Was wärst du lieber: arm mit vielen Freunden oder reich und allein?« Das hat kürzlich ein Elfjähriger seinen Stiefvater gefragt. »Keine Frage«, sagte der: »Freunde sind das Wichtigste; denn Einsamkeit ist schlimmer als Armut.« Aber für den Elfjährigen war das durchaus eine Frage. Der Journalist, der die Geschichte mit seinem Stiefsohn im britischen »Guardian«19 erzählte, war merklich irritiert. Der Junge wollte nämlich lieber reich sein. Freunde, meinte er, wären doch leicht zu finden – auf YouTube, Facebook und Co. Der Artikel ging der Frage nach, wie die Mediengesellschaft unsere Beziehungen verändert. Tatsächlich sagt ein Viertel der Jugendlichen20, sie fühlten sich dank des Internets nie allein21 – bei den Älteren sagen das nur 6 Prozent. Die eigenen Gefühle auch über elektronische Medien mitzuteilen, ist für die »Digital Natives« normal. Es ist jederzeit möglich, sich mit anderen auszutauschen. Zugleich aber geben 17 Prozent der Deutschen an, dass sie sich regelmäßig einsam fühlen.22 Die Lebenswelten differenzieren sich immer mehr aus, die gesellschaftlichen Gräben vertiefen sich, die Fliehkräfte, die die Globalisierung antreibt, sind kaum 19 Redhead, Harry (2019): We millenials have more ›friends‹ than ever. So why are we so lonely? The Guardian, 08.10.2019. https://www.theguardian.com/society/2019/oct/08/millennials-social-media-loneliness-epidemic (Zugriff am 16.12.2020). 20 Vgl. DIE ZEIT/infas/WZB (2019): Das Vermächtnis. Wie wir leben wollen. Und was wir dafür tun müssen. Ergebnisse 2019. https://live0.zeit.de/infografik/2019/Vermaechtnis-Studie_Broschuere_2019.pdf (Zugriff am 16.12.2020). 21 Wetzel, Jan (2017): Wie viel Internet verträgt mein Leben. In: Allmendinger, Jutta: Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen (S. 121–122). München, S. 120. Online verfügbar: https://www.zeit.de/2016/44/digitalisierung-internet-generationen-vermaechtnis-studie (Zugriff am 05.01.2021). 22 Splendid Research (Hg.) (2019): Studie: Wie einsam fühlen sich die Deutschen? https://www. splendid-research.com/de/studie-einsamkeit.html (Zugriff am 05.01.2021).

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Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft

noch zu zügeln. Nicht wenige würden sagen, dass dazu die Phase des Neoliberalismus beigetragen hat, in der staatliche Regulierung zurückgenommen wurde, um die Dynamik der Märkte zu entfachen. Andere sehen einen Grund in der wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt, der Emanzipation von Minderheiten, der zunehmenden Individualisierung, die zu einer »Gesellschaft der Singularitäten«23 geführt habe. Aus dem begründeten Respekt für die sozialen Bürgerrechte aller sei blanker Egoismus geworden, der Institutionen und Regeln des Zusammenlebens nicht mehr respektiert. Stehen wir also am Ende des Neoliberalismus mit seiner Polarisierung zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen, den Hochqualifizierten in der Wissensökonomie und den Niedrigqualifizierten im Dienstleistungssektor, zwischen Metropolen und schrumpfenden Regionen, wie der Soziologe Andreas Reckwitz meint? Gefragt sei eine bessere öffentliche Infrastruktur, eine Verringerung der Schere zwischen Arm und Reich, kurz: eine »Rekonstruktion des Allgemeinen im Sozioökonomischen wie im Kulturellen«.24 In manchem gleicht unsere Situation der des 19. Jahrhunderts, als sich die westliche Gesellschaftsordnung vor dem Hintergrund der Industrialisierung rasant wandelte. Der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi, der dies 1944 am Beispiel Englands untersuchte, sprach von der »Großen Transformation«.25 Mit dem Beginn des Industriezeitalters kam es zu tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen – zur Herausbildung von Marktwirtschaften und Nationalstaaten. Auch in Deutschland brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, alleingelassene und verwahrloste Kinder und Kranke, Wohnungsnot und in der Folge oft Kriminalität. Es dauerte Jahrzehnte, bis am Ende des 19. Jahrhunderts die sozialen Sicherungssysteme entstanden, die den deutschen Sozialstaat heute noch konturieren. Vom Vormärz bis zu Bismarck gab es heftige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Aber es gab eben auch Bürger*innen, die neue gemeinschaftliche Initiativen entwickelten – wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Amalie Sieveking oder Theodor und Friederike Fliedner. Sie gründeten Vereine, schufen Genossenschaften, Gemeinschaften und Wahlfamilien, organisierten Kindergärten und Pflegeeinrichtungen, dazu neue 23 Reckwitz, Andreas (2019): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin. 24 Reckwitz, Andreas (2020): Die neue Klassengesellschaft. SWR2 Wissen: Aula, 07.06.2020. https:// www.swr.de/swr2/wissen/die-neue-klassen-gesellschaft-swr2-wissen-aula-2020-06-07-100. html (Zugriff am 05.01.2021). 25 Polanyi, Karl (1973): The Great Transformation, Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen. Berlin.

Zusammenhalt gegen Fliehkräfte – die digitale Single-Gesellschaft

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Berufe und Ausbildungsgänge sowie Quartierskonzepte für die Städte. Das alles hat dazu geführt, dass sich in der Inneren Mission, wie die Dachorganisationen der Diakonie in Deutschland bis in die Nachkriegszeit genannt wurden, und bei der Caritas wie auch in der Arbeiterbewegung neue Netzwerke bildeten, auf denen die Politik weiter aufbauen konnte. Heute scheint sich der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem viele von uns aufgewachsen sind, wieder aufzulösen. Jana Simons Buch »Unter Druck«26 beschreibt die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen aus der Perspektive ganz verschiedener Menschen vom Staatssekretär bis zur Krankenschwester. »Etwas kommt in allen Gesprächen sehr häufig vor«, schreibt die Autorin: »Angst, Angst vor der Zukunft, vor Verlust, Abstieg, Armut, Alter, Krankheit, politischer Spaltung und Instabilität der Welt.«27 »Die Konzerne trainieren dich, immer effizienter, immer mehr zu arbeiten. […] Krank werden geht eigentlich nicht«28, sagt Jörn Reichenbach, ein Ingenieur, der wegen eines Magengeschwürs zusammengebrochen und länger ausgefallen ist. Wie im Scherz empfiehlt er seiner Frau ­Katrin, ihn vor ein Auto zu stoßen, wenn sich Pflegebedürftigkeit abzeichnet. Die Gewissheit, bei Schwäche und Krankheit Solidarität zu erfahren, ist vielen verloren gegangen. Die Angst, nicht mehr versorgt zu sein, wenn man selbst nicht für sich sorgen kann, gehört zu den größten Ängsten der Deutschen. Es sei schlimm, in Deutschland alt und krank zu sein, schreibt Simon – und noch schlimmer, dabei einsam zu sein.29 Individualisierung und Mobilitätsanforderungen haben Bindungen, Traditionen, Rituale gelockert. Kirchen und Gewerkschaften verlieren Mitglieder, Nachbarschaften verändern sich im Zuge von Mobilität und Migration. Schulen wie Pflegeeinrichtungen müssen mit kultureller Diversität umgehen. Die Erosion des Zusammenhalts haben viele in den letzten Jahren als größtes gesellschaftliches Problem identifiziert. Es scheint, als hätte die Coronakrise diese Sorge für alle erkennbar gemacht. Überlastete Familien, zurückgelassene, bildungsferne Schüler*innen, Pflegende am Rande ihrer Kräfte, überforderte Einrichtungen und Dienste in der Altenhilfe – die Diskussion um systemrelevante Berufe zeigte, dass die lebenswichtigen Sorgeberufe seit Langem zu wenig Achtung erfahren. Daran änderte auch das kurzzeitige Klatschen auf den Balkonen nichts. Zugleich aber wuchs die Sehnsucht nach Gemeinschaft. »Es ist eine Herausforderung – aber als Gemeinschaft sind wir nicht allein« titelte das ZDF in der »Werbepause« beim ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020. Und Nach26 27 28 29

Simon, Jana (2019): Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert. Frankfurt a. M., S. 49 ff. Simon 2019, S. 12. Simon 2019, S. 252. Vgl. Simon 2019, S. 240.

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Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft

richtensprecher schlossen mit »Passen Sie gut auf sich und andere auf« oder Ähnlichem. Das rüttelte auf, weil es etwas Grundsätzliches ansprach: die gesellschaftliche Erosion, die wachsende Einsamkeit. Nach den ersten Wochen mit optimistischen Slogans und Feuilletonbeiträgen, die eine neue, achtsame Welt nach Corona beschrieben, waren dann aber viele überzeugt, dass es weitergehen würde wie bisher – schließlich war die Coronakrise nicht die erste, sondern mindestens die vierte große Krise seit 2001, als in New York die Twin ­Towers einstürzten. Die Finanzkrise 2008 und die Flüchtlingskrise 2015 machten die Probleme der Globalisierung, der Digitalisierung und der Migration für alle erkennbar. So gesehen ist die Pandemie nur eine weitere Erschütterung in der großen Transformation unserer Zeit. Matthias Horx allerdings sieht darin eine »Tiefenkrise«, die – ähnlich wie der Mauerfall von 1989 – das individuelle wie das kollektive Sein auf allen Ebenen betrifft; in gesellschaftlichen Strukturen, Machtverhältnissen, Deutungsmustern.30 Und für Olaf Scholz sind die Erfahrungen der Pandemie der »Ausgangspunkt […] für ein neues Zeitalter der Solidarität«31. »Größenwahnsinnig ist, wer alles allein meint stemmen zu können.«32 Ganz sicher ist die Coronakrise ein Wendepunkt. Aber sie könnte ihre Wirkung nicht entfalten, wenn nicht vieles vorher schon brüchig oder fragwürdig gewesen wäre. »Krisen haben dann tiefe Wirkungen, wenn sie auf eine Kultur treffen, die bereits in Schwingung versetzt und deren innere Konsistenz fragwürdig geworden ist«, meint Matthias Horx. Dann – und nur dann – erzeugen sie eine Abweichung im historischen Pfad. Vielleicht hat das Neue längst vorher begonnen – mit der zunehmenden Individualisierung wie mit der Sehnsucht nach Gemeinschaft. Mit den sogenannten »Co-Kulturen« vom Co-Working über CoGardening bis zu den Wohngemeinschaften und den neuen Genossenschaften. Gemeinschaften entstehen oft informell in der Nachbarschaft oder auf Facebook, Instagram und Co., aber auch in einem Projekt oder im Verband. Hundebesitzer*innen treffen sich im Stadtgarten, andere engagieren sich im Chor, beim Elternstammtisch oder einem Gartenprojekt in der Kita. Gemeinsame Gemüsegärten entstehen am Stadtrand (z. B. »meine-ernte.de«), in der Nachbarschaft werden Werkzeuge ausgetauscht, die »Sharing Economy« wird attraktiver. In einer 30 Horx 2020, S. 15. 31 Bollmann Ralph/Meck, Georg (2020): »Unser Land kann das stemmen«. Olaf Scholz zu Coronakrise. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.2020. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/olaf-scholz-im-interview-zu-coronakrise-unser-land-kann-das-stemmen-16690023. html?GEPC=s3&premium=0xcefc9e2a8130f641f6ffdb08ff357eb5 (Zugriff am 15.12.2020). 32 Olaf Scholz am 22.03.2020 in »maybrit illner Corona spezial«, vgl. https://www.zdf.de/politik/ maybrit-illner/maybrit-illner-corona-spezial-vom-sonntag-22-maerz-2020-100.html (Zugriff am 09.01.2021).

Gemeinschaft am Küchentisch – Sorge hält die Welt zusammen

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Trendstudie über die neue »Wir-Kultur« sehen die Autor*innen des Zukunftsinstituts ein Zeitalter unterschiedlicher Gemeinschaftsformen herankommen, in denen kurz- oder langfristig Verlässlichkeit entsteht – in Win-win-Situationen mit effektivem Tauschen und Teilen, beim Engagement in der Nachbarschaft, aber auch in Mehrgenerationenhäusern und Dorfläden.33 2020 erschien, nach der Gründungsurkunde 2013, »Das zweite konvivialistische Manifest«, in dem über 300 Intellektuelle aus 33 Ländern für neue Formen des Zusammenlebens und eine »post-neoliberale Welt« plädieren.34 Der Begriff »Konvivialismus« zielt auf eine neue Philosophie des Zusammenlebens: Gesellschaft könne nicht allein auf Marktbeziehungen beruhen, betonen die Autor*innen. Eine legitime Politik müsse sich auf die Prinzipien einer gemeinsamen Menschheit, einer gemeinsamen Sozialität verbunden mit Individuation und Konfliktbeherrschung berufen. Das im Jahr der Pandemie erschienene zweite Manifest führt nun zwei weitere grundlegende Prinzipien ein: Jegliche Form menschlicher Hybris ist abzulehnen; das Prinzip der gemeinsamen Natürlichkeit von Mensch und Natur ist zu achten. Weil die Coronapandemie allen vor Augen geführt hat, wie »interdependent unsere Welt ist«35, gebe es Hoffnung, dass aus dem Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit Solidarität erwächst, so das Manifest.

2.2 Gemeinschaft am Küchentisch – Sorge hält die Welt zusammen Noch lese ich regelmäßig die »Gemeindethemen«, den Gemeindebrief meiner ersten Kirchengemeinde, die ich vor 30 Jahren verlassen habe. In den ersten Jahren nach meinem Wechsel konnte ich beobachten, wie meine ehemaligen Konfirmand*innen heirateten und ihre Kinder tauften. Bei den Getauften, die jetzt dort aufgelistet sind, kenne ich inzwischen nur noch wenige Namen, bei den Verstorbenen schon mehr, am meisten noch immer bei den Engagierten. In der Gemeinde, in der ich heute wohne, ist das nicht anders: Den »harten Kern« der Engagierten kenne ich seit Jahren. Wer ehrenamtlich engagiert ist, hat meist tiefe Wurzeln am Ort. Aber dass Familien, möglicherweise sogar mit mehreren Generationen, an einem Ort wohnen, ist schon nicht mehr üblich. Vielleicht ist 33 Brühl, Kirsten/Pollozek, Silvan (2015): Die neue Wir-Kultur. Wie Gemeinschaft zum treibenden Faktor einer künftigen Wirtschaft wird. Frankfurt a. M., S. 13. https://www.zukunftsinstitut. de/fileadmin/user_upload/Die_Neue_Wir-Kultur-Leseprobe__1_.pdf (Zugriff am 05.01.2021). 34 Die konvivialistische Internationale (2020): Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt. Bielefeld, S. 72 ff. 35 Die konvivialistische Internationale 2020, S. 135.

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Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft

das auch einer der Gründe, warum Kirchenvorstände oft das Gefühl haben, sie fänden keine Ehrenamtlichen mehr: Sie suchen bei denen, die immer schon da waren, und nicht bei den Zugezogenen, die Anschluss und einen Platz für ihr Engagement suchen. Aber das Potenzial derer, die man schon kennt, wird kleiner. Vor allem auf dem Land und am Stadtrand pendeln mehrheitlich Väter in die Metropolen zur Arbeit. Häufig sind es dann die Mütter, die bleiben und ganz ähnlich wie Alleinerziehende alle Belastungen allein bewältigen müssen. Aber auch die Älteren, weniger beweglichen, bleiben. Häufig haben sie Wohneigentum, das sich in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen lässt … Die »multilokale Mehrgenerationenfamilie«36, zu der auch Patchworkfamilien und Singles gehören, bleibt einander verbunden. Aber um sich zu treffen und einander zu unterstützen, muss sie sehr viel mehr Zeit aufwenden als die Großfamilien früherer Generationen. Nach einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt es in Deutschland 16,8 Millionen Singles zwischen 18 und 65 Jahren – das sind immerhin 30 Prozent der Frauen und Männer im mittleren Alter. Verglichen mit einer Parship-Studie von 2005, die von 11,2 Millionen zwischen 18 und 69 Jahren ohne Partnerschaft ausging, ist der Anteil also deutlich gestiegen.37 Auch wenn Einsamkeit kein spezifisches Problem von Singles ist. »Du kannst einsam sein, und doch fühlst du dich eins mit allen. Du kannst dich isoliert fühlen, auch wenn du mit vielen zusammen bist«, sagt Doris Zölls vom Benediktushof.38. Und doch: Während der Coronakrise litten die Alleinlebenden besonders, weil die Möglichkeiten, mit anderen zusammenzukommen, fehlten. »Ich habe in den ersten Wochen der Corona-Zeit das Alleinsein als besondere Last empfunden, viel schwerer und niederdrückender als vorher, und ich versuche schon fast zwei Jahre, damit zu leben, und hätte mich über das Interesse aus der Gemeinde sehr gefreut«, schreibt llse G.: »Ich habe vermisst, dass jemand mich umarmt oder die Hand gibt. Die ›Kinderfamilien‹ leben verstreut in Zürich, Berlin, Recklinghausen. Mit neuen Formen wie ›Facetime‹ halten wir den sicht- und hörbaren Kontakt, 36 Vgl. Bertram, Hans (2016): Die multilokale Mehrgenerationenfamilie. Berliner Journal für Soziologie, 12/2016, 517–529, 517. 37 Künkler/Faix/Weddigen 2019, S. 25. 38 Zölls, Doris (2019): Spring! Vom Verloren- ins Verbundensein. Die Zen-Meisterin Doris Zölls im Gespräch. Visionen. Spirit & Soul, 4/2019, 18–23.

Gemeinschaft am Küchentisch – Sorge hält die Welt zusammen

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aber es bleibt Ersatz. Um Gemeinschaft zu erfahren, muss ich selbst aktiv sein und bleiben: Einladen auf eine Tasse Kaffee auf dem Balkon. Telefonieren, mailen, Briefe schreiben an Gruppenmitglieder und Vereinsleute. Nachbarschaft pflegen«. Das Alleinsein und das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge sind nicht nur eine emotionale Herausforderung. Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, verlieren die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags oft enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Das drohende Care-Defizit, das die Kommission für den Siebten Familienbericht der Bundesregierung 2012 befürchtete, war während der Coronakrise deutlich spürbar.39 Als im Frühjahr 2019 die Einrichtungen und Dienste geschlossen werden mussten, setzten alle wie selbstverständlich auf das informelle Füreinander in Familie und Nachbarschaften – von der häuslichen Pflege über die Kinderbetreuung bis zur Schulaufgabenhilfe. Es hat eine Weile gedauert, bis die politischen Entscheider*innen begriffen, in welchem Maße damit Familien, insbesondere Alleinerziehende, überfordert und überlastet waren. Denn Caring – aufeinander achten, füreinander sorgen, sich umeinander kümmern – braucht Zeit, Zeit in Familie und Nachbarschaft, die nicht wie eine Dienstleistung entgolten wird. Denn unsere Gesellschaft ist eine Erwerbsgesellschaft. Die meisten Menschen sind auf Einkommen aus Arbeit angewiesen. Aufstiegschancen, Armutsvermeidung und Konsummöglichkeiten für die Einzelnen wie auch die soziale Sicherung hängen mehr und mehr von der individuellen Erwerbstätigkeit ab. Die 2005 vollzogenen Änderungen in der Arbeitslosenversicherung beim Arbeitslosengeld 2 (»Hartz IV«), die Änderungen im Unterhaltsrecht von 2008, die »Rente mit 67« haben den Druck auf einen stabilen Arbeitsplatz und ein sicheres Arbeitseinkommen auch für geschiedene Frauen und Mütter erhöht. In einer schrumpfenden Gesellschaft, der die Fachkräfte ausgehen, setzen Unternehmen verstärkt auf Frauen, lagern Arbeit in Projektarbeit aus und flexibilisieren die Arbeitszeit. Das nun in der Coronazeit weithin eingeübte Homeoffice bietet zusätzliche Chancen der Vereinbarkeit, aber auch zusätzlichen Druck. Die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Sorgearbeit wird wieder fließend, wie sie es bis zum Beginn der Industrialisierung war, als Weber, Müller und Schmiede zu Hause arbeiteten.

39 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012, S. 68.

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Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft

Im Sommer 2020 arbeiteten bereits 36 Prozent der Beschäftigten im Homeoffice – gegenüber 24 Prozent im Jahr 2019.40 Mit dem längeren Verbleib im Erwerbsleben und der steigenden Zahl pflegebedürftiger Hochaltriger stehen immer mehr Menschen vor der Herausforderung, Berufs- und Sorgetätigkeiten vereinbaren zu müssen. Das betrifft nicht nur die Eltern kleiner Kinder, sondern immer öfter auch die Altersgruppe der 40- bis 65-jährigen Frauen, bei denen es um die Unterstützung der betagten Eltern, um häusliche Pflege oder die Betreuung der Enkel*innen geht. Dabei ist das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit bei Männern und Frauen noch immer ungleich verteilt. Bis heute werden in Deutschland zwei Drittel der Pflegebedürftigen, in Zahlen sind das 1,5 Millionen Menschen, von Angehörigen gepflegt – dabei sind siebzig Prozent der Pflegenden Frauen. Neun Jahre dauert die häusliche Pflege im Durchschnitt. Und dabei steigt das Armutsrisiko erheblich. Der Einkommensverzicht macht sich in oft sehr niedrigen Renten bemerkbar. Mütter, die um der Kindererziehung willen nur noch halbe Tage arbeiten, Schwiegertöchter, die die kranke Mutter über Jahre pflegen, verzichten noch immer wie selbstverständlich auf eigenes Einkommen und Karriere. Ob das im Schnitt weiterhin niedrigere Einkommen von Frauen, der sogenannte Gender-Pay-Gap, in der Coronakrise dazu geführt hat, dass vor allem Frauen beruflich zurückgesteckt haben, ist noch strittig.41 Unstrittig ist allerdings, dass sich die traditionellen Geschlechterrollen bislang spätestens mit der Geburt des zweiten Kindes verfestigen. Immerhin wurde die zusätzliche Familienarbeit, die während des FrühjahrsLockdowns geleistet wurde, zum ersten Mal finanziell anerkannt: mit einem einmaligen Zuschuss wurde das Kindergeld erhöht. Damit verbinden viele die Hoffnung, dass die Coronakrise den Blick auf diese Problematik geschärft hat, ja, dass sie zu einer neuen »Care-Revolution« führt, die die reproduktive Arbeit aufwertet, wie die Philosophin Svenja Faßpöhler schreibt.42 »In der noch andauernden Pandemie wird einmal mehr deutlich, dass zum Menschsein nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gehört, sondern auch Verletzlichkeit und Angewiesenheit«, meinen auch Barbara Thiessen et al. in ihrem Positionspapier »Großputz! Care nach Corona neu 40 Kantar/Initiative D21 (2020): Deutlicher Corona-Effekt beim digitalen Arbeiten. Berlin/ München. https://www.kantardeutschland.de/corona-effekt-beim-homeoffice/ (Zugriff am 05.01.2021). 41 Vgl. aber: Zucco, Aline (2020): Die Corona-Krise trifft Frauen doppelt. Policy Brief, WSI, 5/2020, 8. 42 Flaßpöhler, Svenja (2019): Brauchen wir ein Care-Revolution? Philosophie Magazin, 46, 58– 59.

Gemeinschaft am Küchentisch – Sorge hält die Welt zusammen

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gestalten« (auf www.care-macht-mehr.com).43 Menschen können – in jedem Alter – ohne Care nicht (über-)leben. »Frauen sind als Care-Gebende sowohl in Familien als auch in Care-Berufen überproportional aktiv. Dass Care-Tätigkeiten in beiden Bereichen sinnstiftend und erfüllend sein können, entdecken aber auch immer mehr Männer. Wir sollten Care jenseits von Geschlechterklischees denken und adressieren, ohne Geschlechterhierarchien zu verfestigen. […] Die Krise kann dann eine Chance sein, wenn nicht nur Prämien und Held*innentitel verteilt werden, sondern die Gelegenheit genutzt wird, unsere Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtssysteme und somit die Gesamtheit von Care-Arbeit gesellschaftlich solidarischer zu organisieren und zu finanzieren.«44 Das Positionspapier fordert unter anderem ein Care-Zeit-Paket, um diese Arbeit besser im Alltag und im Lebenslauf zu verankern. »Da verstärkte Care-Bedarfe zu jedem Zeitpunkt auftreten können und oft unvorhersehbar sind, ist mit starren Einzelregelungen – etwa nach der Geburt eines Kindes – nicht viel geholfen. Das Care-Zeit-Budget sollte daher über den gesamten Lebensverlauf hinweg selbstbestimmt und flexibel für unterschiedliche Care-Aufgaben genutzt werden können. Und es muss, da es um gesellschaftlich relevante Tätigkeiten geht und die Erwerbsgesellschaft auf diese angewiesen ist, auch mit einem Lohnersatzanspruch und sozialer Sicherung einhergehen. Ein solches ›Optionszeitenmodell‹ (www. fis-netzwerk.de) zielt darauf, berufliche Unterbrechungen oder Arbeitszeitreduzierungen für Care-Aufgaben für alle Menschen zu einer neuen Normalität zu machen.«45 Im Vorfeld der Tarifauseinandersetzungen 2018 hatte die IG Metall ihre Mitglieder zu diesem Thema befragt. Da zeigte sich: 84 Prozent der Befragten forderten eine finanzielle Unterstützung für diejenigen, die wegen Kindererziehung oder Pflege

43 Thiessen, Barbara/Weicht, Bernhard/Rerrich, Maria.S./Luck, Frank/Jurczyk, Karin/Gather, Claudia/Fleischer, Eva/Brückner, Margit (2020): Großputz! Care nach Corona neu gestalten. Ein Positionspapier zur Care-Krise aus Deutschland, Österreich, Schweiz. http://care-machtmehr.com/ (Zugriff am 15.12.2020). 44 Thiessen et al. 2020. 45 Thiessen et al. 2020.

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von Angehörigen ihre Arbeitszeit reduzieren müssen.46 Während der Krise wurde sehr klar: Ohne die Unterstützung der Wirtschaft, ohne die Verknüpfung mit Dienstleistern im Quartier sind weder Pflege noch Erziehung auf Dauer zu leisten. Wie in der großen Transformation zur Industriegesellschaft gilt es auch in der Transformation zur digitalen, globalen Wissensgesellschaft darum, die Struktur unserer Sozialsysteme nicht nur der demografischen Entwicklung, sondern auch den (Rollen-)Veränderungen von Familien und den neuen Arbeitsformen in Unternehmen anzupassen. Im Christlichen Kinder- und Jugendwerk »Die Arche« in Berlin-Hellersdorf machte sich das Team während der Krise Gedanken über die Kinder und Familien, die im ersten Lockdown nicht kommen konnten. Den von Armut bedrohten Familien fehlten nicht nur das kostenlose Mittagessen und die Begleitung bei den Hausaufgaben. Nach den ersten Wochen des Lockdowns wurde vielen auch bewusst, wie sehr der Präsenzunterricht gerade den benachteiligten Kindern fehlte. Kinder brauchen Lehrer*innen, die ihnen Feedback geben, Mentor*innen, die sie unterstützen und fördern, sie brauchen andere Kinder, um sich auszutauschen und zu messen. Eine Untersuchung aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf47 zeigt, wie sehr der coronabedingte Rückzug Gesundheit, soziale Entwicklung und Lernfortschritte der Kinder beeinträchtigt hat. In Niedersachsen haben deshalb Kirchen und Kultusministerium gemeinsam eine »Sommerschule« gestaltet: die ökumenische Aktion »Lernräume« in den Gemeinden. Dabei ging es nicht nur darum, die Ferien zu nutzen, um Lernstoff nachzuholen. Das wichtigste Ziel war, Kinder zu ermutigen – mit Spielen, Ausflügen, gemeinsamen Aktionen. Aber auch Jugendlichen, die durchaus in der Lage sind, digital zu lernen, fehlte das Miteinander mit Freund*innen. Und nicht nur Schulen waren geschlossen, sondern auch Jugendclubs, Universitäten, Schwimmbäder, Vereinshäuser und alle anderen etablierten Treffpunkte. Eine junge Frau, die bei einer Party auf der Hasenheide in Berlin interviewt wurde, sagte, ihr hätte ohne den Club der Lebensmut gefehlt: Beim Raven fühle sie sich mit etwas Größerem verbunden,

46 Schulten, Thorsten/Bauer, Götz/Föhr, Merle/Schmidt, Ulrich/Taube, Andrea/Wollensack, Monika/Ziouziou, Jasmina (2019): Tarifpolitischer Jahresbericht 2018, Informationen zur Tarifpolitik. WSI. Düsseldorf, S. 51. https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=8322 (Zugriff am 05.01.2021). 47 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (2020): COPSY-Studie. https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html (Zugriff am 16.12.2020).

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in das man sich »fallen lassen« könne.48 Nicht nur junge Menschen brauchen das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein, wir alle brauchen Gemeinschaft und Vertrauen in das Leben gerade dann, wenn wir in eine neue Lebensphase gehen und Freundschaften und Partnerschaften aufbauen. Das zeigt auch die Shell-Jugendstudie von 2019: Gute Freunde, die einen anerkennen (97 Prozent), ein*e Partner*in, dem*der man vertrauen kann (94 Prozent) und ein gutes Familienleben (90 Prozent) stehen bei den 12–25-Jährigen ganz oben auf der Werteskala. Die Werte sind zwischen 2015 und 2019 sogar noch gestiegen.49 Das Ideal der Arbeitsmärkte scheint aber der Single zu sein, der jederzeit seine Zelte abbrechen und mit der Arbeit an neue Orte ziehen kann. Seit den 1990erund frühen 2000er-Jahren wurde das Leitbild der jungen, unabhängigen Singlefrau auch von TV-Serien wie »Sex and the City« propagiert. In der Wirtschaft entstand ein spezieller Markt für Reisen, Wellness, Sport und Lifestyle. »I am enough« steht auf einem der schön gestalteten Ringe, die man neuerdings im Internet bestellen kann. Sich selbst genug sein, sich annehmen, wie man ist – das ist sicher auch ein Kontrapunkt zur Leistungsgesellschaft mit ihren Optimierungsverpflichtungen. Um unserer selbst sicher sein, brauchen wir aber zugleich stabile Beziehungen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern spielt dabei eine zen­ trale Rolle. Nach der Studie von Jutta Allmendinger sagen 67 Prozent der Frauen und 57 der Männer, dass sie »aus Liebe zu ihrem Kind oder ihren Kindern Opfer gebracht und sich in wichtigen Situationen (Jobangebot, Umzug) zugunsten des Kindes entschieden haben.«50 Wie entscheidend der Kontakt zu Familie und Freund*innen war – den »wichtigsten Menschen in meinem Leben« – konnte man während der Krise in vielen Gesprächen und Talkshows hören. Im Lockdown fehlten die Gelegenheiten, bei denen man weit entfernt lebende Angehörige wie selbstverständlich trifft: die Taufen und Hochzeiten, Geburtstage und Weihnachtsfeiern. Für die engste Familie allerdings bot Covid-19 eine neue Chance: Zwischen Homeoffice und Homeschooling hatte sie wieder Zeit zum gemeinsamen Kochen und Essen. Normalerweise müssen gemeinsame Mahlzeiten, freie Stunden am Wochenende angesichts 48 Vgl. Götzke, Manfred (2020): Die Hasenheide in Berlin wird zum Party-Hotspot. Feiern trotz Corona. Deutschlandfunk, 19.08.2020. https://www.deutschlandfunk.de/feiern-trotz-coronadie-hasenheide-in-berlin-wird-zum-party.1773.de.html?dram:article_id=482614 (Zugriff am 16.12.2020). 49 Albert, Mathias/Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun/Kantar (2019): Jugend 2019–18. Shell Jugendstudie. Eine Generation meldet sich zu Wort. S. 4. https://www.shell.de/ueber-uns/shelljugendstudie/_jcr_content/par/toptasks.stream/1570810209742/9ff5b72cc4a915b9a6e7a7a7b6fdc653cebd4576/shell-youth-study-2019-flyer-de.pdf (Zugriff am 05.01.2021). 50 Allmendinger, Jutta (2017): Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen. München, S. 129.

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der vielfältigen Anforderungen von Schule, Beruf und Freizeit regelrecht geplant werden. Für spontane Tischgemeinschaften bleibt oft nur der Pizzaservice oder ein Lieferdienst. Plötzlich aber wurden Küchen zum Renner der Saison. An das gemeinsame Kochen und Mittagessen gewöhnt man sich schnell: Endlich ist wieder Zeit, sich auszutauschen, zu planen, Probleme zu klären. »Wir teilen und verteilen nicht nur die Lebensmittel, sondern wir teilen uns unser Leben mit«, haben Birgit Wagner-­ Esser und Thilo Esser geschrieben: »Jedem in der Familie ist wichtig, wie es den anderen geht. Es ist ihm oder ihr nicht egal. Der Tisch ist der zentrale Ort, an dem sich Gemeinschaft konstituiert«.51 2020 wurde auch Ostern am Küchentisch gefeiert – mit Osterglocken und Osterkerze, mit rot gefärbten Eiern und selbstgebackenen Brot. Zum gestreamten Gottesdienst. Dass auch die Gemeinschaft der Kirche zuerst Tischgemeinschaft ist, wurde vielen erst wieder klar, als wegen Covid-19 die Eucharistie- und Abendmahlsfeiern ausfielen – auch zu Karfreitag und Ostern. Wenn wir das Brot nicht teilen, fehlt offenbar etwas Wesentliches, auch im Alltag. Im Supermarkt ging die Hefe aus, weil plötzlich alle backen wollten. Vor dem Fernseher diskutierte die Nation, was andere auf sich nehmen, damit es uns gut geht – über Fleischproduktion und Werkverträge und über die Spargelstecher*innen und 24-Stunden-Pflegekräfte aus Osteuropa. Und in den Nachbarschaften tauchte die Frage auf, was wir tun können, damit es anderen gut geht. So starteten im CoronaLockdown Einkaufshilfen für die, die nicht vor die Tür kamen. Gemeinschaft entwickelt sich beim Einkaufen und Kochen, Tischdecken und Teilen, beim abendlichen Erzählen auf der Bettkante und am Krankenbett. Gemeinschaft lebt von Rhythmen und Ritualen, die die gemeinsame Identität und Kultur prägen, von den Festen und Feiern im Jahres- und Lebenslauf. Erst nach der Coronakrise werden wir wissen, was die Verschiebung von Taufen, Trauungen, Konfirmationen für Familien und Kirche bedeutet hat. Denn auch ohne Covid19 geht die Zahl der kirchlichen »Amtshandlungen« zurück. Aber während die einen gleich ganz auf Rituale verzichten, gestalten andere sie neu, individuell und liebevoll. Dazwischen finden sich die vielen, die sich Mühe geben, um der Kinder willen alte Rituale in neuen Konstellationen zu gestalten – die als Geschiedene die Konfirmation der Kinder gemeinsam feiern, Weihnachten zwischen den unterschiedlichen Familien pendeln, die Gottesdienste verschiedener Konfessionen besuchen und dabei häufig Zerrissenheit empfinden. Denn auch in Patchworkfamilien ist das Miteinander der Generationen gewünscht, Familientraditionen werden geschätzt. »Was meine Eltern mir mitgegeben haben, möchte ich an die 51 Wagener-Esser, Meike/Esser, Thilo (2008): Als Familie im Glauben wachsen. Würzburg, S. 33.

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folgenden Generationen weitergeben«, sagen fast 70 Prozent der Befragten.52 Auch wenn Partnerschaften zerbrechen, bleiben die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern stabil. Trotzdem passen die alten Traditionen nicht immer zu unserer neuen Lebenswirklichkeit. Das wurde deutlich, als zu Weihnachten 2020 festgelegt wurde, wie viele Personen sich in den Familien treffen konnten – im »Kleingedruckten« der Erläuterungen war, sehr zum Ärger von Wohngemeinschaften, Singles und Alleinerziehenden, im Wesentlichen von Verwandtschaftsbeziehungen die Rede. Dabei hatte im Coronajahr eigentlich der Begriff des »Haushalts« Konjunktur; herkömmliche Familien waren damit genauso gemeint wie Wohngemeinschaften oder Mehrgenerationenhäuser. Durch die neuen Lebensformen ermutigt, taten sich während des Lockdowns hier und da zwei Familien zusammen, hüteten wechselseitig die Kinder, organisierten gemeinsame Ausflüge. Besonders für Alleinerziehende eine sehr entlastende Möglichkeit. Mich erinnerte das an die israelische Soziologin Eva Illouz, die dem modernen Mythos einer lebenslangen romantischen Liebe skeptisch gegenübersteht und schon vor Jahren solche FrauenCare-Gemeinschaften vorgeschlagen hat.53 Aber auch ganz pragmatisch haben viele längst begonnen, Dinge gemeinsam zu nutzen: Kinderspielzeug und Kinderkleidung auszutauschen, Autos zu teilen oder Gartengeräte – oder mit zwei Familien einen Hund zu halten. So öffnen sich die klein gewordenen Familien in die Nachbarschaft. Und auch Weihnachten wird längst in ganz neuen Konstellationen gefeiert – mit Freund*innen, Nachbar*innen, aber auch auf der Winterwanderung in der Hütte oder beim Empfang mit Wohnungslosen.

2.3 »Globale Nomaden« und moderne Lagerfeuer – Arbeit braucht Begegnung Nach der Geburt des zweiten Kindes war der IT-Manager mit seiner Familie nach Thailand gezogen, um während der Erziehungsmonate das neue Miteinander einzuüben – fernab vom Alltagsstress in herrlicher Natur. Wegen der Coronakrise mussten sie den Aufenthalt schon bald abbrechen und an den Zürcher Firmenstandort zurückkehren. Nur wohin zurückkehren, wenn die Wohnung zwischenzeitlich an jemand anderen vermietet ist? Nach dem ersten Schock entschied das Paar, den Arbeitsplatz zu wechseln und in die süddeutsche Kleinstadt zu ziehen,

52 Allmendinger 2017, S. 128. 53 Illouz, Eva (2011): Warum Liebe weh tut. Berlin.

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aus der sie kamen. Das familiäre Netzwerk, das in der Krise trug, soll nun auch in den nächsten Jahren helfen, Familie und zwei Berufe zusammenzuhalten. In meiner Coaching-Supervisionsgruppe im Coronasommer erzählt jede*r von solchen persönlichen Umbrüchen. Eine Architektin hat glückliche Wochen im Homeoffice erlebt. Aber an den Nachmittagen mit ihrer kleinen Tochter ist ihr klar geworden, wie wenig Zeit sie in den letzten Jahren mit ihr verbracht hat. Sie hatte immer Vollzeit gearbeitet, war kurz nach der Geburt wieder in den Job eingestiegen und überlegt nun, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Und auch ein junger Gründer erlebt den Shutdown als Befreiung: Endlich Schluss mit FoMO, der »Fear of missing out«. Das ewige Jagen nach Neuem ist an ein Ende gekommen. Der Alltag hat neue Tiefe gewonnen. Fast alle sprechen über die Vor- und Nachteile der vielen Webkonferenzen und über lange, persönliche Telefonate und Skypetermine. Genau hinzuhören und hinzusehen und dabei auf die Beziehungen zu achten, scheint die Herausforderung der Stunde zu sein. Denn auch die Beziehungen zwischen Kolleg*innen und Chef*innen ändern sich, wenn ganz bildlich alle auf einer Ebene im Netz unterwegs sind – die Hierarchien werden flacher, die Prozesse transparenter. Für neu Hinzukommende allerdings ist es schwierig, den eigenen Platz im Ganzen zu finden, zumal die informellen Treffpunkte auf dem Flur oder in der Teeküche wegfallen. Für die Zukunft nach Corona wünschen sich deshalb viele eine gute Mischung aus Bürotagen und Homeoffice. Wer einen Bürojob hat, kann schon lange von jedem beliebigen Ort aus arbeiten. Eigenverantwortlichkeit, Projektorientierung und die Fähigkeit zum Netzwerken werden erwartet. Das bedeutet auch, selbst zu entscheiden, wieviel Zeit man in welche Aufgabe investiert. Die Entgrenzung von Beruf und Freizeit, die dauernde Verfügbarkeit sind für viele die Regel; Flexibilität ist gefragt. Nach einer Studie des Hightech-Verbandes Bitcom standen 2010 zwei Drittel der Beschäftigten ihren Chef*innen auch nach Feierabend zur Verfügung – anytime, anywhere.54 Viele erleben die neue Unabhängigkeit von Orten, die Freiheit von der Zentrale als Vorteil. Familien ziehen mit ihren Kindern aufs Land, wo die Natur nah ist und die Mieten günstiger sind. Arbeitgeber wie Unilever erklärten die Unterstützung von Kindern und Eltern in der Coronakrise zur obersten Priorität. Die Arbeitszeit wurde noch flexibler und für die Dauer der Schulschließungen konnten die Stunden sogar ohne Lohnverlust reduziert werden. Darüber hinaus gab es jeden Tag eine Stunde lang ein Kinderangebot im Netz – abrufbar überall.55 54 Vgl. https://taz.de/Fliessende-Grenzen/!438452/ (Zugriff am 05.01.2021). 55 Rode, Jörg (2020): Unilever bekämpft Pandemie mit Millionen Euro. Lebensmittel Zeitung, 27.03.2020. https://www.lebensmittelzeitung.net/industrie/Hilfe-fuer-Mitarbeiter-und-arme-Laender.Unilever-bekaempft-Pandemie-mit-Millionen-von-Euro-145530 (Zugriff am 05.01.2021).

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Für andere wächst der Druck. Auch wenn die Wirtschaft im letzten Jahrzehnt boomte, seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 gingen weltweit 30 Millionen Arbeitsplätze verloren. Es ist für viele normal geworden, sich durch einen Zweitjob abzusichern; nach der Finanzkrise, zwischen 2008 und 2010, hat sich der Anteil auf 15 Prozent vervierfacht.56 2019 waren in Deutschland über 7,7 Millionen Frauen und Männer in Minijobs tätig, für 4,8 Millionen Menschen war das ihre ausschließliche Beschäftigung.57 Diese Arbeitsverhältnisse waren die ersten, die in der Coronakrise wegfielen. Und auch die Soloselbständigen, ein lange als Ich-AG propagiertes Modell, gerieten wider Willen erneut in die Abhängigkeit von »Hartz IV«. Die neuen Dienstleistungsjobs sind in der Krise weniger stabil als die Industriearbeitsplätze, die durch Kurzarbeit abgesichert werden konnten. Immerhin wurde der Strukturwandel in der Arbeitswelt, vor allem in der Automobilbranche, der seit Jahren auf der Agenda stand, endlich öffentlich diskutiert – an der Frage, ob es, wie in der Finanzkrise, eine »Abwrackprämie« für den Kauf eines Verbrenners oder allenfalls eines E-Autos geben sollte. Die Diskussionen drehen sich nun auch um die weltweiten Abhängigkeiten – auf dem Automobilmarkt, in der Pharmaindustrie und bei den Masken. Corona hat globale Handelsketten unterbrochen, langfristige Planungen infrage gestellt. Fragile Abhängigkeiten wurden sichtbar, die bis dahin verdrängt wurden. Auch deshalb fiel der Blick auf das Lieferkettengesetz des Entwicklungsministeriums, das von den Kirchen unterstützt wurde. Angesichts von Globalisierung und Digitalisierung gilt es, einen neuen Umgang mit Arbeit zu finden. Politisch, aber auch privat. Und mehr denn je gehört beides zusammen. Das selbstverständliche »Weiter so« ist infrage gestellt. Im Shutdown war plötzlich alles anders. Autobauer*innen wurden zu Maskenproduzent*innen und Studierende zu Spargelstecher*innen. Eltern haben entdeckt, dass es gut ist, mehr Zeit für die Familie zu haben. Andere haben sich noch einmal auf den Weg gemacht – auf der Suche nach einem Job mit Sinn. Wer sich Stellenausschreibungen ansah, merkte den Umschwung: Portale wie »greenjobs.de« oder »goodjobs.de« und Personalvermittlungen wie »Talents4Good« hatten plötzlich Konjunktur, die Grenze zwischen Beruf, Berufung und Engagement wurde wieder fließend. »Ich fühlte mich bis dahin, als würde ich ein Spiel spielen, […] mit großem Ehrgeiz und Einsatz […]«, sagt Nina Hille, die Verlagsgeschäftsführerin

56 Gebhardt, Birgit (2011): 2037. Unser Alltag in der Zukunft. Hamburg, S. 199. 57 Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/151414/umfrage/geringfuegig-beschaeftigte-in-deutschland-nach-geschlecht/ (Zugriff am 05.01.2021); https://www.wsi.de/de/erwerbsarbeit-14617-minijobs-als-einzige-erwerbstaetigkeit-2004-2017-14869.htm (Zugriff am 05.01.2021).

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war. Sie wollte aber etwas bewirken, die Welt ein bisschen besser machen, ihre Leidenschaft einbringen. So landete sie bei einem sozialen Träger.58 Plötzlich sprachen Gastwirt*innen davon, wie schön es sei, andere zu bewirten, und wie sehr ihnen das fehle, selbst wenn der ausgefallene Umsatz weitgehend erstattet wird. Pflegende und Kassierer*innen bekamen endlich Anerkennung – leider nur kurz. Bürokräfte im Homeoffice erlebten, wie wichtig der Austausch ist. Die spürbare, fühlbare Anerkennung des Publikums, von Kund*innen und Klient*innen, die Begegnung mit Kolleg*innen gibt der Arbeit Sinn und Resonanz. Das ist ganz ähnlich wie beim Präsenzunterricht in der Schule. Die Kontakte in der Gruppe sind durch soziale Medien nicht ersetzbar. Auch wenn Makler*innen jetzt mit dem Abbau von Büroflächen rechnen, weil das Homeoffice sehr viel normaler wird, auch wenn Tagungshotels in die Insolvenz gehen, weil Webkonferenzen günstiger sind: Menschen brauchen das »Lagerfeuer«, an dem sie sich physisch versammeln können: Coworking-Spaces für »Arbeitsnomaden« oder auch als neue »Arbeitstreffpunkte« auf dem Land, wo jetzt die Städter*innen im Homeoffice eine neue Heimat finden. Räume mit Moderationswänden, Stehtischen, Papieren zum gemeinsamen Planen und Spinnen. Clubs und Wohnzimmer, um gemeinsam zu träumen, sich auszutauschen, zu kritisieren und zu vergewissern. »Erwerbsarbeit steht für mehr als Leistung und Einkommen«, resümiert Jutta Allmendinger.59 Es geht um Zugehörigkeit, um Teilhabe, neue Erfahrungen und Selbstentfaltung »um ein Stück Leben außerhalb der Familie in Räumen, die unterschiedliche soziale Kreise zusammenbringen«. Unternehmen und Arbeitsplätze sind Orte der Begegnung. Aber sie werden unterschiedlicher und unbeständiger. Die alten Betriebsfamilien bei Ford, Bosch oder Siemens stehen unter Druck. Neben die großen, globalen Riesen mit Kolleg*innen in vielen Nationen treten neue Arrangements von Selbstständigen – Patchwork wie in den Familien. Über die Jahrzehnte haben wir auch andere Orte der Begegnung verloren: Partnerschaften werden häufiger im eigenen Milieu geschlossen, Wohnviertel und Schulen segregieren sich – die Zahl der Privatschulen ist zwischen 1992 und 2018 um 80 Prozent gestiegen; mit einer Million Privatschüler*innen liegt ihr Anteil jetzt bei ca. 9 Prozent.60 Einkäufe werden immer öfter im Internet getätigt, die Innenstädte 58 Michel, Katja (2020): Kurz die Welt retten: Chancen für Quereinsteigerinnen. Brigitte, 01.10.2020. https://www.brigitte.de/academy/karriere/jobs-mit-sinn-gute-chancen-fuer-quer­ einsteigerinnen-11815812.html (Zugriff: 05.01.2021). 59 Allmendinger 2017, S. 234. 60 Pennekamp, Johannes (2020): Der große Ansturm auf die Privatschulen. Elitäre Form der Bildung? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.2020. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ arm-und-reich/bildung-und-corona-der-grosse-ansturm-auf-die-privatschulen-16898764. html (Zugriff am 15.12.2020).

»Wo Vertrauen ist, ist Heimat« – die neue Nachbarschaft

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drohen zu veröden. Leere Einkaufsstraßen und Kaufhäuser, leere Marktplätze und Kirchen: Covid-19 hat einen Eindruck davon vermittelt, was es bedeutet, wenn die Räume der Begegnung fehlen. »Wir sollten alles dafür tun, soziale Marktplätze zu erhalten oder neu aufzubauen«, meint Allmendinger – zum Beispiel durch Coworking-Spaces oder eine andere Quartierspolitik.61

2.4 »Wo Vertrauen ist, ist Heimat« – die neue Nachbarschaft Keyenberg, Kuckum, Berverath, Oberwestrich, Unterwestrich – lauter verschluckte Dörfer im Tagebau Garzweiler, die einmal zu meiner Wickrather Gemeinde im Kirchenkreis Mönchengladbach-Neuss gehörten. Viele Bürger*innen sind inzwischen in neu gebaute Ortschaften umgesiedelt, in den alten Dörfern leben Migrant*innen – aber die alten Häuser stehen noch, sodass sich fast alle hin- und hergerissen fühlen. Die Bürgerinitiative »Alle Dörfer bleiben« kommt spät. Zu spät. Aber sie erinnert daran, dass Heimat mehr ist als eine Sammlung von Eigenheimen. Heimat, das ist kultivierter Boden, aber auch gewachsene Sozialkultur. Heimat in der Fremde und mit Fremden muss deshalb mehr bieten als ein Stadtentwicklungsprogramm. Heimat braucht ein reges Vereinsleben, eine lebendige Kirchengemeinde, eine bunte Parteienlandschaft, engagierte Geschäftsleute. Menschen, die den Geist eines Ortes prägen. Vor allem: Vertrauen in der Nachbarschaft. Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto wichtiger wird »das Basisquartier«, die Heimat. Der Lebensraum, in dem wir uns selbstverständlich und ungezwungen bewegen können, weil wir dazugehören. Auch ohne Braunkohleabbau verändern sich die Nachbarschaften. Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger Beweglichen. Aber auch denen, die bleiben, kann die alte Heimat fremd werden. Die Stadtviertel verändern sich – Ladenzeilen verschwinden, auf den Straßen hört man andere Sprachen, in den Hausfluren riecht es nach anderen Speisen. Die vormoderne Nachbarschaft war eine Schicksalsgemeinschaft. Nicht nur in den niederrheinischen Dörfern waren Wohnen und Arbeiten eng verbunden, man war auf die anderen angewiesen. Was das bedeutet, habe ich in der Bäckerei meines Großonkels erlebt, wo auch über Weihnachten die Ladenglocke klingelte – gleich neben dem Wohnzimmer mit dem Tannenbaum. Das ist heute anders. »Man ist nicht mehr ökonomisch auf seine Nachbarn angewiesen und man teilt nicht mehr die gleichen Werte und Normen.«, erklärt der Stadtforscher Walter

61 Allmendinger 2017, S. 235.

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Siebel. 62 Eines der großen Versprechen von Städten ist, der sozialen Kontrolle zu entgehen. Freundlich grüßen, die Post annehmen und ansonsten in Ruhe gelassen werden: Mehr wünschen sich viele nicht von ihren Nachbar*innen.63 Die Hamburger Journalistin Kübra Gümüşay erzählt von einer Begegnung mit dem Spielfreund ihres kleinen Sohns und seiner Mutter, einer Sängerin aus Südafrika. Beim Abholen nach dem Spielen hatte sie sie kurz in die eigene Wohnung gebeten. Beim Abschied erfuhr sie, dass sie die erste war, die die Südafrikanerin eingeladen hatte. Nach elf Jahren in Deutschland. »Am Abend schrieb ich darüber auf einer sozialen Plattform. Und mich erreichten Dutzende Nachrichten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Junge und ältere Menschen, die ähnliches berichteten. Allen fehlte der Kontakt zu Nachbarn, zu anderen Müttern oder Bekannten.«64 In einer Studie der Universität Frankfurt gaben fast 20 Prozent der befragten 70- bis 89-Jährigen an, in der Woche zuvor ihre Wohnung kaum verlassen zu haben. 3,1 Millionen Männer, aber nur 2,3 Mio. Frauen zwischen 70 und 79 haben eine Fahrerlaubnis. Gerade die Frauen sind schnell in ihrem Aktionsradius eingeschränkt, wenn der autofahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt.65 Im Deutschen Freiwilligensurvey wurde 2014 zum ersten Mal die informelle Unterstützung in der Nachbarschaft abgefragt, soweit sie unentgeltlich und außerhalb beruflicher Tätigkeiten erfolgt.66 Dabei zeigte sich: Immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. Die wechselseitigen Unterstützungsleistungen, sagen die Interviewten, verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten und reduzieren Einsamkeit. Engagement und Vertrauen schaffen ein Gefühl von Zugehörigkeit. »Wo Vertrauen 62 Siebel, Walter (o J.): Ist Nachbarschaft heute noch möglich. https://www.reihenhaus.de/fileadmin/_Content/05_Magazin/01_Forschung/_Dateien/DRH-Nachbarschaft_Essay_Siebel. pdf (Zugriff am 23.01.2021). 63 Kreutzer, Stefan/Siebel, Walter (2020): »Was wären wir ohne unsere Nachbarn«. Soziologe: Zauberformel für gute Nachbarschaft. BR Bayern 2, 30.11.2020. https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowelt/walter-siebel-soziologe-wozu-brauchen-wir-nachbarschaft-100. html (Zugriff am 05.01.2021). 64 Gümüşay, Kübra (2018): Die Furcht aller Menschen. Bref, 22/2018, 27. 65 Oswald, Frank/Kaspar, Roman/Frenzel-Erkert, Ursula/Konopik, Nadine (2013) »Hier will ich wohnen bleiben!« Ergebnisse eines Frankfurter Forschungsprojekts zur Bedeutung des Wohnens in der Nachbarschaft für gesundes Altern. Frankfurt a. M., S. 23 f. https://www. uni-frankfurt.de/54421039/Oswald-etal-2013-Hier-will-ich-wohnen-bleiben.pdf (Zugriff am 05.01.2021). 66 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2016b): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zentrale Ergebnisse des Deutschen Freiwilligensurveys 2014. Berlin, S. 32. https://www.bmfsfj.de/blob/93914/e8140b960f8030f3ca77e8bbb4cee97e/freiwilligensurvey-2014-kurzfassung-data.pdf (Zugriff am 05.01.2021).

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ist, ist Heimat«, sagt Henning von Vieregge, der sich seit Jahren mit der Rolle der »Silver Ager« in der Bürgergesellschaft beschäftigt.67 »Wir haben nach einer verbindlicheren Form der Nachbarschaft gesucht«, erzählt Ulrich Thomsen, der eine Wohnanlage in Lüneburg mit initiiert, geplant und gebaut hat, in der insgesamt 53 Erwachsene und 23 Kinder leben. »Wir unterstützen uns gegenseitig; einige teilen sich zum Beispiel zu mehreren ein Auto. Die Kinder finden hier viele Spielkameraden, und wenn sie aus der Schule kommen und niemand bei ihnen zu Hause ist, können sie problemlos zu einer der anderen Familien gehen.«68 Im Zentralgebäude befindet sich auch ein Gemeinschaftsraum, in dem die Bewohner an manchen Tagen gemeinsam frühstücken oder Filme schauen. Hier finden auch alle drei bis vier Wochen gemeinsame Treffen statt – zu alltäglichen Organisationsfragen, aber auch zu Themen wie »Krankheit« oder »Sterbebegleitung«. Wohnprojekte wie in Lüneburg, Genossenschaften wie »Schloss Blumenberg« in Bayern oder auch Mehrgenerationenhäuser ziehen vor allem junge Familien und Senior*innen an, aber auch Alleinerziehende, Singles oder Menschen mit Behinderung. Sie alle sind auf eine funktionierende Nachbarschaft angewiesen. »Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen, dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können. Um andere zu treffen. Um uns auszutauschen. Um gemeinsam etwas zu tun. Um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben«, schreibt Lisa Frohn.69 Gerade diese Räume gehen in den ländlichen Gegenden verloren: die Dorfgaststätten, Vereinshäuser und die kleinen Läden. Die Marktplätze der Begegnung, von denen auch Jutta Allmendinger spricht. Was kann an ihre Stelle treten?70 In Magdeburg haben die Pfeifferschen Stiftungen im Quartier Milchstraße ein Begegnungszentrum eingerichtet – in einem Ladenlokal im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses mit Wohnungen für meist ältere Menschen. Dort finden Erzählcafés und Schmökernachmittage statt, und auch der Kühlschrank ist gefüllt mit Teilchen vom naheliegenden Bäcker und Restartikeln vom Discounter. Auch 67 Vgl. den Titel des Buches: Vieregge, Henning von (2018): Wo Vertrauen ist, ist Heimat. Auf dem Weg in eine engagierte Bürgergesellschaft. München. 68 Landeszeitung.de (2015): Erstes generationsübergreifendes Wohnprojekt in Lüneburg am Brockwinkler Weg gestartet. https://www.landeszeitung.de/lokales/47289-erstes-generationsuebergreifendes-wohnprojekt-in-lueneburg-am-brockwinkler-weg-gestartet (Zugriff am 05.01.2021). 69 Frohn, Lisa (2015): # Ran ans Alter! Hamburg, S. 23. 70 Allmendinger, Jutta/Guldner, Jan (2017): »Männern wird klar, dass sie kein zweites Leben haben«. WirtschaftsWoche, 20.06.2017. https://www.wiwo.de/erfolg/management/jutta-allmendinger-maennern-wird-klar-dass-sie-kein-zweites-leben-haben/19942480-all.html (Zugriff am 05.01.2021).

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anderswo treffen sich Ältere zu einem Mittagstisch. Da wird gemeinsam eingekauft, reihum gekocht, Rezepte werden ausgetauscht und Geschichten erzählt. Und wenn jemand fehlt, fragt bestimmt ein*e andere*r nach. Stadtteilzentren, Sozialstationen und Kommunen organisieren Nachbarschaftsnetze mit Telefonketten, Begleitung bei Arztbesuchen und Einkäufen oder in der Demenzbegleitung. Und dabei wird deutlich: Die alten Gemeinschaftsregeln der Dörfer hatten ihren Sinn: »Wir schauen einander nicht in die Töpfe« und »wir rennen uns nicht die Tür ein«. Es ist nämlich nicht einfach, sich rechtzeitig zurückzuziehen, wenn die freiwillige Hilfe zur Belastung wird, die Nähe zu dicht. »Immer dann, wenn wir den Blick von einem Menschen abwenden, weil wir diesen Satz denken: Ach, ich möchte dir mit meinem Leid keine Last sein, ich möchte dir nicht zu nahe treten. Dann lächeln wir und sagen stattdessen: Mir geht es gut«, schreibt Kübra Gümüşay71. Oft ist es einfacher, sich Fremden gegenüber zu öffnen oder Menschen zu unterstützen, die ein paar Straßen weiter wohnen. Menschen brauchen Menschen – aber ein gutes Netzwerk mit überschaubaren Einsätzen will koordiniert werden. Das haben wir gerade in der Coronazeit gespürt. Nicht alle, die helfen wollten, fanden Abnehmer*innen für ihre Einkaufs- und Gesprächsangebote. Nicht jede*r, die*der älter als 65 ist, ist schon deshalb hilfebedürftig oder einsam. Und nicht jede*r, die*der Hilfe braucht, möchte den eigenen Nachbar*innen ihre*seine Bedürftigkeit zeigen. »Es kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbstorganisation von Bürgern und Bürgerinnen, etwa in der organisierten Nachbarschaftshilfe, aber auch in Seniorengenossenschaften und in Bürgervereinen ohne Hilfe ›von außen‹ auskommt«, heißt es im 7. Altersbericht der Bundesregierung.72 In Graz forscht Sabine Pleschberger über informelle außerfamiliale Hilfen im sozialen Nahraum und über ihre Verknüpfung mit bedarfsorientierten und qualitätsgesicherten formalen Hilfen. Das laufende Projekt mit vielen qualitativen Interviews bestätigt, wie sehr kleine sorgende Gemeinschaften auf professionelle Sorgestrukturen angewiesen sind. Das informelle Miteinander lebt von Wechselseitigkeit und Nähe. Permanente Verfügbarkeit auch am Wochenende kann es nicht leisten. Umgekehrt werden 71 Gümüşay 2018, S. 27. 72 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2016a): Der Siebte Altenbericht der Bundesregierung. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften. Berlin, S. 259. https://www.bmfsfj.de/blob/12014 4/2a5de459ec4984cb2f83739785c908d6/7--altenbericht---bundestagsdrucksache-data.pdf (Zugriff am 05.01.2021).

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professionelle, verlässliche Hilfsorganisationen nie die persönliche Qualität entwickeln, die wir aus Freundschaft und Nachbarschaft kennen. So haben beide Formen der Hilfe eine eigene Qualität und beide sind aufeinander angewiesen: Nachbarschaftsnetze brauchen Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Notfallnetzwerke. Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem Begegnungen und Vernetzungen möglich sind. Kann Digitalisierung dazu beitragen? Die Internetplattform »nebenan.de« hatte 2019, fünf Jahre nach der Gründung, bereits 1.450.000 Nutzer*innen in 7.500 Nachbarschaften.73 In Coronazeiten erlebte die Plattform einen regelrechten Boom. 2019 hat die Diakonie Deutschland zusammen mit »nebenan.de« zu Nachbarschaftsfesten, Wohnzimmerkonzerten und Radtouren am »Tag des Nachbarn« aufgerufen. Bei Nachbarschaftsfesten blüht auf, was sich im Alltag wie nebenbei entwickelt – mit kleinen Dienstleistungen und wechselseitiger Unterstützung von Einkäufen bis zum Blumengießen im Urlaub. Dass ich einer anderen Person meinen Haustürschlüssel anvertrauen kann, ihr Zugang zu meinem Privatleben gewähre, zeigt das grundlegende Vertrauen, das Gemeinschaft stiftet. Auch in der Coronakrise 2020 hat die nebenan.de-Stiftung in allen 16 Bundesländern einen Nachbarschaftspreis für besonders gelungene Projekte vergeben.74 Manchmal sind es aber auch Einzelne, die ein ganzes Quartier verändern. »Muttersein ist schön«, schreibt die Autorin Stephanie Quitterer: »aber es ist auch ermüdend – kann man nicht mehr daraus machen?«75 Die Kiez-Ethnologin und »Prenzelberg-Mama« hatte während ihrer Elternzeit am Theater das Gefühl, »auf Eis gelegt« zu sein und wollte sich endlich mit all den Klischees der Gentrifizierung auseinandersetzen. So wurde die großartige Idee geboren, die Nachbar*innen einfach einmal kennenzulernen. Weil Stephanie Quitterer selbst schüchtern ist und großen Wert auf ihre eigene Privatsphäre legt, war das nicht einfach für sie. So legte sie sich mit einer Wette selbst fest: »200 Hausbesuche mit 200 selbstgebackenen Kuchen in 200 Tagen«.76 Sie gewann die Wette und eine neue Heimat in ihrer bunten Nachbarschaft. Ihr Buch erzählt, wie man andere bei wechselseitigen Besuchen verstehen lernt und wie Vertrauen wächst, wenn man hinter die Kulissen und Fassaden blicken darf. Aber auch auf der Straße lassen sich Kontakte organisieren. Die Künstlerin Janni Feuser schickte 2016 im Wohngebiet Rheinbach-Irlenbusch in der Voreifel 73 Nebenan.de (2020): Wirkungsbericht 2019. Berlin, S. 3. https://impact.nebenan.de/pdf/nebenan_de_Wirkungsbericht_2019.pdf (Zugriff am 05.01.2021). 74 Siehe https://www.nachbarschaftspreis.de/de/Projekte/preistraeger/ (Zugriff am 05.01.2021). 75 Quitterer, Stephanie (2016): Hausbesuche. Wie ich mit 200 Kuchen meine Nachbarschaft eroberte. München, S. 34. 76 Klappentext des Buches: Quitterer 2016.

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eine blumenverzierte Sitzgelegenheit auf Reisen, die jetzt so etwas wie der neue Dorfmittelpunkt ist: die »Bänk for better Anderständing«.77 Jede Woche wird die Bank von einem Haushalt zum nächsten weitergegeben – als Einladung an alle, sich dort zu treffen und die Nachbarn besser kennenzulernen. In Witten hat eine Gemeinde eine Kirchenbank auf den Marktplatz gestellt – eine Bühne der Begegnung, wo auch zwischen Fremden Vertrauen wachsen kann. Seit 2016 gibt die »Initiative Offene Gesellschaft«78 Anregungen, Interessierte an den Tisch vor der Haustür einzuladen und einander kennenzulernen – bei einem Tee, zu einem gemeinsamen Thema. Für 2021 gibt es auf der Plattform Argumente für Engagement, Demokratie und gegen Hassparolen. Und in vielen Kirchengemeinden öffnen seit Langem Familien rund um im Advent ihre Tür – mit Musik, einer Adventsgeschichte oder selbstgebackenen Plätzchen. Im Stadtwald Eilenriede in Hannover ist das »Milchhäuschen«, ein kleines Waldcafé, zum Nachbarschaftstreffpunkt geworden. Die Tische draußen konnten sogar während Corona genutzt werden. Auf dem Schild am Eingang steht: »Danke! Wir sind eine Familie, die füreinander da ist. Umarmen uns jeden Tag, lachen gern und viel, halten zusammen, teilen unsere Sorge, sagen bitte und danke, vergeben und vergessen, probieren Neues aus, zeigen Respekt, hören immer zu und machen aus allem das Beste«. Ein Nachbarschaftsmotto, das auch anderswo taugt.

Gemeinschaft – nicht nur in der Coronakrise Interview mit Christine Falk und Renate Abeßer (Teil 1) Christine Falk ist Referentin für Familienarbeit beim Amt für Gemeindedienst der Ev.-Luth. Kirche in Bayern. Renate Abeßer ist Studienleiterin bei BildungEvangelisch in Erlangen. Beide engagieren sich für Familien und Mikrogemeinschaften, für Nachbarschaft und Kirche im Quartier.

»Disembedding« gilt als Schlüsselkategorie der Moderne: Familie, Arbeitsleben, Nachbarschaften verändern sich und erleben Brüche. Wo erleben Sie solche Brüche besonders deutlich (persönlich, beruflich oder in Ihrem Engagement)? Christine Falk: Mir fällt in Beratungsprozessen mit Kirchengemeinden auf, dass sie darunter leiden, Familien heute für ihre Gemeindearbeit nicht mehr (so gut, so einfach) erreichen zu können. Vorstellungen einer am Ort verwurzelten Familie ist in 77 Vgl. Saxler-Schmidt, Gerda (2016): »The Bänk for better Anderständing«. Besonderer Samstagstreffpunkt in Irlenbusch. General-Anzeiger, 11.09.2016. https://ga.de/region/the-baenk-forbetter-anderstaending_aid-43019667 (Zugriff am 12.01.2021). 78 Siehe www.die-offene-gesellschaft.de (Zugriff am 12.01.2021).

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den Köpfen häufig noch präsent. Diese Hintergrundfolien prägen oft bewusst oder unbewusst ein idealisiertes Bild einer Kleinfamilie mit Vorgarten, gemeinsamem Mittagstisch und Wochenendausflügen. Die Realität sieht dagegen so aus, dass Familien hohe Flexibilität und Mobilität am Arbeitsplatz aufbringen müssen, sie die Fürsorgetätigkeiten über Generationen hinweg und über viele Kilometer entfernt koordinieren müssen, Bildung organisieren und bei alledem aufpassen müssen, dass die eigene Selbstfürsorge und Beziehungsgestaltung nicht gänzlich unter den Tisch fällt. Zeitknappheit und Effizienz begleiten dabei Planungen und Aktionen. Renate Abeßer: Ich würde gern den Blick auf die Kinder richten, die bis zur Pubertät mehrere Lebensumbrüche bewältigen müssen, auch wenn wir sie in der Regel nicht so bezeichnen: Nach dem 1. Lebensjahr (wenn gerade die Bindungsphase an die Mutter zu Ende geht) der inzwischen übliche Eintritt in die Krippe. Während der Krippenzeit oftmals Abbruch der Bindung zu Bezugserzieher*innen wegen häufigem Stellenwechsel im Kita-Bereich. Mit 3 Jahren Wechsel in den Kindergarten mit neuen Erzieher*innen und z. T. neuen Kindern. Mit 6 Jahren Wechsel in die Schule. Dort ca. 2-jährlich neue Klassenzusammensetzungen mit neuen Lehrer*innen. In einer mobilen und flexiblen Arbeitswelt kommen dazu oft noch Umzüge wegen eines beruflichen Ortswechsels der Eltern. So gibt es im Kindesalter durchschnittlich ca. 6–8 Lebensumbrüche, die mehr oder weniger einschneidend sein können und immer wieder eine gute Begleitung durch die Familie erfordern. Noch nicht berücksichtigt ist dabei die Trennung der Eltern, die viele Kinder als massivsten Einschnitt bewältigen müssen.

Wo und wie können Menschen in der »Single-Gesellschaft« Gemeinschaft erfahren? C. F.: Das Phänomen der steigenden Zahl der Singlehaushalte wird nach meiner Wahrnehmung auch in der Kirche mehr und mehr bewusst. Die Vielfältigkeit der Lebenslagen und -vorstellungen lässt nicht eine Definition zu, mit der ein Lebenskonzept beschrieben werden könnte. Es kann davon ausgegangen werden, dass im Grunde wir alle Phasen von Singledasein kennen und ihnen wieder begegnen können – gewollt oder auch nicht. Aus dieser Erkenntnis heraus, dass Lebenslinien mit Brüchen und Neuanfängen verlaufen, gewinnen Familien – auch über biologische Verwandtschaft hinaus – als verlässlicher Ort eines Füreinander-Daseins an Bedeutung, ebenso wie freundschaftliche Netzwerke. R. A.: Ich erlebe viele Möglichkeiten zur Gemeinschaftserfahrung im Freizeitbereich: Sportvereine, Tennisclubs, Chöre, Hundevereine etc. bieten interessensmäßige Andockmöglichkeiten an, aus denen sich oft Gemeinschaften entwickeln. Auch im ehrenamtlichen Bereich gibt es langjähriges Eingebundensein: von der Freiwilligen Feuerwehr, der Tafel, dem Roten Kreuz bis zum Hospizverein gibt es

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viele Institutionen, die Singles über (lange) Jahre Gemeinschaft durch gemeinsame Ausbildungen und sinnstiftende Tätigkeiten ermöglichen. In unserem Trauercafé in Erlangen habe ich über lange Zeit immer wieder erleben dürfen, dass aus einer Notsituation heraus (v. a. Tod des Partners*der Partnerin) tragende Gemeinschaften entstanden sind, die auch später noch privat fortgesetzt wurden. Die aktuellen Einschränkungen aufgrund von Corona treffen Singles besonders hart: Durch die Kontaktbeschränkungen fallen die meisten der genannten Begegnungs- und Betätigungsmöglichkeiten weg. Vereinsamung und daraus entstehende Depressionen sind ein akutes Problem für Singles.

Was können wir als Einzelne dazu beitragen, dass Menschen Gemeinschaft erfahren? C. F.: Mir fällt dazu ein Projekt ein, dass mir das Herz aufgehen lässt: »Aufgetischt – jeder is(s)t willkommen« in Erlangen-Bruck möchte Menschen auch mit kleinem Geldbeutel am gemeinsamen Mittagstisch miteinander in Kontakt bringen. Leib und Seele sollen gestärkt werden, was mit einer sehr liebevollen Gestaltung ganz wunderbar gelingt! Sehr kreativ wird während der Pandemie eine To-go-Variante entwickelt, sodass gerade in dieser schwierigen Zeit, ein Signal gegen die Einsamkeit gesetzt wird. Viele einzelne Herzen und Hände tragen dazu bei unter der Koordination von Diakonin Petra Messingschlager. 79 R. A.: Eine kleine Beobachtung aus dem Alltag: Seit Corona begegnen mir Menschen auf der Straße/in der Nachbarschaft/beim Spazierengehen offener und freundlicher, es entstehen unter Fremden oft kleine Gespräche, die Verbindung schaffen.

2.5 Alter neu gestalten – Wohngemeinschaften und Unterstützungsnetzwerke »Leben und sterben, wo ich hingehöre«. Der oft zitierte Satz des Gütersloher Psychiaters Klaus Dörner war und ist ein starker Impuls für die Quartiersbewegung.80 Es ging ihm um die Öffnung der Altenhilfeeinrichtungen ins Quartier und um selbstbestimmtes Wohnen im Alter. Im eigenen Umfeld, mit den Menschen, die uns wichtig sind. »Ein Zuhause ist der einzige Ort, wo die eigenen Prioritäten 79 Siehe www.bruck-evangelisch.de (Zugriff am 12.01.2021). 80 So der Titel seines Buches, vgl. Dörner, Klaus (2012): Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. Neumünster.

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unbeschränkte Geltung haben«, schreibt Atul Gawande in seinem Buch »Sterblich sein«81, in dem er sich auch mit der Altenhilfe auseinandersetzt: »Zu Hause entscheidet man selbst, wie man seine Zeit verbringen will, wie man den zur Verfügung stehenden Platz aufteilt und wie man den eigenen Besitz verwaltet.«82 Heute leben mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-Jährigen allein, nur bei einem Viertel leben die erwachsenen Kinder noch am gleichen Ort. Wenn wir wollen, dass wir auch im Alter möglichst lange in unserem Umfeld bleiben können, dann brauchen wir neben barrierearmen Wohnungen auch Pools von Haushaltshilfen und anderen Dienstleister*innen – vom Einkauf bis zur Gartenarbeit. Und vor allem eine starke Nachbarschaft. Es ist kein Zufall, dass das Thema »Wohnen« in den letzten Jahren so viel Gewicht bekommen hat. Das gilt grundsätzlich im Blick auf verfügbaren Wohnraum und Mietpreisspiegel. Es gilt aber besonders für die Wohnsituation von Älteren. Mehr noch als andere Gruppen sind sie auf gemischte Wohnquartiere und barrierearme Wohnungen angewiesen. Aber auch neue, genossenschaftliche Wohnmodelle werden erprobt, Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser, die den richtigen Mix aus Selbstbestimmung und wechselseitiger Hilfe versprechen. Die einen mähen den Rasen, die anderen helfen bei den Hausaufgaben oder lesen den Jüngsten vor. Allerdings scheitern viele Wohngenossenschaften auf dem langen Weg vom Projekt bis zum Einzug. Wenn es konkret wird, ist es eben nicht so einfach, sich zu einigen. Wie groß sollen die Gemeinschaftsräume sein? Und wie viele brauchen wir? Treffpunkt, Gästezimmer, Bibliothek und Küche? Wieviel Raum braucht jede*r für sich privat – ein Zimmer oder doch lieber ein kleines Appartement? Da werden Erinnerungen wach – an die Studenten-WG und die Putzpläne, an das überfüllte Mehrfamilienhaus aus der Nachkriegszeit oder die Platte irgendwo in Berlin. Immer zwischen Wahlverwandtschaft mit Grillabenden und Sozialkontrolle. »Feind hört mit«, sagte meine Schwiegermutter manchmal. Es ist schon merkwürdig: Einerseits leben viel mehr Menschen allein als noch vor 20 oder 30 Jahren, und tatsächlich wird auch sehr viel mehr Wohnraum pro Person beansprucht. Andererseits ist da diese wachsende Sehnsucht nach Gemeinschaft und wechselseitiger Unterstützung. Kann man lernen, einen guten gemeinsamen Weg zu finden? Ein Verein von Engagierten in der Quartiersarbeit hat kürzlich eine »Wohnschule« angeboten – für Leute, die sich auf das Abenteuer einer Genossenschaft einlassen wollen.83 Ein 81 Gawande, Atul (2015): Sterblich sein. Was am Ende wirklich zählt. Frankfurt a. M., S. 9. 82 Gawande 2015, S. 9. 83 Wohnschule unterwegs. Verein zur Förderung der Quartiersentwicklung e. V., siehe https:// www.wq4.de/wq4 (Zugriff am 12.01.2021).

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Vertrag allein reicht da nicht. Mir fallen die alten Schwestern aus dem Diakonissenhaus ein, die über Jahrzehnte gemeinsam im Mutterhaus wohnten. Sie erinnerten sich später an die Farbe und die gefühlte Temperatur der Räume – wo es licht war und wo düster, wo Weite herrschte oder beklemmende Enge. Auf den Spirit kommt es in so einer Gemeinschaft an. Manchen haben während der Coronapandemie Erfahrungen aus dem Kloster geholfen: Da gibt es den gemeinsamen Speisesaal, das Refektorium, die Bibliothek – aber daneben hat jeder eine eigene Zelle, den eigenen Freiraum. Man muss sich bewusst machen, was man selbst braucht, um sich wohlzufühlen. Und miteinander sprechen – nicht nur über den Kühlschrank oder das Putzen, sondern über Wünsche, Ziele und Träume.84 Und auch Rituale sind wichtig: gemeinsame Mahlzeiten, Gesprächsrunden oder feste Verabredung zum Musizieren, Lesen, Filmschauen. Es waren vor allem Politiker*innen wie Henning Scherf oder Malu Dreyer, die die neuen Wohnprojekte populär gemacht haben. Dabei ist es wichtig, das hohe Alter nicht automatisch mit Hilfebedürftigkeit zu verknüpfen. Die Hochaltrigen­ studie von Generali und dem Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg von 2014 zeigt: 80 Prozent interessieren und engagieren sich gern für die nächste und übernächste Generation.85 So wie in den neuen Modellen des Zusammenwohnens von Älteren und Student*innen, in denen die Letztgenannten mietfreies Wohnen genießen und die Erstgenannten den einen oder anderen Dienst in ihrem Alltag. Die Idee hinter den Wohngemeinschaften und Genossenschaften: starke Nachbarschaften, in denen man einander unterhalb der Schwelle professioneller und bezahlter Dienstleistungen wechselseitig hilft und einander beisteht – auch in Krankheit und Sterben. Ich erinnere mich an die alt gewordene Nachbarin, deren Sterben ich als Kind miterlebte. Sie las mir noch lange aus den geliebten Pixi-Büchern vor und bestrickte meine Puppen. Meine Mutter versorgte sie zusammen mit der Gemeindeschwester. Ich sehe die Girlande aus Wiesenblumen vor mir, die wir knüpften und um ihren Sarg legten – so wie sie mir oft Blumenkränze in die Haare geflochten hatte. Und ich denke an die Sammeltasse, die sie noch im Herbst als Weihnachtsgeschenk für mich kaufen ließ – eine bleibende Erinnerung. Kleine Rituale, wechselseitiges Geben zwischen den Generationen. Am Ende war es 84 Grün, Anselm (2020): Quarantäne! Eine Gebrauchsanweisung. So gelingt friedliches Zusammenleben zu Hause. Freiburg i. Br. 85 Generali Zukunftsfonds/Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg (Hg.) (2014): Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter. Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg mit Unterstützung des Generali Zukunftsfonds. Köln/Heidelberg, S. 24. https://www.uni-heidelberg.de/md/presse/news2014/ generali_hochaltrigenstudie.pdf (Zugriff am 14.12.2020).

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ganz selbstverständlich, dass sie noch zu Hause aufgebahrt war. In den 1980erJahren dann, als ich Gemeindepfarrerin war, wurde das Sterben mehr und mehr an Expert*innen delegiert: an den ärztlichen Notruf, die Klinik, an Notfallseelsorger*innen und Pflegeeinrichtungen, an die Bestatter*innen, die mehr und mehr zu Community-Seelsorger*innen wurden. Der Tod ist aus den Nachbarschaften verschwunden. Noch in den 1950er-Jahren hingen schwarze Schleifen an den Haustüren mancher Wohnviertel, wenn jemand gestorben war. Die Glocken läuteten, die Trauerzüge zogen von der Kirche zum Friedhof und die Autos hielten selbstverständlich an. Für einen Augenblick stand die Zeit still. Heute halten die Autos an, weil Notarztwagen mit Blaulicht und Martinshorn durch den Stadtteil rasen. Nicht mehr der Tod ist das große Tabu – das Sterben ist zum Tabu geworden. Und es findet hinter verschlossenen Türen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen statt – professionalisiert, institutionalisiert und medikalisiert. Neben dem medizinisch-technischen Fortschritt spielt dabei die Veränderung in den Familien eine Rolle: die selbstverständliche Teilnahme von Frauen an der Erwerbsgesellschaft, die zunehmende Mobilität und eben auch der demografische Wandel. Die Mehrgenerationenfamilien leben nur noch selten an einem Ort und wer für Pflegebedürftige und Sterbende da sein will, kommt zeitlich in Zerreißproben oder muss finanzielle Einbußen hinnehmen. Langzeitpflegebedürftige werden dann oft am Ende doch noch in einer Einrichtung untergebracht, Sterbende in die Klinik überwiesen. Und die Beerdigungen sind klein geworden. Seit Beginn der Hospizbewegung gibt es von Initiativen, die die Auseinandersetzung mit Pflegebedürftigkeit, Sterben und Tod ins Quartier zurückholen wollen – so wie Klaus Dörner, Henning Scherf oder Annelie Keil das Altern in die Nachbarschaft zurückgeholt haben. Sie wehren sich gegen den Hype um die jungen, fitten Alten und die Verachtung der Hochaltrigen und Pflegebedürftigen und gegen die Abspaltung des Todes und das Verdrängen der Sterblichkeit. LetzteHilfe-Kurse werden angeboten, damit Nachbar*innen wissen, was zu tun ist, wenn im Haus jemand stirbt. Friedhöfe werden neu gestaltet. In die alten Leichenhallen ziehen Trauercafés ein, wo man sich bei Kaffee und Kuchen treffen und ins Gespräch kommen kann. Und der Oldenburger Künstler Michael Olsen hat ein Sargfahrrad entwickelt, mit dem er Verstorbene durchs Stadtviertel geleiten kann. Wer ihn vorbeikommen sieht, bleibt stehen – nicht ehrfürchtig erstarrt wie bei den Trauerzügen vergangener Tage, sondern interessiert und neugierig.86 86 HAZ (2020b): Künstler erregt mit Bestattungsfahrrad Aufsehen. Hannoversche Allgemeine Zeitung, 22.09.2020. https://www.haz.de/Nachrichten/Der-Norden/Kuenstler-Michael-­Olsenfaehrt-mit-Bestattungsfahrrad-durch-Oldenburg (Zugriff am 12.01.2021).

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»Im Alter bekommen die Körper eine andere Bedeutung – sie werden anfälliger und schwächer«, schreibt Lisa Frohn87: »Das heißt auch, dass der Ort, an dem sich der Körper befindet und die Umstände an diesem Ort wichtiger werden. Weil es um Wohlergehen, Gesundheit, Versorgung und Betreuung geht«. Was das heißt, konnten nun in der Coronakrise auch Jüngere nachvollziehen. In den ersten Wochen fühlten sich viele plötzlich verletzlich, fast alle waren auf den eigenen Ort zurückgeworfen, überlegten genau, wann und wohin sie einkaufen gingen, ob ein Besuch nötig war. Nicht nur Feste und Feiern, auch Arztbesuche, Operationen und sogar Beerdigungen wurden verschoben. Großeltern blieben allein. Krankheit und Tod wurden überall zum Thema. »Wie werden die nachkommenden Generationen mit der virtuellen Realität umgehen, wenn die physische wichtiger wird?«, fragt Lisa Frohn. Wird es eine virtuelle Fürsorge geben? Medizinische Beratung per Internet gibt es seit Langem, gestreamte Bestattungen sind längst keine Seltenheit mehr und seit einiger Zeit schon kann man Friedhöfe im Netz besuchen und dort auch Kerzen anzünden. Rolf Heinze, Mitglied des Beirats zum 7. Altersbericht der Bundesregierung, spricht sich für den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme mit Unterstützungskomponenten aus, um das selbstbestimmte Wohnen auch im hohen Alter oder in Krankheit zu ermöglichen: Sensorik zur Lokalisierung, Assistenz in Gefahrensituationen, Telemedizin. Der selbstbewusste Umgang mit der neuen Technik macht es möglich, selbstbestimmt im Quartier zu leben, meint er.88 Tatsächlich können sich 83 Prozent von rund 1.000 Befragten vorstellen, einen Service-Roboter zu Hause zu nutzen, wenn sie dadurch im Alter länger zu Hause leben könnten.89 Denn mehr als drei Viertel der Deutschen fürchten den Verlust der Selbständigkeit an einer Krankheit am meisten – noch vor Schmerz und Tod. Und Smart Homes und elektronische Haushaltshilfen können beim Erhalt der Selbständigkeit helfen. Das neue Versprechen heißt »Ambient Assisted Living«: Lichtund Heizungssteuerung, elektronischer Rolladen, Bewegungs- und Wassermelder können enorm hilfreich sein, wenn die Mobilität eingeschränkt ist. Der Roboterassistent »Care-O-bot«, der am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung entwickelt wurde, kann wie eine Haushaltshilfe einzelne Alltagstätigkeiten übernehmen. Er kann sich selbstständig im Haus bewegen, Gegenstände und Gesichter erkennen, die Gegenstände aufnehmen und weitergeben. Hausnotrufsysteme gehören natürlich auch dazu. Vernetzte Kame87 Frohn 2015, S. 23. 88 Heinze, Rolf G. (2016): Technische Assistenzsysteme. Potenziale und Schritte zur Verstetigung. Bochum, S. 7. https://www.gewinet.de/fileadmin/user_upload/3_Prof._Heinze_Ruhr_Universitaet_Bochum.pdf (Zugriff am 05.01.2021). 89 Heinze 2016, S. 7.

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ras allerdings, mit denen man wie mit Babyfonen beobachten kann, was im Haus vorgeht, erinnern mich an »The Circle«, den Roman von Dave Eggers aus dem Silicon Valley, in dem eine Mitarbeiterin ein System testet, das die Gesundheit ihrer Eltern kontrolliert – und ihnen damit jedes Geheimnis raubt. Wo ist der kritische Punkt, an dem sich der Wunsch nach Autonomie in Abhängigkeit verkehrt? »Das Zuhause, das sich kümmert« – so warb Magenta lange für das SmartHome – es trifft eine Sehnsucht. Auch in der Quartiers- und Nachbarschaftsarbeit hat der »Kümmerer« Konjunktur. Denn tatsächlich besteht das Zuhause eben nicht nur aus vier Wänden. Wichtig sind auch die Menschen, die ich kenne, die mich kennen – Nachbarschaftsnetze und »Sorgende Gemeinschaften«. Menschen, die nach mir sehen, wenn ich frisch aus dem Krankenhaus entlassen bin. Die schauen, ob der Briefkasten geleert wird, der Rollladen hochgezogen ist. Die fragen, ob sie etwas vom Supermarkt mitbringen oder mich zum Arzt fahren können. Und im Notfall wissen, was zu tun ist, wenn der Notarzt unterwegs ist. Es sind die kleinen Zeichen der Sorge, die zeigen, dass wir dazu gehören. Aber was ändert sich, wenn der Rolladen elektronisch hochgefahren wird, die Post nur noch per Mail ankommt und die Lebensmittel vom Supermarkt gebracht werden, so wie der intelligente Kühlschrank sie bestellt? Schwindet die Aufmerksamkeit, wenn IT und künstliche Intelligenz uns entlasten? Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen seien von zunehmender Exklusion betroffen und bräuchten Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben, führt dagegen Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts »Alter neu gestalten« der Evangelischen Kirche in Württemberg aus.90 »Die bestehenden Versorgungsund Unterstützungsangebote decken bislang nur einen Teil der Bedürfnisse von Betroffenen und ihren Angehörigen ab.«91 Wie wichtig die Unterstützung in der Nachbarschaft ist, hat sich in der Krise gezeigt. An vielen Stellen entstanden deshalb Einkaufsdienste  – spontan aus der Zivilgesellschaft oder auch organisiert von Kirche, Diakonie oder Caritas. Besonders erfolgreich waren die Quartiere, in denen sich verschiedene Organisationen zusammengetan haben, um Ehrenamtliche und Hilfebedürfte anzusprechen. Problematisch allerdings war eine Berichterstattung, die der Logik »Wir versus sie« 90 Vgl. Evangelische Landeskirche in Württemberg (2013): Alter neu gestalten. Evangelische Landeskirche und Diakonie Württemberg starten neues Projekt. https://www.elk-wue.de/ pressemitteilung/alter-neu-gestalten (Zugriff am 12.01.2021). 91 Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg e. V./Hammer, Eckart (Evangelische Hochschule Ludwigsburg) (2019): Impulsprojekt Demenz und Kommune. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung. https://www.demenzundkommune-bw.de/fileadmin/AGBW_Medien/ DEKO/Dokumente_DeKo/Projektabschluss/Abschlussbericht_gesamt/190910_Abschlussbericht_Projekt_DeKo-web.pdf (zugriff am 12.01.2021).

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folgte – jung versus alt, gesund versus krank. Eine solche paternalistische Ansprache wird als demütigend erlebt, wenn sie mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen verbunden ist. »Das Retter-versus-Opfer-Narrativ«, so die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie in einer Stellungnahme zur Coronakrise, »verstärkt die Grenzen und Gefahren zwischen den Generationen und mindert das Selbstwertgefühl«.92 Dabei verfügen die meisten älteren Menschen über gut ausgeprägte Strategien im Umgang mit widrigen Umständen, sie sind Krisenexpert*innen. Es geht darum, dass sie ihre Sicht auf die Situation zur Sprache bringen, sich selbst als handlungsfähige Individuen verstehen und Hilfe einfordern, wo sie sie brauchen. Während der Videokonferenzen, die ich im Sommer 2020 mit meiner Firma »Seele-und-Sorge« zum Thema »Oma trotzt Corona – Die Krisenexpert*innen« durchgeführt habe, wurde deutlich: Auch Kirchengemeinden brauchen neue Kommunikationswege mit Älteren wie Quartierstreffen auf dem Kirchplatz oder einfach gedruckte Gemeindeblätter, die tatsächlich in jedes Haus verteilt werden. Es geht darum, nicht nur die im Blick zu haben, die man schon kennt, sondern auch die anderen, die gerade in Krisensituationen etwas von der Kirche erwarten. Dass die wöchentlichen Mittagstische von Kirchengemeinden ausfallen mussten, wurde von vielen als großer Verlust empfunden. Wo reihum gekocht wird, bringen die Köch*innen die eigenen Traditionen und Rezepte mit und erzählen damit, wo sie herkommen, was sie können. Sie teilen ihre Erfahrungen und kommen ins Gespräch. Mahlzeiten stiften Identität, prägen Rituale und ordnen so unser Leben. Darum ist es so traurig, für sich allein kochen, allein essen zu müssen. Das gemeinsame Essen, sagt Maaike de Haardt, schafft Bedingungen für Mitleid, Respekt und Gemeinschaft und bietet Aussicht auf das »Mehr«.93 Sie spricht von der Sakramentalität der Tischgemeinschaft. Als man nach dem Frühjahrslockdown wieder draußen sitzen konnte, wurden schnell Tische gerückt und Stühle zusammengestellt, um sich wenigstens bei einem Kaffee auszutauschen. Spaziergänge mussten Gott sei Dank nicht ausfallen. Auch der »Wägelestreff« nicht, die Stadtspaziergänge mit Rollstuhl und Rollator in einer württembergischen Gemeinde. Selbst mit dem gebotenen Coronaabstand war zu spüren, wie gut es tut, einfach zusammen zu gehen. Dass Spaziergänge grundsätzlich das Miteinander stärken, fanden Forscher der Universität Tōhoku in Japan heraus: Menschen, die wir noch nicht kennen, werden uns sympathischer, wenn 92 Kessler, Eva-Marie/Gellert, Paul (2020): Öffentliche Kommunikation und Berichterstattung zu ›Corona & Alter‹. Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), Sektion III (Sozial- und Verhaltenswissenschaftliche Gerontologie) (Stand 1. April 2020). https://www.dggg-online.de/fileadmin/aktuelles/covid-19/20200401_Paper-Kommunikation-Alter-und-Corona-SektionIII.pdf (Zugriff am 12.01.2021). 93 de Haardt, Maaike (2020): Das Fenster nach Süden. Spiritualität des Alltäglichen. Freiburg i. Br.

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wir gemeinsam zu Fuß unterwegs sind – weit mehr, als wenn wir einfach nur in einem Raum gemeinsam Zeit verbringen. Und je sympathischer sich die Spaziergänger*innen sind, desto stärker synchronisieren sie ihren Gang – wobei Ältere sich sogar noch anpassungsfähiger und offener zeigen als Jüngere.94 Aber auch digitale Angebote haben Älteren in der Krise geholfen – bei einer kleinen Umfrage im Frankfurter Raum gaben immerhin 60 Prozent der über 60-Jährigen an, dass sie mehr mit Computer und Smartphone beschäftigt waren als zuvor. Vor allem Menschen mit Mobilitätseinschränkungen haben von den neuen Angeboten profitiert; sie fühlen sich selbstverständlicher zugehörig zur Gesellschaft.95 Und manchen gelang es auch, ihr ehrenamtliches Engagement als Gruppenleitung oder als Ausbildungspat*in per Skype oder Zoom weiterzuführen, als die physischen Begegnungen nicht mehr möglich waren. Andere erdeten sich in der Gartenarbeit. Bei einer Freiburger Tagung zum Thema »Sorgende Gemeinschaften« erzählte eine Frau, sie sei, kurz bevor sie 70 wurde, in die Nähe ihrer Tochter gezogen und zunächst sehr einsam gewesen. Bis sie mit »Urban Gardening« begonnen habe. Sie habe einen Parkstreifen an der Straße bepflanzt und erstaunlicherweise bald schon Mitstreiter*innen gefunden. Die Aufmerksamkeit und Sorge, die zum Gärtnern genauso gehört wie Geduld und Offenheit für unerwartete Wetterumschläge, helfen gerade in Umbruchsituationen, sich zu erden, sich auseinanderzusetzen mit dem, was ist, und Widerstandskräfte zu entwickeln. Rückschläge gehören ebenso dazu wie die unerwartete Freude über das Ausschlagen der Sträucher im Frühling, das Aufleuchten der Blüten. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb Urban Gardening Konjunktur hat. Dort in Freiburg haben dann Menschen aus der Nachbarschaft eine Bank aufgestellt, damit man einfach sitzen, zuschauen oder sich austauschen konnte. Und am Ende ist sogar eine alte Telefonzelle als Bücherbox dazugekommen. Irgendjemand hätte sie auf »nebenan. de« aufmerksam gemacht, erzählte die Teilnehmerin, und mit Staunen hätte sie festgestellt, wie viele der dort Engagierten sie schon kannte. Während der Treffpunkt aufblühte, war wie nebenbei ihr eigenes Nachbarschaftsnetzwerk gewachsen. Eine andere Tagungsteilnehmerin hatte an einer Fortbildung mit Karin Nell96 aus Düsseldorf teilgenommen, in der sie zusammen mit einem Partner ein Projekt 94 Psychologie heute, Aus der Forschung, April 2020, S. 42. 95 BAGSO Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e. V. (Hg.) (2020): Ältere Menschen und Digitalisierung. Stellungnahme der BAGSO zum Achten Altersbericht der Bundesregierung. Bonn, S. 6. https://www.bagso.de/fileadmin/user_upload/bagso/06_Veroeffentlichungen/2020/BAGSO-Stellungnahme_Achter_Altersbericht_Digitalisierung.pdf (Zugriff am 12.01.2021). 96 Siehe Karin Nell, Keywork. e. V. – Soziale Plastik im Quartier: http://keywork.info/ (Zugriff am 12.01.2021) und Knopp, Reinhold/Nell, Karin (Hg.) (2007): Keywork. Neue Wege in der Kultur- und Bildungsarbeit mit Älteren. Bielefeld.

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entwickelt hatte: Im anonymen Hochhaus sollte eine Hausgemeinschaft entstehen. Sie hatte eine Eigentumswohnung gemietet; kurz darauf kaufte ihr Projektpartner eine im gleichen Haus. Ohne ihr Vorhaben bekannt zu machen, begannen sie mit der Arbeit: Sie stellten im Advent Tannenbäume in jedes Stockwerk und zu Ostern Sträuße mit bunten Eiern. Sie luden einmal im Monat zu einem Musikoder Leseabend in ihre Wohnungen ein – bis sich andere fanden, die die Türen öffneten. Zum Spielen, sogar zum Tanzen. Eine lose Gruppe bildete sich, in der man sich auch untereinander einlud – zum Geburtstag, sogar am Heiligen Abend. Man lud einander zu Hochzeiten und Beerdigungen ein; das Netz wurde dichter, die Gespräche intensiver – auch über Kirche und Religion. Inzwischen überlegen die beiden, in den benachbarten Hochhäusern ein ähnliches Projekt zu beginnen und dafür ein kleines Büro anzumieten. Oder ein Café mit Büchertausch. Dazu allerdings müssten sie »dem Kind einem Namen geben«, ihr Projekt offiziell machen. Bisher war das Ganze eine private Initiative. Und gerade so lief es gut. Aber natürlich funktioniert es auch organisiert. In der Schweiz hat die Genossenschaft Migros das Netzwerk »Tavolata«97 gegründet. Überall im Land treffen sich kleine Gruppen von 5–10 Personen zum gemeinsamen Kochen und Essen – zumeist in den Häusern. Die Gruppe wandert von einem Wohnzimmer ins nächste, lernt sich mit der Zeit besser kennen und unternimmt dann oft auch anderes gemeinsam: eine Wanderung, einen Spieleabend oder ein Gartenfest in der Nachbarschaft. Bei der Migrosstiftung gibt es Start- und Krisenberatung und einmal im Jahr ein großes gemeinsames Treffen. Bei der Evaluation der TavolataBewegung zeigte sich die Bedeutung einer zentralen Ansprechperson. Wichtig ist ein Regelwerk, das die Gruppe selbst festlegt – auch im Blick auf die Kostenverteilung –, aber auch, dass die Gruppenmitglieder vielfältig sind und die Größe der Gruppe zu Zeit und Ort passt. »Mich fasziniert, dass an einer Tavolata die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen«, wird eine Teilnehmerin zitiert.98 Eine Untersuchung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft99 zeigt, dass die Teilnehmenden sich in ihrem Quartier wohler fühlen und aufgeschlossener für neue Freundschaften sind. Es ist die Mischung aus Zugehörigkeit und Autonomie, die die Gruppen blühen lässt. Selbstorganisation, Selbstwirksamkeit und Beteiligungsorientierung bleiben bis ins hohe Alter wichtig. Das gilt nicht nur für Tavolata, sondern auch für die 97 Siehe https://www.tavolata.ch (Zugriff am 12.01.2021). 98 Migros-Genossenschafts-Bund (2020): Tavolata. Gemeinsam kochen, essen und geniessen. Zürich, S. 4. https://www.tavolata.ch/wp-content/uploads/2020/06/Flyer_Tavolata_A5_v03_ DE-web.pdf (Zugriff am 05.01.2021). 99 Vortrag Prof. Christoph Steinebach, Institut für Angewandte Psychologie, auf der TavolataTagung am 06.05.2019 in Olten, Schweiz.

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55plus-Gruppen und die Seniorenclubs. Wesentlich ist der Austausch untereinander, das Knüpfen von Beziehungen und Netzwerken – und sei es über Tablet, Skype und Telefon. Treffpunkte für Ältere in Gaststätten oder Gemeindehäusern brauchen aber auch barrierefreie Zugänge und eine gute Infrastruktur – im Blick auf die Architektur genauso wie auf die Kommunikation, was Einschränkungen im Sehen oder Hören betrifft. Und gegebenenfalls auch Abholdienste, kleine Bürgerbusse vielleicht. Die Betreuungs- und Versorgungsperspektive, die manche Seniorenkreise noch prägt, kann einen diskriminierenden Aspekt haben. Nur ein kleinerer Teil der Älteren braucht Pflege: Im Alter zwischen 70 und 75 sind es 5 Prozent, zwischen 75 und 80 dann 10 Prozent, zwischen 80 und 85 werden es 20 Prozent – erst bei den Hochaltrigen zwischen 85 und 90 sind es 40 Prozent. Von den 75–79-Jährigen sind 7 Prozent von Demenz betroffen, von den 80–84-Jährigen 15 Prozent und bei den 85–89-Jährigen 26 Prozent.100 Wenn wir auch im Alter möglichst lange in unserem Umfeld bleiben wollen, dann braucht es also nicht nur barrierefreies Wohnen und Angebote von Haushaltshilfen und anderen Dienstleistern, sondern auch eine kompetente Pflegeberatung und die selbstverständliche Zusammenarbeit zwischen Nachbarschaftshilfen, Betreutem Wohnen, ambulanter Pflege, Kurzzeitpflege und stationären Angeboten im Sinne einer integrierten Versorgung. In der Jugendhilfe und im Bundesteilhabegesetz ist umgesetzt, was in Altenhilfe und Langzeitpflege seit Langem ansteht: eine quartiersbezogene Planung und eine entsprechende Finanzierungskomponente.

2.6 Pflege ist systemrelevant – Familien, Versicherungen und der Care-Markt Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat bereits 2010 eine Prognose veröffentlicht, nach der die Pflegesituation zur Jahrhundertmitte nicht mehr durch stationäre Einrichtungen aufzufangen sein wird – selbst dann nicht, wenn noch mehr fehlende Pflegekräfte aus Osteuropa oder Asien importiert werden.101 Denn auch in diesen Gesellschaften wächst die Zahl der pflegebedürftigen Älteren 100 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2010): Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Altersbilder in der Gesellschaft. Berlin, S. 345. https://www.bmfsfj.de/blob/101922/b6e54a742b2e84808af68b8947d10ad4/sechster-altenbericht-data.pdf (Zugriff am 05.01.2021). 101 Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (o. J.): Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Pflege. https://www.bgw-online.de/DE/ArbeitssicherheitGesundheitsschutz/Demografischer-Wandel/Auswirkungen-auf-die-Pflege/Auswirkungen_ Pflege.html (Zugriff am 12.01.2021).

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und Demenzerkrankten – und sie wächst sogar wie in allen Ländern mit schwächeren Gesundheitssystemen noch schneller als in Deutschland. Auch deshalb muss verhindert werden, dass Menschen nur deswegen in stationäre Einrichtungen ziehen, weil die Wohnung nicht angemessen oder die Versorgung zu Hause nicht gewährleistet ist. Der Anteil der Töchter- und Schwiegertöchter, die wie früher diese Aufgaben übernehmen können, sinkt seit Jahren – aus demografischen Gründen, wegen der Veränderung von Familien und Geschlechterrollen aber auch vor dem Hintergrund von Mobilität –, während zugleich der Fachkräftemangel vor allem in der Altenhilfe wächst. Bessere Arbeitsbedingungen und Vergütungen in der Pflege sind notwendig, werden aber über kurz oder lang zu steigenden Beitragssätzen in der Pflegeversicherung führen. 2020 waren bereits 36 Prozent der Betroffenen und Angehörigen nicht mehr in der Lage, die Heimkosten selbst zu tragen.102 Seit Langem wird deswegen eine Deckelung der Pflegekosten durch eine steuerfinanzierte Umlage geplant.103 Anders als die Krankenversicherung war die Pflegeversicherung von Anfang an nur eine »Teilkasko-Versicherung« – gedacht als Kombination von Eigenleistung der pflegenden Angehörigen mit Geld- und Sachleistungen aus der Versicherung. Wie alle sozialen Sicherungssysteme in Deutschland ist sie auf eine männliche Vollzeiterwerbstätigkeit und weibliche, private Sorge hin kalkuliert. Dieses Lebensmuster ist aber nicht mehr dominant. Angesichts des demografischen Wandels und der Veränderung von Familien und Arbeitswelt muss die Refinanzierung von Pflege deshalb neu geregelt werden: Dazu gehört neben dem Umbau der Pflegeversicherung zur Vollversicherung mit dann steigenden Beitragssätzen auch eine stärkere Refinanzierung aus dem Steuersystem. So kann deutlich werden, was während der Coronakrise für alle spürbar war: Pflege ist systemrelevant, sie geht alle an. Gefragt ist »ein Politikentwurf, der Familien-, Gesundheits-, Teilhabeund Pflegepolitik miteinander verbindet und dabei den Kommunen eine zen­ trale Rolle zuweist.«104 Was haben solche sozialpolitischen Überlegungen mit dem Thema »Gemeinschaft« zu tun? Das Beispiel der Pflege zeigt, wie Wirtschaft, Care und Sozialpolitik verknüpft sind. Weil die Sozialversicherungen und Renten in Deutschland an 102 ZEIT ONLINE (2020): Ein Drittel der Pflegebedürftigen braucht Geld vom Staat. https://www. zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-08/pflegebeduerftige-sozialhilfe-deutschland-statistisches-bundesamt (Zugriff am 12.01.2021). 103 DIE ZEIT (2020): Deckel drauf! Der Eigenanteil für Pflegebedürftige gehört reduziert. https:// www.zeit.de/2020/42/pflegeheime-altenpflege-senioren-eigenanteil-steuern (Zugriff am 12.01.2021). 104 Klie, Thomas (2014): Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft. München. S. 12.

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das Erwerbseinkommen gekoppelt sind und Frauen wie Männer entsprechend erwerbstätig sein wollen und müssen, verändert sich das Miteinander in den Familien. Das »Ernährermodell« wird von einer massiven Erosionsdynamik erfasst, die anteilige Refinanzierung von »Hausfrauen« aus dem Steuer- und Sozialversicherungssystem zur Erbringung unentgeltlicher Wohlfahrtstätigkeit wird nicht mehr als angemessen erlebt. »Entsprechend steht vielen Frauen  – zumal bei hoch flexiblen Arbeitsanforderungen im Beruf – deutlich weniger Zeit für die Reproduktionsarbeit im Haushalt zur Verfügung. Diese Entwicklung führt dazu, dass Teile der Sorgearbeit aus dem Haushalt ausgelagert und auf kommerzieller oder sozialstaatlicher Ebene neu organisiert werden«, analysiert Gabriele Winker die Veränderungsprozesse.105 An die Stelle scheinbar selbstverständlicher Rollenzuschreibungen treten jetzt – ähnlich wie bei den Erziehungsaufgaben – Planungs- und Aushandlungsprozesse, in denen Frauen allerdings noch immer die größten Lasten tragen. Pflege wird in der Freizeit erbracht und von unterschiedlichen Dienstleistern, Familienmitgliedern und Nachbar*innen unterstützt. Wenn es nicht zu einer neuen, angemessenen Form der Refinanzierung von Sorgearbeit kommt, die der individualisierten, digitalen und mobilen Erwerbsgesellschaft entspricht, wächst die Gefahr der Überlastung in der privaten Pflege und der Unterversorgung von Hilfebedürftigen. Für das schlichte Zusammensein, das unbelastete Gespräch zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen bleibt dann kaum noch Zeit. Pflege verliert ihre spirituelle Kraft, ihre verbindende Energie. Deutlich war das auch während der Lockdownphasen in der Pandemie zu spüren, als die pflegenden Angehörigen sich – nicht erst während der Impfkampagne – übersehen und allein gelassen fühlten. Kaum jemand hatte sich Gedanken darüber gemacht, wie die hochbetagten Pflegebedürftigen, die nicht in stationären Einrichtungen leben – und das ist die breite Mehrheit –, von den mobilen Impfdiensten erreicht werden sollten. Pflege findet eben hinter verschlossenen Türen statt. Und auch die pflegenden Angehörigen machen erst seit Kurzem mit Initiativen auf sich aufmerksam. Kaum ein Bereich der Sozialdienstleistungen zeigt auch so deutlich wie die Pflege, was geschieht, wenn Versorgungslücken durch ungeregelte Marktangebote geschlossen werden. Hier dringt die Ökonomisierung bis ins Private, in die Familien vor und trifft am Ende die Schwächsten. Die mehr als 300.000 osteuropäischen 105 Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. 2. Aufl. Bielefeld, S. 29.

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Haushalts- und Pflegehilfen, die zurzeit die Lücke in der Versorgung füllen, sind auf Dauer keine Lösung. Das war während der Coronapandemie öffentlich sichtbar, als die Grenzen zu Polen, Tschechien, Rumänien usw. geschlossen waren und Haushaltshilfen, Pflegekräfte, Spargelstecher*innen vor verschlossenen Türen standen. Für kurze Zeit mussten Familien und Nachbar*innen einspringen, stationäre Einrichtungen mussten zusätzliche Zimmer schaffen, hier und da blieben auch Mitarbeiterinnen länger als geplant bei den pflegebedürftigen Älteren, um das Schlimmste zu verhindern – und ließen die eigene Familie in Polen oder anderswo im Stich. Die weiblichen Care-Ketten, die entstanden sind, sind nicht nur brüchig, sie sind, wie die Armutsrenten vieler Frauen, ein sichtbares Zeichen mangelnder Geschlechtergerechtigkeit. »Prekarisierte Angebote in Pflege und Betreuung, wie etwa die häusliche 24-Stunden-Betreuung, müssen neu geregelt werden: Ausreichende Sozialversicherung, angemessene Entlohnung, fairer Zugang zu Sozialleistungen, kontrollierte Arbeitsbedingungen mit genügend Freizeit und Erholung, menschenwürdige Lebensbedingungen in den Haushalten sowie ein sicherer Aufenthaltsstatus sind vorzusehen. Dies sollte ohne Pseudo- Selbständigkeit und Abhängigkeiten von Vermittlungsorganisationen umgesetzt werden. Darüber hinaus braucht es gesamteuropäische Zugänge, damit nicht die Lösung von Problemen in einem Land durch migrantische Arbeitskräfte zu einer Verschärfung der Care-Krise in deren Herkunftsländern führt«, heißt es dazu im Positionspapier »Großputz! Care nach Corona neu gestalten«.106 Care-Arbeit ist ein wachsender, europäischer Markt – mit Angeboten auf digitalen Plattformen. Deshalb braucht es dringend neue, integrative Konzepte der Kommunen, aber auch des Bundes und der EU, um einen schützenden Rahmen zu schaffen, Quartierspflege abzusichern, sie mit (teil-)stationären Angebote zu verknüpfen und die Stadtplanung insgesamt auf den demografischen Wandel, speziell auf Ältere auszurichten. Inzwischen haben verschiedene Städte wie Bielefeld und Stadtbezirke wie Hamburg-Altona Demografiekonzepte entwickelt. Andere haben sich als »altersfreundliche« Städte auszeichnen lassen. Anfang 2020 erschien dazu bei der Hamburger Körber-Stiftung das Diskussionspapier »(Gem)einsame Stadt? Kommune gegen soziale Isolation im Alter«107, das die Kommunen als Schlüsselakteure bei 106 Thiessen et al. 2020. 107 Körber-Stiftung (Hg.) (2019): (Gem)einsame Stadt? Kommunen gegen soziale Isolation im Alter. Fakten, Trends und Empfehlungen für die Praxis von Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und Körber-Stiftung. Hamburg. https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/

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der Bekämpfung von Einsamkeit im Alter sieht. Zugleich entstehen regelrechte »Altersstädte« dort, wo die Mieten günstiger und die Landschaft besonders schön ist. Wo allerdings der Anteil der Älteren besonders hoch ist, wächst auch der Bedarf an professionellen Dienstleistungen in Pflege und Hauswirtschaft. Es gilt also, rechtzeitig gegenzusteuern – mit gemischten Quartieren, günstigem Wohnen für junge Familien, Schulen, Kindergärten und Quartierszentren, in denen die Generationen einander unterstützen.108

2.7 Sorgekämpfe und Sorgende Gemeinschaften – Zivilgesellschaft im Quartier Wir haben die Bilder noch vor Augen: Lange Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen, Wucherpreise und Entmietung. Rentnerinnen, die sich ihre Wohnung nicht mehr leisten können, wenn der Partner ins Heim muss oder stirbt. Studierende, die in der Uni campen. Rund 37.000 Wohnungslose lebten 2019 allein in Berlin, fast ein Viertel davon mit Kindern. Viermal so viele wie noch 2014.109 Viele Städte sind wie gelähmt, weil sie ihre Wohnungsbestände längst veräußert haben. Gleichzeitig stehen Luxuswohnungen leer, weil sie als Wertanlage und Spekulationsobjekt genutzt werden. Allein die Firma »Vonovia« hat 2019 1,1 Milliarden Euro Gewinn gemacht.110 Und die »Deutsche Wohnen« rückte nach, als die »Lufthansa« während der Coronakrise den DAX verlassen musste. Dabei sind im Jahr 2019 58 Prozent der Deutschen Mieter*innen – und viele haben das Gefühl, dass etwas ins Rutschen gekommen ist.111 1,5 Millionen neue Wohnungen sollen nach dem Willen der Bundesregierung gebaut werden. Das wird dauern. Die Kommunen ächzen unter dem finanziellen Druck, der vor allem durch die hohen Kosten für Transferleistungen entsteht: Eine wachsende Zahl der Bürger*innen ist von solchen Leistungen abhängig – weil das Arbeitseinkommen nicht reicht, um die Familie zu ernähren oder weil die Pflegeversicherung die Kosten für die Pflege nicht deckt. Günstige Wohnungen werden user_upload/koerber-stiftung/redaktion/koerber-demografie-symposien/pdf/2019/Broschuere_Koerber_Demografie-Symposium_2019.pdf (Zugriff am 12.01.2021). 108 Etgeton, Stefan (2016): Können sich Senioren die eigene Pflege leisten? Report, 12.10.2016. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2016/oktober/koennen-sich-senioren-die-eigene-pflege-leisten (Zugriff am 05.01.2021). 109 Beikler, Sabine (2018): Wohnungslosigkeit in Berlin. 37.000 Menschen leben in Notquartieren. Der Tagesspiegel, 17.07.2018. https://www.tagesspiegel.de/berlin/wohnungslosigkeit-inberlin-37-000-menschen-leben-in-notquartieren/22810842.html (Zugriff am 12.01.2021). 110 Siehe https://twitter.com/LowerClassMag/status/1331629590419288066 (Zugriff am 12.01.2021). 111 Siehe https://de.statista.com/themen/51/wohnen/ (Zugriff am 16.12.2020).

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gebraucht, Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen, möglichst angepasste Pflegeangebote und natürlich eine alternsgerechte Infrastruktur: Busse, Bänke, öffentliche Toiletten. Denn tatsächlich verschiebt sich die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland hin zu einer wachsenden Anzahl älterer, assistenz- bzw. pflegebedürftiger Menschen. Sozialausgaben belasten die kommunalen Haushalte mit bis zu 58 Prozent.112 Viele Kommunen haben längst die Notbremse ziehen müssen: Neben dem Wohnungsbestand haben sie Verkehrs- und Energiebetriebe verkauft – die Infrastruktur, die für ein gutes Zusammenleben nötig ist. Wie wichtig die Wohnsituation für die Gesundheit ist, war lange Zeit vergessen – genauso wie die Bedeutung der Gesundheitsämter als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Während der Coronapandemie aber erinnerte man sich an die Epidemiebekämpfung im 19. Jahrhundert, als ganze Stadtviertel wegen unzureichender Hygiene und Wasserversorgung saniert werden mussten. Und auch 2020 waren die Ansteckungen da besonders heftig, wo Menschen in großen Wohnkomplexen eng aufeinander lebten. In den Baracken der Spargelstecher*innen und Fleischereiarbeiter*innen. In Stadtvierteln ohne Gärten oder Parks, wo selbst die Spielplätze geschlossen waren. Wo nicht nur der private Raum begrenzt ist, sondern auch der öffentliche. Beim Infektionsschutz ist deutlich geworden, dass das Gesundheitswesen als Ganzes gerade die Menschen im Blick haben muss, die schlechten Zugang zu Gesundheitsleistungen und -informationen haben: Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftige, Menschen mit geringen Deutschkenntnissen, mit ungesichertem Aufenthaltsstatuts, Prostituierte. Viele von ihnen leben in Gemeinschaftsunterkünften und Heimen, in beengten Wohnsituationen oder auf der Straße. Dass die gesund bleiben, die sich Gesundheit nicht kaufen können, dass keine Armutsghettos entstehen, in denen Infektionskrankheiten leichtes Spiel haben, ist im Interesse aller. Gesundheit ist ein öffentliches Gut. Das haben wir in dem Maße aus dem Blick verloren, wie wir die Eigenverantwortung der Einzelnen für den eigenen Lebensstil betonen. Aber wir alle brauchen auch gesunde Luft, gesunde Städte und Unternehmen, gesunde Quartiere. Die Landschaft, in er wir zu Hause sind, der Grund und Boden, auf dem wir leben, ist mehr ist als eine Geldanlage für Immobilienkäufer. »Alles Eigentum und aller Reichtum müssen in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit und zum Fortschritt der Menschheit verantwortungsvoll verwendet werden«, heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten, die Helmut Schmidt schon 1997 zusammen mit Shimon Peres, Franz Vranitzky 112 Witte, Kirsten (2015): Sozialausgaben belasten Haushalte der Kommunen mit bis zu 58 Prozent. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2015/juni/sozialausgaben-belasten-haushalte-der-kommunen-mit-bis-zu-58-prozent/ (Zugriff am 12.01.2021).

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und anderen veröffentlicht hat.113 Aber nicht nur Wohnen ist zu einem zentralen politischen Thema geworden. Unsere Städte verändern sich grundlegend. Seit dem Abgas- bzw. Dieselskandal und der Transformation der für Deutschland systemrelevanten Automobilindustrie diskutieren wir auch Infrastruktur und Verkehrswende. Seit der Digitalisierung sprechen wir über das Ladensterben und mit der Coronakrise ist nun auch der Verfall der Fußgängerzonen zum politischen Thema geworden. Während in den Innenstädten Pop-up-Radwege abgesperrt werden und in ehemaligen Parkhäusern neue Wohnungen entstehen, regen Architekt*innen an, die leeren Verkaufsflächen zu kommerzfreien Treffpunkten zu machen: Tauschläden, Quartiersläden, Begegnungszentren. Wohn- und Gewerbegebiete, bis heute gesetzlich entkoppelt, sollten wieder verbunden werden. Aus Bürohäusern könnten Wohnhäuser werden – für die vielen, oft älteren Menschen, die in die Städte zurückziehen, weil sie dort eine bessere Infrastruktur vorfinden. Seit einigen Jahren entstehen in ehemaligen Fabrikquartieren Wohnviertel mit betreuten Wohnungen, Läden, Genossenschaftsprojekten, Pflegediensten und Tageseinrichtungen und einem Quartiersmanagement von Bauträgern – oft in Kooperation mit Wohlfahrtsunternehmen. Die soziale Arbeit der Wohlfahrtspflege hat allerdings an Stabilität und Stetigkeit verloren, seit sie durch regelmäßige Projektvergabe an den günstigsten Anbieter immer nur auf Zeit vergeben wird. Die Orientierung an wettbewerblichen Strukturen hat das Verhältnis zwischen Bürger*innen, Dienstleistern und Kommunen nicht unberührt gelassen. Jugendliche »Kund*innen« im Jugendhilfesystem bekommen in der Fallberatung Hilfemodule vom Wohnen über die Ausbildung bis zur Therapie. Wer einen neuen Personalausweis beantragt, ist jetzt Kund*in beim Bürgerbüro. Was nach Service und Zuvorkommenheit klingt, verrät zugleich, dass die Angesprochenen nicht als politische Subjekte wahrgenommen werden. Beteiligung, eine wichtige Voraussetzung für Beheimatung, lässt sich nicht über effiziente digitale Prozesse und gute Dienstleistungen steuern. Es geht um Begegnung und Beziehung, um Orte und Netzwerke der Sorge. In diesem Sinne sind »Kommunen« tatsächlich die staatlichen Plattformen des Gemeinsamen, die den Interessenausgleich zwischen unterschiedlichen Akteur*innen und die Entwicklung des Zusammenhalts fördern. Vor diesem Hintergrund wurde in den letzten Jahren die Quartiersarbeit entdeckt. Wo Menschen einkaufen, ihre Kinder zur Tageseinrichtung bringen, wo Sportvereine ganz unterschiedliche Gruppen zusammenführen, begegnen sich Bürger*innen noch immer ganz selbstverständlich. In der Gemeinde vor Ort 113 Artikel 11; vgl. Assmann, Aleida (2018): Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft. Wien.

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manifestieren sich die aktuellen Probleme, aber genau dort finden sich auch Antworten auf die drängenden Bedürfnisse der Zeit. Um Bürgerbeteiligung zu organisieren, genügt es aber nicht, eine Plattform zu installieren – weder digital noch analog. Untersuchungen von Martina Wegner aus München zeigen, dass sich daran immer nur die gleichen beteiligen: die hochengagierte Mittelschicht mit ihren eigenen Interessen.114 Wenn wir die erreichen wollen, die ihre Rechte nicht selbstverständlich wahrnehmen, sind intermediäre Organisationen nötig: Schulen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Parteien. Genau die sind aber in den letzten Jahren auf dem Rückzug – von den Bezirksverwaltungen bis zu den Kirchengemeinden. Wie kann es unter diesen Rahmenbedingungen gelingen, gute Orte zu schaffen – oder genauer: die Bedingungen und Befähigung zu einem guten Leben vor Ort? Entscheidend ist, dass Städte, Gemeinden und soziale Träger nicht nur auf den Einzelfall schauen, sondern auf den Sozialraum. Wer bestimmte Zielgruppen unterstützen will – Demenzkranke, Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftige oder Familien in Armut – muss zudem alle Akteur*innen an Bord holen und die Angebote verknüpfen. Kommunen, soziale Dienste und die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe, Ärzt*innen und Einkaufszentren. Palliativnetze, Frühfördernetze, alternsgerechte und demenzfreundliche Städte, Inklusionsquartiere, das Programm »Soziale Stadt« oder die »Compassionate Cities«115 – sie »leben von einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Hilfen. Segmentierte Hilfen sind zu überwinden, es muss in wohlfahrtspluralistische Hilfearrangements investiert werden«116. Mit dem siebten Altenbericht sind die »Sorgenden Gemeinschaften« in Deutschland populär geworden. Längst vorher waren die »Caring Communities« ein internationaler Leitbegriff, wenn es darum ging, auf regionaler und lokaler Ebene Verantwortungsstrukturen neu zu beleben. Dabei sind die Handlungsfelder ganz verschieden. Es geht um Menschen mit Behinderung, um Kinder und Ältere, aber auch um Sterbende und Trauernde. Vor allem aber geht es um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Dabei bezieht sich die »Sorge« auf das »Dazwischen« in der Beziehung, das »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten«, wie Hannah Arendt sagt.117 Das Interesse aneinander, das in der Sorge spürbar wird, gilt dem ganzen Menschen, nicht nur dem Austausch von Waren und Leistungen. Aus diesem wechselseitigen Interesse – 114 Wegner, Martina: Vortrag bei »Horizonte der Sorge«. Internationales Symposium zu palliative/hospice care und caring communities am 15./16.03.2019 der Universität Graz. 115 Siehe https://compassionatecities.com/compassionate-cities-articles (Zugriff am 16.12.2020). 116 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016a, S. 291. 117 Arendt, Hannah (2002): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich, S. 237.

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dem gemeinsamen Lernen und Wachsen, der Teilhabe am Schicksal aller – ist Gemeinschaft gestrickt. Ganz ähnlich wie in den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts geht es deshalb auch heute um mehr als Sozialpolitik und soziale Dienste; es geht um einen Mentalitätswandel, die »Bekehrung der Herzen«, einen gesellschaftlichen Aufbruch in Richtung Teilhabe. Vor allem die jungen Alten tragen dazu bei, dass die Nachbarschaften lebendig und lebenswert bleiben. Als Ausbildungsmentor*innen, Lesepat*innen, Demenzbegleiter*innen und Stadtteilmütter und -väter, an den Tafeln und in der Telefonseelsorge setzen sie sich ehrenamtlich für das Gemeinwesen, für die Integration von Geflüchteten wie für die Familien von Pflegebedürftigen ein. Sie bilden den Kern der »Sorgenden Gemeinschaften«. Dabei geht es keinesfalls um selbstvergessenen Altruismus. Wer sich engagiert, gewinnt zugleich neue Beziehungen und eigene Netzwerke, Lebensvertiefung und soziale Kompetenzen. »Es ist einfach notwendig, als Bürger da zu sein«, sagt Annelie Keil, die sich mit Henning Scherf zusammen seit Jahren für neue Wohnprojekte und Nachbarschaftsarbeit Älterer engagiert: »Zivilgesellschaftliches Engagement ist kein Zuckerbrot, kein Nachtisch zu den Hauptmahlzeiten des Lebens nach dem Motto: Jetzt habe ich noch ein bisschen Zeit. Nein, die Notwendigkeit wird leibhaftig erlebt. […] Der Weg muss vom Einzelnen in die Gemeinschaft gehen. Und umgekehrt tue ich ja alles, was ich noch für die Gemeinschaft tue, im Wesentlichen für mich. Wenn ich als alleinlebende Frau nicht mehr hinausgehe, in meine Suppenküche oder zu einem Vortrag oder in die Schule, um mit den Kindern zu diskutieren, dann wird mein Leben ärmer«.118 Als die Coronakrise begann, geschah aber genau das. Viele ältere Engagierte verschwanden aus den Schulen, den Altenzentren und Krankenhäusern oder von den Tafeldiensten, weil sie »in Zeiten der Corona-Krise stark verunsichert« sind.119 Das »Tübinger Modell« mit regelmäßigen Tests, FFP2-Masken und kostenlosen Taxifahrten, die Älteren auch weiter Mobilität und Teilhabe ermöglichten, blieb ein Einzelfall. Es hat eine Weile gedauert, bis die Gesellschaft begriff, was mit dem Engagement der Älteren verloren ging – und manche nahmen die Gelegenheit wahr, ihren Einsatz zu beenden. Es tut weh, nicht wirklich wahrgenommen 118 Scherf, Henning/Keil, Annelie (2016): Das letzte Tabu. Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen. Freiburg i. Br., S. 106. 119 Forum Seniorenarbeit (2020): Engagement in der Nachbarschaft während der Corona Krise. https://forum-seniorenarbeit.de/2020/03/engagement-in-der-nachbarschaft-waehrend-dercorona-krise-mit-newsticker/ (Zugriff am 23.01.2021).

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zu werden. Dabei bewegen sich ältere Engagierte ohnehin mit Übungsleiterpauschalen, 450-Euro-Jobs und Bundesfreiwilligendienst in einer prekären Grauzone zwischen Erwerbsarbeit und Ehrenamt. Das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft in Deutschland sei bis heute nicht wirklich geklärt, meint Birgit Gebhardt.120 Dabei engagieren sich je nach Befragung bis zu 40 Prozent der Bevölkerung ehrenamtlich und leisten – so eine Berechnung der Prognos-AG für das Jahr 2008 – in Summe 4,6 Milliarden Arbeitsstunden pro Jahr. Das entspräche 3,2 Millionen Vollzeitstellen.121 Allerdings geht es bei diesem Einsatz eben nicht ums Geldverdienen, sondern vielmehr um Sinn, Begegnungen und Lebensqualität. Deswegen ist es auch nicht sinnvoll, diese »Gaben« ökonomisch zu beziffern. Zumal unklar ist, wonach berechnet werden soll – nach Kompetenz, nach Wirkung, nach Zeit? Die »Geschenkökonomie« misst grundsätzlich nach anderen Maßstäben als die Arbeitsökonomie – und trotzdem hat Birgit Gebhardt recht: Von echten Governance-Strukturen, in denen sich Vertreter*innen beider Seiten tatsächlich auf Augenhöhe begegnen, kann man in Deutschland nicht sprechen. Stattdessen wird der freiwillige Einsatz vieler Bürger*innen als »nice to have« verortet oder – ganz im Gegenteil – für staatliche Aufgaben in Dienst genommen wie wir es in der Flüchtlingskrise 2015 gesehen haben. Auch während des Lockdowns 2020 wurde immer wieder darauf verwiesen, dass die Älteren doch zu Hause bleiben und sich von Ehrenamtlichen versorgen lassen könnten. Freiwilliges Engagement und Sorgende Gemeinschaften sind auf Sorgestrukturen angewiesen – genauso wie umgekehrt. Das betrifft die rechtlichen Rahmenbedingungen im Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht genauso wie die Infrastruktur für freiwilliges Engagement: Es braucht Anlauf- und Beratungsstellen, Freiwilligenagenturen, öffentliche Räume und hauptamtliche Mitarbeiter*innen. Selbstverständlich müssen diese Aufgaben nicht unbedingt von den Kommunen selbst übernommen werden. Die Kooperation mit freien Trägern bei gemeinsamen Qualitätsstandards und Refinanzierungsgrundsätzen hat sich in Deutschland in vielen Feldern bewährt. Aber der Vergleich mit Nachbarländern wie der Schweiz oder den Niederlanden zeigt auch: Die sozialpolitischen Rahmenbedingungen spielen für das Engagement der Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle.122 Wo sich der Staat seiner Verantwortung für Infrastruktur und Refinanzierung entzieht, 120 Gebhardt 2011, S. 52. 121 Felber, Christian (2018): Gemeinwohl-Ökonomie. München, S. 180. 122 Vgl. dazu Behringer, Jeanette (2017): Sozialkulturelle Muster. Ein Schweizer Blick auf das Verständnis von freiwilligem Engagement als »Bürgerpflicht«. In: Cornelia Coenen-Marx/Beate Hofmann (Hg.): Symphonie, Drama, Powerplay. Zum Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamt in der Kirche. Stuttgart, S. 145 ff.

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werden klassische Frauen- und Großelternrollen reaktiviert. Was aber, wenn – wie in der jüngsten Krise – gerade die Großelterngeneration ausfällt? Mein Eindruck ist, dass die Bedeutung der Zivilgesellschaft während der Pandemie nicht hinreichend wertgeschätzt wurde. Die starke Kritik an der Sonderrolle der Fußball-Bundesliga-Clubs erklärt sich auch aus der Tatsache, dass die Sportvereine an der Basis finanziell kaum gestützt wurden. Wo überforderte Kommunen keine finanziellen Spielräume mehr haben, wo Erwerbstätige unter dauernder Verfügbarkeit leiden, Familien zwischen den verschiedenen Zeitregimes zerrieben werden, stößt das freiwillige Engagement an Grenzen. Wenn Kommunen Orte des guten Lebens sein wollen, dann sind sie auf soziale Investitionen und stabile Institutionen wie Stadtverwaltung und Bürgerämter, Schulen, Bibliotheken, Stadtwerke, Feuerwehr und Rettungsdienst angewiesen. Damit ist auch der Finanzausgleich zwischen Ländern und Kommunen angesprochen. Wo sich kein*e Arzt*Ärztin mehr niederlassen will, der Busverkehr eingestellt und der Supermarkt geschlossen ist, fehlt es an tragfähigen Säulen für das zivilgesellschaftliche Engagement. Seit Jahren ist deshalb eine Entschuldung von dauerhaft überlasteten Kommunen in der Diskussion – auch das war eines der Projekte in der Coronakrise. Trotz Kirchensteuerausfällen verfügen die Kirchen noch über eigene Räume und Gemeindehäuser, sind nach wie vor Referenzpunkte, oft zentrale Anlaufstellen am Ort und fußläufig erreichbar. Daneben bieten diakonische Einrichtungen, Altenzentren oder Tageseinrichtungen die Möglichkeit, Menschen zusammenzuführen. Überall dort, in Gemeinwesenhäusern und Quartierzentren, aber auch in Gasthäusern, Sportvereinen und Jugendclubs, werden Probleme diskutiert, bevor sie auf die politische Bühne kommen und dort gelabelt werden. Was passiert, wenn diese Vorräume der Demokratie fehlen, konnte man in der Coronakrise beobachten. Es fehlen Orte, wo Ärger und Verunsicherung besprochen werden können, wo Unausgegorenes Sprache finden kann. Emotional und gleichwohl konsenssuchend, wie das an Stammtischen der Fall ist. Wo diese Vorräume geschlossen werden, übernehmen Soziale Medien und Kampagnen-Plattformen diese Funktion – allerdings fehlt in den »Filterblasen«, die dort entstehen, ausgleichende Kritik, der argumentative Widerspruch. Je mehr sich die Gesellschaft ausdifferenziert, desto mehr sind wir auf solche Vorräume der Gemeinschaft angewiesen, damit sich »Fremde« integrieren können: Neuzugezogene, Menschen aus anderen Sprachräumen, Milieus, und Generationen, Menschen, die die verbindenden Rituale und Gewohnheiten der Gemeinschaft noch nicht kennen. »Pop-up-Gemeinschaften« können dabei hilfreich sein: die Tische, die am Tag der »Offenen Gesellschaft« zum Gespräch einladen, der Projektchor für ein Wochenende, Fastenaktionen bei »Sieben Wochen ohne«, Oasentage für Mit-

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arbeitende in der Diakonie, eine Walkinggruppe, die sich regelmäßig trifft, ein Urban-Gardening-Netzwerk … Wie Gemeinschaft entsteht, das lässt sich in Familie, Schule, Verein, Kirchengemeinde lernen: Wir sitzen an einem Tisch und teilen das Essen. Wir erzählen einander bei einem kühlen Getränk von unserem Tag. Wir übernehmen Verantwortung für ein gemeinsames Projekt. Wir arbeiten zusammen und lernen voneinander. Wir gehen spazieren, tauschen uns aus und passen unsere Schritte einander an. Wir singen im Chor und hören den Klang des Ganzen. Wir helfen einander in einer kritischen Situation. So fängt es an. Und dann sollte eine*r da sein, die*der uns später wieder mal anruft. Eine*r, die*der von sich erzählt, von ihren*seinen Überzeugungen und Hoffnungen und von der Gemeinschaft, zu der sie*er gehört. Und uns einlädt, uns zu beteiligen. Bis wir dazugehören.

Die Kraft des Kollektivs und die Rolle der Kirche Interview mit Ursula Schoen Dr. Ursula Schoen ist Prodekanin des Evangelischen Stadtdekanats Frankfurt und Offenbach.

»Disembedding« gilt als Schlüsselkategorie der Moderne: Familie, Arbeitsleben, Nachbarschaften verändern sich und erleben Brüche. Wo erleben Sie solche Brüche besonders deutlich? Ursula Schoen: Brüche werden heute vor allem als »Abbrüche« erlebt. Paare trennen sich, Familiengeschichten enden, generationsübergreifende Verbindungen zu Wohn- und Lebensorten hören auf. Diese Abbrüche betreffen auch alle Formen von Traditionen. Deutlich zeigt sich dies zum Beispiel bei Abschiedsritualen wie Bestattungen. Auf der kollektiven Deutungsebene endet das verbindende Narrativ! Dies ist vielleicht der entscheidendste Einschnitt. Weder auf sprachlicher noch auf symbolischer Ebene stehen kollektive Deutungsmuster zur Verfügung, in die der*die Einzelne im Krisenfall zurückkehren kann. Damit verliert das Kollektiv seine selbstregenerativen Kräfte. Disembedding erlebe ich als Verlust von Rückhalt. Bindungen sind individualisiert und temporär. Der*Die Einzelne erlebt berufliche, kulturelle, biografische Identität als jederzeit revidierbar. Das kann Ausdruck und Erleben von Freiheit sein, kann aber auch als Bedrohung erlebt werden. Die biblische Sprache der Psalmen nimmt genau diese Angst auf und löst sie in die bleibende Gegenwart Gottes auf. Persönlich habe ich »disembedding« als »Grundideologie« einiger Paarberatungen erfahren. Der Grundansatz ist eigentlich zerstörerisch und verstörend. »Rett-

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bar« oder – biblisch gesagt – »heilbar« ist nichts und Verantwortung und Solidarität lohnen kaum. »Rette« sich selbst, wer kann. Damit sind die Grundthemen der apokalyptischen Weltdeutung angeschnitten.

Wo und wie können Menschen in der »Single-Gesellschaft« Gemeinschaft erfahren? U. S.: Menschen einer Single-Gesellschaft erleben Gemeinschaft dann, wenn sie sich auf Verbindlichkeit/Wiederholung und Nähe/Öffnung einlassen. Gemeinschaft wird erlebbar, wenn mich mit anderen Menschen Erfahrungen und Aktivitäten verbinden, die über ein einmaliges Ereignis hinausgehen. Das kann in der Kirchengemeinde, im Tennisclub, im Chor oder im sozialen Engagement sein. Ohne Empathie für andere ist Gemeinschaft allerdings nur schwer lebbar. In meinem Tennisclub ist eine Gruppe von meistens alleinstehenden Frauen über 60 in einer Whatsapp-Gruppe verbunden. Man tauscht sich nicht nur über anstehende Turniere aus, sondern auch über den kleinen Fahrradunfall, die ausgelaufene Spülmaschine und den Tod der Katze. Die Reaktionen kommen prompt und verlässlich. Soziale Medien ersetzen nicht die konkrete Begegnung, aber lassen in vielfältiger Form spüren, dass ich mit anderen und andere mit mir verbunden sind.

Was können wir als Einzelne dazu beitragen, dass Menschen Gemeinschaft erfahren? U. S.: Durch Offenheit für das Leben anderer, durch Verbindlichkeit (früher hätte man einfache »Treue« gesagt) in unseren Beziehungen und Verlässlichkeit in unseren Handlungen. Als Führungskraft sehe ich es – besonders in Krisenzeiten – als meine Aufgabe an, nach außen hin interpretierend zu formulieren, was uns verbindet und wie die Spielregeln des Miteinanders sind. Diese Klarheit brauchen auch Familien, Gruppen, Vereine, Parteien und eine Gesellschaft.

Welche politischen/sozialpolitischen Initiativen wären wichtig, um Gemeinschaft und Gemeinwohl zu stärken? U. S.: Die flächendeckende Logik des Revidierbaren und Temporären sehe ich als eine der größten Destabilisierungskräfte der Gegenwart. Politische und sozialpolitische Strukturen müssen verlässlich und dauerhaft sein. Nur so mache ich als Einzelne in den Wechselfällen des Lebens die Erfahrung, dass die Gesellschaft verantwortlich, fürsorglich und gerecht im Blick auf mein Leben agiert und es sich lohnt, Engagement zu zeigen. Dies betrifft besonders die Bereiche, mit denen quasi jede*r Bürger*in einmal in Verbindung kommt: Schule, Gesundheitssystem,

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Justiz und Arbeitsleben. Sie müssen nicht ständig evaluiert und verändert werden, sondern brauchen gute Sockelfinanzierungen und ihre Mitarbeitenden Respekt und Anerkennung in der Öffentlichkeit.

Wo sehen Sie besondere Herausforderungen für die Kirche? U. S.: Kirche, insbesondere Kirchenleitung, sollte die vorangehend beschriebene Logik nicht gedankenlos und unhinterfragt in ihre Systemvollzüge übernehmen, sondern das einbringen, was ihr Charakteristikum als Institution ist, nämlich Dauer und Verlässlichkeit. Wir laufen ständig im Projektmodus, bei dem nach 3 bis 5 Jahren alles wieder anders sein kann. Das mag in Einzelfällen (etwa in einem neuen Konfirmandenmodel) sinnvoll und sogar angebracht sein, aber nicht im Blick auf Finanzierung von Grundversorgung wie dem Gemeindebüro oder Hausmeisterstellen. Auch für die Implementierung von Nachhaltigkeit oder Gemeinwesenarbeit eignet sich die Projektform wenig. Klarheit ist wichtiger als Kurzlebigkeit. Projekte kann ich gegebenenfalls auch mit anderen Ressourcen starten.

2.8 Die neue Stadt – Solidarität statt Ausgrenzung Die Bibel erzählt von der neuen Stadt, dem neuen Jerusalem, wo Menschen aus aller Welt ein Zuhause finden. Wo die Tore offenstehen und das Lamm auf dem Thron sitzt. In Sacharja 8,4 f. ist von den Kindern und den Alten die Rede: »Es sollen hinfort wieder sitzen auf den Plätzen Jerusalems alte Männer und Frauen, jeder mit seinem Stock in der Hand vor hohem Alter, und die Plätze der Stadt sollen voll sein von Knaben und Mädchen, die dort spielen.« Die Kinder und die Alten in der Mitte der Stadt. So wie das Lamm im neuen Jerusalem auf dem Thron sitzt. Urte Bejick schreibt dazu: Es geht um Menschen, deren Dasein von einem »nicht mehr« und »noch nicht« geprägt ist. Maßstab für das Gemeinwesen ist der »zwecklose«, flanierende, zuschauende und spielende Mensch, der noch oder schon auf Hilfe angewiesen ist. Diese Menschen sind Subjekte und Akteur*innen. Sie haben eine Rolle, haben Teil am Ganzen. Hier muss niemand Angst haben vor Abhängigkeit und Ausgeschlossen-Sein.123 Wenn ich mir diese Vision vor Augen halte, fällt mir immer auch ein Albtraum ein: die Geschichte, die Hilde Sherman aus Riga erzählte.124 Hilde Sherman (1923–2011) wurde 1938 als Jüdin aus meiner späteren Kirchengemeinde in 123 Urte Bejick in einem unveröffentlichten Vortrag zur EKD-Besuchsdiensttagung 2019. 124 Sherman, Hilde (1984): Zwischen Tag und Dunkel. Mädchenjahre im Ghetto. Frankfurt a. M.

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Mönchengladbach-Wickrathberg deportiert. Sie war eine von 37 Männern, Frauen und kleinen Kindern. Als junge, arbeitsfähige Frau kam sie ins Rigaer Ghetto. Sie überlebte – und später traf ich sie in Jerusalem. Was sie aus dem Ghetto erzählte, ist das Gegenteil der Vision Sacharjas: Eine Stadt ohne Kinder und ohne Alte. Da gab es niemanden, der unnütz war. Denn in den KZs ging es nur um eins: um ertragreiche Arbeit. Um Gewinn. »Eine Zeit, die den Wert eines Menschen mit seiner Leistungskraft gleichsetzt, diskriminiert diejenigen, die zur Verwertung entweder noch nicht oder nicht mehr tauglich sind – und damit irgendwann uns alle«, schreibt Ariadne von Schirach.125 Wir leben in einer Welt, in der alle Lebensverhältnisse von Ökonomisierung geprägt sind. Das gilt für die Sorgearbeit wie für das Wohnen, für die Pflege wie für die Natur. Wie schaffen wir eine Form gesellschaftlicher Gerechtigkeit, in der der Einsatz für andere nicht mit Armut bezahlt wird? Wofür wollen wir unsere Zeit einsetzen – jenseits der Erwerbsarbeit? Welche Handlungsräume gibt es für Menschen, die mit dem Tempo der Arbeitswelt nicht (mehr) mithalten können oder wollen? Wie können wir Digitalisierung nutzen, um Verbindungen zu halten? Kurz: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Diese Fragen sind nicht neu – sie werden seit Beginn dieses Jahrtausends immer wieder gestellt. Jetzt aber, während der Pandemie, wurde anschaulich, was gemeint ist: Was wird aus dem Zusammenhalt der Generationen, wenn es keine Gelegenheiten mehr gibt, sich wie selbstverständlich zu treffen – zu Weihnachten oder zu Familienfesten? Was wird aus der Begegnung mit anderen Gruppen der Gesellschaft, wenn die Gaststätten und Vereinshäusern geschlossen sind? Welche Rolle spielen die Kinder in unserer Gesellschaft, wenn ihre Entwicklung nur an Schulabschlüssen gemessen wird? Was zählen die Alten, wenn sie trotz Lockdown die allermeisten Pandemietoten aufweisen? Welche Wertschätzung erfahren die Frauen und Männer, die Care-Arbeit leisten und nun als systemrelevant beschrieben werden? Wen meinen wir, wenn wir »wir« sagen, wenn wir von »systemrelevanten Berufen« sprechen, von Solidarität oder von Europa, während auf Lesbos oder in Bosnien Flüchtlinge unversorgt auf nacktem Boden schlafen? Die Entscheidung der Essener Tafel, Geflüchtete vorübergehend an bestimmten Tagen von der Verteilung auszuschließen, hat 2018 die Konkurrenz ganz unten zum öffentlichen Thema gemacht: Rentner*innen, Hartz-IV-Empfänger*innen, Familien in Armut, Geflüchtete – alles Menschen, die sich jeden Morgen fragen, wie sie den Tag überstehen. Die die Scham überwinden müssen, sich anzustellen, 125 Schirach, Ariadne von (2014): Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst. Stuttgart, S. 75.

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ihren Ausweis zu zeigen, ein Second-Hand-Leben zu leben. Die um ihre Würde kämpfen – oft gegeneinander statt miteinander. Der Streit hat gezeigt: Es gibt nicht nur den Riss zwischen oben und unten, sondern auch den zwischen Drinnen und Draußen. Während der Coronakrise wurde die Hälfte der Tafeln ganz geschlossen. Fast zwei Drittel der 60.000 Menschen, die sich dort ehrenamtlich engagieren, gehörten zur Corona-Risikogruppe. Nicht überall gelang es, die hygienischen Auflagen zu erfüllen, und schließlich ging auch die Zahl der Lebensmittelspenden zurück. Unter normalen Umständen werden an über 2.000 Ausgabestellen in Deutschland 500 kg Lebensmittel pro Minute verteilt. 1,65 Millionen Menschen profitieren davon.126 Es dauerte eine Weile, bis einige davon sich umstellten auf Bringdienste. In Berlin und anderswo entstanden »Gaben-Zäune« für Obdachlose, Essenstüten wurden ausgehängt, damit niemand Hunger leiden musste. Und die Stadtmission Berlin richtete Coronastationen ein, in denen Wohnungslose – nach einem Corona-Test – Versorgung, Schutzkleidung und eine Möglichkeit zur Übernachtung bekamen. Trotzdem fielen an den meisten Orten die Weihnachtsfeiern aus, auf die sich viele Wohnungslose das ganze Jahr über freuen. Und es ist nicht gelungen, die Ärmsten der Armen in der Krise auch staatlich zu stützen. Ein großer Teil der Hilfe für Wohnungslose, Gefährdete, Geflüchtete und Einkommensarme wurde aus der Zivilgesellschaft oder aus Wohlfahrtsorganisationen zur Verfügung gestellt. Eine außerordentliche Erhöhung des Regelsatzes im Arbeitslosengeld 2 (»Hartz IV«) hat es nicht gegeben – lediglich Familien profitierten (immerhin) von einem erhöhten Kindergeld, wobei zugleich das kostenlose Schulessen wegfiel. Vielleicht sind die Tafeln die Suppenküchen unserer Zeit. Wer in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erfahren musste, dass sein*ihr Leben durch Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit in die Brüche ging, der sollte sich auf die Solidargemeinschaft verlassen können. Diakonie und Caritas gehörten zu den ersten, die Suppenküchen und »Herbergen zur Heimat« für Obdachlose anboten. Es dauerte dann allerdings bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis nationale soziale Sicherungssysteme geschaffen wurden. Dabei ging es nicht nur um Geld – es ging um das Gefühl, auch dann noch dazuzugehören, wenn man auf Hilfe angewiesen war. Und eine neue Chance zur Teilhabe zu bekommen. Dieses Grundgefühl scheint zu zerbrechen. 253.000 neue Millionär*innen gab es 2018 in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr.127 Zugleich hat sich die Zahl der Menschen, die trotz 126 Rock, Joachim (2020): Das Soziale in der Krise. Zeitschrift für sozialistische Wirtschaft und Politik, 2/2020, 33–37, 33. 127 Theurer, Marcus (2018): So viele Millionäre gibt es in Deutschland. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.2018. https://www.faz.net/aktuell/finanzen/meine-finanzen/sparen-und-geld-anlegen/vermoegen-zahl-der-deutschen-millionaere-steigt-15845078.html (Zugriff am 16.12.2020).

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Arbeit auf ALG II angewiesen sind, verdoppelt. Inzwischen sind 25 Prozent der Menschen in Deutschland der Meinung, dass auch »im Sozialen die Regeln des Marktes gelten, man also praktisch sein eigener Unternehmer ist«128. Unter dem Hashtag »#unteilbar« hat sich 2018 eine soziale Bewegung gebildet, die gegen die Zerreißproben auf dem Wohnungsmarkt und in der Pflege, angesichts der wachsenden Armut und der Probleme bei der Integration von Geflüchteten auf den Schutz des gemeinsamen Ganzen der Sicherung und Weiterentwicklung des Sozialstaats besteht. Zwischen Oktober 2018 und dem Ausbruch der Coronapandemie gingen so viele Organisationen und Einzelne auf die Straße wie lange nicht mehr – auch Kirchen, Diakonie und Caritas waren bei vielen Demonstrationen dabei. »Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden«, lautete die zentrale Botschaft. »Wir halten dagegen, wenn Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden sollen. Unsere Vielfalt ist unsere Stärke. Wir stehen #unteilbar für Gleichheit und soziale Rechte und setzen uns für eine Gesellschaft ein, in der alle selbstbestimmt und frei leben können«.129 Die Transformation, die wir erleben, verunsichert. Das spüren auch die, die – trotz Kurzarbeit – einen sicheren Arbeitsplatz haben und ihr Leben lang an einem Ort geblieben sind. Es gibt eine Art »heimatlosen Antikapitalismus«, der zu Abgrenzung und Unsicherheiten führt und zum Treiber der rechtspopulistischen Bewegungen wird.130 Was das bedeutet, war im Herbst 2020 im US-amerikanischen Wahlkampf zu beobachten, mit einem Präsidenten, der sich selbst zum »­Leader« eines »Stammes« machte. Aber nicht einmal in einer ethnischen Gruppe ist Gemeinschaft einfach gegeben, sie muss konfliktreich immer neu hergestellt werden und erneuert sich an den offenen Grenzen, im Dialog mit den »anderen«.131 Damit das gelingt, braucht es Vertrauen, das Schmiermittel, das bei allen Unterschieden für Zusammenhalt sorgt. Misstrauen gegenüber allem Fremden ist ein schlechter Ratgeber. Während die Coronakrise andauerte, wuchs allerdings 128 Becker, Thomas/Zick, Andreas (2020): Über den Wert der Anderen. dialog. Diakonie in Düsseldorf, Thema »Zusammenhalt« 4/2020, 8. https://www.diakonie-duesseldorf.de/fileadmin/medien/epaper-Dialog_No.4_2020/#0 (Zugriff am 16.12.2020). 129 Siehe https://www.unteilbar.org/ (Zugriff am 12.01.2021). 130 Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg. 131 Böckelmann, Janine/Morgenroth, Claas (Hg.) (2015): Politik der Gemeinschaft. Zur Konstruktion des Politischen in der Gegenwart. Bielefeld. https://www.transcript-verlag.de/media/ pdf/b7/e4/41/oa9783839407875.pdf (Zugriff am 05.01.2021).

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das Misstrauen – gegenüber Jugendlichen, gegenüber Migrant*innen mit einem anderen Lebensstil, dem »anderen« in der U-Bahn. Das Misstrauen wächst, wenn wir uns in der Welt nicht mehr zurechtfinden, wenn der Alltag uns entgleitet – das zeigt die Forschung an Hochaltrigen. Um das Vertrauen zu erneuern, braucht es Gespräche zwischen den Generationen und gesellschaftlichen Gruppen. Wie schnell sich Gruppen voneinander abkoppeln, wenn Menschen das Gefühl haben, abgehängt oder ihrer Freiheit beraubt zu sein, haben wir auf den Höhepunkten der Coronakrise bei den Demonstrationen der »Querdenken«-Bewegung gesehen, die für ihre Freiheitsrechte eintraten, aber die Auflagen und den Diskurs verweigerten und damit zu einer weiteren Spaltung beitrugen. »Diese Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ›Wir gegen Die‹. […] Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen. Heimat ist der Ort, an dem das ›Wir‹ Bedeutung bekommt. So ein Ort, der uns verbindet – über die Mauern unserer Lebenswelten hinweg –, […] den braucht ein demokratisches Gemeinwesen«, so Frank-Walter Steinmeier 2017 am Tag der Deutschen Einheit.132 Wie bitter, ausgrenzend und schmerzvoll die Erfahrung sein kann, zum »Anderen« gemacht zu werden, darüber schreiben die Migrationsforscherin Naika Fourutan und die ostdeutsche Journalistin Jana Hensel in ihrem Dialog-Buch »Die Gesellschaft der Anderen«, das sie nach dem rassistischen Anschlag auf die Shishabar in Hanau begonnen haben. »Indem diejenigen, die mehr Macht, mehr Ressourcen, mehr Diskurshoheit haben, ›den Anderen‹ konstruieren, schließen sie ihn*sie aus ihren Privilegien, Zugehörigkeiten und Rängen aus« – eine Erfahrung, die nicht nur Männer und Frauen mit Migrationshintergrund, sondern auch Menschen in Ostdeutschland machen.133 In einer Studie von Jutta Allmendinger geben 80 Prozent aller Befragten an, es sei ihnen sehr wichtig, ein »Wir«-Gefühl zu haben – obwohl oder gerade weil sie sich selbst eher allein gelassen fühlen. Der Satz »Ich bin anders, meine Werte passen nicht zu der Welt, die mich umgibt« wird von fast allen bejaht – die gesellschaftliche Pluralisierung ist also unmittelbar erfahrbar.134 Dennoch oder gerade deswegen ist die Zustimmung zum Sozialstaat mit Solidarität, Umverteilung, Äquivalenz und sozialer Sicherung nach wie vor hoch. Wer krank ist, sagt 132 Steinmeier, Frank-Walter (2017): Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2017. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/ Reden/2017/10/171003-TdDE-Rede-Mainz.html (Zugriff am 16.12.2020). 133 Foroutan, Naika/Hensel, Jana (2020): Die Gesellschaft der Anderen. Berlin, S. 56. 134 Jutta Allmendinger 2017, S. 132 ff.

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die Mehrheit, muss in jedem Fall die bestmögliche Unterstützung erhalten, gleich, was er leisten kann. Wer ein Leben lang gearbeitet hat, soll von seiner Rente leben können. Der Staat soll Sicherheit geben. Der »Haushalt« soll funktionieren mit allem, was für die Daseinsvorsorge nötig ist: Wohnen, Wasser und Ernährung, Gesundheitsversorgung und Verwaltung. Die Zustimmung zum Regierungshandeln in der Coronakrise zeigt, wie wichtig es ist, dass diese Sicherheit gewährt wird. Zugleich zeigen die Sorgekämpfe um Wohnen, Pflege, Kinderbetreuung, Integration und Care-Berufe, die seit Langem stattfinden, was auf dem Spiel steht.135 Eine weitere Privatisierung der Sorge würde die gesellschaftliche Spaltung verstärken. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass der politische Streit der nächsten Jahre um die öffentlichen Haushalte geht: um Schulen, Spielplätze, Theater, kostengünstiges und barrierearmes Wohnen, um Schwimmbäder, Krankenhäuser und Gesundheitsämter. Um das Gemeinwohl. Die Politik der Gemeinschaft. »Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir Fürsorge und Care-Arbeit nicht weiterhin abwerten dürfen, wenn wir eine Sozial- und Wirtschaftspolitik wollen, die auf Fürsorge basiert. Wenn wir eine andere und gesunde Mitwelt wollen, dann müssen wir sorgsam mit ihr umgehen. Wenn wir menschlichere und produktivere Arbeitsplätze wollen, wenn wir wollen, dass unsere Kinder durch Fürsorge und Bildung die Grundlage für ein gutes Leben erhalten, dann müssen wir daran arbeiten, Fürsorge und Care-Arbeit in allen Lebensbereichen stärker zu unterstützen und (auch finanziell) mehr anzuerkennen«, schreibt Riane Eisler.136 Vor diesem Hintergrund ist Christian Felbers »Gemeinwohl-Ökonomie« in den letzten Jahren in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die alten deutschen Firmen, wie Thyssen oder Krupp, Siemens oder Daimler, die ihre Belegschaft und das städtische Quartier »von der Wiege bis zur Bahre« mit stabiler Infrastruktur unterstützten, sind in den letzten Jahrzehnten zu Global Playern geworden, wurden entkernt oder übernommen.137 Die Sportvereine im Düssel135 Artus, Ingrid/Birke, Peter/Kerber-Clasen/Stefan, Menz, Wolfgang (2017) (Hg.): Sorge-Kämpfe. Auseinandersetzungen um Arbeit in sozialen Dienstleistungen. Hamburg. 136 Eisler, Riane (2020): Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Wege zu einer Caring Economy. Marburg, S. 175. 137 Den Kampf um die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone habe ich selbst 2002 als Zeitzeugin in meiner Funktion als Theologischer Vorstand der Kaiserswerther Diakonie, ganz im Norden von Düsseldorf gelegen, miterlebt. Mannesmann förderte auch die Kaiserswerther Diakonie; vgl. auch: Kessler, Martin (2015): Der größte Deal der Wirtschafts-

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dorfer Norden, die jahrzehntelang von Mannesmann gefördert wurden, mussten nun stattdessen Anträge an die Fundraising-Stelle von Vodafone stellen. Den Fundraising-Abteilungen geht es in der Regel um Image und Profil der Firma – nicht zuerst um das Wohl der Stadt und ihrer Bürger*innen. Wie wird es weitergehen? Lassen sich angesichts der ökologischen Krise die Kriterien verändern, nach denen wir wirtschaften? Keine Frage: »Eine Wirtschaftsweise, die in einer begrenzten Welt mit endlichen Ressourcen auf stetes Wachstum setzt, ist nicht nachhaltig. Es gilt neu zu verhandeln, was den Wohlstand der Menschen übermorgen ausmacht. Dafür brauchen wir neue Begriffe und Konzepte, die ausdrücken, was wir künftig wichtig finden. Planetenzerstörung darf nicht mehr Wachstum heißen. Reine Geldvermehrung nicht mehr Wertschöpfung«, schreibt Maja Göpel.138 Wird es gelingen, die ökologischen und sozialen Kosten, die bisher externalisiert sind, in die Produkte einzupreisen? Wird es möglich sein, die Plattformökonomie international angemessen zu besteuern? Christian Felbers Bewegung, die von vielen mittelständischen Firmen und auch von kommunalen Haushalten aufgenommen wurde, kann bislang allerdings »nur« auf erfolgreiche Modelle regionalen Wirtschaftens und Bürgerbeteiligungsprozesse bei der Entwicklung eines kommunalen Gemeinwohl-Index verweisen.139 »Zentral ist, die Abhängigkeit der Bürgerinnen und Bürger von Märkten abzumildern«, sagt Frank Adloff in einem Interview zum konvivialistischen Manifest: »Eine konviviale Zukunft kann nur in einer Postwachstumsgesellschaft liegen. […] Dazu braucht es einen funktionierenden öffentlichen Sektor sowie neue Formen der Kooperation zwischen Unternehmen, der öffentlichen Hand und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Gemeingüter und Genossenschaften sind zu stärken, und schließlich muss die Abhängigkeit auch vom Geld verringert werden. Zur ökonomischen Erneuerung gehört es, Steuerschlupflöcher und Steueroasen abzuschaffen und höhere Erbschafts- und Vermögenssteuern zur Eindämmung sozialer Ungleichheiten einzuführen. Dazu kommen die Etablierung eines bedingungslosen Grundeinkommens,

geschichte. Mannesmann und Vodafone. Rheinische Post, 04.02.2015. https://rp-online.de/ wirtschaft/unternehmen/der-groesste-deal-der-wirtschaftsgeschicht_aid-21564633 (Zugriff am 17.01.2021). 138 Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin, S. 96. 139 Felber 2018.

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die Verkürzung der Arbeitszeit und die Einführung von Höchsteinkommen und -vermögen«.140 Adloff beschreibt seine »neue Stadt«, in dieser Konkretion eine Utopie, die zur Diskussion einlädt. Aber überall in den politischen Debatten ist zu spüren, dass die Frage nach dem Kollektiv in der Krise an Aktualität gewonnen hat. Mit dem Blick auf Asien werden die Prinzipien der Volksgemeinschaft genauso debattiert wie autoritäre Herrschaftsformen. Da ist es mehr als eine Debatte wert, darüber zu sprechen, wie offene Demokratien das Gemeinwohl stärken können. Der Verein »Die neue Ökonomie« in Leipzig gibt mit seiner Website vielfältige Anregungen für Diskussionen. Es wird darauf ankommen, dass auch Kirchen und Wohlfahrtsverbände sich daran beteiligen und neue Modelle von Wirtschaft, Bildung und Sorgearbeit entwickeln.

Verantwortungsgemeinschaften für die Menschen des 21. Jahrhunderts Interview mit Christine Falk und Renate Abeßer (Teil 2) Welche politischen/sozialpolitischen Initiativen wären wichtig, um Gemeinschaft und Gemeinwohl zu stärken? Christine Falk: Gemeinwesenstrukturen, die die Teilhabe von Einzelnen fördern und sie auf die Beteiligung als auch auf das Einbringen eigener Potenziale hin auslegen, ermöglichen eine höhere Lebenszufriedenheit sowie eine angemessenere Versorgung mit Care-Leistungen. Wir wissen mittlerweile, dass sich Mitgefühl und Engagement füreinander im sozialen Nahbereich leichter entwickeln lässt. Wir brauchen den lokalen Nahraum für die Gestaltungen unserer Lebensvollzüge. Gerade auch hinsichtlich von Care-Lücken jetzt und noch mehr in Zukunft, auch bezogen auf die Zunahme von Migration und beruflicher Mobilität, sind Sorgende Gemeinschaften maßgeblich relevant. Während der Pandemie sind Überlegungen von Mikro-Caring-Communities als Wahlverwandtschaften neu ins Sichtfeld gerückt. Kirchengemeinden haben tolle Möglichkeiten, Menschen gemeinschaftsstiftend miteinander in Verbindung zu bringen und zu unterstützen. Im Amt für Gemeindedienst der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Bayern wird dazu verstärkt experimentiert und der Austausch angeregt. 140 Adloff, Frank/Markwardt, Nils (2020): Frank Adloff: »Wir hängen alle voneinander ab«. Philosophie Magazin, 20.10.2020. https://www.philomag.de/artikel/frank-adloff-wir-haengen-allevoneinander-ab (Zugriff am 16.12.2020).

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Gemeinschaft in der Single-Gesellschaft

Renate Abeßer: Neben neuen gesellschaftlichen Strukturen und Netzwerken vor Ort sind grundsätzliche Veränderungen in der Arbeitswelt unabdingbar: Im gleichen Maße, in dem Care-Aufgaben wieder in den individuellen Verantwortungsbereich »wandern«, sind berufliche Entlastungen der Eltern bzw. der »Sandwichgeneration« zwischen eigenen Kindern/Enkeln und alten Eltern anzustreben. Um neben dem Beruf gemeinschaftsstiftend tätig zu sein, braucht es freie Zeit. Beispiele: die generelle Einführung der 35-Stunden-Woche, ebenso die grundsätzliche Ausrichtung von Arbeitsstellen (auch Projektstellen) auf einen Umfang, der es ermöglicht, von einer einzigen Arbeitsstelle leben zu können. Und die Möglichkeit, flexibel in Rente gehen zu können.

Wo sehen Sie besondere Herausforderungen für die Kirche? C. F.: Kirchengemeinden als Teil des Sozialraums haben große Chancen, als Partnerinnen und Akteurinnen für die Menschen im Stadtteil oder der Ortschaft wirksam zu sein! Ich meine, es wird für unsere gesellschaftliche Relevanz entscheidend sein, ob wir als Kirche den Menschen mit ihren brisanten Themen und Lebenssituationen unterstützend zur Seite stehen, Empowerment fördern und Menschen konkret Halt und Geborgenheit erfahrbar machen können. Mich ermutigen Gemeindehäuser, die offene Treffs und Kita, Rollator und Kinderwagen, Stadtteilzentrum und Beratungsstelle faktisch unter ein Dach bringen. Mich inspirieren Engagierte in Kirche, die ihre Komfortzone verlassen und beginnen, neu zu suchen und zu fragen, was unser Auftrag für die Menschen des 21. Jahrhunderts in aller Differenziertheit sein könnte, die sich selbst von der Liebe Gottes umwehen lassen und dieser dienlich sein wollen. R. A.: Ich sehe die Herausforderung besonders Menschen gegenüber, die sich nicht mehr einer Gemeinde verbunden fühlen. Ganz oft höre ich den Satz: »Für meinen Glauben brauche ich keine Kirche«, oft schwingt eine Enttäuschung über exklusive kirchliche Strukturen mit. Dahinter liegt meist die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit. Genau diese Menschen erreichen wir bei BildungEvangelisch mit öffentlichen Angeboten zu drängenden (Lebens-)Themen und in krisenhaften Lebenssituationen – im besten Fall so, dass sie sich eingeladen fühlen, sich selbst zu engagieren. Ich wünsche mir eine Kirche, die sich öffnet und in die Gesellschaft hineinwirkt. Die ihre Ressourcen an Räumen, Kompetenz und Kreativität nutzt, um drängende gesellschaftliche Themen aufzugreifen. Die keine Angst hat, bestehende Mechanismen fundamental zu hinterfragen und gleichzeitig menschen- und umweltfreundliche Modelle des Zusammenlebens entwickelt. Getragen von einem Geist der Hoffnung, gegenseitiger Liebe und Zuversicht.

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Pflege-Dienst-Gemeinschaft – für eine neue Sorgekultur

3.1 Das Diakonissendenkmal – zurück ins 19. Jahrhundert? Auf dem Marktplatz vor der Kirche in Rotenburg/Fulda steht das Bronzedenkmal einer Diakonisse in Tracht mit einem Korb und Dackel an der Leine.141 Eingeweihte erkennen die alte Gemeindeschwester in Diakonissentracht, das blauweiße Pünktchen-Kleid und die gefältete Haube. Als ich das sympathische Denkmal entdeckte, war ich so fasziniert, dass ich ein Foto auf Facebook postete – und ich wurde belohnt: Freunde aus Hessen erzählten, warum die Bürger*innen von Rotenburg Schwester Margarete das Denkmal gesetzt hatten. Die Kasseler Diakonisse, die damals Gemeindeschwester in Rotenburg war, hatte nicht nur für die Kranken und Alten, die Kinder und Sterbenden in der Stadt gesorgt. Sie hatte sich auch um die Stadt selbst verdient gemacht. 1945, in den letzten Kriegstagen, hatte sie auf dem Kirchturm die weiße Fahne gehisst. Frieden für die Stadt, ein gutes Miteinander für ihre Menschen. Als ich das Foto aufnahm, feierte die Diakoniestation gerade Jubiläum – und natürlich trug keine der Mitarbeiterinnen mehr Tracht und Haube. Aber das Bild der Diakonisse hat seine Attraktivität nicht verloren – im Gegenteil. Noch immer sehnen sich viele zurück nach diesen Frauen, die Pflegende und Sozialarbeiterinnen, Netzwerkerinnen und Seelsorgerinnen in einer Person waren. Sie waren Quartiermanagerinnen, lange bevor der Name erfunden wurde – und zugleich das lebendige Zeichen einer diakonischen Kirche. Als ich in den 1980erJahren Gemeindepfarrerin in Mönchengladbach war, erzählte man mir gern von Schwester Johanna. Die hatte nach dem Krieg den vielen Flüchtlingsfrauen aus Ostpreußen und Schlesien geholfen, sich zu integrieren: mit Suppenküche, Kindergarten und Nähstube – und schließlich mit dem Neuaufbau unseres Gemeinde141 Siehe https://statues.vanderkrogt.net/object.php?webpage=ST&record=dehs128 (Zugriff am 05.01.2021). Eine ähnliche Skulptur für die Kranken- und Gemeindeschwester Selma Becker steht im ebenfalls nordhessischen Niedervellmar: https://www.landkreiskassel.de/der-landkreis/29-plus-eine/selma-becker.php (Zugriff am 05.01.2021).

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saals. Alles für ein Taschengeld – und ohne eigene Freizeit. Aber natürlich nicht allein, denn wie viele Gemeindeschwestern hatte sie ein ausgeklügeltes System ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen aufgebaut. Meine damals alt gewordenen Frauenhilfsfrauen, die Bezirksfrauen in den Nachbarschaften und die Gruppenleiterinnen, waren immer zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wurde. Und wenn sie die Kinder oder die Alten einluden zu einem Ausflug, einem Fest, dann platzte der Saal aus allen Nähten. Was ich hier als Bild der »klassischen« Gemeindeschwester gezeichnet habe, erscheint den meisten Menschen längst nicht mehr zeitgemäß, angefangen vom Leben in einer christlichen Gemeinschaft bis hin zu der Tatsache, dass die Diakonissen unter ihnen nur ein Taschengeld bekamen. Aber auch in den heutigen Städten und Gemeinden, in denen die Menschen im Durchschnitt deutlich wohlhabender sind als zu Zeiten der ersten Gemeindeschwestern im 19. Jahrhundert, in denen Müllabfuhr, fließendes Wasser und Zentralheizungen selbstverständlich sind, gibt es erhebliche soziale Herausforderungen. Auch heute sind viele Menschen haltlos aus den verschiedensten Gründen, viele aus der jungen Generation, darunter gerade die Alleinerziehenden, sind überlastet, neben der Arbeit noch Kinder und alte Eltern zu versorgen, das Miteinander zwischen Menschen verschiedener Kulturen stellt vor Herausforderungen, viele alte Menschen sind einsam und mit dem täglichen Alltag überfordert. Menschen werden gebraucht und es werden Plattformen gebraucht, um zu helfen, aber auch um Netzwerke herzustellen, damit Bürger*innen sich gegenseitig helfen können – das erklärt den neuen Aufbruch in Richtung »Sorgende Gemeinschaften«. Heute sind es neben ambulanten Pflegekräften vor allem Quartiersmanger*innen, die diese Aufgabe übernehmen – so wie im Wickrather Gemeindeladen, wo die Sozialpädagogin Petra Vogt, der dieses Buch gewidmet ist, mehr als 30 Jahre lang zivilgesellschaftliche Initiativen mit Fachkräften aus Pflege und Beratung verknüpfte – bei einem Café im immer vollen Ladenlokal. Würde man heute noch Denkmäler aufstellen, wäre sie eine würdige Nachfolgerin der alten Gemeindeschwestern. Mit dem Professionalisierungsschub, der die alte Rolle der generalistischen Gemeindeschwester zur Pflegekraft vorantrieb, wurde Pflege Teil des Gesundheitssystems. Sie ist nun nicht nur von den fachlichen, sondern auch von den ökonomischen Standards abhängig, die dort gesetzt werden. Klar festgelegte Zeiten für die einzelnen Leistungen, oftmals lange Wege, Nachweise und Controlling setzen die Mitarbeiter*innen in Sozialstationen genauso unter Druck wie die Fachkräfte in Krankenhäusern oder Altenhilfeeinrichtungen. Dabei werden gerade die Mitarbeiter*innen in der ambulanten Pflege am niedrigsten entlohnt – die finanzielle Eingruppierung geht in absteigender Linie vom Krankenhaus bis zur Gemeindepflege. Die generalistische Pflegeausbildung, die seit Januar 2020 gesetz-

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lich vorgeschrieben ist und mit einem gleichwertigen Abschluss endet, hat daran bislang nichts geändert. Vielmehr zeigte die Coronakrise gerade diese Abwertung der häuslichen Pflege in aller Schärfe: Die Schutzausrüstung, mit denen schon Altenpflegeeinrichtungen schlecht versorgt waren, fehlten bei den ambulanten Diensten zu Beginn weitgehend. Im Zuge der Entwicklung hin zum Gesundheitsberuf traten die Aspekte der Gemeindeschwesternarbeit, die eher Sozialarbeit waren oder auch Beratungs- oder Seelsorgecharakter hatten, in den Hintergrund. Wenn wir heute von Quartierspflege reden, geht es also darum, diese Kompetenzen in neuen Netzwerken wiederzugewinnen. Unterschiedliche Berufsgruppen, aber auch Nachbar*innen und Ehrenamtliche sollten daran beteiligt werden. Ein erster Schritt ist getan, seit die Pflegeversicherung zusätzliche Leistungen für Alltagshilfen und Demenzbegleitung vorsieht. »Die Gemeindeschwester soll nicht glauben, dass sie allein die Wohltätigkeit für ihren Bezirk ausüben dürfe. Sie soll dankbar für jede ersprießliche Mithilfe sein. Gerade darin, dass sie die freien Hilfskräfte in der Gemeinde für die Zwecke der Gemeindepflege in Bewegung setzt, liegt ihre Hauptaufgabe. Wer da glaubt, alles selber tun zu müssen, wird wenig ausrichten«, heißt es schon in der Kaiserswerther Hausordnung von 1901.142 Die freien Kräfte in Bewegung setzen, hin zur gemeinsamen Sorge, darum geht es auch heute. »Pflege ist ein Beziehungsberuf, in dem es nicht nur um die gekonnte Aktion, sondern vor allen Dingen um die Interaktion geht«, sagt Giovanni Maio.143 Die unersetzbare Expertise der Pflege bestehe darin, sich auf den einzelnen Menschen einzulassen und ihm in seiner Angewiesenheit seine ihm eigene Würde widerzuspiegeln. Diese Aufgabe sei aber nicht formalisierbar, dokumentierbar und zählbar wie die Liste der erstattungsfähigen Tätigkeiten. Bis zur Grenze der Selbstausbeutung versuchten Pflegende deshalb den Kern ihrer Profession zu bewahren – unweigerlich zerrieben an der moralischen Dissonanz, die ihnen das Gesundheitssystem auferlege. Und spiegelbildlich empfänden sich auch Pflegebedürftige nur noch als Aufwand – als Pflegefall, der Zeit und Geld kostet. Letztlich läuft auch hier alles auf die Frage hinaus, ob wir Orte schaffen können, in denen man neu auf ihre Bedürfnisse als Bedürfnisse ganzer Menschen hört. Orte, an denen Menschen füreinander da sind, Zeit füreinander haben, füreinander sorgen. 142 Zoellner, Christian Heinrich Wilhelm (Vorsteher) (1901): Hausordnung der Kaiserswerther Diakonissenanstalt. Kaiserswerth, S. 7. 143 Maio, Giovanni (2018): Werte für die Medizin. Warum die Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen. München, S. 58.

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Das ist der Hintergrund, vor dem die Diakonissen wieder ins Spiel kommen. Im Kaiserswerther Pflegemuseum hängt das Foto einer Diakonisse am häuslichen Krankenbett einer Mutter. In der Wohnküche ist die ganze Familie versammelt – eine Tochter kocht, eine andere bringt Wasser ans Bett, während die Diakonisse eine Spritze aufzieht. Alle sind beschäftigt, das Krankenbett ist der Mittelpunkt der geteilten Sorge, zu der die Diakonisse die Mädchen anleitet, während sie pflegt. Die Familien haben sich gewandelt. Pflege ist nicht mehr nur Frauensache. Aber etwas von diesem selbstverständlichen Umgang mit Krankheit und Sterben ist dank der spezialisierten ambulanten Palliativpflege in manche Häuser zurückgekehrt.144 Es gibt inzwischen Gemeinden, die Modelle einer Gemeindeschwester neuer Form entwickelt haben. Das Mutterhaus in Witten bildet »moderne Gemeindeschwestern« aus: Pflegende mit Zusatzausbildung, die mit vielfältigen Initiativen und Besuchsdiensten vor allem junge Familien und Ältere besuchen – mit einer Art präventivem Hausbesuch. In Weilrod in Hessen stützt die Diakonie ihre Quartiersarbeit wesentlich auf das Angebot von Besuchen bei Älteren. 145 Ehrenamtliche Begleiter*innen werden wie Demenz- und Alltagsbegleiter*innen aus der Pflegeversicherung bezahlt. Und in Hamburg-Rissen hat sich das JohannesNetzwerk gegründet, eine ehrenamtliche Initiative zur Begleitung Einsamer und Hilfebedürftiger.146 Anders als zur Zeit der Gemeindeschwestern gehören aber nun nicht mehr alle, die sich Besuche oder Kontakte wünschen, zur Kirche – oft längst nicht mehr die Mehrheit. Die Verknüpfung von Kirchengemeinde und Sozialstation ist mit der Zusammenarbeit von Pfarrer und Gemeindeschwestern nicht vergleichbar. Ehrenamtliche verstehen sich nicht mehr nur als Unterstützer*innen, sondern sind oft selbst Initiator*innen. Kurz: Alle beteiligten Organisationen und Initiativen finden sich auf Augenhöhe, in Vielfalt und manchmal in Konkurrenz. Sorgende Gemeinschaften brauchen deshalb eine gute Vernetzung zwischen Kommunen, Wohlfahrtsverbänden, Nachbarschaftsinitiativen und Kirchengemeinden – am runden Tisch und auch im Netz. Eine Website mit einem Überblick über die Angebote wie im Sorgenden Bezirk Berlin-Treptow-Köpenick stärkt die Transparenz, die Unabhängigkeit und auch die Qualität der Arbeit.147

144 Gause, Ute (2019): Töchter Sareptas. Diakonissenleben zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung. Leipzig. 145 Siehe https://drin-projekt.ekhn.de/startseite.html (Zugriff am 16.12.2020). 146 Siehe https://johannesgemeinde.de/johannes-netzwerk/ (Zugriff am 16.12.2020). 147 Sorgender Bezirk Treptow-Köpenick, siehe https://www.berlin.de/ba-treptow-koepenick/ politik-und-verwaltung/service-und-organisationseinheiten/sozialraumorientierte-planungskoordination/artikel.653403.php (Zugriff am 16.12.2020).

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Klar ist: Im Mittelpunkt stehen die Betroffenen, nicht die Trägerorganisationen. Es geht darum, Einsamkeit zu überwinden, Gemeinschaft zu stiften und Menschen Lebensmut zu geben. Aber auch den Engagierten, die andere besuchen wollen – mit präventiven Hausbesuchen, zur Demenzbegleitung, als Seelsorgende oder mit Projekten wie »Urlaub aus dem Koffer« – ist die Sichtbarkeit und Anerkennung der eigenen Arbeit wichtig. Sie brauchen eine unkomplizierte Kostenerstattung, vor allem aber die Unterstützung durch Hauptamtliche, Fortbildungsangebote und eine gute Öffentlichkeitsarbeit. Für Kirchengemeinden ist schließlich die seelsorgliche Kompetenz zentral. Entsprechende Fortbildungen sollten allen Ehrenamtlichen offenstehen. Seelsorge im Quartier ist heute – ähnlich wie die Krankenhausseelsorge – nicht mehr unbedingt an Mitgliedschaft gebunden. Aber wie bei den alten Gemeindeschwestern kann gerade in diesem Feld spürbar werden, dass Kirche einen pastoralen, diakonischen und öffentlichen Auftrag hat.

3.2 Controller, Soziale Roboter und die Kultur der Gemeinschaft Das alte Isolierkrankenhaus in Kaiserswerth kam mir während des Lockdowns oft in den Sinn. Die Laubengänge gleich am Park mit den blühenden Bäumen. Das Haus stand seit Jahren leer, als ich Ende der 1990er-Jahre nach Kaiserswerth kam – man hatte noch keine neue Verwendung gefunden für die beiden Etagen, auf die Menschen mit schwer ansteckenden Krankheiten verlegt wurden. Das Essen, erzählten die alten Schwestern, wurde damals über die Balkone gereicht. Da saßen die Kranken, in Decken eingehüllt, und winkten den Vorübergehenden zu. Keine Rede von Ganzkörperanzügen und Beatmungsgeräten. Nebenan im Florence-Nightingale-Krankenhaus gab es seit Langem technisch hochgerüstete Intensivstationen und abgeschottete Isolierzimmer. Die letzte Diakonisse war längst von ihrer Station verschwunden. Eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte war zu Ende. Noch 1930 lebten und arbeiteten 30.000 Diakonissen im Kaiserswerther Verband – und trotz aller Kritik am ordensähnlichen Aufbau der Mutterhäuser mit Ehelosigkeit, Taschengeld, Entsendungsprinzip hatten sich auch noch in der Nachkriegszeit Frauen bereitgefunden, in die Gemeinschaft einzutreten. Alleinstehende, Verwitwete, Ausgebombte und Geflüchtete, die sich eine andere Ausbildung nicht hätten leisten können, fanden hier eine angesehene und sinngebende Tätigkeit. Noch in den 1960er- und 1970er-Jahren war die Oberin auf der Inneren Station die Erste, die morgens im Dienstzimmer erschien, und die Letzte, die den Kranken eine gute Nacht wünschte. Sie übernachtete auf der Station. Diakonissen als Pflegedienstleitungen oder Stationsleitungen finden sich heute so gut wie nicht mehr – im ganzen Kaiserswerther Verband gibt es 1.600 Diako-

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nissen und 3.000 Diakonische Schwestern, die meisten davon im Ruhestand. »In vielen Bereichen, für die wir in den letzten 150 Jahren zuständig waren, bestimmen heute Ökonomie und Funktionalität den Alltag«, schreibt die Frankfurter Diakonisse Heidi Steinmetz: »Dies gilt besonders für die Arbeit mit kranken und alten Menschen. Obwohl die äußeren Bedingungen für Therapie und Pflege meistens optimal sind im Vergleich zu früher, gibt es keine Zeit mehr für Gespräche, Trost und emotionale Zuwendung. Diese Felder, die neben der praktischen und fachlichen Hilfe zu den traditionellen Arbeitsgebieten der Diakonissen gehören, sind weitgehend unbestellt.«148 Ende der 1990er-Jahre arbeitete in Kaiserswerth längst eine ganz andere Generation von Pflegekräften auf den Stationen. Die Schwesternwohnungen, oft nahe am Krankenhaus gelegen, waren anderweitig vermietet. Viele lebten mit ihrer Familie ein Stück entfernt in der Stadt. Arbeit, Schule, Privatleben zu vereinbaren, war aufreibend geworden. Da blieb kaum Zeit für einen letzten Abendgang über die Station oder das Sitzen am Sterbebett. Immerhin, nach Jahren, in denen die Toten nachts von der Station geschoben worden waren, war das Sterben kein Tabu mehr. Man hatte Abschied genommen von der Vorstellung, jede Krankheit in den Griff zu bekommen. Mit Hospiz und Palliativ Care bekamen auch die Pflegeberufe wieder neue Bedeutung. Und hier und da begann man von den alten Traditionen der Sterbebegleitung zu lernen, die sich schon vor dem Boom der modernen Medizin und Technik entwickelte und ganz auf Berührung und Zuspruch setzte. Aber wer sich auf eine zeitraubende, empathische Behandlung einlässt, macht Verluste«, sagt Bernd Hontschik, der die Umstellung von Tagessätzen auf Fallpauschalen als Revolution im Gesundheitswesen bezeichnet hat.149 Er sieht darin den Ausgangspunkt für einen völlig veränderten Umgang mit den Erkrankten – gehe es doch heute darum, Kranke in möglichst kurzer Zeit entlassen zu können.

148 Steinmetz, Heidi, Vorwort. In: Frankfurter Diakonissenhaus (Hg.) (2020): »Unter der Haube«. Festschrift 150 Jahre Frankfurter Diakonissenhaus (S. 6–9). Frankfurt a. M., S. 9. 149 Hontschik, Bernd (2019): »Totalschaden« – Wie das Gesundheitssystem die Medizin zerstört. Frankfurter Rundschau, 26.11.2019. https:///www.fr.de/politik/krankenhaus/aerzte/geratenimmer-mehr-unter-druck-dramatische -folgen-10966265.html (Zugriff am 12.01.2021); vgl. auch Coenen-Marx, Cornelia (2019b): Sorge als zentrale Leitkategorie im Gesundheitswesen. Vortrag in Wildbad/Rothenburg o. d. T., 22.11.2019. https://www.seele-und-sorge.de/?page_ id=4782 (Zugriff am 12.01.2021).

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»Die Einführung der sog. DRGs (Diagnosis Related Groups) war der radikale Schritt zur kompromisslosen Kommerzialisierung eines Bereichs, der bis dahin vom Gedanken der Empathie und Fürsorge getragen wurde. Seither wird der Mensch dort, wo er am Verletzlichsten ist, nämlich als hilfsbedürftiger Patient, den gnadenlosen Prinzipien von Gewinn und Verlust untergeordnet.«150 Lange wurde nur hinter verschlossenen Türen über Rationierung diskutiert – erst in jüngster Zeit wurde die Verteilung der knapper werdenden Mittel zum öffentlichen Thema. Klar war: die Kapazitäten der Kliniken sollten voll ausgelastet werden; Betten nur für den Krisenfall vorzuhalten, produziert in normalen Zeiten Verluste. Noch im Sommer 2019 empfahl deshalb die Bertelsmann-Stiftung, jedes zweite Krankenhaus zu schließen. »Das wäre das Ende einer wohnraumnahen Gesundheitsversorgung gewesen und wir hätten heute italienische Verhältnisse«, schreibt Dierk Hierschel über politische Lehren aus Bergamo und der Coronapandemie.151 Ist es ethisch vertretbar, ein neues Medikament zu verlosen, weil die Kosten weit überdurchschnittlich hoch sind? Wer darf überleben, wenn die Zahl der Beatmungsgeräte in der Coronakrise nicht ausreicht? Soll man Menschen über 80 noch auf der Intensivstation behandeln? Auch wenn die schwersten ethischen Entscheidungen in einer Triage-Situation in Deutschland noch nicht anstanden, die Probleme der Rationierung medizinischer Eingriffe in einer älter werdenden Gesellschaft zeichnen sich längst ab. »Die Durchkapitalisierung des Gesundheitssystems hat keine Reserven hinterlassen«, sagte Maio am 30. März 2020 in der »Kulturzeit«152, als viele sich um die Zahl der Intensivbetten und Beatmungsgeräte sorgten, noch ohne zu bedenken, dass die Technik nicht ausreicht, wenn die Pflegenden fehlen, die damit umgehen können. Von »bepflegbaren Betten« ist jetzt die Rede. Tatsächlich haben wir in Deutschland mit 29 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner noch mehr als doppelt so viele wie im europäischen Mittel von 12 Betten. Mit Verweis auf den Bettenabbau der letzten Jahre fuhr Maio fort: »Alles muss sich rentieren – dabei ist doch das Gesundheitssystem ein Ort der Daseinsvorsorge. Jeder Mensch, der gerettet werden kann, hat ein Anrecht, dass man ihn zu retten versucht – es geht um Leben, 150 Der marktgerechte Patient. Regie und Drehbuch: Leslie Franke/Herdolor Lorenz. Hamburg: Kernfilm, 2018. https://der-marktgerechte-patient.org/index.php/de/ (Zugriff am 12.01.2021). 151 Hirschel, Dierk (2020): Politische Lehren aus der Corona-Pandemie. Zeitschrift für sozialistische Wirtschaft und Politik, 2/2020, 17–22, 20. 152 Maio, Giovanni (2020): Giovanni Maio über eine drohende Triage. Kulturzeit, 3sat, 30.03.2020. https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/gespraech-mit-giovanni-maio-100.html (Zugriff am 16.12.2020).

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nicht um Lebensjahre. Es geht um Gerechtigkeit.«153 »Können wir Krankenhäuser bauen, in denen die Abläufe weniger tayloristisch und technizistisch, mehr ganzheitlich, weniger bürokratisch, mehr menschlich verlaufen?«, fragte auch Matthias Horx kurz nach dem Lockdown.154 Aber auch: »Ist die Intensivmedizin wirklich immer lebensrettend? Oder ist sie nicht manchmal eher die übermäßige Anwendung von Technologie auf das Leiden? […] Könnten wir noch neue Lebensformen, Siedlungen und Architekturen entwickeln, indem die Gesundheit besser erhalten wird, weil Menschen weniger isoliert, einsam, verzweifelt sein müssen?«155 Wer keine Familie und keine Freund*innen hat, die sich kümmern können, braucht andere Menschen, die für ihn*sie eintreten. Das ist ursprünglich die Rolle von Ärzt*innen und Pflegenden – denn die Patientenbeziehung als Sorgebeziehung ist mehr als eine Geschäftspartnerschaft, eine Kundenbeziehung, in der die eine Seite aus Optionen der Hilfe auswählt und die andere darauf achtet, dass Gewinn dabei herausspringt. Mathias Düring, Gesundheits- und Fachkrankenpfleger für Intensivpflege und Anästhesie, Pflegemanager und Health-/CareSlammer schreibt: »Ob des wirtschaftlichen Drucks […] dürfen wir Alle nie vergessen: Es geht immer um die Menschen, die vor uns liegen und uns ihre Gesundheit, manchmal auch ihr Leben, aber auf jeden Fall ihre Würde in die Hände legen. […] Die Würde bleibt unantastbar und gehört – in diesem speziellen Bereich – besonders geschützt!«156 Schon in der Weimarer Republik ging es um die Frage, wie effektiv die Wohlfahrtspflege und ob die Hilfe richtig eingesetzt wäre. Angesichts der begrenzten Mittel wuchs der Wunsch nach staatlicher Kontrolle – und die Gefahr der Ausgrenzung derer, für die der Einsatz angeblich nicht lohnte. Die entsprechenden Hausbesuche der kommunalen Fürsorgerinnen und Schwestern sind im kollektiven Gedächtnis geblieben. Auch diakonische Gemeinschaften und ihre Pfarrer haben versagt, als es darum ging, Zwangssterilisationen zu verhindern, Patient*in-

153 Maio 2020. 154 Horx 2020, S. 106 155 Horx 2020, S. 106. 156 Düring, Mathias (2016): Ein Tag im Leben einer Narkoseschwester. https://mathiasduering. wordpress.com/2016/04/03/ein-tag-im-leben-einer-narkoseschwester/ (Zugriff am 16.12.2020).

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nen und Bewohner*innen mit Behinderung und psychisch Kranke zu schützen157 und schließlich jüdische Schwestern als Teil ihrer Gemeinschaft zu verteidigen.158 Für das Regime – und wohl auch für eine schweigende Mehrheit – zählte nur die gesunde »Volksgemeinschaft«, zu der die »Anderen«, die Kranken und Schwachen, eben nicht gehörten. Längst waren aus den alten Vereinen Anstalten mit staatlicher Refinanzierung geworden, aus Hilfesuchenden »Insassen« und »Zöglinge« – für den Staat letztlich Kostenfälle. »Viele hundert Millionen werden jährlich für die Unterbringung dieses kranken Bevölkerungsanteils aufgewendet […]. So ist es verständlich, dass in den gesunden Kreisen in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Notzeit die Frage aufsteigt, ob es nicht besser wäre, alle diese Minderwertigen zu beseitigen«, sagte der Leiter des Gesundheitsdienstes im Central-Ausschuss für die Innere Mission und Geschäftsführer des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes Dr. Dr. Hans Harmsen auf der »Treysaer Konferenz« bereits 1931, bei der Theologen, Mediziner und Wirtschaftsdirektoren aus zehn protestantischen Anstalten zusammengekommen waren.159 Das Ungeheuerliche, was sich hinter diesem Programm verbarg, der Ausschluss der Minderheiten aus der »Volksgemeinschaft«, der sie erst zu »Fremden und Anderen« machte, diente angeblich dem Gemeinnutz. Schließlich war »Gemeinnutz vor Eigennutz« eine der Parolen des Nationalsozialismus. So wurde aus der Gemeinschaft der Schwestern und Brüder in Christus die Gemeinschaft der Helfenden im Gegenüber zu den Hilfebedürftigen, und aus einer Gemeinschaft der Verschiedenen das Bündnis der Gleichen und Starken. »Wir versus Sie« – auch in der Wohlfahrtspflege. Schwestern in Tracht führten unter Tränen Sterilisationen durch, andere sahen zu, wie ihre behinderten »Zöglinge« abtransportiert wurden. In den landwirtschaftlichen Betrieben der Jugendund Behindertenhilfe machten Zwangsarbeiter*innen aus Osteuropa zusammen mit den »Zöglingen« die Kartoffeln aus. Zwang, Demütigungen und körperliche 157 Müller, Christine-Ruth/Siemen, Hans L. (1991): Warum sie sterben mussten: Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im »Dritten Reich«. Neustadt a. d. Aisch. 158 Interview mit der Zeitzeugin Ruth Felgentreff siehe https://www.yumpu.com/de/document/ view/23210312/interview-mit-der-zeitzeugin-ruth-felgentreff-suitbertus-gymnasium (Zugriff am 16.12.2020). 159 Neumann Reinhard/ Samson-Himmelstjerna, Nadja von (2020): Evangelische Stiftung Neinstedt. Zündender Funke. 1850–2020. Thale-Neinstedt., S. 201. Bemerkenswert ist, dass Mitglieder des evangelischen Krankenhausverbandes gut anderthalb Jahre vor Hitlers Machtübernahme uneingeschränkt offen für Eugenik plädierten

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Gewalt gehörten für alle gleichermaßen zum Alltag.160 Die Traumatisierung, die mit diesen Erfahrungen verbunden war, blieb über Jahre und Jahrzehnte lang in den Gemeinschaften eingeschlossen wie ein dunkles Geheimnis. Noch heute sehen wir, wie die Reihen sich schließen, wenn es um die Aufarbeitung sexueller Gewalt in der Nachkriegszeit geht. Wo aber Gemeinschaften mit ihren Schmerzen und Abgründen – den persönlichen wie den strukturellen – nicht offen umgehen, verlieren sie an Glaubwürdigkeit und Attraktivität. Es hat seinen Grund, dass die »Gemeinschaft der Heiligen« und die »Vergebung der Sünden« im Glaubensbekenntnis zusammengehören. Diakonie ist Begegnung mit dem Leben selbst – auch mit seinen Abgründen –, mit allem, was mich fordert, was mir Angst macht und mich mit meinen Grenzen konfrontiert. Diakonie ist Begegnung mit dem*der anderen, mit Menschen, die andere Lebens- und Grenzerfahrungen, andere Ängste und Leiden erfahren haben. Diakonische Arbeit geschieht immer in »Koproduktion«. Heilung, Stärkung, Ermutigung leben von Vertrauen und Offenheit. Es geht um eine tiefe Aufmerksamkeit für die tatsächlichen, unverwechselbaren Leiden; eine tiefe Hinwendung zu einem*einer anderen als Mit-Menschen. Andere speisen und tränken, kleiden, besuchen und pflegen – die alltäglichen Sorgetätigkeiten sind in der christlichen Tradition Ausdruck von Spiritualität und ermöglichen spirituelle Erfahrungen. Die Begegnung mit dem anderen kann zur Gottesbegegnung werden, sie lehrt, mein eigenes Leben neu zu sehen. In der Empathie mit dem, der Schwäche erlebt, liegt die Stärke der sozialen Arbeit. Sorgende Gemeinschaften lebten von Anfang an aus diesem Geist, der unterschiedliche Menschen zusammenhält: Kranke und ihre Angehörigen, Professionelle, Nachbar*innen und Ehrenamtliche. Aber ist es unter den Rahmenbedingungen der heutigen Sozialwirtschaft überhaupt möglich, solche Beziehungen aufzubauen? Ist nicht alles aufs Funktionieren angelegt, auf Effektivität und Effizienz? Dienstleistung wird nach Zeit berechnet. Und weil Zeit in den sozialen Diensten das teuerste Gut ist, wird daran gespart, wo immer möglich. Damit werden die »Resonanzflächen« geringer und die Möglichkeiten, sich einzufühlen und Feedback im Alltag aufzunehmen, schwinden. Die Verweildauer in einem Unternehmen oder auf einer Station geht zurück, Teams werden immer neu gemischt, gemeinsame Dienstbesprechungen werden verkürzt oder fallen aus. Die notwendigen Fallbesprechungen werden digital unterstützt. Um den Informationsstand aktuell zu halten, wachsen zugleich die Dokumentationspflichten. Überbordende Bürokratie, jahrelanger Stellen160 Kaminsky, Uwe (2002): Dienen unter Zwang. Studien zu ausländischen Arbeitskräften in Evangelischer Kirche und Diakonie im Rheinland während des Zweiten Weltkriegs. Bonn/ Köln.

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abbau, Arbeit in normierten Zeittakten, zunehmende Arbeitsverdichtung haben die Pflege krank gemacht. Und die Pflegenden auch. Alexander Jorde, der bekannt wurde, als er sich in der Wahlarena mit der Kanzlerin anlegte, nennt die Pflegenden »eine der Hochrisikogruppen für arbeitsbedingte Belastungen«161. Nach einer internationalen Pflege-Vergleichsstudie aus dem Jahr 2012 müssen sich Pflegende in Deutschland im Schnitt um 13 Patient*innen kümmern, während in den USA durchschnittlich 5,3 Patient*innen auf eine Pflegefachkraft kommen, in den Niederlanden 7, in Schweden 7,7 und in der Schweiz 7,9.162 In Deutschland, wo die »Nurse-to-Patient Ratio« (Zahlenverhältnis Pflegefachperson zu Patient*innen) schlechter ist als in vielen anderen Industrieländern, könnten gesetzliche Mindestschlüssel Arbeitsüberlastung und Qualitätsmängel lindern, so eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie.163 Keine Berufsgruppe lässt sich häufiger wegen psychischer Belastungen krankschreiben. In der Coronakrise zeigte sich, dass Pflegende zu den besonders vulnerablen Berufsgruppen gehören. Viele von ihnen sind dem Kontakt mit Infizierten ausgesetzt, leisten zudem Schichtdienst und haben wenig Zeit für stärkende persönliche Kontakte. Tatsächlich hat der Personalmangel in der Pflege inzwischen ein dramatisches Ausmaß angenommen: Schon vor der Coronakrise fehlten rund 80.000 Pflegekräfte.164 Wer Hilfebedürftige nur noch ein kleines Stück begleiten kann, wer sich immer neu einlassen und schnell wieder abgeben muss, verliert das Kostbarste, was diese Berufe ausmacht: die Erfahrung heilender Begegnungen und Berührungen. Die Journalistin Elisabeth von Thadden hat 2018 ein Buch mit dem Titel »Die berührungslose Gesellschaft« geschrieben, in dem sie die Bedeutung von Berührung für unser Menschsein analysiert.165 Es kam wie gerufen. In der Krise haben viele gespürt, wie wichtig Berührung für unsere Gesundheit ist, für unsere Selbstwahrnehmung und das Gefühl, wahrgenommen zu werden, ja, geliebt zu sein. Wer eine*n andere*n berührt, rührt damit an Erfahungen, die sich tief in den Körper eingeprägt haben. Wer die Wunden eines Menschen pflegt, sorgt damit auch für das Heilen der Seele. Berührung hilft Kindern, ein Gefühl für den eigenen Körper zu bekommen, und gibt Demenzerkrankten existenzielle Sicherheit. 161 Jorde, Alexander (2019): Kranke Pflege. Gemeinsam aus dem Notstand. Stuttgart, S. 42. 162 Ewers, Michael (2019): Wo steht die deutsche Pflege im internationalen Vergleich? Die Schwester Der Pfleger, 3/2019, 28. https://www.bibliomed-pflege.de/sp/artikel/37541-wo-steht-diedeutsche-pflege-im-internationalen-vergleich (Zugriff am 12.01.2021). 163 Simon, Michael/Mehmecke, Sandra (2017): Nurse-to-Patient Ratios. Ein internationaler Überblick über staatliche Vorgaben zu einer Mindestbesetzung im Pflegedienst der Krankenhäuser. Working Paper der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 27. https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_027_2017.pdf (Zugriff am 12.01.2021). 164 Hirschel 2020. 165 Thadden 2018.

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In den Kliniken von heute sieht Giovanni Maio aber »weiße Fabriken«166, fordistische Produktionsstätten, in denen die Patient*innen nicht als Individuen gesehen werden, sondern als Objekte, an denen man standardisierte Verrichtungen vornimmt. Dabei werde die personalintensive Kontaktzeit zu Patient*innen als zu minimierender Aufwand betrachtet. Inzwischen ist jedes dritte Krankenhaus in privater Hand. Zu oft konzentrieren sich die Häuser auf die lukrativen Behandlungsfälle, kürzen unrentable Leistungen und sparen beim Personal, vor allem in der Pflege. »An schlimmen Tagen bin ich mein eigener Verräter, dann bin ich nicht mehr die, die ich mal sein sollte«, sagt Franziska Böhler167, die mit ihrem Buch »I’m a nurse« einen Bestseller platziert hat.168 Es ist keine Frage: Das moderne Krankenhaus ist immer noch Anstalt; es isoliert die Einzelnen, auf deren medizinische Diagnose und medizinisch-technische Therapie es ausgerichtet ist, und zerschlägt so jede Gemeinschaft, auf die Menschen angewiesen sind, wenn Körper und Seele heilen sollen. Inzwischen kann man im Internet T-Shirts bestellen, auf denen steht: »Ich bin kein Pflegeroboter«. Tatsächlich gleichen die Abläufe in manchen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen schon jetzt einer Abfertigung. Kein Wunder, dass nach einer repräsentativen Umfrage für den Digitalverband Bitkom eine Mehrheit der Bundesbürger*innen von einem künftigen Einsatz von Robotertechnik zur Entlastung der Pflege überzeugt ist. 57 Prozent der 1.004 Befragten über 18 Jahre rechnen in zehn Jahren mit Roboter-Unterstützung für Pflegekräfte bei schweren Arbeiten, etwa in Form von Roboterarmen und Exoskeletten. 45 Prozent der Befragten rechnen mit Service-Robotern, die Essen zubereiten und servieren, aber nur 28 Prozent stellen sich auf den Einsatz von »Kuschel-Robotern« ein, die sich mit Pflegebedürftigen unterhalten können und Emotionen zeigen. Pilotprojekte in diesem Bereich werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit fast zehn Millionen Euro gefördert. In mehr als 30 Ländern wird eine künstliche Robbe in der Palliativbetreuung von Krebspatienten oder bei Kindern mit Autismus eingesetzt – vor allem aber bei demenzkranken 166 Maio 2018, S. 40. 167 Albrecht, Bernhard (2020): Immer mehr Patienten, immer weniger Pfleger – eine Krankenschwester hat sich den Frust von der Seele geschrieben. Bestsellerautorin Franziska Böhler. Stern, 03.11.2020. https://www.stern.de/p/plus/gesellschaft/pflegenot---eine-krankenschwester-hat-sich-den-frust-von-der-seele-geschrieben-9468748.html (Zugriff am 12.01.2021). 168 Böhler Franziska/Kubsova, Jarka (2020b): I’m a Nurse. Warum ich meinen Beruf als Krankenschwester liebe  – trotz allem. München; Corona und der Personalmangel in Krankenhäusern: Böhler Franziska/Kubsova, Jarka (2020a): »Es wird düster«. Krankenschwester über Personalmangel in Kliniken. Der Spiegel, 01.11.2020. https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/corona-und-der-personalmangel-in-krankenhaeusern-es-wird-duester-ace88d728-0e64-4b63-b547-ea13ced1c6cb (Zugriff am 12.01.2021).

Controller, Soziale Roboter und die Kultur der Gemeinschaft

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Menschen und Senior*innen.169 Die Kosten pro Robbe liegen zurzeit bei zirka 5.000 Euro. Ihre braunen Kulleraugen und das weiche weiße Fell machen dieses Tier zu einem Wesen, das keine Angst auslöst und instinktiv gestreichelt werden will. Ausgebildete Hunde, las ich in einem Pflegeportal, kosten oft mehr. Sie besitzen allerdings Fähigkeiten, die man keinem Kunsttier einbauen könnte: Sie erspüren spontan, wenn etwas nicht stimmt, und sprechen den Menschen auf der Beziehungsebene an.170 »Es wäre eine menschliche Kapitulationserklärung, wenn wir eines Tages tatsächlich versuchen würden, Zuneigung und Empathie über Roboter zu transportieren«, sagt auch Axel Walz vom Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb.171 Wir können unsere existenzielle Kommunikation und unsere menschlichen Beziehungen nicht an technische Systeme externalisieren wie die Ortskenntnis an das Navi oder den Kalender ans Smartphone, ohne selbst zu verarmen. Ein Team aus Wissenschaftler*innen der Universität Siegen und der Fachhochschule in Kiel hat den Pflegeroboter »Pepper« 2018 versuchsweise für die Betreuung von Senior*innen programmiert und in den ersten Altenheimen getestet. Per Knopfdruck faltet die Maschine ihre Arme auseinander, simuliert Tanzbewegungen und erzählt Witze.172 Ich kann nicht umhin, mir vorzustellen, wie viel schöner und lebendiger der Besuch einer Schulklasse oder einer Kindergartengruppe wäre. Gemeinschaft statt Unterhaltung, Resonanz statt Animation. Aber die »Roboterfrau« Emma, die regelmäßig mit den Senior*innen Gedächtnisspiele betreibt, kann auch automatisch die Leistungen messen und aufzeichnen. Sie kann damit die Entwicklung einer Demenz exakt dokumentieren – eine Aufgabe, die bisher Pflegekräfte wahrnehmen. In einer Einzelfallstudie in Japan schalteten Pflegekräfte die Roboter ab und schlossen sie im Schrank ein173: Die permanente Aufzeichnung durch die Systeme führt leicht zu dem Gefühl, überwacht und entmündigt zu werden. Dabei besteht 169 Niederhammer, Esther/Schäfer, Reinhold (2019): Mit Pflegerobotern Fachkräftemangel begegnen. MaschinenMarkt, 22.07.2019. https://www.maschinenmarkt.vogel.de/mit-pflegerobotern-fachkraeftemangel-begegnen-a-847027/ (Zugriff am 12.01.2021). 170 Stösser, Adelheid von (2011): Roboter als Lösung für den Pflegenotstand? Ethische Fragen. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 3/2011, 6. http://pflegeethik-initiative. de/wp-content/uploads/2018/01/Roboter-in-der-pflege_Artikel_AvS_072011.pdf (Zugriff am 05.01.2021). 171 Mühlberger, Sarah (2018): Regeln für Roboter. https://www.mpg.de/12290850/regeln-fuerden-roboter (Zugriff am 12.01.2021). 172 Beckmann, Andreas (2018): Tanz mit dem Maschinenwesen. Roboter in der Pflege. Deutschlandfunk, 10.06.2018. https://www.deutschlandfunk.de/roboter-in-der-pflege-tanz-mit-demmaschinenwesen.740.de.html?dram:article_id=419963 (Zugriff am 12.01.2021). 173 Mühlberger 2018.

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die zentrale Erwartung von Mitarbeitenden darin, ein gutes Miteinander im Team zu entwickeln, eine hilfreiche Beziehung zu den Patient*innen zu gestalten, mit den eigenen Kompetenzen gesehen zu werden und Veränderungsprozesse aktiv mitzugestalten.

Kraftquellen im Arbeitsalltag Interview mit Sigrid Pfäfflin Sigrid Pfäfflin ist Diakonische Schwester der Sarepta-Schwesternschaft in Bielefeld-­ Bethel und war bis 2018 Oberin des Diakonissenmutterhauses in Bremen.

Was liegt Ihnen in der Gemeinschaft besonders am Herzen? Sigrid Pfäfflin: Mich bewegt vor allem die Situation der Mitarbeitenden im Sozialund Gesundheitswesen. Sie arbeiten mit und für Menschen in Not- und Grenzsituationen. Besonders die in der Pflege Tätigen sind körperlich und emotional großen Belastungen ausgesetzt. Hierfür Kraftquellen zu erschließen, durch Angebote der Bildung und der Gemeinschaft, liegt mir besonders am Herzen. Nächstenliebe – Selbstsorge – Spiritualität, in diesem Dreiklang verstehen wir in Bremen unseren Auftrag.

An welchem Ort ist das für Sie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar geworden? S. P.: Das Gelände des Diakonissenmutterhauses in Bremen ist ein Park mit altem Baumbestand, in der Mitte ein Hügel, auf dem die Emmauskirche steht. Im äußeren Ring befinden sich das Altenpflegeheim, das Diakonissenmutterhaus, barrierefreie Wohnungen, ein Krankenhaus, ein Ärztehaus und die Kurzzeitpflege. Es gibt viele, die sagen: Das ist wie eine Oase. Dieser Gesamtort hat für mich eine besondere Faszination, finde ich doch hier diese Verbindung von Glaube und Tun wieder – und die Kirche ist dabei der Mittelpunkt. Das ist nicht ungewöhnlich für Diakonissenmutterhäuser, wiewohl der Arbeitsalltag anderen Gesetzen folgt als den Andachtszeiten der Mutterhausgemeinde. Und doch ist die Kirchenglocke dreimal am Tag zu hören und um zwölf Uhr beten die Schwestern: »Auf der Höhe des Tages halten wir inne. Lasset uns Herzen und Hände erheben zu Gott, der unseres Lebens Mitte ist.« Die Namen der Bewohner*innen sowie der Mitarbeiter*innen, die Geburtstag haben, werden verlesen und es wird für sie gebetet. Ich glaube daran, dass es so etwas wie eine Stellvertretung im Beten gibt und dass es »durchbetete« Räume gibt. Und ich glaube, dass unser Gelände dazu gehört.

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Vor einigen Jahren haben wir ein begehbares Rasenlabyrinth im Vorgarten der Kirche angelegt. Dieses alte Symbol, der Weg nach innen über Wendungen und scheinbare Umwege, bietet für Einzelne und für Gruppen die Möglichkeit, sich mit dem eigenen Weg auseinanderzusetzen. Bei Oasentagen, verschiedenen Fortbildungen, bei der Einführung neuer Mitarbeiter*innen begehen wir das Labyrinth. Dabei wird thematisiert, wie hilfreich es ist, Kraftorte zu haben und immer wieder aufzusuchen. Da kommt es nicht darauf an, ob ich religiös bin oder welcher Religion ich angehöre. Es geht um die Frage nach der eigenen Mitte, nach dem, was mir heilig ist, um die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. 174

3.3 Die neue Mit-Kultur – von der Langzeitpflege zur End-of-Life Care »Das herkömmliche Hilfeethos der Diakonie ist an ein Ende gekommen. Die Für-Kultur muss abgelöst werden durch eine Mit-Kultur, die auf die Mündigkeit der Patienten und ihrer Angehörigen setzt«, sagt Johannes Degen, der frühere Leiter von Hephata, Mönchengladbach.175 An die Stelle von Anweisung und Anpassung müssen Assistenz und Teilhabe von Bewohner*innen, Pflege- und Hilfebedürftigen treten. Ziel muss sein, chronisch kranke und pflegebedürftige Menschen als Subjekte, als gleichberechtigtes Gegenüber wahrzunehmen – nicht nur als Objekte und Versorgungsfälle. Es geht darum, dass jede*r in ihrer*seiner Einzigartigkeit anerkannt und geachtet wird und dass niemand aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Damit das gelingt, braucht es Zusammenarbeit mit Angehörigen, Nachbar*innen und Ehrenamtlichen, mit anderen Trägern und mit und Kirchengemeinden – die Öffnung der Einrichtungen ins Quartier.176 An die Stelle überkommener Hierarchien muss fachübergreifende Kooperation treten. Pflegende, Ärzt*innen finden dieses Miteinander heute am ehestens auf Palliativstationen, der Kinderklinik oder in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung. Die Teamerfahrung dort heilt das Gefühl von Druck und Zerrissenheit und beendet das »Einzelkämpfer-Dasein«. Hier und da führte auch 174 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=3248 (Zugriff am 16.12.2020). 175 Zitiert in einem Gutachten von Heinz Rüegger und Christoph Sigrist, Zürich, zur Entwicklung des Kaiserswerther Verbandes, 2013. 176 Im Dezember 2017 wurden 24 Prozent der 3,4 Millionen Pflegebedürftigen vollstationär versorgt, ebenso viele zu Hause mit Pflegediensten und mehr als die Hälfte durch Angehörige, vgl. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2018/12/PD18_501_224.html (Zugriff am 12.01.2021).

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die Coronakrise dazu, dass Ärzt*innen und Pflegende aus unterschiedlichen Teams und Häusern zusammenrückten, um die Besetzung von Corona-Verdachtsstationen und -Intensivstationen zu sichern. Trotz des Drucks empfanden das viele als ein ermutigendes Zeichen der Solidarität. Die Pflegeeinrichtungen, die im frühen 19. Jahrhundert als Kranken- und Siechenhäuser gegründet wurden, waren eine Antwort auf die Industrielle Revolution mit wachsender Mobilität und Überforderung von Familien. Sie sollten den Bewohner*innen die Versorgung bieten, die die Angehörigen schon zeitlich oft nicht mehr leisten konnten. In den Mutter- und Brüderhäusern entstanden die ersten »Sorgenden Gemeinschaften«, diakonische und karitative Wahlfamilien, die die Unterversorgten und Sterbenden aufnahmen. In den gefragten und wachsenden Anstalten entwickelte sich allerdings auch eine institutionelle Eigengesetzlichkeit, die wir bis heute spüren. Die Prozesse werden von Profis gesteuert. In den chronisch unterfinanzierten Organisationen sorgen Routinen für einen möglichst reibungslosen Ablauf. Was vor allem aus Sicht der Angehörigen Schutz und Sicherheit bedeutet, erleben die Betroffenen oft als Verlust an Autonomie, Privatsphäre und Freiheit. In ihrem Buch »Vita activa oder Vom tätigen Leben« benennt Hannah Arendt als wichtigstes Ziel, dass jeder Mensch die Gewissheit spürt, sich in seinem Handeln und Sprechen »aus der Hand geben« zu können, das heißt, von anderen angenommen zu sein und diesen vertrauen zu können.177 Die Coronapandemie hat jedoch zu einer einschneidenden Vertrauenskrise geführt. In Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind Menschen gestorben, ohne ihre Angehörigen noch einmal zu sehen. Alte Menschen fühlten sich »wie im Knast«, Angehörige fühlten sich »ausgesperrt«, ehrenamtliche Hospizbegleiter*innen, selbst gesetzliche Betreuer*innen kamen nicht mehr auf die Zimmer von Sterbenden. Wie groß der Einfluss von Besucher*innen auf das Infektionsgeschehen in der Langzeitpflege tatsächlich war, ist noch nicht erforscht. Klar ist aber: Große Einrichtungen mit vielen Hochrisikopatient*innen und schlechten Schutzvorkehrungen sind gefährdet, zumal wenn der Schutz der Mitarbeitenden, die in den Häusern einund ausgehen, nicht gewährleistet ist. Jedenfalls hat sich die Selbstbestimmung der Bewohner*innen und die Beteiligung der Angehörigen, die in nahezu allen Leitbildern verankert ist, während der Krise oft nicht durchhalten lassen.

177 Arendt 2002, S. 209.

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»Freiheitsbeschränkende Entscheidungen wurden ohne die Einbeziehung von kontrollierenden Instanzen getroffen. Es war nicht mehr überall möglich, dass die Zuständigen für Heimaufsicht und gesetzliche Betreuer*innen/ Erwachsenenvertreter*innen Besuche machen konnten« heißt es im Positionspapier »Großputz! Care nach Corona neu gestalten«.178 Entscheidungen wurden in einer Mischung aus Unsicherheit und Fürsorge einmal mehr von Profis getroffen. Angehörige blieben außen vor. Mitarbeitende, die mit Schutzkleidung und Maske in ein Zimmer kamen, waren für die Bewohner*innen oft kaum zu erkennen – und doch waren sie die Letzten, von denen sich die Sterbenden verabschiedeten. In der Pflegestudie der Diakonie, bei der im Oktober 2020 1.735 Pflegende – zumeist aus der Altenhilfe – befragt wurden, zeigte sich aber auch: Pflegende und Bewohner*innen nahmen ihren Alltag als »Schicksalsgemeinschaft« wahr. So gaben 63 Prozent der Befragten an, dass der Austausch untereinander intensiver war als vor der Pandemie, obgleich weniger Zeit zur Verfügung stand.179 Wer krank ist, braucht Menschen. Wer sterbend ist, erst recht. Pflegende wissen das noch besser als andere. Und dieses Wissen ist tief verankert in der christlichen Kultur. »Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.«, heißt es im Brief des Jakobus 5,14: Lasst die Kranken nicht allein, sprecht mit ihnen, wenn ihr sie schon nicht berühren könnt! Während der Pandemie gerieten deshalb nicht nur Pflegeeinrichtungen in die Kritik, sondern auch die Kirchen. Christine Lieberknecht180, Heribert Prantl181 und viele andere formulierten das Gefühl, dass die Kirche gerade die alleingelassen hätte, die sie am meisten gebraucht hätten: die Pflegebedürftigen, Kranken und Sterbenden und ihre Angehörigen. »Ordnungspolitik, die totalitär wird, darf keine Option sein für einen demokratischen Staat. Wir dürfen Sterbende nicht wieder allein lassen«, äußerten sich die Bischöfe in 178 Thiessen et al. 2020 179 Hörsch, Daniel (2020): Covid-19-Pflegestudie der Diakonie. Eine Ad-hoc-Studie zu den Erfahrungen von Diakonie-Mitarbeitenden in der Altenhilfe/-pflegewährend der Covid-19-Pandemie. Hg. v. midi/Ev. Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. Berlin, S. 7, 51. https://www. diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Journal_PDF/12-2020-Covid-19-Pflegestudie-der-Diakonie-korrigiert.pdf (Zugriff am 12.01.2021). 180 MDR Thüringen (2020): Lieberknecht wirft Kirchen Versagen in Corona-Krise vor. https:// www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/erfurt/lieberknecht-kritisiert-kirchen-100. html (Zugriff am 12.01.2021). 181 Prantl, Heribert (2020): Was war mit Glaube, Liebe, Hoffnung? Süddeutsche, 07.08.2020. https://www.sueddeutsche.de/politik/kirche-corona-kolumne-prantl-1.4992658?reduced=true (Zugriff am 12.01.2021).

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Niedersachsen Ende Oktober 2020 in einer ökumenischen Stellungnahme. Auch die Kirche habe sich in einer Schockstarre befunden.182 »Ein paar nette Worte reichen schon«, dachte in diesen Tagen Monika Riedmeier, die seit März 1.420 Postkarten an alte Menschen in ganz Deutschland schrieb. »Es war ja auch die Zeit, als man darüber nachgedacht hat, was wirklich wichtig ist im Leben«183, sagt sie – eine 40-jährige alleinlebende Frau, die sehr früh ihre Mutter verloren hat und weiß, wie es sich anfühlt, allein zu sein. Die ersten 78 Karten schrieb sie für das »Münchenstift«, das um Postkarten gebeten hatte. Sie schickte sie mit einem Brief, Schokolade, Kaffee und Tee für die Pflegekräfte. Inzwischen bekommen Heime in ganz Deutschland Post von ihr. Selbstorganisiert, selbstfinanziert – Monika Riedmeier bewegt als Einzelne viel. Ganz ähnlich wie Stefanie Quitterer, die die 200 Hausbesuche in ihrer Nachbarschaft organisierte. Auch Jugendliche, Schüler*innen, Konfirmandengruppen schrieben Postkarten für nahe liegende Pflegeheime und schlugen so eine Brücke im Quartier. Es ist zu hoffen, dass diese Verbindungen bleiben. Und auch Angehörige nahmen die Dinge selbst in die Hand. Sie machten Musik vor der Tür, zogen Körbe mit Obst an Seilen auf den Balkon, schickten Tablets und Kameras. Manche Ehepartner*innen zogen sogar selbst ins Pflegeheim, Töchter holten die Mutter ins eigene Haus. So viele Ideen, Kreativität und Bereitschaft, das Risiko zu teilen! Ich bewundere das – auch wenn ich überzeugt bin, dass wir früher schon andere Lösungen hätten finden müssen. Mit Treffen in Parks und Besucherräumen, vor allem aber immer mit Pflegebedürftigen und Angehörigen gemeinsam. Es gab eine Fülle guter Vorschläge der Fachgesellschaften, wie man Gemeinschaft in Coronazeiten hätte gestalten können. Bis hin zum Teilumzug in ein leerstehendes Hotel. Die entscheidende Frage, wie man Bewohner*innen schützen kann, ohne sie abzuschotten, hat die Verantwortlichen während des gesamten Pandemiejahres bewegt. Denn »was nutzt es, wenn Menschen überleben, aber den sozialen Tod gestorben sind?«, so Peter Dabrock, der frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrates.184 Bei vielen, die über Wochen allein auf ihrem Zimmer bleiben mussten – ohne gemeinsame Mahlzeiten, ohne Begegnungen und Gespräche in der vertrauten Runde, ohne Besuch –, verschlechterte sich die gesundheitliche 182 HAZ (2020a): Bischöfe warnen vor möglichem Lockdown: Wir dürfen Sterbende nicht allein lassen. 27.10.2020. https://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/NiedersachsensKirchen-wollen-auch-in-Corona-Zeiten-Sterbende-begleiten (Zugriff am 12.01.2021). 183 Truscheit, Karin (2020): »Ein paar nette Worte reichen schon«. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2020. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/monika-riedmuellermacht-heimbewohnern-mit-karten-eine-freude-17018856.html (Zugriff am 05.01.2021). 184 Zitiert in »Der Spiegel«, 34/2020, S. 28.

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Verfassung erheblich. Demenzerkrankungen, Depressionen und Herz-KreislaufErkrankungen nahmen zu. Vielleicht ist das ein Aufruf, immer neu zu überlegen, wie Teilhabe und Gemeinschaft in den Altenhilfeeinrichtungen gestärkt werden können. Das »Tablett-Essen« auf dem Zimmer, das »küchen- und pflegetechnisch« günstig ist, war auch schon vor der Krise sozial kontraproduktiv. In den Seniorenund Demenzwohngemeinschaften hat man daraus längst eigene Schlüsse gezogen: Bewohner*innen sind an Küche und Hausarbeit beteiligt und der gemeinsame Frühstücks- und Mittagstisch ist selbstverständlich. »Es gab bisher noch keine Situation, in der ich derart als Seelsorgerin gefragt war«, schreibt Katharina Scholl, eine Funktionspfarrerin, die während der Hochphase der Pandemie im Frühjahr als Hilfskraft in einer abgeschotteten Pflege­ einrichtung zur Aushilfe arbeitete: »Es war Seelsorge in den Zwischenräumen. Jeden Morgen einmal kurz auf dem Weg zur Umkleide den Kopf in das Büro des Einrichtungsleiters stecken und von all den widerstreitenden Forderungen hören, die an seinem Schreibtisch zusammenlaufen, einmal kurz bei den Küchenmitarbeitern vorbeischauen und würdigen, dass auch sie unter der Krise leiden und nicht allein die Pflege, später in der kurzen Pause von der Pflegerin hören, dass sie von anderen gemieden wird wegen ihrer Tätigkeit, Geschichten von Familien in getrennten Wohnungen … eben immer so viele Worte, wie in eine Zigarette passen.«185 Inzwischen konnte sie sich aus dem Schichtdienst zurückziehen, weil die infizierten Pflegenden wieder im Dienst sind, aber als Pfarrerin geht sie noch ins Haus. Und denkt noch einmal anders über den Auftrag der Kirche nach. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, wo sie arbeitet, hat im Laufe der Pandemie »Ethik-Lotsen« in den Kirchenkreisen bestimmt, die sich begleitend und organisierend einbringen und bei Verständigungsprozessen in den Spannungsfeldern von Corona-Schutzmaßnahmen engagieren. Pfarrer*innen bieten sich an, um schwierige Entscheidungsprozesse sensibel zu begleiten und Netzwerke von Ehrenamtlichen aufzubauen. »Jetzt tue ich eben die ganze Zeit das, was ich gelernt habe«, schreibt Katharina Scholl:

185 Scholl, Katharina (2020): Vom Talar in den Pflegekittel. Als Pfarrerin im Pflegeheim zur Zeit eines Corona-Ausbruchs. zeitzeichen, 20.11.2020. https://zeitzeichen.net/node/8670 (Zugriff am 05.01.2021).

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»Hören, schweigen, reden, scherzen, beten … […] Seit Neuestem gehören für mich auch Handmassagen bei Bettlägerigen zum pastoralen Dienst. Wenn ich Frau H. die Hände eincreme, massiere, sehe, wie sie das genießt, dann hab ich das Gefühl, als ahnte ich jetzt langsam, wie es sich anfühlt, wenn man das Evangelium in den Händen hält.«186

Orte der Verständigung schaffen Interview mit Thomas Mäule am 5. August 2020 Dr. Thomas Mäule ist Theologe und Ethikverantwortlicher in der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart.

Mehr als die Hälfte aller Todesfälle mit und an Corona hat sich (in Deutschland, aber auch in der Schweiz) in Pflegeeinrichtungen ereignet. Obwohl nur knapp ein Prozent der Bevölkerung in dieser Wohnform lebt. Die Sterblichkeit unter Pflegebedürftigen war 50-mal höher. Wie sind Sie als Ethikverantwortlicher mit dieser schwierigen Situation umgegangen? Thomas Mäule: In der Diakonie haben wir – vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, aber auch vor der Gründergeschichte der Heimstiftung – dem Kernwert »Freiheit« eine hohe Bedeutung eingeräumt. Und dieser Kernwert wird gegenwärtig beschnitten, auf ein Minimum reduziert. Pflegebedürftige im Heim gehören zu einer der Risikogruppen. Verantwortliche waren in den letzten Monaten stets in der Zwickmühle, gerade in der mittleren Leitungsposition. Die ständige Anpassung an eine sich wandelnde Situation, fehlende Ausstattung, Mangel an Pflegefachpersonen, unerfüllbare Anforderungen, Coronaverordnungen, Vorgaben des Trägers prasselten auf sie ein. Die verschiedenen Handlungsoptionen standen oft im Widerspruch zu den eigenen moralischen Wertvorstellungen. Eine von vielen Rückmeldungen, die ich bekommen habe: »Egal wie wir uns entscheiden, es erscheint uns falsch oder nicht ganz richtig.«

Welche Herausforderungen sehen Sie, wenn Sie die Coronaerfahrungen auswerten? T. M.: Ich sehe zwei Herausforderungen. Einmal aus ethischer Perspektive: Wie kann es gelingen, eine Organisation dazu zu bringen, sich den Widersprüchen, den Ängsten und Unsicherheiten zu stellen? Spannungsfelder nicht zu tabuisieren, son186 Scholl 2020.

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dern zu bearbeiten. Und Orte der Verständigung zu schaffen – über Widersprüche und eigene Wertvorstellungen. Die andere aus politischer Perspektive: Wie kann es gelingen, die Misere der Pflege politisch in den Blick zu nehmen? Die extreme Belastung im Pflegeberuf braucht die gesellschaftliche Anerkennung – über den Applaus hinaus. Was es bedeutet, soziale Teilhabe trotz Coronapandemie zu ermöglichen, das müssen wir durchbuchstabieren: beim Verdacht einer Infektion, bei einer bestätigten Infektion, im Krankheitsverlauf.

Wie sind die Einrichtungen der Heimstiftung ganz praktisch mit diesen Herausforderungen umgegangen? T. M.: Wenn ich nach innen schaue, habe ich den Eindruck gewonnen, dass unsere Einrichtungen in dieser Zeit beweglicher geworden sind. Ich höre das auch von anderen Trägern. Neben all der Kreativität ist ein neues »Wir-Gefühl« entwickelt worden, ein neuer Zusammenhalt. Auch ein Perspektivwechsel fand statt: Wir sehen hochbetagte, vulnerable Menschen wieder als Akteur*innen in der Welt. Ich mache das fest an einem neuen Öffnungs- und Besuchskonzept für unsere Einrichtungen. Mit dem Anspruch, offene, einladende Häuser zu sein. Cafés werden wieder geöffnet. Die Quartiersräume in unseren Einrichtungen werden wieder durch externe Gruppen genutzt. Es gibt viel Kreativität und Fantasie, digitale Technik einzusetzen, um Verbindungen aufrechtzuhalten. Die technischen Möglichkeiten sind das Vehikel. Aber der Geist, der Spirit ist das, was zählt.

Wie finden Sie diesen guten, offenen Geist des Miteinanders – in einer Situation, die doch durch Ängste und Ausgrenzung bestimmt ist? T. M.: Ich erlebe viele Ängste. Und sehe es als große Aufgabe, das Gespür für das Mögliche zu schärfen und unterschiedliche Argumente sorgfältig abzuwägen. Wie viel Freiheit brauchen wir in so einer Menschheitskrise? Und wie viel Schutz? Kompromisse werden oft unterschätzt. Dabei es ist so wichtig, solche zu schließen: den Bewohner*innen den bestmöglichen Schutz und die größtmögliche Selbstbestimmung zu garantieren, den Bedürfnissen von Angehörigen und Vertreter*innen zu entsprechen und zugleich die Gesamteinrichtung und die Mitarbeitenden im Blick zu haben. Ein vielgefragtes Format bei uns ist derzeit das Ethik-Café. Zielgruppe sind Führungskräfte. Mit der Möglichkeit, in einem moderierten und gleichzeitig offenen Rahmen ethischen Themen und Fragestellungen rückblickend Raum zu geben. Das unser Motto »Gemeinsam« am Ende trug, hat auch damit zu tun, dass die Mitarbeiterschaft in den Häusern seit Langem eine neue diakonische Kultur

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einübt: die selbstständige Verantwortung der einzelnen Häuser, ein Facebook-Kanal nach innen wie außen, Tablets für Bewohner*innen, Ethik-Cafés.

Während der Covid-Krise waren manche der Meinung, bei den Erkrankten in den Altenhilfeeinrichtungen ginge es »nur noch« um palliative Begleitung. Ganz ohne den Zwang zur Triage entschieden Ärzte, nicht mehr in Krankenhäuser zu überweisen und künstlich zu beatmen, sondern stattdessen Morphium zu geben – oft ohne Rücksprache mit Angehörigen. Tatsächlich kommen mehr und mehr Menschen nur noch für die letzte, die Sterbephase ins Pflegeheim wie in ein Hospiz. Die stationären Altenhilfeeinrichtungen haben sich in den letzten Jahren verändert; sie scheinen von Orten des Wohnens zu Orten der Pflege, von Orten des Lebens zu Orten des Sterbens geworden zu sein. Aber die durchschnittliche Verweildauer der Bewohner*innen liegt noch immer bei 22 Monaten. Altenhilfeeinrichtungen sind keine Hospize, auch wenn sie für eine gute palliative Pflege sorgen müssen. Es geht in einem umfassenden Sinne um »End-of-Life Care«. Es geht darum, die einzelnen Personen wahrzunehmen mit ihrer Lebensgeschichte und ihrer gesundheitlichen Verfassung, ihren Werten und ihrer eigenen Einschätzung der Situation. Dazu braucht es regelmäßige Gespräche mit Bewohner*innen, Angehörigen und Zugehörigen – Zeit für Biografiearbeit genauso wie Achtsamkeit für spontane Tür- und Angelgespräche. Solche Gespräche sind der entscheidende Schlüssel zur Wahrnehmung des Bewohnerwillens angesichts der letzten, oft schwierigen ethischen Entscheidungen, die eben nicht über deren Kopf hinweg getroffen werden dürfen. Eine Untersuchung der Universität Augsburg und des IPP München von 2017 zeigt, dass im Durchschnitt noch immer jede*r vierte Bewohner*in im Krankenhaus stirbt.187 Zu den zentralen Gründen für diese Krankenhauseinweisungen gehören die professionelle Überforderung und strukturelle Überlastung der Pflegekräfte und die häufige Unterversorgung in der Nacht. Oft fehlt es an Professionalität, klar geregelten Prozessabläufen, Erreichbarkeit und Verbindlichkeit und Respekt im Sinne von Augenhöhe. Notwendig wäre, die fachliche Sicherheit und Eigenständigkeit der Pflegenden, aber auch das Miteinander im Team zu stärken. Aus der individuellen Abwanderungsbewegung in der Pflege muss ein solidarisches Miteinander werden. Aus dem Gefühl, das 187 Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG) an der Universität Augsburg/Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) München (Hg.) (2018): Sterben zuhause im Heim – Hospizkultur und Palliativkompetenzin der stationären Langzeitpflege. Vorgehen, empirische Befunde und abgeleitete Handlungsempfehlungen. Augsburg/München, S. 11. https:// assets.uni-augsburg.de/media/filer_public/f9/b7/f9b79027-4c0c-43e0-b3c5-f59cf2ad0d6d/ sih_abschlussbericht.pdf (Zugriff am 16.12.2020).

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eigene Berufsethos im Alltag zu verraten, ein gemeinsamer Kampf um die Werte. Damit das gelingt, braucht es offene Gespräche und Reflexionsräume – Orte, wo Tabus angesprochen und bearbeitet werden können. Und regelmäßige Ethikbesprechungen im Team. Wer einen Mentalitätswandel in Gang setzen will, muss alle einbeziehen. Die »Heimstiftung« nutzt die Ethik-Cafés für offene Gespräche über die Organisationsentwicklung. Die Diakonie in Düsseldorf hat die innerbetriebliche Organisationsentwicklung in ihren Pflegeheimen mit einer Bewohner*innenbefragung durch die Mitarbeitende begonnen. Auch andere Pflegeheime, die eine neue Sorgekultur entwickeln, arbeiten mit hierarchieübergreifenden Projektgruppen und Qualitätszirkeln– zu Angehörigenbetreuung, Verabschiedungs- oder Trauerkultur. Hinzu kommen Hausrunden und Informationsveranstaltungen, an denen auch Bewohner*innen und Angehörige teilnehmen wie bei der Diakonie in München und Oberbayern. Und schließlich externe wie interne Fortbildungsprogramme für alle, die mit Bewohner*innen in Kontakt sind – Reinigungskräfte, Pflegende, Angehörige und Ehrenamtliche. Es geht um eine gemeinsame Kultur, eine Kultur der Gemeinschaft, in der alle Beteiligten Handlungssicherheit finden, ohne in Überforderung und Rechtfertigungsdruck zu geraten. Diese Arbeit braucht Ressourcen – personelle, finanzielle und digitale Ressourcen zur Vernetzung der Heime mit Fachdiensten wie der Bewohner*innen mit Angehörigen. Hätte es solche elektronischen Netzwerke gegeben, hätte die Zeit des Shutdowns in der Coronakrise besser bewältigt werden können. Wichtig ist schließlich ein Palliativnetz der Region, wie sie im Landkreis SaarPfalz oder in verschiedenen Landkreisen Hessens gefördert werden. Noch werden solche Netzwerke von Mitarbeitenden in Teilzeit organisiert. Es handelt sich um freiwillige Leistungen der Kreise und Städte. Solche palliativen Netze bieten eine haltgebende Struktur für die Teams und die Sorgenden Gemeinschaften in Langzeitpflegeeinrichtungen und Quartieren. Ehrenamtliche Hospizdienste wie die »Pusteblume« in Wuppertal arbeiten im ambulanten wie im stationären Bereich und können so für einen breiten Erfahrungsaustausch sorgen. Denn so wichtig die Netzwerke der Gemeinschaft im Pflegeheim sind, so notwendig ist die Öffnung ins Quartier und in die Kirchengemeinde, die mit ihren Seelsorgekräften und Ehrenamtlichen eine Brücke zu den Angehörigen schlagen und zugleich Lobby für die Pflegebedürftigen sein kann. Die geschlossenen Einrichtungen in der Coronakrise sind ein Bild für die Exklusion der Pflegebedürftigen, die schon Klaus Dörner mit der Idee vom »Dritten Sozialraum« überwinden wollte. Schon die Anstalten des 19. Jahrhunderts wurden gegründet, um in den Zerreißproben der Transformation eine gute Versorgung und ein lebendiges Miteinander zu gewährleisten. Die Schwestern und

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Brüdern, die dort arbeiteten, lebten in patriarchalen, familienähnlichen Hausgemeinschaften unter der Leitung von »Hauseltern«. Angesichts der Überlastung von Familien und Nachbarschaften werden die Mitarbeitenden noch immer zu »Ersatzfamilien«.188. Anders als vor Jahrzehnten, haben sie aber eigene Familien, leben an anderen Orten und arbeiten in schlecht bezahlten Schichtdiensten. Die Geringschätzung der Care-Arbeit, die geringe Bezahlung in »Frauenberufen« und die überkommenen Rollenmodelle in den eigenen Familien setzen die Pflegenden unter erheblichen Druck. So gaben 61 Prozent der Mitarbeitenden in der Pflegestudie der Diakonie an, dass ihre Familie durch ihre berufliche Tätigkeit während der Pandemie Nachteile in Kauf nehmen musste.189 Dieser doppelte Anspruch an Gemeinschaft und verlässliche Beziehungen ist auf Dauer nicht lebbar. Sorgende Gemeinschaften müssen deshalb weiter geknüpft werden und auch Zugehörige und Ehrenamtliche einbeziehen. Teilhabe und Inklusion auch der Pflegebedürftigen brauchen überschaubare Räume und lebendige Netzwerke, in denen eine*r die*den andere*n kennt. Die Öffnung ins Quartier, die Zusammenarbeit mit Schulen, Tageseinrichtungen und Kirchengemeinden können immer neue Impulse geben und ein lebenswertes Lebensende ermöglichen. Das kann aber nur in dem Maße gelingen, wie sich auch Arbeit, Nachbarschaft und Gemeinwesen verändern, Familien- und Zivilgesellschaft gestärkt und der Pflegeberuf aufgewertet wird. Angesichts des demografischen Wandels, der wachsenden Zahl Pflegebedürftiger und des Mangels an Fachkräften wird es schließlich mehr und mehr darauf ankommen, die bislang strikt getrennten Systeme von ambulanter und stationärer Pflege, von Geld- und Sachleistungen, Krankenhaus, Heim und Reha-Einrichtungen zu verschränken und zu integrieren.

3.4 Die Buurtzorg-Familie – von der Dienstgemeinschaft zur Sorgegemeinschaft Seit einigen Jahren gibt es einen Trend zu selbstständigen Pflegefachkräften. Auf dem leer gefegten Fachkräftemarkt bestimmen sie die Rahmenbedingungen ihres Einsatzes weitgehend selbst: Sie kommen, wenn Personalmangel auf der Station ist, aber sie übernehmen keinen Nachtdienst, arbeiten nicht am Wochenende oder z. B. nur, wenn die Kinder in der Schule sind. Der Rest muss von den Festangestellten aufgefangen werden. Wenn ich darüber nachdenke, wird mir klar, 188 Dabei ist es zum Beispiel längst nicht mehr möglich, die Mahlzeiten gemeinsam mit den Bewohner*innen einzunehmen – es müsste als geldwerter Vorteil versteuert werden 189 Hörsch 2020, S. 41.

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was für ein Wunder es ist, wenn der Dienst in den unterbesetzten Kliniken und Pflegeeinrichtungen überhaupt noch funktioniert – wenn Menschen bereit sind, sich unter Zeitdruck auf andere einzulassen, sich mit anderen abzustimmen, Beruf und Familie irgendwie unter einen Hut zu bringen. Selbstständige Pflegekräfte sind der konsequente Endpunkt der Entwicklung von der Institution zur Individualisierung, von der Gemeinschaftsdiakonie zum Gesundheitsmarkt. Sie vermarkten sich selbst wie andere Anbieter auch. Modularisierung und Digitalisierung der Arbeit kommen ihnen dabei entgegen. Wichtig ist ihnen ein gutes Zeitmanagement und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gerade angesichts der Tatsache, dass in den sogenannten Care-Berufen – in Pflege, Erziehung, Hauswirtschaft – immer noch deutlich geringere Entgelte gezahlt werden als z. B. im IT-Bereich. Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sparen auf diese Weise Personalkosten. Sie rechnen Krankheiten und Urlaube der Festangestellten »runter« und zahlen stattdessen Sachkosten für Zeitarbeitsfirmen und Selbstständige. Dabei brauchen Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen ein hohes Maß an Verlässlichkeit, denn in komplexen Organisationen hängt alles an einer guten Abstimmung zwischen den verschiedenen Diensten und Berufsgruppen. Die Träger leben von der Bereitschaft, dass Mitarbeiter*innen sich einbringen und einfügen. In den Schwesternschaften waren deshalb Loyalität und »Gehorsam« über viele Jahrzehnte Voraussetzung zum Dienst. Wer da ausscherte, zu selbstbewusst oder zu eigenwillig war, blieb nicht lange. Seit aus dem diakonischen Dienst eine Dienstleistung geworden ist, leuchtet vielen der Zusammenhang von Beruf, Berufung und Bekenntnis nicht mehr ein. Der Begriff »Dienstgemeinschaft« ist in Kirche und Diakonie seit vielen Jahren umstritten. Spätestens seit mit Einführung der Pflegeversicherung private Träger die Landschaft der Freien Wohlfahrtspflege verändert haben, sind auch die kirchlichen Träger unter erheblichen Tarifdruck geraten. In der Pflege dominieren die Arbeitnehmer*innen zwar den Markt, können aber – angesichts der gedeckelten Refinanzierung durch die Sozialversicherungen – ihre Lohninteressen kaum durchsetzen. Nicht nur Gewerkschaftsmitgliedern erscheint deshalb die kirchliche Rede von der »Dienstgemeinschaft« beschwichtigend. In den Mutterhäusern der diakonischen Pflege sind an die Stelle der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft längst nüchterne Arbeitsverträge getreten, die Loyalität zu den Unternehmenszielen einfordern – auch von Mitarbeitenden, die keiner christlichen Kirche angehören. Auch in der Jugendhilfe oder in Tageseinrichtungen wird es schwerer, Kirchenmitglieder als Mitarbeitende zu gewinnen. Dabei kann es nicht nur in der Flüchtlingsarbeit, sondern auch in Kinder- und Jugendhilfe sinnvoll sein, Menschen mit Migrationshintergrund und muslimischem Glauben einzu-

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stellen.190 Mit der interkulturellen und interreligiösen Öffnung stehen allerdings die Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts infrage – jedenfalls, was die Besetzung von Leitungspositionen angeht. Säkularisierung und Pluralisierung der Gesellschaft treiben den Prozess voran. Mit zunehmender Vielfalt und wachsenden sozioökonomischen Gegensätzen auch zwischen den Berufsgruppen gilt die Dienstgemeinschaft als überholt. Kritiker*innen erinnern an die Gemeinschaftsideologie des Dritten Reiches mit ihren Zwangsmechanismen. Ohne verlässliche Zusammenarbeit und gemeinsame Werte wird der Einsatz im Sozial- und Gesundheitssektor allerdings auf Dauer mühsam und leer. Auch und gerade Menschen in sozialen, pflegerischen, medizinischen Berufen, die von ihrer inneren Motivation getragen sind, fragen in den aktuellen Umbrüchen nach tragfähigen Beziehungen und ethischer Orientierung. Wie in der gesamten Gesellschaft werden auch und gerade in der säkularisierten Unternehmensdiakonie Religion und Spiritualität wieder zum Thema – nicht zuletzt angesichts der immer komplexer werdenden ethischen Fragen rund um Bioethik, Geburts- und Sterbehilfe. Patient*innen, Bewohner*innen, Mitarbeitende und Träger mit ihren unterschiedlichen kulturellen und religiösen Prägungen sehen sich neu herausgefordert. Eine Untersuchung des Instituts für Diakoniemanagement Wuppertal-Bethel zeigt, dass auch nicht kirchliche und muslimische Mitarbeitende bereit sind, sich mit der diakonischen Prägung eines Unternehmens auseinanderzusetzen, wenn Bewohner*innen und Patient*innen das erwarten und glaubwürdige Führungskräfte und Ankerpersonen in der Mitarbeiterschaft davon überzeugt sind.191 Bei der gemeinsamen Arbeit stehen wir in einer Art »tätigem Gespräch« miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen, sagt der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford.192 Er war mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zurechtgekommen, hatte gekündigt und stattdessen eine Motorradwerkstatt eröffnet. Aus seiner Sicht ist es entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, ist Teil eines umfassenden Bedeutungskreises – es dient einer Aktivität, die wir als Teil des guten Lebens betrachten.193 Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen 190 Mit den Herausforderungen in der Praxis und Modellen bereichernder Zusammenarbeit setzt sich ein Sammelband auseinander: Albrecht, Heidi/Dargel, Matthias/Freitag, Michael/ Giebel, Astrid/Knorr, Wilfried/Lilie, Ulrich/Loheide, Maria (Hg.) (2018): #religionsundkultursensibel. Perspektiven für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in evangelischen Kontexten. Leipzig. 191 Hofmann, Beate (Hg.) (2020): Merkmale diakonischer Unternehmenskultur in einer pluralen Gesellschaft. Stuttgart. 192 Crawford, Matthew (2010): The Case for Working with Your Hands. Or Why Office Work is Bad for Us and Fixing Things Feels Good. New York. S. 16. 193 Crawford 2010, S. 16.

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werden muss, konstituiert die Gemeinschaft, in der wir arbeiten. Auch das ist eine Auslegung der »Dienstgemeinschaft« – ganz am Sinn des gemeinsamen Tuns und dessen Wertegerüst ausgerichtet. So erleben es auch Teams in der Hospizarbeit, deren gemeinsame Arbeit ganz auf das Wohl des*der Sterbenden hin orchestriert ist – jenseits von Hierarchien, Abteilungen, Beruflichkeit oder Ehrenamt. »Der Mensch im Mittelpunkt« – was heute in fast jedem Leitbild steht, war einmal der Anspruch der Gemeinschaftsdiakonie. Aber taugt die Tradition der Schwesternschaften für neue Visionen? Es gibt berechtigte Zweifel. Den meisten Mitarbeiter*innen im Sozial- und Gesundheitssektor dürfte die Vorstellung schwerfallen, dass Gemeinschaft und Arbeitsvertrag in einem Regelwerk gefasst sind, wie das heute noch bei Gestellungsverträgen194 der Fall ist. Zu dieser Tradition gehörte eben auch der Anpassungsdruck. Die Gründer der Schwesternschaften von Theodor Fliedner über Wilhelm Löhe bis zu Friedrich Zimmer waren zudem davon überzeugt, dass Frauen nicht allein für sich einstehen könnten – schon von ihrer Konstitution her seien sie auf Familie und Gemeinschaft angewiesen. So sind die selbstständigen Pflegekräfte tatsächlich der Endpunkt einer emanzipatorischen Entwicklung: Am Anfang standen Taschengeld und Wohngemeinschaften, am Ende Pflegestudium und Tarifvertrag. Eigenständigkeit durchzusetzen, ist gelungen, aber die besondere Wertschätzung der Sorgearbeit ist geschwunden. Und die Entgelte sind noch immer nicht ausreichend. Der Soziologe Heinz Bude spricht sogar von einem neuen Dienstleistungsproletariat.195 Trotz dieser Schattenseiten – die Gründerpersönlichkeiten waren auch innovative Geister. Mit ihrem Engagement antworteten sie auf die sozialen Missstände, die mit der Industrialisierung einhergingen. Mit ihren Angeboten haben sie Familien entlastet, boten Pflege für die Kranken, Erziehung für die Kinder, zugleich aber berufliche Perspektiven und familiäre Netzwerke für unverheiratete Frauen. Sie standen für berufliche Bildung, für ein verbindliches Miteinander im Team, haben Aus- und Rüstzeiten, berufliche Wechsel und Bildungsurlaube eingeführt. Je mehr die Gesellschaft sich spaltet, die Exklusion wächst, der öffentliche Raum schwindet und Familien die Kraft zur Integration verlieren, desto wichtiger wird es wieder, dass diakonische Träger nicht nur auf Einzelne schauen, sondern auch deren persönliche Netzwerke unterstützen – und das nicht nur bei den »anderen«, den Hilfebedürftigen, sondern auch bei den eigenen Mitarbeiter*innen. Und was 194 Ein Gestellungsvertrag wird zwischen einer diakonischen Gemeinschaft und einem diakonischen Träger oder einer Kirchengemeinde geschlossen, um einem Mitglied der Gemeinschaft eine Berufstätigkeit als Pflegende oder als Diakon*in bei einem anderen Träger zu ermöglichen. Die Anstellung verbleibt bei der Gemeinschaft, deren Mitglied der*die Betreffende ist und bei der er*sie sich zum gemeinschaftlichen Miteinander verpflichtet. 195 Bude 2014, S. 84, insbes. Anm. 4.

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die Sorgenetze in den Quartieren angeht, kann sich gerade die Diakonie auf mehr als 180 Jahre Erfahrung stützen. Das niederländische Pflegemodell »Buurtzorg«196 hat in den letzten Jahren Furore gemacht und längst auch in Deutschland Modellstandorte gefunden. Das Unternehmen will Pflegebedürftige dabei unterstützen, so lange wie möglich selbstbestimmt im eigenen Zuhause zu leben, nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Nicht standardisierte Vorgaben, sondern der Wille der Patient*innen stehen im Mittelpunkt – es geht um Hilfe zur Selbsthilfe und die Aktivierung von Angehörigen, Freund*innen und Nachbar*innen. Wie die alten Gemeindeschwester-Stationen sind die Teams lokal in ihrer Nachbarschaft verortet und kümmern sich in einem Umkreis von etwa fünf Kilometern um die ambulante Pflege ihrer Patient*innen. Ein Team besteht bei Buurtzorg aus maximal zehn bis zwölf Mitarbeitenden in Vollzeit oder Teilzeit: examinierten Pflegekräften, Alltagshelfer*innen und Auszubildenden. Das Modell fasziniert auch deswegen so viele, weil es den Mitarbeitenden zutraut, über die individuellen Zeittakte und den notwendigen Sorgeaufwand bei ihren Patient*innen zu entscheiden. Hier eröffnet die digitale Unterstützung Freiräume. In jedem Haus gibt es ein Tablet, auf das Kranke und Angehörige Zugriff haben. »Die aktuellen Anforderungen an soziale Dienstleistungen erfordern eine kommunikative Arbeitsmoral, die Bereitschaft zur Kooperation, eine Verantwortungs- und Entscheidungswilligkeit, die Offenheit für neue Problemkonstellationen sowie die Bereitschaft, kreative Lösungen zu erarbeiten«, heißt es in der EKD-Denkschrift »Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt«.197 »Das gilt auch für den wachsenden Bereich der personennahen Dienstleistungen, speziell bei den Erziehungs- und Pflegetätigkeiten, wobei hier ein hohes Maß an Empathie auf Grund der zwischenmenschlichen Kontakte unabdingbare Voraussetzung des Berufsethos ist. Diese Tätigkeiten sind für die betreffenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer identitätsstiftend, denn sie haben die Möglichkeit, ja sogar die Pflicht, ihre eigene Persönlichkeit in die Erwerbsarbeit einzubringen.«198 196 Buurtzorg o. J. »Buurt« = Nachbarschaft, (Stadt-)Viertel, Nähe; »zorg« = Sorge, Fürsorge, Pflege. 197 Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.) (2015): Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Arbeit, Sozialpartnerschaft und Gewerkschaften. Gütersloh. 198 Evangelische Kirche in Deutschland 2015, S. 30.

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Auch in der Gesundheits- und Sozialbranche hat Digitalisierung die Arbeit erheblich verändert. Hierarchien sind flacher geworden, Kooperationen verändern sich mit den Projekten. Die Arbeitnehmer*innen erleben die neue Technik zum Teil als Chance zu Höherqualifizierung und größerer Freiheit, zum Teil aber auch als Herausforderung, der sie sich nicht immer gewachsen fühlen. Das zeigt eine Umfrage der Berufsgenossenschaft, die auf dem Pflegetag im März 2019 in Berlin präsentiert wurde. Nur ein Fünftel aller Befragten gab an, schon Erfahrungen mit Robotik zu haben. Meist wurden die neuen Techniken und Programme als Überforderung empfunden. Positiv wurden nur Geräte bewertet, die belastende Arbeiten übernehmen.199 In ihrem Buch »Fit for New Work«200 zeichnen die Autorinnen zwei organisationale Trends: »Fluide Unternehmen« – meist in der IT-Branche – und »Caring Companies«, die mit menschennahen Dienstleistungen »an der Front« arbeiten, wo Homeoffice nicht möglich ist. Das gilt auch für Unternehmen der Sozialwirtschaft. Sie haben es mit physischen Phänomenen zu tun, mit Körpern, Räumen, Berührungen. Ihre Fluidität ist begrenzt. Trotzdem arbeiten auch Krankenhäuser und Pflegedienste mit Zeitarbeit, Projektmitarbeitenden und Freelancer*innen und kommen oft nah an die Grenze der Instabilität. Unterschiedliche Zeitpläne, Kulturen, Muttersprachen und Ausbildungsgänge müssen abgestimmt werden. Die Bruchlinien sind meist auf Kante genäht. Die Sehnsucht nach »Kümmerern« und der Wunsch, Caring Communities aufzubauen, haben wohl auch darin ihren Grund. »Buurtzorg«, das Unternehmen, das so viele begeistert, spricht von der »Buurtzorg-Familie«. Im ehemaligen Diakonissenmutterhauses Gallneukirchen wird eine neue Form des »sorgenden Unternehmens« entwickelt – mit Respekt vor religiöser Vielfalt und den ganzheitlichen Interessen der Mitarbeitenden und Klient*innen. Rainer Wettreck, der theologische Vorstand, ist nach vielen Jahren in der Leitung diakonischer Unternehmen zu dem Schluss gekommen, Mitarbeitende und Klient*innen erwarteten heute eine inspirierende persönliche Schnittmenge zwischen ihren eigenen Überzeugungen und der Sinnerfahrung im Unternehmen. Während die Branche von zunehmender Funktionalisierung und Verdichtung geprägt sei, 199 Berufsgenossenschaft für Gesundheits- und Wohlfahrtspflege (Hg.) (2017): Pflege 4.0 – Einsatz moderner Technologien aus der Sicht professionell Pflegender. Forschungsbericht. Hamburg, S. 119. https://www.bgw-online.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medientypen/BGW %20 Broschueren/BGW09-14-002-Pflege-4-0-Einsatz-moderner-Technologien_Download.pdf?__ blob=publicationFile (Zugriff am 12.01.2021). 200 Brandes-Visbeck, Christiane/Thielecke, Susanne (2018): Fit für New Work. Wie man in der neuen Arbeitswelt erfolgreich besteht – Businessmodelle, Work-Life-Balance, Co-Working & Co. München.

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erhofften sie sich eine glaubwürdige Erneuerung ihres »Sorge-Alltags«. Es geht um persönliche und gemeinschaftliche Aufbrüche zu einer »neuen Lebendigkeit«, wie Wettreck das nennt.201 In den traditionellen diakonischen Gemeinschaften war es kaum möglich, die eigene Spiritualität offen einzubringen. Es wurde auch nicht gewünscht. Das OralHistory-Projekt, das die Kaiserswerther Diakonie Anfang der 2000er-Jahre mit Ute Gause202 durchgeführt hat, zeigt: In den stark hierarchisch geführten Häusern war ein bestimmter Frömmigkeitstypus mit den bekannten Geschichten, Bildern und traditionellen Ritualen selbstverständlicher Teil der Organisationskultur. Ihre persönliche Spiritualität hätten die alten Diakonissen nicht beschreiben können, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit ihrem Dienst. In unserer individualistischen, religiös pluralen Gesellschaft ist das anders. Auch diakonische Unternehmen sind bunt und vielfältig, bis hin zur Patchworkspiritualität der einzelnen Mitarbeitenden. Ziel der neuen diakonischen Sorgekultur ist ein Miteinander, in dem verschiedene Erfahrungen und Perspektiven zur Sprache kommen können – rund um das ganzheitliche Wohl der Patient*innen und Bewohner*innen. Gemeinschaft entsteht in diesem Austausch, sie ist Erfahrung und Ergebnis der gemeinsamen Arbeit, nicht Voraussetzung und Funktion einer hierarchischen Organisation. Sie wird im Alltag immer neu Ereignis. Wie die Kirche selbst ist sie nie einfach gegeben, sondern »semper reformanda«.

Das Markenversprechen einlösen – wie Mitarbeitende Diakonie erfahren Interview mit Veronika Drews-Galle Veronika Drews-Galle ist Referentin theologische und ethische Grundsatzfragen im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr. Sie arbeitet zudem freiberuflich als Organisationsentwicklerin.

Sie beschäftigen sich mit Organisations- und Mitarbeiterentwicklung in der Diakonie. Was liegt Ihnen dabei besonders am Herzen? Veronika Drews-Galle: Für mich geht es vor allem darum, Diakonie glaubwürdig zu gestalten, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Viel zu oft habe ich diakonische Unternehmen und Einrichtungen erlebt, die Menschen alle Kraft rau201 Siehe https://www.diakonie.ch/diakoniewerk-gruendet-kompetenzzentrum-fuer-spiritual-­ care/ (Zugriff am 13.01.2021); siehe auch Wettreck, Rainer (2001): »Am Bett ist alles anders« – Perspektiven professioneller Pflegeethik. Münster u. a. 202 Gause, Ute/Lissner, Cordula (Hg.) (2005): Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft. Leipzig.

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ben, anstatt Kraftorte für sie zu sein. Ich habe Mitarbeitende ausbrennen sehen in dem Wunsch, all das zu leisten, was die Strukturen im Hintergrund nicht hergaben oder was die jeweilige Führung nicht als Markenversprechen einzulösen bereit war. Auf diese Weise ist diakonische Arbeit wohl kaum gottgewollt.

Gibt es eine persönliche Erfahrung, die Ihnen den Kern diakonischer Arbeit existenziell vor Augen geführt hat? V. D.-G.: Wenn Diakonie ermöglicht, dass Menschen einander Mitmenschen sind, dann kommt sie aus meiner Sicht ihrem Wesenskern ganz nahe. Für mich wurde dies sehr deutlich, als ich mit damaligen Kolleg*innen auf die Suche gehen durfte nach den Hintergründen einer zunehmend abgekühlt-professionellen Atmosphäre in unseren diakonischen Einrichtungen. Einige Pflegekräfte öffneten sich uns und vertrauten uns an, wie schwer es ihnen falle, in den engen Taktungen des Pflegealltags mit den ihnen anvertrauten Menschen ins Gespräch zu gehen – weil sie Angst hätten, sie anschließend unterbrechen und alleinlassen zu müssen. Wir haben daraufhin das Konzept der Seelsorgekurzgespräche auf die Settings von Pflege und Visite übertragen und angefangen, Interessierte darin auszubilden und zugleich durch verlässliche Partner im Hintergrund zu stützen, die im Zweifelsfall Gespräche weiterführen konnten. Das größte Lob, das wir dafür bekamen, war für mich die Rückmeldung, endlich nach langer Zeit wieder so arbeiten und helfen zu können, wie es der eigenen Motivation und Berufswahl entsprach.

An welchem Ort ist Diakonie für Sie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar geworden und was hat Sie dort fasziniert? V. D.-G.: Im Bugenhagenhaus in der Lutherstadt Wittenberg ist seit nunmehr zehn Jahren eine diakonische Unternehmensakademie beheimatet. Ich durfte miterleben, wie ein tolles Team rund um den theologischen Vorstand Dr. Rainer Wettreck dort einen ganz besonderen Ort der Mitmenschlichkeit, des offenen und kritischen Dialogs und des gemeinschaftlichen Lernens geschaffen hat. Mich hat es zutiefst fasziniert, dass ich von Hochverbundenen und Kirchenfernen, Atheist*innen wie Frommen, von der Hilfskraft bis zur Führungskraft hören durfte, dass dies ein Ort ist, wo Diakonie für sie greifbar wird in der Hinwendung zu anderen Menschen, in diesem Falle in Form eines ganzheitlich ausgerichteten Bildungsgeschehens. Angesichts einer weltanschaulich pluralen Mitarbeiterschaft in der Diakonie halte ich es für entscheidend, eine diakonische Kultur organisational zu verankern und zu stützen, etwa durch klare Rollen, Rituale und Regeln, durch Raum und Zeit

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für das Diakonische und durch eine im diakonischen Sinne kohärente Gesamtstrategie und gezielte Investitionen. 203

3.5 Fragmente der Vergangenheit – Impulse für morgen? Als in England die Krankenhäuser wegen Corona überbelegt waren, haben Flugbegleiter*innen und Pilot*innen von Virgin, Norwegian, SAS und BA, die im Shutdown arbeitslos geworden waren, eine neue Firma gegründet, die »First Class Care«. In den Krankenhäusern des National Health Service, die am meisten von der Krise betroffen waren, richteten sie Clubräume mit bequemen Sesseln ein, um Ärzt*innen, Pflegende und Physiotherapeut*innen zu verwöhnen. Eine Stunde freundliche Rundumversorgung mit Kaffee, kalten Getränken und Wellnessmassage. »Wir tun, was wir gelernt haben«, sagte eine Stewardess im Interview. »Wir haben ja trainiert, Menschen zu verwöhnen und zu beruhigen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie wirklich etwas Besonderes sind. Ein strahlendes Lächeln bewirkt eine Menge.« »Wingman« hieß das Projekt mit einem Begriff aus dem Militär: Er steht für das Flugzeug, das Geleitschutz gibt.204 An eine Krankenhauswand in London zeichnete der Künstler Banksy einen kleinen Jungen, der mit einer Schwesternpuppe spielt – während Superman und Barbie im Papierkorb verschwanden. Als in der Coronakrise klar wurde, dass Pflege systemrelevant ist, wurden die neuen Held*innen von den Balkonen beklatscht. Eine Coronazulage wurde angekündigt, lange politisch verhandelt und dann zunächst nur den Altenpfleger*innen gezahlt. Bei vielen war anschließend der Frust größer als zuvor. Erst die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst bildeten die Anerkennung annähernd ab. Ich habe oft überlegt, was das Image dieses Berufs so zerstört hat. Ist das Sinnversprechen nicht eingelöst worden? Wurde die Motivation zum Helfen an den verschiedenen Fronten ausgebeutet? War die Gemeinschaft in Pflegeorden und Schwesternschaften zu rigide? Liegt es an der Veränderung von Gesellschaft, Familien und Geschlechterrollen? Als in den 1960er- und 1970er-Jahren die Entwicklung zum modernen Wohlfahrtsstaat begann, wurden die Rechtsansprüche des Einzelnen an die sozialen Sicherungssysteme formuliert. Jetzt ging es um soziale Gerechtigkeit, nicht zuerst um Barmherzigkeit. Soziale Einrichtungen erhielten eine auskömmliche 203 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=4617 (Zugriff am 16.12.2020). 204 Siehe https://www.projectwingman.co.uk/ (Zugriff am 13.01.2021).

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Deckung der Selbstkosten und die soziale Arbeit wurde professionalisiert. Was das bedeutete, haben wir am Beispiel der Gemeindeschwester gesehen, die bis in die 1960er-Jahre Sozialarbeiterin, Seelsorgerin, Pflege- und Hauswirtschaftskraft in einer Person war, mit Gestellung vom Mutterhaus repräsentierte sie die diakonische Gemeinde, ohne Wochenende und Vertretungsmöglichkeiten. Spätestens, als in den 1970er-Jahren die Sozialstationen entstanden, dachte niemand mehr, dass eine Schwesternschaft nötig wäre, um Kranke zu pflegen. Pflege wurde von einem diakonischen Amt zu einem weltlichen Beruf. Trotzdem arbeiten bis heute Diakonieschwestern mit Gestellungsverträgen in Krankenhäusern und Altenzentren von Einrichtungen der Diakonie, der Caritas und der Kommunen. Sie haben den Anspruch, ihre Arbeit gemeinschaftlich zu gestalten – mit eigenen Aus-, Fortbildungs- und Mentoring-Angeboten, mit gemeinsamen Reflexionstreffen und Andachten. Allerdings stellen sie in der Regel nur einen Teil der Mitarbeiterschaft in einem Haus. Für Organisationsentwicklung und Kulturveränderungen ist aber Beteiligung am Leitungshandeln und strategische Personalentwicklung nötig. Es geht darum, mit Bildungsangeboten »Zeitinseln« zur Unterbrechung des Alltags und dem Zur-VerfügungStellen von Räumen einen hilfreichen Rahmen zu schaffen, um Gemeinschaft und Zusammenarbeit zu stärken. Was können die Mitglieder einer Gemeinschaft dazu beitragen, wenn sie nur noch eine Minderheit sind? Wie verstehen sie sich und wie werden sie gesehen? Als Anwälte der Sterbenden und ihrer Angehörigen? Als Bildungsträger? Als exklusive Gruppe mit besonderer Haltung oder als Nische für die, die gern etwas zusammen unternehmen? Oder als Hort des Widerstands gegen eine unmenschliche Vermarktlichung? Vor einiger Zeit hörte ich von Mitarbeitenden einer Intensivstation, die über viele Jahre als stabiles Team zusammengearbeitet hatten. Als sich ihr Arbeitsverständnis nicht mehr mit den Anforderungen der Geschäftsführung deckte, entschlossen sie sich, gemeinsam in eine andere Klinik zu wechseln. Beim Lesen fiel mir auf, dass ich so etwas noch nie von einer diakonischen Gemeinschaft gehört hatte. Sind die Zeiten vorbei, in denen die Schwesternschaften die Macht hatten, die Häuser durch eine Rückzugsdrohung zu verändern? Oder vermeiden sie Konflikte, weil sie eng mit den Trägern verbunden sind oder selbst Träger waren? Ohne Intensivteam kein Operationssaal. Was aber fehlt, wenn eine christliche Gemeinschaft fehlt? Am Ende des Professionalisierungsweges in der Pflege, unter dem ökonomischen Druck wächst der Wunsch nach Sinnerfahrung und Erfüllung im Beruf, nach freundschaftlichen Beziehungen und verlässlicher Zusammenarbeit am Arbeitsplatz. Menschen suchen persönliche Entwicklung in Bildungs- und Sabbatzeiten. Es geht um Haltung, Ethik und Spiritualität. Gerade in sozialen Berufen

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will man ernst machen mit dem Slogan, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Assistenzdienste, Case Management, die Orchestrierung um die Leidenden und Sterbenden in der Palliativarbeit zeigen die Richtung. Und die Freiwilligenbewegung wächst – in den Quartieren und auch in den Unternehmen. Wohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser, Stadtteilarbeit und Sorgende Gemeinschaften gewinnen an Bedeutung. Das alles ähnelt den Anfangsideen der neuzeitlichen Diakonie. Gemeinschaften als Wahlfamilien und integrative Quartiersarbeit waren der entscheidende Gegentrend zu Industrialisierung, gesellschaftlicher Spaltung und Überlastung von Familien. Die »Netzwerke der brüderlichen Liebe«, wie Wichern sie nannte, entstanden zugleich mit den Produktions- und Handelsketten der Industrialisierung. Dabei spielte wirtschaftliches Denken immer eine Rolle. Eine Finanzierung aus Sozialkassen gab es schließlich noch nicht. Umso größer musste das unternehmerische Geschick sein. Nur waren es eben nicht die Kassen, sondern Grundstücke, Landwirtschaft, Handwerksbetriebe und Fundraising, die ökonomische Sicherheit boten. Und vor allem die Schwestern mit ihrer unentgeltlichen Arbeitskraft. Aber nur in wenigen Städten der sich rasant ausbreitenden »Mutterhausdiakonie« ist es wie in Hamburg oder Straßburg gelungen, den Genossenschaftscharakter wirklich zu leben und auch Frauen in die Leitung zu bringen. Auch heute ist es eine Ausnahme, wenn – wie in Speyer – eine Diakonisse Vorstandssprecherin eines großen Gesundheitsunternehmens ist. »Gemeinschaft in Christus, Gemeinschaft mit dem Nächsten, Gemeinschaft untereinander« – das alte Schwesternschaftsmotto fasziniert und passt doch nicht mehr zu unserem Lebensgefühl. Vielleicht liegt es daran, dass das Selbst fehlt, das im Dreieck von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe seinen Platz hat. Zu lange wurde Hingabe als Selbstverleugnung und Unterwerfung unter Gottes Willen gedeutet – und der Gehorsam gegen Gott mit dem Gehorsam gegenüber der Institution gleichgesetzt. Seit den Umbrüchen Ende der 1960er-Jahre sind aber Selbstverwirklichung und Selbstsorge nicht mehr tabu. Nach Jahrzehnten des Verzichts und des Gehorsams rückte endlich die Freiheit nach vorn. Denn Freiheit und Engagement, Nächsten- und Selbstliebe gehören zusammen. Von Diakonissen »in eigenverantwortlicher und beweglicher Gestaltung der Gemeinschaft, in überschaubaren Gruppen wie in den Kommunitäten«, sprach damals die Betheler Diakonisse Dr. Liese Höfer, die viele mit ihrer Bildungs- und Seelsorgearbeit begeisterte und die Erneuerung vorantrieb.205

205 Gause 2019, S. 97.

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»Die Welt von morgen wird aus den Fragmenten der Vergangenheit gemacht« schreibt Erwin Panoswky206. Lange habe ich geträumt, dass es noch einmal gelingen könnte, die Idee einer selbstbestimmten, freien Form von Sorgegemeinschaften umzusetzen. Kleine Schritte in diese Richtung hat es gegeben: So haben sich die verschieden Gemeinschaften von Diakonissen des Henriettenstifts und Diakonieschwestern des Friederikenstifts in Hannover zur »Diakovere«-Schwesternschaft zusammengeschlossen, in Speyer wurden nach einer neuen Ausbildungsreihe junge Schwestern und Brüder des Diakonissenhauses Speyer-Mannheim eingesegnet, im Betheler Haus der Stille trifft sich die »Sarepta«-Gemeinschaft mit Frauen aus vielen unterschiedlichen Berufen und im Rauhen Haus wird sehr bewusst für den Eintritt in die Gemeinschaft der Diakon*innen geworben, seit die Zugehörigkeit nicht mehr verpflichtend ist.207 »Hier ist kein Thema zu profan, keines zu heilig. Ich habe für mich keinen anderen Ort gefunden, von dem ich das so sagen könnte«, schreibt Ivan Ledin.208 In einem Change-Workshop des Evangelischen Diakonievereins BerlinZehlendorf schlug 2015 ein Berater vor, ein bundesweites Sorgenetzwerk zu gründen, um einander zu stärken und politisch Einfluss zu nehmen. Heraus aus der Ohnmacht, die viele Pflegende empfinden hin zu einer couragierten zivilgesellschaftlichen Bewegung. »Sisters of Soul« sollte das Netzwerk heißen. Pflegende, Sozialarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen, Geschäftsführer*innen sollten dazu gehören, die für gemeinsame Ziele kämpfen: die Stärkung der Pflege, die Öffnung der Heime, die Einbeziehung von Zugehörigen, ein menschenwürdiges Sterben, die Integration von Geflüchteten und Menschen mit Behinderung, die Unterstützung von Familien. Dazu Treffpunkte mit Bildungsangeboten, Mentoring- und Coaching-Möglichkeiten, die die Seele stärken. Denn »Sisters of Soul« achten darauf, dass sie stark bleiben – auch für sich selbst. Ein solches Netzwerk könnte den Kern einer Gegenwelt bilden. So wie Familien bei allen Zerreißproben eine Gegenwelt zur Ökonomisierung in Wirtschaft, Schule, Sozialsystemen bilden. Einen Raum des offenen Austauschs, der Solidarität und der Vergewisserung. Soziale Professionalität braucht diese Räume, um Selbstreflexion und Beziehungsfähigkeit zu entwickeln. Wo Menschen Orte finden, über die eigenen Leidenserfahrungen zu sprechen, kann Empathie wachsen. Solche Erfahrungen machen eine tiefe und krisenfeste Zusammenarbeit überhaupt erst möglich. Und diakonische Arbeit braucht Zusammenarbeit und Gemeinschaft – mit Patient*innen bei der Heilung, mit Kolleg*innen auf den Durststrecken, mit 206 Horx 2020, S. 12. 207 Siehe das Diakonen- und Gemeindepädagogengesetz der Nordkirche von 2019: https://pti. nordkirche.de/fileadmin/user_upload/hauptbereich1/PTI/7_426.pdf (Zugriff am 16.12.2020). 208 Der Bote, Zeitschrift der Diako*innengemeinschaft des Rauhen Hauses, Juli 2020, 18.

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Freund*innen bei der Bewältigung des schwer Erträglichen und auf der Suche nach spirituellen Kraftquellen. C. Otto Scharmer209 hat sich mit der Frage beschäftigt, wie wir in Zerreißproben unsere Aufmerksamkeit neu ausrichten und zu einer neuen Offenheit finden. An Beispielen stellt er dar, wie wichtig es ist, einen physischen und zeitlichen Ort zu finden, an dem die Teilnehmer*innen eine persönliche Beziehung zueinander aufbauen und gemeinsam neue Möglichkeiten entdecken können. Wie bei einer Zukunftskonferenz kann ein einziger Tag den entscheidenden Anstoß geben. Diese Fähigkeit zur Präsenz will eingeübt werden. Scharmer berichtet in diesem Zusammenhang vom »Circle of Seven« – von kleinen Gruppen, die sich regelmäßig treffen, um einander zuzuhören und sich gegenseitig zu unterstützen. Mit einer Gruppe von sechs Personen fängt es an, der siebte Platz bleibt frei. Er symbolisierte die Leerstelle, mit der das Neue beginnt, die Überraschung, die alles verändern kann, das Unbewusste, das zur Sprache kommen will. Den freien Platz am Tisch kennen wir aus den Traditionen und Texten der Religionen: Er ist frei für den wiederkehrenden Elia, den auferstandenen Jesus, den unverfügbaren Gott. Wie in vielen Supervisionsgruppen beginnen die Gruppentreffen beim »Circle of Seven« mit einer Stille, in der sich alle Beteiligten neu verorten. Mich erinnert das an die Gemeinschaft der Quäker*innen, die Stille und Gebet allem voranstellen – im Warten auf das innere Licht, das uns den Weg weist. Zwischen den gemeinsamen Treffen nehmen die Gruppenmitglieder sich Zeit, einander persönlich zu begleiten. »Ich glaube, dass die personale und die Persönlichkeitsebene eine Vorbedingung ist. Wenn keine persönlichen Anliegen im Wege stehen, dann entsteht eine Möglichkeit gemeinsamen Handelns. Wenn wir einmal zusammen über einen gewissen Punkt hinübergekommen sind, dann entsteht eine gemeinsame Zuhörfähigkeit, die einen zum Teil eines größeren Ganzen werden lässt, die einen bescheiden macht […]. Darin unterscheidet sich die Qualität unseres gemeinsamen Gesprächs von einem rein intellektuellen Gespräch«.210 Das ist wohl der Grund, weshalb viele Veränderungsprozesse in Organisationen und Netzwerken – auch in der Kirche – auf solche informellen Gruppen zurückgehen. Gruppen, in denen mehr stattfindet als ein intellektueller Austausch oder strategische Planung. 209 Scharmer 2008, S. 151. 210 Scharmer 2008, S. 165.

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Wie man solche ganzheitlichen Prozesse moderiert, darum geht es Barbara von Meibom in ihrem Institut für Führungskunst »CommUnio«. Sie will Führungskräfte dabei unterstützen, »die eigenen Macht- und Gestaltungspotenziale zu erkennen, zu würdigen, zu entfalten und eine Synthese von Macht und Liebe zu wagen«211. Dabei gründet sie ihre Arbeit auf die Führung aus der Mitte, auf Empowerment, »Unity in Diversity«, »Community Spirit« und »Convivialität«.212 Wir müssen die diakonischen Gemeinschaften nicht neu erfinden. Sie werden längst neu erfunden. In solchen Coachings für bewusste, achtsame Führungskunst, in den »Circles of Seven«, in »Sorgenden Gemeinschaften« von Haupt- und Ehrenamtlichen in Mehrgenerationenhäusern und Nachbarschaften, in Altenzentren und Hospizen. In den Datschen der internationalen Gärten, wo ­Migrant*innen miteinander kochen. In den »Tischgemeinschaften« der Älteren im Gemeindehaus. An den Kaffeehaustischen in den Quartiersläden. In Selbsthilfegruppen, Trauergruppen und genossenschaftlich getragenen Dorfläden. In den Wohngemeinschaften von Demenzkranken und ihren Angehörigen. In Nachbarschaften und Quartieren – an all diesen Orten ist eine Bewegung im Gang, die die effektiv gesteuerten Sozialunternehmen aufs Beste ergänzt, mit Empathie und Begeisterung und vielen neuen Ritualen. In Kaiserswerth, wo ich sechs Jahre Vorsteherin war, leben viele der älteren Diakonissen in sogenannten Feierabendhäusern. Das Konzept glich bis vor Kurzem dem der heutigen Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser: offene Gemeinschaften mit einem Hauswirtschaftsangebot, einem Hausmeisterdienst und der Möglichkeit, sich selbst zu versorgen und ambulante Pflegeleistungen zu bekommen. Schön zu sehen, wie viele Jüngere aus der Gemeinschaft, aber auch aus der Mitarbeiterschaft, dorthin zu Besuch kamen und sich Rat und Unterstützung holten. »Wenn ich selbst nicht zum Einkaufen kam«, sagte mir eine jüngere, berufstätige Schwester, »dann kaufen meine Feierabendschwestern für mich ein.«213 Denn am Leben der Jüngeren Anteil zu nehmen und sie, wo möglich, zu unterstützen, ist für die allermeisten alten und auch sehr alten Menschen ein zentraler Lebensinhalt. Hannah Arendts Begriff der Mitverantwortung214 stellt den Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Fürsorge her, aus dem die neuen Sorgenden Gemeinschaften leben. Unsere eigene Lebensgestaltung ist eingebettet in von Ver211 Meibom, Barbara von (o. J.): Meine Vision. https://www.communio-fuehrungskunst.de/ (Zugriff am 16.12.2020). 212 Meibom o. J. 213 Morgenstern, Wolfgang/Icking, Carina (2016): Einfach Gott helfen. Hg. v. Kaiserswerther Schwesternschaft. Oberhausen. 214 Arendt 2013.

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antwortung geprägte Beziehungen – das beginnt in den Familien und wird in Alter und Pflegebedürftigkeit noch einmal deutlich erkennbar. Mitverantwortlichkeit nimmt die Angewiesenheit des Menschen ernst und sucht das Glück des Lebens nicht nur in sich selbst. Sie bleibt auf andere und den öffentlichen Raum ausgerichtet und ist insofern immer auch politisch. Wer sich engagiert, gewinnt neue Beziehungen und eigene Netzwerke, Lebensvertiefung und soziale Kompetenzen. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat gezeigt: Menschen, die sich in Gruppen engagieren, entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen, eine positive Grundeinstellung in der Begegnung mit anderen – auch gegenüber Fremden und Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten und Milieus.215 Sich mit Angehörigen und mit ehrenamtlichen Initiativen zu vernetzen und auf diese Weise neue Impulse ins Gemeinwesens zu geben, ist durchaus eine Zukunftsoption für die alten Gemeinschaften, die damit ein Stück der Gemeindeschwesterntradition wieder aufnehmen können. Gerade in den Diakonissenhäusern, die wie in Münster oder Frankfurt ihre Krankenhäuser aus wirtschaftlichen Gründen in größere Gesellschaften eingebracht haben, wird die Quartiersarbeit neu entdeckt. Die Häuser öffnen sich für Bildungsangebote, bauen ihre Gästehäuser aus, schulen Ehrenamtliche als Demenzbegleiter*innen oder bieten Hauswirtschaftsdienste an. Die Feierabendhäuser der älteren Diakonissen haben sich zum Teil für Seniorenwohngemeinschaften geöffnet, andere haben Mehrgenerationenhäuser gebaut. Eine Schwesternwohngruppe in Münster nahm 2015 eine schwangere Geflüchtete auf und begleitete sie in Erwartung des kommenden Babys über den Sommer auf Weihnachten zu. Die Trennung von den hochspezialisierten Gesundheitseinrichtungen und funktionalen Aufgaben kann also für die alt gewordenen Gemeinschaften auch eine Entlastung sein. Hier und da werden sie wieder zu den Sorgenden Gemeinschaften der Anfänge, die bisher ungedeckte Bedarfe wahrnehmen, ohne die Hilfe sofort in ökonomischen Gewinn ummünzen zu müssen. Wo dann die Zusammenarbeit mit den diakonischen Dienstleistern gelingt, können sie die regionale Sorgekultur gemeinsam weiterentwickeln.

Gastfreundschaft und Tischgemeinschaft Interview mit Günter Tischer Günter Tischer ist Diakon in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Geistlicher Begleiter der Rummelsberger Brüderschaft.

215 Putnam, Robert D. (Hg.) (2001): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gütersloh.

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Was ist für Sie der Kern diakonischer Gemeinschaften? Wo erleben Sie Spiritualität in der Diakonie? Günter Tischer: Ich würde das mit den Worten der Einladung zum Abendmahl beschreiben: »Sehet und schmecket, wie freundlich der Herr ist.« Ersetzt man dabei die gluten- und nahezu geschmacksfreie Hostie durch ein schmackhaftes Brot und deckt den Tisch gemeinsam mit Menschen, die hier Zuflucht suchen, die keinen Ort zum Wohnen haben – und vielleicht auch mit den Speisen, die sie mitbringen –, dann ist er wirklich mitten unter uns. Für mich geht Diakonie von dieser Art des Tisches aus, der nicht reglementiert ist in »würdig« und »nicht würdig«, nicht dogmatisch festgelegt nach Konfession oder Status der Person. Sondern der ein Tisch ist, an dem insbesondere die »von den Hecken und Zäunen« ihren Platz finden und haben.

Was würden Sie in Ihrem Arbeitsumfeld räumlich ändern, wenn Sie die Freiheit und Mittel dazu hätten, damit die Arbeit, die Ihnen am Herzen liegt, noch besser gelingt? G. T.: Ein Einkehrhaus für Menschen, die eine »Auszeit« brauchen, wäre ein Traum: Eine Selbstversorgerküche mit großem Esstisch wäre das Zentrum. Dazu ein Raum für Stille und Gebet. Ein paar einfache Zimmer, die ohne großen Aufwand, ohne Bürokratie und Anträge zu beziehen wären, und natürlich gäbe es für die Gäste des Hauses das Angebot von Begleitung. Wir haben solche wunderbaren Orte in unserer Landeskirche zum Beispiel am Schwanberg bei der er Communität Casteller Ring. Ich würde gerne so etwas Ähnliches auch bei uns in Rummelsberg haben. Aber wenn es hier nur die »Berufsdiakoniker« gäbe und die abgeschlossenen Häuser und Strukturen – die »Anstalten«, wie es früher hieß –, dann wäre das zu wenig. Ich finde es gut, dass es inzwischen ein »Gemeinwesen« im Ortsteil Rummelsberg gibt. Hier wohnen nicht mehr nur Menschen, die Mitarbeiter*innen der Rummelsberger sind oder in einer der Einrichtungen betreut werden. Sondern der Diakonieort Rummelsberg ist dabei, sich weiter zu öffnen: einerseits durch die Angebote auf dem Wohnungsmarkt, andererseits auch durch Angebote auf dem Freizeitmarkt wie den Hochseilgarten, das Diakoniemuseum und die Gastronomie.

Günter Tischer ist nicht allein mit seinen Überlegungen zu kontemplativen Angeboten der diakonischen Gemeinschaft. Einige der Schwesternschaften sind ähnliche Wege gegangen. Je größer der Druck in den Pflegediensten, desto mehr wuchs die Sehnsucht nach gemeinschaftlicher Spiritualität. Es geht um Vertiefung und Vergewisserung angesichts zunehmender Säkularisierung, um den Horizont, unter dem die Mitglieder der Gemeinschaft sich als Schwestern und Brüder

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erfahren können. Dietrich Bonhoeffers Überlegungen zur »Sanctorum Communio«216 waren besonders der Nachkriegsgeneration eine Hilfe. Im Hintergrund stehen die Erfahrungen aus Finkenwalde, wo Bonhoeffer zwischen 1935 und 1937 das Predigerseminar der Bekennenden Kirche leitete – als ein »Bruderhaus« mit sechs bis zehn Theologen, eine evangelische Kommunität mit festen Zeiten des Austauschs, des Gebets und des Rückzugs. Heute, in einer pluralen und individualistischen Gesellschaft geht es um das Spannungsfeld von Vertiefung und Öffnung, von Gemeinschaft und Vielfalt, um »Unity in Diversity«. Schon seit Langem ist deshalb der Blick nach Taizé gerichtet, wo Roger Schutz eine ökumenische Bruderschaft aufgebaut hat, die mit ihren Weltjugendtreffen bis heute weite Kreise zieht. Oder auf die Arche-Gemeinschaften, die 1948 von Lanza del Vasto gegründet wurden und in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenleben. Und auch auf die Wohn- und Lebensgemeinschaft der Frauen um Madeleine Delbrêl, die sich in Frankreich seit den 1930er-Jahren gemeinsam mit den Arbeiterpriestern sozialpolitisch engagierte – als säkulare spirituelle Gemeinschaft ohne Ordensregel. »Christen, die nur unter sich leben, haben keine Ahnung, wie das Christentum auf Menschen wirkt, die nicht glauben; das lässt sie einander fremd werden. […] Deshalb scheint es vor allem notwendig zu sein, die Christen – oder zumindest einen Teil davon – dahin zu bringen, dass sie geschwisterlich mit den Nichtchristen leben. In diesen kleinen Gemeinden versuchen wir miteinander, diejenigen zu verstehen, die das Licht des Glaubens nicht haben«, schreibt Madeleine Delbrêl.217 In den Spannungsfeldern von Kirche und Spiritualität, Gesellschaft und Politik bemühen sich alle diese Gemeinschaften, Grenzen zu überschreiten und verschiedene Lebensstile und Lebenserfahrungen auf ihrem Glaubensweg zusammenzuführen. In seinem Buch »Wenn ich wir sage« fragt der Schriftsteller Michael Köhlmeier, was eine Gemeinschaft konstituiert – am Beispiel einer persönlichen Schlüsselszene:

216 Bonhoeffer, Dietrich (2005): Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, hg. v. Joachim von Soosten. München. 217 Delbrêl, Madeleine (2015): Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße. Ein Lesebuch. Hg. v. Annette Schleinzer. 2. Aufl. Oberpframmern, S. 175.

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»Und dann sagte der Mann am Bahnhof in Lindau, der mich an seine kratzende Wange gedrückt hatte: ›Jetzt sind wir endlich wieder eine Familie.‹ Ich, vier Jahre alt, machte meinen Diener und sagte: ›Mein Name ist Michel Köhlmeier.‹ Ich wollte zu dem Wir, von dem mein Vater sprach, nicht gehören.«218 Köhlmeier geht dem vorgegebenen Wir der Familie nach, der Zugehörigkeit nach »innen« wie der Abgrenzung nach »außen«, und fragt, wie dieses Wir definiert wird. Dabei unterscheidet er zwischen dem Wir der Herrschaft, das uns zu uniformierten Mitläufer*innen machen kann, und dem Wir der Freiheit, das Verschiedene integrieren kann – in einem Team, einem Chor oder bei einem gemeinsamen Spiel. Auch der Organisationsberater Klaus Doppler unterscheidet in seinem Buch »Die Logik der Anderen« verschiedene Bedeutungen des »Wir«, das er einen »edlen Deckel auf einem undurchsichtigen Topf« nennt: Die unverblümte Vereinnahmung, die verdeckte Vereinnahmung, das Einschwören gegen einen gemeinsamen Feind und die freundliche Einladung. Ihm und seiner südafrikanischen Ko-Autorin Luyanda Mpahlwa geht es darum, wie man lernt, Andersheiten zu akzeptieren und freundliche Brücken zum*zur anderen hin zu bauen – eine Herausforderung, die die »Regenbogennation« seit gut 25 Jahren übt.219 Auch die Öffnung von Kirchen und Diakonie ins Gemeinwesen ist ein Weg von der »Abgeschlossenheit« zur »Vielfalt«, vom Wir einer »geschlossenen Gemeinschaft« zum »Miteinander der Verschiedenen«, vom vorgegebenen Wir einer In­ stitution zu dem Wir, das in gemeinsamer Erfahrung entsteht. Das ist der innere Weg, den diakonische Gemeinschaften wie Kirchengemeinden in Zukunft zu gehen haben. Was meinen wir, wenn wir »wir« sagen? Wer spricht von »meiner Gemeinde«, wer von »unserer Gemeinde«, wer einfach von »der Kirche«? Das Gespräch mit denen, die die Gemeinde verlassen haben, ist oft der erste Schritt, zu verstehen. Die alten diakonischen Gemeinschaften haben die Ausgetretenen nie gefragt, sie haben sie nicht einmal in ihre Fürbitte eingeschlossen, sondern die Burg geschlossen – vielleicht auch ein später Reflex auf die Erfahrungen im Nationalsozialismus. So wurde die Gemeinschaft eng, der Zwang zur Anpassung wuchs, ganz ähnlich wie in den Gemeinden, die heute oft unter »Milieuverengung« leiden. Wo das geschieht, lassen wir zu, dass biblische Texte, Traditionen und Rituale immer weniger Menschen bekannt werden, während viele nur noch Alltagswüsten erleben, ein »spirituelles Elend«220. 218 Köhlmeier, Michael (2019): Wenn ich wir sage. Wien, S. 74. 219 Doppler, Klaus/Mpahlwa, Luyanda (2020): Die Logik der anderen. Warum wir Andersheiten akzeptieren und verstehen müssen, um zukunftsfähig zu sein. Frankfurt a. M. u. a., S. 121. 220 Delbrêl 2015, S. 170.

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Das Wir des christlichen Glaubens aber bleibt welt- und zukunftsoffen wie Gott selbst in der trinitarischen Gemeinschaft von Vater und Mutter, Bruder und Sohn und der Geistkraft, die in der Gemeinschaft lebt. Die neuen Namen für die drei Personen der einen Gottheit zeigen, wie der Dialog alle verändert.

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 rte und Geschichten – was die Kirche O zur Gemeinschaft beitragen kann

4.1 Gemeinschaften brauchen einen Ort Wo während des Lockdowns die Kirchentüren offenblieben, boten sie Heimat, Trost und Geborgenheit und zugleich ein Gefühl von Weite. In der leeren Kirche sitzen, im Chorraum vielleicht, die Schönheit einatmen und die Geschichte spüren, die der Raum erzählt, und warten, die Leere aushalten – das kann auch auf einen neuen Anfang vorbereiten. Gerade zu Ostern haben das viele so erlebt. Einige Gemeinden haben Kerzentische aufgestellt, Gebetszettel und Andachten ausgelegt und eingeladen, die Kirchen einmal wie ein Museum zu begehen.221 Das Taufbecken erinnert an die Generationen, die ihr Leben hier unter dem Segen Gottes begonnen haben. Die alten Grabsteine erzählen davon, dass auch das Ende des Lebens gesegnet sein kann. Und vor dem Altar fallen einem all die Menschen ein, die hier gekniet haben, um sich die Hände auflegen zu lassen – bei Konfirmationen, Trauungen, Einsegnungen. Im Lockdown waren all diese Rituale nicht möglich. In den Fernsehgottesdiensten gab es wunderbare Musik und gute Predigten und doch hatte ich gelegentlich das Gefühl, auch da in einem musealen Raum zu sein. Die Lichter, die auf den Bänken flackerten, die Bilder von Mitgliedern der Ortsgemeinde erinnerten schmerzhaft an die fehlende Gemeinschaft. So wie der leere Petersplatz, auf dem der Papst auf dem Höhepunkt der Krise vor dem Pestkreuz betete. Leer – und zugleich gefüllt mit Sehnsucht und Leid. »Könnte es sein, dass in der erlittenen Abwesenheit Gottes neu aufgeht, wie nahe er uns ist – aber nicht als ›Stück‹ Welt, nicht als Gegenstand unserer Erfahrung oder bloß unseres Wünschens«, fragte Gotthard Fuchs in »Christ in der Gegenwart«: »Nicht als Nothelfer, sondern als das Gegenüber, das unsere Leere teilt?«222 221 Z. B. mithilfe sogenannter Actionbounds, Erlebnistouren mit dem eigenen Smartphone. Siehe u. a. http://erlebnistourleinesolling.mozello.de/ubersicht/region-uslar/johanniskirche-uslar/ (Zugriff am 05.01.2021). 222 Fuchs, Gotthard (2020): Hochfahren. Mystik im Alltag. Christ in der Gegenwart, 20/2020, 5.

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»Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir unsere Projekte, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt haben, die unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen.«, sagte Papst Franziskus in seiner Ansprache am 27. März 2020.223 Der Prager Theologe Tomáš Halík hat dafür plädiert, die leeren Kirchen als Symbol einer kirchlichen Leere zu begreifen, eine Anfrage Gottes darin zu sehen.224 Angesichts der Kirchenleitungsbriefe und Gemeindedebatten um Schutzmaßnahmen in den Gottesdiensträumen kann man durchaus kritisch fragen, ob die Kirchen dieselbe Energie aufgebracht haben, als es um Schutzmaßnahmen in Pflegeeinrichtungen ging, wo Menschen zum Teil ohne Begleitung sterben mussten. So vielen Angehörigen blutete das Herz vor den verschlossenen Türen der Heime. Ursprünglich waren es gar keine Kirchen, in denen sich die christlichen Gemeindegruppen versammelten. Die Apostelgeschichte und auch die Paulusbriefe erzählen, dass man sich in Privathäusern traf und dort auch das Abendmahl feierte. In Jerusalem ging man in den Tempel, anderswo in eine Synagoge. Wie die Philosophen traf man sich in Schulen, Sportstätten und Bädern – später auch an den Gräbern in den Katakomben. Ein heiliges Kirchengebäude jedenfalls brauchte man nicht – heilig ist die Gemeinde.225 Die Menschen sind das Heiligtum, wie Clemens von Alexandria sagt. Auch Taufen konnten vorgenommen werden, wo gerade Wasser war. Erst im dritten Jahrhundert entstanden feste Gottesdiensträume, Holztische dienten als Abendmahlstisch, hervorgehobene Stühle als Platz für Prediger und Bischöfe. Neben dem Geschirr für die Mahlgemeinschaft wurde in der Sakristei gelegentlich auch Kleidung für die Armen gelagert.226 Gottesdienst, Gemeinschaft und Diakonie gehören eng zusammen. »Für mich ist Diakonie in der Hannah-Kapelle sichtbar und erfahrbar geworden«, sagt Gabriele Oest, Seelsorgerin bei »Diakovere« in Hannover: 223 Papst Franziskus (2020a): Außerordentliches Gebet am 27. März 2020 in Zeiten der Coronakrise. https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/papst-franziskus-ausserordentliches-gebet-am-27-maerz-2020-in-zeiten-der-coronakrise (Zugriff am 16.12.2020). 224 Theologie Aktuell (2020): Leere Kirchen als ein »Zeichen Gottes« – Tomáš Halík plädiert für ein »radikal erweitertes« Kirchenverständnis. 06.04.2020. https://www.uni-erfurt.de/katholisch-theologische-fakultaet/fakultaet/aktuelles/theologie-aktuell/leere-kirchen-als-einzeichen-gottes-tomas-halik-plaediert-fuer-ein-radikal-erweitertes-kirchenverstaendnis (Zugriff am 12.01.2021). 225 Leppin, Hartmut (2018): Die frühen Christen. Von den Anfängen bis Konstantin. München, S. 123. 226 Leppin 2018, S. 130.

Gemeinschaften brauchen einen Ort

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»Dort habe ich einen großen Teil meiner Arbeitszeit im psychoonkologischen Bereich verbracht: Habe Seminare, Gesprächskreise, Onko-Frühstücke, Oasen- und Basteltage für Patientinnen des Brustzentrums gestaltet; habe Räume eröffnet, die Geborgenheit und Sicherheit vermitteln, die Vertrauen und Offenheit ermöglichen. Dadurch konnten viele Patientinnen trotz ihrer Krebsdiagnose das innere Gleichgewicht wiederfinden, neue Wege wagen, dem Sinn des Lebens nachspüren und ihren Frieden finden. Patienten, die erstmals die Hannah-Kapelle betreten, sind ganz angetan von der Ruhe und der Freundlichkeit, von dem Geist in diesem Raum. Sie spüren: Hier darf ich mich zeigen, wie ich bin – mit meinen Ängsten und Sorgen, mit meiner Verzweiflung und Wut, mit meinen Tränen; aber auch mit meiner Freude und Hoffnung. Ein Ort, wo ich mir selbst und den anderen offen begegnen darf, der stärkt und zum Wiederkommen einlädt […] Neben der Hannah-Kapelle gibt es viele andere spirituelle Orte der HenriettenStiftung wie den Salemsfriedhof in Kirchrode, die Mutterhauskirche in der Marienstraße und die 270 Jahre alte Blutbuche im Garten. Alles Orte, die einladen zum Verweilen. Sie vermitteln einen Eindruck von vergangenen Tagen und wechselvollen Zeiten und von dem, wie es heute ist.«227 Mir ging es so mit dem alten Gartenhäuschen in Kaiserswerth, wo Theodor und Friederike Fliedner 1832 zwei strafentlassene junge Frauen aufnahmen. Das war die Wurzel der Diakonissenanstalt, die sich bald schon weltweit ausbreitete. Als ich vor Jahren in Kaiserswerth arbeitete, kamen immer wieder Gruppen, um den Ort zu entdecken – Schulklassen, Pflegende und Gemeindegruppen. Sie besuchten das Gartenhäuschen und den Diakonissenfriedhof, das Mutterhaus und das Torhäuschen mit den kleinen Laden »Eigenart«. Eigentlich waren das geführte Pilgerreisen, so habe ich es oft empfunden. Denn für viele sind diese alten diakonischen Einrichtungen heilige Orte. Sie verkörpern Gemeinschaftserfahrungen. Viele sprechen von »durchbeteten Räumen«. Es waren Orte, wo Menschen Schutz und Hilfe suchten, aber auch die Chance, über sich hinauszuwachsen. Diakonie und Caritas sind weit mehr als eine Dienstleistung, mehr auch als eine Beziehung zwischen Menschen. Damit Menschen heil werden, durchatmen und neue Kraft tanken können, spielt auch der Raum eine Rolle. Die alten Stiftungen wie Kaiserswerth, die Henriettenstiftung in Hannover, die von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel oder das Rauhe Haus in Hamburg haben fast immer wunderbare Parks. Und die alten Krankenhäuser mit ihren Spitzbögen sehen ein bisschen aus wie 227 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=2639 (Zugriff am 16.12.2020).

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Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

Kirchen – vielleicht eine Erinnerung an die mittelalterlichen Klöster, wo die Kranken zuerst gepflegt wurden. »Eine Zeitlang habe ich gedacht, dass diese Welt vergeht«, sagte mir eine Diakonin: »Die großen Heime wurden aufgelöst, die Krankenhäuser brauchten gute Technik, die Kirchen füllen sich nicht mehr. Aber noch immer ist die Ausstrahlung der Räume wichtig – der Sternenflur im Kinderhospiz, der Labyrinthgarten im Bildungshaus oder der gedeckte Tisch. Der alle einlädt.«228 Die Orte, auch die heiligen Orte der Gemeinschaft, verändern sich. Dabei haben sie bis heute unterschiedliche Funktionen. Es gibt die Aussichtspunkte, von denen aus wir unsere Welt aus der Vogelperspektive neu deuten – bei einer Konfirmation in der Kirche genauso wie bei einem Zukunftstag im Unternehmen. Groß und offen müssen sie sein, solche Plätze. Daneben gibt es die Höhlen – Schutzräume wie die Hannah-Kapelle in Hannover –, die wir besuchen, um uns zu verkriechen und aufzutanken. Und schließlich die Lagerfeuer, an denen wir uns treffen, Erfahrungen austauschen und Geschichten erzählen wie am gedeckten Tisch. Für die Stuttgarter Pfarrerin Friederike Weltzien ist die Gemeindeküche ein diakonischer Ort. Im Herbst 2015 wurde im Ort die Turnhalle mit hundert Flüchtlingen belegt. Da öffneten sie die Türen der Gemeinderäume und es stellte sich heraus, dass das größte Bedürfnis der Menschen war, selbst Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt. Also wurde jeden Dienstag für achtzig bis neunzig Leute gekocht. »Die Hilfsbereitschaft war groß, Gelder mussten gesammelt werden, die Lebensmittel eingekauft und die Tische gedeckt und dann auch wieder alles abgeräumt, gespült und gesäubert werden. In der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Aber gerade da entwickelten sich die intensivsten Kontakte auch ohne Sprachkenntnisse. Inzwischen ist es selbstverständlich geworden. Es wird immer noch regelmäßig syrisch gekocht, besonders in der Zeit des Ramadans werden gemeinsame Essen zum Fastenbrechen gefeiert. Es freute mich, wie unsere Mitglieder des Freundeskreises festlich gekleidet zum ersten Fastenbrechen kamen und welch fröhliche 228 Coenen-Marx, Cornelia (2017): Auftanken! Diakonie Orte als Kraftquelle. Deutschlandfunk, 17.09.2017. https://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/am-sonntagmorgen/auftanken-9053 (Zugriff am 12.01.2021).

Gemeinschaften brauchen einen Ort

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Stimmung entstand. Auf einmal werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und vor allem erlebt.«229 Auch in anderen Gemeinden ist die Küche zum heimlichen Zentrum geworden. So wie meiner Nachbarschaft, wo alleinstehende Rentner*innen zweimal die Woche einen gemeinsamen Mittagstisch haben. Auch da wird reihum gekocht. Und zwischendurch trifft man einander beim Einkaufen, hilft sich auch mal im Alltag, ruft sich an. Leider sind unsere Küchen oft nicht so ausgestattet, dass viele darin arbeiten können – und eher selten haben solche Gruppen einen Schlüssel zum Gemeindehaus. Das wären allerdings gute Voraussetzungen, um nicht mehr nur Gäste zu sein. Ganz wie der Apostel Paulus sagt: »So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.« (Epheser 2,19) Aber wie die Kirchen waren auch die Gemeindeküchen in Coronazeiten geschlossen. Stattdessen wurden die Kirchplätze wiederentdeckt und die Gärten. Orte unter freien Himmel, Räume, die offen sind für Begegnung auf Abstand, offen auch für Vorübergehende. Auf dem Stiftungsgelände des Rauhen Hauses ist ein Teich am zentralen Ort. Claudia Rackwitz-Busse, die Leiterin der Diakon*innengemeinschaft in der Hamburger Traditionseinrichtung erzählt: »Regelmäßig begegnen sich hier die betreuten Menschen, die Mitarbeitenden, die Bewohnerinnen des Altenheims, Studierende der Hochschule. Sie staunen im Frühjahr über die ersten Entenküken, genießen, auf den Bänken sitzend, die Sonne und den Augenblick. Sie sind alle Rauhhäusler und Teil dieser diakonischen Einrichtung. Dieses Miteinander ›en passant‹ auf Augenhöhe gefällt mir ganz besonders. Ich wäre nicht Rauhhäusler Diakonin, wenn ich nicht von den Kraftworten Johann Hinrich Wicherns begeistert und motiviert wäre. Seine Entscheidung, vor über 180 Jahren, an die Orte zu gehen, an denen Not entsteht, wie im Gängeviertel in Hamburg, war bahnbrechend. ›Wenn die Leute nicht zur Kirche gehen, muss die Kirche zu den Leuten gehen‹, war sein Motto. Er schuf Räume, in den Menschen sich entwickeln konnten«230 Während der Pandemie haben viele Gemeinden Pfarrgärten, Flüsse und den Strand neu entdeckt. Draußen konnte man sich begegnen, ja sogar singen, ohne 229 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=2972 (Zugriff am 16.12.2020). 230 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=2014 (Zugriff am 16.12.2020).

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Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

Angst zu haben vor der Verbreitung von Aerosolen. Draußen konnte man den aufbrechenden Frühling beobachten, den Nestbau der Vögel, die Aufzucht der Jungen. Das ganze Habitat, die Lebensgemeinschaft kleinster und größerer Geschöpfe von Pilzen und Insekten bis zu den Katzen aus der Nachbarschaft. Eine Wirklichkeit, mit der wir zutiefst verbunden sind – oft, ohne uns darüber klar zu sein. Viele hat erst das unsichtbare Virus wieder an die eigene Geschöpflichkeit erinnert. Nun lässt sich bei den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde auch Glauben neu entdecken. Das Gottesdienstinstitut am Michaeliskloster in Hildesheim startete im Sommer 2020 eine Internetaktion mit dem Hashtag »#GehAusMeinHerz« und sammelte auf Instagram Schöpfungsbilder und Geschichten aus der ganzen Republik. Was viele Gemeinden längst von Himmelfahrtsgottesdiensten und Bergfesten wussten, war wieder zu erleben: Auf dem Kirchplatz und im Kirchgarten kann man dazukommen, eine Weile stehenbleiben und dann auch weitergehen, ohne zu stören. Kein Wunder, dass schon im Sommer 2020 geplant wurde, im Corona-Jahr auch die Weihnachtsgottesdienste draußen zu halten: auf den Straßen und Plätzen der Stadt, im Stadion oder im Winterwald. Und tatsächlich konnte man Weihnachten 2020 eine bunte Vielfalt erleben: Neben gestreamten Gottesdiensten vor leeren Kirchbänken gab es Krippenwege durch die Stadt, Christvespern mit Posaunen auf den Kirchplätzen und »Stille-Nacht-Gesänge« vor den kerzengeschmückten Häusern. Mit dem Weihnachtsliedersingen im Stadion ist ja längst ein neues Adventsritual entstanden. 2019 war das Aachener Tivoli mit 26.000 Teilnehmer*innen ausverkauft, in Köln 45.000 Karten in acht Stunden. Kirche ist häufig nicht die einladende Institution, aber sie kann sich einbringen – zum Beispiel beim Lesen der Weihnachtsgeschichte. »Mit ihren Liedern und dem Schatz ihrer Geschichten ist sie ja längst dabei, aber ihr ›gehören‹ weder die Lieder noch die Geschichten zur Weihnacht«, schreibt Steffen Bauer.231 Am neuen Ort findet nun beides eine neue, große Gemeinschaft. Solche Orte heißen jeden willkommen – nicht nur Mitglieder oder Beitragszahler*innen. Sie sprechen nicht nur »Trostbedürftige« an, wollen nichts verkaufen. Es sind offene Plätze, an denen sich Neues entwickeln kann. In Filsum in Ostfriesland betreibt die Gemeinde eine Fahrradpumpstation mit einem Fahrradflickzeugautomaten. Hintergrund ist die Tatsache, dass es in Filsum überhaupt keine Orte der Begegnung mehr gibt. Aber Filsum liegt an der Fehnroute, eine große Zahl von Fahrradtourist*innen fährt durch den Ort. Die Pumpstation, verbunden mit einer Klönsnackbank, ist ein erster Anlaufpunkt für Einheimische und Tourist*innen, um ins Gespräch zu kommen. Auch der Gesprächstisch der 231 Bauer, Steffen (2020): Ermöglichen. Kirche im Jahr 2030. Kamen, S. 48.

Dritte Orte – Gemeinde im Quartier

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Düsseldorfer Telefonseelsorge kann zum Begegnungsraum werden: ein Klapptisch mit Campingstühlen auf dem Wochenmarkt, davor ein Plakat, das in Corona­ zeiten zum Gespräch einlädt. Und auch die Kirchenbank, die Ehrenamtliche in Witten auf den Marktplatz stellten, ist so ein offener kirchlicher Ort, ein Anker der Erinnerung im öffentlichen Raum. Wenn die Kirchen vielen fremd sind, für andere zum Museum geworden, dann geht es darum, Gott einen Ort in dieser Welt zu sichern, sagt Madeleine Delbrêl – mit unserem eigenen Glauben und Leben.232 Unsere »Welt, die uns Heimat war«, verändert sich, wie der Hannoversche Landesbischof Ralf Meister sagt.233 Dabei können wir uns von den Anfängen inspirieren lassen: Es gibt wieder Wohnzimmerkirchen und Wohnwagenkirchen, Taufen am Fluss und Seelsorge auf Reisen – wie bei Paulus, Lydia und dem Kämmerer aus dem Morgenland. Und daneben die wunderbaren alten Kathedralen, die nicht nur von der Zivilgesellschaft, sondern auch von Künstler*innen wiederentdeckt werden. Als Räume der Stadtgesellschaft, Orte der Gemeinschaft, Häuser der Ewigkeit. So schenkte Gerhard Richters Glaskunst in Tholey vielen eine Idee davon, was es heißt, dass ein Licht von außen unser »Innen« erleuchtet. Solche Orte sind keine unbeschriebenen Blätter – sie haben immer schon eine Bedeutung, sprechen uns an und fordern uns heraus. Es geht darum, unsere Umgebung wahrzunehmen und dann ins Gespräch zu kommen.

4.2 Dritte Orte – Gemeinde im Quartier Noch immer sind die Kirchen markante und prägende Gebäude im Stadtbild, die Schläge der Kirchturmuhr und der Klang der Glocken gehören zum akustischen Raum und die Silhouetten der Dome sind Symbole ihrer Stadt. Sie verkörpern Heimat – wie die Frauenkirche in München, der Hamburger Michel, der Dom in Köln, die Dresdner Frauenkirche. Sie gehören allen, die dort leben, und schlagen eine Brücke über die Zeiten, erzählen von Zerstörung und Wiederaufbau und von der Kraft der Zusammengehörigkeit. Als 2020 nach der furchtbaren Explosion in Beirut alle Glocken läuteten und die Muezzine sangen, wurde diese Kraft spürbar. 232 Schleinzer, Annette (2018): Gott einen Ort sichern. Impulse aus der Begegnung mit Madeleine Delbrêl. feinschwerz.net Theologisches Feuilleton. https://www.feinschwarz.net/gott-einenort-sichern-impulse-aus-der-begegnung-mit-madeleine-delbrel/ (Zugriff am 19.01.2021). 233 Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers (2020): Bischof Meister: »Eine Zeit des Exils«. https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/wir-ueber-uns/landessynode/tagung_26_03/berichte_26_03/bischofsbericht (Zugriff am 12.01.2021).

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Vor 30 Jahren stand ich mit einer Gruppe rheinischer Theolog*innen im Osten Londons vor einer verrammelten Kirche. Der Bischof war der Meinung, sie werde nicht mehr gebraucht und sei längst zu teuer geworden. In dem globalisierten Viertel mit Menschen aller Ethnien und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war, trafen wir engagierte Bürger*innen, die für ihre Kirche kämpften. Die meisten lebten längst anderswo – aber hier waren sie getauft und getraut worden, hier hatten auch ihre Kinder den Segen bekommen. Hier waren sie wer und gehörten dazu.234 Es hat nur wenige Jahre gedauert, bis ich ein Déjà-vu erlebte: in DuisburgBruckhausen, wo im evangelischen Kindergarten längst überwiegend muslimische Kinder spielten und lernten, während die Zahl der Kirchenmitglieder zurückging. Die wenigen aber, die – meist in prekären Verhältnissen– noch im Stadtteil lebten, fühlten sich von ihrer Kirche im Stich gelassen, als die Gemeinde mit einer anderen fusioniert wurde. Die Unzufriedenheit mit »denen da oben« wuchs. In Großbritannien hat man aus dieser Erfahrung gelernt. Im Coronajahr 2020 unterstützt die britische Regierung die katholische Kirche beim Erhalt ihrer Kirchengebäude – vor allem in den Armutsquartieren. Was vor 30 Jahren in England und Holland begann, ist also längst bei uns angekommen: Kirchen werden geschlossen, verkauft und umgewidmet: zu Restaurants und Nachbarschaftszentren, zu Synagogen oder Moscheen, zu Wohnungen und Kletterhallen. Und es kann gut sein, dass sich der Prozess »nach Corona« noch beschleunigt. Weil während der Krise Steuern verloren gingen und der Anteil der Mitglieder an der Bevölkerung weiter zurückgeht, vielleicht aber auch, weil der Gottesdienstbesuch über die Monate verzichtbar geworden ist. Gewohnheiten werden brüchig nach langer Zeit. Auch der »Krautsaal« in Wuppertal- Heckinghausen war nichts Besonderes – nur ein Saal mit einer wunderbaren, modernen Beleuchtung und variablen Stühlen und Tischen. Aber ich wurde dort konfirmiert. Und ich denke gern an die Agapefeiern in den 1960er- und 1970er-Jahren. 2018 wurde der Krautsaal verkauft und dient jetzt als Mietobjekt – für Wohnungen und Events, aber auch für eine Tanztruppe und eine italienische Gemeinde. »Nicht viel anders als früher«, dachte ich beim Lesen des Gemeindebriefs. Da sagt Herr Carl, der neue Besitzer, in einem Interview, ihn bewege die starke Bindung vieler Menschen an das Gebäude. Offenbar hatte er damit nicht gerechnet. Denn es ist auch sonst viel los in dem alten Arbeiterviertel, seit die Wuppertal-Bewegung den nahen Gaskessel zum 234 Der Besuch unter Leitung von Klaus Teschner galt damals den ersten Schritten der fresh expressions of church (Fresh X) und der church-in-the-city-Bewegung in der Church of England, die in diesem Dokument knapp beschrieben wird: http://gemeinsam-kirche-sein.de/christus/ fresh-expressions-of-church/ (Zugriff am 12.01.2021).

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Kultur- und Sportpark mit Gastronomie umgebaut hat. Und die Gemeinde – hatte sie damit gerechnet? Anderswo brachten Kirche und Diakonie schließlich selbst die Kraft auf, ihre Immobilien zu Gemeinwesenzentren umzubauen und sie zu öffnen – auch für Events und Tanzgruppen. Nicht weit vom »Krautsaal« entfernt wurde die Wichlinghauser Kirche zu einem Zentrum der Wuppertaler Diakonie, dem »WiKi«, in dem auch Gottesdienste und Gemeindegruppen Platz haben. Gemeinde im Diakoniezentrum, die Diakonie in einer alten Kirche – ich finde, das passt in jeder Hinsicht. Kirchliches Clubleben oder Abgeben, das muss nicht die Alternative sein. »Ich beobachte, dass wir unsere kirchlichen Räume öffnen müssen, um wirksam zu werden als diakonische Orte in unserer Gesellschaft. Unser Gemeindezentrum wird in ein Stadtteilzentrum umgewandelt werden, damit die Räume für alle Bevölkerungsschichten zugänglich werden. Es besteht eine hohe Kinderarmut in unserem Stadtteil, ein Viertel der Kinder unter sechs Jahren leben unter der Armutsgrenze und es gibt verschiedene Bevölkerungsgruppen, die kaum in Kontakt zueinander kommen (Leute aus der türkischen Kultur, der italienischen, spanischen, griechischen, der deutschen natürlich und jetzt Flüchtlinge vor allem aus Syrien). Es hat sich ein Lenkungskreis aus allen im Ort vertretenen sozialen Einrichtungen gebildet, um ein Konzept für ein solches Zentrum zu erarbeiten. Die Kirche gibt ihre Räume auf, damit sie nutzbar werden für den eigentlichen Sinn und Zweck kirchlicher Räume, indem sie sich der gesellschaftlichen Not stellt.«, sagt Friederike Weltzien, die mit der Gemeindeküche begann, die Kirche auch für Geflüchtete zu öffnen.235 Der indische Theoretiker Homi K. Bhabha hat das Konzept des »dritten Raumes« entworfen, eines Ortes, der keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben ist, an dem sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. Dritte Räume sind leicht zugänglich und offen, die Teilnahme kostet nichts. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis gegen Ende des letzten, als die Volkskirchen im Quartier verwurzelt waren, waren Gemeindehäuser solche dritten Räume. Heute werden sie oft als halb leer stehende Clubhäuser wahrgenommen. Wo sie aber den frei gewordenen Raum mit anderen Gruppen im Quartier teilen–

235 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=2972 (Zugriff am 16.12.2020).

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mit Sportvereinen, einem diakonischen Dienst oder einer Beratungsstelle – oder sie an Bürgervereine vermieten, da entsteht neues Leben. Die Aufbrüche der Diakonie im 19. Jahrhundert gingen vom Quartier aus und führten ins Quartier zurück – von Fliedners Gemeindeschwestern bis zu Wicherns Entwicklung eines neuen Wohnquartiers in Hamburg-St. Georg. Dann aber führte die Entwicklung des Sozialstaats über die Anstaltsdiakonie zur fallbezogenen Dienstleistung. Damit verbunden war ein Blick auf die Defizite, der zwischen Hilfebedürftigen und Helfer*innen unterschied und zur Exklusion führte. Bis heute spiegelt sich das in der Trennung von Kirche und Diakonie, auch wenn alle Betroffenen Kirchenmitglieder sind. Die Klient*innen diakonischer Dienstleistungen fehlen oft in der Gruppengemeinde vor Ort – das gilt für Hartz-IV-Empfänger*innen genauso wie für Alleinerziehende, für Menschen mit Behinderung, für Hochbetagte und Demenzkranke. Wenn die »Mitte der Gesellschaft« schrumpft und die Mittelschicht-Gottesdienstgemeinde kleiner wird, werden die Gebäude und Liegenschaften als überdimensioniert wahrgenommen – dabei sind sie ein Schatz für die diakonische Neugestaltung der Stadtteile. Und auch die Institution der Ortsgemeinde mit ihrer langen Geschichte und Verankerung im Stadtteil hat mehr zu geben, als Kirche selbst oft noch weiß. Kirchengemeinden verfügen über Daten und lokales Wissen, über ein Frühwarnsystem für soziale Umbrüche. Sie können Ideenentwicklerinnen, Impulsgeberinnen, Pionierinnen sein, Initiatorinnen von oder Beteiligte an den Netzwerkprozessen, verlässliche und kontinuierliche Kooperationspartnerinnen. Und sie verfügen über Immobilien, Gebäude und Liegenschaften – insgesamt ein immenses Kapital, das oft nur noch als Belastung empfunden wird. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, die Kirchen wieder in den Sozialraum zu öffnen. Vielleicht zuerst das Denken zu öffnen – und dann die Zentren mit anderen Gruppen, Organisationen und Vereinen gemeinsam zu unterhalten. Inzwischen gibt es eine Fülle von Modellen. Kirchen werden zu Gemeinwesenzentren, inklusiven Hotels oder niedrigschwelligen Cafés. Konzert- oder Kulturräume in der Nachbarschaft entstehen, aber auch Hochzeitskirchen mit Hotel oder Diakoniekirchen wie Heilig Kreuz in Berlin-Kreuzberg. In der Lukaskirche in Kiel begann der Umbauprozess mit Menschen aus der Gemeinde und Interessierten aus befreundeten Vereinen und Institutionen, in der Kreuzkirche Ludwigsburg zusammen mit einem Architektenteam. So entstanden differenzierte Nutzungskonzepte – zum Teil gemeinsam mit der Diakonie oder anderen Betreibern. Manchmal müssen wir uns selbst in Erinnerung rufen, welches kulturelle und welches soziale Kapital Gemeinden mitbringen – nicht nur an Räumen, sondern auch an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen – für die Gemeinde, vor allem aber für die Menschen in der Nach-

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barschaft. Gemeinwesendiakonie hat Konjunktur. Auf der Plattform »Kirche findet Stadt«236 werden verschiedene Modelle vorgestellt.237 Es lohnt sich, die Nachbarschaft einmal aus der Perspektive der anderen zu sehen. Eine New Yorker Journalistin hat das getan. Ein ganzes Jahr lang hat sie jede Woche einen Stadtspaziergang mit einer fremden Person gemacht. Sie war unterwegs mit einer älteren Dame mit Rollator, mit einem Architekten und mit einem zweijährigen Kind. Sie hat einen blinden Mann begleitet und einen Arzt, der ihren Blick für das Befinden der Entgegenkommenden schärfte. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie ihre Stadt neu entdeckte. Inzwischen gibt es Kirchenvorstandsmitglieder und Gemeindegruppen, die sich selbst auf den Weg gemacht haben, den Sozialraum zu erkunden – mit Fotos, Filmen und Interviews. Hier und da entstanden Stadtpläne, die von solchen Prozessen erzählen: In meiner ehemaligen Gemeinde in Mönchengladbach-Wickrath haben Ehrenamtliche im »Gemeindeladen«, dem dortigen Quartierszentrum, an einem Stadtplan für Ältere gearbeitet – auch mit Blick auf Rollatoren und Rollstühle. Und in Nürnberg hat eine Kirchengemeinde einen Stadtplan für Familien herausgegeben – da findet man die Tageseinrichtungen und Spielplätze, die Kinderärzte und die kinderfreundlichen Restaurants und auch die Gemeinden mit ihren Familiengottesdiensten und Winterspielplätzen. Das Amt für Gemeindedienst der Ev.-Luth. Kirche in Bayern hat als Unterstützung die »Fragetasche« entwickelt, die dazu einlädt, nach den Interessen und der Arbeit anderer zu fragen und den Sozialraum als Gelegenheit für Beziehungen wahrzunehmen. Gelegentlich führt das zur Einladung neu entdeckter Kooperationspartner*innen in den Kirchenvorstand. In der Fragetasche findet sich auch ein Kartenset, mit dem sich Einzelne auf den Weg machen können, ihr Quartier mit neuen Augen zu sehen und zu gestalten238 – so wie es Stephanie Quitterer mit ihrer Besuchsaktion getan hat.239 Seit den 1990er-Jahren ist in den Human- und Naturwissenschaften die Rede vom »Spatial turn«.240 Und auch Gemeinden schauen wieder auf den Raum – auf die Häuser und Nachbarschaften, die Bauvorhaben und die Verkehrsentwicklung. Wenn die Bürger*innen bei der Planung Ausgangspunkt sind, dann 236 Siehe http://www.kirche-findet-stadt.de/ (Zugriff am 16.12.2020). 237 Vgl. auch Wegner, Gerhard/Lämmlin, Georg (Hg.) (2020): Kirche im Quartier: Die Praxis. Ein Handbuch. Leipzig. 238 Kartensett GOTT.VOLL – 40 Tage aufmerksam durch den Alltag. https://www.freshexpressions.de/fresh-x-gestalten/gottvoll/ (Zugriff am 16.12.2020) 239 Siehe Quitterer 2016. 240 Wurden Organisationen, Einrichtungen, aber auch Staaten bis dahin vor allem historisch und soziologisch gedeutet, spielen nun die Rahmenbedingungen des Raums und der Geografie wieder eine zentrale Rolle. Es geht wieder um die Einbettung einer Kirche in die Landschaft oder um Geopolitik.

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werden Gemeinden sich nicht nur an Finanzstrategien orientieren, sondern an deren Bedarfen und den zentralen Aufgaben. Peggy Mihan, die sich in Cottbus für die »Haltestelle« der Herrnhuter Brüdergemeinde engagiert hat, hob in einem Bericht des Vorstand des Klosters Frenswegen in Nordhorn 2018 hervor, dass sich der Missionsbegriff im 20. Jahrhundert gewandelt habe und dass es statt der individuellen Bekehrung um Dialog, Hilfe und bedarfsorientiertes Handeln gehe.241 Ihr geht es immer darum, den Blick von unten einzuüben, an der Seite der Nachbar*innen mit ihren Verletzungen und Lebensbrüchen. Erst einmal nur da sein und versuchen, herauszufinden, was nötig sein könnte. In dem Maße, in dem die Kirche gesellschaftlich an Einfluss verliert, muss sie lernen, nicht immer nur Hausherrin zu sein, sondern immer öfter Dienstleisterin für andere. Gerade in den schrumpfenden Dörfern und den prekären Stadtteilen, wo andere Träger sich zurückziehen und öffentliche Orte privatisiert werden, geht es darum, Räume und Verantwortung zu teilen und so die Zusammengehörigkeit zu stärken. Im Ringen um die Zukunft der Gebäude geht es um das Spannungsfeld zwischen der gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit von Kirchengemeinden und ihrer Erkennbarkeit von Kirche als »Salz der Erde und Licht der Welt« (Matthäus 5,13 f.). In Gelsenkirchen-Hasselt hat die Kirchengemeinde einen Bürgerverein gegründet und das Gemeindehaus zum Bürgerzentrum aus- und umgebaut: das »Bonni«, wie die Konfirmand*innen das Dietrich-Bonhoeffer-Haus schon immer nannten. Hier sind inzwischen neben Altenclubs und Sportverein auch muslimische Gruppen zu Hause und zu den Sponsoren gehören auch Wirtschaftsunternehmen. Die Kirchengemeinde ist nach wie vor heimisch im »Bonni«, auch weil sie den Umbauprozess selbst gestaltet hat und einer ihrer ehemaligen Pfarrer Vereinsvorsitzender ist. Gleichwohl gibt es ehemals kirchliche Gemeinwesenzentren, in denen die Gemeindegruppen sich noch immer fremd fühlen und in ihrer Traurigkeit vergessen, dass der Gottesdienstraum längst zu groß war für die klein gewordene Gemeinde. In der Protestantischen Kirche in den Niederlanden (PKN) werden diese Fragen seit einigen Jahren diskutiert. An 250 Pionier-Kirchplätzen werden neue Gemeindeformen erprobt. Dahinter steht die Grundüberzeugung, dass das Gemeindeleben diverser werden muss, weil auch unsere Gesellschaft sich diversifiziert – und dass die Kirche gerade dann ihre Zukunft hat, wenn sie sich mit anderen verbündet. Entwickelt haben sich Gemeinwesenzentren im Quartier, die mit ihren Läden, Spielplätzen, Mittagstischen viele ansprechen. Manche sprechen vom »Klein Jerusalem«, dem Modell einer neuen Stadt. Bei der Evaluation nach fünf Jahren, im April 2020, auf der Synode der PKN zeigte sich allerdings, wie viel 241 Siehe https://foerderverein-kloster-frenswegen.de/?page_id=2580 (Zugriff am 12.01.2021).

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noch unklar ist. Dazu gehören die Fragen nach den kirchlichen Ämtern und der Gemeindeleitung. So war auch die Rolle der ordinierten Pfarrer*innen unklar. Am Ende entschied die Synode, dass auch Diakon*innen und Kirchenvorsteher*innen taufen und das Abendmahl austeilen sollten – weil sie nah dran sind am Alltag der Quartierszentren. Da ergibt sich das Abendmahl aus der Tischgemeinschaft. Und die Taufe wird wieder zum Bekenntnis der Zugehörigkeit.242 Denn, davon sind auch in der anglikanischen Kirche viele überzeugt, in der nachchristlichen Gesellschaft führt die Richtung nicht mehr vom »Believing« zum »Belonging« sondern umgekehrt: »Vom Behaving zum Belonging zum Believing«.243 Auch in der evangelischen Gemeinde Lindlar füllte sich die Kirche auf dem Hügel, die erst nach dem Krieg gebaut worden war, nicht mehr wie früher. Viele Gemeindemitglieder waren älter geworden, sie brauchten Hilfe, um das Haus zu verlassen. Es fehlten alternsgerechte Wohnungen, Haushaltshilfen, aber auch ein Ort der Begegnung zwischen den Generationen. So entschied sich der Kirchenvorstand für einen radikalen Neuanfang: Das Pfarrhaus wurde abgerissen und ein Teil des Landes verkauft. In Zusammenarbeit mit einer kirchlichen Wohnungsbaugenossenschaft wurden barrierefreie Wohnungen errichtet. Von dem erzielten Gewinn wurde das Jubilate-Zentrum errichtet – ein Treffpunkt der Generationen. In das Wohnprojekt zog ein Pflegedienst ein und Freiwillige organisierten einen Bürgerbus. Mit Hilfe des Kuratoriums Deutsche Altershilfe wurde ein Aufzug in der tiefer gelegenen Einkaufszone realisiert, denn in Lindlar wurde Quartierspflege geradezu exemplarisch umgesetzt. Das Konzept hat nicht nur die Gemeinde neu belebt, es hat auch ihren Einfluss in der Kommune gestärkt, den diese nun für die Entwicklung zur alternsgerechten Stadt nutzt. Das Verhältnis der Kirchengemeinden zu Kommune und Zivilgesellschaft verändert sich. Einerseits begreifen sich die Gemeinden vor Ort ganz selbstverständlich als Teil der Zivilgesellschaft. Sie kooperieren, konkurrieren aber auch mit anderen Vereinen und Initiativen, wenn es etwa um Ehrenamtliche oder um Fördergelder geht. Dabei gerät leicht aus dem Blick, wie stark Kirche und Diakonie als Träger von Einrichtungen, Diensten, Ehrenamtsgruppen noch immer sind – wahrscheinlich sind etwa die Hälfte aller Engagierten im weiten Umfeld der Kirchen aktiv. Auch die Chancen, die Kirche als öffentlich-rechtliche Institu242 Siehe TROUW am 26.04.2019: Kerkeligk pionieren in cafe oder hiuskamer, Verdieping. (Es handelt sich um eine Beilage der niederländischen Tageszeitung Trouw am angezeigten Tag.) 243 »The Word on Fire Institute«, geleitet von Weihbischof Robert Barron, Erzdiözese Los Angeles. Belonging, believing, behaving ist das traditionelle Motto dieses katholischen Instituts. Ich setze seit 2016 dagegen »Vom Behaving zum Belonging zum Believing: Coenen-Marx, Cornelia (2016a): Die Glut unter der Asche neu entfachen, Vortrag am 19.05.2016. https:// www.seele-und-sorge.de/?page_id=2094 (Zugriff am 12.01.2021).

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tion im Blick auf Stadt- und Hilfeplanung hat werden oft unterschätzt – genauso wie die relative Stabilität der steuerfinanzierten Einnahmen und die Ressourcen an Immobilien, Grundstücken und Personal.244 Aus all dem entsteht eine Spannung zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung. Alten »Privilegien« wie zum Beispiel festen Plätze in städtischen Ausschüssen stehen neuen Abhängigkeiten der Sozialwirtschaft gegenüber, nach denen die Kirchen Anbieterinnen im Wettbewerb sind wie andere auch. Mit starrem Blick auf erodierende Mitgliedschaft und den kommenden Verlust an Einnahmen und Ressourcen und dabei blind für die eigenen Vorzüge und Privilegien gehen Gemeinden oft nicht proaktiv mit den Herausforderungen um. Und tatsächlich ist nach der Studie der Universität Freiburg damit zu rechnen, dass die Kirchen schon 2035 10 Millionen Mitglieder weniger haben werden, wenn es nicht gelingt, auch in den jüngeren Generationen neue Mitglieder anzusprechen. Eine innovative, gemeinwesenorientierte Strategie lebt davon, dass Gemeinden den Kontakt zu denen verbessern, die sie bislang vorrangig als Klient*innen der Diakonie wahrgenommen haben – genauso wie zu den vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen, den Alzheimernetzwerken, den Eltern von Kindern mit Behinderung, den Initiativen gegen Armut und Ausgrenzung. Da fehlt es nicht an Engagement und Gestaltungsideen, aber auch nicht an Verzweiflung. Wie wäre es, wenn die Kirchen die »Schwachen« in der Gesellschaft nicht länger nur als Kunden der Diakonie, sondern auch »als spirituelles Zentrum der Gemeinden« wahrnehmen, fragt Reimer Gronemeyer.245 Möglicherweise geht das nicht ohne Konflikte ab. Auch wo Gemeinden sich mit außerkirchlichen Trägern und Initiativen vernetzen, stoßen sie gelegentlich auf Enttäuschungen und Ablehnung. Aber überall, wo sich Menschen für Bürgerbusse, in Wohnungsgenossenschaften oder bei der Freiwilligen Feuerwehr engagieren, bei der Handwerkerschaft oder in Elternräten und Sportvereinen, finden sich auch engagierte Christ*innen. Die verfasste Kirche ist nur eine Akteurin im pluralen Gemeinwesen und für viele auch nur noch eine Form des organisierten Christseins. »Wir müssen dazu fähig sein, uns von bestimmten alten Bildern zu befreien, die uns glauben machen, dass die Kirche so sichtbar sein müsste wie der Staat oder eine politische Insti244 Im Vergleich zu anderen »zivilgesellschaftlichen Freiwilligenorganisationen« in Sport, Bildung und Kultur haben die Kirchengemeinden noch immer besonders viele Hauptamtliche. Nimmt man bei den Aussagen zum Freiwilligensurvey der Bundesregierung alle kirchlichen Organisationen in Wohlfahrt und Kinder- und Jugendhilfe, Kultur und Musik, die nicht unter kirchlichem Engagement aufgeführt werden, zusammen, ergeben sich ca. 50 Prozent kirchliches Engagement. Eine andere Zuordnung konnte allerdings im Beirat nicht durchgesetzt werden. 245 Gronemeyer, Reimer (2020): Der Niedergang der Kirchen. Eine Sternstunde? München, S. 81.

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tution«, schreibt Ivan Illich.246 Das heißt auch: Kirche muss nicht alles schultern. Aber Platz nehmen an den runden Tischen ihrer Stadt, das sollten die Mitglieder der Kirchenvorstände und die Gruppenleitungen schon. Als Verbündete für die, die sich allein und ausgeschlossen fühlen. Als Gastgeber*innen für alle, die sich fremd fühlen. Und was bedeutet das für das »Kirche-Sein« von Gemeinden? Steffen Bauer bezieht sich in seinem Buch über Kirche im Jahr 2030 auf Hartmut Rosas Resonanztheorie247: »Als Gemeinschaft, die sich immer neu, aber auch beständig bildet, haben wir eine starke, horizontale Resonanzachse, in der es zu vielen Begegnungen zwischen nahen und fernen, vertrauten und neu hinzustoßenden Menschen kommt. Die diagonale Resonanzachse können wir in unseren Kirchengebäuden erfahrbar machen, wenn die Steine anfangen zu sprechen, ja, zu predigen, aber auch durch Brot und Wein beim Abendmahl oder im Kreuz in seiner Umkehrung aller Werte und Kulturvorstellungen. Und schließlich eben die vertikale Resonanzachse, wenn sich der gegenwärtige Gott im Glauben erschließt.«248 Das kann überall im Quartier geschehen, wo Menschen einander begegnen – auch jenseits der Kirchenräume. Während der Coronakrise ist auf Initiative von Christian Schäfer in Witzenhausen bei Kassel »Dich schickt der Himmel« entstanden, ein Projekt mit Einkaufshilfen, für das sich die evangelische Gemeinde mit der Stadt, den Pfadfinder*innen und dem Kreisjugendring zusammengeschlossen hat. So kamen innerhalb von drei Tagen über 150 Ehrenamtliche und 230 Hilfesuchende zusammen. Menschen gerieten in den Blick, die lange zurückgezogen gelebt hatten – oft ohne Kontakt zur Kirchengemeinde. Aber alle freuten sich gleichermaßen über den Einkaufsdienst, die kurzen Besuche und den Gruß zum Sonntag. Gerade auf dem Land sind die volkskirchliche Verankerung und Erwartung viel vitaler, als manche Kirchenvorstände sich vorstellen. Solche »Sorgenetze« wurden während der Coronakrise auch an vielen anderen Orten aufgebaut. Nun gilt es, weiter daran zu knüpfen. Gemeinde, Ortsvereine und Kommune bilden den räumlichen Zusammenhang, in dem sich soziales Miteinander entfalten kann. »Wenn Kirchengemeinden das 246 Illich, Ivan: How Will We Pass On Christianity. In Illich, Ivan (2019): The Powerless Church and Other Selected Writings, 1955–1985. Pennsylvania, S. 161 ff., vgl. auch S. 141; zit. nach Gronemeyer 2020, S. 19. 247 Rosa, Hartmut (2018): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin. 248 Bauer 2020, S. 73.

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Wir auch wirklich als Wir sehen – wenn sie ihr Dorf oder ihren Stadtteil meinen – dann ist ein erster Schritt getan«, sagt Peter Meißner von der Initiative Gemeinwesendiakonie der Hannoverschen Landeskirche. »Wenn Gemeinden andere Akteure einladen und mit ihnen in den Austausch gehen, wenn sie fragen, was braucht dieser Ort und wie sind unsere Wahrnehmungen, dann kommt etwas in Bewegung. Wenn Kirchengemeinden sich auf die Haltung ›Nicht für sondern mit den Menschen‹ einlassen, dann zeigen sie, dass sie wirklich an den Lebenslagen vor Ort interessiert sind.«249 Ganz unabhängig von Corona ist in den letzten Jahren in Schöneck bei Hanau ein stabiles Netzwerk entstanden, das alle Akteure auf dem Sozialmarkt ins Gespräch miteinander bringt. Das »Sozialforum« denkt vom Menschen her und versucht, die funktionale Differenzierung und »Versäulung« von Angeboten und Dienstleistungen zu überwinden. Es steht an den Übergängen und Schnittmengen von Aufgabenbereichen. Für das Miteinander derer, die sich ehren-, neben- und hauptamtlich engagieren. Damit das Ganze im Blick bleibt und damit Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird.

Sorgende Gemeinde und Netzwerklogik im Sozialraum Interview mit Steffen Merle Dr. Steffen Merle war bis November 2020 Pfarrer in Schöneck bei Hanau und zugleich für die Erwachsenenbildung im Kirchenkreis zuständig. Er ist heute Leiter des Sozialreferats im Kirchenamt der EKD.

Ihnen geht es darum, auch Kirche und Diakonie neu zu verknüpfen und dabei die Selbstsäkularisierungsprozesse diakonischen Handelns einzufangen. Wie geht das praktisch? Steffen Merle: Das Sozialforum Schöneck ist ein Netzwerk aller im Gemeinwesen agierenden Akteure. Netzwerke heben statische Institutionslogiken auf – genau das brauchen wir als Kirche, die sich zunehmend im öffentlichen Raum plausibilisieren muss. Solche Netzwerke schaffen vor allem Dynamik, Anknüpfungspunkte, Schnittstellen, Dienstgemeinschaften, neue Angebote – und wenn man genau hin249 Coenen-Marx, Cornelia (2019a): Jenseits der Mauern. Nachbarschaft als Caring-Community. Deutschlandfunk 09.06.2019. https://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/am-sonntagmorgen/jenseits-der-mauern-10256 (Zugriff am 19.01.2021).

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sieht: Netzwerklogik im Sozialraum schafft immer neue Möglichkeiten, sorgende Gemeinde zu sein. Natürlich geht es nicht nur darum, dass sich die Angebotsseite intern vernetzt und so effektiver und kreativer arbeiten kann. Es geht letztlich darum, dass Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Auch dafür soll das Sozialforum da sein: schnelle, niederschwellige und übersichtliche Zugänge zu schaffen, damit Menschen füreinander da sein können. Auch das ist »sorgende Gemeinde«. Über zwanzig Netzwerker*innen aus allen Bereichen sozialen Engagements in Schöneck sind im Sozialforum vertreten: Mit dabei sind unter anderem die Kirchengemeinden, Pflegedienste, die Nachbarschaftshilfe, DRK, AWO, Kindergärten, Schulbetreuungsvereine, Jugendarbeit, Essensbank, AK-Asyl, Bürgerbus, Berufsbetreuer*innen, Martin-Luther-Stiftung – quer durch Themenbereiche wie Pflege, Mobilität, Versorgung, Betreuung usw.

Gibt es eine persönliche Erfahrung, die Ihnen den Kern diakonischer Arbeit existenziell vor Augen geführt hat und sie ermutigt? S. M.: Unsere alte Gemeindeschwester: sorgend, fürsorgend, fürbittend, zugewandt, aufrichtig, verbindlich – und getragen von einer tiefen, beeindruckenden Frömmigkeit. Mit anderen Worten: Diakonie ist für mich da, wo Glaube und Werke zusammengehören und sich aufeinander beziehen – und sich nicht infolge der Professionalisierung voneinander abkoppeln. Sie ist für mich nicht nur Soziale Arbeit der Kirche und auch nicht »nur« Nächstenliebe: Für mich ist sie Gottes- und Nächstenliebe.

Was würden Sie ändern, wenn Sie die Freiheit und Mittel dazu hätten, damit die Arbeit, die Ihnen am Herzen liegt, noch besser gelingt? S. M.: Die funktionale Differenzierung unserer Gesellschaft schafft Professionalisierung, aber auch Delegation von Verantwortung. Die Logik dabei ist oft die der »Zuständigkeit« – dabei geht aber der Blick für andere gesellschaftliche Bereiche und für Übergänge verloren. Übergänge und Schnittstellen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen dagegen sind dynamischer und pragmatischer. Wenn ich mein Arbeitsumfeld ändern könnte, dann wäre das keine räumliche Änderung, sondern eine strukturelle: Sehr viel mehr Agilität und Dynamik auf den Grenzen unterschiedlicher Funktionssysteme. Dann würden wir uns (und dem Heiligen Geist) nicht so viel im Weg rumstehen …250 250 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=5279 (Zugriff am 16.12.2020).

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4.3 Mit allem Sinnen – Kirche als Agentur für Inklusion Mit seinem Konzept vom dritten Sozialraum hat der Gütersloher Psychiater Klaus Dörner seit vielen Jahren für eine neue Wertschätzung der Kirchengemeinden und für die Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement geworben. Kirchengemeinden, das ist die Hoffnung, könnten Caring Communities werden oder jedenfalls zum Entstehen von Caring Communities beitragen. Heute wird vielen Gemeinden neu bewusst, dass das diakonische Engagement substanziell zu ihrem Auftrag gehört. In Kirche und Diakonie werden gemeinsam Konzepte für die Re-Sozialisierung und Re-Vitalisierung von Kirchengemeinden entwickelt, damit sie eben nicht erst auf soziale Notlagen reagieren, sondern aktiv daran mitarbeiten, funktionierende Sozialräume zu gestalten und Notlagen präventiv zu verhindern. »Als Kirchengemeinde sind wir zugleich Teil der Gemeinschaft vor Ort, sind in Vereinen, auf dem Markt, in Geschäften unterwegs, stolpern über dieselben Schwellen, beobachten wunderlich gewordene Nachbarn«, sagt Annegret Zander von der Fachstelle Zweite Lebenshälfte der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck251. Aber Gemeinden beteiligen sich noch zu selten an kommunalen Netzwerken oder den Projekten der Caring Communities. In den letzten Jahren waren viele damit beschäftigt, Fusionen in Gang zu bringen, Gebäude abzustoßen, das eigene Profil zu schärfen und neue Angebote zu konzeptionieren. Wo Kommunen runde Tische einrichteten, hatten sie keine Zeit, weil sie mit der Zukunft ihrer Häuser und Dienste beschäftigt waren. Dabei hätten sie vielleicht gerade im Kontakt mit der Kommune und anderen Trägern gute Lösungen finden können. »Kirchen sollten sich in noch viel stärkerem Maße […] an solchen Prozessen beteiligen, nicht nur, um ein Stück vom Kuchen reich gefüllter Fördertöpfe abzuschöpfen«, meint auch Ralf Kötter. Sie sollten sich engagieren, »weil die darin zum Ausdruck kommende Haltung gut ist, weil sie in sich stimmig ist, weil sie sich lohnt, weil alle etwas dabei gewinnen, wie sich in den partizipativen Prozessen sogar wahres Menschsein verwirklicht und nachhaltige Lösungen für eine zukunftsfähige Gesellschaft entstehen […]. Genau deshalb sollte Kirche als wesentlicher Player mit am Tisch sitzen.«252

251 Siehe http://blog.fachstelle-zweite-lebenshaelfte.de/ (Zugriff am 12.01.2021). 252 Kötter, Ralf (2020): Im Landes Wir. Geschichten zur Menschwerdung für eine Kirche im Gemeinwesen. Leipzig, S. 54.

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Schon 1998 benannte die Diakoniedenkschrift zum 150. Jubiläum der Inneren Mission253 vier Perspektiven für die Zukunft: Es geht darum, die Distanz zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Diensten zu überbrücken, die Kontakte zu zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verbessern, die Bedürfnisse von Betroffenen besser wahrzunehmen und schließlich die Vernetzung mit außerkirchlichen Trägern im Gemeinwesen zu suchen. Es geht um die Überwindung der Zielgruppenorientierung und »Versäulung«, die vor allem in der Diakonie auch durch die Form der Refinanzierung festgelegt ist. Und um die Überwindung der Organisationslogik, Finanzierungslogik, Immobilienlogik, die auch die Kirche beherrscht – in Richtung einer neuen Kultur der Zusammenarbeit. Dazu gehört eine Sensibilität für die Stärken und Aktivitäten anderer Organisationen und eine Haltung, die offen, lernbereit und sich des eigenen Profils bewusst ist. Für Kirchengemeinden geht es darum, die Parochie als Sozialraum neu zu entdecken, und für die Diakonie, quartiersbezogen zu arbeiten. Das Gelingen der Projekte hängt davon ab, dass wir beides zusammenbringen – Lebensweltorientierung und Professionalität, Sozialraum und Dienstleistung, Frömmigkeit und achtsames Engagement. Stadtteilläden, Familienzentren und Mehrgenerationenhäuser leben von diesem Miteinander, das produktive Reibung erzeugen kann. Wer solche Projekte und Plattformen steuert, ist letztlich nicht entscheidend. Wenn Kirche und Diakonie aber um solche Machtfragen in Konflikt geraten, gefährdet das die Projekte.254 »We serve the local community« steht auf einem Plakat, das ich an einer Kirche in Wales fotografiert habe. Dort waren die Kirchen während der gesamten Industrialisierung die Versammlungsorte und Chorplätze für die walisische Gemeinschaft, die sich im Königreich nicht wirklich repräsentiert fühlte. Und in diesem Geist arbeitete sie weiter: Menschen Raum und eine Stimme geben. In der katholischen Gemeinde Maria Lourdes in Zürich-Seebach haben sich kleine christliche Gemeinschaften gebildet. 12–20 Leute pro Nachbarschaft. Sie treffen sich in den Häusern, manchmal in den Gärten – zum Bibelteilen und zum Austausch über ihren Alltag. Kleine lokale Verantwortungsgemeinschaften, die sich jedes Mal fragen: Wie wird dieser Bibeltext mein Handeln in den nächsten Wochen bestimmen? Welche ganz praktische Anregung nehme ich für mich mit?« Immer wieder machen sich Menschen aus der Pfarrei auf den Weg, treffen andere 253 Kirchenamt der EKD (Hg.) (1998): Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Eine evangelische Denkschrift. Gütersloh. https://www.ekd.de/Herz-und-Mund-und-Tat-und-Leben-591.htm (Zugriff am 16.12.2020). 254 Vgl. Coenen-Marx, Cornelia (2016b): Haltepunkt und Zusammenhalt – neue Aufgaben für Kirche und Diakonie im Gemeinwesen«. In: Sebastian Borck/Astrid Giebel/Anke Homann (Hg): Wechselwirkungen im Gemeinwesen. Kirchlich-diakonische Diskurse in Norddeutschland (S. 312–325). Berlin.

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im Viertel und schauen gemeinsam, was sie für ein gutes Leben vor Ort tun können. »Es geht nicht um volle Kirchenbänke. Es geht um das volle Leben. Und das findet sich eben auch vor der Kirchentür«, sagt Martin Piller, der dortige Pfarrer.255 Er hat die Ausrichtung an den Mitgliedern längst aufgegeben. Zusammenarbeit ist gefragt. Für Asylsuchende im Quartier. Für Menschen, die Gemeinschaft suchen. Für Leute, die Unterstützung brauchen, vielleicht auch nur einen Anstoß, sich in ihrem Lebensumfeld heimisch zu fühlen. Bei einem Zukunftstag in Seebach haben sich die engagierten Gemeindegruppen mit anderen Interessierten aus dem Quartier zusammengesetzt und überlegt, wie sie dort vor Ort »Salz der Erde« sein können. In Gruppen haben sie die Nachbarschaft erkundet und Karten von ihrem Ort gezeichnet, auf denen die Treffpunkte, Clubs und Vereine zu sehen sind – und die erschreckende Trennung zwischen Einheimischen und neuzugezogenen Migranten. Am Ende entstand ein Projekt für den Marktplatz als Begegnungsort.256 »Gemeinden sind Agenturen für Gemeinschaft«, sagt auch Rosemarie H., die als Mitarbeiterin der Behindertenhilfe mit einer Kirchengemeinde zusammenarbeitet, wenn es um Inklusion geht. Ein »Circle of support« auf dem Weg der »Normalisierung«. Mit dem Bundesteilhabegesetz, dessen erster Teil 2017 in Kraft trat, wurde dieser Anspruch auch gesetzlich verankert. Konkret heißt das: Allen Menschen muss es möglich sein, in einem ganz normalen Haus zu wohnen, mitten im Quartier – nicht am Rande der Stadt im Heim. Alle können in eine »normale« Schule in ihrem Stadtteil gehen und eine Ausbildung machen. Können das eigene Leben gestalten, eine Aufgabe haben und mitreden. Dabei zeigt sich: Normalität heißt nicht, dass alle gleich sind. Manche brauchen Hilfe im Haushalt, andere bei der Pflege. Wieder andere brauchen Dolmetscher. Dass wir auf andere angewiesen sind, gehört zu unserem Leben. Auch wenn wir das zu bestimmten Zeiten vergessen, weil wir uns jung und unantastbar fühlen. Neulich erzählte mir jemand, dass all die praktischen Haushaltshilfen für Ältere nicht in die normalen Kataloge der Küchen- oder Badezimmereinrichter aufgenommen werden, weil sie »normale« Leute angeblich nicht betreffen. Ist Altwerden etwa nicht normal? Klaus Dörner hat sich ein ganzes Berufsleben lang dafür eingesetzt, dass Exklusion überwunden wird. Zunächst engagierte er sich für die Auflösung der Heime in Behindertenhilfe und Psychiatrie, dann für die Öffnung der Altenheime. Mit dem oben bereits genannten, inzwischen geflügelten Wort »Leben und sterben, wo ich hingehöre« hat er vielen die Augen geöffnet – für die Bedeutung von

255 Siehe htttps://www.pfarrei-maria-lourdes.ch/ (Zugriff am 16.12.2020). 256 Siehe https://www.pfarrei-maria-lourdes.ch/ (Zugriff am 16.12.2020).

Mit allem Sinnen – Kirche als Agentur für Inklusion

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Gemeinschaft und Nachbarschaft, für die Normalität des Verschiedenseins.257 Es muss Schluss sein mit der Einteilung der Menschen in Hilfebedürftige und Helfer*innen, »normale« Gemeindemitglieder und Klient*innen der Diakonie. Leider hat die Kirche selbst zur Exklusion beigetragen. Pflegebedürftige, psychisch Kranke, Menschen mit Behinderung wurden jahrzehntelang in Facheinrichtungen versorgt und gefördert, aber aus den Gemeinden ausgegrenzt. Noch lange nach dem Dritten Reich wirkte die Haltung nach, die zwischen dem Wir und den »Anderen«, Helfer*innen und Hilfebedürftigen, Kirche und Diakonie unterschied. Ich habe nie verstanden, warum manche das Anderssein anderer als Angriff auf ihr eigenes Lebensmodell empfinden. Ich finde es spannend, andere Lebensgeschichten zu hören, zu sehen, wie Menschen ihr Leben gestalten, zu verstehen, woran sie scheitern. Wenn wir uns wechselseitig davon erzählen, können wir voneinander lernen. Wir können unsere eigenen Grenzen wahrnehmen, aber auch darüber Grenzen hinausgehen, wir werden infrage gestellt und können Neues ausprobieren. Wie schön und wie schwer das sein kann, erleben wir bis heute zwischen West und Ost in Deutschland. Ohne Ehrlichkeit, Offenheit und Selbstkritik kann das nicht gelingen – unter Stress und Druck eine echte Herausforderung. Und der Anpassungsdruck war auch in Kirche und Diakonie lange sehr groß. In der Mitarbeiterschaft und gerade auch in den diakonischen Gemeinschaften galt: Wer kritisch war oder nicht gesund, wer von woanders kam oder einem ungewöhnlichen Lebensstil folgte, hatte es schwer. Frauen im Pfarramt, Männer in Pflegeberufen, muslimische Erzieher*innen, Führungskräfte mit Behinderung. Die Inklusion von Menschen mit Behinderung ist heute ein wesentlicher Schlüssel zu einem neuen Miteinander von Kirche und Diakonie. Sie ermutigt zu neuen Erfahrungen in der Kooperation zwischen Gemeinde- und Wohngruppen, zwischen Nachbarschaftsnetzwerken und Pflegediensten, zwischen Konfirmandenarbeit und Schulen mit Assistenz. In einer württembergischen Gemeinde finden regelmäßig gemeinsame Gottesdienste mit einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung statt. Zur Vorbereitung kommt das Team aus der Werkstatt in die Konfirmandengruppen. In Mönchengladbach öffnen diakonische Wohngruppen ihre Türen zum lebendigen Adventskalender der Gemeinde. Wenn Kirchengemeinden wirklich wahrnehmen, wie ihre Mitglieder leben, was sie brauchen, wo sie lernen und arbeiten, gibt es viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Initiativen. Partnerschaftliche Begegnungen verhindern den Rückfall in das starre Gegenüber von »Helfer*innen« auf der einen und »Hilfebedürftigen« auf der anderen Seite. Es geht nicht um »Angebote« kirchlicher Leistungsträger für potenziell Hilfsbedürftige, sondern um gemeinsames 257 Vgl. Dörner 2012.

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Lernen. Es geht auch nicht um die Kirche für andere, sondern um Kirche miteinander. Wer gerade besonders auf dieses Miteinander angewiesen ist, hat oft kaum Kraft, sich zu Wort zu melden, und wird deshalb leicht übersehen. Das galt während der Coronakrise auch für Familien, in denen Kinder mit Behinderung leben. Während des ersten Lockdowns wurden nicht nur die Förderschulen geschlossen, sondern auch die Internate – so kamen Kinder und Jugendliche, die dort die Woche über untergebracht sind, über lange Zeit zurück nach Hause. Homeschooling funktioniert in diesem Rahmen kaum. So kam es, dass Mütter und manchmal Väter unbezahlten Urlaub nehmen oder sich krankschreiben lassen mussten. Und weil in Wohnheimen die Richtlinien für Pflegeheime gelten, mussten Erwachsene mit Behinderung isoliert in ihren Zimmern bleiben. Dabei entspricht es keinesfalls unseren Vorstellungen von Inklusion, wenn Menschen mit Behinderung bei den Regeln für Alten- und Pflegeheime einfach »mitgedacht werden« oder wenn sie automatisch als Corona-»Risikogruppe« gelten, obwohl sie zum Beispiel hör- oder sehbehindert sind. »In den Krisenstäben waren Care-Empfänger*innen, z. B. Menschen mit Behinderungen, nicht vertreten. Die gesetzliche Verpflichtung zur Bereitstellung der erforderlichen Mittel für Inklusion wurde in Frage gestellt. Prinzipien der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) müssen jedoch auch in der Krise gelten«, heißt es im Positionspapier »Großputz! Care nach Corona neu gestalten«.258 In der Öffentlichkeit war all das kaum Thema. Die betroffenen Familien hatten das Gefühl, vergessen zu sein. Auch von der Kirche. Auch Ältere wurden zu Beginn der Krise pauschal als Risikogruppe eingestuft. Ihr ehrenamtliches Engagement lag plötzlich brach  – in Kirchengemeinden genauso wie in Vereinen und Schulen oder bei Tafeln. Nicht wenige haben es als kränkend empfunden, dass nicht mehr über ihr Engagement gesprochen wurde, sondern nur über ihre Vulnerabilität. Dabei sind viele von ihnen Expert*innen im Umgang mit Krisen. Wer weiß, was Einsamkeit heißt, kann aus der Leere ein neues Miteinander schaffen. Wer weiß, was Trauer heißt, bringt wichtige Voraussetzungen mit, um andere zu begleiten – im Besuchsdienst oder als Grüne Dame in Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen, Mitarbeiter*innen im Hospizdienst und in der Krankenhausseelsorge, Ehrenamtliche, die Friedhöfe erhalten und Ortsgeschichte schreiben, Bibliotheksmitarbeiter*innen und Leiter*innen von Gesprächsgruppen – was bedeutet es, wenn sie von der Kirche vor allem als 258 Thiessen et al. 2020.

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potenziell Hilfebedürftige wahrgenommen werden? Steckt darin nicht eine versteckte Abwertung der Älteren? Die Realisierung gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen hat ganz unmittelbar mit dem Kirche-Sein von Kirche zu tun, mit Kirche als »Leib Christi« mit all seinen unterschiedlichen Organen. Deswegen geht es bei Inklusion nicht zuerst um barrierefreie Räume. Es geht um die inneren Zugänge zu Gottesdienst und Konfirmandenarbeit, aber auch zu Trauungen oder Segnungen und Taufen. Was bedeutet dabei unsere starke Betonung des Wortes für diejenigen, die eher über leibliche Erfahrungen und über Berührung ansprechbar sind? Was heißt es in diesem Zusammenhang, dass das Wort Fleisch wurde (Johannes 1,14) – und wie lässt sich Inkarnation in unseren Liturgien sinnlich erfahren? Ich denke an das geistliche Zentrum für Menschen mit Demenz in Berlin. Dort hat ein Sozialunternehmer ein Tanzcafé für Demenzkranke eingerichtet. Mit Musik, die zurück in die Goldenen Zwanziger führt. Neben den wenigen Profis haben hier Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger*innen und Ältere ihren Einsatzort gefunden. Eine Gemeinde auf dem Weg zur Caring Community. Einmal im Monat wird zusammen Gottesdienst gefeiert: einfach, sinnlich und sehr lebendig. Menschen geben Zeit und setzen Fantasie ein, um ihn vorzubereiten – und viele davon sehen darin ein Stück Lebenssinn auch für sich selbst. Die Liturgie dieser inklusiven Gottesdienste zeichnet sich durch sinnlichen Reichtum aus. Mit Musik, Gesang und Tanz, mit Bildern und Symbolen, Geruch, Geschmack und Bewegung werden möglichst viele Sinne angesprochen. So kann das Wort Gottes auf vielerlei Weise erfahrbar werden. Segen auch körperlich durch Handauflegen, Salben und Fußwaschen zu spüren, ist nicht nur für Menschen mit Behinderungen oder Demenz wichtig. Die Sinne erden das Evangelium. Und es ist wunderbar, dass wir Gottesdienst in verschiedenen Sprachen feiern können. In leichter Sprache. In Gebärdensprache. In den Sprachen der ­Migrant*innen. In der Traditionssprache der Lutherbibel und der Bach-Passionen. Wenn die unterschiedlichen Sprachen ihren Ausdruck und Widerhall finden, wenn sich alle einbringen können »zum Aufbau der Gemeinde« (1. Korinther 14,26), dann wird es ein großes Fest. Das gelingt am besten, wenn immer wieder andere an der Vorbereitung beteiligt sind, wenn der Kreis sich immer wieder neu öffnet. Die Beispiele vom Zentrum Demenz oder von den Gottesdiensten mit der Werkstatt für Behinderte zeigen: Auch Menschen, die sonst wenig Gottesdiensterfahrung haben, können sich als Mitgestalter*innen der biblischen Botschaft erleben. Da werden Energien wach, von denen wir vorher kaum etwas ahnten. Das Bekennen erschließt sich im Gespräch miteinander, Verkündigung wird zur Interaktion. Der Gottesdienst ist dann nichts mehr für Geübte und »Eingeweihte« –

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vielmehr »weiht es Menschen ein«, einen Gottesdienst in ihrer Sprache mit ihrer Erfahrung zu gestalten. In der »Wohnzimmerkirche« in Hamburg-Ottensen zeigt sich das auch in der Gestaltung des Raums. »Statt der Anbetung oder der Unterweisung dient der Raum vor allem der Interaktion. Statt Kirchenbänken oder schmuckvollen Altarbildern prägen Sessel und Tische, miteinander geteilte Geschichten und Vernetzungsmöglichkeiten den Raum. Der Ort, an dem Menschen als Glaubende zusammenkommen, wird zu dem Ort, an dem sie das Leben miteinander teilen.«259 Das ist der innere Zusammenhang von Gottesdienst und Inklusion, aber auch von der Öffnung ins Quartier und einer neuen, lebensnahen Kommunikation des Evangeliums. Die kann am Ende sehr elementar sein, so wie in den Vesperkirchen, wo Menschen zusammenkommen, die die Narben ihrer Lebenskämpfe am Leib tragen. Wo Unsicherheit und Machtlosigkeit mit Händen zu greifen sind. In manchen dieser Kirchen gibt es vor Beginn, wenn sich die Mitarbeiter*innen treffen, eine kurze Andacht – und dann einen Augenblick der Stille für alle. Ein Dank für den gedeckten Tisch, der gerade hier nicht selbstverständlich ist. Wo Verletzlichkeit und Liebe gleichermaßen spürbar sind, wird die Kirche tatsächlich zum Heiligen Ort. Dabei fallen mir die alten Hospitalkirchen ein, von denen einige noch in den ehemaligen Diakonissenanstalten zu finden sind. Dort führte der Weg zum Operationssaal über die Kirchenempore oder man konnte die Krankenbetten in die Seitenschiffe schieben wie heute noch in Krankenhauskapellen. Und dann wünsche ich mir, dass in unseren ganz normalen Gemeindekirchen Platz wäre – nicht nur für Menschen mit Rollstühlen, sondern auch für ein paar Sofas mit warmen Decken, sodass (chronisch) Kranke mitfeiern könnten.

259 Handke, Emilia (2020): Gottesdienst für Anfänger*innen – religion for beginners. Pastoraltheologie, 109 (7), 345–356, 352.

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4.4 Gemeinde als Familiaritas – Wahlfamilien in der ­ Single-Gesellschaft Die Zahl der Taufen und Trauungen geht zurück – oft über zwei oder drei Generationen. Kinderlose erleben nicht die Phase, in der sie ihre Kinder taufen, mit den eigenen Kindern noch einmal neu über die Bedeutung des Glaubens nachdenken, Rituale einüben und damit wieder mehr Bindung zur Kirche entwickeln. Und Bestattungen, die lange als kirchliche Bastion galten, verändern sich, weil viele Ältere ohne Kinder und weitere Angehörige sterben, weil das Geld für eine Erdbestattung und eine Feier fehlt. So erodieren zwei Stützpfeiler von Kasualien, die bislang über Generationen Familien und Kirchenmitgliedschaft getragen haben. In der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (V. KMU) der EKD wird deutlich, dass wir es mit einem radikalen Umbruch zu tun haben. Je jünger die Befragten sind, umso seltener geben sie an, religiös erzogen worden zu sein. »Von den Evangelischen ab 60 Jahren wurden nach eigenen Angaben etwa 83 % religiös erzogen, von den Kirchenmitgliedern unter 30 Jahren sagen das nur noch 55 %.«260 Pfarrer*innen und andere Mitarbeitende in Kirche und Diakonie begegnen Familien vor allem in Festzeiten und in Krisensituationen. Bei Hochzeiten, Taufen und Konfirmationen bei Kindergartenentlassungen und Einschulungsfeiern oder beim Schulabschluss, in der Jugendarbeit oder auch, wenn Kinder und Jugendliche durch die Scheidung ihrer Eltern belastet werden. Wenn dabei Vertrauen wächst, entsteht ein Bogen der Lebensbegleitung, der weiterträgt. Allerdings sind Familien in ihrer religiösen Orientierung nur noch selten homogen. Meist lebt die Beziehung zur Gemeinde eher punktuell auf und bleibt ansonsten distanziert. Neben der unterschiedlichen und unterschiedlich intensiven kirchlichen Bindung spielt das Gefühl eine Rolle, mit der eigenen Form des Familienlebens als konfessionsverschiedene, Patchwork- oder Regenbogenfamilie, Alleinerziehende oder Pendler*innen nicht wirklich »dazuzugehören«. Hinzu kommen die zeitlichen Zerreißproben – gerade während der Konfirmandenphase tritt der Sonntagsgottesdienst in zeitliche Konkurrenz nicht nur zum Sport, sondern auch zum Familienfrühstück. Kirche wird dabei oft als zusätzliche Anforderung, selten als Unterstützung in Krisenzeiten erlebt. Das ist anders, wenn in der Vorbereitung und Gestaltung von Kasualien Offenheit und Sensibilität für die tatsächliche Lebenssituation der jeweiligen Familie spürbar wird, wenn deren Hoffnungen und Wünsche zu Wort kommen. Wo Kir260 Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.) (2012): Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hannover. https:// archiv.ekd.de/EKD-Texte/92134.html (Zugriff am 16.12.2020).

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che so im Dialog ist, entstehen über die bekannten Kasualien hinaus zaghaft neue: bei Ein- und Auszügen, bei Trennung und Scheidung oder bei gemeindlichen Taufund Konfirmationsfeiern, die viele Familien in der Gemeinde zusammenführen.261 Die Fantasie, die während der Pandemie in vielen Gemeinden wach wurde, ließ wunderbare neue Rituale entstehen: Konfirmationen in Vierergruppen, in den Gärten der Elternhäuser, Pat*innen, die anstelle der Pfarrpersonen die Segnung übernahmen – Kirche entdeckt sich als Hausgemeinschaft wieder und es ist zu hoffen, dass vieles davon bleibt. Wo Institutionen sich zurückziehen, entsteht Raum für zivilgesellschaftliche Erfahrungen, ein neues, bereicherndes Miteinander. Die eigene religiöse Prägung wird vielen erst in der Begegnung mit dem*der Partner*in wirklich bewusst. Konfessionsverschiedene Paare fühlen sich oft überfordert und alleingelassen, wenn es etwa um die Taufe oder die Teilnahme an der Eucharistie geht, bei religionsverschiedenen Paaren ist die Unsicherheit doppelt groß. Die traditionelle Rollenteilung, nach der Mütter für die religiöse Erziehung zuständig sind (»Kinder, Küche, Kirche«), wird deutlich erschwert, wenn die religiöse »Muttersprache« und das gesellschaftliche Umfeld nicht übereinstimmen. Wo Institutionen ihre Macht verlieren, kann aber auch Befreiung entstehen. Die unterschiedlichen Erwartungen beider Kirchen, die in der »ökumenischen Trauung« zum Ausdruck kommen, zeigen auf paradoxe Weise: Familien sind Subjekte ihrer Spiritualität und Theologie. Eltern unterschiedlicher Konfession und Religion, kirchlich Verbundene wie Suchende müssen darin gestärkt werden, mit Vielfalt zu leben, eigene Antworten zu finden und Traditionen zu entwickeln. Bireligiöses Aufwachsen bietet die Chance, Lebensdeutungen unterschiedlicher Kulturen und Religionen verstehen zu lernen, das eigene Weltverständnis zu erweitern, eigene Werte zu entwickeln. Kinder brauchen Ermutigung, ihrer religiösen Neugier und Sehnsucht zu folgen. Und Tageseinrichtungen, Familienzentren und kirchliche Erwachsenenbildung tun gut daran, mit ihren Angeboten die je eigene und eigensinnige »Familientheologie« zu unterstützen, die sich im allmählichen Reflektieren spiritueller Erfahrungen herausbildet – aus Kinderfragen, dem religiösen Wissen der Erwachsenen und gemeinsamen Erlebnissen. Solange Kirchengemeinden nur auf die sogenannten klassischen Familien schauen und alle anderen Formen allenfalls der Diakonie zuweisen, wird sich nichts ändern. Nicht nur Patchwork- und Trennungsfamilien, auch von Armut Betroffene und Alleinerziehende, Pflegefamilien und gleichgeschlechtliche Partnerschaften und auch Singles sollten ein Zuhause in der Gemeinde finden

261 Anregungen dazu bei www.kircheimdialog.de, einem Werk der Nordkirche.

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können. Dazu müssen Gemeinden sich selbst als »Familiaritas« neu entdecken.262 Die alte Tradition der Patenschaft kann dabei helfen: Sie kommt gerade neu zum Leben mit Lesepatenschaften, Mentoringprogrammen und nicht zuletzt mit einem neuen Verständnis der Lebensbegleitung von Taufpat*innen. Auch die besondere Rolle der Großeltern für die religiöse Sozialisation muss wiederentdeckt werden – dabei können auch »Leihomas« und »Leihopas« eine wichtige Rolle spielen. Wenn es um die Weitergabe von Glauben und Werten, Traditionen und Erfahrungen geht, brauchen Familie und Gesellschaft die Beteiligung aller Generationen. Wo die nächsten Verwandten weit entfernt wohnen, brauchen nicht nur junge Familien, sondern auch Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen nachbarschaftliche Unterstützung. Hier kann Gemeinde mit dem Aufbau von Netzwerken viel zur Entlastung beitragen. Mit Kindergärten und Gemeindeschwestern hat die evangelische Kirche schon in der Industriellen Revolution überforderte Familien unterstützt. Damals schufen die Mutterhäuser Ersatzfamilien, Diakonissen gründeten Frauenhilfen, Schwestern stützten die jungen Mütter. Heute müssen sich Kindertageseinrichtungen und Schulen, aber auch Kirchengemeinden als Partnerinnen für Familien verstehen. Dabei ist die Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie entscheidend. Hier und da haben sich die Tageseinrichtungen zu Familienzentren entwickelt, die mit Familienbildungsstätten und Beratungsstellen zusammenarbeiten, Begegnungsangebote der Kirchengemeinden begleiten und immer wieder neu dafür sorgen, dass Gemeinden offen bleiben für unterschiedliche Milieus und Kulturen im Quartier. Über der Arbeit mit Familien kommen die Singles allerdings oft zu kurz. Besonders dann, wenn Gemeinden für Familien da sein wollen – am Wochenende, an Weihnachten oder auf Freizeiten. Und auch in Krisen oder im Alter kann sich das Gefühl der Einsamkeit verstärken. Dabei ist Einsamkeit grundsätzlich nicht das Problem. Viele Singles genießen ihre Unabhängigkeit. Die Ungebundenheit hat allerdings eine Kehrseite: Singles müssen sich stärker als Familien um Sozialkontakte und Freundesnetzwerke bemühen, sie entstehen nicht nebenbei wie bei Eltern in Kindergarten und Schule. Hinzu kommt die Erfahrung, dass Kolleg*innen ihnen gern zusätzliche Aufgaben oder die ungeliebten Schichtdienste zu Weihnachten überlassen. Wo Singles ehrenamtlich engagiert sind, geht es ihnen oft nicht anders als im Beruf – die Erwartungen an ihr Engagement sind besonders hoch, während sie ansonsten wenig Gelegenheit haben, eigene Erfahrungen in die Gemeinschaft einzubringen. 262 Die besondere und doch typische Situation der Alleinerziehenden und die Herausforderungen für die Kirche sind dargestellt in: Charbonnier, Ralph/Gebelein, Ulrike/Giebel, Astrid/Schöningh, Insa (Hg) (2020): Alleinerziehende Familien in Gesellschaft, Kirche und Diakonie. Berlin.

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Tatsächlich wünschen sich gut die Hälfte der Befragten Angebote für Alleinlebende, wie eine Studie von Tobias Künkler, Tobias Faix und Johanna Weddigen263 zeigt. Thementage, Tanzabende oder ein Seelsorge-Netzwerk für Krisenzeiten sind gefragt. Offensichtlich schmerzt gerade jüngere Singles auch die »Heteronormativität«, die in der Kirche dominiert. Die anglikanische Kampagne »Single friendly church« legt deshalb auch Wert auf die Sprache – bis hin zu den Predigtbeispielen. Beim EKD-Hearing des Zentrums Männer und Frauen 2018 zum Thema »›Alte Jungfer‹ – ›Junggeselle‹? Single-Sein in Theologie, Kirche und Gesellschaft« wurde am Ende als Vision formuliert: »Wir wollen eine Kirche, die sich den vielfältigen Lebensrealitäten dieser Menschen aktiv öffnet und sie bewusst als gleichwertige Mitglieder am Leib Christi wahrnimmt und willkommen heißt.«264 »Der theologische Anspruch wäre ja, dass Gemeinde ein Gemeinschaftsnetzwerk ist, wo alle, die kommen, auch vorkommen. Dass dem nicht so ist, zieht sich durch die ganze Studie« sagt Tobias Faix. Noch immer fühlen sich Singles in Kirchengemeinden diskriminiert. Genauso wie gleichgeschlechtlich Liebende, Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung oder Demenzkranke, Geflüchtete und auch die engagierten Älteren, die die Gemeinde eigentlich tragen. Wer, fragt man sich, ist dann eigentlich »die Gemeinde«, angesichts der Veränderung von Familien, wachsender Mobilität, konfessionellen Veränderungen und des demografischen Wandels? Gemeinde sei tatsächlich das »Ensemble der Opfer«, sagte der Theologe Ernst Lange, der in den 1960er-Jahren die erste Ladenkirche in Berlin gründete265. Sie ist die Gemeinschaft der Verschiedenen, würden wir heute sagen. Denn es ist normal, verschieden zu sein. Und je mehr die »Singularisierung« fortschreitet, von der der Soziologe Andreas Reckwitz spricht266, desto größer wird die Sehnsucht nach Gemeinschaft – ganz wie im 19. Jahrhundert, als die Vereine, Vereinshäuser und Freizeiten entstanden. In Wohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäusern lässt sich erleben, wie Menschen einander bereichern können. Nicht zufällig war es bei einem Familientag in Chemnitz, wo ich zum ersten Mal den Vorschlag hörte, mit mehreren Familien und Einzelnen aus der Gemeinde in einen 263 Künkler/Faix/Weddigen 2019. 264 Künkler/Faix/Weddigen 2019, S. 80. 265 Lange, Ernst (1967): Kirche für andere. Dietrich Bonhoeffers Beitrag zur Frage einer verantwortbaren Gestalt der Kirche in der Gegenwart. Antrittsvorlesung vom 12.05.1965. EvTh, 27 (10), 513–546, Anm. 23. Der Begriff »Ensemble der Opfer« hat längst den Status eines Topos. 266 Reckwitz spricht in seinem Buch »Die Gesellschaft der Singularitäten« (2019, S. 7) von der »Explosion des Besonderen«.

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Plattenbau zu ziehen und sich dort wechselseitig zu unterstützen – bei den alltäglichen Diensten, aber auch im Glaubensleben. Wir gehören zusammen »Es geht darum, dass wir einander wahrnehmen, aufeinander hören, füreinander da sind, miteinander leben«, schreibt Astrid Eichler.267 Ich bin überzeugt, dass die Minderheitensituation der Kirchen in der DDR noch eine Reihe Impulse bereithält, die erst jetzt zur Blüte kommen. Wie in den ersten christlichen Gemeinden brauchen Kinder, Jugendliche und ihre Familien in einer säkularen und multireligiösen Umwelt überzeugte Christ*innen an ihrer Seite – als Pat*innen, als geistliche Begleitung, aber auch als Brücke zu einer Kirchengemeinde. Klar ist: Die religiöse Erziehung in Familie, Tageseinrichtungen, Schulen und Konfirmandenarbeit muss ergänzt werden durch Wege erwachsenen Glaubens. Auch hier gilt das Prinzip lebenslangen Lernens. Und schließlich brauchen Großeltern Unterstützung bei der Glaubensvermittlung an ihre Enkel. Angesichts des Zerbrechens von Partnerschaften bilden die Generationenbeziehungen oft die entscheidende und gewissermaßen unkündbare Stabilität.268 In den Gemeinden können neue Netzwerke entstehen, wo Familien mit Kindern Paten-Großeltern finden und ältere Menschen ihre Erfahrungen als Mentor*innen weitergeben, wo Eltern sich wechselseitig unterstützen und Alleinerziehende ein hilfreiches Miteinander knüpfen. Rüdiger Maschwitz, Theologe und Pädagoge, vergleicht diesen Prozess der geistlichen Begleitung mit dem Kochenlernen – dem Einkaufen, Zubereiten, gemeinsamem Essen mit einem erfahrenen Koch. Familien brauchen »Kochschulen des Glaubens«, sagt Maschwitz.269 Gemeinden können Impulsgeber für einen gemeinsamen, lustvollen Neubeginn werden. Während des Shutdowns gab es Sportvereine, Firmen und diakonische Einrichtungen, die Spiel- und Lernangebote für Kinder ins Netz stellten, um die Familien zu entlasten, und auch einige Gemeinden, die Kindergottesdienste, biblische Geschichten oder Puppenspiele streamten. Vielleicht lässt sich daraus für die Zukunft lernen. Warum nicht die »Kochschulen des Glaubens« ins Netz stellen? Biblische Geschichten mit Egli-Puppen für Kinder und Eltern? Gespräche über Mobbing und Schlafen-Lernen als Kinder-Seelsorge-Angebot? Einige Gemeinden haben das probiert und dabei Gemeinde, Schule und Jugendarbeit vernetzt.

267 Künkler/Faix/Weddigen 2019, S. 231. 268 Das zeigen die Untersuchungen von Jutta Allmendinger, die in Kapitel 2 zitiert werden. 269 Abeßer, Renate/Falk, Christine/Maier, Michael (2020): Werkstattheft Familienfreundliche Kirche?! Ein Projekt im Dekanatsbezirk Erlangen (2017–2020). Erlangen/Nürnberg, S. 19. https:// www.bildung-evangelisch.de/wp-content/uploads/2020/09/Werkstattheft_FamFreundlicheKirche.pdf (Zugriff am 12.01.2021).

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Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

Das erinnert mich an eine Gemeindefreizeit in Quadt am Thuner See, 1957, ich war damals fünf Jahre. Wir fuhren in einem großen Reisebus mit Menschen aus allen Generationen – Familien und Einzelne. Zwölf Jahre nach dem Krieg, das ist mir heute bewusst, waren Kriegsteilnehmer und Kriegerwitwen dabei und auch ein junges Mädchen, »ein Russenkind«, wie man damals sagte, mit seiner Mutter. Junge Frauen, die ihren Verlobten verloren hatten, und Großfamilien mit drei Generationen. Ich erinnere mich an die Gersters und Kaufmanns und an Friedhorst, der dann mit 20 an einer Blinddarmentzündung starb, und höre sie Fahrtenlieder aus der »Mundorgel« singen. Die drei Wochen, die dann folgten, sind mir ein bleibendes Bild von Gemeinde: wie wir am Anfang das völlig verschmutzte Haus putzten und den großen Tisch aufbauten, an dem dann alle aßen. Wie die jungen Männer auf dem See ruderten und am Abend wegen des Sonnenstichs umkippten. Wie Tante Frieda mir Kinderbücher vorlas und wie wir am Ende in einem großen Kreis »Nehmt Abschied Brüder« sangen. Nie werde ich das kleine Mädchen aus der dortigen Diakonenfamilie vergessen, das mit rotem Mohn auf mich zugerannt kam – quer durch den Kreis, während alle Blütenblätter fielen. Ich wusste, dass ihr Vater im Sterben lag. In meiner Erinnerung bleibt beides verbunden. Was war anders damals, habe ich mich gefragt – warum war ein solches Gemeinschaftserlebnis möglich? Es liegt nicht am Angebot der Reise. Auch heute suchen viele Gemeinschaft auf den großen Kreuzfahrtschiffen oder bei einem Kameltrack durch die Wüste. Ich glaube, es hing mit der Erfahrung dieser Nachkriegssituation zusammen, mit dem Wunsch getragen zu werden, trotz allem. Vergebung zu erfahren und zu vergeben und Wunden heilen zu lassen. Es gab so etwas wie eine gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames Schicksal, mit dem man sich über die Generationen hinweg auseinandersetzen musste. Und das gelang im Wandern, Singen, gemeinsamen Essen, im Erzählen und bei der Bibelarbeit. Vielleicht, denke ich, war für kurze Zeit auch die Coronakrise ein solcher Einbruch, der uns gemeinsam infrage stellt – unsere Art der Globalisierung, die Multioptionsgesellschaft, die Singularisierung. Aus der Ahnung, dass es so nicht weitergeht, wächst die Kreativität für ein neues Miteinander. Und es wird entscheidend wichtig sein, was Kirche dazu beitragen kann. Nach der Pandemie wird es darauf ankommen, das Soziale neu zu gestalten und zu stärken: Es geht um Wachstum und Klimakrise, um Wohlstand und Verteilung, um Vielfalt und Solidarität. Wenn es gelingen soll, den Zusammenhalt zu wahren und sich zu verständigen, müssen die verschiedenen Gruppen wieder miteinander ins Gespräch kommen, auch die Generationen. Kirchengemeinden könnten ein guter Ort sein, Generationenforen einzurichten, um über die Konsequenzen aus Corona für Arbeit, Wirtschaft und Klimawandel zu sprechen.

Mit Grenzen leben – Gemeinschaft der Lebenden und der Toten

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4.5 Mit Grenzen leben – Gemeinschaft der Lebenden und der Toten »Mein Anliegen ist, dass in Gemeinden ›geschützte Räume‹ entstehen«, sagt die Ärztin Beate Jakob, die lange im Basis-Gesundheitsdienst in Afrika gearbeitet hat: »Im Englischen spricht man von ›safe‹ oder ›sacred spaces‹ und meint damit Orte/Räume/Begegnungsmöglichkeiten, an denen sich Menschen frei und offen begegnen und austauschen können, anstatt eine Rolle spielen zu müssen. Orte, wo Menschen sich nicht als stark und als ›Sieger‹ präsentieren müssen, sondern auch einmal ihre Masken ablegen und ihre Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit benennen dürfen. Dadurch wächst in Gemeinden auch das Bewusstsein, nicht eine Gemeinschaft von Starken zu sein, sondern von Un-Perfekten, die alle auf Gottes Gnade angewiesen sind.«270 Geschützte Räume – wer die eigene Verletzlichkeit spürt, wünscht sich nichts mehr als das. Was können Kirchengemeinden tun, um ältere Menschen, Pflegebedürftige und Sterbende zu schützen, aber auch ihre Angehörigen zu begleiten und zu stärken? Die Coronakrise hat gezeigt: Solche Schutzräume müssen nach außen offenbleiben, sie müssen atmen- Freiheit atmen. Es geht um einfühlsame und vorurteilsfreie Begleitung und Beratung in schwierigen Lebenssituationen. Dafür ist es gut, wenn Seelsorge, auch die Gemeindeseelsorge, mit Pflegeteams und Altenheimen kooperiert und sich als integrativer Bestandteil hospizlicher Teams versteht. Ehrenamtliche können Angehörige entlasten, damit Menschen Zeit mit ihren Lieben verbringen können. Pfarrer*innen und andere Seelsorgende können Versöhnungsprozesse und Wiederbegegnungen mit Familienangehörigen und alten Freund*innen begleiten. Erwachsenenbildungseinrichtungen können Freiwillige ausbilden und coachen. Neue und alte Rituale können Mut machen zum Abschiednehmen, Trauern und Leben. Und Friedhöfe werden neu gestaltet zu Orten der Begegnung und des Lebens. Die Krise hat gezeigt: Gerade hier ist noch viel zu tun. Oft fehlen Gemeindegruppen die selbstverständlichen Kontakte zu Pflege- und Hospizdiensten oder zur Langzeitpflege. Sonderseelsorge und besonders qualifizierte Ehrenamtliche haben die Aufgaben übernommen. Das Projekt »Qualifiziert fürs Quartier« des Evangelischen Johanneswerks in Bielefeld ist ein Beispiel dafür, wie sich neue Zugänge eröffnen. Alles fängt mit Recherche an: Sozialraumdaten, Expert*inneninterviews, eine Stadtteilerkundung. 270 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=2519 (Zugriff am 16.12.2020).

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Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

Wer lebt eigentlich in unserem Stadtbezirk, wie hoch ist das Durchschnittalter, wie ist bei den Älteren das Verhältnis von Alleinlebenden und Familien? Was wissen Ärzt*innen und Pflegedienste darüber, wie hier gepflegt wird? Dann geht es darum, Gemeindemitglieder und andere Bürger*innen einzuladen, denen das Thema auf den Nägeln brennt. Pflegende Angehörige, Nachbar*innen und Ärzt*innen zum Beispiel. Bei einem Open Space oder in einem World-Café können die wichtigsten Probleme identifiziert werden. Expert*innen werden eingebunden, neue Allianzen geschmiedet. Freiwillige aus Besuchsdiensten und Pflegediensten können zusammenarbeiten. Hilfesuchende und Hilfeanbietende finden zusammen – für die Begleitung bei Arztbesuchen, für Hausaufgabenhilfe oder für Beratung, wenn Angehörige an Demenz erkrankt sind. So werden Gemeindehäuser zu Orten der Verständigung über existenzielle Fragen. Kann es gelingen, die professionelle Pflege im Gemeinwesen neu mit Sorgenden Gemeinschaften in der Gemeinde zu verknüpfen – oder ist das nur ein Traum? Unter dem ökonomischen Druck sind Pflegekräfte auf die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen und Freiwilligen in der Quartiersarbeit angewiesen. Die Herausforderung, die professionelle Pflege nicht nur mit Hauswirtschaft und Betreuung, sondern auch mit bürgerschaftlichem Engagement zu verknüpfen, geht die Kirchengemeinden in besonderer Weise an. Denn es ist nicht nur die Überforderung der Familien und die Medikalisierung der Gesellschaft, die Sterben und Tod aus dem Quartier vertrieben hat. Es ist auch die Angst vor dem Fremden, dem Unplanbaren und Unberechenbaren, die uns heute so hilflos macht. Der Tod ist der Enteignung durch Expert*innen zum Opfer gefallen – auch, weil wir froh sind, die Dilemmata an Expert*innen abgeben zu können. Als die drohende Überlastung der Intensivstationen während der Pandemie zum Thema wurde, wurden Ethikkommissionen damit befasst, Mediziner*innen, Philosoph*innen, Theolog*innen und Jurist*innen wurden interviewt. Ich fürchte, das hat die Ohnmacht und Hilflosigkeit aller anderen gesteigert. Die Theologin und Therapeutin Monika Renz aus Sankt Gallen hat die Zeugnisse von Sterbenden aufgeschrieben, die sie selbst begleitet hat. Nach der Machtlosigkeit von Patient*innen gefragt, sagt sie: »Die wenigsten Menschen wissen, dass Ohnmacht nur so lange schlimm ist, bis ich loslassen und mich in gute Hände geben kann. Es gibt eine innere Schwelle, danach ist es ein Fließen, ein Friede.« Die erfahrene Sterbebegleiterin vergleicht Geburt und Todesnähe. Und sie sagt: »Irgendwann muss man hindurch. Seelisch und körperlich. Das macht den Menschen in einer Weise glücklich, die ich im Leben nicht kenne.«271 Von der Hoffnung 271 Renz, Monika (2011): Hinübergehen. Was beim Sterben geschieht. Annäherungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens. Freiburg i. Br., S. 47.

Mit Grenzen leben – Gemeinschaft der Lebenden und der Toten

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zu sprechen, dass der letzte Schritt kein Weg ins Nichts ist, sondern eine neue Geburt, dass wir erwartet werden und nicht verloren gehen, ist eine zentrale Aufgabe der Kirche. Wenn ich Hilflosigkeit und Ohnmacht akzeptiere, können sich neue Horizonte auftun. Das gilt es wiederzuentdecken, wenn das Sterben wieder Raum haben soll in der Mitte der Gesellschaft. Wenn wir unsere Sterblichkeit – und die Angst vor der Sterblichkeit – teilen, kann das die Isolation durchbrechen. Wenn Pflege und Versorgung der Hochaltrigen und Sterbenden mehr in die Nachbarschaft zurückkehren sollen – und wer möchte nicht »leben und sterben, wo wir hingehören« –, müssen wir uns als Christ*innen auf den Weg in die Nachbarschaft machen. Es geht um die Frage, was Menschen Mut macht, über Ängste und Unwissenheit zu sprechen. Was hilft, mit dem Sterben in Familie und Nachbarschaft umzugehen? Es geht darum, die Sorge am Lebensende aus der exklusiven Randständigkeit zu führen und sie in den Fokus Sorgender Gemeinschaften zu rücken. Diakonische Unternehmen, Hospizvereine und auch Kirchengemeinden bieten deshalb inzwischen »Letzte-Hilfe-Kurse« an, wo man an einem Samstag lernen kann, was wir über das Sterben und die kleinen, liebevollen Hilfemaßnahmen wissen sollten. Das kann Ängste nehmen. In unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft verlangt die Zeit der Sterbebegleitung, des Abschiednehmens und Neuordnens ein hohes Maß an Kommunikation und Absprachen in Familie und Nachbarschaft, mit Freund*innen und Kolleg*innen. Das bietet aber auch die Chance, neue Möglichkeiten des Miteinanders zu entdecken und daran zu wachsen. In einer Untersuchung des Heidelberger Instituts für Gerontologie wird deutlich: Pflegende Angehörige fühlen sich oft überlastet und überfordert, aber sie machen gleichzeitig ganz neue Erfahrungen von Nähe und Energie. Um sich darauf einzulassen, brauchen sie auch geistliche Unterstützung.272 Wo pflegende Angehörige sich während der Pflege in Kursen und Gesprächsgruppen getragen wussten, finden sie später oft den Weg in ein eigenes Engagement in die ehrenamtliche Hospiz- oder Krankenhausseelsorge. Was sie einzubringen haben – über ihr Fach- und Erfahrungswissen hinaus –, ist eine umfassende Lebens- und Glaubenserfahrung. Kirchengemeinden und Seelsorgepersonen sind also nicht nur zur Beerdigung gefragt, sondern gemeinsam mit Pflegestationen und Hospizdiensten lange vorher – auf dem langen Weg der Abschiedserfahrungen. Hospize, Pflegeeinrichtungen und Bestatter*innen stellen seit Langem Räume dafür zur Verfügung. Gemeinden sollten sich nicht scheuen, tabulos von ihren Erfahrungen zu lernen.

272 Siehe https://www.uni-heidelberg.de/de/newsroom/angehoerige-im-eigenen-umfeld-betreuen (Zugriff am 12.01.2021).

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Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

Als ich in den 1980er-Jahren Gemeindepfarrerin war, bin ich regelmäßig mit Konfirmand*innen auf den Friedhof gegangen. Der alte Friedhofsgärtner führte uns an den Gräbern entlang wie durch eine Totenstadt, erzählte die Geschichten der Verstorbenen als Geschichte der Kleinstadt. Vom reichen Bauern und dem armen Schlucker, aber auch von den Säuglingen, die da begraben waren. Die Jugendlichen hatten Grablichter bemalt oder beklebt und stellten sie am Ende zu einem Menschen, der sie besonders beeindruckt hatte. Als die Lichter angezündet waren, wurde sichtbar, wie die Toten in unseren Geschichten weiterleben und wie Tote und Lebende zusammengehören. Davon ist 40 Jahre später nur noch wenig zu spüren. Auf dem Friedhof gegenüber unserem Haus, wo meine Eltern begraben sind, werden die Gräber kleiner – die Zahl der Rasengräber und Urnengräber wächst kontinuierlich. Wo die Familien nicht mehr an einem Ort wohnen – und das ist inzwischen der Normalfall – wollen Sterbende die Angehörigen nicht mit Grabpflege belasten. Eine kleine Platte mit Namen und Daten, im Rasen eingelassen, genügt. Die freien Flächen auf dem Friedhof wachsen, die Felder bekommen wieder Raum. In der Nähe ist ein Waldfriedhof entstanden, auch Seebestattungen sind gefragt. Der rasante Wandel der Friedhofskultur spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen: Individualisierung, Mobilität, Säkularisierung, religiöse Vielfalt. In Bremen ist der sogenannte Friedhofszwang inzwischen aufgehoben; was bislang unter der Hand geschah, ist nun auch offiziell erlaubt: Urnen können also auch im eigenen Garten bestattet oder auf den Kamin gestellt werden. Wir kennen das längst aus Filmen und Fernsehserien. Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf sieht darin einen Gewinn an Freiheit273 – einengende, bürokratische Normen werden überwunden. Andere dagegen – ich gehöre auch dazu – sehen vor allem einen Verlust an Öffentlichkeit. Der Tod wird privatisiert. Wer nicht zu den engsten Angehörigen gehört, hat keinen Zugang mehr zum Bestattungsort. Zugleich allerdings entstehen neue Öffentlichkeiten: Seit den 1990er-Jahren gibt es virtuelle Friedhöfe im Netz, dazu digitale Traueranzeigen, wo man einen anteilnehmenden Vers hinterlassen oder eine virtuelle Kerze anzünden kann. Ein Beispiel ist die Gedenkstätte »Lichter der Ewigkeit« des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Und weil weit entfernt lebende Angehörige und Freund*innen oft nicht mehr zur Bestattung kommen können, bieten viele Bestatter*innen bereits einen Livestream der Trauerfeier an. In Coronazeiten war das ein großer Vorteil. Kirchengemeinden und Landeskirchen machen sich Gedanken darüber, wie Friedhöfe Gemeinschaftsorte bleiben können, auch wenn sie nicht mehr Heimat 273 Scherf/Keil 2016, S. 189.

Mit Grenzen leben – Gemeinschaft der Lebenden und der Toten

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und Gemeindegeschichte spiegeln. Orte, die Trost geben und etwas erzählen von der Verbindung zwischen Tod und Leben. Wo in den Baumkronen die Vögel singen. Wo Menschen auf einer Bank miteinander reden, Kinder ganz selbstverständlich den Umgang mit dem Tod lernen. Ein Grab pflegen, eine Kerze aufstellen, einen Teddy mitbringen – die Bräuche verändern sich. In den ehemaligen Leichenhallen werden Gesprächsorte eingerichtet – Trauercafés, Begegnungsstätten. Gemeinde- oder Bürgerbusse fahren Ältere einmal die Woche zum Friedhof. In Köln hat Josef F. Terfrüchte den ehrenamtlichen Servicedienst Friedhofsmobil gegründet, der auch in der Weihnachtszeit Angehörige zu den Gräbern ihrer Lieben fuhr.274 Bänke, manchmal aus Angst vor Obdachlosen schon abgebaut, werden wieder aufgestellt. In der Begegnungsstätte gibt es Kaffee und Kuchen. Kinder dürfen mitfahren und finden am Rand des Friedhofs einen herrlichen Wasserspielplatz. Ein Ort des Lebens, an dem auch die Toten ins Gespräch kommen. Wo auch die ihren Platz haben, die in den Traditionskulturen keinen Platz auf dem Friedhof fanden: frühgeborene Sternenkinder, Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, Zugewanderte mit einer anderen Religion. Die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller hat sich mit der Gemeinschaft zwischen Lebenden, Sterbenden und Toten in den unterschiedlichen Religionen beschäftigt. In einer Zeit, in der auch das Sterben gemanagt wird, in der Menschen die Sorge um die toten Körper an Dienstleister delegieren und Billiganbieter Einfachsärge und Krematorien im nahen Ausland anbieten, wo es anscheinend darum geht, zu entsorgen, was war – heute denkt Birgit Heller über die Traditionen der Totensorge nach. Erschüttert vom Abtransport der Leichensäcke in Coronazeiten, liest man, wie der Leichnam in den unterschiedlichen Kulturen und Religionen gewaschen und gesalbt, gekleidet und bestattet wird, wie Verstorbene und Trauernde bei der Bestattung unterstützt werden, wie die Lebenden mit den Toten Kontakt halten. Sie erzählt von Fährfrauen und Seelenschwestern, von Sitzwachen und Klageweibern und dem Löschen des Herdfeuers, dem Tragen der Totenfahne und dem Brauch, sich das Gesicht zum Zeichen der Trauer mit Asche zu bestreichen. Die Trauernden bringen Opfer, damit die Totenreise gelingt – durch Spenden und Fasten, im Verzicht auf bunte Kleidung, auf Feste und Feiern, Tanzen und laute Musik. Es geht um einen Liebesdienst. Die Lebenden verweilen eine Weile mit den Toten in einer Zwischenwelt, die Zeit steht still.

274 Siehe Titelgeschichte Beyer, Susanne et  al. (2020): »So kann Weihnachten trotz Corona ein Fest der Hoffnung werden«. Der Spiegel, 52/2020, 13–22, 19. https://www.spiegel. de/familie/coronavirus-so-kann-weihnachten-trotz-corona-ein-fest-der-hoffnung-werden -a-00000000-0002-0001-0000-000174544022 (Zugriff am 12.01.2021).

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Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

Es ist eine Zeit der Verwandlung, in der auch die Lebenden eine neue Rolle finden müssen – einen neuen Ort in der Welt.275 Davon ist in unserer säkularen Kultur auf den ersten Blick nicht viel übrig geblieben. Noch kommen Angehörige in die Gottesdienste, wenn die Verstorbenen am Folgesonntag oder am Totensonntag abgekündigt werden. Aber Trauerkleidung ist – abgesehen von der Bestattung – kaum noch zu sehen. Kaum jemand trägt noch das Jahr über schwarz. Schaut man genauer hin, hat manches aber doch Kontinuität: So taucht das Bild der Reise in Anzeigen und auf Kranzschleifen auf. Filme erzählen vom Allerheiligenfest in Lateinamerika, vom Beschwören der Totengeister in der afrikanischen Community. Sterbeammen bieten ihre Hilfe für den letzten Weg an. In Hospizen, Krankenhäusern und Altenheimen werden Aussegnungsrituale wieder selbstverständlicher. Und mehr und mehr Krankenhäuser und Hospize feiern Gedenkandachten, bei denen Kerzen angezündet und die Namen verlesen werden. Mitarbeitende, Angehörige wie Trauerbegleiter*innen spüren noch einmal der Gemeinschaft nach, die sie getragen hat – und viele fühlen sich hier weit mehr geborgen als in der Kirchengemeinde, in der Friedhofskapelle, die oft schon zu groß für die kleine Trauerfeier ist, weil immer mehr Menschen einsam sterben – ohne Angehörige und Freunde. In Lüneburg hat sich die Tobias-Gemeinschaft dieser Beerdigungen angenommen und organisiert mit kleinen Gruppen von Engagierten eine würdige Trauerfeier.276 Dass während der Pandemie Beerdigungen im kleinsten Kreis stattfanden oder verschoben werden mussten, hat nicht nur die engsten Angehörigen getroffen. Es war schwer, den letzten Abschied zu verschieben oder aus dem Netzwerk der Verwandten und Freunde eine Handvoll herauszusuchen. Zu Anfang der Corona­krise habe ich in der schwer betroffenen Region Heinsberg erlebt, wie auf die Begleitung des Pfarrers verzichtet wurde, um wenigstens alle Geschwister zu beteiligen. In diesen Wochen habe ich viel darüber nachgedacht, dass im Judentum die Anwesenheit eines Minjan nötig ist, um das Kaddisch – das Trauergebet – zu sprechen. Zehn Juden, im orthodoxen Judentum zehn Männer, sind nötig, damit diese heilige Andacht abgehalten werden kann. Ein Problem unter den Rahmenbedingungen der Coronakrise. So wie auch das Freitagsgebet der Muslim*innen – anders als die Tagzeitengebete – nur in der Gemeinschaft gesprochen werden kann. Viele haben das während des Ramadans schmerzlich vermisst. Wir wäre es, wenn auch uns Christ*innen klar wäre, dass wir eine solche Gemeinschaft brauchen, um zu trauern, zu beten, uns festzumachen in unsicheren 275 Vgl. Heller, Birgit (2012): Wie Religionen mit dem Tod umgehen. Grundlagen für die interkulturelle Sterbebegleitung. Freiburg i. Br., S. 178. 276 Siehe https://www.tobiasgemeinschaft.de/ (Zugriff am 12.01.2021).

Mit Grenzen leben – Gemeinschaft der Lebenden und der Toten

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Zeiten? Wenn wir darauf angewiesen wären, zehn Getaufte zu finden, die mit uns Abschied nehmen, Menschen aus Familie, Gemeinde und Nachbarschaft? Wie stünde es dann um unsere Trauer, das Miteinander und die Gemeinden? Dass Jesus seinen Jüngern Mut machte, auch in der häuslichen Abgeschlossenheit zu beten, dass für ihn »zwei oder drei« in seinem Namen genügten, um Gemeinde zu bilden, hat die Individualisierung und Personalisierung im »Westen« gewiss vorangetrieben, vielleicht aber auch unseren Sinn für das größere Ganze geschwächt. Für die Gemeinschaft in Familie, Freundschaft, Gemeinde und auch für die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten. In den religiösen Traditionen ist Gemeinschaft nie nur horizontal, sondern immer auch vertikal gedacht – in der Verbundenheit mit »unseren Toten«. Nicht nur die Friedhöfe, auch Gedenk- und Erinnerungsorte erzählen davon. Oft sind es die Kirchen, die dafür Raum bieten. Wie die Schulen können auch die Gemeinden dazu beitragen, das nationale Narrativ aus Weltkriegen, Holocaust, Flucht und Vertreibung weiterzuerzählen und mit denen der neu Hinzugekommenen zu verflechten – der Geschichte des Jugoslawienkriegs, des syrischen Bürgerkriegs, des Genozids an den Armeniern … Die letzte Generation, die sich bei uns nicht von ihren Toten verabschieden konnte, war die Kriegsgeneration. Aus eigener Erfahrung mit Vermissten in der Elterngeneration weiß ich, wie lange Ohnmacht und Hilflosigkeit anhalten, und auch die vielen Seminare mit Kriegsenkeln erzählen davon. Seit dem Einbruch der Pandemie gab es einen staatlichen Gedenktag in Spanien und Zeitungsseiten mit Kolonnen von Namen in New York. Und in Brasilien ließen Angehörige rote Luftballons an der Copacabana aufsteigen. Tageszeitungen und Wochenzeitschriften veröffentlichten Namenslisten, erinnerten an Lebensgeschichten. Vereine riefen im Internet zur Gestaltung eines Quilts mit Namen und Symbolen auf. Wie gehen wir damit um, dass Ende des Jahres 2020 mehr als 30.000 Menschen im Deutschland am Corona-Virus gestorben sind, im Herbst 2020 täglich 400 Menschen – so viel wie die Passagiere eines abgestürzten Flugzeugs? War es genug, diese Menschen am Totensonntag in unser Gebet einzubeziehen? Mit dem Jahreswechsel 2020/2021 sind in der Zivilgesellschaft neue Initiativen und Rituale des Gedenkens entstanden: Jeden Freitagabend werden nun in Köln, Berlin und an anderen Orten Kerzen für die Verstorbenen auf Rathaustreppen oder Plätzen angezündet.277 Weinen mit den Weinenden, wie Paulus (Römer 12,15) schreibt, und sich freuen mit den Fröhlichen – Gefühle zu teilen, hält eine Gemeinschaft zusammen. Es hat dann bis Ende Januar 2021 gedauert, bis die Kirchen die Initiative von Bundes277 Westfalen-Blatt (2020): Corona-Toten ein Gesicht geben. Bielefelder Flaneure initiieren Gedenkort auf dem Klosterplatz, 29.12.2020. https://www.westfalen-blatt.de/OWL/Bielefeld/ Bielefeld/4337906-Bielefelder-Flaneure-initiieren-Gedenkort-auf-dem-Klosterplatz-CoronaToten-ein-Gesicht-geben (Zugriff am 12.01.2021).

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Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

präsident Frank-Walter Steinmeier unterstützten und unter dem Hashtag »#lichtfenster« gemeinsam dazu aufrufen, an jedem Freitagabend Kerzen ins Fenster zu stellen zur Erinnerung an die inzwischen schon über 50.000 Corona­toten. Brauchen die Toten uns? Brauchen wir die Toten? Klar ist: Nur auf uns selbst zentriert können wir nicht leben. Die Verstorbenen stellen uns in eine Geschichte, erinnern an unsere Wurzeln – und umgekehrt: Solange Menschen sich an uns erinnern, sind wir im Gedächtnis lebendig, auch über unseren Tod hinaus. Wer ganz werden will, Kohärenz finden will, muss sich also früher oder später mit den Verstorbenen auseinandersetzen. Mich hat vor einiger Zeit Nora Krugs Buch »Heimat«278 beeindruckt – die Graphic Novel einer Deutschen, die mit einem amerikanischen Juden verheiratet ist und in New York lebt. Weil sie immer wieder auf ihr Deutschsein angesprochen wurde, machte sie sich schließlich auf den Weg in die Heimat ihrer Vorfahren und recherchierte die Geschichte ihres Großvaters – eine ganz normale Mitläufergeschichte aus dem Dritten Reich. Das Buch schildert ihr Aktenstudium, die Familienbesuche, die äußeren und inneren Auseinandersetzungen. Am Ende hat sie neue Verwandte gefunden, sie hat Zugehörigkeit entdeckt, ihre Großeltern in deren Geschichten kennengelernt und schließlich um sie trauern können. So hat sie die Geschichte der Vorfahren in ihre eigene integriert und den beiden mit ihrem Buch ein Denkmal gesetzt. Und viele, die aus Migrantenfamilien kommen oder als Geflüchtete in unser Land kamen, haben das gleiche Bedürfnis, die eigene Herkunft zu verstehen und auch um die Verstorbenen zu trauern. Tatsächlich gehört das zu jedem Trauerprozess: Wir müssen mit Verlusten umgehen, die Bilder unserer Verstorbenen klären und bearbeiten. So gewinnen wir am Ende ein neues Bild – von ihnen, aber auch von uns selbst. Seit Beginn der Hospizbewegung vor rund 50 Jahren haben Psycholog*innen und Psychoanalytiker*innen neu übers Trauern nachgedacht. Nicht mehr in religiösen Symbolen, sondern in wissenschaftlicher Expertise, mit empirischer Forschung und Tiefeninterviews. Heute dreht sich die Fachdiskussion um die Frage, welche Bedeutung Loslassen und Bindung im Abschiednehmen haben. Der Trauerforscher J. William Worden sieht die Aufgabe nicht mehr darin, sich zu trennen, sondern inmitten des Aufbruchs in ein neues Leben eine dauerhafte innere Verbindung zu der verstorbenen Person zu finden.279 Ziel ist also nicht mehr die grundlegende Ablösung, schon gar nicht das Vergessen und Entsorgen. Es geht darum, das Vergangene in die eigene Biografie und in die Gemeinschaft der 278 Krug, Nora (2018): Heimat. Ein deutsches Familienalbum. München. 279 Evangelischer Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg (o. J.): Traueraufgabenmodell nach William Worden. https://www.trauer-und-leben.de/trauerforschung/aufgabenmodell/ (Zugriff am 15.01.2021).

Erinnerungen teilen – Kirche als Erzählgemeinschaft

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Lebenden zu integrieren. Ob wir Schutzräume während des Lockdowns genutzt haben, um von falschen Selbst- und Gesellschaftsbildern Abschied zu nehmen, wird sich auch an unserem Umgang mit den Toten zeigen. Wer schon einmal in einem griechisch- oder russisch-orthodoxen Gottesdienst war, hat die Ikonostase gesehen. Man feiert dort Gottesdienst unter den Bildern der Heiligen, mit der »höheren Schar«. Die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten. Wo man hierzulande über den Friedhof zur Kirche geht, ist das noch immer räumlich erfahrbar. Die Verstorbenen in die Gemeinschaft der Lebenden integrieren: Wie kann das heute in einer Gesellschaft gelingen, die sich dauernde Ablösung und Neuanfänge auf die Fahnen geschrieben hat? Und die gleichzeitig die Wiederkehr alter Schrecken erlebt, von Nationalismus und Fremdenhass?

4.6 Erinnerungen teilen – Kirche als Erzählgemeinschaft Abschiednehmen beginnt meist lange vor dem biologischen Tod, in der Regel mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Wir reden vom sozialen Tod, vom Beziehungstod oder dem Tod durch Vergessen und was das bedeuten kann, haben wir im Umgang mit den Hochaltrigen in geschlossenen Pflegeeinrichtungen gesehen. Ruthmarijke Smeding spricht vom Triptychon der Trauer, im Bild des Flügelaltars also, der in der Passionszeit zugeklappt wird und erst zu Ostern die Mitte zwischen den beiden Seitenflügeln zeigt. Links ein Bild der Trauer vor dem Tod, in der Mitte die Trauer während des Sterbens und rechts die nach dem Tod, die wir normalerweise im Blick haben, wenn wir von »Trauer« reden. Dabei geht es um die Erfahrungen der Sterbenden wie die der Angehörigen und Begleiter*innen. Auf Youtube sah ich einen kleinen Film über eine ungewöhnliche Sterbebegleitung. Es bettet die Sterbe- und Trauererfahrung in die Natur ein. Ein junges Paar hatte einem schwer kranken Mädchen die Möglichkeit gegeben, ein letztes Mal zu reiten. Die beiden hatten einen Reitstall, das Mädchen hatte dort Reiten gelernt. Mit zunehmender Schwäche und angesichts ihrer starken Schmerzen fehlte ihr vor allem der Kontakt zu dem Pferd.280 Wie Tiere trösten können, das haben viele vergessen – aber es ist wohl ein Trost, dass wir in unserer Sterblichkeit nicht allein sind, sondern Geschöpf unter Mitgeschöpfen. In Altenheimen, wo Therapiehunde oder Vogelvolieren erlaubt sind, in Seniorenwohngemeinschaften auf Bauernhöfen lassen sich diese Erfahrungen machen: Da erwachen auch Demenzerkrankte zu neuer Bewusstheit und Verantwortlichkeit. Wo die 280 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=47tdn53aOzA (Zugriff am 05.01.2021).

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Orte und Geschichten – was die Kirche zur Gemeinschaft beitragen kann

Häuser dafür offen sind, da weitet sich die Gemeinschaft, bezieht alle Geschöpfe ein und versöhnt uns mit unserer Natur – ganz anders als eine Roboterrobbe das kann. Die junge Frau kam wieder regelmäßig in den Reitstall, bis sie in den letzten Wochen auf dem Reiterhof lebte, gut versorgt, und von der liebevollen Nähe »ihres« Pferdes getröstet. Als sie starb, standen schon andere auf der Warteliste – die »tiergestützte« Hospizarbeit zog Kreise. Die kleine Wahlfamilie wuchs – das Video zeigt das Paar mit drei jungen Mädchen am Tisch. Sie erzählen, lachen und weinen, trösten sich. Um das Hospiz am Reiterhof weiterzuführen, haben die beiden ihren gut dotierten Beratungsjob aufgegeben und stattdessen eine Kaffeeproduktion gegründet. Ihr Leben auf dem Reiterhof hat einen neuen Sinn gefunden. Sterben und Trauern heißt Abschiednehmen von Rollen, Funktionen und Plänen. Es bedeutet aber auch, sich die eigenen Wünsche, Fähigkeiten, Beziehungen noch einmal bewusst zu machen, die Gemeinschaft zu vertiefen und zu weiten. Das beginnt nicht erst mit dem Augenblick, in dem wir eine tödliche Diagnose erfahren, sondern oft schon mit dem Älterwerden, und es stellt unsere Identität radikal infrage. Denen, die mit uns zusammenleben, geht es genauso. Besonders deutlich wird das bei einer Demenzerkrankung. Im Abschiednehmen geht es darum, loszulassen, was nicht mehr passt, aber auch, sich bewusst zu machen, was wir in Erinnerung halten wollen. Von uns selbst und von anderen. Noch vor dem Tod geht es darum, Versäumtes zu verabschieden und Verlorenes zu betrauern – Kinderlosigkeit, eine Scheidung, berufliches Scheitern oder der Verlust eines Lebenstraums sind eben nicht einfach »reparierbar«. Es geht darum, zu vergeben. Uns selbst und auch anderen. Beziehungen noch einmal anzuschauen und durchzuarbeiten, damit wir in Liebe loslassen können. Und schließlich den roten Faden zu entdecken, den verborgenen Sinn, eine neue Perspektive. Als Sterbende können wir unsere Angehörigen dabei unterstützen, gute Hinterbliebene zu werden, wenn wir darüber sprechen und ins Licht rücken, was für uns wirklich zählt. Auf den ersten Blick sehen wir ein physisches Geschehen, dann aber das soziale und biografische Netzwerk, in dem Menschen ihr Leben gestaltet haben – mit seinen sichtbaren wie mit den unsichtbaren Knoten, die sich nun lösen. Schmerzliche Lücken, unversöhnte Beziehungen, Abbrüche und glückliche Neuanfänge. Menschen, die uns stark gemacht, und solche, die uns gekränkt und geschwächt haben. Da fallen Namen, die keiner mehr kennt – von Vorgesetzten, Freund*innen, Kolleg*innen, von Zufallsbegegnungen, die den Verlauf einer Biografie gleichwohl entscheidend verändert haben. Wie alte Fotos, die niemand beschriftet hat, tauchen Bruchstücke von Geschichten auf. Und niemand, außer vielleicht Angehörige, Freund*innen, Nachbar*innen und Dienstleister*innen, ist in der

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Lage, zu dechiffrieren, was sie bedeuten. Manchmal ist es die Nachbarin, die unseren Lebensrhythmus am besten kennt. »Im Alter erzählt man sich sein Leben neu«, sagt die Autorin Ruth Klüger, die im Coronajahr verstarb: »ich beurteile die Menschen anders, als ich sie vorher beurteilt habe. Das Alter gibt die Chance, auf das Ganze zu sehen, offener zu werden und großzügiger. Ich muss keine Angst um mein Ego mehr haben – ich kann einen Schritt zurücktreten und mich freuen, an dem was wird und geworden ist. Durch mich und auch durch andere.« 281 Wer sich in Seelsorge, Besuchsdienst oder Hospizarbeit engagiert, hat das Privileg, andere Menschen in diesem Prozess zu begleiten. Denn wer einen Sterbenden begleitet, tut auch etwas für sein eigenes Leben. So wie umgekehrt jede*r, der*die seinem*ihrer Begleiter*in das eigene Leben anvertraut, ihn*sie beschenkt – mit anderen Zeiterfahrungen, ungeahnten Möglichkeiten, ehrlichen Aussagen über Scheitern und Sackgassen. Wenn mich jemand daran teilhaben lässt, kann ich lernen, was für mich selbst wesentlich ist. Kirchengemeinden können dafür sorgen, dass solche Erfahrungen Raum bekommen. Dabei helfen ganz praktische Schritte und Angebotsstrukturen: Erzählcafés zum Beispiel, Geschichtswerkstätten oder Kurse für biografisches Schreiben. Auch bei Erinnerungsprojekten im Stadtteil werden die Älteren mit ihren Erfahrungen gebraucht. Räume werden gesucht, in denen die Älteren nicht länger »Betreute« sind, sondern zum Subjekt werden und Resonanz erfahren. Denn wer keinen Platz im Leben der anderen mehr hat, wer nicht mehr geben kann, wird sich schnell überflüssig fühlen. Aber die Älteren werden gebraucht, wenn es darum geht, verantwortlich Zukunft zu gestalten. Ich denke auch an »Omas gegen rechts« und andere, die an der Spitze von Bürgerbewegungen stehen – gegen Fremdenhass, für die Aufnahme von Geflüchteten. »Was noch erzählt werden muss« heißt das Buch des Magdeburger Krankenhausseelsorgers Hans Bartosch.282 Die Lebensgeschichten, die darin aufgeschrieben sind, sind Beiträge zur Zeitgeschichte. In den Begegnungen wird deutlich, wie kostbar jede einzelne Geschichte ist. Die meisten, die dabei zur Sprache kommen, sind Atheist*innen oder jedenfalls Agnostiker*innen – aber sie schätzen, 281 Ruth Klüger im Interview: Radisch, Iris (2015): Der Sinn des Lebens ist das Leben. Ruth Klüger. DIE ZEIT, 39/2015. https://www.zeit.de/2015/39/ruth-klueger-lebens-lebensendgespraech-interview (Zugriff am 12.01.2021). 282 Bartosch, Hans (2018); Was noch erzählt werden muss. Zeitgeschichte am Krankenbett. Frankfurt a. M.

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dass da einer ist, der ihre Geschichte hören will. Als werde sie noch einmal aufgezeichnet in Gottes Buch. Viele Menschen ahnen vielleicht, dass Christ*innen einen Deutungshorizont haben, der über das eigene Leben hinausgeht. Der helfen kann, auch dem einen Ort zu geben, was droht, verloren zu gehen. Kirche ist Erzählgemeinschaft – über die individuellen Geschichten hinaus, in denen sich die Geschichte einer Generation oder eines Landes spiegelt. Kirche lebt von den Erzählungen der Vorfahren und Vorbilder, der »Väter und Mütter im Glauben«. Dietrich Bonhoeffers Gedicht »Von guten Mächten« und sein Glaubensbekenntnis trösten bis heute viele in ungewissen Situationen genauso wie Klaus-Peter Hertzschs Lied »Vertraut den neuen Wegen«, das an die Aufbrüche von Kirchen und Bürgerrechtler*innen in der DDR erinnert. Kirche ist Erzählgemeinschaft auch mit den Heiligenlegenden von Martin und Nikolaus, die wir im Herbst feiern, mit der Weihnachtsgeschichte und immer wieder mit den Gleichnissen und Geschichten der Evangelien. Jedes Kreuz, das wir in und vor Kirchen sehen, fordert heraus, die Geschichte des auferstandenen Jesus wieder neu zu erzählen. Auch für Steffen Bauer ist Kirche zuerst und zuletzt Erzählgemeinschaft. Er erzählt von der digitalen Gebetsgemeinschaft, die er an dem Tag erlebt hat, als die Beatmung seines Bruders, der im Koma lag, abgestellt werden musste und um die Fürbitte der Community gebeten hatte. Rund 500 Bekundungen der Anteilnahme und des Gebets erreichten ihn, auch von Menschen, die er nicht persönlich kannte. Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus, Haupt- und Ehrenamtliche aus der Kirche, aber auch Menschen ohne erkennbaren Bezug zu Kirche und Glauben. Steffen Bauer erzählt von »#twomplet«, der digitalen Komplet im Internet – ohne Hierarchie, ganz im Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Hier im Netz tritt die Institution zurück, entscheidend ist das Beziehungsgeflecht. Und das kann auch digital gewebt werden. Jede*r, die*der das letzte Kapitel des eigenen Lebens bewusst gestalten will, sollte die notwendige Unterstützung bekommen, um die eigene Geschichte zu erzählen, sie in das Geflecht der bekannten Geschichten hineinzuweben, das eigene Vermächtnis weiterzugeben, und denen, die bleiben, Segen zu hinterlassen. Das gilt nicht erst für die Bestattung, sondern auch für die Abschiedsfeiern mitten im Leben, denen wir gemeinsam mit Familie und Freunden eine unverwechselbare Gestalt geben können. Dabei können die »Wünschewagen« ein Segen sein, umgebaute Krankenwagen, die Totkranke noch einmal an einen geliebten Ort bringen, wie einen älteren Mann, dem die Menschen im Viertel einen letzten Empfang im Gasthaus bereiteten. Mit Toast und Musik. Immer mehr Bestattungen finden nur noch in ganz kleinem Rahmen statt, die Zahl der anonymen Beisetzungen nimmt zu, Traditionen zerfallen. Zugleich aber

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denken immer mehr Menschen über ihre Beerdigung nach, gestalten die Todesanzeige und das Fest im Voraus. Traditionen gehen verloren. Zugleich aber werden die Rituale individueller, bunter und fantasievoller. Damit das gelingt, müssen Ängste überwunden und Tabus abgebaut werden. Pfarrer*innen können ihr Expert*innenwissen weitergeben – Liturgien, Gebetserfahrungen, Segensgesten, ganz im Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Die Autorin Petra Schuseil hat mit ihrer Freundin Annegret Zander einen Totenhemd-Blog ins Netz gestellt283 – und die wiederum hat sich eine bunte Patchwork-Totendecke nähen lassen mit all den Symbolen des Lebens, die ihr wichtig waren. Nicht weiß und anonym wie die Hemden der Bestatter*innen. Jede*r kann mit den eigenen Gaben dazu beitragen, dass auch und gerade in den Zeiten des Abschieds sorgende Gemeinschaften entstehen, Erzählgemeinschaften, Tischgemeinschaften. Essen und Trinken gehört genauso dazu wie die Blumen der Nachbarin, Musik und tröstende Worte. Dabei können wir zurückgreifen auf die Schätze der Gemeinschaft – Lieder, Gebete und Rituale, die wir nicht neu erfinden müssen. Schätze von Generationen, in denen der Geist Gottes spürbar ist, die spirituelle Quelle der sorgenden Gemeinschaften. Unsere unverwüstliche Hoffnung auf Leben.

283 Siehe https://totenhemd.wordpress.com/ (Zugriff am 16.12.2020).

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Das Eingemachte – was für die Zukunft stärken kann

5.1 Kirchengemeinschaft im Wandel Ich denke noch einmal an die Tischgemeinschaft der ersten Christ*innen in Jerusalem, an die Männer und Frauen die sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst haben und nun in den Gemeinden eine neue Familiaritas fanden – als Brüder und Schwestern, Pat*innen. Diese Gemeinde war wahrhaftig eine »Caring and Enabling Community«, auch was die einfachen Sorgetätigkeiten anging (Apostelgeschichte 2,42 ff.). Güter wurden geteilt, Kranke besucht, für alle gemeinsam wurde der Tisch gedeckt. Jede*r sollte satt werden – auch die griechischen Witwen, die ganz unten am Tisch saßen. Diese sorgende Gemeinschaft hatte hohe Anziehungskraft für Frauen und Männer ganz unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Milieus: Schon bald entwickelte sich eine grenzüberschreitende Kirche, die wuchs, in dem sie Teilhabe ermöglichte (Apostelgeschichte 6). Auch heute suchen viele nach Gemeinschaft. Sie engagieren sich in einer Initiative, treffen sich auch privat mit Kolleg*innen aus ihrem Team, singen in einem Chor – die meisten leben in unterschiedlichen Netzwerken, haben verschiedene Zugehörigkeiten, so wie es unterschiedliche Lebensrollen gibt. Kaum noch vorstellbar, dass Menschen vor Jahrzehnten in konfessionellen Welten lebten: Vom Kindergarten bis zum Kirchenchor, vom CVJM bis zur Frauenhilfe begegnete man immer wieder denselben Familien, der eigenen Konfessionsfamilie. Individualisierung, Pluralisierung und nicht zuletzt die Mobilität haben diese Bindungen gelöst. Aber neue Gemeinschaftserfahrungen sind möglich – beim Kirchentag, bei einem Pop-up-Chor, auf einer ökumenischen Reise, im Internet. Über Zeiten und Grenzen hinweg. Auch Kirchengemeinden bieten Gemeinschaftserfahrungen für Engagierte und Suchende. Aber längst sind nicht mehr alle, die sich bei den Tafeln, in Hospizen, in der Gospelbewegung oder als Kirchenkurator*innen engagieren, Kirchenmitglieder. Häufig hatten sie sich der Kirche entfremdet oder waren ohnehin nie Mitglieder. Wie viel Teilhabe darf ihnen gewährt werden, wie viel Verantwortung

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dürfen sie in kirchlichen Strukturen übernehmen? Welchen Einfluss haben die neu gegründeten Stiftungen, welchen haben die Verbände und Initiativen auf die Entscheidungen der Kirchenvorstände und Synoden? Kann das Engagement in der Gemeinde den Weg zur Mitgliedschaft, ja zur Taufe ebnen? Wenn man die Einsicht ernst nimmt, dass Glaube immer nur prozessual geschieht und dass Areligiosität auch unter Kirchenmitgliedern vorhanden ist, dann wird es absurd, ausschließlich binär zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft zu unterscheiden, so Hans-Martin Barth.284 Vielmehr muss es darum gehen, Menschen auf der Suche einzuladen, Beteiligung auf Probe oder auf Zeit zu ermöglichen und die spirituellen Orte unserer Kirche für Suchende offen zu halten. »Ein spiritueller Ort entsteht in meiner Erfahrung immer als Zwischenraum, ein Zwischenraum zwischen Menschen«, sagt Friederike Weltzien: »Dort, wo sich so etwas wie ein seelisches Angesprochensein ereignet in einem Kirchenraum, in einer Moschee oder einer Synagoge oder auch zum Beispiel an einem Baum oder vor einem Kunstwerk. All das kann für mich zum spirituellen Raum werden. Für uns hier ist es der Raum, in dem Menschen sich entfalten, ihre Religion leben, in aller Verschiedenheit. Ein Raum, in dem Gottesbeziehung möglich wird, über Andacht und Stille, über Gebet und Gesang, über Tanz und Texte.«285 Während der Pandemie gelang es dem Team der Rundfunkbeauftragten der Kirchen beim RBB eine Reihe von ökumenischen, ja interreligiösen Gottesdiensten zu gestalten, in denen die erschütternden Erfahrungen der Krise reflektiert werden konnten. Gottesdienste, die über Konfessionsgrenzen hinweg Gemeinschaft stifteten. Und trotzdem tat es weh, dass wegen Corona nicht geschehen konnte, wovon die Räume erzählten: kein Abendmahl am Altar, keine Taufe an dem alten Taufstein, kein Segen auf den Stufen. Dabei geht es um Kernerfahrungen der christlichen Gemeinschaft. Sie ist zuerst und immer wieder Tischgemeinschaft. In diesem Coronajahr 2020 ist viel darüber diskutiert worden, ob und wie es möglich ist, Eucharistie ohne physisches Zusammensein zu feiern, obwohl doch Brot und Wein leiblich erfahren werden – begreifbar, gekaut und geschluckt. Obwohl es eigentlich jemanden braucht, der dir beides reicht und dich segnet. Geht das auch per Livestream vom Altar zum Küchentisch? Oder in einer Webrunde – so, dass jede*r am eigenen Tisch sitzt und die Gaben virtuell mit ande284 Barth, Hans-Martin (2013): Konfessionslos glücklich. Auf dem Weg zu einem religionstranszendenten Christsein. Gütersloh, S. 119. 285 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=2972 (Zugriff am 16.12.2020).

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ren teilt? Auf Facebook berichteten Kolleg*innen von gelungenen Versuchen, die offenbar alle Teilnehmenden glücklich machten. Es mag nicht vielen aufgefallen sein, aber auch unter den sieben Millionen Menschen in Senioren- und Langzeitpflegeeinrichtungen hatten manche dank der vielen gestreamten Gottesdienste nach langer Zeit die Chance, wieder regelmäßig an einer Feier in der eigenen Gemeinde teilzunehmen. Zugleich entspann sich eine theologische Diskussion über die Frage, wie notwendig es ist, dass Ordinierte die Einsetzungsworte sprechen und bei der Austeilung physisch zugegen sind und wie zentral das Miteinander in der Gemeinschaft ist. »Wer lädt zum Abendmahl ein? Wenn es Christus selbst ist, wie können wir diese Einladung nur auf eine bestimmte räumliche Reichweite um den Altar herum beschränken?«, fragte Ralf Peter Reimann, der Internetbeauftragte der Rheinischen Kirche.286 Er zitiert die Kundgebung der EKD-Synode 2014: »Die Digitalisierung der Gesellschaft führt dazu, dass durch digitale Räume neue Formen von Gemeinde entstehen. Nicht physische Nähe, sondern Kommunikation ist für sie wesentlich. Die evangelische Kirche respektiert und fördert diese neuen Gestalten von Gemeinde.«287 Tatsächlich wurde dann beim Gottesdienst der Rheinischen Landessynode im Januar 2021 das Brot nicht nur vor Ort in der Düsseldorfer Johanneskirche, sondern auch mit Brot und Wein in den einzelnen Häusern geteilt. Die Gemeinschaft der Heiligen, die Raum und Zeit überschreitet – für Reimann ist sie online erlebbar. Der Tübinger Kirchengeschichtler Volker Leppin dagegen fürchtet, dass Brot und Wein mit der konkreten Fassbarkeit auch ihre gewiss machende Kraft verlören.288 Keine Frage: In dieser Krise geht es ans Eingemachte. Kein Wunder, dass nicht nur über das Abendmahl, sondern auch über die Taufe debattiert wurde. Auch dieses Sakrament ist ja ganz leiblich: Wasser muss fließen, so wie Brot gebrochen werden muss. Gott ist in der Welt – essbar, trinkbar, spürbar wie bei einer Umarmung und einem Kuss. Können nicht Eltern und Pat*innen taufen, wo Pfarrer*innen die Kinder nicht berühren dürfen? Kann nicht jede*r Christ*in in Notsituationen taufen? Einige Gemeinden haben einen Kompromiss gefunden: Der*Die Pfarrer*in spricht die Taufformel und Vater oder 286 Reimann, Ralf Peter (2020): Online-Abendmahl ist keine Schnelllösung, sondern jetzt an der Zeit, 05.04.2020. https://theonet.de/2020/04/05/online-abendmahl-ist-keine-schnellloesungsondern-jetzt-an-der-zeit/ (Zugriff am 16.12.2020). 287 Reimann 2020. 288 Leppin, Hartmut (2020): Ist digitales Abendmahl sinnvoll? Contra: Wertvolles Geschehen. https://zeitzeichen.net/node/8326#contra (Zugriff am 15.01.2021).

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Mutter schöpfen das Wasser und die Pat*innen segnen. Schließlich sind wir mit Luther vom Priestertum aller Getauften überzeugt. Und das heißt doch auch: Der Segen ist nicht nur den Priestern vorbehalten, wie es noch bei Mose und Aaron war. Das ist offenbar nicht so leicht zu begreifen. In einer Arbeitsgruppe bei der Süddeutschen Hospiztagung habe ich erlebt, wie eine Krankenhausseelsorgerin mit Ehrenamtlichen die Aussegnung Sterbender übte. An einer großen Puppe. Das Gespräch drehte sich um die Frage, ob denn »ganz normale« Leute segnen dürfen: Ehrenamtliche, Pflegende oder Angehörige. Ja, sie dürfen – aber sie sind dabei oft unsicher. Mir scheint, uns ist etwas von der Selbstverständlichkeit früherer Generationen verloren gegangen. Der Segen, mit dem Eltern ihre Kinder morgens vor der Schule stark machten für den Tag. Der Segen, mit dem ein Haus oder eine Wohnung eingeweiht wurde. Das Kreuzzeichen, das in ein Brot geritzt wurde, bevor man es teilte. Von dem »Gesegnete Mahlzeit« ist meist nur ein »Mahlzeit« geblieben auf dem Weg zur Kantine. Segen hat etwas mit Übergangssituationen zu tun. Morgens, mittags und abends. Bei Taufe, Trauung, Beerdigung. Beim Einzug und Auszug. Je schneller sich unser Leben ändert, je mehr Unsicherheit uns zugemutet wird, desto größer wird die Sehnsucht nach Segen: Am Schulanfang und zum Abi, bei einem Umzug und am Ende des Arbeitslebens. Wo Menschen Feste feiern, um die Unsicherheit zu besiegen, sehnen sie sich danach, gesehen zu werden, gewürdigt, behütet und geschützt. Wenn wir uns unsicher und verletzlich fühlen, sind wir besonders offen für Gänsehautmomente, für den Segen, der uns stärkt. Dieses »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit«, von dem der Theologe Friedrich Schleiermacher289 spricht, haben viele gerade in der Zeit der Pandemie erlebt. Sie sehnen sich nach der Kraft des Heiligen Geistes, der Energie, die neues Leben schenkt. Gut, dass in einigen Gemeinden neue Formen für den Segen gefunden wurden. Segen wird in der Berührung spürbar. Die Journalistin Elisabeth von Th ­ adden hatte schon vor Corona beobachtet, dass Berührung für viele längst nicht mehr selbstverständlich ist.290 Wer ohne Partner lebt und keine kleinen Kinder hat, wer im Alter allein ist, bekommt die nötigen Streicheleinheiten vielleicht nur noch in der Wellnessmassage. Oder bei einem Haustier. In der Pandemiekrise, im Social Distancing, umarmten sich auch Freund*innen und Kolleg*innen und selbst Familienangehörige nicht mehr. Gefragt, was helfen kann, damit zurecht-

289 Schleiermacher, Friedrich D. E. (1990): Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften. KGA I/10, hg. von Hans-Friedrich Traulsen. Berlin u. a., S. 318. 290 Thadden 2018.

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zukommen, antwortet Elisabeth von Thadden: Musik.291 Musik berührt uns mit allen Sinnen. Gehörlose wissen: Trommeln und Glocken gehen unter die Haut. Und auch eine Harfe kann unseren ganzen Körper beleben. David soll Harfe gespielt haben, um den verstimmten Saul zu beruhigen. Unter den Klängen löste sich seine Depression und seine Wut verlor sich. »Und wenn nun der Geist Gottes über Saul kam«, erzählt die Bibel (1. Samuel 16,23), »nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.« Während des Lockdowns haben das viele versucht: mit Musik Distanz zu überwinden. Über Kontinente hinweg haben sich Menschen im Internet zusammengetan und gesungen – Chormusik per Zoom. Mehr noch als das Abendmahl fehlte vielen in diesen Wochen der Gemeindegesang. Zugleich konnte man im Fernsehen erleben, wie die Schauspielerin Annette Frier einen Chor für Menschen mit Demenz aufbaute. Wie glücklich die Sänger*innen waren, als sie in die alten Lieder und Schlager einstimmen konnten- und als ihnen sogar der Text wieder einfiel. »Unvergesslich« – der Chor hatte den richtigen Namen. Es war schön zu sehen, wie froh auch die Angehörigen waren, wieder etwas gemeinsam zu unternehmen. »Singen macht gute Laune und lindert Schmerzen. Es ist unmöglich, ein Lied zu schmettern und gleichzeitig in Grübeleien zu versinken«,292 sagt Annette Frier. Die Schauspielerin hat das bei ihrer Oma beobachten dürfen. »Leute, probiert es bitte aus«, sagt sie. »Singt! Laut! Es hilft gegen alle Arten von Sorgen.«293 Das Chor-Projekt wurde von Wissenschaftler*innen begleitet; sie erforschten, wie Musik unser Gedächtnis stärkt und wachhält und resilient macht. Und da war im MRT durchaus einiges zu sehen, vor allem bei denen, die immer gesungen hatten. Leider musste die letzte Folge der Sendereihe abgesagt werden. Das große Konzert fand wegen Corona nicht statt. Die wunderbare Erfahrung, zusammen zu atmen und zu schwingen und am Ende mit den vielen unterschiedlichen Stimmen zu einem Ganzen zu werden, hat auch im Gottesdienst schmerzlich gefehlt. Dieses Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein und nicht nur Publikum. Bei einem bekannten Lied, wenn der Gesang den Raum wirklich füllt, ahnt man, was der Apostel Paulus meinte, als er schrieb: »So 291 Siehe https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-neugier-genuegt-redezeit/audioberuehrungslose-gesellschaft--elisabeth-von-thadden-100.html (Zugriff am 15.01.2021) und https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/umarmen-warum-wir-ohne-beruehrungendurchdrehen (Zugriff am 15.01.2021). 292 Siehe https://www.zdf.de/dokumentation/unvergesslich-unser-chor-fuer-menschen-mit-demenz/statement-annette-frier-100.html (Zugriff am 12.01.2021). 293 Siehe https://www.zdf.de/dokumentation/unvergesslich-unser-chor-fuer-menschen-mit-demenz/statement-annette-frier-100.html (Zugriff am 12.01.2021).

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sind wir viele ein Leib.« (1. Korinther 10,17) Eine Gemeinschaft, die mehr ist als die Summe der Teile. Ein Lied, das von den Erfahrungen früherer Generationen erzählt. Ein Orchester, dessen verschiedene Stimmen sich verbinden. Die Neuentdeckung von Taufe und Tischgemeinschaft, von Segen und Gesang in der Krise – was wird sie bedeuten für die Kirche der nächsten Jahre? Klar ist: In den gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die wir erleben, geht es »ans Eingemachte« – um die Kommunikation des Evangeliums, die Sakramente, die Frage der Ämter. Was bedeutet es, dass wir nun weit entfernte Freund*innen, Brüder und Schwestern über das Web mit hineinnehmen können in den Gottesdienst? Während der Coronapandemie konnten viele erleben, was sonst der kleinen Gruppe der Ökumene-Begeisterten und -Funktionär*innen vorbehalten blieb: gemeinsame Gottesdienste mit Menschen aus allen Ländern und Sprachen, aus »dem ganzen Menschengeschlecht«, wie es im Heidelberger Katechismus294 heißt, der keine »Rassen« kennt. »Von Anfang der Welt bis ans Ende« sind wir über Zeit und Raum verbunden, aber noch immer getrennt am Tisch »des Herrn«, der uns doch zu seinem Mahl zusammenruft. Das muss doch die Kirchenleitungen jetzt noch unruhiger, die Fragen noch dringlicher, die Debatten noch heißer machen. Und gleichzeitig gilt es, ganz einfach zu tun, was wir glauben: den Segen weiterzugeben, Tischgemeinschaft zu feiern. Wenn ich hier vom »Eingemachten« rede, denke ich an meine Großmutter, die mir als Kind Mirabellen im Glas mitbrachte, wenn ich krank war – bis heute bleiben Mirabellen meine leibliche Erinnerung an Liebe und Heilung.

5.2 Die Werkstatt für himmlische Gesellschaft – weltweit vor Ort Alex Assali kommt aus Syrien und ist 2014 an der italienischen Küste gelandet. Nach seiner langen Odyssee hatte er 2016 das Glück, ein Zimmer im Sharehaus295 in Berlin zu finden. In dem schönen, hundertjährigen Haus in Neukölln leben und arbeiten Menschen aus aller Welt zusammen, die ihre Heimat verloren haben, sie verlassen mussten oder die nach neuem Leben in Gemeinschaft suchen. Sie kommen aus Syrien, Somalia, England und Deutschland, aus Schweden, Afghanistan oder der Türkei. Das Sharehouse ist kein Flüchtlingslager und kein Heim, sondern eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft auf Zeit.

294 Heidelberger Katechismus, Frage 54. 295 Siehe https://sharehaus.net/ (Zugriff am 16.12.2020).

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»Jeder Mensch ist einzigartig und kostbar, darum fördern wir uns gegenseitig in unseren Fähigkeiten und Talenten. Wir helfen nicht, wir unterstützen einander auf Augenhöhe, denn keiner ist besser als der oder die andere, und nur im Teilen sind wir wirklich reich.«296 Das ist der Sharehausgedanke, das Leitbild. In diesem Sinne kann ein Sharehaus überall sein, wo Menschen mit Respekt und Neugier aufeinander zusammenkommen. Dabei geht es nicht nur um die Integration von Geflüchteten, es geht um einen neuen Lebensstil. Dass Alex Assali ganz mit den anderen zusammenleben und -arbeiten konnte, dass er von Anfang an dazugehörte, das hat ihn einfach glücklich gemacht – und von diesem Glück wollte er etwas weitergeben. So entschied er sich, eine Straßenküche aufzumachen. Er kochte Suppen und Eintöpfe, packte die Töpfe auf sein Fahrrad und installierte eine Warmhalteplatte auf den Straßen Berlins.297 Und dann schöpfte er aus – an Geflüchtete und Obdachlose und einfach an jede*n, die*der probieren wollte. Kochen und zusammen essen wärmt das Herz – nicht nur die Speisen. »Ein Sharehaus ist ein Garten, in dem deine einzigartigen Talente und Träume aufblühen können, eine Gemeinschaft, in der alle gleich wichtig sind. Ein Sharehaus ist eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft.«; kann man auf der Berliner Homepage lesen.298 »Eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft« – was für ein Bild! Ein Gegenbild zu der irdischen, die wir kennen. Können nicht auch Kirchengemeinden etwas davon spiegeln? Vielleicht ist die Zusammenarbeit mit Geflüchteten eine der großen Chancen, geschwisterliche Kirche zu erfahren. In keinem anderen Arbeitsfeld habe ich so viel Augenhöhe zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen erlebt wie in der Flüchtlingsarbeit, nirgendwo so viel Solidarität auch in kritischen Gesprächen. Auf einer Ehrenamtstagung in Erfurt erlebte ich, wie anregend die Erfahrungen aus der Flüchtlingsarbeit für das Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen in den Gemeinden sind – dabei geht es darum, von hierarchisch geprägten Verwaltungsstrukturen zu einer ergebnisorientierten Netzwerkarbeit zu kommen. Die Migration, die wir erleben, bietet aber auch die große Chance, mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen über unsere Werte, unsere politischen Zielsetzungen

296 Refugio/Berliner Stadtmission (o. J.): Konzept. https://refugioberlin.wordpress.com/konzept/ (Zugriff am 05.01.2021). 297 Bachner, Frank/Dassler Sandra (2015): Alex Assali aus Syrien kocht für Obdachlose. Der Tagesspiegel, 14.12.2015. https://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-alexanderplatz-alex-assali-aus-syrien-kocht-fuer-obdachlose/12718032.html (Zugriff am 15.01.2021). 298 Sharehaus e. V. (o. J.): Gemeinschaft. https://sharehaus.net/page/3/ (Zugriff am 16.12.2020).

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und auch über unser Gottesbild ins Gespräch zu kommen. Das gelingt aber nur, wenn wir Fremdes zunächst einmal aushalten, wenn wir uns infrage stellen lassen. Vielleicht ist die interkulturelle Öffnung aber auch die größte Herausforderung für die Kirchen: Ökumenische Gemeinden könnten alte Vorstellungen von »ererbter Zugehörigkeit« geschlossener Milieus überwinden, wie sie sich noch in den alten konfessionellen Herrschaftsgebieten mit ihren hermetisch abgeriegelten Kulturen zeigen. Wo sich Einheimische und »Fremde« begegnen, kann Heimat neu entstehen. Kein Wunder, dass sich auch die gesellschaftlichen Brüche in den Kirchen zeigen und zu Zerreißproben wie beim Rücktritt des ehemaligen sächsischen Bischofs Carsten Rentzing führen. Für die einen sind die Kirchen ein Identitätsbollwerk gegen gesellschaftliche Veränderungen, für die anderen Beziehungsnetz zur Gestaltung des ökumenischen Miteinanders in einer globalen, pluralen Gesellschaft. Es geht um Konvivialität, um eine humane, gastfreundliche und demokratische Kultur – mitten in einer Gesellschaft der Konkurrenz, des Oben und Unten, der ungerechten Verteilung. Die Coronakrise hat noch einmal deutlich gezeigt, wie groß die Herausforderung ist: Vom Lockdown im März 2020 bis zum Brand des Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos war die Not der Flüchtlinge an den Grenzen Europas nahezu aus den Medien verschwunden. In Europa waren mit dem Shutdown zunächst auch die Grenzen wieder geschlossen. Während das Virus sich ausbreitete, fürchtete man sich vor denen, die in den hoffnungslos überfüllten Lagern an den Grenzen Europas auf ihren Asylbescheid warteten und selbst bedroht waren. Vor fast 300 Jahren, am 29. Juli 1731 wurde der ehemlige karibische Sklave Anton in Herrnhut vorgestellt, als erstes farbiges Mitglied der wachsenden Missionsgemeinde. Anton war zuvor »Kammermohr« am Hof des Grafen Anton Ferdinand Laurvig in Kopenhagen gewesen.299 Viele Adelige dieses kolonialen Zeitalters waren stolz auf solche Sklaven. Sie waren Ausweis ihrer Weltläufigkeit. In Herrnhut aber wurde Weltläufigkeit auf Augenhöhe gelebt, die wachsende Gemeinde der mährischen Brüder wollte eine wirkliche Gemeinschaft der »Völker und Rassen«, in der alle Beteiligen »voneinander wissen und sich gegenseitig zugestehen, dass sie ungeachtet der vorhandenen und oft sehr schmerzlichen Unterschiede zusammengehören, weil Christus ihnen gemeinsam der Herr ist.«300 Menschen wie Anton waren also nicht etwa missionspropagandistische Schauexemplare. 299 Motel, Hans-Beat (2020): Die Missionsgeschichte der Brüdergemeine 1732–2010. In: Meyer, Matthias/Vogt, Peter (Hg.): Die Herrnhuter Brüdergemeine (Evangelische Brüder-Unität/Unitas Fratrum) (S. 89–120). Göttingen, S. 89 f.; Beck, Hartmut (1981): Brüder in vielen Völkern. 250 Jahre Mission der Brüdergemeine. Erlangen. 300 Beck 1981, S. 35.

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»Wo der Graf und Handwerker zusammen mit ungelernten Arbeitern sich in einer Gemeinde als Brüder anerkannten und annahmen, konnte dies genauso zwischen Schwarzen und Weißen geschehen. Auch im Zeitalter der Sklavenwirtschaft gibt es zahlreiche Zeugnisse dafür, dass sie sich über menschliche Abgründe hinweg Brüder und Schwestern geworden sind.« 301 »Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus.«, heißt es im Kolosserbrief 3,11. Mitten im Völkergemisch der Antike finden wir schon Gemeinden aus den unterschiedlichsten ethnischen Gruppen und ökonomischen Schichten, die einander auf Augenhöhe begegnen wollten. Als Brüder und Schwestern um Christi willen. Julia Kristeva macht deutlich, was für eine ungeheure utopische Kraft in dieser Geschichte steckt. Die junge Kirche, schreibt sie, »entsteht als eine Gemeinschaft von Fremden (von Außenseitern, Frauen, Handelsreisenden, Sklaven), an der Peripherie zunächst, dann innerhalb des griechisch-römischen Bollwerks selbst, vereint in einer Lehre, die die politischen und nationalen Strukturen in Frage stellt.«302 Die christliche Ökumene bildete schon sehr früh eine Weltgemeinschaft. Auf den Tagungen nach dem Ersten Weltkrieg dachte man gemeinsam über Friedensfragen nach. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen auch ein wichtiges politisches Signal. Der Enthusiasmus allerdings, mit dem damals die großen Friedens- und politischen Gemeinschaftsprojekte angegangen wurden, ist längst verschwunden. Die Europäische Union erlebt Zerreißproben, die sie gerade im Blick auf die Migrationsfragen annähernd handlungsunfähig machen, und die Vereinten Nationen sind in den großen Konflikten zwischen USA und China blockiert. In seiner Enzyklika »Fratelli tutti«, die im Oktober 2020 erschien, spricht Papst Franziskus von dieser Unfähigkeit zum gemeinsamen Handeln in der Coronakrise. »Trotz aller Vernetzung ist eine Zersplitterung eingetreten, die es erheblich erschwert hat, die Probleme, die alle betreffen, zu lösen.«303 301 Beck 1981, S. 35. 302 Kristeva, Julia (1990): Fremde sind wir uns selbst. Aus dem Französischen von Xenia Rajewsky. Frankfurt a. M., S. 162. 303 Papst Franziskus (2020b): Fratelli tutti. Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft. Enzyklika. Freiburg i. Br.; online verfügbar unter: http://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html (Zugriff am 16.12.2020).

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Seit 1996 beschreibt die Satzung der Vereinten Evangelischen Mission/United in Mission (VEM/UIM), die aus der Rheinischen Mission (von 1828), der Bethel-Mission und der Zaire-Mission hervorgegangen ist und heute 139 gleichberechtigte Mitglieder in Afrika, Asien und Deutschland hat, ihre internationale Gemeinschaft als »anbetende, lernende und dienende Gemeinschaft«, im »Streben nach Gerechtigkeit« in »einer zerrissenen Welt«. Einheit in der Mission findet ihren Ausdruck in der Struktur (Gleichheit aller Mitglieder), der Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden (gleichberechtigte Beteiligung aller Mitglieder), und in allen Programmen und Aktivitäten, die gemeinsam, regional und international geplant werden. Zum 25. Jubiläum wurde ein Innovationsprozess eingeleitet, der die Relevanz der VEM-Gemeinschaft und ihrer Prinzipien neu reflektiert. Er bezieht sich auf Lernprogramme, Personalaustausch, Personalstruktur, Finanzierung und Finanzen, Partnerschaft, diakonische Dienstleistungen/Entwicklung, Advocacy/Menschenrechte, Evangelisation/Theologie und die Organisationsstruktur der VEM in Zeiten von Globalisierung und Internationalisierung.304 Noch bleibt die Vorstellung, dass alle Christ*innen an einem Ort über die Konfessionen hinweg zusammenarbeiten, zusammen Eucharistie feiern und sich – auch jenseits der Funktionärsebene – gemeinsam dem Dialog mit anderen Religionen öffnen, in mancher Hinsicht eine Vision. Immerhin wird in Kommissionen, auf Tagungen und Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen kontinuierlich daran gearbeitet. Gut 30 Jahre nach der »Lima-Erklärung« zu Taufe, Eucharistie und Amt von 1982 verabschiedete die 10. Vollversammlung des ÖRK 2013 in Busan die Erklärung zur Einheit »Gottes Gabe und Ruf zur Einheit – und unser Engagement«, an der auch Vertreter*innen der römisch-katholischen Kirche im Sinne eines Konsenspapiers mitgearbeitet haben. Die Erklärung beschreibt die Kirche als »communio«, als »eine Gemeinschaft in dem dreieinigen Gott und gleichzeitig eine Gemeinschaft, deren Glieder am Leben und an der Sendung Gottes teilhaben«, als »Gemeinschaft in Einheit und Vielfalt« und schließlich als Gemeinschaft von Ortskirchen.305 Noch immer allerdings feiern viele Gemeinden von Migrant*innen ihre Gottesdienst getrennt von denen der deutschsprachigen Gemeinden. Dabei gäbe es viel voneinander zu lernen – im Blick auf gottesdienstliche Inspiration, aber auch im Dialog mit dem Islam oder mit den Mitchrist*innen aus Afrika oder dem Nahen Osten. 304 Siehe »Unser Auftrag« der VEM: https://www.vemission.org/informieren/unser-auftrag.html (Zugriff am 12.01.2021). 305 Ökumenischer Rat der Kirchen (Hg.) (2014): Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision. Eine Studie der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Gütersloh/Paderborn.

Alleine einzigartig, gemeinsam stark – Gemeinde von Schwestern und Brüdern

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»Was ich mir wünschen würde, wäre ein richtiges Zentrum für die kirchliche Arbeit mit Flüchtlingen«, sagt Friederike Weltzien, die selbst viele Jahre Auslandspfarrerin im Libanon war: »Einen Lebensort, an dem Menschen zusammenkommen können, sich selbständig organisieren können, sich gegenseitig beraten und unterstützen, aber auch unterstützt werden von professioneller Seite. Ein Ort, an dem Tanz und Gesang stattfinden kann, aber auch kleine Werkstätten eingerichtet werden können, so dass Geflüchtete sich gegenseitig in ihren Berufen unterstützen können: Nähwerkstatt und Friseurladen, Computerworkshops und Sprachunterricht, Schulunterricht für Kinder in ihren Heimatsprachen. Einen Raum der Stille, der offen ist für alle, an dem interreligiöse Gebete stattfinden, zum Beispiel für die in der Heimat verbliebenen Familien, Abschieds- und Trauerrituale, Dankes- und Freudenfeiern.«306

5.3 Alleine einzigartig, gemeinsam stark – Gemeinde von Schwestern und Brüdern »Die christliche Gemeinde ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als Kirche der begnadeten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.«307 Mit dem Bild von der Gemeinde von Brüdern nimmt die Barmer Theologische Erklärung von 1934 in These 3 die biblische Tradition der Gleichheit und Geschwisterlichkeit wieder auf, die sich in den frühchristlichen Gemeinden in der Beteiligung von Männern und Frauen, Sklaven und Freien, Juden und Griechen zeigt. Auch wenn sie trotz des offensichtlich tödlichen Antisemitismus ihrer Zeit die Juden beschweigt, die Frauen, die um kirchliche Ämter kämpften, ausspart, und keinen Blick für die Situation der Behinderten in Bethel und anderen Einrichtungen hat, leuchtet diese Vision als Herkunftsbestimmung der Kirche auf: über Herkunft, Geschlecht, alle sozialen Unterschiede hinweg ist Gemeinde Leib Christi. Das Papier des Ökumenischen Rats der Kirchen »Kirche aller« hat den 306 Interview im Kraftorte-Blog: https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=2972 (Zugriff am 16.12.2020). 307 Barmer Theologische Erklärung, These 3: https://www.ekd.de/Barmer-Theologische-Erklarung-Thesen-11296.htm (Zugriff am 16.12.2020).

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Das Eingemachte – was für die Zukunft stärken kann

Briefabschnitt des Paulus in 1. Korinther 12 mit Blick auf die Inklusion behinderter Menschen genauso ausgelegt: »Ohne Menschen mit Behinderung in der Gemeinde ist der Leib Christi nicht vollständig. Ohne die Erkenntnisse derer, die aufgrund ihres Lebens mit Behinderung etwas beitragen können, werden die tiefsten, ureigensten Elemente der christlichen Theologie verfälscht oder verloren gehen.«308 Und die EKD-Denkschrift »Gerechte Teilhabe« von 2006 bemängelt, dass auch ärmere Menschen in vielen Kirchengemeinden nicht sichtbar seien, weil sie die Mittelschichtgemeinde immer noch als »die da oben« erleben.309 Die geschwisterliche Gemeinde wird darin Wirklichkeit, dass die unterschiedlichen Gaben und Dienste Raum haben – die hauptamtlichen genauso wie die ehrenamtlichen, die pfarramtlichen ebenso wie die diakonischen. Denn »die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes«310. Heutige Kirchenordnungen und Kirchengesetze halten fest, dass Ehrenamtliche und Hauptamtliche, Pfarrer*innen und »Lai*innen« gemeinsam Synoden leiten. Gleichwohl wird noch immer gerungen – um den Status des Diakonats in der Kirche oder um den der Ehrenamtlichen. Dabei geht es nicht immer um theologische Auffassungen, sondern sehr häufig um weltliche Attitüden. So empfindet sich ein großer Teil der Ehrenamtlichen in der Kirche nach wie vor als Helfer*in der alles entscheidenden Hauptamtlichen. Davon erzählt Bärbel Mohr, die eine Vorleseausbildung über die Freiwilligenagentur der AWO gemacht hat und Bücher und Zeitschriften für blinde und sehbehinderte Menschen einliest. »Irgendwann stellte man mir dann auch Mikro und Aufnahmegerät zur Verfügung, um zu Hause weiterzuarbeiten. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, setzte ich mich an meinen Computer und sprach mit großem Spaß

308 World Council of Churches (o. J.): A Church of All and for All – An interim statement. https:// www.oikoumene.org/resources/documents/a-church-of-all-and-for-all-an-interim-statement (Zugriff am 15.01.2021). 309 Rat der EKD (2006): Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität, 2. Aufl. Gütersloh. Online verfügbar: https://www.ekd.de/denkschrift_gerechte_teilhabe.htm (Zugriff am 16.12.2020). 310 Barmer Theologische Erklärung, These 4: https://www.ekd.de/Barmer-Theologische-Erklarung-Thesen-11296.htm (Zugriff am 16.12.2020).

Alleine einzigartig, gemeinsam stark – Gemeinde von Schwestern und Brüdern

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Hörbücher auf. Hier kam es zu einer herausfordernden Situation, in der ich üben durfte, zu mir zu stehen«.311 Es ging um eine Kirchenzeitung für blinde Menschen. Das Problem: Obwohl die Blätter nur monatlich oder zweiwöchentlich erschienen, erhielt ich die Texte erst am Abend vorher. Das bedeutete unweigerlich Nachtschicht. »Also sprach ich mit dem Pfarrer, von dem ich die Texte erhielt. Ich bat ihn, sie ein bis zwei Tage früher zu besorgen, so dass ich das Aufsprechen tagsüber erledigen konnte. […] Aber warum auch immer – ich bekam die Texte weiterhin genauso spät. Als ich dem Pfarrer mitteilte, dass ich das nun nicht mehr mitmachen würde, sagte er: Das können Sie doch gar nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass Sie die Blinden so im Stich lassen«312, schreibt Mohr. Und sie fährt fort: »Und so habe ich dem Herrn Pfarrer freundlich, aber klar Lebewohl gesagt. […] Du musst nichts als ehrenamtliche Kraft. Das ist eines der großen Geschenke: Du kannst dich selbst erproben. Du kannst dich selbst neu kennenlernen. […] Du kannst deine Berufung finden.«313 Das Bekenntnis zur christlichen Gemeinde als »Gemeinde von Schwestern und Brüdern« formuliert nicht nur Pflichten zur Lebensführung für ihre Mitglieder, sondern zuerst und vor allem Grundrechte und eine große Verheißung. Wolfgang Huber hat folgende Rechte aufgezählt: Das Recht auf Zugang zum Glauben, das Recht auf Gewissens- und Meinungsfreiheit, das Recht auf Integrität der Person, das Recht auf Gleichheit und das auf Teilhabe an kirchlichen Entscheidungen.314 Diesen Rechten entspricht eine offene und demokratische Struktur kirchlicher Ordnungen. Die Diskussion um die institutionellen Hintergründe der Missbrauchsskandale zeigt, dass die Gestalt der Ordnung im Blick auf Gewissensfreiheit, Teilhabe und Integrität der Personen keinesfalls beliebig ist. Ein geschlossenes System, in dem hierarchische Abhängigkeiten Raum greifen, ist hoch gefährdet, diese Grundrechte zu missachten. Genau da schließt der Prozess des Synodalen 311 Mohr, Bärbel/Schmid, Laila (2009): Arbeitslos und trotzdem glücklich. Chancen ergreifen und die Zeit sinnvoll nutzen. Dorfen, S. 33. 312 Mohr/Schmid 2009, S. 34 f. 313 Mohr/Schmid 2009, S. 35. 314 Huber, Wolfgang (2008): Der christliche Glaube. Eine evangelische Orientierung. Gütersloh, S. 62.

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Weges in der katholischen Kirche an. Insofern zeigt sich in These 3 und 4 der Barmer Theologischen Erklärung eine kritische Utopie, die die Institution jederzeit an ihrem protestantischen Anspruch misst. »Was macht eine Kirche, die von diesem Selbstverständnis her nur eine sehr flache Hierarchie braucht, aber mit Gemeinden, Dekanaten und Kirchenkreisleitungen, Landeskirchenleitungen und der EKD als Gemeinschaft der Gliedkirchen nach Leitungsebenen durchgestaffelt ist?«, fragte der Ratsvorsitzende, Bischof Heinrich Bedford-Strohm im September 2018 in einem FAZ-Artikel.315 Nach den Erfahrungen des Faschismus hat die evangelische Kirche nach 1945 versucht, Selbstkritik in Strukturen zu gießen, in neue Leitungs- und in Synodalstrukturen vor allem. In vielen Landeskirchen wurden Synoden nun wichtiger als die Amtshierarchien, in den Kirchenleitungen saßen Theolog*innen und Lai*innen mit derselben Entscheidungskompetenz. Aber in den Begriffen steckt bereits das Dilemma. Denn eigentlich gibt es in den reformatorischen Kirchen keine »Lai*innen« – theologisch kennt sie kein Priesteramt, sondern nur das allgemeine, gegenseitige und gemeinsame Priestertum aller. »Christenmenschen sind für einander da, haben füreinander ein offenes Ohr und ein offenes Wort, sind bereit zu geschwisterlicher gegenseitiger Korrektur und zu gegenseitiger Ermutigung. Sie teilen miteinander ihre inneren Nöte und ihre geistlichen Einsichten; sie beten miteinander und füreinander«, schreibt Hans-Martin Barth.316 Dennoch ist das Gegenüber von Theolog*innen und Nichttheolog*innen, von beruflich und ehrenamtlich »Mitarbeitenden« auch in der evangelischen Kirche stark ausgeprägt. Das »Priestertum aller« ernst zu nehmen, hieße auch, die Stimme der ehrenamtlichen Christ*innen ernst zu nehmen, die die Kirche als Organisation leiten und dabei auch von außen sehen können. Die sogenannte Amtskirche braucht Menschen aus unterschiedlichen lebensweltlichen Hintergründen, die andere berufliche Erfahrungen und Kompetenzen einbringen. 315 Bedford-Strohm, Heinrich (2018): Den Sinn des Kreuzes öffentlich machen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.05.2018. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bedford-strohmueber-­die-identitaetsdebatte-der-kirche-15577212.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (Zugriff am 16.12.20202). 316 Barth, Hans-Martin (2002): Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, 2. Aufl. Gütersloh, S. 671.

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Ich denke manchmal an Johann Hinrich Wicherns Konzept einer nationalen Synode. Wo über Kirche und Gesellschaft entschieden wurde, da sollten die diakonischen Vereine und Unternehmen genauso repräsentiert sein wie die »Hausväter« aus der Bürgergesellschaft. Dann stelle ich mir eine EKD-Synode vor, in der die die großen diakonischen Unternehmen und die neuen Initiativen säßen, Menschen mit Behinderung genauso wie getaufte Geflüchtete. Welche Kirche entstünde aus ihren gemeinschaftlichen Beratungen? Synode ist ja mehr als ein Gremium – sie lässt Raum zu Begegnung und ganz persönlichem Erfahrungsaustausch, Raum für ein solidarisches Miteinander über Strukturgrenzen hinweg. Aus Wicherns Konzept ist nur wenig geworden, wenn man auf die wechselseitige Repräsentation von Kirche und Diakonie in ihren Gremien schaut – und ich fürchte, das lässt sich auch nach 170 Jahren noch schwer verändern. Es ist deshalb müßig, darüber nachzudenken, wie die Kirche heute aussähe, wenn Wichern Vision wirklich geworden wäre. Was sich aber verändern ließe, wäre die Vernetzung. Diakonische Mitgliederversammlungen und Synoden, die sich oft mit ähnlichen Fragen beschäftigen, könnten sich abstimmen und hintereinander tagen. Denn weder geht es in Kirche nur um geistliche Themen noch in der Diakonie nur um sozialpolitische. Der historische Rückblick zeigt vielmehr: Alle kirchlichen Aufbrüche, die durch Laienbewegungen geprägt waren, haben besondere Akzente in geistlichem Leben und sozialem Engagement gesetzt. Diakonie- und Jugendarbeit im 19. Jahrhundert genauso wie Erwachsenenbildung, Friedensbewegung oder der konziliare Prozess im 20. Jahrhundert. Es sind die ehrenamtlich Engagierten, es ist die »Kirche als Bewegung«, die der Kirche als Organisation und sogar Gesellschaft und Politik immer neue Impulse gegeben hat. Der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung hat nicht unwesentlich zu Demokratisierungsprozessen in der früheren DDR beigetragen. Und wenn ich einen Ort vorschlagen könnte, an dem 1989 die friedliche Revolution in der DDR begann, würde ich die Nikolaikirche in Leipzig nennen. Schon »Barmen« 1934 überschreitet eine Vorstellung von Kirche, die territorialkirchlich-konfessionell bestimmt war. Gestritten wird über die Einheit in der konfessionellen Vielfalt. Dabei fällt auf, dass in der Presse keinesfalls nur große und bekannte Namen genannt werden wie die von Karl Barth, Hans Asmussen oder der des im Juni 1933 gestürzten Reichsbischofs Friedrich von Bodelschwingh der Jüngere. Es sind die Ortspfarrer, die für die Bewegung stehen. »Kirche als Gemeinde von Brüdern«, das ist das Bild einer breiten Bewegung, die sich gegen eine von der Reichsregierung korrumpierte, hierarchische Organisation richtet. »Barmen« überschreitet damit auch eine Vorstellung von Kirche, in der staatskirchliche Verfassung noch nachwirkt. Bis heute sehen wir das an den Kämpfen

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um die sogenannten kirchlichen Privilegien vom kirchlichen Arbeitsrecht über die Repräsentanz im Rundfunk und die Militär- und Anstaltsseelsorge bis zur Kirchensteuer. Wir sehen es aber auch daran, dass Territorialität und Parochie die kirchlichen (Doppel-)Strukturen wie die gesellschaftliche Kultur bestimmen – vielleicht angesichts der Suche nach Heimat wieder mehr als am Ende des letzten Jahrhunderts. Anknüpfend an »Barmen« sah Helmut Gollwitzer die Zukunft der Kirche weiter: in einer Personengemeinschaft auf lokaler und regionaler Ebene, in sozialen Netzwerken, die über die Parochie hinausgehen, im Bekanntmachen des neuen Lebens, in einem neuen Lebensstil, einer neuen Erzählung. Trotzdem gehen noch immer viele Kirchenvorstände davon aus, dass Gemeinschaft in der Gemeinde vor allem in den vielfältigen Angeboten für bestimmte Zielgruppen wie Jugendliche oder Frauen besteht. Diese Kleingruppen, die viele als die »Mitte der Gemeinde« erleben, sind meist Gemeinschaften von Gleichen und nur begrenzt anschlussfähig und durchlässig für andere Altersgruppen, Milieus oder Frömmigkeitsstile. Gemeinschaft der Zukunft aber ist Gemeinschaft der Verschiedenen – über Herkunft, Geschlecht, Vermögen und Altersgrenzen hinweg. Es geht darum, die Gaben und Persönlichkeiten der Einzelnen zu stärken und die Vielfalt zu begrüßen. »Alleine einzigartig, gemeinsam stark« – so hat das die Evangelische Frauenarbeit in Oldenburg beschrieben. 317 In der Geschichte von Kirche und Diakonie haben Gehorsam, Unterordnung, Gleichschaltung und Abgrenzung Schaden angerichtet. Nun gilt es, die Freiheit und das offene Miteinander zu stärken. Dazu gehört immer wieder auch Selbstkritik, denn tatsächlich war die »Gemeinde von Brüdern« zunächst einmal eine visionäre Erzählung und noch keine geschwisterliche Kirchenerfahrung. »Die Einsicht, dass der Untergang der Pluralität in der Gesellschaft auch den Untergang der Kirche bedeutete und dass bei Verletzungen der Humanität auch die Kirche betroffen war, diese Einsicht kam nur vereinzelt «, schreibt Sigrid Lekebusch über die Bekennende Kirche.318

317 Veranstaltung zum 11. Frauentag der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg am 26. Juni 2021: https:// www.kirche-oldenburg.de/nc/themen/bildung/frauen/veranstaltungen/artikel/alleine-einzigartig-gemeinsam-stark-11-frauentag-2021/ (Zugriff am 15.01.2021). 318 Lekebusch, Sigrid (1994): Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, der Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche. Bonn, S. 113.

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Transformation braucht eine gemeinsame Zukunftserzählung. Die Frage ist deshalb, wie wir in der Kirche gemeinsame Erfahrungsräume schaffen können, die – jenseits aller Unterschiede – Raum für neue Geschichten, Bilder und Symbole geben. Für viele Engagierte in der Kirche war das Rettungsschiff »United4Rescue« so ein »Raum« – es erzählt die Geschichte von der Rettung der Geflüchteten, als andere Europa zur Festung machen wollten, damit zugleich die alte Geschichte vom Exodus Israels aus Ägypten. Und es erinnert an die einfachen Worte aus dem Gleichnis vom Weltgericht, die es bei der documenta 14 im Jahr 2017 auf ein Denkmal schaffen: »Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt.«319 Der Schlüsselsatz aus der Predigt von Sandra Bils beim Schlussgottesdienst des Dortmunder Kirchentags 2019 im BVB-Stadion nimmt die Selbstverpflichtung, die damit einhergeht, in Alltagssprache auf: »Man lässt niemanden ertrinken! Punkt!« Dieses Schiff, dieser Satz – sie haben ein neues Wir aus Kirchen und Zivilgesellschaft geschaffen. Auch im Alltag wird die entscheidende Frage sein, welche Rolle Geschichten spielen, um die Gemeinschaft der Verschiedenen zu stärken und eine Zukunftsgeschichte zu erzählen. Es sind die Geschichten von Tischgemeinschaften, Wohngemeinschaften, Dienstgemeinschaften, Weggemeinschaften und Gebetsgemeinschaften, die von der Zukunft erzählen, die schon begonnen hat. Neue Nachbarschaftsmodelle, Wahlfamilien und Gastfreundschaft sind schon heute erfahrbar. »Neues wird erst denkbar, wenn es eine Gestalt bekommt, wenn es sichtbar und hörbar wird, wenn es emotional berührt«, schreibt Philipp Blom in seinem Buch über die Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs.320 Wo Gemeinden »Leib Christi« werden, bekommen sie Hand und Fuß und machen sich mit anderen auf den Weg. Wenn die Kirche sich als »Leib Christi« versteht, erinnert sie sich damit aber auch an das Abendmahl: »Mein Leib für euch gegeben«.321 Kirche existiert nicht für sich selbst, es geht nicht zuerst um den Bestand, um Mitgliedergewinnung und das Überleben der Organisation. Als »Kirche für und mit anderen« sollen Gemeinden »eine Art Strom von Liebe« für das Gemeinwesen« sein, wie Madeleine Delbrêl sagt.322 Diese Hingabe an die Welt, über die Jesus im Bild von »Salz und Licht« spricht, fordert heraus, weil sie das Gegebene infrage stellt. Auf den ersten Blick macht es Angst, sich zu verlieren, die Kirche zu verlieren, wie wir sie kennen. Diese Angst gleicht den Ängsten vor Wohlstands- und Wachstumsver319 Siehe https://www.kassel.de/buerger/kunst_und_kultur/obelisk.php (Zugriff am 16.12.2020). 320 Blom, Philipp (2020): Das große Welttheater. Wien, S. 122. 321 Barth 2002, S. 702. 322 Delbrêl 2015, S. 175.

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lusten, die viele in Kirche und Gesellschaft empfinden. Deshalb ist es so wichtig, das Neue zu entdecken.323 Verschiedene Landeskirchen haben deshalb wie die Protestantische Kirche der Niederlande324 Erprobungsräume eingerichtet325, es sind Experimentierräume, in denen Gemeinden und Initiativen neue Formen gemeinschaftlichen Lebens ausprobieren und neben setzen.« Diese Erprobungsräume überschreiten die volkskirchliche Logik an mindestens einer Stelle: Sie überschreiten die Grenzen der Parochie, sie eröffnen Menschen ohne positiven Bezug zur Kirche Zugang zum christlichen Glauben, sie knüpfen an den spezifischen Herausforderungen und Ressourcen eines Kontextes an, binden freiwillig Mitarbeitende ein und erschließen alternative Finanzquellen. Ein inspirierendes Beispiel sind die Beymeister in Köln, eine Personalgemeinde, die neue Wege der Gemeinschaft und neue Gottesdienstformen erprobt.326 Ein anderes Beispiel ist »Spirit and Soul«327 aus Berlin, wo zwei junge Pfarrerinnen über eine Website, Vernetzung in den sozialen Medien und wechselnde Treffpunkte Angebote zur spirituellen Begleitung machen –»über die Advents- und Weihnachtszeit mit einem Entdeckungsweg nach innen«. Es geht darum, in den Netzwerken und Lebenswelten der eigenen Generation oder der eigenen Stadt präsent zu sein, Kooperationspartner*innen zu gewinnen und mit ihnen gemeinsame Ziele zu entwickeln und umzusetzen328 – ganz so, wie es Steffen Merle im Interview (S. 123 f.) beschreibt. »Netzwerke bieten Organisationen die Chance, selbständig zu bleiben und dennoch Ziele zu realisieren, die sie allein nicht erreichen könnten.«329

323 Die Bilder von Salz und Licht spielen auch eine wesentliche Rolle in den zwölf Leitsätzen der EKD zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche: »Ebensowenig kann nach evangelischer Auffassung ein Kirchenverständnis maßgeblich sein, das Kirche als einen Sonderraum des Heiligen definiert und die Gesellschaft sich selbst überlässt.«, Evangelische Kirche in Deutschland (2020): »Kirche auf gutem Grund – Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche«. https://www. ekd.de/11-leitsaetze-fuer-eine-aufgeschlossene-kirche-56952.htm (Zugriff am 12.01.2021). 324 Die PKN ist selbst ein Zusammenschluss von lutherischen, reformierten und unierten Kirchen und Gemeinden, der im Samen-op-Weg-Prozess zwischen 1961 und 2004 entwickelt wurde. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Gereformeerde_Kerken_in_Nederland (Zugriff am 12.01.2021). 325 Bauer 2020, S. 160. 326 Driessen, Barbara (2019): Kirche ganz anders – Die »Beymeister«: Neuer Ort der Spiritualität in Köln. 07.01.2019. https://www.evangelisch.de/inhalte/154435/07-01-2019/kirche-ganz-anders-die-beymeister-neuer-ort-der-spiritualitaet-koeln (Zugriff am 12.01.2021). 327 Siehe https://spiritandsoul.org/ (Zugriff am 16.12.2020). 328 Schramm, Steffen/Hoffmann, Lothar (2017): Gemeinde geht weiter. Theorie- und Praxisimpulse für kirchliche Leitungskräfte. Stuttgart, S. 36 ff. 329 Schramm, Steffen (2015): Kirche als Organisation gestalten. Kybernetische Analysen und Konzepte zu Struktur und Leitung evangelischer Landeskirchen. Bd. 1. Münster, S. 491.

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5.4 Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und Kirche Wir haben es am Anfang gesehen: Die Herausforderungen der industriellen Transformation, auf die Männer und Frauen wie Wichern, Fliedner, Sieveking im 19. Jahrhundert Antworten suchten, glichen denen, die uns heute beschäftigen: Armut und Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Vernachlässigung von Kindern, Kranken und Sterbenden. Und auch die Frage, welche Bedeutung die in Konfessionen gespaltene Kirche noch für die Gesellschaft hat, stand damals schon an. Die Gründerpersönlichkeiten der »Inneren Mission« schufen Krankenhäuser und Erziehungseinrichtungen, aber auch Quartierspflege und sozialen Wohnungsbau, sie bildeten aus und kümmerten sich darum, dass neue Formen von Gemeinschaft entstanden, wo Familien überfordert waren. In der Nächstenliebe, die darin zum Ausdruck kam, schlug für sie das Herz des Evangeliums. So wurden christliche Initiativen, Bewegungen und Modelleinrichtungen ein wichtiger Motor zum Entstehen neuer sozialer Netze weit über die Kirchen hinaus. Johann Hinrich Wichern hat die Bedeutung der freien Diakonie und des allgemeinen Diakonats betont – er spricht vom Diakonentum aller Getauften, wir würden wohl heute sagen, von der Nachbarschafts- und Freiwilligenarbeit, von diakonischen Initiativen und Unternehmen. So notwendig nämlich die staatliche Sozialarbeit ist, so hilfreich die Finanzierung von Bildung und sozialer Sicherheit aus öffentlichen Kassen: Neues entsteht – das gilt für Unternehmen und Märkte wie für soziale Bewegungen –, wo Menschen neue Fragen und Herausforderungen wahrnehmen und dann von ihren Gaben und ihrer Gestaltungskraft mutig Gebrauch machen. So entstand die Hospizbewegung, die sogar die Kraft fand, palliative Pflege in Krankenhäusern zu erzwingen und palliative Netze in den Quartieren. So entstanden einst Gefängnisreform und Psychiatriebewegung und heute die Wohngemeinschaften für Demente oder die Familienzentren. Und so bildeten sich in der Corona-Krise Einkaufsnetze, Telefondienste oder Hilfezäune für Wohnungslose. Ob Tafelbewegung, Sozialkaufhäuser, Eine-WeltLäden – am Beginn standen Bürgerbewegungen, Netzwerke und soziale Unternehmensgründungen. Neue Dienste und soziale Rechte sind immer entstanden, wo zunächst Bürger*innen an der Basis neue Herausforderungen wahrgenommen haben: soziale Schieflagen, Versorgungslücken oder auch Gerechtigkeitslücken. Dabei war Diakonie von Anfang an auf Gemeinschaft ausgerichtet. Immer wieder ging es darum, die zu beteiligen, die herausgefallen waren: die griechischen Witwen am unteren Ende des Tisches, die Kinder aus Armutsquartieren, einsame Sterbende. Je hilfebedürftiger wir sind, desto bedeutungsvoller wird die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft. Je schwächer wir sind, desto ehrwürdiger, hieß das in der Kaiserswerther Hausordnung. Es geht darum, ein Stück Weg mit

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dem*der anderen zu gehen, bis er*sie wieder auf die eigenen Beine kommt, Hilfeketten zu bilden und Räume zum Leben zur Verfügung zu stellen wie Samariter und Wirt im Gleichnis (Lukas 10,25–37). Dabei beginnt es nicht mit dem Geld, es beginnt mit der Hilfe auf Augenhöhe, dem gemeinsamen Weg, dem Zusprechen der Würde. So entsteht Dienstgemeinschaft immer wieder neu – an der Not der Schwächsten orientiert. Kooperation entfaltet sich, wo die*der Hilfebedürftige im Mittelpunkt steht. Ein wunderbares Beispiel ist für mich der ökumenische Verein »Die Brücke« in der Hamburger Hafencity, die von einer Kommunität getragen wird. Eine kleine Kirche mit großer Wirkung – mit Netzen in Politik und Wirtschaft wie in die Bürgerschaft des neuen Stadtteils waren die Mitglieder der Kommunität von Anfang an bei der Quartiersentwicklung beteiligt. Ich bin überzeugt, dass die Bedeutung von Gemeinschaften, Initiativen, Gemeinden wieder zunimmt. Mobile Singles, alleinstehende Ältere, alleinerziehende Mütter, kleine Kernfamilien suchen Orte, an denen ein Miteinander in Vielfalt gelebt werden kann. In Städten, in denen die*der Einzelne das Gefühl hat, nicht verwurzelt und verankert zu sein, können diakonische Initiativen als Beteiligungsgemeinschaft Heimat bieten. Menschen sehnen sich nach Heimat und überschaubaren Räumen, ohne ihre Freiheitsansprüche aufgeben zu wollen. Sie sehnen sich nach Wiedererkennbarkeit, ohne ihre Mobilität aufgeben zu wollen. Sie suchen tragfähige Kontakte, um sich wechselseitig bei Sorgeaufgaben zu unterstützen. Sie verlieren gewachsene Netze, aber sie sind mehr denn je bereit, sich für das »Wir« zu engagieren. Das Motto Brandenburgs zum dreißigsten Jahrestag der Deutschen Einheit 2020 lautete: »Wir Miteinander«. Dabei war das schwarz-rot-goldene Wir bewusst in unterschiedlichen Farben gehalten. Wo die Standards staatlicher Hilfeleistung für die Mehrheit nicht mehr passen, wo die sozialen Sicherungssysteme im Reformstau feststecken und die Wirtschaft sich abzukoppeln droht, bekommen es die Bürger*innen am eigenen Leib zu spüren. Die staatliche Hilfe kommt nicht an. Hilfebedürftige sind nicht hinreichend im Blick. So ging es den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen, den Kindern und Jugendlichen, den Alleinerziehenden und von Armut betroffenen in der Corona-Krise. »Diese Krise ist ein kostbarer Moment«, meinte Europas größter Hotelier, Accor-Chef Sébastien Bazin, im Spiegel-Gespräch mit Britta Sandberg.330. Er vertrat die Hotels, Restaurants und Cafés in der Coronakrise gegenüber dem französischen Staat. Er lobt den Lockdown als kreative Unterbrechung und spricht über 330 Sandberg, Britta (2021): »Betten raus. Das geht ganz schnell«. Interview mit ­Sébastien Bazin. Der Spiegel, 2/2021, 74. https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/accor-chef-sebastien-bazin-ueberdie-corona-krise-betten-raus-das-geht-ganz-schnell-a-00000000-0002-0001-0000-000174784637 (Zugriff am 10.01.2021).

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die »schrägen Ideen«, die er in dieser Zeit entwickelt habe. Er hatte vorgeschlagen, 10.000 Hotelbetten zu Intensivbetten umzurüsten und 7.500 Ärzt*innen und Pflegekräfte aus dem Militär dazuzustellen. Und er gab Hotelzimmer für Infizierte, Obdachlose, Pflegepersonal und Frauen, die unter familiärer Gewalt leiden, frei. Gleichzeitig strukturierte er die Firma komplett um, kaufte drei kleinere Ketten dazu und entließ 1.000 Mitarbeiter*innen. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Einerseits dürfen wir Ernährung, Sicherheit, Schutz und Gesundheit nicht einfach dem Markt überlassen, so Emanuel Macron zu Beginn der Krise.331 Andererseits kann nur eine freie und offene Gesellschaft Wege finden, den unterschiedlichen Lebensformen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Einerseits wünschen sich die Bürger*innen gerade auch in der Krise die soziale Sicherheit, die nur der Staat geben kann. Andererseits hatte der patriarchale Fürsorgestaat, der Deutschland lange geprägt hat, durchaus eine problematische Geschichte: Er setzt Freiräume und Freiheitsrechte unter Druck. Zum ersten Mal nach Jahrzehnten hatte in der Coronakrise nicht die Wirtschaft Priorität, sondern die Gesundheit. Manche, wie die Autorin und ehrenamtliche Verfassungsrichterin Julie Zeh, sprechen in diesem Zusammenhang von »Gesundheitsregimen«332, die im Namen patriarchaler Fürsorge die Freiheitsrechte beschränkten. Tatsächlich ist der Zusammenhalt in den ersten Monaten der Pandemie gestiegen. Dann allerdings, als über Öffnungen und Schließungen bestimmter Wirtschaftszweige und Einrichtungen, über Reiseverbote und Corona­regeln gestritten wurde, nahmen die Sorgen der Einzelnen erneut zu und in Gruppen, die kaum Bindungen an die Gesamtgesellschaft haben, wuchsen die Gefühle von Vereinsamung wieder.333 Der soziale Zusammenhalt basiert auf Respekt und Gerechtigkeit. Angesichts der globalen Spannungen um Märkte und Arbeitsplätze geht es heute um eine Politik, die Arbeit erhält, sozialen Ausgleich schafft und die Klimakrise bewältigt. Noch ist nicht klar, wie die Durchsetzung dieses Ziels so mit den vielfältigen Interessen in unseren offenen Gesellschaften verbunden werden kann, dass auch die nicht zu kurz kommen, die auf den ersten Blick nicht »systemrelevant« sind – die Kinder und die Alten, die Kranken, die Künstler*innen und die Geflüchteten, deren Erfahrungen und Hoffnungen uns aber allen dienen? Wie werden wir nach der Krise mit den finanziellen Belastungen umgehen, die der »Systemerhalt« während der Krise eingebracht hat? Wer wird am Ende die finanziellen Opfer bringen? 331 Joeres, Annika (2020): Wenigstens gab es genug zu essen. Zeit Online, 15.06.2020. https:// www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/frankreich-praesident-emmanuel-macron-rede-kolonial-geschichte-coronavirus (Zugriff am 15.01.2021). 332 Zeh, Juli (2010): Corpus Delicti. Ein Prozess. 4. Aufl. München. 333 Becker/Zick 2020, S. 8.

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Und wie kann es gelingen, Gemeinschaft und Demokratie in der Krise zu stärken, statt auf autoritäre Entscheidungswege zu setzen? Zusammenhalt muss wachsen und das braucht Zeit. Denn daran müssen sich viele mit ihren Erfahrungen und Ideen beteiligen, ehrliche Gespräche sind nötig, manchmal auch Vergebung und ganz sicher ein neues Teilen. Denn Teilhabe hat ohne Frage auch mit dem Teilen von Ressourcen zu tun. 1523 entwickelte Martin Luther das »erste Sozialpapier der Welt«, die »Leisniger Kastenordnung«. Viele kennen sie noch, die großen alten Kollektenkästen, in denen für die Armen gesammelt wurde – Tresore aus Eisen oder aus Bronze gleich neben der Kirchentür. Ihre alte Funktion haben sie seit Langem verloren. Tatsächlich kam es schon in der frühen Neuzeit mit dem Aufkommen des globalen Handels und der Entwicklung des Bankenwesens zu erheblichen Umbrüchen. Der Preisverfall einheimischer Erze entzog den Bergleuten die Existenzgrundlage. Plötzlich traf die Verelendung nicht nur Randgruppen wie Arme, Alte oder Kranke, sondern auch die Angehörigen geachteter Stände. Bauern, Bergleute oder Handwerker. Die Auflösung der Ständegesellschaft forderte die Kirchen genauso heraus wie die Transformationen, die wir im letzten Jahrzehnt erleben. Damals, wenige Jahre nach dem Wittenberger Thesenanschlag, war offen, was aus dem Besitz der Kirche, der aufgelösten Klöster und der frommen Stiftungen werden sollte. Es war Martin Luther, der die Idee hatte, dass die Gemeinden der Reformation ihr Kirchenvermögen gemeinnützig einsetzen sollten. Es sollte genauso zu den Einnahmen der Stadt zählen wie die Einkünfte aus Zinsen und die Abgaben der Dörfer – denn auch die Ausgaben waren vielfältig geworden: Hilfe für Waisenkinder, Arme, Alte gehörten genauso dazu wie die für bedürftige Fremde und Investitionen in Infrastruktur. Die umlagefinanzierte Kastenordnung von Leisnig ist die Wurzel einer staatlichen Solidargemeinschaft, in der die Bedürftigen eben nicht mehr Bettler*innen, sondern unterstützungsberechtigte Mitbürger*innen sind. Allerdings erwartete die Solidargemeinschaft auch eine Gegenleistung: dass nämlich jede*r, die*der Hilfe und Zuwendung bekam, sich in dem Maße selbst für andere einbrachte, wie sie*er dazu in der Lage war. Teilen und Teilhabe gehören zusammen. Die Gemeinschaft in der Kommune, um die es auch in der Quartiersarbeit geht – damals wurde sie unter aktiver Beteiligung der Kirche neu konstituiert. Als wechselseitiges Netzwerk über Standesgrenzen hinweg. Ein neuer Gesellschaftsvertrag entstand. Kein Zweifel: Auch wenn die Kirchen längst nicht mehr den Einfluss der Neuzeit haben, können sie doch auch heute mit ihren Ressourcen an Räumen, Steuern, Stiftungen, Hauptamtlichen dazu beitragen, dass der Zusammenhalt in unserer pluralistischen Gesellschaft gestärkt wird. Sie können Quartiersarbeit und Sorgende Gemeinschaften fördern, Räume und Aufgaben als

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evangelische und katholische Kirche miteinander teilen, Bündnisse mit anderen Trägern schließen. Einige denken auch über eine Ablösung der Kirchensteuer zugunsten einer Kultursteuer nach italienischem Modell nach.334 Entscheidend ist, dass die Solidarität in der Gesellschaft insgesamt gestärkt wird. Solidarität muss auf Gegenseitigkeit beruhen.335 Es geht darum, dass wir trotz aller Ungleichheit erleben, was wir gemeinsam haben. Die Bibel verortet Gleichheit und Gegenseitigkeit in unserer Gottesebenbildlichkeit, in der Liebe Gottes, auf die alle Menschen angewiesen sind. So wie in der Coronakrise alle auf Hilfe, Medizin und Pflege angewiesen waren und sind. Papst Franziskus hat das in seiner Enzyklika als das schöne Geheimnis des Lebens bezeichnet: »Niemand kann auf sich allein gestellt das Leben meistern. […] Es braucht eine Gemeinschaft, die uns unterstützt, die uns hilft und in der wir uns gegenseitig helfen, nach vorne zu schauen. Wie wichtig ist es, gemeinsam zu träumen! […] Allein steht man in der Gefahr der Illusion, die einen etwas sehen lässt, was gar nicht da ist; zusammen jedoch entwickelt man Träume.«336

334 Siehe https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Nordkirche-Kirchensteuern-brechen-wegen-Corona-ein,nordkirche396.html (Zugriff am 12.01.2021) und https://www.tabularasamagazin.de/ramelow-fordert-kultursteuer-fuer-alle-statt-kirchensteuer-fuer-kirchenmitglieder-plaene-wuerden-steuererhoehung-von-bis-zu-200-millionen-euro-bedeuten/ (Zugriff am 12.01.2021). 335 Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Berlin. 336 Papst Franziskus 2020b.

Literatur

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Danke

Dieses »Gemeinschaftsbuch« lebt von vielfältigen Begegnungen mit Gemeinschaften. In den letzten sechs Jahren meiner Arbeit mit »Seele und Sorge« hatte ich das Glück, bei Vorträgen, Tagungen, Quartiersbesuchen, Projektbegleitungen und Coachings in ganz Deutschland sowie in Österreich und der Schweiz Quartiers- und Community-Projekte kennenzulernen. Kirchengemeinden, die sich für den Stadtteil öffnen, Diakonische Unternehmen, die die alten Standorte verlassen und in den Wohnquartieren neu starten, Kommunen, die sich auf den Weg zur Bürgerfreundlichen Kommune machen und dabei mit Kirche, Diakonie, Vereinen und Initiativen zusammenarbeiten. Ihnen allen geht es um Zusammenhalt, um Gemeinschaft in Vielfalt. Einige Beispiele greife ich in diesem Buch auf. Zu meinem Hintergrund gehört aber auch die Erfahrung mit diakonischen Gemeinschaften, ehemaligen Schwestern- und Bruderschaften. Dass ich lange »Vorsteherin« der Kaiserswerther Schwesternschaft und noch länger stellvertretende Kuratoriumsvorsitzende des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf war, zudem viel mit dem Verband Evangelischer Diakoninnen und Diakone zusammengearbeitet habe, hat meinen Blick geschult. Diese Gemeinschaften haben an Bedeutung verloren, sie alle sind von großen Veränderungen herausgefordert. Zugleich aber brauchen wir ihre Gemeinschaftserfahrungen – auch die schwierigen –, um heute Gemeinschaften in Vielfalt und auf Zeit zu konstituieren. Die Interviewpartner*innen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind in diesen verschiedenen Bereichen zu Hause: in Kirche, Diakonie, diakonischen Gemeinschaften, in Führungspositionen und in Beratungsaufgaben. Ich danke ganz besonders Christine Falk, Renate Abeßer, Ursula Schoen, Siegrid Pfäfflin, Thomas Mäule, Veronika Drews-Galle, Günter Tischer, Friederike Weltzien, Beate Jakob und Claudia Rackwitz-Busse, deren Interviews zu Gemeinschaft und Orten der Gemeinschaftserfahrung zum Teil ausführlich, zum Teil in einzelnen Passagen zitiert werden. Dankbar bin ich gerade auch für den Austausch in den Webkonferenzen »Oma trotzt Corona«, aus dem sich ein breites Informations- und Lobbynetzwerk für Ältere entwickelt hat.

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Danke

Ganz besonders danke ich der kurhessischen Bischöfin Beate Hofmann, mit der mich seit unserer gemeinsamen Zeit der Arbeit in Neuendettelsau und Kaiserswerth ein intensiver Austausch über Gemeinschaften, Sorgenetze und Ehrenamt verbindet, für ihr Vorwort. Für die intensive und bereichernde Zusammenarbeit danke ich Jana Harle vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, die das Projekt von Beginn an getragen und zu ihrem gemacht und mich mit ihrem genauen Blick, gründlichen Recherchen, gelegentlich kritischen Nachfragen und freundlichen Anmerkungen begleitet hat. Und last but not least meinem lieben Mann Michael, der mich während der Fertigstellung bei den vielfältigen Recherchen wunderbar unterstützt hat.