Antike und Identität: Die Herausforderungen der Altertumswissenschaften 9783161618529, 9783161619359, 3161618521

Forderungen nach Dekolonialisierung haben in den Altertumswissenschaften zuletzt eine heftige Debatte über den Platz der

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Antike und Identität: Die Herausforderungen der Altertumswissenschaften
 9783161618529, 9783161619359, 3161618521

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
1. Wissenschaft zwischen Fakten und Identitäten
2. Die Kontroverse in Classics
2.1. Hintergründe
2.2. Ein neues Verständnis von Wissenschaft?
2.3. Die blinden Flecke der Identitätspolitik
2.4. Der Preis des vergessenen Historismus
3. Die Antike, ,das nächste Fremde‘?
4. Reflexivität und Rezeption
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Jonas Grethlein Antike und Identität

Jonas Grethlein

Antike und Identität Die Herausforderungen der Altertumswissenschaften

Mohr Siebeck

Jonas Grethlein, geboren 1978; 1997–2002 Studium in Göttingen, Oxford und Freiburg; 2002 Promotion; 2003 Emmy-NoetherProgramm; 2005 Habilitation; 2007 Assistant Professor an der University of California, Santa Barbara; seit 2008 Professor in Heidelberg; 2013–2018 ERC Starting Grant; seit 2021 ordentli­ ches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

ISBN  978-3-16-161852-9 / eISBN  978-3-16-161935-9 DOI 10.1628/978-3-16-161935-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­ phische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbei­ tung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck aus der Minion gesetzt, in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Die Anregung, diesen Essay zu schreiben, verdanke ich Tobias Stäbler. Nach längerem Zögern bin ich ihr gefolgt – die Möglichkeit, in einem größeren Rahmen neue Per­ spektiven zu gewinnen, schien mir größer als die Gefahr, bereits vorgestellte Ideen zu wiederholen, und das Risiko, auf vermintem Gelände unter Beschuß zu kommen, gerechtfertigt durch die Hoffnung, nach einer vorsichtigen Besichtigung des Schlachtfelds klarer zu sehen. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen auf beiden Seiten des At­ lantiks, mit denen ich in den letzten Jahren Gedanken über den Ort der Antike in der Gegenwart austauschen konnte, und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Gräzisti­ schen Kolloquiums in Heidelberg, die einen ersten Entwurf dieses Essays kritisch gelesen und mit großem En­ gage­ment diskutiert haben. Sehr dankbar bin ich Markus Asper für seine scharfsinnigen Kommentare und Jörg Dittmer für eine ausführliche und gerade wegen unserer Differenzen anregende Korrespondenz. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.11.2019; 10.3. und 10.11.2021), die Neue Zürcher Zeitung (22.1.2022) und der Merkur (824, 2018) haben mir freundlicherweise gestattet, auf das Mate­ rial von Artikeln zurückzugreifen – auch dafür möchte ich mich bedanken.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1. Wissenschaft zwischen Fakten und Identitäten . . 1 2. Die Kontroverse in Classics . . . . . . . . . . . . . 2.1. Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Ein neues Verständnis von Wissenschaft? . . 2.3. Die blinden Flecke der Identitätspolitik . . . 2.4. Der Preis des vergessenen Historismus . . . .

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3. Die Antike, ,das nächste Fremde‘? . . . . . . . . . 45 4. Reflexivität und Rezeption . . . . . . . . . . . . . 67 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

1. Wissenschaft zwischen Fakten und Identitäten Wissenschaftler schaffen Wissen. Das scheint eine banale Feststellung zu sein – und ist es doch nicht. Welchen Status wissenschaftliche Erkenntnisse haben und welche Rolle sie spielen, ist Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Unstrit­ tig dürfte lediglich sein, daß sich nicht nur die einzelnen Wis­ senschaften teilweise erheblich voneinander un­ ter­ schei­den, sondern daß auch verschiedene Zeiten und Ge­ sellschaften unterschiedliche Formen von Wissenschaft hervorbringen. Die gesellschaftliche Verankerung des Wis­ senschaftsverständnisses ist gegenwärtig greifbar an zwei Diskussionen, die entgegengesetzte Stoßrichtungen haben und die Wissenschaft auf je eigene Weise herausfordern. Auf der einen Seite haben zuletzt Politiker Wissenschaft­ lern emphatisch gesellschaftliche Relevanz zuge­sprochen und sich stärker als zuvor auf deren Expertisen berufen. In vielen Ländern hat die Corona-Epidemie Virologen, Epi­ demiologen, aber auch andere Wissenschaftler ins Ram­ pen­licht gebracht. Die Medien räumen Medizinern und ihrer Einschätzung der Lage einen breiten Raum ein, Re­ gie­ rungen haben ihre Entscheidungen wiederholt von ihnen abhängig gemacht. Einige Staaten wie Deutschland haben sogar eigene Corona-Expertenräte eingerichtet. Nicht

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nur im Scherz wurde Christian Drosten, der Chefvirologe der Berliner Charité, als ein potentieller Kandidat für das Amt des deutschen Bundespräsidenten gehandelt. Jedoch hat nicht erst die Pandemie den Ruf nach wissen­ schaftlich begründeter Politik laut werden lassen. Bereits in den Jahren davor haben Politiker die Bedeutung der Wissenschaft für ihre Entscheidungen immer wieder be­ tont. Ihre Konjunktur verdankt die wissenschaftliche Expertise auch dem erstarkenden Populismus. So wurden immer wieder Forschungsergebnisse gegen postfaktische Politik ins Feld geführt. Man bemühte beispielsweise Kli­ maforscher, um die Behauptungen von Trump und ande­ ren zu widerlegen, es gebe keine Erderwärmung. Dabei hoben Politiker wie Wissenschaftler hervor, die Politik müsse sich an den Fakten orientieren – Fakten, welche letztlich die Wissenschaft bestimmt. Die Berufung auf Fakten in der Auseinandersetzung mit Populisten hat Wissenschaftlern die Bahn zu ihren öffentlichen Auftritten in der Corona-Zeit geebnet. So wichtig es ist, daß Regierungsentscheidungen nicht auf einem ideologisch verzerrten Bild der Wirklichkeit be­ ruhen, das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft ist keineswegs unproblematisch. So stößt der Wunsch nach objektivem Wissen in der Politik immer wieder auf die Debatten, die Wissenschaft prägen. Erklärte Drosten einen harten lockdown für wissenschaftlich unbedingt geboten, riet sein Bonner Kollege Streeck mit derselben Ent­ schiedenheit davon ab, das öffentliche Leben herunterzu­ fahren. Statt der klaren Ansage, die man von der Wissen­ schaft erwartete, war man mit einem Dissens unter Wissenschaftlern konfrontiert. Der St. Gallener Historiker Caspar Hirschi wies außerdem nachdrücklich auf die Ge­

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fahr der Instrumentalisierung der Wissenschaft durch die Politik hin: Angela Merkel berief sich immer wieder auf die vom Robert-Koch-Institut gelieferten ‚Fakten‘, doch das Robert-Koch-Institut ist keine unabhängige Einrichtung – es untersteht dem deutschen Gesundheitsministerium.1 Wissen ist – darum wird es in einem der folgenden Argu­ mente gehen – nicht in sich demokratisch; seine politische Hypostasierung kann mit den Grundsätzen der liberalen Demokratie konfligieren. Eine ganz andere Herausforderung erwächst der Wis­ sen­schaft aus der identitätspolitischen Debatte, wie sie seit einigen Jahren an Universitäten und im Feuilleton erbittert geführt wird. Erscheint wissenschaftliche Expertise nicht nur aufgrund einer Pandemie in der gegenwärtigen Krise der Demokratie als ein willkommener Rettungsanker, so werden ihre Erkenntnisse ganz anders veranschlagt von Autoren, die Wissenschaft, vor allem die gegenwärtigen Geistes- und Kulturwissenschaften, dekolonialisieren wol­ len. Die Anwälte des Postkolonialismus sehen Wissen­ schaft weniger als den Versuch, Erkenntnisse zu gewinnen, denn vor allem als Mittel für die politische Emanzipation unterdrückter Gruppen. Das neue Wissenschaftsbild ma­ ni­festiert sich beispielsweise in Forderungen, die anonyme Begutachtung von Publikationen durch Quoten für bis­ lang unterprivilegierte Gruppen zu erset­zen. Gesteigert ist dieser Anspruch in der These, die Kultur bestimmter Gruppen könne nur von Angehörigen dieser Gruppen selbst untersucht und verstanden werden. Frank B. Wilderson etwa, Autor des vielgefeierten Buchs Afro­ pessimism, geht wie selbstverständlich davon aus, nur   FAZ vom 8.3.2021.

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Schwarze könnten ‚blackness‘ begreifen.2 Weißen Über­ setzerinnen wird das Recht abgesprochen, die Gedichte schwarzer Autorinnen zu übersetzen. Die essentialistischen Grundannahmen des Identitätsbegriffs führen in ein Fahrwasser, in dem sich auch die identitäre Rechte bewegt, wenn sie Ethnien als Träger hermetisch abgeschlossener Identitäten betrachtet. Die narzisstische Zuspitzung der Perspektivität des Wissens droht auch dem gesellschaft­ lichen Zusammenleben die Grundlage zu entziehen. Wenn es nicht einmal Wissenschaftlern darum gehen soll, inter­ subjektiv plausible Erkenntnisse zu gewinnen, und man nur die je eigene Perspektive verstehen kann, dann prallen die Ansprüche der verschiedenen Gruppen ohne Aussicht auf Vermittlung aufeinander. Man muß nicht mit Jürgen Habermas an die Möglichkeit herrschaftsfreier Kommu­ nikation glauben, um diese Reduktion menschlicher Inter­ aktion auf gesellschaftliche Machtkämpfe für fragwürdig zu halten. Wissenschaft als rettender Lieferant von Fakten für die Politik versus Wissenschaft als solipsistischer Ausdruck von Identität – der Unterschied könnte kaum größer sein. Auf den ersten Blick erscheint es verführerisch, die erste Tendenz den Natur- und Lebenswissenschaften, die zweite den Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften zu­ zuweisen. Wilhelm Diltheys alte These, daß diese erklären und jene verstehen, wäre dabei zugespitzt.3 Doch lassen sich die Wissenschaften bei allen Unterschieden auf diese   Frank B. Wilderson, Afropessimism. New York 2020.   Wilhelm Dilthey, ‚Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie‘ in: Gesammelte Schriften, ed. Georg Misch. Stuttgart 41964: 139–240. Dazu s. Manfred Riedel, Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften. Stuttgart 1978; 2 3

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Weise nicht sauber voneinander trennen. Auch die tradi­ tionellen Geisteswissenschaften werden verstärkt als Quel­ le von verbindlichem Wissen angezapft; kein Geringerer als der Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour hat dem Konstruktivismus abgeschworen und sich öffentlichkeits­ wirksam zur gesellschaftlichen Verpflichtung der Geistes­ wissenschaften bekannt.4 Umgekehrt haben die identitäts­ politischen Forderungen vor den Naturwissenschaften nicht Halt gemacht – auch die Biomedizin und andere Disziplinen, so kann man in führenden Zeitschriften wie Science lesen, seien rassistisch und müßten dekolonialisiert werden.5

Karl-Otto Apel, Die Erklären-Verstehen-Kontroverse in transzendental­ pragmatischer Sicht. Frankfurt 1979. 4   Bruno Latour, ‚Why has critique run out of steam? From matters of fact to matters of concern‘ in: Critical Inquiry 30.2, 2004: 225–48. 5   Andreas Bikfalvi, FAZ vom 28.7.2021.

2. Die Kontroverse in Classics Die Altertumswissenschaften stehen durch ihren Gegen­ stand, die griechisch-römische Antike, abseits vom Zeit­ geschehen; trotzdem kam es in ihnen zuletzt zu Kontro­ versen, in denen die gegensätzlichen Vorstellungen von Wissen und Wissenschaft mit besonderer Heftigkeit auf­ einanderprallten. Die Erwartung an Wissenschaft, für die Gesellschaft verbindliches Wissen zu erzeugen, hat bei den Altertumswissenschaften eine besondere Form. So war die griechisch-römische Antike als das ‚klassische Altertum‘ lange Zeit normativ aufgeladen; der Anspruch, die Beschäf­ tigung mit der Antike könne der ‚abendländischen‘ Welt Orientierung geben, hält sich hartnäckig. Zwar begrub Friedrich Nietzsche in seiner Begeisterung für die vitale Abgründigkeit der griechischen Kultur die plato­nische Trias des Guten, Schönen und Wahren, in einer Ironie der Geistesgeschichte sekundiert von dem ihm ver­ haßten Historismus – dem Bestreben, alle antiken Zeug­nisse zu erfassen und der Verwaltungsinschrift ebenso viel Beach­ tung zu schenken wie der euripideischen Tragödie, fiel der klassische Kanon zunächst zum Opfer. Aber auch wenn der Begriff des Klassischen nur noch selten normativ ge­ braucht wird, hat die Idee mit einigen Blessuren überlebt. Gemeinsam mit Jerusalem, so hört man immer wieder in wertkonservativen Kreisen, bildeten Rom und Athen die

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Wurzeln unserer kulturellen Identität. Das Recht sei das bleibende Erbe des Imperium Romanum; Philosophie, Demokratie und Freiheit die Hinterlassenschaften der griechischen Poleis. Nur mit dem Blick auf das antike Erbe lasse sich die Gegenwart verstehen und die Zukunft er­ schließen – ‚Zukunft braucht Herkunft‘1. Der Titel eines Buchs des Tübinger Gräzisten Thomas Szlezák formuliert ein Programm, dem sich nicht wenige deutschsprachige Altphilologen verpflichtet fühlen: Was Europa den Grie­ chen verdankt. Von den Grundlagen unserer Kultur in der griechischen Antike. Gerade in der gegenwärtigen Krise Europas müsse man sich auf die Wurzeln unserer Gesell­ schaft in der Antike besinnen, um sich dadurch der eigenen kulturellen Identität zu versichern. Auf der anderen Seite sind die Altertumswissenschaften noch mehr als andere Disziplinen in den Strudel identitäts­ politischer Diskussionen geraten.2 Vor allem amerikanische und englische Altertumswissenschaftler haben die Ver­ wicklungen ihres Fachs in Rassismus, Kolonialismus und Misogynie angeprangert und weitreichende Reformen ge­ fordert: Die Classics Departments müßten ihre historische Schuld eingestehen und Inklusionsprogramme einrichten, um immer noch benachteiligten Gruppen eine Heimat zu 1   Die Formel stammt von Odo Marquard, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart 2003. 2   Ein Vorbote der heutigen Kontroverse war die Diskussion, die Martin Bernals Black Athena. The Afro-Asiatic Roots of Classical Civilisation. I–III. New Brunswick 1987–2006 auslöste, vor allem die Thesen zum tief­ greifenden ägyptischen und phoinizischen Einfluß auf das antike Griechenland und zum ‚arischen Model‘ der modernen Altertums­ wissenschaften. Einen Überblick gibt Thomas Schmitz, ‚Ex Africa Lux? Black Athena and the debate about Afrocentrism in the US‘ in: Göttinger Forum der Altertumswissenschaft 2, 1999: 17–76.

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bieten. Einige Kritiker halten sogar die Abschaffung der Classics Departments und Studiengänge für unumgänglich; erst wenn die griechisch-römische Antike in Mediterranean Studies oder Ancient World Studies zusammen mit den Kulturen des antiken Ägypten, Mesopotamien oder Indien gelehrt würde, verlöre sie ihre hegemoniale Rolle.3 Eng verbunden mit dieser Kritik sind Forderungen, die in Lehre und Forschung behandelten antiken Texte einer strengen Prüfung zu unterziehen. Verlangen einige Wis­ senschaftler, Literatur ganz aus dem Verkehr zu ziehen, die Gewalt, Unterdrückung und Sexismus verharmlose, be­ gnügen sich andere mit dem Postulat, derartige Texte nur mit kritischem Kommentar zu lesen. Die neue Sorge um die Inhalte, die man Studenten der Geisteswissenschaften zumuten könne, ohne sie zu verstören oder Traumata zu wecken, findet im griechisch-römischen Altertum viel Material – Gewalt, Unterdrückung und Sexismus sind omnipräsent in zahlreichen Genres der antiken Literatur und auch in philosophischen Texten zu finden.4 Die Explosivität der Lage in den USA zeigte sich bei einer Tagung der Society for Classical Studies. Zu diesen Tagungen kommen jedes Jahr mehrere Tausend Philo­ logen, Historiker und Archäologen zusammen, halten in zahllosen Sektionen Vorträge, führen Bewerbungsgesprä­ che und tun all das mehr oder weniger Menschliche, was 3   S. beispielsweise Krishnan Ram-Prasad, https://eidolon.pub/reclaim ing-the-ancient-world-c481fc19c0e3, abgerufen am 7.4.2022, mit dem Vorschlag, Decolonized Ancient World Studies einzurichten. Berkeley hat sein Classics Department bereits in ein Department of Ancient Greek and Roman Studies umbenannt. 4   S. etwa den Bericht von Michael E. Miller, https://www.washington post.com/news/morning-mix/wp/2015/05/14/columbia-students-claim-­ greek-mythology-needs-a-trigger-warning/, abgerufen am 13.4.2022.

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man beim internationalen Klassentreffen einer Disziplin noch so treibt. Doch im Jahr 2019 kam es in San Diego zu einem Eklat, der die ganze Tagung überschattete und die Gemüter noch Monate lang erregte. In der öffentlichen Diskussion nach Vorträgen zur ‚Zukunft der Altertums­ wissenschaften‘ sagte eine Teilnehmerin, Mary Frances Williams, zu einem der Referenten, Dan-el Padilla Peralta, Professor für Alte Geschichte in Princeton: ‚You may have got your job because you’re black, but I would prefer to think you got your job because of merit.‘ Die Diskussion endete in einem Tumult und wurde, nachdem die Society of Classical Studies Williams von der Tagung ausgeschlossen hatte, mit Vehemenz in Artikeln und Blogeinträgen weiter­ geführt. Während Williams und fachfremde konservative Unterstützer in ihrem Ausschluß ein letztes Signal für den Verfall einer Disziplin und den Verrat an den Grundlagen der westlichen Zivilisation sahen, brandmarkten Alter­ tumswissenschaftler Williams‘ Äußerung als unerträgli­ chen Rassismus. Peralta selbst erklärte sich für traumatisiert von dem Vorfall und wetterte auch gegen Kollegen, die seine Selbstbeherrschung gelobt und Williams‘ Auftritt als psychopathisch bezeichnet hatten – sie würden Clichées vom kontrollierten Schwarzen perpetuieren und den endemischen Rassismus verharmlosen.5 Ein Jahr später schlug die Debatte mit voller Wucht in Großbritannien ein. Im Sommer 2020 verlangten mehr als 200 Studenten und Alumni der Altertumswissenschaften 5  Peraltas Stellungnahme findet sich unter https://medium.com/@ danelpadillaperalta/some-thoughts-on-aia-scs-2019-d6a480a1812a, ab­ gerufen am 10.4.2022, die von Williams unter https://quillette.com/ 2019/02/26/how-i-was-kicked-out-of-the-society-for-classical-studiesannual-meeting/, abgerufen am 10.4.2022.

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von der Faculty of Classics in Oxford, sie müsse die unheil­ vollen historischen Verstrickungen des Fachs in Rassismus und Kolonialismus öffentlich bekennen und umfassende Maßnahmen ergreifen, darunter auch regelmäßige Anti­ rassismus-Trainings für die Dozenten.6 Nachdem der Cambridger Latinist David Butterfield im konservativen Spectator die Vorwürfe gegen das eigene Fach als un­ begründet zurückgewiesen hatte, erhielt auch die Faculty of Classics in Cambridge einen Brief von Studenten, Alumni und auch einigen Dozenten.7 Auch die Autoren dieses Briefs bekannten die Schuld des eigenen Fachs, be­ klagten die anhaltenden Mißstände und forderten sofortige Veränderungen. Mittlerweile haben die Dozenten in Cam­ bridge erste Kurse über equality and diversity absolviert. Die meisten deutschsprachigen Altertumswissenschaft­ ler zeigen sich von den anglophonen Forderungen nach der Dekolonialisierung ihrer Fächer befremdet. Vor allem die Forderung nach reparative epistemic justice, daß also zu­ künftig vor allem Schwarze und andere Minderheiten nach jahrhundertelanger Diskriminierung das Recht zu publi­ zieren haben sollten, stößt auf Unverständnis. Der Berner Althistoriker Stefan Rebenich formuliert pointiert, was viele seiner Kollegen denken, aber nur hinter vorgehaltener Hand zu sagen wagen: ‚Man darf und muß wohl von einem inversen Rassismus sprechen, der Teil einer politischen 6   Der Brief an die Oxford Faculty of Classics: https://docs.google.com/ document/d/11ZpPeC4bFd1QIOzfQJBvq7etsVvxAxYB5j9kOcsKaW4/ edit., abgerufen am 5.4.2022. 7  Spectator vom 18.7.2020; der Brief an die Cambridge Faculty of Classics: https://docs.google.com/document/d/1SmCCvM4Psmk25lWn x1WHTpzbZZ-hxwQnRgkNHoOTyW8/edit?fbclid=IwAR2tVgnheWh P5qf4_pQ-n1AOAi7oMK37g-6AxEpg8iXJuJSjSIcWLlhWLFg, abgeru­fen am 5.4.2022.

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Agenda ist, die mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit da­ herkommt, aber totalitär ist… Diese Bewegung ist nicht weniger intolerant als die Alt-Right auf der anderen Seite.‘8 Auch in anderen europäischen Ländern wie Italien haben die Interventionen von Peralta und seinen Mitstreitern eher irritiert als überzeugt.9 Die gegenwärtige Debatte in den angelsächsischen Clas­ sics und das weitgehende Unverständnis für sie vor allem unter deutschsprachigen Gelehrten fordern heraus zu einer Reflexion: über die Grundlagen der Altertumswissenschaf­ ten und die Bedeutung der griechisch-römischen Antike in der Gegenwart. Da die Diskussion sich vor allem um die sinnstiftende oder unheilvolle Funktion der Texte dreht, steht die Klassische Philologie im Vordergrund, die Ar­ chäologie und Alte Geschichte im Hintergrund; trotzdem beteiligen sich, wie die Zitate von Peralta und Rebenich ­belegen, gerade Althistoriker maßgeblich an ihr.10 Das Ziel meines Essays ist bescheiden: er erhebt nicht den Anspruch, die Frage nach der gegenwärtigen Signifikanz der Antike umfassend zu beantworten, sondern versucht die Debatte einzuordnen und ihr aus dem Blickwinkel des Gräzisten – der von Latinisten, Archäologen und Althisto­rikern dürfte in vielem anders sein – neue Perspektiven zu eröffnen. Meine Ausführungen werden – das zur Warnung vorne­ weg  – sowohl Traditionalisten als auch Ikonoklasten enttäu­ 8   FAZ vom 26.11.2020. S. aber auch die Replik von Daniel Wendt, der die amerikanische Position verteidigt (FAZ vom 12.04.2021). 9  Carmine Catenacci, ‚What we talk about when we talk about Classics. A few considerations from Italy‘ in: Quaderni Urbinati di Cul­ tura Classica 129.3, 2021: 207–18. 10   Salvatore Settis, Die Zukunft des ‚Klassischen‘. Eine Idee im Wandel der Zeiten. Berlin 2004 zeigt aber auf elegante Weise, daß eine Reflexion über die Präsenz der Antike sich auch auf Artefakte konzentrieren kann.

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schen. Beide rücken die Kategorie der Identität ins Zentrum; auch wenn sie Identität auf verschiedene Weise in Beziehung zur Antike setzen und teils sogar gegensätzlich bestimmen, erweist sie sich bei beiden jedoch als ein Hindernis, um die Bedeutung zu erfassen, die griechische und lateinische Texte heute haben können. Die einen sehen in der Antike die Grundlage unserer kulturellen Identität, die anderen ­bewerten sie nach der Richtschnur der eigenen Identität. Im ersten Fall wird die Antike normativ überstrapaziert, im zweiten wird der Zugriff auf sie narzisstisch verkürzt. Um den Streit zwischen den Advokaten der Dekoloniali­ sierung und den Apologeten der westlichen Zivilisation und seine unterschiedliche Wahrnehmung besser ver­ stehen zu können, zeichne ich in einem ersten Schritt den gesellschaftlichen Platz der griechisch-römischen Antike und der Altertumswissenschaften in den USA, Groß­ britannien und Deutschland nach (2.1). Dann wage ich die Behauptung, daß sich in der Debatte zwei konträre Auf­ fassungen von Wissenschaft gegenüberstehen, daß sich hier vielleicht ein Paradigmenwechsel abzeichnet, der über die Altertumswissenschaften hinausgeht (2.2). In der Kontroverse um Classics zeigt sich auch, wie die Identitäts­ politik, das neue Paradigma der Linken, die traditionell linke Kritik an Macht und sozio-ökonomischer Un­ gerechtigkeit in den Hintergrund drängt (2.3). Nicht nur der identitätspolitische Blick auf die Antike, sondern auch der Rekurs einiger Kritiker der Identitätspolitik auf die Aufklärung – so die daran anschließende These – leidet darunter, daß der Historismus auf Positivismus und enzyklopädische Materialhuberei reduziert und seine Ein­ sicht in die Geschichtlichkeit menschlicher Kultur unter­ schlagen wird (2.4).

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Nach der Analyse der gegenwärtigen Debatte wende ich mich der Formel ‚des nächsten Fremden‘ zu, die der Andersartigkeit der Antike Rechnung trägt und mit der Uvo Hölscher den fragwürdig gewordenen Begriff des Klassischen ersetzte. So beliebt ‚das nächste Fremde‘ im deutschen Sprachraum als Legitimation für die alten Sprachen aber auch ist, es ist zum einen noch mit dem An­ spruch des Klassischen behaftet und zum anderen zu un­ bestimmt, um in einer globalisierten Welt den Platz des Altertums definieren zu können (3). Das griechisch-römi­ sche Altertum, so meine auf den ersten Blick ernüchternde Feststellung, ist nur ein nächstes Fremdes neben vielen anderen, die Brüche in der Tradition und Unterschiede zur Gegenwart zu groß, als daß man mit ihm eine kulturelle Identität begründen könnte. Doch kristallisiert sich bei einem Blick auf immer noch präsente Texte ein Charakte­ ristikum heraus, das Antikenfreunde wenn nicht gänzlich von ihren Sorgen befreien, so doch zumindest beruhigen sollte – am Ende meines Essays steht nicht ein Abgesang auf die Altertumswissenschaften, sondern eine Heraus­ forderung, der sie sich stellen können (4).

2.1. Hintergründe Die Heftigkeit, mit der die Debatte um die Antike in den USA geführt wird, ist nur vor dem Hintergrund des nach wie vor tief verwurzelten Rassismus und der gesellschaft­ lichen Polarisierung zu verstehen, die Trump ins Weiße Haus spülte und von ihm dort noch erheblich verschärft wurde. Die Frustration vieler weißer Amerikaner aus der Unter- und Mittelschicht über die liberalen Bildungseliten an den Küsten und ihre Erwartung, Trump werde Ameri­

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kas traditionelle Werte restaurieren, sind oft genug darge­ stellt worden. Auch die vehemente Ablehnung von Trump und seiner Politik durch die Intellektuellen bedarf keiner weiteren Erörterung. Bemerkenswert ist aber, wie sehr die Zuspitzung des gesellschaftspolitischen Konflikts unter Trumps Präsidentschaft auch die Fronten innerhalb der Altertumswissenschaften verhärtete. Dieser Prozeß läßt sich an der Entwicklung der Zeitschrift Eidolon ablesen. Eidolon wurde 2015 als eine ambitionierte und auf­ wändig gestaltete online-Publikation ins Leben gerufen. Donna Zuckerberg, Gründerin und Herausgeberin, PhDAbsolventin von Princeton und Schwester des Facebook/ Meta-Vorstandsvorsitzenden Mark Zuckerberg, wollte ein Forum für moderne und persönlich gehaltene Essays über die Antike schaffen. Bereits am Ende des ersten Jahres waren die Seiten von Eidolon mehr als 100.000 Mal ab­ gerufen worden. In einem Rückblick, den Zuckerberg ver­ öffentlichte, als sie die Zeitschrift 2020 einstellte, betont sie die Zäsur der Wahl Trumps zum Präsidenten: ‚After the 2016 Presidential election, everything changed – big things, like our cultural norms, and also small things, like our little Classics publication.‘11 Hatte Zuckerberg davor vor allem versucht, Altertumswissenschaftler dazu zu be­ wegen, ihre engen fachwissenschaftlichen Bahnen zu ver­ lassen und in packendendem parlando über die Antike zu schreiben, so läutete sie mit ihrem Artikel ‚How to Be a Good Classicist Under a Bad Emperor‘ eine neue Ära ein – Eidolon wurde emphatisch politisiert.12 11  https://eidolon.pub/my-classics-will-be-intersectional-or-14ed6e0 bcd1c, abgerufen am 28.3.2022. 12  https://eidolon.pub/how-to-be-a-good-classicist-under-a-bad-em peror-6b848df6e54a, abgerufen am 28.3.2022.

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Die Leitfrage war jetzt nicht mehr: ,Why are you studying Classics?‘, sondern ‚why are you studying Classics?‘ Damit rückte die Identitätspolitik in den Vordergrund, neben und dann vor den Feminismus schob sich der Antirassis­ mus. Zuckerberg legte Quoten fest: 70  % aller Beiträge sollten von Frauen, 20  % von people of colour stammen. Mit dieser als ‚wirklich ziemlich bescheiden‘ eingeführten Ver­ pflichtung seien beide Gruppen überrepräsentiert, doch dies sei genau das Anliegen: Unterprivilegierten eine Stimme zu geben. Die für die Durchsetzung der Quote notwendigen Daten erhob Eidolon mit einem Formular von Google – affirmative action muß nicht mit Sensibilität für Datenschutz einhergehen… Im Zuge der gesellschafts­ politischen Polarisierung unter Trumps Präsidentschaft wurde aus einer Zeitschrift, die Brücken zwischen der Antike und der Gegenwart schlagen sollte, ein Instrument der Identitätspolitik. Ein zweiter Punkt, der unabdingbar für ein Verständnis der Classics in den USA ist, prägte sich mir im Kino ein. Im März 2007 – ich war gerade nach Kalifornien gezogen – sah ich in Santa Barbara Zac Snyders Film ‚300‘, der, auf der graphic novel von Frank Miller und Lynn Varley be­ ruhend, die Schlacht bei den Thermopylen erzählt. Ob Snyders Darstellung von Gewalt und seine Adaption ethnischer Stereotype ironisch gebrochen ist oder nicht – die Rezeption im Kino war eindeutig: Das Publikum, über­ wiegend junge Männer, feuerte lautstark die muskulösen Spartaner an und buhte die als degeneriert portraitierten Perser aus. Die damalige Besetzung des Irak durch USTruppen gab der Gegenüberstellung von Ost und West eine Aktualität, die, wie ich in den kommenden Tagen sah, in zahlreichen Internetforen ausgeschlachtet wurde. Sinn­

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fällig wurde dabei: Die Antike war und ist in den USA ein wichtiger Bezugspunkt für die Rechte.13 Das Spektrum der rechten Antikenrezeption ist breit: Amerikanische Konservative haben traditionell eine Affi­ nität zum Altertum; der gegenwärtige Kulturkampf hat ihre Berufung auf griechische und römische Autoren als Quelle ‚westlicher Werte‘ weiter verstärkt. Rechte Intel­ lektuelle wie Victor Davis Hanson pflegen einen engen Kontakt zur Politik und erreichen mit ihren Essays und Büchern, Blogs und Podcasts ein großes Publikum. Im Be­ sonderen berufen sich die Vertreter des Politischen Realis­ mus auf Thukydides als einen Vordenker, der die harten Gesetze der Machtpolitik bereits erkannt und eindringlich analysiert habe. Zuletzt prägte Graham Allison, Politik­ wissenschaftler und Professor in Harvard, den Ausdruck ‚Thucydides’s trap‘, um die Gefahr einer Eskalation zwischen den USA und China zu bezeichnen. Er verkehrte regelmäßig im Weißen Haus, wo sich auch Steven Bannon als großer Fan des thukydideischen Geschichtswerks zu er­ kennen gab. Am äußersten rechten Rand ist die Antike nicht minder beliebt – der Buchstabe Λ dient Neonazis als Symbol für Wehrhaftigkeit; Suprematisten ziehen antike Literatur und Philosophie als Beleg für die Überlegenheit ‚weißer Kultur‘ heran. Die Angst vor einer Instrumentalisierung der Antike durch rechte Ideologen ist unter den überwiegend links­ 13   Page DuBois, Trojan Horses. Saving the Classics from Conservatives. New York 2001; Eric Adler, Classics, the Culture Wars, and Beyond. Ann Arbor 2016; Donna Zuckerberg, Not All Dead White Men. Classics and Misogyny in the Digital Age. Cambridge/ Massachusetts/ London 2018; John Bloxham, Ancient Greece and American Conservatism. Classical Influence on the Modern Right. London/ New York 2018.

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liberalen Altertumswissenschaftlern in den USA groß. Ge­ meinsam mit der gesellschaftlich tief verwurzelten Dis­ kriminierung Schwarzer und der von Trump weiter ge­­trie­benen Entzweiung der amerikanischen Gesellschaft hat sie bewirkt, daß Antirassismus und Identitätspolitik zum beherrschenden Thema in den amerikanischen Clas­ sics geworden sind. Die radikalen Forderungen ameri­ka­ nischer Philologen, die viele ihrer deutschen Kollegen be­ fremden, sind Ausdruck einer Politisierung der Disziplin im Zuge eines mit großer Heftigkeit ausgefochtenen Gesellschafts- und Kulturkampfes. Williams‘ Bemerkung über Peralta und seine Karriere war der Funken, der das Pulverfaß explodieren ließ. Wie radikal der Traditionsbruch innerhalb von Classics ist, zeigt sich an der Zeitschrift American Journal of Philo­ logy, eines Flaggschiffs der amerikanischen Philologie. Seit der Herbstausgabe des Jahres 2019 ziert das Titelblatt nicht mehr die Aufschrift ‚gegründet von Basil Gildersleeve, 1880‘. Über mehr als ein Jahrhundert hinweg Ausdruck des Stolzes einer eigenen und für amerikanische Verhält­ nisse langen Tradition, ist der Verweis auf einen der ersten namhaften amerikanischen Philologen entfernt worden – Gildersleeve, so die Herausgeber in einer kurzen Erklä­ rung, war ein Rassist und Unterstützer der SüdstaatenKon­ föderation im Amerikanischen Bürgerkrieg. Noch einen Schritt weiter geht Peralta, einer der Wortführer der Bewegung; auf dem Podium der SCS-Veranstaltung, die im Tumult enden sollte, forderte er, Classics solle, wenn die Verwicklung der Disziplin in Rassismus und Kolonialis­ mus nicht schleunigst gelöst werde, untergehen. Die Debatte um Classics hat mittlerweile auch in Groß­ britannien Fuß gefaßt. Allein durch die gemeinsame Spra­

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che sind die Beziehungen zwischen nordamerikanischen und britischen Classics Departments traditionell eng, nicht wenige amerikanische Professoren haben in Oxbridge promoviert und schicken ihre eigenen Schüler an britische Universitäten. Aber die Lage in Großbritannien ist eine eigene, die Diskussion um Classics eine besondere. Eska­ lierte in den USA die Debatte vor allem angesichts der an­ haltenden Diskriminierung Schwarzer, so finden im ehe­ maligen Zentrum der Kolonialmacht die Forderungen nach Dekolonialisierung von Classics ein lautstarkes Echo und mischen sich mit Stimmen, die schon länger eine kritische Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit for­ dern. Bereits 2016 entbrannte eine Diskussion um die Statue von Cecil Rhodes am Oriel College in Oxford, nachdem im Jahr zuvor dessen Statue an der University of Cape Town in Südafrika gestürzt worden war. Mit Rhodes gewinnt das koloniale Erbe des angelsächsischen Bildungswesens ein Gesicht. Es zeigt sich aber auch, wie schwer es ist, sich dieses Erbes zu entledigen. Als Unternehmer und Politiker einer der prominentesten Akteure des britischen Kolo­nia­ lismus in Südafrika, hinterließ Rhodes eine Stiftung, die bis auf den heutigen Tag jedes Jahr an die hundert Stipen­ diaten ein Postgraduiertenstudium in Oxford ermöglicht. Machen sich, so wird erbittert diskutiert, die Empfänger eines Stipendiums aus den Mitteln von Rhodes‘ Stiftung zu dessen posthumen Komplizen? Ein Konflikt zwischen Moral und Geld kristallisierte sich auch in der Kontroverse am Oriel College heraus: zuerst offen für die Forderungen der Protestbewegung, ruderte das College schnell zurück, als wichtige Spender drohten, ihren Geld­fluß versiegen zu lassen. Die Debatte geht weiter – die Statue steht noch, ist

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aber von einer Plakette flankiert, die Rhodes als Kolo­nia­ listen und Ausbeuter Südafrikas vorstellt. Nicht nur das allgemeine Ringen um das koloniale Erbe, auch der Status der altertumswissenschaftlichen Aus­ bildung in Großbritannien befeuert die Debatte. Classics ist nach wie vor eine elitäre Disziplin, ihr Studium immer noch mit hohem soziokulturellem Kapital versehen.14 Latein und Griechisch werden vor allem an teuren Inter­ naten unterrichtet – auch sie eine Hinterlassenschaft des Kolonialismus, stellten sie doch sicher, daß die Kinder der Kolonialbeamten eine ordentliche Erziehung in der Heimat erhielten. Classics gilt als ein anspruchsvoller Studiengang, der Studenten für eine Vielzahl von Karrieren qualifiziert. Die Absolventen aus Oxbridge sind gern gesehen als Trainees in London und gelangen oft in einflußreiche Positionen in Recht, Politik und Wirtschaft. Der gegenwärtige Premierminister, Boris Johnson, ist ein glänzendes Beispiel:15 Nach dem Besuch von Eaton studierte er Classics am Balliol College in Oxford und war Präsident der Oxford Union. Er begann seine Karriere als Journalist und war Herausgeber des Spectator, bevor er in die Politik ging und zuerst Parlamentsabgeordneter, dann Bürgermeister und schließlich Außenminister und Pre­ mierminister wurde. Wie das Studium der Antike Boris Johnson geprägt hat, ist eine Frage, die Altertumswissen­ schaftler kontrovers diskutieren – Johnson selbst beruft sich auf jeden Fall gern und oft auf die Antike. Neben Winston Churchill ist der athenische Staatsmann Perikles 14   Mirko Canevaro, ‚Learning the classical languages. Elitism and in­ clu­sion‘ in: Quaderni Urbinati di Cultura Classica 129.3, 2021: 191–200. 15   Jan Roß, Boris Johnson. Porträt eines Störenfrieds. Berlin 2020 ist ein anregendes Portrait, das der Versuchung der Schwarzmalerei trotzt.

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sein erklärtes Vorbild. Noch 2015 lieferte sich Johnson, damals Bürgermeister von London, vor großem Publikum ein Rededuell mit der Althistorikerin Mary Beard aus Cambridge, ob Rom oder Griechenland großartiger sei. Beard, die in den britischen Medien sehr präsent ist, konnte das Duell knapp für sich, Rom und Cambridge entscheiden. Johnson aber setzte sich an die Spitze der Brexit-Bewegung und wurde 2019 Premierminister. Classics wird in Großbritannien nicht nur angeprangert als eine Disziplin, welche die Eliten einer kolonialistischen, rassistischen und frauenfeindlichen Gesellschaft hervor­ brachte, auch seine gegenwärtige soziokulturelle Rolle nährt Kritik. Die britischen Universitäten bemühen sich nach Kräften, die Diversität der Classics-Studenten zu er­ höhen, doch auch Programme, die keine Latein- und Griechischkenntnisse erfordern, haben die Dominanz der Absolventen teurer Privatschulen nur mindern, aber nicht beseitigen können. Die besondere Affinität konservativer Kreise zur Antike wird sinnfällig im Namen, den sich die Tory-Abgeordneten gaben, die gegen Theresa Mays BrexitVertrag stimmten – ‚Spartans‘, in Erinnerung an die Spartaner, die sich den Persern an den Thermopylen ent­ gegenstellten und im Kampf fielen. Die Frustration über den nach wie vor exklusiven Charakter von Classics ist Zunder für eine grundlegende Kritik am Fach und der Be­ deutung der Antike in der Gegenwart. Neville Morley be­ schreibt pointiert, daß es der Erfolg von Classics ist, der ihnen nun zum Verhängnis wird: ‚One might argue that Classics, as a discipline, has been the victim of its own success. Classics managed to establish itself in schools and universities through the cultural importance of its subject matter and through claims about the excellence and

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difficulty of its technical skills, as well as the fact that the existence of such a discipline, precisely because of its elite status, was useful for other purposes.‘16

Sind die Altertumswissenschaftler in den USA in einen Kulturkampf verwickelt und fühlen sich von rechten An­ eignungen der Antike bedroht, so ist es in Großbritannien vor allem der immer noch elitäre Charakter von Classics, der die Diskussion verschärft. Blicken wir auf Deutschland, so bietet sich ein ganz anderes Bild. Zwar hat auch Deutschland eine koloniale Vergangenheit und ist leider nicht frei von Rassismus, doch sind die Diskussionen darüber nicht mit den Altertums­ wissenschaften verbunden. Im Bildungssystem sind die alten Sprachen – man muß es so sagen – marginalisiert. Das humanistische Gymnasium gibt es schon lange nicht mehr, Latein und Griechisch gewähren als Schulfächer keinen großen Distinktionsgewinn, sondern bedürfen ständiger Legitimationsfeldzüge, um neben Spanisch und Chinesisch geduldet zu werden.17 An der Universität bilden die Seminare für Klassische Philologie vor allem Lehrer aus. Im Vergleich mit Deutsch, Geographie und Geschichte gelten Latein und Griechisch als anspruchsvolle Studien­ gänge, aber wer sozial ehrgeizig ist, studiert BWL, Jura oder Medizin, wenn er nicht gleich neue Pfade beschreitet und sein Glück als Influencer oder mit Start-up-Unter­ nehmen versucht.   Neville Morley, Classics. Why It Matters. Cambridge 2018: 38.  Zur Geschichte des altsprachlichen Unterrichts in der Bundes­ republik nach dem 2. Weltkrieg s. Stefan Kipf, Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung, didaktische Konzepte und methodische Grundfragen von der Nachkriegszeit bis zum Ende des 20.  Jahrhunderts. Bamberg 2006. 16

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Auch in der rechten und rechtsradikalen Szene Deutsch­ lands spielt die Antike keine besondere Rolle. In ihren ersten Jahren präsentierte sich die mittlerweile stark radi­ kalisierte AfD als ein Forum für das konservative Bürger­ tum, ohne sich aber dessen Affinität zu den alten Sprachen zu eigen zu machen. Die Wirtschaft- und Finanzpolitik stand im Vordergrund und die Kritik an der EU wohl auch einer Berufung auf die Antike im Wege. Einige Vertreter der Neuen Rechten geben sich belesen; vor allem Götz Kubitschek inszeniert sich vor den Journalisten, die zum Rittergut von Schnellroda pilgern und dann mit ihren Be­ richten den Lesern wohlige Schauer einjagen, als veritabler Intellektueller und konservativer Revolutionär. Doch gehen seine Zitate selten hinter Carl Schmitt und andere Modernekritiker zurück. Obgleich Kubitscheks Verlag nach einer Figur aus der antiken Mythologie benannt ist – Antaios – und sich die identitäre Bewegung auch in Deutschland des Λ als Symbol bedient, haben deutsche Altertumswissenschaftler anders als ihre amerikanischen Kollegen nicht das Gefühl, die Antike vor dem Zugriff rechter Ideologen verteidigen zu müssen. Die griechisch-römische Antike ist in Deutschland all­ gemein von geringerer Bedeutung als in den USA und Groß­ britannien. Vergeblich sucht man in der deutschspra­chigen Literatur den Trend zu Wiedererzählungen antiker Mythen, der sich etwa in den Werken von Madeleine Miller, Pat Barker’s The Silence of the Girls (2018) und Nathalie Haynes‘ A Thousand Ships (2019) abzeichnet. Es gibt in Deutschland weder eine Altertumswissenschaftlerin mit der me­dia­len Präsenz von Mary Beard noch einen vielbeachteten Publizisten wie Daniel Mendelsohn, der in seinen Essays und Büchern immer wieder zur antiken Literatur zurück­

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kehrt. Und während Boris Johnson als Classics-Absolvent im britischen Parlament kein Einzelfall ist, fällt es schwer, nach Franz Josef Strauß prominente Parallelen in der deutschen Politik zu finden. Undenkbar, daß die Bür­ger­ meisterin von Berlin – der gegenwärtigen Amtsinhaberin wurde ihr ­Dok­tortitel wegen Plagiats entzogen – vor großem Publi­kum mit einer Professorin für Alte Geschichte da­rüber diskutiert, ob Rom oder Griechenland bedeu­ten­der war! Auch in anderen Ländern haben die Altertumswissen­ schaften ihre eigenen Traditionen und die Antike einen speziellen Stellenwert im intellektuellen Leben. In Italien etwa verleihen die materiellen Relikte dem griechischrömischen Altertum eine dauerhafte Präsenz und mit dem liceo classico ist der altsprachliche Unterricht auch an öffentlichen Schulen angesiedelt. Die Antike hat damit einen anderen Platz als in Großbritannien, wo Latein und Griechisch vor allem an teuren Privatschulen unterrichtet werden. Die Altertumswissenschaften sind aber inter­ national zu vernetzt, die anglophone Forschung zu domi­ nant, als daß man sich der in den USA angestoßenen De­ batte entziehen könnte. Wie wir aber gesehen haben, sind einige Positionen stark von der spezifischen Situation im angelsächsischen Sprachraum geprägt und wirken des­ wegen auf viele deutsche Kollegen befremdlich. Während in Deutschland die alten Sprachen und die Altertums­ wissenschaften ein Nischendasein fristen, ist in den USA und Großbritannien ihre gegenwärtige wie vergangene so­ ziopolitische Bedeutung unter den Auspizien der Identi­ tätspolitik zum Sprengstoff geworden. So verschieden die Kontexte aber auch sind – der Frage, warum man sich heute noch mit griechischen und lateinischen Texten beschäftigen soll, müssen sich alle Altertumswissenschaftler stellen.

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In Deutschland greifen Altertumswissenschaftler ge­ wöhnlich auf Hölschers kommode Formel ‚des nächsten Fremden‘ zurück, um ihre Beschäftigung mit der Antike zu legitimieren. So beliebt diese Prägung hierzulande auch ist, außerhalb des deutschen Sprachraums ist sie kaum rezi­ piert worden. Ist ,das nächste Fremde‘ noch tragfähig, kann es auch der gegenwärtigen Diskussion als Grundlage die­ nen? Bevor ich Hölschers Formel auf den Prüfstand stelle, möchte ich einige Überlegungen zur gegenwärtigen Debat­ te anstellen: In ihr prallen, meine ich, zwei konträre Vor­ stellungen von Wissenschaft aufeinander – eine traditionel­ le und eine identitätspolitische.

2.2. Ein neues Verständnis von Wissenschaft? Über den Status wissenschaftlicher Erkenntnis gibt es, wie eingangs bemerkt, eine lange und verzweigte Diskussion. Auch wer sich nicht eingehend mit Wissenschaftstheorie beschäftigt, stößt gelegentlich auf Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit als Ausweis von Wissenschaftlichkeit und begegnet in der Paradigmentheorie einem Versuch, den Aporien einer simplen Fortschrittstheorie zu ent­ kommen. Wissenschaftliche Erkenntnis – darauf hätten sich die Vertreter verschiedener Disziplinen lange Zeit wohl als Minimalkonsens einigen können – muß inter­ subjektiv plausibel sein. Diese Annahme liegt zumindest dem gängigsten Verfahren zugrunde, mit dem Publi­ka­ tionen evaluiert werden: dem peer-review.18 Die Begut­ achtung ist in der Regel anonym – die Gutachter kennen 18  Zum peer-review mit weiterer Literatur s. Caspar Hirschi, ‚Wie peer review die Wissenschaft diszipliniert‘ in: Merkur 72/832: 5–19.

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den Namen der Autoren nicht, diese wiederum erfahren nicht, von wem das Gutachten stammt. Es spielt also keine Rolle, ob ein Beitrag von einem Mann oder einer Frau stammt, ob der Autor oder die Autorin alt oder jung ist, welche Hautfarbe, welche sexuelle Orientierung er oder sie hat etc. Diese Informationen werden bewußt zurück­ gehalten, damit die Thesen unabhängig von der Person des Verfassers oder der Verfasserin geprüft und Vorbehalte sowie Vorlieben der Gutachter ausgeschaltet werden. Vertreter der Identitätspolitik fordern nun über Dis­zi­ plinengrenzen hinweg, die anonyme Begutachtung durch Quoten zu ersetzen. Die bereits erwähnte Zeitschrift Eidolon zum Beispiel hatte festgelegt, daß 70  % der Essays von Frauen und 20  % von people of colour stammen müß­ ten. Der Althistoriker Peralta begründet derartige Quoten mit reparative epistemic justice – Gruppen, die zuvor ­un­terprivilegiert waren, sollen nun verstärkt zum Zuge kommen, wie er bei der berüchtigten Diskussion in San Diego ausführte: ‚…white men will have to surrender the privilege they have of seeing their words printed and disseminated; they will have to take a backseat so that people of color – and women and gender-nonconforming scholars of color  – benefit from the privilege of seeing their words on the page.‘ Der intellektuelle Schutzpatron dieses Programms ist Michel Foucault: So stellt die Identitätspolitik die Macht­ verhältnisse in den Vordergrund, auf die sich Foucaults Diskursanalyse konzentriert. Auch Wissenschaft wird als ein Machtkampf betrachtet, Publikationen primär als Form der Ermächtigung gesehen. Den Forde­rungen, oft von Professoren an amerikanischen Elite­universitäten wie Peralta erhoben, liegt ein gewaltiges Selbstbewußtsein zu­

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grunde. Die gesellschaftliche Relevanz und Reichweite der Geisteswissenschaften werden so hoch veranschlagt, wie das hierzulande bei allem Geltungsdrang nur wenige täten. Aber man kann auch eine andere ideengeschichtliche Genealogie konstruieren. Theoretiker wie Frank B. Wilder­ son sehen ihre Arbeiten vor allem als Ausdruck ihrer eigenen Identität. Ihre Behauptung, nur Schwarze könnten ‚blackness‘ verstehen, stößt auch wohlmeinende Gelehrte anderer Hautfarbe vor den Kopf und widerspricht der Grundannahme, Wissen müsse intersubjektiv plausibel sein. Zugleich läßt sich die Idee des Ausdrucks auf die Romantik zurückführen. Die Schlegelbrüder und andere Romantiker kritisierten das klassizistische Verständnis der mimesis als einer Wiedergabe von Wirklichkeit und versuchten es zu ersetzen durch den Gedanken des schöp­ ferischen Ausdrucks:19 Der romantische Autor bilde die Welt nicht ab, sondern erzeuge sie. Damit verschiebt sich das Verständnis der mimesis zwischen den beiden bei Aristoteles angelegten Polen – Nachahmung und Darstel­ lung – und erfährt eine prägnante Neudeutung. Die Werke des romantischen Künstlers sind nicht Nachahmung der Wirklichkeit, sondern Ausdruck seines Ingeniums. Die historische Kluft zwischen Romantik und Identitätspolitik ist beträchtlich, doch im Bekenntnis zum Ausdruck kom­ men sie zusammen. Die geistige Nähe zwischen Romantik und Identitäts­ politik zeigt sich in Wildersons Buch Afropessimism. Von Kritikern gefeiert, entwickelt Afropessimism eine Theorie der ‚blackness‘; eng verzahnt mit abstrakten Reflexionen 19  Stephen Halliwell, The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems. Princeton 2002: 358–69.

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und Zitaten postkolonialistischer Theoretiker ist es eine poetische Darstellung von Wildersons Werdegang. Afro­ pessimism ist sowohl Literatur als auch Theorie – und steht damit in der romantischen Tradition, die Grenze zwischen Dichtung und Wissenschaft aufzuheben. Das autobio­ graphische Element in Afropessimism ist nicht nur eine hermeneutische Brücke, die den Leser sicher zur Theorie der ‚blackness‘ geleiten soll, es verwirklicht vor allem die Überzeugung, daß sich auch in Theorie Identitäten mani­ festieren. Wissenschaft als Produktion intersubjektiv plausibler Erkenntnis oder als Ausdruck von Identität – diese wider­ streitenden Logiken sind auch in anderen Feldern am Werk. Zum Beispiel im Literaturkanon: Nach herkömm­ lichem Verständnis versammelt der Kanon Werke, die sich durch ihre Qualität – worin auch immer diese bestehen mag – auszeichnen. Dieser Logik der Qualität ist eine Logik der Repräsentation entgegengesetzt, nach der ein Kanon das Schaffen verschiedener Gruppen abbilden soll. So spielt bei den Diskussionen um den Literaturnobelpreis die Herkunft der Preisträger mittlerweile eine gewichtige Rolle. Kanonstiftend für die Weltliteratur, soll der Nobel­ preis nicht nur die europäische und nordamerikanische Tradition berücksichtigen. Aber wie läßt sich der Versuch, mit dem Kanon alle Literaturen abzubilden, vereinen mit dem Anspruch, die besten Werke auszuwählen? Das Verständnis von Wissenschaft hat sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder verschoben; auch künftige Generationen werden einen anderen Begriff von Wissenschaft haben als wir. Werden wir gerade Zeugen eines Paradigmenwechsels, wird Wissenschaft als Aus­ druck von Identität die Wissenschaft als Form der Er­

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kenntnis verdrängen? Darauf wage ich keine Antwort zu geben. Aber in der gegenwärtigen Debatte um die Alter­ tumswissenschaften tritt ein Riß hervor, der über ihr Feld hinausgeht. Man wird die radikalen Forderungen von Peralta und anderen nur verstehen, wenn man sie in diesem größeren Kontext sieht. Zugleich dürfte es kein Zufall sein, daß der Streit um Wesen und Funktion von Wissen mit besonderer Heftigkeit in Classics geführt wird – dort ist der alte normative Status des Altertums noch fühlbar. Auf der einen Seite berufen sich Konservative und Rechte auf die Antike als grundlegend für ihre kulturelle Identität, auf der anderen Seite fordern die dabei gefeierten Werte die Vertreter der Identitätspolitik heraus, die ganz andere Vor­ stellungen durchsetzen wollen.

2.3. Die blinden Flecken der Identitätspolitik Mit dem Impetus der moralischen Aufklärung bestimmen die Advokaten der Identitätspolitik viele Diskussionen in den Geisteswissenschaften und auch dem Feuilleton. Aber ihre Agenda weckt auch Unbehagen. Ist der Identitäts­ begriff nicht zu statisch, zu wenig dynamisch für die mannigfaltigen Prozesse, in denen sich Orientierungen überlagern und hybridisieren? Die Identitätspolitik führt sich selbst ad absurdum, wenn weiße Musikerinnen mit dreadlocks von politischen Kundgebungen ausgeladen werden, da sie mit ihrer Frisur einen Teil der schwarzen Kultur ‚appropriieren‘.20 Reaktionäre Freunde des Seiten­ scheitels werden sich darüber klammheimlich freuen, 20   Fridays-for-Future lud im März 2022 die Musikerin Ronja Maltzahn aufgrund ihrer Haartracht von einer Demonstration aus.

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andere sich fragen, ob die schwarze Protestbewegung die dreadlocks nicht von den Rastafaris übernommen hat, die bisher weder durch Homophilie noch Feminismus hervor­ getreten sind… Kehrt in der identitätspolitischen Theorie nicht der Essentialismus zurück, das Anathema der Kulturwissen­ schaften? Diese Gefahr ist greifbar, wenn Wilderson ‚black‘ als eine ontologische Kategorie einführt. In verstörender Weise erinnern die klare Abgrenzung von Identitäten und die auf sie gegründeten Ansprüche an das identitäre Pro­ gramm der Neuen Rechten. Und so wichtig es auch ist, Machtdynamiken – gerade camouflierte – im Blick zu haben, überschätzt die akademische Identitätspolitik nicht die eigene Relevanz und unterschätzt umgekehrt die intellektuellen Spielräume, die an Universitäten zumindest größer als in Unternehmen und Parlamenten sind? Ist die Besessenheit mit Identität nicht verbohrt angesichts des Reizes, sich mit etwas anderem als dem Eigenen zu be­ schäftigen? Ich formuliere bewußt Fragen, denn hier ist nicht der Platz für eine umfassende Auseinandersetzung; die Identi­ tätspolitik kommt nur als ein wichtiger Hintergrund für die gegenwärtige Debatte in den Altertumswissenschaften in Betracht.21 Zugleich läßt sich dort eine Neigung be­ obachten, die zum Kern der Identitätspolitik führt – dem 21   Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Identitätspolitik s. Helen Pluckrose/ James Lindsay, Cynical Theories. How Activist Scholar­ ship Made Everything About Race, Gender And Identity – And Why This Harms Everybody. Durham, NC 2020, die sie als ein Produkt post­ moderner Theorie, vor allem eines radikalen Skeptizismus gegenüber objektivem Wissen und der Diskursanalyse von Machtverhältnissen er­ klären.

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moralischen Anspruch und der Forderung nach Gerech­ tigkeit. Nach dem Eklat bei der Konferenz der Society of Classical Studies 2019 schlossen sich die Reihen der anglo­ phonen Altertumswissenschaftler – in Artikeln, Blogs und Interviews ergoß sich eine Sturzflut der Kritik über Williams. Auch wenn sie sich mit ihrer Äußerung dis­ kreditiert hatte, ist doch auffällig, wie sich die ganze Zunft hinter einem männlichen Professor an einer Ivy League School versammelte, um Front zu machen gegen eine Frau ohne feste universitäre Anstellung. In ihrem Fokus auf Rassismus blendete die Kritik die Machtverhältnisse ganz aus – weder Geschlecht noch Hierarchie kamen auch nur zur Sprache. Hier zeigt sich ein Punkt, der bereits zu einer Kontroverse innerhalb der Linken in Deutschland geführt hat. In ihrem Buch Die Selbstgerechten (2021) greift Sahra Wagenknecht die Identitätspolitik an: Sie sei ein Programm saturierter Akademiker, die sich links gebärden, aber in ihrem Life­ style-Narzissmus das Gemeinschaftsgefühl unterminieren und von den eigentlichen Problemen der sozio-ökono­ mischen Ungerechtigkeit ablenken. Wie auch immer man Wagenknechts Rekurs auf den Gemeinsinn bewerten mag  – er fand den ausdrücklichen Beifall von Peter Gau­ weiler22 – ihr Buch zeigt, wie weit die Identitätspolitik von traditionell linken Standpunkten entfernt ist, daß in der Obsession mit Identitäten Machtverhältnisse, wirtschaft­ liche Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit in Ver­ gessenheit zu geraten drohen. Die Tendenz, vom Hochstand der Moral aus großzügig über die eigenen Hierarchien hinwegzusehen, trat in einer   FAZ vom 21.4.2021.

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weiteren Diskussion unter Altertumswissenschaftlern zu Tage. Ende 2017 kündigten Doktoranden eines Wupper­ taler Graduiertenkollegs auf der Liverpool Classics List eine Tagung an mit dem Titel ‚(un)documented – Was bleibt vom Dokument in der Edition?‘ Andrew Feldherr, Professor in Princeton und international angesehener Gelehrter auf den Gebieten der lateinischen Dichtung und Historio­ graphie, forderte in einer öffentlichen Nachricht über die Liverpool Classics List die Organisatoren dazu auf, den Titel zu ändern. Mit ‚undocumented‘, so Feldherr, nutzten sie einen Begriff, hinter dem sich zahllose Tragödien von Immigranten ohne Einreisegenehmigung in den USA ver­ bärgen, um Aufmerksamkeit für eine Konferenz zu einem ganz anderen Thema zu erzeugen. Feldherrs Nachricht löste eine heftige Diskussion aus: Schnell meldeten sich weitere amerikanische Philologen zu Wort und prangerten mit harschen Worten den Zynismus der Konferenzankündigung an. Die Organisatoren wiede­ rum beteuerten, ihnen sei die politische Signifikanz des Ausdrucks ‚undocumented‘ nicht bewußt gewesen. Als immer mehr Nachrichten erschienen und die Diskussion zu entgleisen drohte, beendete sie Nick Lowe, der Ver­ antwortliche der Liverpool Classics List: Ein internationales Forum müsse nicht nur auf ‚lokale Korruptionen des Denkens‘, sondern auch auf politische und institutionelle Asymmetrien achten. Einige Kollegen, so Lowe, sprächen sogar von einem ‚shaming‘, das hier ein Professor mit hoher Seniorität und einem großen Gefolge über Doktoranden verhängt habe. An der ‚undocumented‘- Debatte zeigte sich neben der Gefahr, daß der politisch korrekte Moralismus Machtver­ hältnisse ignoriert, auch die wachsende Kluft zwischen

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Altertumswissenschaftlern in den USA und Deutschland. Obwohl sich Englisch als lingua franca auch der Alter­ tumswissenschaften etabliert und immer mehr Nicht­ muttersprachler auf Englisch publizieren, scheinen die Gelehrten in den USA und Deutschland verschiedene ­ Sprachen zu sprechen. Bemerkenswert ist auch, daß Feld­ herr und andere Amerikaner ohne weiteres voraussetzten, daß das linguistische Echo der US-Tagespolitik Europäern vertraut war und sie die neue Bedeutung von ‚undocu­ mented‘ kannten. Böse Zungen sprachen von einem ameri­ kanischen Kulturimperialismus, der vergesse, daß es auch eine Welt jenseits der Vereinigten Staaten gebe und die eigenen Probleme und Standards unreflektiert auf andere Länder projiziere. Die Ausblendung sozialer und ökonomischer Faktoren in der Identitätspolitik ist vor allem in Großbritannien frappierend. Trotz aller Bemühungen rekrutieren die Classics Departments nach wie vor einen nicht unbeträcht­ lichen Teil ihrer Studenten aus den Eleven teurer Privat­ schulen. Die Abschaffung der meisten Grammar Schools zwischen 1965 und 1976 führte dazu, daß vor allem die Kinder begüterter Eltern Latein und Griechisch an der Schule lernen. Die soziale Exklusivität ist nach wie vor ein zentrales Problem von Classics in Großbritannien. Auch wenn man soziale Gerechtigkeit und die Förderung ethnischer Minderheiten nicht gegeneinander ausspielen darf, läßt sich nicht leug­nen, daß die Forderungen nach Dekolonialisierung und Antirassismus doch das Klassen­ problem in den Hintergrund gedrängt haben. Hier bieten die Anwälte der Identitätspolitik den konservativen Ver­ teidigern der western civilization ein einfaches Ziel. In seinem Essay im Spectator, der die Rassismusvorwürfe

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gegen Classics bestritt und im Fach einen Aufschrei der Empörung auslöste, bemerkte Butterfield: ‚The primary problem facing Classics in the UK is not one of race but of education: Latin remains an artificially elite subject. It’s a grim and depressing irony that those who oppose the subject for its genuine historic elitism end up perpetuating that characteristic by cordon­ing off its study to the privateschool sector.‘23 Auch und gerade wer Butterfields Sicht auf das klassische Erbe der Antike nicht teilt, sollte bei dieser Beobachtung nach­denklich werden.

2.4. Der Preis des vergessenen Historismus Noch bevor die Debatte um die Dekolonialisierung von Classics an Fahrt aufnahm, hatte eine internationale Gruppe anglophoner Altertumswissenschaftler begonnen, sich regelmäßig zu treffen, um über den Platz ihres Fachs in der Gegenwart zu diskutieren. Die drei Wissenschaftlerin­ nen und sechs Wissenschaftler, in der Gräzistik beheimatet und von hoher fachlicher Reputation, verfaßten ein Manifest, das sie 2020 als ‚The Postclassicisms Collective‘ veröffentlichten.24 Im Begriff postclassicisms zeichnet sich ihr Programm bereits ab: einen Wert der Altertumswissen­ schaften für die Gegenwart zu bestimmen, der über die antiquarische Rekonstruktion der Vergangenheit und die historische Kontextualisierung von Texten und Artefakten hinausgeht, ohne zum Klassizismus zurückzukehren.   Spectator vom 18.07.2020.   Die Autoren sind: Alastair Blanshard, Simon Goldhill, Constanze Güthenke, Brooke Holmes, Miriam Leonard, Glenn Most, Jim Porter, Phiroze Vasunia, Tim Whitmarsh. 23

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Neben ‚Wert‘ und ‚Verantwortung‘ firmiert ‚Zeit‘ als eine der grundlegenden Dimensionen der Disziplin im post­ classicisms-Manifest. Es ist überraschend, wie wortreich die Autoren immer wieder um die eigene Situations­ gebundenheit kreisen und diese Reflexionsschleife als einen originellen Beitrag zur Wertefrage anpreisen. Das Autorenkollektiv präsentiert postclassicisms als ‚a set of responses to classicism‘25, ohne die ideengeschichtliche Be­ wegung zur Kenntnis zu nehmen, die sich bereits kritisch und mit teils ähnlichen Überlegungen vom Klassizismus abgesetzt hat – den Historismus. Im Index erscheint ‚historicism‘ nur als Unterlemma von ‚historiography‘, auf bizarre Weise eingeklemmt zwischen ‚great man history‘ und ‚homohistory‘. Trotz der tiefschürfenden Auseinan­ dersetzung mit Wissenschaftsgeschichte ist der Historis­ mus reduziert auf die enzyklopädische Erschließung von Zeugnissen der Vergangenheit. Die Reflexionen über Geschichtlichkeit bei Johann Gustav Droysen, Wilhelm Dilthey und anderen scheinen ebenso unbekannt zu sein wie Max Webers Schriften zur Wertfreiheit in den Geistes­ wissenschaften. Das Bewußtsein für Unterschiede zwischen Epochen und die geschichtliche Gewordenheit der eigenen Position war Kern des Historismus. Wie Reinhard Koselleck zeigte, bildete sich um 1800 der Kollektivsingular Geschichte als Begriff sowohl für die Ereignisse als auch ihre Dar­ stellung.26 Vor allem durch die Französische Revolution und die technische Revolution traten Erfahrungsraum und 25   The Postclassicisms Collective, Postclassicisms. Chicago/ London 2020: 19. 26   Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschicht­ licher Zeiten. Frankfurt am Main 1979.

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Erwartungshorizont auseinander – man begann in der Vergangenheit eine in die Gegenwart mündende Ent­ wicklung und die Zukunft als einen offenen und gestalt­ baren Raum zu sehen. Der Gedanke der Entwicklung schärfte die Aufmerksamkeit für die Eigenarten histori­ scher Epochen, die es nun zu ergründen und zu verstehen galt. Der von vielen belächelte Positivismus der Histo­ rischen Schule, die enzyklopädische Erschließung ver­ gangener Kulturen, fußt nicht zuletzt auf der Annahme der Geschichtlichkeit des Menschen. Neben den Monu­ menta Germaniae Historica und Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft stehen Droysens Historik und Diltheys Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gerade, aber nicht nur für anglophone Geisteswissen­ schaftler ist der Historismus jedoch zum Synonym für Positivismus verblaßt. Seine Einsichten in die geschicht­ liche Prägung von Kulturen sind weitgehend vergessen. Der Preis dieser Ignoranz ist hoch und zeigt sich in schein­ bar entgegengesetzten Positionen. War der Historismus darum bemüht, jede Epoche aus sich selbst heraus zu ver­ stehen, so bewerten und zensieren die Jünger der Identi­ tätspolitik die Vergangenheit vor allem mit den moralischen Maßstäben der Gegenwart. Ein paar Beispiele aus Deutsch­ land: Nachdem die Stadt Berlin angekündigt hat, die Mohrenstraße – nur noch als M*straße zu schreiben – in Anton-Wilhelm-Arno-Straße umzubenennen, sind Forde­ run­gen laut geworden, auch dem Richard-Wagner-Platz und der Martin-Luther-Straße andere Namen zu geben. Sogar die Rienzistraße ist auf den Index gesetzt worden – offensichtlich färbt Wagners Antisemitismus auf den spät­ mittelalterlichen Volkstribun ab. Neben Kant ist zuletzt

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Hegel ins Visier der identitätspolitischen Zensur geraten – von beiden liegen Äußerungen zu fremden Völkern vor, die für unser Empfinden heute rassistisch sind. Soll man, darf man überhaupt noch ihre philosophischen Entwürfe ernst nehmen und diskutieren? In derartigen Diskussionen über Denkmäler und Stra­ ßennamen, über die politische Korrektheit von Philoso­ phen verständigt sich unsere Gesellschaft über ihre eigenen Werte. Es gibt gute Gründe dafür, Statuen wie die des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol zu entfernen. Aber in anderen Fällen schaudert einen angesichts des Rigorismus und der Selbstgerechtigkeit, mit der eine Epoche die Hinterlassenschaften früherer Epochen aus dem Weg räumen und die Spuren anderer Werte tilgen will  – ohne daran zu denken, daß auch ihre eigenen Vor­ stellungen historisch gewachsen, schon jetzt kontrovers sind und zukünftige Generationen auf sie mit Verwun­de­ rung zurückblicken, ja, viele von ihnen entschieden zu­ rück­weisen werden. Auch der Kanon antiker Literatur soll nach unseren Moralvorstellungen bereinigt und anstößige Werke, wenn überhaupt, dann nur mit einem kritischen Fokus auf ihre ethische Defizienz behandelt werden. Leser von Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben werden es begrüßen, wenn die Texte vergangener Kulturen nicht nur aus antiquarischen Gründen, sondern auch mit einem Blick auf ihre gegenwärtige Relevanz studiert werden. Damit wird auch einer Grundeinsicht der Hermeneutik Rechnung getragen: daß man Texte und Zeugnisse, aus welcher Zeit sie auch stammen, im Horizont der eigenen Gegenwart versteht. Aber wenn die Perspektivität des Ver­ stehens übersteigert und der Text zum Spiegel der eigenen

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Position verflacht wird, entsteht ein hermeneutischer Kurz­­schluß – die spannungsreiche Begegnung mit dem Fremden wird abgewürgt, die Möglichkeit, das eigene in einem neuen Licht zu sehen, verspielt. Gegen den identitätspolitischen Tribalismus haben Geis­ teswissenschaftlerinnen zuletzt die Aufklärung ins Feld geführt. Susan Neiman, Philosophin und Direktorin des Postdamer Einstein Forums, findet bei Kant und anderen Aufklärern einen Universalismus, der allein eine ‚linksliberale politische Handlung‘ begründen könnte.27 Die Berliner Gräzistin Gyburg Uhlmann sieht in der Ver­ nunft eine Gabe, mit der wir uns in der Nachfolge des häßlichen Sokrates über Aussehen und Herkunft hinweg­ setzen können.28 Es ist jedoch fraglich, ob dieser Rekurs auf die Aufklärung die Advokaten der Identitätspolitik beein­ drucken und in ihren Annahmen erschüttern wird, und dies nicht nur weil Vernunft unter dem postkolonialen Generalverdacht steht, westliche Hegemonialansprüche zu kaschieren. Uhlmann preist ‚die Unterscheidungsfähigkeit der Vernunft, die Schritte zu den Sternen, aber auch Schritte aufeinander zu möglich macht.‘ Hier ist bewußt oder unbewußt die Unterscheidung zwischen praktischer und instrumenteller Vernunft unter­ laufen; mit ihr versuchte die Kritische Theorie nach den zivilisatorischen Katastrophen des 20.  Jahrhunderts zu­ mindest einen Teil der Aufklärung zu retten: Führte die instrumentelle Vernunft als technische Zweckrationalität auch zur indus­ triellen Massenvernichtung des Dritten

  FAZ vom 31.5.2021.   FAZ vom 4.8.2021.

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Reichs, so sah man in der praktischen Vernunft die Möglichkeit, über Zwecke ethisch zu reflektieren.29 Der Partikularismus der Identitätspolitik steht dem auf­ klärerischen Universalismus unversöhnlich gegenüber: Für die Vernunft als einem von allen Menschen geteilten und Grenzen überwindenden Vermögen ist kein Platz in einem Weltbild, das einer weißen Niederländerin die Fähigkeit abspricht, das Gedicht einer Afroamerikanerin zu übersetzen. Dennoch hat Uhlmanns Vernunftglaube denselben blinden Flecken wie die Essentialisierung von Identitäten. Die Vernunft überschreite historische Grenzen – Uhlmann findet sie im antiken Indien und China ebenso wie im klassischen Altertum und dem europäischen Mittelalter. Die Unterschiede zwischen Epochen sind hier nivelliert, die Geschichtlichkeit auch unserer Vorstellung von Vernunft unterschlagen. Ebenso wie die Identitäts­ politik krankt ihre aufgeklärte Kritik an der Ignoranz gegenüber Grundeinsichten des Historismus. Nun gibt es die These, das vom Historismus geprägte Geschichtsdenken sei abgelöst worden von einem ‚Präsen­ tis­mus‘. Der französische Historiker François Hartog be­ schreibt ein neues ‚régime d’historicité‘, in dem nicht mehr die Zukunft oder Vergangenheit, sondern die Gegenwart herrsche.30 Vor allem aufgrund einer Krise der Zukunft habe der Gedanke der Entwicklung an Plausibilität verloren. Auch Hans Ulrich Gumbrecht spricht von einer ‚breiten Gegenwart‘: Die Zukunft werde nicht mehr als offener Horizont, die Vergangenheit vor allem als präsenter 29   Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frank­ furt 1967. 30   François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et experiences du temps. Paris 2003.

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Schatten über der Gegenwart erlebt.31 In der Tat bilden die digitalen Speichermedien ein gewaltiges Archiv, in dem Vergangenes abrufbereit konserviert wird, während die Gegenwart sich mit Algorithmen in die Zukunft fortzu­ schreiben versucht. Und doch stellen nicht erst der Kontingenzeinbruch der Corona-Pandemie und das Ein­ marschieren russischer Truppen in die Ukraine die These des ‚Präsentismus‘ in Frage. In der Fridays-for-future Be­ wegung hat die Zukunft neue Prominenz gewonnen. Zwar glauben die Klimaaktivisten nicht an einen Fortschritt, sondern versuchen die Erde für menschliches Leben zu be­ wahren – aber trotz der umgekehrten Vorzeichen erscheint die Zukunft nach wie vor als von Menschen gestaltbarer Raum. Auch die Erinnerungskultur geht kaum in einer breiten Gegenwart auf; so wichtig in Archiven, Museen und Gedenkstätten die Präsenz des Vergangenen ist, dreht sich etwa die gegenwärtige Debatte um die Shoah und den Kolonialismus gerade um die Spezifizität vergangener Er­ eignisse.32 In seinem in der Geschichtstheorie vieldiskutierten Buch History in Times of Unprecedented Change sieht Zoltán Boldizsár Simon nach wie vor den Wandel als das Signum unseres Geschichtsbildes an.33 Unsere Erwartungen kon­ zen­trierten sich nicht mehr auf Entwicklungen wie im 19. 31  Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart. Berlin 2010; Hans Ulrich Gumbrecht, Präsenz. Berlin 2012. 32   Die Kontroverse wurde ausgelöst durch einen Blogbeitrag von Dirk Moses: https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deut schen/, abgerufen am 30.3.2022. Zur Kritik s. die Artikel in Saul Fried­ länder et al., Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust. München 2022. 33   Zoltán Boldizsár Simon, History in Times of Unprecedented Change. A Theory for the 21st Century. London 2021.

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und der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts, sondern auf präzedenzlose Ereignisse vor allem technologischer oder ökologischer Natur; dementsprechend fühlten wir uns auch von der Vergangenheit zunehmend getrennt. Damit löst sich das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifende geschichtliche Subjekt auf, eine für die klas­ sische Geschichtsphilosophie zentrale Annahme. Trotz­ dem prägt auch für Simon der Gedanke der Veränderung nach wie vor unser Geschichtsdenken. Daran ändert sich auch nichts, wenn mit dem Konzept des Anthropozän nun zunehmend andere Zeitmaßstäbe in den Blick geraten, neben denen sich sogar Braudels ‚longue durée‘ kurz aus­ nimmt. Auch im Nebeneinander verschiedener Zeit­ rhythmen, von Achim Landwehr als Pluritemporalität be­ schrieben und zur Herausforderung für die gegenwärtige Geschichtsschreibung erklärt,34 bleibt die Dynamik der Zeit erhalten, wenn auch nicht mehr als Einheit. Sowohl die Jünger der Identitätspolitik als auch ihre auf­ klärerischen Kritiker neigen dazu, diese zeitliche Dynamik zu unterschlagen: jene, indem sie die Vergangenheit vor allem mit ihren eigenen Moralvorstellungen richten, diese, wenn sie auf die Vernunft als eine transhistorische Größe vertrauen. Will man Ideen der Aufklärung heute reakti­ vieren, darf man den Filter ihrer historistischen Kritik nicht vergessen – der Weg ins 18. führt durch das 19.  Jahr­ hundert. Wie problematisch der historisch nicht reflektierte Zu­ griff auf die Antike ist, führt eine andere Intervention 34   Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie. Frankfurt am Main 2016; Diesseits der Ge­ schichte. Für eine andere Geschichte. Göttingen 2020.

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Uhlmanns in der öffentlichen Debatte vor Augen.35 Von jeher haben Politiker ihre Positionen auch mit falschen Be­ hauptungen untermauert, aber in Trumps Tweets und der Brexitkampagne in Großbritannien scheint die bewußte Verdrehung von Tatsachen eine neue Dimension und eine bisher unbekannte Wirksamkeit erreicht zu haben. Sprach­ lich spiegelt sich diese Entwicklung in den neugeprägten Begriffen des Postfaktischen und der ‚post-truth‘ wider.36 Als Heilmittel gegen den grassierenden Populismus emp­ fiehlt Uhlmann Platon und Aristoteles. Die beiden Philo­ sophen hätten gezeigt, daß gute Rhetorik sachlich in­ formiert sei. Nur schlechte Rhetorik sei manipulativ und mache nicht ‚vollständig sichtbar, was wahr ist‘. Trump gleiche den antiken Sophisten, deren Mißbrauch der Rhetorik Platon kritisierte. Dahingestellt sei, ob Uhlmann den Sophisten damit gerecht wird – in den Fragmenten des Gorgias etwa zeichnet sich eine veritable Sprachphilo­ sophie ab.37 Wie Uhlmann Platons Karikierung seiner intellektuellen Konkurrenten auf den Leim geht, ist jedoch nur fachwissenschaftlich verwunderlich. Besorgniserregend ist dagegen die Unbefangenheit, mit der Uhlmann von Wahrheit und dem ‚guten und richtigen Argument‘ als Grundlage der Politik heute wie in der Antike spricht. Auf den ersten Blick paßt ihr Plädoyer gut 35   FAZ vom 6.2.2017; ‚Die Banalität rhetorischer Manipulation‘ in: Merkur 72/834, 2018: 77–81. 36   E. g., Matthew D’Ancona, Post-Truth. The New War on Truth and How to Fight Back. London 2017; Lee McIntyre, Post-Truth. Cambridge, MA 2018; und aus der Perspektive der Altertumswissenschaften Jonas Grethlein, ‚Das Postfaktische. Sophistische Betrachtungen zum post­ modernen Erbe‘ in: Zeitschrift für Ideengeschichte 13.2, 2019: 113–22. 37   Für eine intellektuelle Rehabilitation der Sophistik s. Barbara Cassin, L’effet sophistique. Paris 1995.

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zur gegenwärtigen Konjunktur der Fakten, die ich ein­ gangs diagnostiziert habe: Die Politik des Postfaktischen – greifbar vor allem in der Flut falscher Behauptungen, mit denen Trump während seiner Präsidentschaft die Medien überschwemmte – hat uns sachliche Begründungen neu schätzen gelehrt. Auch die Corona-Pandemie hat das Be­ dürfnis nach Expertise gesteigert. Aber so wichtig es ist, daß Politiker nicht mit mutwillig verzerrten Bildern der Wirklichkeit operieren, so sehr können und dürfen Fakten nicht mit den Grundlagen demokratischer Politik gleich­ gesetzt werden. Zuerst einmal ergeben sich aus Fakten noch keine politischen Entscheidungen; diese werden vielmehr in der Aushandlung oft gegensätzlicher Interessen getroffen. Vor allem aber sind demokratische Entscheidungsprozesse nicht dadurch definiert, daß sich in ihnen ein wie auch immer geartetes Wissen durchsetzt. Entscheidend ist, daß die Macht vom Volk ausgeht, in der repräsentativen Demo­ kratie durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht der Bürger. Konstitutiv für die liberale moderne Demokratie sind außerdem die Gewaltenteilung und die Freiheitsrechte des Individuums. Uhlmanns antike Gewährsmänner ent­ hüllen den undemokratischen Charakter ihrer Behauptung, in der Politik gehe es um Wahrheit: Weder Platon noch Aristoteles traten für eine Demokratie ein. Etliche von Platons Dialogen sind darauf angelegt, die Schwächen einer demokratischen Verfassung zu zeigen. In der Politeia ent­ wickeln Sokrates und seine Gesprächspartner das Ideal eines totalitären Staates und sichern Platon einen Ehren­ platz unter Poppers ‚Feinden der offe­nen Gesellschaft‘. Uhlmanns Rekurs auf Platon und Aristoteles zeigt, wie problematisch, ja, wie gefährlich eine normative Lesart

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antiker Texte ohne Reflexion des historischen Hinter­ grunds ist. Auch wenn man sich um die Frage (und erst recht um die Antwort) herumstiehlt, was denn das ‚gute und richtige Argument‘, was ‚wahr‘ ist – Wahrheit ist kein Kriterium für demokratische Politik. Sie wird vielmehr oft von Nichtdemokraten in Anschlag gebracht, die ihre eigenen Interessen camouflieren und zum Schaden anderer durchsetzen wollen. Auch wenn Uhlmann sich ent­ schieden gegen die Forderungen der Identitätspolitik wendet, ist ihr Umgang mit antiken Texten ähnlich: Es geht um eine Bestätigung der eigenen Position, nicht um ein Verstehen, das sich auf die Andersartigkeit der antiken Sicht einläßt, um dann ihre Bedeutung in der Gegenwart zu prüfen.

3. Die Antike, ,das nächste Fremde‘? Der identitätspolitische Zugriff rückt die Bedeutung und Geltung von Texten für uns heute in den Vordergrund – er privilegiert die subtilitas applicandi, die Gadamer als ein nicht zu übergehendes Moment des Verstehens neben die subtilitas intellegendi und die subtilitas explicandi stellte. Die Vertreter der Identitätspolitik geben der eigenen Position aber so viel Gewicht, daß sie sich auf die Anders­ artigkeit der Antike nicht mehr einlassen und sie sowie ihre Rezeptionsgeschichte primär mit den eigenen Werten abgleichen. Wenn griechische und lateinische Texte sowie ihre Interpretationen danach bewertet werden, ob sie heu­ tigen Forderungen nach Diversität nachkommen oder an Traumata ihrer Leser rühren, werden sie jedoch stark ver­ kürzt. Dagegen ist die Andersartigkeit der Antike fest­ gehalten in der Formel, die im deutschen Sprachraum die alten Sprachen und Altertumswissenschaften legitimiert: Die Antike sei ,das nächste Fremde‘, so heißt es im An­ schluß an Uvo Hölschers Selbstgespräch über den Humanis­ mus. Bietet Hölschers Formel einen Rahmen für die Rolle der Altertumswissenschaften heute? Keine Frage: ‚Das nächste Fremde‘ ist höchst beliebt – wie eine Monstranz tragen es die Philologenverbände vor sich her, es wird bei Festveranstaltungen gern zitiert und hilft Diskussionen über die heutige Bedeutung der Antike

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in konsensuelles Nicken zu überführen. Nicht nur Tra­ ditionalisten berufen sich auf Hölscher, auch die Berliner Latinistin Melanie Möller, reaktionärer Tendenzen unver­ dächtig und eine prominente Stimme ihres Fachs in der Öffentlichkeit, verteidigt den Latein- und Griechisch­ unterricht unter dem Titel Alte Sprachen: Das nächste Fremde.1 In einem Merkur-Essay zur antiken Autobio­ graphie variiert sie Hölschers Prägung mit ‚Nähe auf Distanz‘, die ‚nicht nur charakteristisch für das antike Selbstverständnis in seinen verschiedenen greifbaren Kon­ figurationen, sondern auch für das Verhältnis von Moder­ ne und Antike‘ sei.2 Im Vergleich mit Möllers Plädoyer wird deutlich, wie wichtig das Fremde für Hölscher ist. Möller spricht von ‚dem nächsten Fremden‘, um ‚das moderne-taugliche Potential der alten Texte‘ freizulegen: ‚Die antike Literatur ist uns in wesentlichen Parametern näher, als viele ahnen oder sich eingestehen wollen.‘3 Ohne Umschweife behaup­ tet sie: ‚Und selbstverständlich hält die antike Literatur auch ein reichhaltiges Angebot an differenzierten Antwor­ ten auf zeitlose Fragen und aktuelle Probleme bereit.‘4 Hölschers Essay hingegen, hervorgegangen aus einem Vor­ trag vor Schülern, spiegelt nicht nur ‚die Krisenerfahrungen des altsprachlichen Unterrichts in den 1960er Jahren‘5; man spürt in ihm auch die tiefe Erschütterung des huma­   FAZ vom 8.4.2015.   Melanie Möller, ‚Nähe auf Distanz. Antike und moderne Autobio­ graphie‘ in: Merkur 68, 2014: 344–50. 3   Möller 2014: 350. 4   FAZ vom 8.4.2015. 5   Stefan Rebenich, Die Deutschen und ihre Antike. Eine wechselvolle Beziehung. Stuttgart 2021: 378. 1 2

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nistischen Weltbilds durch die zwei Weltkriege. Hölscher kehrt immer wieder zu Nietzsche zurück und zitiert an zentraler Stelle aus dem Vorwort zu Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben: ‚Ich wüßte nicht, was die klassische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäß zu wirken.‘6 Dabei läßt er die auf ‚unzeitgemäß‘ folgende Parenthese aus: ‚das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit‘ – der hoff­ nungsvolle Blick in die Zukunft paßt nicht zu dem düsteren Szenario, das Hölscher zeichnet. Er leitet seine Überle­ gungen ein mit der ‚Beunruhigung…, die den am Alter­ tum Erzogenen heute ergreift‘ und nennt als sein Ziel, sich ‚Klarheit zu verschaffen in der Dunkelheit des Augen­ blicks‘.7 Auch wenn Hölscher Rom und Griechenland von China und Indien als ,das nächste Fremde‘ absetzt, wiegt ihm die Fremdheit schwerer: ‚In der Tat, der am Altertum Erzogene entfernt sich von der Gegenwart in einer Weise, die ihm die Gegenwart fragwürdig machen kann. Keine Vertiefung ins Französische oder Englische, oder ins Mittelalter, bringt ihn in solchen Abstand von seiner Zeit. Wohl wirkt auf ein vordergründiges Interesse auch am Altertum erstaunlich, was es „auch schon gehabt hat“; aber in tieferer Weise gerade das, worin es anders ist.‘8

Während Möller die Nähe der Antike behauptet, um die Aktualität antiker Texte zu unterstreichen, hebt Hölscher als Leser von Nietzsche und abgeschreckt von den Ver­ 6  Uvo Hölscher, Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne. München 1994: 278. 7   Hölscher 1994: 257. 8   Hölscher 1994: 278.

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suchen, die Antike in der jüngeren deutschen Geschichte zu instrumentalisieren, ihre Fremdheit hervor. Für ihn ist die Antike vor allem ein Widerlager, der entscheidende Mehrwert des altsprachlichen Unterrichts die Heraus­ bildung ‚kritischer Phantasie… der Fähigkeit, nicht nur mit Gelerntem richtig umzugehen, sondern schöpferisch seine Möglichkeiten zu denken, vom Zwang des Gegebe­ nen, der Majorität, des Zeitgemäßen Abstand zu nehmen.‘9 Daß sich Möller ihren wesentlich anderen Zugang zur Antike auch unter dem Banner ‚des nächsten Fremden‘ bahnen kann, erweist die Elastizität von Hölschers Formel. Zwar ist ,das nächste Fremde‘ außerhalb des deutschen Sprachraums kaum rezipiert worden – es gibt keine griffige Übersetzung ins Englische, die mit gleicher Suggestivkraft den Superlativ des neutralen ‚nahe‘ mit dem prägnanten Begriff des Fremden verbinden würde – aber auch die Überlegungen anderer Altertumswissenschaftler lassen sich mit der Dialektik ‚des nächsten Fremden‘ erfassen. Der italienische Kunsthistoriker und Archäologe Salvatore Settis zum Beispiel schreibt: ‚Es lohnt sich gerade deshalb, das „klassische“ griechisch-rö­ mische Altertum zu studieren, weil es zwischen Identität und Alterität hin und her pendelt, weil wir es sowohl als das „unsere“ 9   Hölscher 1994: 278. Der Archäologe Tonio Hölscher, ‚Die unheim­ liche Klassik der Griechen‘ in: H. Flashar (ed.), Auseinandersetzungen mit der Antike. Bamberg 1985–1990: 235–77 folgt hier seinem Vater eng  – so schreibt er über die Geschichte im allgemeinen (258): ‚Viel wichtiger ist wohl, Geschichte als Erfahrungsraum und Experimentier­ feld für die Möglichkeiten kulturellen Lebens zu besitzen. Das bedeutet eine Perspektive nicht der Identität, sondern der Offenheit, vielfach der Fremdheit. Geschichte ist dann nicht ein Reservoir einzelner aktueller Phänomene, sondern ein umfassendes Lebensfeld. Ein Terrain, auf dem wir Fragen menschlichen Lebens experimentell durchspielen können…‘

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als auch „unterschieden“ von uns empfinden, sowohl als inte­ gralen Bestandteil der abendländischen Kultur und unerläßlich für ihr Verständnis als auch wie eine Tür zum Verständnis „anderer“ Kulturen; sowohl als Reservoir von Werten, in denen wir uns wiedererkennen, als auch von vielem, was uns weiterhin fremd bleiben wird.‘10

Mary Beard, Professorin für Römische Geschichte in Cambridge und zur Zeit wohl erfolgreichste Altertums­ wissenschaftlerin im Kampf um public impact, verteidigt das Studium des antiken Rom mit derselben Denkfigur: ‚To study ancient Rome from the 21st century is rather like walking on a tightrope… If you look down on one side, everything does look reassuringly familiar, or can be made to seem so… On the other side of the tightrope, however, is completely alien territory.‘11 Während antike Diskussionen über Sex und eheliche Treue, aber auch der Umgang mit Flüchtlingskrisen uns vertraut seien, offenbarten die In­ stitution der Sklaverei und die verbreitete Aussetzung Neugeborener die Kluft, die uns von der Antike trenne. Hölscher geht es vor allem um das literarisch-philo­ sophische Erbe der Antike, Settis um die materiellen Relikte und Mary Beard um Roms Sozial- und Kultur­ geschichte, doch ihre Überlegungen lassen sich alle mit Hölschers Formel erfassen: ,Das nächste Fremde‘ besticht nicht nur durch seinen dialektischen Charakter, der ver­ schiedene Akzentsetzungen erlaubt; sein hoher Abstrak­ tionsgrad macht es auch zu einem Konzept, mit dem sich eine Vielzahl von Phänomenen beschreiben läßt. Die Un­ bestimmtheit ist aber auch ein nicht unbeträchtlicher Nachteil für den Versuch, den Platz der Antike in der   Settis 2004: 93–4.   Guardian vom 2.10.2015.

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Gegenwart präzise zu bestimmen. Der Mediävist OttoGerhard Oexle preist, ohne Hölscher zu zitieren, wahr­ scheinlich ohne seinen Essay zu kennen, das Mittelalter als das ‚nächste Andere, das nächste Fremde, das nächste Ferne unserer eigenen Gegenwart‘12 an. In der Tat kann man sich fragen, ob Hölschers Formel auf das Mittelalter nicht noch besser als auf die Antike passt: Zeitlich ist uns das Mittelalter näher und durch die Sprachtradition ver­ trauter, aber kulturell in vielerlei Hinsicht fremder als die Antike. Dem heutigen Leser erschließt sich die Odyssee eher als das Nibelungenlied. Man kann ,das nächste Fremde‘ aber auch an ganz anderer Stelle suchen. Für Hölscher war es zu Beginn der 1960er Jahre noch selbstverständlich, dass uns das antike Rom und Griechenland näher und von größerer Relevanz sind als China und Indien. Aber nach mehr als fünfzig weiteren Jahren Globalisierung ist es fraglich, ob ,das nächste Fremde‘ nicht doch China und Indien, und zwar nicht ihre antiken, sondern gegenwärtigen Kulturen sind. McDonald’s-Filialen, omnipräsente Konsumgüter wie Coca-­­Cola und iPhone und andere globale Kommunika­ tionsmedien erzeugen eine Vertrautheit, aber hinter dieser Fassade verbergen sich aller Globalisierungsrhetorik zum Trotz fremde Kulturen, die – ähnlich wie die Antike für Hölscher – die Kraft haben, unsere Plausibilitäten in Frage zu stellen. Dann ist die Nähe, die Hölscher durch eine kulturelle Tradition räumlich definiert, zeitlich und umgekehrt die Distanz, auf der die Fremdheit beruht, nicht temporal, sondern spatial gefasst. Per Flugzeug oder Mausklick ist   Otto Gerhard Oexle, Die Gegenwart des Mittelalters. Berlin 2013: 1.

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das gegenwärtige ‚nächste Fremde‘ leichter zu erreichen und in seiner Lebendigkeit vielleicht auch faszinierender als das vergangene ‚nächste Fremde‘ der Antike. Wer nicht das Glück oder Unglück gehabt hat, eines der im Schwinden begriffenen altsprachlichen Gymnasien zu besuchen, dürfte das Oszillieren zwischen der Relevanz verbürgenden Vertrautheit und der Fremdheit, die neue Perspektiven er­ öffnet, eher im gegenwärtigen Asien oder auch Nord­ amerika suchen als in der griechisch-römischen Antike. Führte die Bildungsreise den Abiturienten vor fünfzig Jahren noch per Anhalter und mit der Ilias im Rucksack nach Athen, fliegt er heute in die Economy Class von Air China gequetscht nach Beijing. Der Wert ‚des nächsten Fremden‘ für den Versuch, die gegenwärtige Bedeutung der Antike zu erfassen, wird nicht nur durch die Unbestimmtheit gemindert. In der Formel lebt – sowohl bei Hölscher als auch nach ihm – die Idee des Klassischen, wenn auch in einer Schwundstufe, fort.13 Hölscher setzt zwar an mit der Feststellung, der Humanis­ mus ‚kränkle‘,14 und führt dann aus, die ‚klassischen Werte‘ seien ‚überlebt…in der Kunst, in der Naturanschauung, im 13   Mit der 1930 in Naumburg veranstalteten Tagung ‚Das Problem des Klassischen und die Antike‘ versuchten Werner Jaeger und seine Mit­ streiter den Begriff des Klassischen noch einmal zu reaktivieren, doch handelte es sich bereits damals ‚um das restaurative Wunschbild einer in Wahrheit längst nicht mehr kulturhegemonialen Präferenzordnung‘ (Carsten Dutt, ‚Die Rede vom Klassischen heute. Semantik und Sozio­ epistemologie‘, in: T. Valk (ed.), Die Rede vom Klassischen. Transforma­ tionen und Kontinuitäten im 20.  Jahrhundert, Göttingen 2020: 339–60, hier 342). Zur Naumburger Tagung s. zuletzt Ernst A. Schmidt, Naum­ burg 1930. Werner Jaegers Tagung ‚Das Problem des Klassischen und die Antike‘ in: T. Valk (ed.), Die Rede vom Klassischen. Transformationen und Kontinuitäten im 20.  Jahrhundert, Göttingen 2020: 295–313. 14   Hölscher 1994: 257.

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Bereich der menschlichen Person und der Geschichte‘15. Er setzt auch den Begriff ‚das nächste Fremde‘, den er übrigens nur einmal benutzt, ausdrücklich vom Klassischen ab: ‚Rom und Griechenland sind uns das nächste Fremde, und das vorzüglich Bildende an ihnen ist nicht sowohl ihre Klassizität und „Normalität“, sondern daß uns das Eigene dort in einer anderen Möglichkeit, ja überhaupt im Stande der Möglichkeiten begegnet.‘16 Hölscher gibt dem Fremden mehr Gewicht als Möller, aber mit der ‚Möglichkeit‘ nimmt er dem ‚Fremden‘ den Stachel des ganz anderen und mit dem ‚Eigenen‘ erzeugt er eine Verbindung und Geltung, die stärker und größer als das ‚Nächste‘ ist. Das Klassische wird Fleisch und Blut, wenn Hölscher fortfährt, die Grundzüge der humanisti­ schen Erziehung auszuführen: Sie – das ist der erste Punkt  – ‚beginnt bei der Sprache… befreit dadurch vom Jargon und vom Gerede jeder Art.‘ Entscheidend ist: ‚Zweitens, sie führt zu einer Begegnung mit großen Werken. Sie verleiht Maßstäbe und den Sinn für Rang­ ordnungen; sie erweckt die Fähigkeit der Ehrfurcht vor dem Außerordentlichen.‘ Genauer kann man das Klas­ sische nicht umschreiben – ‚große Werke‘ sind klassisch; ‚Maßstäbe und… Sinn für Rangordnungen‘ bilden die Grundlage für den Kanon des Klassischen und die ‚Ehr­ furcht vor dem Außerordentlichen‘ ist die Haltung, mit der das Klassische zu rezipieren ist. Nachdem Hölscher als dritten Punkt die ‚geschichtliche Erziehung‘ angeführt hat, stellt er diese Bildung emphatisch der Barbarei entgegen: ‚Wo sie fehlen – wo schlecht gesprochen wird, wo keine   Hölscher 1994: 268.   Hölscher 1994: 278.

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Ehrfurcht, wo kein geschichtliches Bewußtsein ist –, da ist das Gegenteil von Bildung, da ist Barbarei.‘17 Hölscher ist pessimistisch, daß sich die humanistische Erziehung halten wird; nach einem Zitat aus Adornos Noten zur Literatur, in dem es um ‚große Texte‘ geht, stellt er auch die Frage, ob mit diesem Begriff ‚die fragliche klassische Wertordnung wieder eingeschwärzt wird.‘18 Aber obwohl Hölscher den Traditionsbruch und den Untergang des Kanons erkennt, bleiben ihm die ‚großen Werke‘ unstrittig: ‚Die geschichtlichen Zeugnisse der Menschheit sprechen zu uns nicht mehr aus der Kontinuität der Tradition und aus der Fülle einer Bildungswelt; aber Einzelnes, plötzlich begegnend, redet uns unvermittelt an und setzt uns in Erstaunen. Was groß ist, erfahren wir dann, wenn wir uns von allem getrennt haben… Zwar vieles, was für klassisch galt, wird stumm bleiben; aber es ist nicht außer der Möglichkeit, daß Einzelnes, gerade wenn es preisgegeben ist in der Masse des Wißbaren und ungeschützt vom Gehege des humanistischen Kanons, uns neu erreicht mit der Kraft einer Forderung oder einer Verheißung.‘19

Der Begriff ‚des nächsten Fremden‘ ist so abstrakt, daß seine Dialektik eine nahezu beliebige Vielzahl von Phäno­ menen bezeichnen kann – aus der griechisch-römischen Antike, aus anderen Epochen der Vergangenheit und auch aus Kulturen der Gegenwart. ‚Das nächste Fremde‘ bietet sich als Ersatz für das ‚Klassische‘ an, aber die Lektüre des Selbstgesprächs über den Humanismus zeigt, daß für Hölscher das griechisch-römische Altertum nach wie vor ausgezeichnet ist. Mit Beunruhigung beobachtet Hölscher   Hölscher 1994: 278.   Hölscher 1994: 280. 19   Hölscher 1994: 280. 17 18

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das Verschwinden des Kanons, glaubt aber weiterhin an die großen Texte. Gerade im Verschwinden der humanis­ tischen Tradition erweist sich die Kraft des Klassischen – in der Möglichkeit, daß bedeutende Werke, nicht mehr durch den Kanon geschützt, dafür als ‚Verheißung‘ religiös überhöht, selbst tätig werden und zu uns sprechen. Die bei Hölscher angelegte Spannung zwischen Aufgabe und Weiterleben des Klassischen ist oft zu spüren, wenn Altertumswissenschaftler von ‚dem nächsten Fremden‘ sprechen. Die Formel gibt einen Rahmen, der ohne den Anspruch des Klassischen auskommt, aber doch Vor­ stellungen anzieht, die der griechisch-römischen Antike eine besondere Bedeutung konzedieren. Angelegt ist diese Bedeutung im ‚Nächsten‘, welches das Fremde von anderen unterscheidet und seine besondere Relevanz insinuiert. ,Das nächste Fremde‘ ist ein begrifflicher Behälter, in dem die Idee des Klassischen überlebt hat, wenn auch zurecht­ gestutzt und zusammengefaltet. Greifbar ist das in einer Replik auf einen Essay, in dem ich erste Überlegungen zu ‚dem nächsten Fremden‘ vorstellte. Jörg Dittmer kreidet mir vieles an, aber der zentrale Punkt seiner polemischen Kritik ist, daß ich ‚mit dem Begriff des Klassischen eigent­ lich nichts mehr anfangen kann oder will.‘ (9)20 Die Texte der griechisch-römischen Antike, hält Dittmer dagegen, seien nach wie vor klassisch; sie stifteten eine kulturelle Identität und könnten in der gegenwärtigen Krise Europas helfen, ‚nomologisches Wissen‘ zu entwickeln. Diese Re­ vitalisierung des Klassikbegriffs für die Antike als ‚prägen­ de Herausforderung europäischer Kultur‘ legt die Tiefen­ 20  https://augustana.de/fileadmin/user_upload/Klassische_Philolo gie/4_Joerg_Dittmer_Kritische_Anmerkungen_zu_Jonas_Grethlein_ Merkur1_2018%20.pdf, abgerufen am 1.4.2022.

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struktur ‚des nächsten Fremden‘ und seines abundanten Gebrauchs frei. Dittmer bezeichnet die besondere Bedeu­ tung, die der Antike unter dem Deckmantel ‚des nächsten Fremden‘ zugeschrieben wird, explizit mit der Vokabel des Klassischen. Es ist überraschend, daß mehr als ein halbes Jahrhun­ dert, nachdem Hölscher ,das nächste Fremde‘ als Ersatz für das fragwürdig gewordene Klassische prägte, die Antike wieder klassisch sein soll.21 Der von Hölscher beklagte ­Bedeutungsverlust ist in der Zwischenzeit fortgeschritten, die Altertumswissenschaften an den Universitäten Rand­ disziplinen und die Antike in öffentlichen Debatten zu­ mindest in Deutschland kein zentrales Thema. Dittmers Begriff des Klassischen ist dementsprechend chimären­ haft. Auf der einen Seite ist er stark reduziert; das Klassische ist nicht ‚etwas, was uns in irgendeiner Weise inhaltlich festlegt und auf unangenehme Weise in unserer eigenen Entfaltung normativ behindert oder einschränkt.‘ (4) Aber ist das noch ein Klassisches – zeichnet sich das Klassische nicht durch seine normative Dimension aus? Selbst Gadamer, der den historischen Charakter des Klassischen betont, stellt fest: ‚Das erste also an dem Begriff des 21   Dutt 2020 attestiert dem Begriff des Klassischen eine neue Kon­ junktur, allerdings nicht in Bezug auf die Antike oder eine andere Epoche, auch nicht als Stilbegriff: Das neue Klassische – zu finden in ‚Klassikern des Möbeldesign‘ ebenso wie in ‚klassischen Kurzge­ schichten‘ – ist ‚referentiell beispiellos diversifiziert, historistisch auf­ geklärt und aufgeschlossen, von kunstreligiösen, nationalideologischen, geschichtsmetaphysischen, gar theologischen Überspannungen… frei, dabei jedoch keineswegs als eine unverbindlich laudatorische Façon de parler beliebig disponibel, in thematisch und sozioepistemisch aus­ differenzierten Kanonisierungssystemen vielmehr auf spezifische Weise wissensgestützt, evaluativ gehaltvoll und ipso facto selektiv‘ (360).

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‚Klassischen‘… ist der normative Sinn.‘22 Auch bei Dittmer ist die Normativität nicht verschwunden, sie taucht ver­ stohlen auf im ‚implizit enthaltenen normativen Be­ deutungspotential der Texte‘, dem wir ‚gerecht werden‘ (3) müssen. Die begriffliche Verrenkung wird sichtbar in Dittmers positiver Bestimmung des Klassischen als das, ‚was uns Fragen von existentieller Tragweite stellt, denen zu be­ gegnen und die zu beantworten uns erst zu freien Persön­ lichkeiten machen kann und denen wir nur um den Preis einer zunehmend diffuser werdenden Eigenpersönlichkeit ausweichen können.‘ (4) Wenn Dittmer auch an anderen Stellen betont, die alten Texte stellten uns vor allem Fragen, scheint sich das normative Element des Klassischen ver­ flüchtigt zu haben und das Maßgebende zum Fragenden eingedampft zu sein. Aber Dittmer erhebt zugleich einen ge­ waltigen Anspruch, der jedoch implizit bleibt – in der An­ nahme, erst die Auseinandersetzung mit diesen Fragen mache uns zu freien Persönlichkeiten. Auch wenn unklar ist, was sich hinter der perhorreszierten ‚zunehmend diffuser werdenden Eigenpersönlichkeit‘ verbirgt, und vor allem wie das Nachdenken darüber, ‚was arete oder virtus für uns bedeuten könnten‘, uns davor bewahren kann, sind die antiken Texte zum Schlüssel für Individuum wie Gesell­ schaft erhoben. Das gilt erst recht, wenn man wie Dittmer anderen Texten und Traditionen diese Kraft abspricht, ge­ hören sie doch nicht zur ‚machtvollen Realität unserer ge­ wachsenen europäischen kulturellen Tradition‘ (9). 22   Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990: 293. S. a. die Bestimmung und entschiedene Verabschiedung des Klassischen bei Hölscher 1985– 1990: 238–9.

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In einer polemischen Volte gegen das Versagen von Altertumswissenschaftlern wie mir, ‚dem implizit ent­ haltenen normativen Bedeutungspotential der Texte ge­ recht zu werden‘, legt sich jedoch das Plädoyer für die klassische Qualität der griechisch-römischen Antike selbst aufs Kreuz (5): ‚Man könnte und sollte sich einmal fragen, warum es selbst einem oft als Orchideenfach geltenden Fachbereich wie der Ägyptologie gelingt, etwa in und mit den Werken von Jan Ass­ mann (auch er ein Heidelberger) über die notwendige und unver­ zichtbare Einzelforschung hinaus gewichtige Beiträge zu der heute so stark diskutierten Frage der Erinnerungskultur zu leisten (ja sie sogar zu einem guten Teil inauguriert zu haben), während die Klassische Philologie trotz ihrer bisher viel reicheren Ausstattung an den Universitäten seit Jahrzehnten nur sehr punktuell Beiträge von vergleichbarer Brisanz und Reichweite produziert hat.‘

Assmanns Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis und die weite Resonanz, die sie gefunden haben, illustrieren, daß das antike Rom und Griechenland nicht die Exklusivität des Klassischen für sich beanspruchen, daß auch andere Kulturen die Funktion ‚des nächsten Fremden‘ erfüllen können. Wir nutzen auch andere Überlieferungen, um im Lichte der Parallelen und Differenzen unsere Kultur neu zu vermessen, Selbstverständliches zu hinterfragen und scheinbar Abseitiges ins Zentrum zu rücken. Nicht zuletzt durch die Traditionsbrüche, die bereits der Frühmoderne ihr Gepräge gaben und sich im Beschleunigungssog der Spätmoderne vertieft haben, hat das ‚klassische Altertum‘ seine Vorrangstellung als verbindlicher Rahmen für Orientierung eingebüßt. Die Globalisierung hat ihm zahl­ reiche andere Kulturen, neben vergangenen auch gegen­

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wärtige, an die Seite gestellt, durch deren Prisma wir unsere eigene Kultur mit Gewinn betrachten können. Es ist auch fraglich, ob man der vormodernen Antiken­ rezeption gerecht wird, wenn man sie als die Kontinuität einer Tradition begreift, mit der die Antike die jeweilige Gegenwart prägt. Nicht nur gibt es lange Zeiträume, in denen die Tradition unterbrochen war – im lateinischen Mittelalter etwa waren die griechischen Texte in weiten Teilen Europas kaum präsent (anders als in Bagdad und Byzanz). Auch haben sich die Gesellschaften, die sich an der Antike orientiert haben, diese in je eigener Weise an­ geeignet. Natürlich waren sie abhängig von den von Ab­ schrift zu Abschrift weitergegebenen Texten, aber die Über­ lieferung ist im Horizont der jeweiligen Gegenwart ganz verschieden interpretiert und eingesetzt worden – jede Zeit bis in die Gegenwart hinein hat ihre eigene Antike. Oft sagen Rezeptionen antiker Autoren mehr über die Zeit der Rezipienten als über die Antike aus. Die gegenwärtige Debatte illustriert zudem, wie auch innerhalb einer Zeit verschiedene Antiken aufeinanderprallen kön­nen – auf der einen Seite Feministinnen, die in Ovids Metamorphosen die Dekonstruktion des Geschlechts erkennen, auf der anderen Seite Rechtsradikale, die bei Herodot die Über­ legenheit der weißen Rasse begründet sehen. Das organische Bild ‚unserer gewachsenen europä­ischen kulturellen Iden­ tität‘ suggeriert eine Kontinuität und Konsonanz, welche die Eigenwilligkeit der Aneignun­gen ausblendet und über Spannungen, Brüche und Lücken hinwegschaut. Die Berufung auf die kulturelle Identität, die wir der Antike verdanken, ist außerdem mit bestimmten politi­ schen Positionen verbunden und legitimiert nicht selten fragwürdige Ab- und Ausgrenzungen. In seinem Buch

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Was Europa den Griechen verdankt proklamiert Szlezák, die außereuropäischen Kulturen könnten der europäischwestlichen das Wasser nicht reichen, da sie keine Auf­ klärung durchlaufen und deswegen nicht die bereits in der Antike erworbene Fähigkeit ‚zur Distanzierung von den eigenen Denkgewohnheiten und damit zur Selbstkritik und zur Anerkennung des Fremden‘ entwickelt hätten: ‚Daß etwa dem Islam im Vergleich mit dem christlichen (oder vielleicht kaum noch christlichen) Abendland vor allem der Durchgang durch das reinigende Feuer der Aufklärung fehlt, ist oft und oft gesagt worden. Daß dies damit zu tun hat, daß der Islam vom Geist der griechischen Antike unberührt geblieben ist (abgesehen von einer kurzen Blüte des Aristotelismus, die natur­ gemäß ohne Breitenwirkung blieb), wird selten gesehen.‘23

Wie immer man die Bedeutung der arabischen Aristote­ lesrezeption veranschlagt, die pauschale Gegenüberstel­ lung ‚der europäisch-westlichen Weltsicht‘ mit außer­ europäischen Kulturen kontrastiert auf höchst unvorteil­ hafte Weise mit der Offenheit für andere Kulturen, die Szlezák den Griechen attestiert. Über die Behauptung, außereuropäische Kulturen hätten sich nicht von sich selbst distanzieren und Fremdes anerkennen können, müssen sich nicht nur Indologen, Sinologen und andere Experten wundern.24 Es besteht kein Zweifel: Die liberalen 23  Thomas Szlezák, Was Europa den Griechen verdankt. Von den Grund­lagen unserer Kultur in der griechischen Antike. Tübingen 2010: 9. 24   Dag Nikolaus Hasse, Was ist europäisch? Zur Überwindung kolo­ nialer und romantischer Denkformen. Stuttgart 2021 zeigt die Frag­w ür­ digkeit einer kulturellen Idee von Europa, die auf den Säulen von Athen, Rom und Jerusalem beruht: Eine solche Idee unterschlägt die außer­ europäischen Anteile an den antiken Kulturen, ignoriert die Geschichte anderer Kulturen und unterschätzt die historische Spezifizität auf­ klärerischer und romantischer Vorstellungen.

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Demokratien müssen wehrhaft sein und sich totalitären Herausforderungen stellen. Aber Pauschalurteile wie die von Szlezák getroffenen sind an und außerhalb von Stamm­ tischen nicht förderlich, ihre Instrumentalisierung der Antike ebenso fragwürdig wie offensichtlich. Szlezáks Polemik gegen den Islam ist so entlarvend wie instruktiv. Der Arabist Thomas Bauer hat einem breiten Publikum die hermeneutische Tradition des Islam in seiner Geschichte nahegebracht.25 Viele islamische Kultu­ ren gerade vor der Moderne zeichneten sich durch eine hohe Toleranz gegenüber Ambiguität und Pluralismus aus, ganz ohne ‚durch das reinigende Feuer der Aufklärung‘ ge­ gangen zu sein. Bauers Arbeiten stellen nicht nur Szlezáks Behauptungen bloß, sie sind auch ein Beispiel dafür, daß andere Kulturen uns als ‚das nächste Fremde‘ dienen können – in diesem Fall sogar Traditionen, die angeblich unsere europäisch-westliche Welt bedrohen. So hat Bauer seine Untersuchungen der islamischen Ambiguitäts­ toleranz genutzt, um in einem vielbeachteten Essay unserer Gesellschaft eine Neigung zur ‚Vereindeutigung der Welt‘ und einen ‚Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt‘ zu diagnostizieren.26 Ob man sich diesem Urteil anschließt oder nicht, Bauer zeigt ähnlich wie Assmann, wie man auch im Lichte nicht-antiker fremder Kulturen die Gegen­ wart neu vermessen kann. Die zahlreichen Lehn- und Fremdwörter aus dem Griechischen und Lateinischen verschleiern zudem die Distanz, die zwischen antiken und modernen Konzepten 25   Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin 2011. 26   Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart 2018.

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oft besteht. Ja, der Begriff Demokratie stammt aus dem Griechischen, aber die attische Demokratie war denkbar verschieden von modernen Demokratien – eine direkte Demokratie ohne Gewaltenteilung in einer face-to-facesociety, in der Frauen, Fremde und Sklaven kein Stimm­ recht hatten. Ökonomie ist ein anderer Schlüsselbegriff unserer Zeit, der in der Antike eine andere Bedeutung hatte – neben den wirtschaftlichen Prozessen, die wir als ökonomisch abgrenzen, umfaßte er auch familiäre, soziale, moralische und juristische Sachverhalte jenseits unserer Ökonomie. Gerade die Unterschiede machen einen Ver­ gleich unserer Ökonomie mit antiken Praktiken und Theorien interessant;27 aber wie Annette Kehnel jüngst demonstriert hat, läßt sich in dieser Weise auch das Mittel­ alter der Gegenwart gegenüberstellen. In Wir konnten auch anders – eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit (2021) analysiert sie mittelalterliche Praktiken des Wirtschaftens, die Schwächen unserer Ökonomie beleuchten, wenn nicht sogar Lösungen für gegenwärtige Probleme weisen. Man wird auch weniger emphatisch über die aus der Antike stammende europäische Tradition sprechen und von ihr ‚nomologisches Wissen‘ erwarten, wenn man sich vor Augen führt, daß sich zentrale Prinzipien dieser Tradition nicht auf die Antike zurückführen lassen. Wie Jakob Burckhardt feststellte, war etwa der Gedanke der Menschenrechte der griechisch-römischen Antike fremd.28 Dittmer ist nicht der Einzige, der die Wurzeln der ‚freien Persönlichkeit‘ in der Antike sieht – Szlezák etwa führt 27   S. Mark Usher, Plato’s Pigs and Other Ruminations. Ancient Guides to Living with Nature. Cambridge 2020. 28   Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte. I. Stuttgart 1930: 83; 78.

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einen ‚Kult der Individualität‘ als ein Charakteristikum an, das die europäische Kultur den Griechen verdanke. Doch hat die alte, von Szlezák aufgewärmte These vom Erwachen der Subjektivität in der frühgriechischen Lyrik ihre Plausibilität verloren – sie vernachlässigt den performati­ ven Kontext sowie das dichterische Rollenspiel und be­ denkt auch nicht das Maß, in dem subjektive Aussagen generisch bedingt und deswegen für entwicklungsge­ schichtliche Thesen nur eingeschränkt belastbar sind.29 Bis in die Kaiserzeit dominieren zudem Vorstellungen vom Individuum, die anders als unser modernes Bild gelagert zu sein scheinen. In etlichen Studien zu literarischen und philosophischen Texten hat Christopher Gill die antike Tendenz herausgearbeitet, das Individuum weniger als einzigartige Persönlichkeit mit reichem Innenleben als in seinen sozialen Beziehungen und unter moralischen Vor­ zeichen sehen.30 Schließlich: Nicht zuletzt weil die anglophone Debatte über die Dekolonialisierung der Altertumswissenschaften stark von den Situationen in Nordamerika und Groß­ britannien geprägt ist, erinnert sie uns daran, daß die Antike in ihrer Rezeptionsgeschichte auch negative Wirkungen hatte und immer noch hat. Man kann, wenn man über Brüche und Unterschiede hinwegsieht, nicht nur Demokratie und Freiheit, sondern auch Sklaverei und Kolonialismus auf die Antike zurückführen.31 Ebenso wie 29   E. g. Felix Budelmann, ‚Introducing Greek lyric‘ in: The Cambridge Companion to Greek Lyric. Cambridge 2009: 14–15. 30   Christopher Gill, Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy. The Self in Dialogue. Oxford 1996; The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought. Oxford 2006. 31   Es ist bezeichnend, daß Szlezák 2010: 4 diese Brüche und Unter­

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Aristoteles von Uhlmann als Zeuge gegen Trumps Popu­ lismus aufgerufen wird, ist er vor nicht allzu langer Zeit zitiert worden, um Frauen das Wahlrecht vorzuenthalten. Peralta und seine Mitstreiter auf beiden Seiten des Atlantiks machen eindringlich darauf aufmerksam, welche Rolle die Altertumswissenschaften für die Formation unterdrücke­ rischer Eliten hatten. Man darf die Rezeptionsgeschichte nicht mit der Antike selbst verwechseln und wird politische Positionen nicht nur im Horizont ihrer eigenen Zeit ver­ orten, sondern auch fragen müssen, wie sehr sich die Alter­ tumswissenschaften von anderen Disziplinen unterschie­ den. Trotzdem unterstreicht die Rezeptionsgeschichte, daß sich die Antike für verschiedene Ziele heranziehen läßt. Am Ende seines Buchs Who needs Greek? stellt Simon Goldhill die Titelfrage: ‚So, who needs Greek? The needs, cares, obsessions about Greek and Greekness which I have been tracing from the ancient world to today, certainly show how impoverished a perspective it would be to turn to the paradigmatic figures of Erasmus, Hofmannsthal, Wagner, Keats, Shelley, Arnold, Lowe, Mill, Rousseau, Emerson, (let alone Lucian and Plutarch) without (their) Greek.‘32 In der Tat wird man die genannten und auch andere Geistesgrößen nur unzureichend verstehen, wenn man die Bedeutung der Antike für sie ausblendet. Dabei

schiede nur in Anschlag bringt, wenn er Sklaverei und Kolonialismus kurz berührt. 32   Simon Goldhill, Who Needs Greek? Contests in the Cultural History of Hellenism. Cambridge 2002: 293. S. a. Morley 2018: 78: ‚Classics matters because it has mattered… In the case of Classics, we are dealing for the most part with imaginary lineages and inheritances, a matter of adoption and adaptation. But it’s no less powerful for that.‘

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geht es aber nicht so sehr um die Antike selbst als um den Zugriff auf sie. So maßgebend das griechisch-römische Altertum für frühere Epochen auch war, es ist in der Gegenwart nicht mehr ein selbstverständlicher Bezugspunkt. Dabei ist die Antike keineswegs aus unserem Leben verschwunden. Odysseus, Herakles und Augustus haben in Filmen und Serien, Comics und Computerspielen neue Heimaten ge­ funden. Während Kinder in den Percy Jackson Büchern den olympischen Göttern begegnen und später Ryse. Son of Rome spielen, sehen ihre Eltern Wolfgang Petersens Troy oder die HBO-Serie Rome. Aber die antike Mythologie und Ge­schichte ist nur eine Quelle unter vielen, aus denen Künstler und Autoren schöpfen. Auch in der Popkultur zeigt sich, daß die Antike zwar noch präsent, aber nicht mehr zentral ist. Rom und Griechenland haben schon lange den Status des Klassischen verloren, die alten Sprachen sind ent­ weder  – wie in Deutschland – marginal oder stehen – wo sie noch soziokulturelles Kapital bieten – aufgrund ihres Elitismus am Pranger. In einer globalisierten Welt ist die Antike auch in Europa nicht mehr ‚das nächste Fremde‘, sondern ‚ein nahes Fremdes‘ – eine Epoche neben anderen vergangenen und gegenwärtigen Kulturen, die uns alle durch Unterschiede und Gemeinsamkeiten neue Perspek­ tiven auf unsere eigene Kultur eröffnen können. Gelehrte wie Josiah Ober und Mogens Herman Hansen zeigen mit ihren Studien, daß man aus der Analyse der antiken Demo­ kratie Anregungen für die moderne Demokratietheorie gewinnen kann, aber die Arbeiten des indischen Nobel­ preisträgers Amartya Sen machen deutlich, wie instruktiv auch der Blick auf die Traditionen von Indien und anderen

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Ländern ist.33 Selbst bei Konzepten, deren Namen einen antiken Ursprung nahelegt, konkurrieren Altertums­ wissenschaftler mit den Vertretern anderer Disziplinen, die uns ebenfalls neue Perspektiven eröffnen können. Im zweiten Teil dieses Essays haben wir gesehen, daß der identitätspolitische Fokus ungeeignet ist für eine Er­ schließung der Antike. Auch in der fast diametral ent­ gegengesetzten Sicht auf die Antike als klassisch oder ‚das nächste Fremde‘ erweist sich das Konzept der Identität, wenn auch ganz anders gefüllt, wiederum als problematisch: Die Bedeutung der Antike heute ist zu gering, die Brüche und Unterschiede zu groß und die Globalisierung zu prägend, als daß griechische und lateinische Texte heute eine kulturelle Identität Europas begründen könnten. Weder in der Form eines identitätspolitischen Programms noch als die Idee einer kulturellen Identität Europas ist Identität eine hilfreiche Kategorie für den heutigen Zugriff auf das griechisch-römische Altertum. Sie engt den Blick auf die Antike entweder ein, bis nur noch Widerspruch oder Bestätigung der eigenen Position zu sehen ist, oder lädt ihr eine Begründungslast auf, die sie nicht tragen kann. 33   Josiah Ober, Athenian Legacies. Essays on the Politics of Going on Together. Princeton, NJ 2005; ‚What the ancient Greeks can tell us about democracy‘ in: Annual Review of Political Science 11.1, 2008: 67–91; Mogens Hansen, The Tradition of Ancient Greek Democracy and Its Importance for Modern Democracy. Kopenhagen 2005; Amartya Sen, ‚Democracy as a universal value‘ in: Journal of Democracy 10.3, 1999: 3–17; ‚Democracy and its global roots‘ in: The New Republic 229.14, 2003: 28–35. Zur These, daß die Demokratie ihren Ursprung nicht nur in der Antike hat, s. a. die Fallstudien in Benjamin Isakhan, Stephen Stockwell, The Secret History of Democracy. London 2011. Paul Cartledge, Demo­ cracy. A Life. Oxford/ New York 2016 verteidigt die Besonderheit der antiken Demokratie.

4. Reflexivität und Rezeption Manchen Lehrern der Alten Sprachen und Freunden des Altertums wird diese nüchterne Bestandsaufnahme nicht behagen, aber wer am Status des Klassischen festhalten oder der Antike mit der Formel ‚des nächsten Fremden‘ eine privilegierte Position sichern möchte, verschließt seine Augen vor der Wirklichkeit und verschärft durch seine Illusionen letztlich die Marginalisierung der Antike. Denn auch wenn und vielleicht gerade weil das griechischrömische Altertum kein selbstverständlicher Bezugspunkt mehr ist, können wir es zu einem höchst interessanten Bezugspunkt machen. Aber dafür müssen wir uns immer wieder neue Zugänge zur Antike bahnen – sie wird über die Fachwissenschaft hinaus nur insofern eine Rolle spielen, als es uns gelingt, durch sie neue Perspektiven auf die Gegenwart zu gewinnen. Die Pflege altbackener Parolen und die Verteidigung schon längst verlorener Pfründe stehen diesem Bemühen im Weg. Den Altertumswissenschaften haftete schon lange, be­ vor sie zur Zielscheibe postkolonialistischer Kritik wurden, der Ruf an, traditionell und langweilig zu sein; ihrer Hoch­ schätzung des Handwerklichen ist jedoch auch zu ver­ danken, daß einiges an Material für die Auseinandersetzung mit der Antike zur Verfügung steht. Zwar stehen wir vor Ruinen und müssen uns mit einem Bruchteil der antiken

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Texte begnügen, doch ist das Erhaltene im Vergleich zu anderen vergangenen Kulturen nicht unbeträchtlich und vor allem gut erschlossen. Die meisten griechischen und lateinischen Texte liegen ediert und kommentiert vor. Zu­ dem hatte die Antike eine lange zeitliche und räumliche Ausdehnung – von Homer bis Nonnos, von Mauretanien zum Indus. Neben den griechischen Poleis und Ethnien ge­ hört auch das Römische Reich mit seinem komplexen Ver­ waltungssystem zu ihr. In seiner Vielfalt bietet das grie­ chisch-römische Altertum viele Anknüpfungspunkte. Im letzten Abschnitt dieses Essays möchte ich einen Blick werfen auf antike Texte, die, obgleich sie keinen kanonischen Status mehr haben, doch noch Aufmerksam­ keit jenseits der Altertumswissenschaften finden. Damit wechsle ich von der normativen Diskussion, ob die Antike klassisch oder ‚das nächste Fremde‘ ist, zu einer deskrip­ tiven Betrachtung, welche antiken Texte heute noch jen­ seits der Altertumswissenschaften rezipiert werden. Für das fortdauernde Interesse an diesen Texten gibt es je eigene Gründe, doch sie alle verbindet ein Charakteristikum, das die Sorge um die Zukunft der alten Sprachen wenn nicht ganz nehmen, so doch verringern kann. Welche Rolle das griechisch-römische Altertum in der Zukunft spielen wird, hängt davon ab, wie wir seine Hinterlassen­ schaften für die Gegenwart fruchtbar machen. Viele antike Texte regen eine solche Auseinandersetzung durch ihre Form an, die ich jetzt analysieren möchte. Beginnen wir mit der Tragödie. George Steiner und andere haben zwar mit düsteren Worten ihren Tod pro­ klamiert,1 aber die anhaltenden theoretischen Bemühun­   George Steiner, The Death of Tragedy. London 1961.

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gen um sie strafen diese Behauptung ebenso Lügen wie die ungebrochene Beliebtheit von Aischylos, Sophokles und Euripides auf der modernen Bühne. Die Tragödienbücher von Christoph Menke und Karl Heinz Bohrer sind zwei jüngere Belege, die gerade dadurch, dass sie den historischen Kontext ausblenden, die Strahlkraft der antiken Tragödien in der Gegenwart verdeutlichen.2 In seiner philosophischen Deutung knüpft Menke beim deutschen Idealismus an, um in der tragischen Ironie den auch heute noch gültigen Er­ fahrungsgehalt der Tragödie zu erkennen. Das Paradigma der Tragödie sei keineswegs überwunden, es sei nach wie vor verstörend: ‚Handeln, das stets auf sein Gelingen aus ist, bringt allein durch sich selbst, daher notwendig, sein Mißlingen, dadurch das Unglück des Handelnden hervor.‘3 Ganz anders Bohrer. Gewohnt polemisch greift er Deutungen an, die die Tragödie verbegrifflichen oder, wie die jüngere Forschung, primär politisch oder rituell ver­ stehen wollen. Dagegen sieht Bohrer den Kern der Tragödie in einem ‚ästhetisch-epiphanen Impuls‘. Der Preis für diesen Zugang ist hoch: Bohrer konzentriert sich fast ausschließlich auf lyrische Partien und verliert den ­ dramatischen Charakter der Tragödie aus dem Blick. Auch verwundert, wie man, wenn man die Tragödie als ‚Er­ scheinung‘ deuten möchte, die Aufführung und ihren syn­ ästhetischen Charakter ignorieren kann. In Bohrers Ab­ 2  Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Frankfurt 2005; Karl Heinz Bohrer, Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. München 2009. S. zuletzt Asmus Trautsch, Der Umschlag von Allem in Nichts. Theorie tragischer Erfahrung. Berlin/ Boston 2020, der in der antiken Tragödie auch heute noch gültige Reflexionen über die Selbstgefähr­ dungen des Menschen sieht. 3   Menke 2005: 7.

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handlung ist die antike Tragödie zu einem Lesedrama verkümmert. Wenn aber etwas einen epiphanen Charakter hatte, dann doch der Gesang von fünfzehn Choreuten, be­ gleitet von Musik und ausgemalt im Tanz, für ein Pub­li­ kum, das nach Opfern für Dionysos dichtgedrängt unter freiem Himmel saß! Trotzdem zeigt Bohrers Analyse, dass die Tragödie uns nicht nur eine Weltsicht zum Denken auf­ gibt, sondern auch ein ästhetisches Erlebnis ist, selbst in Übersetzungen, die die Wucht des Originals nur schatten­ haft einfangen. Es gibt einen weiteren wichtigen Punkt, der die anhal­ tende Faszinationskraft der Tragödie erklären kann. Be­ sonders deutlich tritt er in dem Stück hervor, das der deutsche Idealismus zur Mustertragödie erhob: Sophokles‘ Antigone. In seiner einflussreichen Interpretation deutete Hegel den Konflikt zwischen Antigone, die ihren Bruder bestatten, und Kreon, der dem Verräter das Begräbnis ver­ wehren will, als den Gegensatz zwischen ‚dem Staat, dem sittlichen Leben in seiner geistigen Allgemeinheit‘ und ‚der Familie als der natürlichen Sittlichkeit‘.4 Hier spricht un­ verkennbar der preußische Staatsphilosoph, und doch er­ fasst Hegel den Kern des Stücks, das Aufeinanderprallen von Ansprüchen, die beide ihre Berechtigung haben. Es ist aus moderner Sicht leicht, Kreon zum Tyrannen zu stilisieren, aber er vertritt die Belange der Polis so über­ zeugend, dass der attische Redner Demosthenes im 4.  Jahr­ hundert vor Christus eine lange Rede Kreons als Beispiel einer vorbildlichen Einstellung zitierte.5 4  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Bd.  3. Frankfurt 1990: 544. 5   Demosthenes 19.247 mit Zitat von Sophokles, Antigone 175–90.

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,Das nächste Fremde‘ mag allgemein den Status be­ schreiben, den Antigone und andere Tragödien in der Gegenwart haben; ihre Faszinationskraft ist aber spezi­ fischer: Sie beruht auf ihrer Reflexivität, hier verstanden nicht als Autoreferentialität, sondern alltagssprachlich als die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Wenn Tragödien die ‚kritische Phantasie‘ des heutigen Rezipienten anregen und ihn ‚schöpferisch seine Möglichkeiten… denken lassen‘, so liegt das daran, dass sie hochdiskursiv sind. Wie Menke betont, behandeln die Tragödien Themen, die auch den modernen Menschen betreffen. Entscheidend ist aber auch, wie sie diese Themen behandeln. Die Antigone und andere Tragödien entfalten ihre Dilemmata mit großer Eindringlichkeit: Die Figuren diskutieren ausführlich und beleuchten ethische Fragen aus verschiedenen Perspektiven. Statt Antworten zu geben, eröffnen die griechischen Tra­ gödien Spannungsräume. Ihre Reflexionen sind, nicht ­zuletzt da sie sich an konkreten Handlungen entfalten, ein­ dringlicher als abstrakte philosophische Abhandlungen und vermögen den Zuschauer in offene Denkprozesse hinein­zuziehen. Die Reflexivität, die der griechischen Tragödie auch unser Interesse sichert, ist bereits in ihrer Form angelegt. Das Drama kennt keinen Erzähler mit verbindlicher Stimme, nur Charaktere, die einander auf Augenhöhe be­ gegnen. Die Begrenzung auf erst zwei, dann drei Schau­ spieler im griechischen Theater schränkt die Möglichkeit ein, Handlung darzustellen – und öffnet damit den Raum für Diskussion und Reflexion. Mit dem Chor verfügt die griechische Tragödie außerdem über ein Element, das zwar kein Sprachrohr des Dichters, aber doch ein Kollektiv und

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von den Protagonisten abgesetzt ist. Während Letztere auf der Bühne stehen, bewegen sich die Chormitglieder in der Orchestra, dem Halbrund zwischen Bühne und Zu­ schauerreihen. Die räumliche Distanz bringt die besondere Stellung des Chors zum Ausdruck, der auf die Tradition des unabhängigen Chorgesangs zurückgreift und in seinen Liedern Sentenzen und Mythen vorträgt, in denen sich die Handlung des Stücks wie in einem Prisma bricht. Die heute regelmäßig gespielten Tragödien behandeln recht verschiedene Dilemmata, ein hoher Grad an Reflexi­ vität ist ihnen jedoch gemeinsam. Sophokles‘ König Ödipus, neben der Antigone das wichtigste Stück für die moderne Tragödientheorie, zeigt den schmerzvollen Prozess, in dem Ödipus erkennen muss, dass er seinen Vater umge­ bracht und seine Mutter geheiratet hat. Seine Gespräche mit den anderen Figuren und dem Chor kreisen um die Frage nach der Schuld und beleuchten die Grenzen mensch­licher Verantwortlichkeit. Medea opfert, von ihrem Mann im Stich gelassen, die eigenen Kinder, um Rache zu nehmen. Lange lässt Euripides sie schwanken zwischen der Liebe zu den Kindern und der tiefen Verletzung, die am Ende schwerer wiegt und zur unfassbaren Tat führt. Aischylos‘ Perser schließlich sind ein Sonderfall, der auf seine Weise jedoch ebenfalls die Reflexivität der griechi­ schen Tragödie belegt. Der Kampf zwischen Griechen und Barbaren hat als Konflikt zwischen Ost und West immer wieder zu Aktualisierungen eingeladen, sei es, dass die Perser in Deutschland mit den Russen oder in England mit den Deutschen oder, während der Golfkriege, mit den Irakern gleichgesetzt werden.6 In der Kritik einer Insze­   Jonas Grethlein, ‚Variationen des „nächsten Fremden“. Die Perser

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nierung am Wiener Burgtheater lehnte Simon Strauß die Interpretation des Stücks als ‚empathische Zivilisations­ leistung eines Autors, der Sieger ist und trotzdem aus der Sicht der Besiegten schreibt‘ plakativ ab: ‚Die Barbaren als „nächste Fremde“ – das passt dem Toleranzliebhaber gut in den Kram. In Wahrheit ist das Stück aber ganz und gar nicht aus Mitleid für den Gegner, sondern vor allem aus Angst vor dem Feind geschrieben.‘7 So nachvollziehbar der Affekt gegen die Vereinnahmung der Perser durch ‚Toleranzliebhaber‘ ist, so wenig wird diese Lesart der Komplexität des Stücks gerecht. Aischylos zeigt die Perser als despotische Gegner und rückt sie zu­ gleich in den Horizont der condicio humana, etwa wenn der Chor über das Schicksal des persischen Heers mit all­ gemein anthropologischen Überlegungen räsoniert (93f.): ‚Doch dem list-sinnenden Trug des Gottes:/ Welcher sterb­ liche Mann entrinnt ihm?‘ Das Schicksal des Perserreiches kann auch die griechischen Poleis ereilen – eine Ahnung, die Herodot und Thukydides später bestätigen sollten. Nicht zuletzt der Blick durch die gegensätzlichen Linsen von Stigmatisierung und Mitleid, von denen die eine den Feind, die andere den Mitmenschen sehen lässt, begründet das fortwährende Interesse an den Persern. Wie die anderen Tragödien, die man auf der heutigen Bühne regel­ mäßig sehen kann, lässt Aischylos‘ ältestes Stück gegen­ sätzliche Perspektiven aufeinanderprallen und verwickelt den Zuschauer in diesen Konflikt.

des Aischylos im 20.  Jahrhundert‘ in: Antike und Abendland 53, 2007: 1–20. 7   FAZ vom 21.5.2017.

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Auf Thukydides und seine moderne Rezeption sind wir bereits gestoßen.8 Thukydides ist neben Hobbes und Machiavelli der Autor, mit dessen Hilfe Theoretiker wie Hans Morgenthau und Edward Hallett Carr die Gesetze der Machtpolitik zu ergründen versucht haben. Im Zentrum ihrer Thukydides-Interpretation steht der MelierDialog: Während die Melier eine freiwillige Unterwerfung unter Athen ablehnen, da sie ungerecht sei und ihnen Schande brächte, lassen die Athener nur das Recht des Stärkeren gelten. Ihre Feststellung, Recht könne nur zwischen gleich Starken gelten, bei ungleichen Kräftever­ hältnissen tue der Starke, was er könne, und erleide der Schwache, was er müsse, ist zur Formel des Politischen Realismus, die Vernichtung der Melier durch Athen zum Beleg dafür geworden, dass auf der großen, kalten Bühne der Weltpolitik nur eines zähle: Eigeninteresse. Als Ahnherr des Politischen Realismus hat Thukydides, selbst ein gescheiterter General, der ins Exil geschickt wurde, beträchtlichen Einfluss auf die Weltpolitik am Ende des 20. und zu Beginn des 21.  Jahrhunderts gewon­ nen. Bereits erwähnt habe ich die Präsenz des Thukydides in der Trump-Ära.9 Neben Steve Bannon gab sich auch Herbert Raymond McMaster, zwischenzeitlich Trumps Nationaler Sicherheitsberater, als Fan der Geschichte des Peloponnesischen Krieges zu erkennen. Im Vorfeld des Be­ suchs einer Delegation aus China wurde im Weißen Haus der Harvard-Politologe Graham T. Allison gesichtet, der 8   Neville Morley, Thucydides and the Idea of History. London 2014; Katherine Harloe, Neville Morley, Thucydides and the Modern World. Reception, Reinterpretation and Influence from the Renaissance to the Present. Cambridge 2012. 9   Politico vom 21.6.2017.

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zur Zeit wohl wirkmächtigste Anwalt des Thukydides im Feld der International Relations. In seinem jüngsten Buch leitet Allison aus der Geschichte des Peloponnesischen Krieges ‚Thucydides’s trap‘ ab:10 Was den Krieg unvermeid­ lich machte, war das Wachstum von Athens Macht und die Angst, die es bei den Spartanern hervorrief. Aber Thukydides ist schon seit längerem eine feste Größe in neokonservativen Thinktanks und hielt bereits unter den Bush-Präsidenten Einzug ins Weiße Haus. Die Archi­ tekten der amerikanischen Golfkriege begründeten ihre ‚Realpolitik‘ immer wieder mit Thukydides – oder auch Fake-Thukydides: So stammt die von Colin Powell gern zitierte und an seinen Schreibtisch montierte Sentenz ‚Of all manifestations of power, restraint impresses men most‘ nicht aus Thukydides, sondern der heute vergessenen History of Greek Literature von Frank Byron Jevons (1886). Der Angriff Russlands auf die Ukraine 2022, in den Augen vieler eine Wiederkehr territorialer Machtpolitik, dürfte Thukydides eine weitere Konjunktur bescheren. In der New York Times schrieb Bret Stephens bereits unter der Überschrift ‚Biden Must Not Allow Ukraine to Fall‘: ‚If Putin can impose them (i.e., the values of the Sovjet system) in Ukraine, just as China has imposed them in Hong Kong, then we will be thrust into a world in which, in the language of Thucydides, „the strong do what they can and the weak suffer what they must.“11 Während der russische Krieg gegen die Ukraine Liberale in Nöte bringt, sehen Konser­ vative ihre an Thukydides geschulte Position bestätigt – 10   Graham Allison, Destined for War. Can America and China Escape Thucydides’s Trap? Boston 2017. 11   New York Times vom 1.3.2022, https://www.nytimes.com/2022/03/ 01/opinion/ukraine-zelensky-biden.html, abgerufen am 29.3.2022.

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das Streben nach Macht prägt die Politik, Angst diktiert das Weltgeschehen. Die Vereinnahmung der Geschichte des Peloponnesischen Krieges durch den Politischen Realismus ist jedoch scharf kritisiert worden.12 Dabei bestreiten die meisten Kritiker keineswegs die Bedeutung des Thukydides für die Inter­ national Relations; auch sie sehen in ihm weniger einen Historiker des 5.  Jahrhunderts als einen Anthropologen mit heute noch gültigen Einsichten in das menschliche Wesen. Aber sie weisen seine Deutung durch Allison & Co als falsch zurück. Mit Recht: Nicht Thukydides, sondern die Athener berufen sich auf das Gesetz des Stärkeren. Vor allem muss man ihre Behauptungen im narrativen Kontext betrachten. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges zeige, so die Kritiker, dass eine solche Ideologie zum Schei­ tern verurteilt sei: So verliere Athen den Pelopon­nesischen Krieg, seine bedingungslose Machtpolitik führe letztend­ lich zur Kapitulation. Auch jenseits der Debatte um den Politischen Realismus hat Thukydides moderne Theoretiker nachhaltig beein­ flusst. Hannah Arendt, die mit Morgenthau die Erfahrung des Exils teilte und mit ihm befreundet war, scheint einen ganz anderen Autor gelesen zu haben: Ihr Thukydides lässt beide Kriegsparteien zu Wort kommen und vermag in der Form der Erzählung die Größe eines historischen Ereig­ nisses zu würdigen.13 Der französische Philosoph Raymond Aron führte Thukydides ins Feld, um den Primat indivi­ dueller Handlungen vor sozialen, kulturellen und wirt­ 12   Vgl. Richard Ned Lebow, ‚Thucydides the constructivist‘ in: Ame­ rican Political Science Review 95.3, 2001: 547–60. 13   Hannah Arendt, Between Past and Future. London 1961.

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schaft­lichen Strukturen zu verteidigen.14 Yanis Varoufakis schließlich, der lederjackentragende Finanzminister und Kritiker der europäischen Austeritätspolitik, wagte sich an den Heiligen Gral des Politischen Realismus, den MelierDialog, um seine Variante der Spieltheorie zu entwickeln.15 Die Gegenüberstellung von Athen und Sparta mag sich als archaische Präfiguration politischer Polaritäten an­ bieten; sie ist als Spiegel für das Verhältnis der Vereinigten Staaten und China und davor für den Kalten Krieg sowie, ikonoklastisch, einen Konflikt zwischen den Fiji-Stämmen Bau und Rewa im 19.  Jahrhundert herangezogen worden.16 Und doch ist nicht so sehr ,das nächste Fremde‘ wie die reflexive Darstellung der Grund für die vielfältige Thukydides-­Rezeption in der Gegenwart. Ähnlich wie die griechischen Tragödien, wenn auch mit anderen Mitteln, beleuchtet Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges grundlegende Probleme in diskursiver Weise. Thukydides ist ein zurückhaltender Erzähler, der hinter dem Erzählten zu verschwinden scheint, ja den Eindruck erweckt, die Geschichte erzähle sich selbst. Nur selten erhebt er seine auktoriale Stimme für ein ausdrückliches Urteil. Im All­ gemeinen bettet Thukydides Wertungen in seine Erzählung der Ereignisse ein; damit schiebt er sie zum einen dem Leser auf subtile Weise unter, zum anderen eröffnet er der Interpretation weite Spielräume.

  Raymond Aron, Dimensions de la conscience historique. Paris 1961.   Yanis Varoufakis, ‚Moral rhetoric in the face of strategic weakness. Experimental clues for an ancient puzzle‘ in: Erkenntnis 46.1, 1997: 87– 110. 16   Marshall Sahlins, Apologies to Thucydides. Understanding History as Culture and Vice Versa. Chicago 2004. 14

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Das Grundgerüst der weitgehend indirekten Geschichts­ deutung bilden die fein aufeinander abgestimmten Reden der Figuren und die Erzählung der Ereignisse. In den Reden legen die historischen Protagonisten ihre Sicht dar: Sie äußern ihre Ängste, verraten ihre Hoffnungen und ent­ wickeln ihre Pläne. Nicht zuletzt räsonieren die Redner über abstrakte Kategorien wie Macht und Recht, Handeln und Zufall, Souveränität und Abhängigkeit. Da Thukydides diese Überlegungen nicht explizit kommentiert, ist der Leser herausgefordert, ihre Validität selbst zu überprüfen. Im Abgleich von Worten und Taten, Plänen und Aus­ gängen muss er sich selbst seinen Reim auf das Geschehen machen und ergründen, was es ist, das, so Thukydides, ‚sich gemäß der condicio humana so oder in ähnlicher Weise wieder ereignen wird‘ (1.22.4). Die Reflexivität des thukydideischen Geschichtswerks ist besonders deutlich in den Redepaaren. In der MytilenerDebatte zum Beispiel erörtern zwei attische Redner, ob die Athener die Bevölkerung des abtrünnigen Lesbos um­ bringen oder verschonen sollen. Während der eine dafür plädiert, ein Exempel zu statuieren, setzt sich der andere dafür ein, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Bis heute streiten sich die Interpreten, welchem Redner Thukydides Recht gibt: Beide treffen Aussagen, die vom Verlauf der Geschichte bestätigt werden, beide verwickeln sich in Widersprüche. In ihrer Ambiguität ist die MytilenerDebatte eine tiefgründige Erörterung von politischer Macht und Gewalt, die nach wie vor zum Nachdenken anregt. Nicht anders als bei der Tragödie ist es die hochreflexive Erörterung ethischer Probleme, die im Text stattfindet und, da keine Antworten gegeben, sondern Spannungsräume er­ öffnet werden, dem Leser keine Ruhe lässt.

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Die Geschichtsschreibung ist nicht das einzige antike Genre, das heutige Leser noch zum Nachdenken über Macht anregt – auch die Darstellung von Herrschaft im Epos, vor allem Vergils Auseinandersetzung mit dem Imperium Romanum stößt über die Wissenschaft hinaus nach wie vor auf Interesse.17 Die sortes Virgilianae waren lange Zeit die direttissima zwischen einem Text und dem eigenen Leben – man schlug die Vergilausgabe auf und fand einen Vers, der einem die Zukunft prophezeite. Am berühmtesten ist vielleicht die Anekdote, nach der Charles I. in Oxford bei Didos Verfluchung von Aeneas landete. Der Vers 4.615 – ‚geplagt durch Krieg und Waffen des kühnen Volkes‘ – ließ sich in der Retrospektive unschwer als eine Vorhersage von Charles’ Hinrichtung 1649 deuten. In den Worten von Ronald Knox: ‚Virgil – he has the gift, has he not, of summing up in a phrase used at random the aspiration and the tragedy of minds he could never have understood; that is the real poetic genius.‘18 Auch wenn die sortes Virgilianae aus der Mode ge­ kommen sind, wird die Aeneis doch immer wieder neu im Horizont der jeweiligen Zeit und auch als eine Folie für diese gelesen. Generationen von Lesern bot das vergilsche Epos die erzählerische Rechtfertigung nicht nur des Im­ perium Romanum, sondern des Reichsgedanken schlecht­ hin. Das imperium sine fine dedi bildet noch den basso 17   Zur modernen Vergilrezeption s. Theodore Ziolkowski, Virgil and the Moderns. Princeton 1993 sowie die Beiträge in Charles Martindale, Fiachra Mac Góráin, The Cambridge Companion to Virgil. 2.  Aufl., Cambridge 2019. 18   Zitiert nach Stephen Medcalf, ‚Virgil at the turn of time‘ in: Charles Martindale, Virgil and his Influence. Bimillennial Studies. Bristol 1984: 222.

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continuo in T. S. Eliots Interpretation Vergils als des Para­ digmas eines Klassikers, die in der angelsächsischen Welt selbst klassisch wurde.19 Aber diese Interpretation wurde in den 1960er Jahren radikal in Frage gestellt. In einem Aufsatz, der auf weite Resonanz stoßen sollte, unterschied Adam Parry zwei Stimmen in der Aeneis – neben der Stimme, die das Römische Reich preist, eine private Stimme der Trauer, hörbar etwa in der Reaktion der italischen Landschaft auf Umbros Tod (7.759–60): ,Dich hat Angitias Hain, dich Fucinus‘ kristallene Wogen, dich haben die gläsernen Seen beweint.‘20 Aus Parrys Aufsatz ging die Schule der Harvard Pessimists hervor, die in der Aeneis einen äußerst kritischen Blick auf Herrschaft und ihren Preis ausmachte.21 Diese Deutung gewann nicht zu­ letzt durch den Zeitgeist viele Anhänger: ‘For an outside observer it is difficult to separate such an interpre­ tation from the characteristic concerns of US (and other) intellec­ tuals in these years: the doubt of the traditional view of the ­Aeneid has at least some connection with the 1960s questioning of all institutions, political, religious, and intellectual, and in particular with attitudes towards America’s own imperialism‘.22

19   T. S. Eliot, What is a Classic? An Address Delivered Before the Virgil Society on the 16th of October 1944. London 1945. Zu Eliot und Vergil s. Duncan Kennedy, ‚Modern receptions and their interpretative implica­ tions. The case of T. S. Eliot‘ in: Charles Martindale, Fiachra Mac Góráin, The Cambridge Companion to Virgil. 2.  Aufl., Cambridge 2019: 23–24. 20   Adam Parry, ‚The two voices of Vergil‘s Aeneid‘ in: Arion 2.4, 1963: 66–80. 21   Für einen Überblick s. Julia Hejduck, ‚Introduction. Reading civil war‘ in: Classical World 111.1, 2017: 1–5. 22   Stephen John Harrison, Oxford Readings in Vergil’s Aeneid. Oxford 1990: 5.

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Sowohl die pessimistische als auch die traditionelle Deu­ tung läßt sich mit einschlägigen Textstellen belegen – scheinen die Teleologie der Handlung und die Vorweg­ nahme der römischen Hegemonie eine Rechtfertigung von Herrschaft zu stützen, so leuchten die erlittenen Verluste sowie die Trauer darüber und nicht zuletzt das Schicksal von Dido die furchtbare Schattenseite des Imperiums aus. Die Dynamik der Handlung und die zeitlichen Brechungen, die Dissonanz der Stimmen und Vielfalt der Perspektiven machen die Aeneis zu einer narrativen Meditation über Macht und Gewalt, die sich nicht auf einen Nenner bringen läßt. Immer wieder hat Vergil Leser ins Grübeln gebracht, die das Schicksal des Aeneas vor dem Hintergrund ihrer eigenen Zeit, aber auch diese im Licht der epischen Hand­ lung verstanden haben. Die Wege jüngerer Interpretationen zeichnen sich bereits in einer Feststellung von George Steiner aus dem Jahr 1990 ab: ‘We follow on disaster as does Aeneas. The dead swarm at us with dire demands both of due remembrance and future resolve as they do in Book VI of the Aeneid. We are twilit, uneasy imperial­ ists or exploiters of less privileged peoples in ways for which ­Virgil found the most searching expression. Being survivors in Europe, we grow wary of vengeance as Odysseus did not.’23

Einst ein Monument der römischen Weltherrschaft, ist die Aeneis zum Gedicht der Krise, ihr Held zu einem Über­ lebenden, sein Widersacher Turnus zu einem ‚admirable prototype of Sitting Bull‘24 geworden. Vor dem Hinter­ 23   George Steiner, ‚Homer and Virgil and Broch‘ in: The London Re­ view of Books 12.13, 1990: 10–11. 24   Daniel Mendelsohn, Ecstasy and Terror. From the Greeks to Game of Thrones. New York 2019: 113.

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grund von Migration und Flüchtlingskrisen hat man in Vergils Epos ‚un grand récit du métissage‘25 erkannt. Wie weit die Rezeption von Vergil über die Wissenschaft hinausgeht, und wie stark die Aeneis noch in der Reduktion auf eine Formel der Erinnerungskultur zum vertieften Nachdenken drängt, zeigt sich in New York. Dort hat man im National September 11 Memorial and Museum eine In­ schrift angebracht: ‚No day shall erase you from the memory of time‘, die Übersetzung von Aen. 9.447: ‚nulla dies umquam memori vos eximet aevo.‘ Die Inschrift an diesem höchst prominenten Ort hat eine umfangreiche Debatte ausgelöst.26 Ist der Tag, von dem die Rede ist, der 11. September 2001, oder bezieht er sich auf die Zukunft, in der die Opfer der Anschläge niemals vergessen werden? Ist das Zitat überhaupt angemessen? In der Aeneis geht es um die Erinnerung an Nisus und Euryalus – die beiden kommen um bei einem Angriff, den sie selbst unter­ nehmen. In der Inschrift blitzt der frühere kanonische Status Vergils auf, auf den man sich bei der Suche nach der Würde eines Sinnspruchs noch einmal besinnt; aber die Debatte zeigt auch die Ambiguität der Aeneis, die dem römischen Nationalepos nach wie vor einen Platz in der Gegenwart beschert. Prüfstein für meine These sei Platon. Er gehört – daran kann kein Zweifel bestehen – zu den wirkmächtigsten Autoren der Antike. So wie die griechische Tragödie einen festen Platz auf der Bühne des gegenwärtigen Theaters hat, 25   Florence Dupont, Rome, la ville sans origine. L’Eneide: un grand récit du métissage? Paris 2011. 26   M. B. Sullivan, ‚September 11 Memorial and Museum‘ in: Richard F. Thomas, Jan M. Ziolkowski, The Virgil Encyclopedia. Hoboken, NJ 2014: 3.1145–6.

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Thukydides aus den Studien internationaler Beziehungen nicht wegzudenken und Vergil Lieferant erinnerungs­ politischer Sentenzen ist, erfreut sich Platon nicht nur der Aufmerksamkeit von Fachphilosophen, sondern gibt auch immer wieder allgemeinen Debatten ihre Stichworte. Manche dieser Diskussionen werfen aber die Frage auf, ob Platon die gleiche Reflexivität wie den Tragikern, Thukydides und Vergil zu eigen ist. So zog Peter Sloterdijk in seinem berüchtigten Essay Regeln für den Menschenpark die platonischen Werke Politikos und Politeia als Beleg für die Idee einer Menschenzüchtung heran.27 In der Tat – das habe ich oben bereits betont – kann man sich auf Platon nicht als einen Verfechter der liberalen Demokratie berufen; bei ihm finden sich Ideen, die uns be­ fremden und totalitär anmuten. Aber bei ihrer Bewertung ist Vorsicht geboten: Die uns überlieferten Werke von Platon sind, sieht man von den in ihrer Authentizität an­ gezweifelten Briefen ab, Dialoge. Die Aussagen der Figuren spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung Platons wider. Zwar ist die Stimme des Sokrates mit besonderer Autorität ausgestattet, aber auch der platonische Sokrates weiß nicht immer die Lösung der Probleme, die er mit seinen Gesprächspartnern erörtert. In vielen Dialogen geht es auch nicht nur um die verhandelten Themen, sondern ebenso um die Art und Weise, in der sie verhan­ delt werden. Der Leser wird in die sokratische Elenchtik, die diskursive Erschließung eines Feldes, eingeführt. Auch wenn moderne Philosophen Platon immer wieder wie Aristoteles lesen und propositionale Aussagen aus seinen 27   Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschrei­ ben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt 1999.

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Dialogen herauspressen, ist die Form des Dialogs für Platons Philosophie zentral. Wer hinter diese Einsicht Friedrich Schleiermachers zurückfällt, zahlt einen hohen Preis. Die Form des Dialogs ist nicht das Einzige, was Platons Werk reflexiv macht. Die Dialoge enthalten auch eine Viel­ zahl von Ausdrucksformen, neben dem Gespräch auch den Mythos, zum Beispiel den Atlantis-Mythos im Timaios, und Gleichnisse, etwa das Höhlengleichnis der Politeia. Zu­ sammen mit der Dialogform erzeugt diese Pluriformität unterschiedliche Perspektiven, aus denen sich der Leser dem philosophischen Thema nähert und dadurch selbst ins Grübeln gebracht wird. Im Phaidros beispielsweise liest der Protagonist Phaidros ein funkelndes Plädoyer des Lysias vor, Jünglinge sollten sich nur solchen Liebhabern hin­ geben, die sie nicht liebten. Sokrates hält aus dem Stegreif eine Gegenrede, um sich dann bei Eros für seine Salopperie zu entschuldigen und zum poetischen Mythos von der Fahrt des Seelenwagens auszuholen. Schließlich erörtert er im Gespräch mit Phaidros, was die gute Rede auszeichne. Wie, so fragt sich der Leser, verhalten sich die verschiedenen Formen, geschriebene und improvisierte Rede, Mythos und Konversation, zueinander, ja was ist über­haupt das Thema des Dialogs, die Liebe oder die Rhe­torik? Die Rezeption Platons ist vielfältig, er ist zum Kron­ zeugen ganz verschiedener Ideen berufen worden, auch solcher, die viele Leser heute verstören. Dass die Dialoge eine solche Faszination ausüben, ist nicht nur auf ihre Inhalte, sondern auch auf ihre Reflexivität zurückzu­ führen. Die Offenheit der Unterhaltung zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern drängt Leser dazu, sie fort­ zusetzen. Nicht ,das nächste Fremde‘, die Fremdheit der

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sokratischen Welt, die uns zugleich noch betrifft, sondern die Denkbewegung des Textes regt uns selbst zum Denken an. Platon lässt seine Figuren ein Gespräch führen, das in den Gedanken seiner Leser immer wieder aufs Neue ge­ führt und – mit ganz unterschiedlichen Ausgängen – fort­ gesetzt wird. An Platons Werk ist eine Spannung besonders deutlich, die man auch bei anderen Autoren seiner Zeit spüren kann. Es liegt nahe, in ihrer diskursiven Auseinandersetzung einen Ausdruck der attischen Demokratie zu sehen. Das Gegenüberstellen verschiedener Positionen scheint ein Echo der in demokratischen Institutionen geführten Dis­ kussionen zu sein. Nicht anders als der Bürger in der Volks­ versammlung und den Gerichtshöfen muss der Leser gegensätzliche Positionen abwägen und sich selbst ein Bild machen. Aber sowohl Thukydides als auch Platon sind scharfe Kritiker der attischen Demokratie. Beide sehen vor allem in der Rhetorik, die auf das Überreden der Masse statt auf die Wahrheit zielt, ein Übel, das zwangsläufig zum Niedergang eines Gemeinwesens führt. Die Tragödien wurden zwar im Rahmen demokratischer Polisfeste auf­ geführt, hinterfragen aber auf schonungslose Weise demo­ kratische Werte. Vor allem Euripides, aber auch Sophokles prangern die rhetorischen Tricks an, mit denen die Redner Tag für Tag in der Volksversammlung operierten. Man könnte behaupten, die Demokratiekritik der Autoren untergrabe die Diskursivität ihrer Werke, aber umgekehrt zeichnet sich zugleich der starke Einfluss der Demokratie ab, die mit ihrer diskursiven Form auch ihre Kritik durch­ dringt. Keineswegs haben die Antike und ihre Literatur ein Monopol auf Reflexivität; selbstverständlich gibt es in

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anderen Traditionen diskursive Texte. Auch sind nicht alle antiken Texte so reflexiv wie die hier besprochenen. Die attischen Grabreden zum Beispiel geben einen ein­ dimensionalen Abriss von Athens Geschichte und Wesen. Tragödien wie Die Schutzflehenden und Die Herakliden des Euripides sind mit ihren patriotischen Sujets weitaus einfacher gestrickt als Antigone und Ödipus. Aber es sind nicht diese, sondern die diskursiven Texte, die der Antike heute noch eine gewisse Bedeutung sichern. Zugleich bietet die antike Literatur zahlreiche weitere Texte, die es mit den hier genannten aufnehmen können. Nicht nur die Texte aus der Klassik, die früher kanonisch waren und auch heute noch die Rezeption der Antike prägen, bestechen durch ihre Reflexivität. Auch und gerade in der Kaiserzeit finden sich höchst anregende Texte, die Forscher in ihr eine antike Postmoderne haben sehen lassen. Während etwa die Bildbeschreibungen des Philostrat ein vielschich­ tiges Exerzitium zu Darstellung und Medialität sind, können Lukians Werke in ihrem Spiel mit Stimme und Autorität Leser noch immer verblüffen. Aber auch die archaische Dichtung ist keineswegs primitiv. Die Odyssee läßt sich als eine Meditation über die anthropologische Be­ deutung des Erzählens lesen, die selbst die Form einer spannenden Erzählung hat; die blutigen Schlachtbeschrei­ bungen der Ilias setzen sich mit menschlicher Fragilität in einer Weise auseinander, die auch heute noch zu berühren vermag.28 Geht es um das Erbe der Antike, stehen meist die großen Themen im Vordergrund, die antike Autoren behandeln, 28   Jonas Grethlein, Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens. München 2017; Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben. München 2022.

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etwa die Frage nach der Schuld in Ödipus oder die Dynamik der Macht bei Thukydides und Vergil. Aber diese Inhalte entfalten sich in einer Form, die ihnen Gestalt und Kraft gibt. Entscheidend für die breite – und immer wieder auch fragwürdige – Wirkung antiker Texte ist die Reflexivität, mit der sie Dilemmata entfalten, aber nicht lösen und damit das Denken anstoßen. Diese Reflexivität antiker Texte ist bereits in ihrer literarischen Form angelegt, ihre Diskursivität in Dialogizität, Polyphonie und Pluriformi­ tät begründet. Es ist bezeichnend, daß diese Form in ideo­ logischen Aneignungen gewöhnlich unterschlagen wird. Der Vergil, den Brasillach für seine strengen Mahnungen an das Volk pries und Mussolini als den Ahnherrn des faschistischen Italiens verherrlichte, kennt keine Span­nun­ gen und Ambiguitäten.29 Auch die amerikanischen Falken können sich auf Thukydides als Patron einer rücksichts­ losen Machtpolitik nur berufen, weil sie einzelne Sätze, oft von Figuren, aus ihrem Kontext heraussprengen und zu Einsichten des Thukydides erheben. Das griechisch-römische Altertum ist kein selbstver­ ständlicher Bezugspunkt mehr – es hat den Status des Klassischen verloren und ist, wo es noch einen sozialen Distinktionsgewinn verspricht, im Zeichen der Identitäts­ politik unter Beschuß geraten. Es ist auch nicht mehr ‚das nächste Fremde‘; andere, vergangene wie gegenwärtige, Kulturen sind ebenfalls fremd und nah genug, um uns das Eigene in neuem Licht sehen zu lassen. Trotzdem empfehlen sich antike Texte nicht nur durch ihre reiche Rezeptions­ geschichte, die ihnen einen festen Platz in Untersuchungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sichert, sondern   Robert Brasillach, Présence de Virgile. Paris 1931.

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auch und vor allem durch ihre offene Form – ihre Reflexivi­ tät regt zu einem Nach- und Weiterdenken an, das über eine historische Kontextualisierung hinaus- und auf die Gegenwart zudrängt. An der Reflexivität wird auch deut­ lich, warum die Kategorie der Identität, ob konservativ oder progressiv gefüllt, ungeeignet ist, um die heutige Be­ deutung der Antike zu erfassen. Statt Werte zu vermitteln und damit eine kulturelle Identität zu begründen, werfen die besprochenen Texte vor allem Fragen auf – Fragen, die nicht beantwortet werden, Fragen, deren Kraft nicht zu­ letzt darin besteht, daß sie unsere Identitäten nicht be­ stätigen, sondern in neue Perspektiven rücken. Die Ausein­ andersetzung mit der Antike ist gerade deswegen reizvoll, weil sie Denkräume jenseits der eigenen Identität eröffnet. Die Aufgabe der Altertumswissenschaften ist es, neben der fachwissenschaftlichen Bearbeitung des antiken Ma­ teri­als dieses auch immer wieder in Beziehung zur Ge­ genwart zu setzen. Wie wir gesehen haben, operieren ­Altphilologen, Althistoriker und Archäologen in gesell­ schaftspolitischen Feldern, die national recht verschieden und mit Sensibilität zu bedenken sind. In den USA üben rechte Aneignungen der Antike Druck auf die Altertums­ wissenschaften aus, in Großbritannien ist die elitäre Tradition von Classics zur Hypothek geworden. Der gymnasiale Latein- und Griechischunterricht in Deutsch­ land mag wie ein fester Anker wirken, aber man sollte sich nicht in falscher Sicherheit wiegen. Die Zahl der Schüler, welche die alten Sprachen lernen, ist nicht groß, zuletzt ist sie wieder gesunken. Das hat Auswirkungen auf die Seminare für Klassische Philologie; ihre Attraktivität hängt auch von den zu erwartenden Lehrerstellen ab. Mit Neid schaut man hier auf die US-amerikanischen Uni­

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versitäten: Antike Texte sind ein fester Bestandteil großer Vorlesungen wie ‚Western Civilisation‘ oder ‚Ancient Greek Myth‘. Sie werden dort zwar in Übersetzung, dafür aber von vielen Studenten gelesen. Die meisten Absolventen eines ameri­kanischen College haben sich mit Homer und ein paar anderen antiken Autoren auseinandergesetzt. Nun ist das deutsche Hochschulsystem anders und legt seine Studenten stärker auf Fächer fest – aber wäre es auch hier denkbar, antike Texte in fächerübergreifenden Vor­ lesungen zu verankern? Gäbe es vielleicht sogar im gym­ nasialen Deutschunterricht einen Platz für die Odyssee? Man hat zu lange an der Idee festgehalten, daß antike Autoren in Schule und Universität nur in der Original­ sprache zu lesen sind. In der Tat ermöglicht die Kenntnis des Griechischen und Lateinischen eine tiefere Ausein­ andersetzung mit antiker Literatur und Philosophie, doch werden deren Werke breitere Kreise nur in Übersetzung erreichen. Das ist keine neue Einsicht, aber eine Einsicht, die es immer noch in den Curricula umzusetzen gilt. Die Lektüre der Texte in Übersetzung und im Original darf man nicht gegeneinander ausspielen – das eine schließt das andere keineswegs aus. Die Beschäftigung mit einer Über­ setzung kann auch den Wunsch wecken, die fremde Spra­ che zu lernen. Wie weit antike Texte zirkulieren und wie viele Schüler die alten Sprachen lernen, hängt auch davon ab, wie präsent die Antike in der Öffentlichkeit ist. Mit einer Anbiederung an den Zeitgeist und plumpen Aktualisierungen lassen sich nur kurzfristig Gewinne erzielen; wirken kann die Antike vor allem dadurch, daß sie ‚unzeitgemäß‘ ist und unsere Gewißheiten in Frage stellt. Da sich unsere Plausi­ bilitäten fortlaufend verschieben, müssen die Texte griechi­

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scher und lateinischer Autoren immer wieder neu im Licht der Gegenwart gelesen und interpretiert werden, um wie­ derum unser Verständnis der Gegenwart bereichern zu können. Welche neuen Perspektiven eröffnet zum Beispiel die Ilias als Kriegsepos jetzt, da Rußland einen Krieg in Europa angezettelt hat und Intellektuelle wie Herfried Münkler das Ende der postheroischen Epoche ausrufen? Was ist Homers Verständnis des Heroischen, wie verhält es sich zum jetzt heraufbeschworenen Heldentum? Ebenso wichtig wie die früher kanonischen Autoren immer wieder neu fruchtbar zu machen ist es, der Gegenwart antike Texte zu erschließen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, sie aber außerhalb der Fachwissenschaft bisher nicht erhalten haben. Wie liest sich etwa der Heroicus des Philostrat und sein Spiel mit Fiktionalität in einem als postfaktisch be­ zeichneten Zeitalter, wie kann er unser Nachdenken über Fakt und Fiktion anregen? Die Altertumswissenschaften stehen vor großen Her­ ausforderungen – wer sich identitätspolitischen Selbstbe­ spiegelungen oder Illusionen über kulturelle Identität hin­ gibt, verweigert sich ihnen.

Register ‚300‘ 16 Aeneis  79–82 Aischylos  69, 72, 73 Allison, G.  17, 74–75 Ambiguitätstoleranz 60 American Journal of Philology 18 Antigone  70–71, 86 Aristoteles  27, 42, 43, 59, 63, 83 Aufklärung  38–44, 60 Augustus 64 Bannon, S.  17, 74 Barker, P.  23 Bauer, T.  60 Beard, M.  21, 23, 49 ‚blackness‘  4, 27, 28, 30 Bohrer, K. H.  69–70 Brasillach, R.  87 Butterfield, D.  11, 34 Carr, E. H.  74 Chor in Tragödie  71–72 Classics – in den USA  14–18, 88 – in Großbritannien  18–22, 33–34, 88

Colston, E.  37 Corona-Epidemie  1, 2–3, 40, 43 ‚das nächste Fremde‘  14, 25, 45–65, 67, 68, 71, 73, 77, 84, 87 Demokratie  3, 8, 43–44, 60, 61, 62, 64, 83, 85 Demosthenes 70 Die Herakliden  86 Die Schutzflehenden 86 Dilthey, W.  4, 35, 36 Drosten, Ch.  2 Droysen, J. G.  35, 36 Eidolon  15–16, 26 Euripides  69, 72, 85, 86 Fakten  2–5, 43–44, 90 Feldherr, A.  32 Foucault, M.  26 Fridays-for-future 40 Frühe Neuzeit  87 Gauweiler, P.  31 Gildersleeve, B.  18 Gill, C.  62

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Register

Globalisierung  14, 50, 57, 64, 65 Goldhill, S.  63 Gorgias 42 Grammar Schools 33 Gumbrecht, H. U.  39 Habermas, J.  4 Hansen, M. H.  64 Hanson, V. D.  17 Hartog, F.  39 Harvard Pessimists  80 Haynes, N.  23 Hegel, G. W. F.  37, 70 Heldentum 90 Herakles 64 Herodot  58, 73 Heroicus 90 Hirschi, C.  2 Historismus  13, 35–44 Hobbes, T.  74 Hölscher, U.  14, 25, 45–56 Homer  68, 89, 90 Identitätspolitik 3–5 – essentialistisch  4, 30, 39 – und die identitäre Rechte  4, 30 – und die Linke  13, 31–34 – und die Romantik  27, 28 Ilias  51, 86, 90 Individualität 62 Islam 59–60 Jackson, P.  64 Johnson, B.  20–21, 24

Kanon  7, 28, 37, 52, 53, 54, 68, 82, 86, 90 Kant, I.  36 Kehnel, A.  61 klassisch  7, 14, 48, 51–57, 64, 65, 67, 68, 80, 87 Knox, R.  79 König Ödipus  72, 86, 87 Koselleck, R.  35 Kubitschek, G.  23 kulturelle Appropriation  29–30 kulturelle Identität  8, 13, 14, 29, 54, 58, 65, 88, 90 kulturelles Gedächtnis  57 Landwehr, A.  41 Latour, B.  5 Lowe, N.  32 Lukian 86 Machiavelli 74 May, T.  21 McMaster, H. R.  74 Medea 72 Mendelsohn, D.  23 Menke, C.  69 Menschenrechte 61 Merkel, A.  3 Metamorphosen 58 Miller, M.  23 mimesis 27 Mittelalter  39, 47, 50, 58, 61, 87 Möller, M.  46–49 Mohrenstraße 36 Morgenthau, H.  74

Register

Morley, N.  21 Münkler, H.  90 Mussolini, B.  87 Neiman, S.  38 Nietzsche, F.  7, 37, 47 Nonnos 68 Ober, J.  64 Odyssee  50, 86, 89 Odysseus  64, 81 Oexle, O.-G.  50 Ovid 58 Parry, A.  80 peer-review  3, 25 Peralta, D. P.  10, 12, 18, 26, 31, 63 Perser 72–73 Petersen, W.  64 Philostrat  86, 90 Platon  7, 42, 43, 82–85 Politischer Realismus  17, 74, 76, 77 Populismus 2 postclassicisms 34–35 postfaktisch  42–43, 90 Postkolonialismus  3, 28, 38, 67, Powell, C.  75 ‚Präsentismus‘ 39 Quoten bei wissenschaftli­chen Publikationen  3, 16, 26 Rebenich, S.  11, 12 Reflexivität 67–90

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reparative epistemic justice  11, 26 Rhodes, C.  19–20 Romantik  27, 28, 59 Schmitt, C.  23 Settis, S.  48, 49 Simon, Z. B.  40 Sklaverei  61, 62 Sloterdijk, P.  83 Snyder, Z.  16 Sokrates  38, 43, 83, 84 Sophistik 42 Sophokles  69, 70, 72, 85 Steiner, G.  68, 81 Stephens, B.  75 Strauß, F. J.  24 Strauß, S.  73 Streeck, H.  2 subtilitas applicandi 45 Szlezák, T. A.  8, 59–62 Thukydides  17, 73, 74–78, 83, 85, 87 Tragödie 68–73 Trump, D.  2, 14–15, 18, 74 Uhlmann, G.  38–39, 42–44 Ukraine 75 undocumented 32–33 Varoufakis, Y.  77 Vergil  79–82, 83, 87 Wagenknecht, S.  31 Weber, M.  35 Wilderson, F. B.  3, 27, 28, 30

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Register

Williams, M. F.  10, 18, 31 Wissen, demokratisch?  3, 42–44 Wissenschaft – und Erkenntnis  1–3, 25–26, 28–29

– und Identitätspolitik  3–5, 26–29 Zuckerberg, D.  15–16