Profession Pflege: Entwicklungen und Herausforderungen [1 ed.] 9783896447142, 9783896737144

»Wer über die Pflege spricht, spricht über eine Galaxie im Kosmos Gesundheitswesen!« so Frank Weidner anlässlich der Ges

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Profession Pflege: Entwicklungen und Herausforderungen [1 ed.]
 9783896447142, 9783896737144

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Profession Pflege: Entwicklungen und Herausforderungen

Schriften zu Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement

H ERAUSGEGEBEN

VON

P ROF . D R . M ANFRED E RBSLAND UND

P ROF . D R . E VELINE H ÄUSLER

Mit freundlicher Unterstützung des Förderverein Gesundheitsökonomie an der Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein e.V.

Eveline Häusler (Hrsg.)

Profession Pflege Entwicklungen und Herausforderungen

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89673-714-4 © Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2015 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. +49 7045 93 00 93 Fax +49 7045 93 00 94 [email protected] www.verlagwp.de

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Esser printSolutions GmbH, Bretten

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Vorwort „Wer über die Pflege spricht, spricht über eine Galaxie im Kosmos Gesundheitswesen!“1 Die in diesem Band vorgelegten Beiträge nehmen jeweils einen der Sterne dieser Galaxie in den Blick. Die Auswahl fiel auf Sterne, die momentan besonders hell leuchten – d. h. Themen, die zurzeit besonders im Fokus von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit stehen – die wenig erforscht sind oder deren nähere Untersuchung helfen kann, Einsicht in das Selbstverständnis der Pflegefachberufe zu gewinnen. Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die auf Vorträge bei den elften Gesundheitsökonomischen Gesprächen 2014 an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein zurückgehen. Die Tagung befasste sich mit der „Schlüsselstellung der Profession Pflege“. Ergänzend wurde der Artikel zur kultursensiblen Altenpflege aufgenommen. Der Beitrag von Manuel Keppler stellt die Ergebnisse einer empirischen Erhebung zum Status quo kultursensibler Altenpflege vor. Demografische und gesellschaftliche Entwicklungen werden in den kommenden Jahren voraussichtlich zu einem Anstieg der Nachfrage nach Pflegeleistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund führen. Die Ergebnisse der Befragung unter ambulanten Pflegediensten und Pflegeheimen in Baden-Württemberg legen nahe, dass es sich bei Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund nicht um eine homogene Zielgruppe handelt. Vielmehr werden sich die Anbieter auf einen, gemessen an den Herkunftsländern, hohen Grad an kultureller Diversität einzustellen haben. Darüber hinaus zeigt die Studie, in welcher Form kulturelle Gepflogenheiten bereits heute im Angebot von Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten Berücksichtigung finden und welche Gründe für das Fehlen derartiger Leistungen genannt werden. Nicht zuletzt gibt die Untersuchung Hinweise auf Handlungsoptionen im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung, um eine strategische Ausrichtung auf kultursensible Angebote erfolgreich umzusetzen. Zwanzig Jahre nach Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes im Jahr 1994 blickt Manfred Erbsland zurück auf Entstehung und Entwicklung dieses jüngsten Zweiges der Gesetzlichen Sozialversicherung 1

Weidner, Frank (2014): Professionalisierung der Pflege – Voraussetzung für eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung, Vortrag im Rahmen der 11. Gesundheitsökonomischen Gespräche am 17. Oktober 2014, Hochschule Ludwigshafen a.Rh.

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Vorwort

in Deutschland und voraus auf die Herausforderungen, die sich mit dem neuen, am Grad der Selbständigkeit orientierten Pflegebegriff sowie mit der Erhaltung des realen Leistungsniveaus der Pflegeversicherung verbinden. Der Verfasser verweist darauf, dass Kostensteigerungen, die sich z. B. aus Tariferhöhungen oder einem Anstieg der Energiepreise ergeben, bei personalintensiven und personennahen Dienstleistungen wie der Pflege nur bedingt durch produktivitätssteigernden Kapitaleinsatz kompensiert werden können. Dieser negative Preisstruktureffekt führt – unabhängig von der zudem zu erwartenden Erhöhung der Zahl der Pflegebedüftigen – dazu, dass der Pflegesektor zukünftig einen größeren Anteil am Bruttoinlandsprodukt absorbieren wird, wenn sich der reale Wert der Pflegeleistungen im Zeitablauf nicht vermindern soll. Jürgen Faltin und Heinrich Hanika betrachten die Einrichtung von Pflegekammern als Instrument, um die Stellung der Profession Pflege innerhalb des korporatistisch geprägten deutschen Gesundheitssystems zu stärken. Für Rheinland-Pfalz, das Vorreiter bei der Errichtung einer Landespflegekammer ist, werden beispielhaft der Prozess bis zur Einrichtung sowie die Ziele und Aufgaben dieser neuen berufsständischen Selbstverwaltungsorganisation dargestellt, wobei der Aufgabenkanon den klassischen kammertypischen Dreiklang umfasst: Standesvertretung, Standesförderung und Standesaufsicht. Während sich Faltin und Hanika mit dem institutionalisierten Berufsstand befassen, fokussiert Karin Kersting in ihrem Beitrag die professionell Pflegenden als Personen und sieht sie in einen unauflösbaren Widerspruch zwischen dem pflegefachlichen Anspruch (Norm) einerseits und der an ökonomischen Zwängen ausgerichteten und als normativ inakzeptabel bewerteten Praxis (Funktion) andererseits verstrickt. Im Rahmen von qualitativen Studien zum sogenannten Coolout hat die Verfasserin untersucht, wie die Befragten Szenarien mit typischen alltäglichen Konfliktsituationen zwischen Norm und Funktion deuten und welche Reaktionsmuster sich zeigen. Hieraus ergibt sich die Schnittstelle zum Beitrag von Vera Lux. Aus dem Blickwinkel einer Pflegedirektorin beschreibt sie die Steuerungsaufgaben im Zusammenhang mit der Erbringung von Pflegeleistungen im Krankenhaus und nähert sich dem Spannungsfeld zwischen pflegefachlichem Anspruch und ökonomischen Rahmenbedingungen damit gewissermaßen von der Seite der Funktion. Ausgehend von der durch die Einführung des DRG-Systems bewirkten stärkeren Einbindung in die ökonomische Gesamtverantwortung setzt sie sich mit dem Aufbau eines auf die Pflege

Vorwort

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bezogenen Bereichscontrolling auseinander und beschreibt die Neuverteilung von Aufgaben zwischen den Berufsgruppen, Case Management und Methoden der Personalbedarfsermittlung als Instrumente des Pflegemanagements. Ein besonderes Augenmerk legt sie auf das Pflege-Reporting. Mit diesem Instrument werde Transparenz geschaffen und es helfe, Diskussionen auf eine sachliche Basis zu stellen. Die Herausgeberin dankt allen Autorinnen und Autoren, durch deren Beitrag dieser Band erst möglich wurde. Frau Daniela Alter, B. Sc, gilt ein herzlicher Dank für die kompetente Unterstützung bei der Erstellung der druckreifen Fassung. Die Tagungsreihe der Gesundheitsökonomischen Gespräche sowie dieser Band werden durch den Förderverein Gesundheitsökonomie an der Hochschule Ludwigshafen e.V. finanziell gefördert. Ludwigshafen, im Juli 2015 Eveline Häusler

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Inhalt MANUEL KEPPLER

KULTURSENSIBLE ALTENPFLEGE: ERGEBNISSE EINER EMPIRISCHEN ERHEBUNG ZUM STATUS QUO IN ALTENPFLEGEEINRICHTUNGEN

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MANFRED ERBSLAND

WEITERENTWICKLUNG DER SOZIALEN PFLEGEVERSICHERUNG: HERAUSFORDERUNGEN UND ANSÄTZE

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JÜRGEN FALTIN | HEINRICH HANIKA

LANDESPFLEGEKAMMER RHEINLAND-PFALZ

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KARIN KERSTING

DIE COOLOUT-STUDIEN IN DER PFLEGE – EINE ANALYSE DES UNAUFLÖSBAREN WIDERSPRUCHS IN DEN ANFORDERUNGEN AN PFLEGENDE

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VERA LUX

LEISTUNGS- UND KOSTENSTEUERUNG IN DER PFLEGE – MANAGEMENTHERAUSFORDERUNG FÜR PFLEGEDIENSTLEITUNGEN

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AUTOREN/HERAUSGEBER

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Manuel Keppler

Kultursensible Altenpflege: Ergebnisse einer empirischen Erhebung zum Status quo in Altenpflegeeinrichtungen 1. Einleitung 2. Ausgestaltung einer kultursensiblen Altenpflege 3. Umsetzung einer kultursensiblen Altenpflege in BadenWürttemberg 4. Literatur

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Manuel Keppler

Stichwörter: Pflegebedürftigkeit, Altenpflege, Migrationshintergrund, Kultursensibilität, Bedürfnisse, Befragungsergebnisse. Zusammenfassung: Trotz der offensichtlichen Vielfalt der in Deutschland lebenden Menschen sind bis heute nur wenige Initiativen bekannt, die sich mit der pflegerischen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigen. Dabei ist abzusehen, dass demografische und gesellschaftliche Entwicklungen in den kommenden Jahren zu einem deutlichen Anstieg der zu versorgenden Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund führen werden. Verbunden mit einer zunehmenden Nachfrage nach professionellen Pflegeleistungen resultieren daraus vermehrt kulturübergreifende Begegnungen im Pflegealltag. Mithilfe von Daten für Pflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg wird überprüft, inwieweit dort kultursensibles Pflegehandeln bereits verbreitet ist.

Kultursensible Altenpflege

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Einleitung

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Im Kontext der zahlreichen Debatten um den demografischen Wandel hat auch das Thema der Pflegebedürftigkeit an öffentlichem Interesse hinzugewonnen. Die Sorge, später einmal selbst zum Pflegefall zu werden, beschäftigt heute selbst junge Menschen (Institut für Demoskopie Allensbach 2009, S. 3). Entsprechend umfangreich ist die Anzahl der Publikationen und Berichterstattungen. In deren Mittelpunkt stehen meist Analysen zum Risiko der Pflegebedürftigkeit oder Reformvorschläge zur Verbesserung der aktuellen Versorgungssituation. Dabei wird regelmäßig von einem einheitlichen Klientel ausgegangen und somit die Vielfalt der betroffenen Menschen vernachlässigt. Vergessen wird dabei, dass sich Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu einem Einwanderungsland entwickelt hat. Die Grundlage hierfür wurde bereits in den 1950er Jahren durch die gezielte Anwerbung von Gastarbeitern2 aus dem Ausland geschaffen (Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ 2001, S. 12 ff.; Bade/Oltmer 2004, S. 71). Viele dieser Migranten der ersten Generation sind trotz ursprünglicher Rückkehrabsicht in Deutschland geblieben. Kinder und Enkel sind hier geboren. Einige Mitbürger aus dieser Einwanderungsgruppe sind zwischenzeitlich aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und verbringen ihren Lebensabend in Deutschland (Zeman 2012, S. 449). Daten einer repräsentativen Infratest-Umfrage aus dem Jahr 2010 zeigen, dass heute noch vergleichsweise wenige Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund3 in Deutschland versorgt werden (Schmidt/Schneekloth 2011, S. 60 ff.). Für die kommenden Jahre muss allerdings mit einer steigenden Nachfrage nach professionellen Unterstützungsleistungen gerechnet werden. Dies ist damit zu begründen, dass in naher Zukunft mit einer überproportionalen Zunah1

Der Beitrag basiert auf einer Masterthesis, die im Jahr 2014 im Studiengang M.Sc. Versorgungssteuerung im Gesundheitswesen an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein erstellt wurde.

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Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Text die männliche Form gewählt. Die Angaben beziehen sich auf Angehörige beider Geschlechter.

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Unter Menschen mit Migrationshintergrund werden „alle zugewanderten und nicht zugewanderten Ausländer sowie alle nach 1955 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Deutschen und alle Deutschen mit zumindest einem nach 1955 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Elternteil“ verstanden (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014).

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Manuel Keppler

me der Anzahl älterer Menschen mit Migrationshintergrund zu rechnen ist (Kohls 2012a, S. 40). In Kombination mit der Abnahme familiärer Unterstützungsmöglichkeiten, die sich auch in Familien mit Migrationshintergrund vollzieht, ergibt sich daraus vermehrt die Notwendigkeit, auf professionelle Dienstleister zurückzugreifen (Kohls 2012b, S. 33 ff.). Das speziell auf diese Nachfrage ausgerichtete kultursensible Pflegehandeln wird in den folgenden Ausführungen zunächst kurz skizziert. Diese Überlegungen bilden das theoretische Fundament für die darauf folgenden Fragen zur aktuellen Verbreitung entsprechender Leistungsangebote in BadenWürttemberg.

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Ausgestaltung einer kultursensiblen Altenpflege 4

2.1 Kulturspezifische Bedürfnisse Kultursensibilität beinhaltet die „Aufmerksamkeit für die kulturellen Prägungen und Bedürfnisse pflegebedürftiger Menschen und für die Folgen des Pflegehandelns“ (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002, S. 19). Entsprechend handelnde Pflegekräfte orientieren sich an der Biografie des zu versorgenden Pflegebedürftigen. Im Mittelpunkt der Bemühungen stehen nicht allein die Herkunft, sondern die individuellen Erfahrungen des Betroffenen (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002, S. 26). Da die Individualität eines Menschen maßgeblich aus dessen kulturabhängigen Erfahrungen resultiert, ist das Wissen über kulturspezifische Erwartungen entscheidend für eine angemessene Versorgung. Dabei können entsprechende Wünsche in mehrfacher Weise durch Erfahrungen in der Vergangenheit beeinflusst werden (Lenthe 2011, S. 103). Beispielsweise beschränken sich die Aufgaben von Pflegekräften in vielen Ländern auf das Verteilen von Medikamenten oder die Koordination von Hilfskräften. Aufgaben der Grundpfle4

Der Begriff „Altenpflege“ wird in diesem Aufsatz mit der pflegerischen Versorgung nach dem SGB XI gleichgesetzt.

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ge werden dagegen oft an Pflegeassistenten oder Familienangehörige delegiert. Für Angehörige dieser Kulturkreise führt das deutsche Verständnis der Pflege, im Sinne eines eigenständigen Tätigkeitsgebiets, häufig zu Irritationen (Lenthe 2011, S. 131). Darüber hinaus können auch kulturübergreifende Interaktionen im Pflegealltag zu Missverständnissen führen. Diese sind bisher keinesfalls abschließend erforscht und beschrieben (Pfitzner 2006, S. 159). Um ein Gespür für mögliche Anforderungen an die Pflegearbeit zu vermitteln, werden nachfolgend einige relevante Aspekte beschrieben. Ein zentrales Kriterium stellt die Kommunikation zwischen Pflegebedürftigen und Pflegenden dar. Sprachbarrieren wirken sich unmittelbar auf die Qualität der Pflege aus, da relevante Informationen entweder unausgesprochen bleiben oder nicht verstanden werden. Erschwert werden entsprechende Interaktionen durch die Verwendung von Fachtermini, die selbst muttersprachlichen Klienten oft unverständlich bleiben (Zielke-Nadkarni 2013, S. 10). Neben diesen offensichtlichen verbalen Verständigungsschwierigkeiten können Missverständnisse aber auch aus nonverbalen Ausdrucksweisen resultieren. Der Umgang mit Berührungsverhalten, Gestik und Mimik variiert nicht nur zwischen einzelnen Kulturen, sondern er kann teilweise sogar eine gegensätzliche Bedeutung haben. Beispielsweise ist der direkte Blickkontakt in westlich geprägten Gesellschaften selbstverständlich. Dahingegen gilt er in asiatisch, orientalisch und afrikanisch geprägten Kulturen oft als respektlos. Dies ist insbesondere dem direkten Blickkontakt zwischen Frauen und Männern zu attestieren. Ähnliches gilt für Berührungen zwischen den Geschlechtern, die etwa in islamischen Kulturen tabu sind (Lenthe 2011, S. 104 ff.). Neben diesen gesellschaftlichen Normen sind diverse Erwartungen religiös bedingt. Besonderheiten sind hier im Zusammenhang mit dem Krankheitsverständnis beziehungsweise der jeweiligen Ursachenzuschreibung anzuführen. Neben medizinisch erklärbaren Ursachen wird Krankheit in vielen Kulturen auf magische oder naturbedingte Umstände zurückgeführt. Als entsprechendes Beispiel kann der „böse Blick“ dienen, der insbesondere in orientalischen Ländern mit Neid und Missgunst verbunden und häufig blauäugigen Menschen zugeschrieben wird (Lenthe 2011, S. 128).

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Manuel Keppler

Ergänzend zu den Unterschieden im Krankheitsverständnis ergeben sich aus der Religionszugehörigkeit auch Besonderheiten für die Grundpflege. Viele der bekannten Religionen schreiben Gläubigen bestimmte Praktiken in der Zubereitung bzw. der Aufnahme von Speisen vor. Zu deren Illustration werden nachfolgend einige Beispiele aus dem Islam beleuchtet. Gläubigen Muslimen ist das Essen von Schweinefleisch verboten. Das gilt auch für andere Produkte, die aus Schweinen gewonnen werden oder mit ihnen in Berührung gekommen sind. Zusätzlich gilt Blut als unrein, weshalb nur ausgeblutetes Fleisch gegessen wird. Mitunter lehnen gläubige Muslime auch die Einnahme von Medikamenten in Gelatinekapseln ab (Baumgartner Bicer 2007, S. 78; Lenthe 2011, S. 64). Auch die Nahrungsgabe an Schwerstpflegebedürftige kann von religiösen Vorschriften beeinflusst werden. Beispielsweise sollte das Essen muslimischen Klienten nur mit der rechten Hand gereicht werden. Im Islam gelten Körperflüssigkeiten als unrein. Zur Reinigung wird jeweils die linke Hand verwendet, weshalb diese ebenfalls als unrein gilt und beim Essen nur zur Unterstützung verwendet wird. Für gläubige Muslime gilt die Hygiene nicht nur der täglichen Körperpflege, sondern auch der rituellen Reinigung. In ihrem Glauben kommt der entsprechenden Säuberung vor jedem der fünf Tagesgebete eine zentrale Bedeutung zu. Die rituelle Reinigung hat üblicherweise unter fließendem Wasser zu erfolgen, da Muslime das Baden als unhygienisch empfinden (Zielke-Nadkarni 2013, S. 12 f.). Des Weiteren ist bei der Grundpflege zu beachten, dass es für muslimische Frauen ein Tabu darstellt, sich vor fremden Männern zu enthüllen. Daher sollten Pflegehandlungen von gleichgeschlechtlichen Personen vorgenommen werden (Lenthe 2011, S. 118). Darüber hinaus spielt die Möglichkeit, religiöse Zeremonien durchzuführen und Feiertage zu begehen für viele Gläubige eine wichtige Rolle. Von Bedeutung sind entsprechende Partizipationsmöglichkeiten in der stationären Langzeitpflege. Die genannten Bedürfnisse tangieren alle Gläubigen, variieren aber wiederum mit der Religionszugehörigkeit. Beispielsweise gilt für Muslime der Freitag als heiliger Wochentag, an dem sich vor allem Männer in die Moschee begeben, um der Predigt beizuwohnen und gemeinsam zu beten. Zusätzlich gelten das Fest des Fastenbrechens am Ende des Fastenmonats Ramadan und das islamische Opferfest als wichtige jährlich wiederkehrende Feiertage,

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die regelmäßig im Kreis der Familie verbracht und zeremoniell begangen werden (Lenthe 2011, S. 63). Neben den bereits angeführten Aspekten muss die kultursensible Ausrichtung der Pflege die Bedeutung der Familie für Klienten mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen berücksichtigen. Gerade für ältere Menschen mit Migrationshintergrund spielen Angehörige oft eine wichtige Rolle. Nach deren Rückzug aus dem Berufsleben reißen Kontakte zu deutschen Arbeitskollegen häufig ab. Oftmals intensiviert durch eine räumliche Trennung von der Mehrheitsbevölkerung findet so ein Rückzug auf die eigene Ethnie statt (Okken/ Spalleck/Razum 2008, S. 403; Weintritt 2012, S. 262). Entsprechend hoch ist der Stellenwert der Familie im Falle der Pflegebedürftigkeit. So kann sich beispielsweise der Wunsch ergeben, dass Angehörige rund um die Uhr bei ihrem stationär versorgten Verwandten sein möchten. Entsprechende Bedürfnisse werden durch kulturell geprägte Erwartungen oft noch verstärkt. Beispielsweise gilt der Krankenbesuch für Muslime als religiöse Pflicht. Zusätzlich sehen sich gläubige Angehörige dazu verpflichtet, im Falle der Pflegebedürftigkeit für die ausreichende Versorgung und Betreuung des Betroffenen zu sorgen. Diese für westliche Verhältnisse übertrieben erscheinende Fürsorge kann zu Irritationen und einem verstärkten Pflegeaufwand führen. So wird in einigen Publikationen davon berichtet, dass Pflegepersonen von Angehörigen mehr beansprucht werden als von den Pflegebedürftigen selbst (Lenthe 2011, S. 124; ZielkeNadkarni 2013, S. 9). Bereits diese komprimierte Darstellung themenspezifischer Veröffentlichungen zeigt die Komplexität einer umfassenden Berücksichtigung kulturspezifischer Aspekte in der Versorgung pflegebedürftiger Menschen mit Migrationshintergrund auf. Dabei darf die, auch innerhalb einer Kultur vorhandene, Heterogenität der Erwartungen nicht übersehen werden. Daher kann die Literatur nur dazu dienen, auf mögliche Besonderheiten aufmerksam zu machen (Baumgartner Bicer 2007, S. 79).

2.2 Transkulturelle Kompetenz Die bislang dargestellten Informationen deuten darauf hin, dass die kultursensible Ausgestaltung der Altenpflege mit umfassenden Anforderungen an Pfle-

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Manuel Keppler

gekräfte einhergeht. Eine Übersicht potenziell erforderlicher Kenntnisse und Fertigkeiten bietet das Konzept der transkulturellen Kompetenz. Dabei handelt es sich um „die Fähigkeit, individuelle Lebenswelten in der besonderen Situation und in unterschiedlichen Kontexten zu erfassen, zu verstehen und entsprechende, angepasste Handlungsweisen daraus abzuleiten“ (Domenig 2007a, S. 174). Damit wird die individuelle Situation des Pflegebedürftigen in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt (Uzarewicz 2003, S. 32). Diese gilt es zu interpretieren und in angemessenes Pflegehandeln zu überführen, ohne dabei der Gefahr vorschneller Schlüsse zu erliegen (Zielke-Nadkarni 2013, S. 2). Denn „transkulturell kompetente Fachpersonen reflektieren eigene lebensweltliche Prägungen und Vorurteile, haben die Fähigkeit, die Perspektive anderer zu erfassen und zu deuten und vermeiden Kulturalisierungen und Stereotypisierungen von bestimmten Zielgruppen“ (Domenig 2007a, S. 174). Mit dieser Definition wird von Pflegekräften eine ausgeprägte Interaktionsfähigkeit gefordert, die sich aus drei Komponenten zusammensetzt: Als grundlegender Bestandteil gilt das notwendige Hintergrundwissen, welches auf der kognitiven Ebene, aber auch durch konkrete Erfahrungen im Pflegealltag erlernt werden kann. Dabei beschränkt sich das notwendige Wissen nicht auf kulturspezifische Informationen, sondern wird durch weitere Bestandteile ergänzt (Domenig 2007a, S. 176). Als Beispiele können Kenntnisse über migrationsspezifische Lebenswelten, psychische Erkrankungen im Migrationskontext, aber auch methodische und konzeptionelle Grundkenntnisse dienen (Domenig 2007a, S. 177). Als zweite Komponente der transkulturellen Kompetenz gilt die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Für Pflegekräfte bedeutet dies, den Einfluss der eigenen kulturellen Prägungen zu hinterfragen und sich darüber hinaus die Perspektive des Klienten bewusst zu machen (Uzarewicz 2003, S. 33; Pfitzner 2006, S. 142). Neben der objektiven Beurteilung soll dies auch zum Verständnis von Verhaltensweisen beitragen, die von den eigenen Wertvorstellungen abweichen (Domenig 2007a, S. 176; Lenthe 2011, S. 162). Eng damit verbunden ist der letzte Baustein der transkulturellen Kompetenz, der als narrative Empathie bezeichnet wird. Darunter ist die Neugier und Aufgeschlossenheit für Erzählungen der Klienten zu verstehen, die beispielsweise durch aktives Zuhören und einfühlsame Rückfragen gezeigt werden kann (Domenig 2007a, S. 178).

Kultursensible Altenpflege

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2.3 Institutionelle Rahmenbedingungen Neben spezifischen Fortbildungsprogrammen wird in der Literatur die multikulturelle Rekrutierung von Pflegekräften als alternativer Ansatz zur Erlangung der notwendigen transkulturellen Kompetenzbasis diskutiert. Dabei ist allerdings zu beachten, dass eine kulturübergreifende Zusammensetzung von Pflegeteams allein nicht ausreicht, um Einrichtungen5 zu einer kultursensiblen Ausgestaltung der Altenpflege zu befähigen. Um aus einer multikulturell zusammengesetzten Gruppe von Mitarbeitern ein transkulturell arbeitendes Team zu entwickeln, bedarf es vielmehr koordinierter Anstrengungen im Sinne eines Diversity Management (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002, S. 59 f.). Dies bedeutet, Mitarbeiter mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen „als Ressource und Erfolgspotential zu begreifen und zu nutzen, aber auch Diskriminierungen zu verhindern und Chancengleichheit auszubauen“ (Lenthe 2011, S. 175). Diese Aussage verdeutlicht, dass sich die Anforderungen im Rahmen einer kultursensiblen Ausgestaltung der Altenpflege nicht auf Pflegende beschränken. Für die erfolgreiche Implementierung sind auch die notwendigen institutionellen Rahmenbedingungen zu schaffen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den prozessverantwortlichen Führungskräften zu, deren Aufgabenprofil in sechs Handlungsfeldern zusammengefasst werden kann. Der erste Bereich, die Personalverantwortung, umfasst nicht nur die Rekrutierung neuer Mitarbeiter und die Organisation von Fortbildungsmaßnahmen. Zusätzlich sind Möglichkeiten zur selbstkritischen Reflexion und des teaminternen Dialoges über die Erfahrungen im Pflegealltag zu schaffen (Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2013, S. 5). Dies bedeutet auch, auftretende Konflikte anzusprechen, zu hinterfragen und Pflegekräfte bei der Bewältigung von Unsicherheiten und Ängsten zu unterstützen (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002, S. 37). Entsprechende Diskussionen erweitern das für die Entwicklung der transkulturellen Kompetenz erforderliche Erfahrungswissen (Lenthe 2011, S. 169). Eng mit der qualitativen und quantitativen Personalverantwortung verbunden ist das zweite Handlungsfeld, die Vorbildfunktion des Managements für das kultursensible Handeln ihrer Mitarbeiter. Diese sind auf den Umgang mit kultu5

Unter „Einrichtungen“ werden Pflegeeinrichtungen im Sinne des § 71 SGB XI verstanden.

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Manuel Keppler

rell geprägten Bedürfnissen der Klienten vorzubereiten, für ein individualisiertes Pflegehandeln zu sensibilisieren und letztlich täglich zu angemessenem Wirken zu motivieren (Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2013, S. 5). Die dazu notwendige positive Einstellung gegenüber Menschen aus fremden Kulturen setzt auch für Führungskräfte ein hohes Maß an transkultureller Kompetenz voraus (Lenthe 2011, S. 174). Darüber hinaus wird prozessverantwortlichen Führungsfunktionen eine Schlüsselrolle in der Öffentlichkeitsarbeit zugeschrieben. Dieser Anspruch ist mit den bestehenden Zugangsbarrieren zu Leistungen der Altenpflege und möglichen Vorbehalten älterer Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber professioneller Unterstützung zu begründen (Zeman 2012, S. 453). Diese können nur überwunden werden, wenn Einrichtungen auf ihre potenziellen Klienten zugehen (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002, S. 91). Erreicht werden kann dies beispielsweise durch mehrsprachige Informationsmaterialien, Veranstaltungen oder Multiplikatoren, worin die Verknüpfung zum vierten Handlungsfeld zu sehen ist. Für die Kontaktaufnahme mit potenziellen Nutzern ist die Zusammenarbeit mit informellen Gruppen, unter Zugriff auf die lokale Infrastruktur, zu empfehlen. Ein entsprechendes Beispiel sind muttersprachliche Ärzte, die oftmals maßgeblichen Einfluss auf die Versorgungsgestaltung von pflegebedürftigen Menschen mit Migrationshintergrund haben (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002, S. 97). Darüber hinaus kann die Zusammenarbeit mit Migrantenberatungsstellen und Glaubensgemeinschaften als vertrauensbildende Maßnahme dienen (Domenig 2007b, S. 359). Ein umfangreiches Netzwerk an Multiplikatoren hilft Pflegeeinrichtungen bei der Akquise neuer Klienten. Zusätzlich können über entsprechende Kooperationspartner auch ehrenamtliche Helfer gewonnen werden. Diese können Pflegekräfte beispielsweise in der alltäglichen Kommunikation mit fremdsprachigen Pflegebedürftigen bzw. deren Angehörigen unterstützen (Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2013, S. 8). Auf der Ebene der Organisationsstruktur ergeben sich weitere Anforderungen, die insbesondere für die Langzeitversorgung in Pflegeheimen von Bedeutung sind. In der Literatur werden entsprechende organisationale Transformationsprozesse als transkulturelle Öffnung beschrieben (Domenig 2007b, S. 348). Diese strategische Neuausrichtung der Einrichtung zielt darauf ab, die Organisationsstrukturen an die Bedürfnisse von Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund

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anzupassen und so bestehende Zugangsbarrieren abzubauen. Die adäquate Umsetzung kann betroffenen Klienten die Inanspruchnahme professioneller Unterstützungsleistungen erleichtern und eine Art Heimatgefühl vermitteln, das sich beispielsweise positiv auf die Lebensqualität von demenziell erkrankten Klienten auswirkt (Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2013, S. 3). Die beschriebene Neuausrichtung einer Pflegeeinrichtung ist ein langwieriger und umfassender Prozess, der zumindest in der Anfangsphase einen erheblichen Mehraufwand bedeutet (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002, S. 45). Zusätzlich können in diesem Zusammenhang Investitionen in die Infrastruktur der Einrichtung erforderlich werden (Domenig 2007b, S. 364). Als entsprechende Beispiele können die mehrsprachige Beschilderung oder Umbaumaßnahmen der Einrichtungsküche im Hinblick auf die getrennte Zubereitung von kulturspezifischen Speisen angeführt werden (Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2013, S. 6). Dementsprechend werden im sechsten Handlungsfeld zusätzliche Mittel zur Finanzierung der Maßnahmen benötigt, die beispielsweise durch eine Umverteilung innerhalb der Organisation, Spenden oder über Förderprogramme beschafft werden können. Bei adäquater Umsetzung können sich die investierten Mehraufwendungen langfristig amortisieren oder gar zu Einsparungen führen. Dies ist dann der Fall, wenn die kultursensible Versorgung zu einem Abbau von Zugangsbarrieren führt und somit regelmäßig neue Klienten akquiriert werden können. Zusätzlich kann die Ausrichtung des Pflegehandelns auf die individuellen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen zu einer höheren Mitarbeiterzufriedenheit und damit zu einer geringeren Fluktuation beitragen (Domenig 2007b, 359 ff.). Um den Erfolg der organisationalen Neuausrichtung zu gewährleisten und die Entwicklung der einzelnen Prozessinhalte zu überwachen, ist ergänzend deren kontinuierliche Evaluation zu empfehlen. So gewonnene Informationen können als Grundlage für die Verbesserung und Modifizierung der Maßnahmen dienen und einen transkulturellen Lernprozess in Gang setzen (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002, S. 48).

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Manuel Keppler

Umsetzung einer kultursensiblen Altenpflege in Baden-Württemberg

3.1 Ausgangssituation und Rahmenbedingungen Aufgrund der vergleichsweise geringen Publikationsdichte zur Umsetzung kultursensibler Altenpflegekonzepte wurde als Basis für die folgenden Aussagen eine Befragung der Pflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg initiiert. In dem genannten Bundesland lebten im Jahr 2011 2.673.340 Menschen mit Migrationshintergrund. Der Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt mit 25,7% deutlich über dem Niveau von Deutschland (19,2%). Innerhalb des Bundeslandes sind dabei erhebliche regionale Unterschiede festzustellen. Der geringste Anteil wird für den Landkreis Emmendingen (15,6%), der Höchste für die Stadt Pforzheim (46,8%) dokumentiert (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014). Bezüglich der Altersstruktur der im Südwesten lebenden Personen sind keine wesentlichen Abweichungen zur Vergleichsgruppe in Deutschland festzustellen. Bezogen auf die jeweilige Gesamtbevölkerung fällt der Anteil der jungen Menschen unter 20 Jahren mit 20,1% in Baden-Württemberg etwas höher aus als im gesamten Bundesgebiet (18,6%). Darüber hinaus gehören mit 4,9% geringfügig weniger Personen der Altersklasse ab 80 Jahren an, mit der ein besonders hohes Pflegerisiko assoziiert wird (Kuhlmey/Blüher 2011, S. 190). Für das gesamte Bundesgebiet liegt der Wert bei 5,1%. Noch geringer fällt die Differenz bezogen auf die jeweiligen Untergruppen von hochaltrigen Personen mit Migrationshintergrund aus. 1,9% der in Baden-Württemberg lebenden Menschen haben das 80. Lebensjahr bereits vollendet und sind der untersuchten Bevölkerungsgruppe zuzuordnen. Für das Bundesgebiet liegt der Wert bei 1,8%. Aus rein demografischer Sicht kann daher von einer vergleichbaren Nachfrage nach pflegerischen Leistungen in dieser Bevölkerungsgruppe ausgegangen werden. In der Pflegestatistik des Jahres 2011 werden für Baden-Württemberg insgesamt 278.295 Pflegebedürftige dokumentiert. Die Pflegequote liegt mit 2,7% unter dem Gesamtwert für Deutschland von 3,1% (Eigene Berechnungen; Sta-

Kultursensible Altenpflege

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tistisches Bundesamt 2013b, S. 6; Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014). Allerdings ist die Anzahl pflegebedürftiger Menschen im Zeitraum von 2009 bis 2011 mit 13,1% überproportional stark angestiegen. Der Vergleichswert für die Bundesrepublik liegt bei 7% (Statistisches Bundesamt 2013b, S. 13). Die professionelle Versorgung der Pflegebedürftigen im Südwesten wird durch 1.110

ambulante

Pflegedienste

und

1.543

Pflegeheime

sichergestellt

(Gölz/Weber 2013, S. 6).

3.2 Erhebungsziele und Forschungsfragen Die im Vorfeld der Studie durchgeführten Recherchen deuten auf ein noch geringes aber steigendes Interesse an professionellen Pflegeleistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund hin. Entsprechend zielte die durchgeführte Untersuchung darauf ab, die aktuelle Nachfragesituation in BadenWürttemberg darzustellen und Informationen zur Umsetzung kultursensibler Angebote in ambulanten Pflegediensten und Pflegeheimen zu erhalten. Es sollte ein Überblick über organisatorische Strukturen, unterschiedliche Nutzergruppen sowie fördernde und hemmende Faktoren für die Kultursensibilität der Einrichtungen im Südwesten gewonnen werden. Für die detaillierte Beschreibung der genannten Aspekte wurden vor Konzeption der Studie folgende Leitfragen definiert:  Nehmen Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund die professionelle

Unterstützung von ambulanten Pflegediensten oder Pflegeheimen in Anspruch?  Welche allgemeinen Pflegeleistungen fragen sie ggf. nach?  Treten in der Versorgung pflegebedürftiger Menschen mit Migrationshin-

tergrund Schwierigkeiten oder Konflikte auf und wie werden diese bewältigt?  Bieten diese Altenpflegeeinrichtungen ihren Klienten auch kultursensible

Leistungen an?  Welche Einflussfaktoren verhindern ggf. entsprechende Angebote?  Welche speziellen Leistungsangebote gibt es?

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Manuel Keppler

 Welche Maßnahmen zur transkulturellen Öffnung und Verbreitung der

Angebote werden von den Einrichtungen im Südwesten getroffen?  Welche Rolle spielen Mitarbeiter mit Migrationshintergrund im Zusam-

menhang mit dem kultursensiblen Leistungsangebot?  Konzentriert sich das Angebot auf städtische Gebiete oder wird es auch

in ländlichen Regionen vorgehalten?

3.3 Methodische Vorgehensweise 3.3.1 Fragebogendesign Auf Basis der zuvor definierten Leitfragen wurden Fragebögen für ambulante Pflegedienste und Pflegeheime entwickelt und auf die Besonderheiten der zu befragenden Einrichtungsarten ausgerichtet. Eine entsprechende Differenzierung erfolgte bei Fragen zu allgemeinen Pflegeleistungen, charakteristischen Ausprägungen der Organisationsstruktur und einrichtungsspezifischen Angeboten der kultursensiblen Altenpflege. Konzipiert wurden die Fragebögen mit Unterstützung des „Forums für eine kultursensible Altenhilfe“. Dieses repräsentiert einen freiwilligen Zusammenschluss von diversen Verbänden, Organisationen und Institutionen der Altenhilfe sowie angrenzenden Tätigkeitsfeldern. Hervorgegangen ist das Forum aus dem Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ (Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2014). Beide Fragebogenvarianten gliederten sich in drei inhaltliche Blöcke und einen zusätzlichen Abschnitt mit Möglichkeiten für Anmerkungen zur durchgeführten Befragung und der Anforderung der Studienergebnisse (Abbildung 1).

Kultursensible Altenpflege

25

Ja A10 A11 Ja Ja A1

A3

A4

A5

A8

A6

A2

D1 Nein Ja Ja

Ja Ja B2

B4

Nein B11 Nein

Nein

Ja C11

Nein

Ja C10

Nein

Ja Ja Ja Ja Ja Ja

1 C1

C2

Nein

B9 B10

A6

B6

B3+A6

B5

B3

B7

B8

C3

A6

C4

C5

D3

D2

Ja

Nein A7 Nein

B1

Ja

A9

C6

A6

C7

C8

A6

C9

A6 Nein

Nein Nein

Nein Nein

Nein Nein

Nein

Legende: Filterfragen Beginn Fragenblock

2 3

A2: Betreuen Sie derzeit Klienten mit Migrationshintergrund? A6: Bieten Sie (unabhängig davon, ob Sie derzeit Menschen mit Migrationshintergrund betreuen) Ihren Klienten kultursensible Leistungen an? A9: Haben Sie bei der Betreuung von Klienten mit Migrationshintergrund jemals kulturspezifische Schwierigkeiten oder Konflikte erlebt? B3: Arbeiten derzeit Mitarbeiter mit Migrationshintergrund für Ihre Einrichtung? B6: Werden Ihre Mitarbeiter mit Migrationshintergrund für spezielle kultursensible Aufgaben eingesetzt? B10: Bieten Sie Ihren Mitarbeitern die Möglichkeit zur Teilnahme an speziellen Fortbildungsmaßnahmen? C1: Welche Institution (Träger) vertritt Ihre Einrichtung in rechtlichen Angelegenheiten? C4: Haben Sie für das Angebot kultursensibler Leistungen Ihre Organisationsstruktur verändert? C5: Sind bei der organisatorischen Neugestaltung Schwierigkeiten aufgetreten? C7: Bewerben Sie die angebotenen Leistungen der kultursensiblen Altenpflege? C9: Stehen Ihnen zusätzliche Ressourcen zur Gestaltung der kultursensiblen Angebote zur Verfügung? D2: Wünschen Sie nach Auswertung der Daten eine Zusammenfassung der Ergebnisse?

Abb. 1: Ablaufstruktur der Fragebögen. Quelle: Eigene Darstellung.

Ergänzt wurden die Fragebögen um eine einleitende Schilderung der Ausgangssituation und methodische Hinweise. Die eingesetzten Fragebögen waren teilstandardisiert. Sie enthielten überwiegend geschlossene Fragen mit auswählbaren Antwortvorgaben, die in geeigneten Fragestellungen um die Möglichkeit einer zusätzlichen Freitextangabe erweitert wurden. Einige offene Fragestellungen, bei denen Angaben in Zahlen, Stichworten oder kurzen Sätzen zu machen waren, vervollständigten die Fragebögen. Bei einem Großteil der Fragen bestand die Möglichkeit, auf Angaben zu verzichten. Lediglich einige grundlegende Entscheidungsfragen (Filter) mussten beantwortet werden. Diese dienten auch der Steuerung der nachfolgenden Themen. Wurde die Frage nach der Bereitstellung kultursensibler Leistungen beispielsweise verneint, führte dies zu einem Verzicht auf nachfolgende Fragen zur Ausgestaltung dieser Angebote und der spezifischen Organisationsstruktur. Da für die Durchführung der Studie keine finanziellen Mittel zur Verfügung standen, wurde die Web-Survey-Methode als Befragungstechnik gewählt. Die

26

Manuel Keppler

Gestaltung der Fragebögen erfolgte unter Nutzung der Qualtrics-SurveySoftware, welche von der Hochschule Ludwigshafen am Rhein für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt wird (Qualtrics Labs Incorporated 2012, S. 2). Durch die Konzeption als Online-Erhebung konnte eine große Anzahl von Einrichtungen angeschrieben werden. Darüber hinaus sollte die Methodik dazu beitragen, den Zeitaufwand für die Teilnehmer möglichst gering zu gestalten (Schnell/Hill/Esser 2011, S. 369).

3.3.2 Studienpopulation Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte auf Basis des Gesamtkataloges der Pflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg (Statistisches Landesamt BadenWürttemberg 2013). Eine Begrenzung des Adressatenkreises auf Einrichtungen, die tatsächlich Menschen mit Migrationshintergrund versorgen oder ihr Leistungsangebot kultursensibel gestalten, war weder mit dem verwendeten Verzeichnis noch mit anderweitig verfügbaren Quellen möglich. Einrichtungsart Kriterium Datensätze insgesamt Abzüglich Datensätze ohne E-Mail-Adressen Abzüglich Dubletten Angeschriebene Einrichtungen

Tab. 1:

Ambulante Pflegedienste

Pflegeheime

1.070

1.326

248

38

5

102

817

1.186

Adressatenkreis der Studie. Quelle: Eigene Darstellung.

Daher wurden alle verzeichneten ambulanten Pflegedienste und Pflegeheime in den Kreis der potenziellen Teilnehmer aufgenommen (Tabelle 1). Als Ausschlusskriterium galt die fehlende Angabe einer E-Mail-Adresse. Zusätzlich herausgenommen wurden die im Einrichtungsverzeichnis mehr als einmal aufgeführten Kontaktadressen. Insgesamt umfasste die Vollerhebung 817 ambulante Pflegedienste und 1.186 Pflegeheime.

3.3.3 Pretest Vor Beginn der Datenerhebung wurden die verwendeten Fragebögen von 20 Personen getestet (Tabelle 2). Um die Vielzahl der zu überprüfenden Kriterien

Kultursensible Altenpflege

27

entsprechend zu würdigen, waren daran Angehörige aus verschiedenen Professionen beteiligt. Der Pretest zielte insbesondere darauf ab, die Verständlichkeit und Anordnung der verwendeten Fragen zu überprüfen. Darüber hinaus wurden die fachlichen Aspekte der Studie durchgesehen. Die technische Überprüfung umfasste die Handhabung der Web-Anwendungen und die Funktionalität der Filterführung. Zusätzlich wurde die Dauer der Befragung und die damit einhergehende Belastung der Teilnehmer beleuchtet (Schnell/Hill/ Esser 2011, S. 340). Profession

Teilnehmer

Examinierte Pflegekräfte

4

Verwaltungsmitarbeiter mit Schwerpunkt Altenpflege

12

Controller und Analysten

2

Fachkräfte für Informationstechnologie

2

Teilnehmer am Pretest insgesamt

20

Tab. 2: Pretest-Teilnehmer. Quelle: Eigene Darstellung.

3.3.4 Datenerhebung Der Versand der Fragebögen erfolgte am 22.05.2014 getrennt nach Einrichtungsarten. Sowohl ambulante Pflegedienste als auch Pflegeheime erhielten eine E-Mail-Benachrichtigung mit einer kurzen Schilderung des Sachverhalts. Die jeweiligen Anschreiben enthielten die Verknüpfung zum einrichtungsspezifischen Online-Fragebogen und die Bitte um Unterstützung der Forschungsbemühungen. Für Rückfragen während der Studienlaufzeit wurden zusätzlich die Kontaktdaten des Autors angegeben. Hinweise auf den voraussichtlichen Zeitaufwand für das Ausfüllen des jeweiligen Fragebogens und die Zusicherung der Anonymität der Angaben komplettierten die Anschreiben. In der praktischen Umsetzung führte der E-Mail-Versand zu einer Vielzahl von Fehlermeldungen. Die Adressen von 108 ambulanten Pflegediensten und 208 Pflegeheimen waren nicht bzw. nicht mehr erreichbar (Tabelle 3). Dadurch reduzierte sich die potenzielle Teilnehmerzahl entsprechend auf 709 bzw. 978.

28

Manuel Keppler Einrichtungsart

Kriterium Angeschriebene Einrichtungen

Ambulante Pflegedienste 817

Pflegeheime 1.186

Abzüglich nicht erreichbarer E-Mail-Adressen

108

208

Potenzielle Teilnehmer

709

978

Tab. 3:

Erreichbare Einrichtungen. Quelle: Eigene Darstellung.

Um die Rücklaufquote zu erhöhen, wurden die erreichbaren Einrichtungen am 06.06.2014 an die Teilnahme erinnert. Ambulante Pflegedienste und Pflegeheime erhielten wiederum getrennt voneinander ein modifiziertes Erinnerungsschreiben. Darin wurden die potenziellen Teilnehmer nochmals zur Partizipation ermutigt und explizit auf die Bedeutung der individuellen Beiträge für die Aussagekraft der Studienergebnisse hingewiesen. Da die verwendete Software keine Rückschlüsse auf die Einrichtungen erlaubt, enthielten die Nachrichten zusätzlich eine Dankesformel. Diese war an diejenigen Einrichtungsleiter gerichtet, die die Fragebögen zum Erinnerungszeitpunkt bereits ausgefüllt hatten. Abschließend wurden die beiden Online-Anwendungen am 16.06.2014 für weitere Zugriffe durch die Einrichtungen gesperrt und die vorliegenden Informationen in die Analyse übernommen.

3.3.5 Rücklauf und Datenauswertung Während der knapp vierwöchigen Studienlaufzeit haben 88 ambulante Pflegedienste und 109 Pflegeheime ihren einrichtungsspezifischen Fragebogen ausgefüllt. Bezogen auf die Anzahl der potenziellen Teilnehmer entspricht dies einer Rücklaufquote von 12,4% für den ambulanten und 11,2% für den stationären Bereich (Tabelle 4). Einrichtungsart Kriterium Potenzielle Teilnehmer

Ambulante Pflegedienste 709

Pflegeheime

88

109

12,4

11,2

Beantwortete Fragebögen Rücklaufquote (%)

Tab. 4:

978

Rücklaufquoten. Quelle: Eigene Darstellung.

Im Hinblick auf die Beantwortung der vorab definierten Forschungsfragen wurden die vorliegenden Datensätze nach Abschluss der Befragung auf die-

Kultursensible Altenpflege

29

jenigen Einrichtungen begrenzt, die tatsächlich Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund betreuen. Durch diese Vorgehensweise sollte ein möglichst genaues Bild zu deren Nachfrage nach professioneller Unterstützung gezeichnet und gleichzeitig die Verbreitung von kultursensiblen Angeboten in diesen Einrichtungen beschrieben werden. Der Schwerpunkt der nachfolgend dargestellten Analysen wurde somit auf die praktischen Erfahrungen und Herausforderungen gelegt, die mit der Versorgung von Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund einhergehen. Durch diese inhaltliche Fokussierung in der Auswertungspraxis reduzierte sich die Anzahl der betrachteten Einrichtungen auf 38 ambulante Pflegedienste und 44 Pflegeheime. Die Auswertung der Daten erfolgte mithilfe der Berichtsfunktion in der bereits für die Gestaltung der Fragebögen eingesetzten Qualtrics-Survey-Software (Qualtrics Labs Incorporated 2012, S. 198 ff.).

3.4 Studienergebnisse 3.4.1 Einrichtungsprofile Die betrachteten Einrichtungen betreuen insgesamt 6.712 Klienten. Davon werden 3.527 ambulant und 3.185 stationär in Pflegeheimen versorgt (Tabelle 5). Die nähere Betrachtung der Pflegestufen spiegelt die in Baden-Württemberg tatsächlich vorherrschenden Verhältnisse wider. Schwer- und schwerstpflegebedürftige Menschen werden überwiegend in Pflegeheimen versorgt, während Pflegebedürftige der Stufen 0 und I eher Hilfe von ambulanten Pflegediensten erhalten (Statistisches Bundesamt 2013a, S. 8; 2013c, S. 8). Pflegebedürftige

Pflegestufe 0

Pflegestufe I

Pflegestufe II

Einrichtungsart Ambulante Pflegedienste (n=38) Pflegeheime (n=44)

Tab. 5:

Pflegestufe III (inkl. Härtefälle)

absolut

783

1.480

904

360

relativ

22,2%

42,0%

25,6%

10,2%

absolut

194

1.075

1.240

676

relativ

6,1%

33,8%

38,9%

21,2%

Anzahl der zu versorgenden Pflegebedürftigen. Quelle: Eigene Darstellung.

Die Mehrzahl der betrachteten ambulanten Pflegedienste befindet sich in freigemeinnütziger Trägerschaft (53,3%). Weitere 40% gehören einem privaten und 6,7% einem öffentlichen Träger an (Abbildung 2). Auch im Bereich der

30

Manuel Keppler

Pflegeheime haben die freigemeinnützigen Teilnehmer eine hohe Bedeutung (53,1%). Darüber hinaus werden 25% der betrachteten stationären Einrichtungen privat und 21,9% von der öffentlichen Hand getragen. Verglichen mit der tatsächlich vorherrschenden Trägerstruktur weist die dargestellte Verteilung zwischen den Trägern einige Besonderheiten auf. Ambulante Pflegedienste in privater Trägerschaft sind in der Studie deutlich unterrepräsentiert. In der Pflegestatistik wird deren Anteil an allen ambulanten Einrichtungen in BadenWürttemberg mit 51,5% dokumentiert (Statistisches Bundesamt 2013a, S. 6). Stark überrepräsentiert sind öffentliche Träger, die in der tatsächlich vorliegenden Struktur mit 3,2% eine eher untergeordnete Rolle spielen. Zusätzlich fällt der Anteil der betrachteten freigemeinnützigen Pflegedienste höher aus als in der amtlichen Statistik. Im Bereich der Pflegeheime sind öffentliche Träger deutlich überrepräsentiert. In der Pflegestatistik beträgt ihr Anteil an den stationär versorgenden Einrichtungen lediglich 9,1% (Statistisches Bundesamt 2013c, S. 6). Entsprechend unterrepräsentiert sind freigemeinnützige und private Träger. Ambulante Pflegedienste (n=30)

Pflegeheime (n=32) 25,0%

40,0% 53,1%

53,3%

21,9% 6,7% Freigemeinnütziger Träger

Öffentlicher Träger

Privater Träger

Freigemeinnütziger Träger

Pflegestatistik 2011

Öffentlicher Träger

Privater Träger

Pflegestatistik 2011

31,8% 45,3% 51,5% 59,1% 9,1% 3,2% Freigemeinnütziger Träger

Öffentlicher Träger

Privater Träger

Freigemeinnütziger Träger

Öffentlicher Träger

Privater Träger

Abb. 2: Trägerstruktur der teilnehmenden Einrichtungen. Quelle: Statistisches Bundesamt 2013a, S. 6; 2013c, S. 6.

Die Differenzierung nach der regionalen Ansiedlung der betrachteten Einrichtungen zeigt, dass 23,3% der ambulanten Pflegedienste und 21,8% der Pflege-

Kultursensible Altenpflege

31

heime in ländlichen Regionen bis 9.999 Einwohner niedergelassen sind (Abbildung 3). In Großstädten mit mindestens 100.000 Einwohnern sind 20% bzw. 15,6% der Einrichtungen angesiedelt. Ein bedeutender Teil der ambulanten Pflegedienste (36,7%) und Pflegeheime (43,8%) liegt in Mittelstädten mit einer Einwohnerzahl von 20.000 bis 99.999. Weitere 20% bzw. 18,8% haben ihren Standort in kleineren Städten errichtet. Ambulante Pflegedienste (n=30) 23,3%

Pflegeheime (n=32)

20,0%

15,6%

21,8%

18,8%

20,0%

43,8%

36,7% Großstadt (ab 100.000 Einwohner)

Großstadt (ab 100.000 Einwohner)

Mittelstadt (ab 20.000 bis 99.999 Einwohner)

Mittelstadt (ab 20.000 bis 99.999 Einwohner)

Kleinstadt (ab 10.000 bis 19.999 Einwohner)

Kleinstadt (ab 10.000 bis 19.999 Einwohner)

Ländliche Region (bis 9.999 Einwohner)

Ländliche Region (bis 9.999 Einwohner)

Abb. 3: Ansiedlung der teilnehmenden Einrichtungen. Quelle: Eigene Darstellung.

3.4.2 Klienten mit Migrationshintergrund Der Anteil der versorgten Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund an allen Klienten liegt in 77,1% der betrachteten ambulanten Pflegedienste und 78,6% der Pflegeheime unter 10% (Tabelle 6). Lediglich 8,6% der erstgenannten und 2,4% der zweitgenannten Einrichtungsarten haben angegeben, dass die zu untersuchende Personengruppe mindestens 25% aller betreuten Pflegebedürftigen ausmacht. Anteil Einrichtungsart Ambulante Pflegedienste (n=35) Pflegeheime (n=42) Tab. 6:

Unter 5%

5% bis 10% bis 25% bis 50% unter 10% unter 25% unter 50% und mehr

n

15

12

5

2

1

%

42,8%

34,3%

14,3%

5,7%

2,9%

n

20

13

8

1

0

%

47,6%

31,0%

19,0%

2,4%

0,0%

Anteil der Klienten mit Migrationshintergrund. Quelle: Eigene Darstellung.

32

Manuel Keppler

Die Betrachtung der Herkunftsländer der versorgten Klienten mit Migrationshintergrund verdeutlicht die Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe (Tabelle 7).6 In ambulanten Pflegediensten werden am häufigsten Pflegebedürftige aus der Türkei und Italien versorgt. 76,5% der betrachteten Teilnehmer aus dieser Einrichtungsart geben an, dass sie derzeit Klienten aus diesen Ländern betreuen. Als weitere bedeutende Herkunftsländer werden Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina von 67,6%, die Russische Föderation und die Ukraine von 55,9% sowie Rumänien von 29,4% der Einrichtungen genannt. Pflegeheimleiter führen am häufigsten Klienten aus der Russischen Föderation und der Ukraine (69%) sowie Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina (40,5%) an. Im Gegensatz zur ambulanten Hilfe werden zusätzlich Pflegebedürftige aus Polen (38,1%) in einer relevanten Anzahl ausgewiesen. Auffällig ist zusätzlich, dass lediglich 31% der Pflegeheime aus der Türkei stammende Klienten angeben. Im Vergleich zu ambulanten Pflegediensten ist dieses Herkunftsland damit in der stationären Versorgung eher schwach vertreten. In der Gesamtbetrachtung der Angaben liegt der Schwerpunkt in beiden Einrichtungsarten auf der Versorgung von Klienten aus Europa. Die restlichen vier Kontinente spielen eine eher untergeordnete Rolle. Mehrfachnennungen erlaubt % n 26 Türkei 13 23 Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina 17 26 Italien 7 19 Russische Föderation und Ukraine 29 7 Griechenland 8 10 Rumänien 10 5 Polen 16  Ambulante Pflegedienste (n=34)  Pflegeheime (n=42) Herkunftsland bzw. Kontinent

Tab. 7:

6

76,5% 31,0% 67,6% 40,5% 76,5% 16,7% 55,9% 69,0% 20,6% 19,0% 29,4% 23,8% 14,7% 38,1%

Herkunftsländer der Klienten mit Migrationshintergrund – Auszug. Quelle: Eigene Darstellung.

Beim Ausfüllen der Fragebögen haben nicht alle Teilnehmer auch die auf einer Frage aufbauenden Folgefragen beantwortet. Daher kann es vorkommen, dass die Anzahl der Teilnehmer (n) bei den Fragestellungen innerhalb eines Kapitels variiert.

Kultursensible Altenpflege

33

Die Antworten der Teilnehmer zeigen für beide Einrichtungsarten die hohe Bedeutung pflegerischer Tätigkeiten in der Leistungsnachfrage durch Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund (Tabelle 8). Ambulante Pflegedienste (n=33)

Pflegeheime (n=41)

Nachgefragte allgemeine Leistungen

n

%

Nachgefragte allgemeine Leistungen

n

%

Grundpflegerische Tätigkeiten

31

93,9% Vollstationäre Dauerpflege

39

95,1%

Behandlungspflege

29

87,9% Kurzzeitpflege

24

58,5%

14

34,1%

11

26,8%

Individuelle Beratung zu den angebotenen 57,6% Leistungen Unterstützung bei der Teilnahme am sozialen 51,5% Leben

Hauswirtschaftliche Versorgung

19

Verhinderungspflege

17

Betreuungsleistungen

15

45,5% Unterstützung bei persönlichen Angelegenheiten

9

22,0%

Ausstattung mit/Verwendung von Pflegehilfsmitteln

12

36,4% Tages- oder Nachtpflege

8

19,5%

Individuelle Beratung zu den angebotenen Leistungen

11

33,3% Seelsorgerische Betreuung

6

14,6%

Essen auf Rädern

6

18,2% Wohnangebote

4

9,8%

Beratung zur pflegegerechten Wohnungsanpassung

5

15,2%

Mehrfachnennungen erlaubt

Tab. 8:

Leistungsinanspruchnahme durch Klienten mit Migrationshintergrund. Quelle: Eigene Darstellung.

Im ambulanten Bereich gaben 93,9% der Einrichtungsverantwortlichen an, dass die Betreuten Unterstützung bei der grundpflegerischen Versorgung nachfragen. Darüber hinaus werden Behandlungspflege (87,9%) und Verhinderungspflege (51,5%) oft genannt. Von Pflegeheimleitungen werden mit 95,1% die vollstationäre Dauerpflege und mit 58,5% die Kurzzeitpflege am häufigsten angeführt. Ergänzend wird für beide Einrichtungsarten ein hoher Bedarf an individueller Beratung zu den angebotenen Leistungen ausgewiesen. Im ambulanten Bereich spielen, den Antworten zufolge, zusätzlich die hauswirtschaftliche Versorgung mit 57,6% und Betreuungsleistungen mit 45,5% eine wichtige Rolle.

3.4.3 Leistungen der kultursensiblen Altenpflege Von den betrachteten Einrichtungen, die derzeit Klienten mit Migrationshintergrund versorgen, geben jeweils neun Teilnehmer an, dass sie keine kultursensiblen Leistungen vorhalten. Bei der darauf folgenden Frage nach den

34

Manuel Keppler

Hinderungsgründen verweisen 55,6% der ambulanten Pflegedienste und 75% der Pflegeheime auf den fehlenden Bedarf an entsprechenden Angeboten (Tabelle 9). Im ambulanten Bereich werden zusätzlich fehlende zeitliche bzw. personelle Ressourcen (33,3%) und unzureichende Sprachkenntnisse (22,2%) mehrfach genannt. Mit jeweils einer Antwort (11,1% bzw. 12,5%) verweisen vergleichsweise wenige Teilnehmer auf mangelnde finanzielle Ressourcen bzw. die fehlende Berücksichtigung der Leistungsangebote in den Vergütungsregelungen des SGB XI als entsprechenden Hinderungsgrund. Ambulante Pflegedienste (n=9) Hinderungsgründe

Pflegeheime (n=8) n

%

Hinderungsgründe

n

%

6

75,0%

Kein Bedarf

5

55,6% Kein Bedarf

Keine Zeit/fehlendes Personal

3

33,3% Fehlende Akzeptanz durch deutsche Heimbewohner

1

12,5%

Sonstige: Fehlende Sprachkenntnisse

2

22,2% Kein Geld/fehlende Berücksichtigung im SGB XI

1

12,5%

Kein Geld/fehlende Berücksichtigung im SGB XI

1

11,1% Keine Zeit/fehlendes Personal

1

12,5%

Kein Interesse

1

11,1% Unzureichende Infrastruktur

1

12,5%

Kollidieren mit vorgesehenen Zeitansätzen

1

11,1%

Mehrfachnennungen erlaubt

Tab. 9:

Hintergründe für fehlende Angebote kultursensibler Leistungen. Quelle: Eigene Darstellung.

Der überwiegende Teil der betrachteten Einrichtungen gibt an, dass Klienten kultursensible Leistungen angeboten werden. Für den ambulanten Bereich liegt der Anteil entsprechender Antworten bei 73,5%, für die stationäre Pflege bei 78,6% (Tabelle 10). Einrichtungsart Ambulante Pflegedienste (n=34) Pflegeheime (n=42)

Ja

Nein

25

9

73,5%

26,5%

33

9

78,6%

21,4%

Tab. 10: Angebot kultursensibler Leistungen. Quelle: Eigene Darstellung.

Bei der darauf folgenden Bitte um Konkretisierung dieser Angebote weisen alle ambulanten Pflegedienste (n=24) darauf hin, dass sie kulturelle Gepflogenheiten in der Grundpflege berücksichtigen (Tabelle 11). Darüber hinaus geben mit 91,7% nahezu alle ambulanten Anbieter an, dass sie die Familie in Pflegeabläufe integrieren. Die muttersprachliche Beratung und Betreuung

Kultursensible Altenpflege

35

von Klienten wird von der Hälfte der betrachteten Einrichtungen genannt. Eine vergleichsweise geringe Verbreitung wird mit 20,8% der Einbindung ehrenamtlich tätiger Menschen mit Migrationshintergrund und der Integration religiöser Wünsche in die Pflegeplanung (16,7%) attestiert. Bemerkenswert ist zusätzlich, dass lediglich zwei ambulante Einrichtungen (8,3%) auf den regelmäßigen Einsatz von muttersprachlichen Verträgen oder Informationsmaterialien verweisen. Ambulante Pflegedienste (n=24) Angebot an kultursensiblen Leistungen

n

%

Berücksichtigung kultureller Gepflogenheiten in Grundpflege (z.B. gleichgeschlechtliche Pflege)

24

100,0%

Integration der Familie in Pflegeabläufe

22

91,7%

Muttersprachliche Beratung und Betreuung

12

50,0%

Einbindung ehrenamtlich tätiger Menschen mit Migrationshintergrund in die Versorgung

5

20,8%

Integration religiöser Wünsche in die Pflegeplanung (z.B rituelle Reinigungen)

4

16,7%

Muttersprachliche Verträge/Informationsmaterial

2

8,3%

Essen auf Rädern mit kultursensibler Ausrichtung (z.B. geschächtete Fleischprodukte)

1

4,2%

Mehrfachnennungen erlaubt

Tab. 11: Kultursensible Angebote durch ambulante Pflegedienste. Quelle: Eigene Darstellung.

Auch für Pflegeheime wird die Berücksichtigung kultureller Gepflogenheiten in der Grundpflege als häufigster Angebotsbaustein angeführt. 96,9% der betrachteten stationären Einrichtungen verweisen darauf. Im Gegensatz zur ambulanten Versorgung spielen darüber hinaus kulturspezifische Essensangebote mit 75% der Antworten eine bedeutende Rolle (Tabelle 12). 68,8% der antwortenden Pflegeheime geben an, dass Angehörige ihrer Klienten in aktivierende Angebote wie beispielsweise die Erinnerungsarbeit eingebunden werden. Als weitere einrichtungsspezifische Angebote werden die Berücksichtigung der Herkunftskultur bei der Raumgestaltung (59,4%) und die Möglichkeit zur Umsetzung religiöser Rituale und Zeremonien (50%) häufig genannt. Immerhin ein Viertel der Pflegeheime verweist zusätzlich auf Übernachtungsangebote für Angehörige ihrer Klienten.

36

Manuel Keppler

Pflegeheime (n=32) Angebot an kultursensiblen Leistungen

n

%

Berücksichtigung kultureller Gepflogenheiten in Grundpflege (z.B. gleichgeschlechtliche Pflege)

31

96,9%

Kulturspezifische Essensangebote (z.B. geschächtete Fleischprodukte)

24

75,0%

Integration von Angehörigen in aktivierende Angebote (z.B. Erinnerungsarbeit, Musik)

22

68,8%

Muttersprachliche Beratung und Betreuung

20

62,5%

Berücksichtigung der Herkunftskultur bei der Raumgestaltung (Heimatgefühl)

19

59,4%

Möglichkeit zur Umsetzung religiöser Rituale und Zeremonien (z.B. Gebetsräume, Festtage)

16

50,0%

Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige

8

25,0%

Möglichkeit zur Teilhabe am sozialen Leben (z.B. Transport zu Migrantenorganisationen)

5

15,6%

Muttersprachliche Verträge/Informationsmaterial

1

3,1%

Mehrfachnennungen erlaubt

Tab. 12: Kultursensible Angebote durch Pflegeheime. Quelle: Eigene Darstellung.

3.4.4 Kulturspezifische Schwierigkeiten und Konflikte Die Frage nach erlebten kulturspezifischen Schwierigkeiten und Konflikten in der Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund haben 14 ambulante Pflegedienste und 20 Pflegeheime bejaht. In der darauf folgenden Bitte um Konkretisierung entsprechender Situationen werden Missverständnisse aufgrund von Sprachbarrieren von 76,9% der 13 antwortenden Vertreter der Erstgenannten und von 90% der zweitgenannten Einrichtungsart genannt. Darüber hinaus wird der Ablehnung von Pflegemaßnahmen durch das andere Geschlecht durch 84,6% bzw. 75% der Teilnehmer eine hohe Bedeutung attestiert (Tabelle 13). Einrichtungsart

Ambulante Pflegeheime Pflegedienste (n=20) (n=13)

Schwierigkeiten/Konflikte

n

%

n

%

Kulturspezifische Tagesstruktur kollidierte mit Pflegeprozess

4

30,8%

2

10,0%

Missverständnisse aufgrund von Sprachbarrieren

10

76,9%

18

90,0%

Pflege durch Pflegekräfte des gleichen Geschlechts abgelehnt

11

84,6%

15

75,0%

Pflegemaßnahmen aufgrund differierendem Körper-/Krankheitsverständnis abgelehnt

8

61,5%

6

30,0%

Schwierigkeiten bei der Integration religiöser Wünsche (z.B. Reinigung mit fließendem Wasser)

3

23,1%

5

25,0%

Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit mit Angehörigen

9

69,2%

6

30,0%

Therapeutische/diagnostische/prophylaktische Maßnahmen abgelehnt

5

38,5%

5

25,0%

Unterschiedliche Auffassung zur Ausgestaltung der pflegerischen Tätigkeit

8

61,5%

7

35,0%

Mehrfachnennungen erlaubt

Tab. 13: Schwierigkeiten und Konflikte im Pflegealltag. Quelle: Eigene Darstellung.

Kultursensible Altenpflege

37

Neben den dargestellten Auswahlmöglichkeiten wird von Erfahrungen in der stationären Versorgung berichtet, bei denen die Klienten das pflegerische Handeln als diskriminierend eingeschätzt haben. In einer weiteren Freitexteingabe wird die Ablehnung kulturspezifischer Speisen beschrieben, die aus der Befürchtung heraus resultierte, dass trotz anderweitiger Kennzeichnung im Speiseplan Schweinefleisch gereicht wird. Bemerkenswert sind die Bewältigungsstrategien, mit denen die Einrichtungen den beschriebenen Schwierigkeiten und Konflikten begegnen. Auffällig ist dabei, dass die Freitextangaben der beiden Einrichtungsarten nahezu übereinstimmen. In diesen beschreiben die Verantwortlichen den Einsatz von ausreichend qualifiziertem Personal als wichtige Ressource zur Bewältigung entsprechender Situationen. Dabei werden ausreichende Sprachkenntnisse und notwendiges Wissen über kulturelle und religiöse Bedürfnisse als relevante Kenntnisse genannt. Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass die Erfahrung der Mitarbeiter ein geeignetes Mittel zur Bewältigung kulturspezifischer Schwierigkeiten und Konflikte darstellt. Diese resultiert nach Auffassung der Verantwortlichen aus einem eigenen Migrationshintergrund, zahlreichen Gesprächen mit Menschen aus anderen Kulturen, langjährigen Pflegeerfahrungen, einer möglichst geringen Personalfluktuation und insbesondere der Geduld der Pflegekräfte. Begünstigt wird der notwendige Lernprozess des Personals durch Teamsupervisionen und regelmäßige Fallbesprechungen. Als weitere Optionen werden der Einsatz von Dolmetschern und die langjährige Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen angeführt. Letztlich wird der engen Kooperation mit Angehörigen eine entsprechende Bedeutung für die Bewältigung von kulturspezifischen Schwierigkeiten oder Konflikten beigemessen.

3.4.5 Personelle Ressourcen Zur Bewältigung der täglichen Aufgaben stehen den betrachteten ambulanten Pflegediensten derzeit 1.154 und den Pflegeheimen 2.164 fest angestellte Mitarbeiter zur Verfügung. Bei genauerer Prüfung der Antworten sind deutliche Unterschiede zwischen den beiden Einrichtungsarten zu erkennen (Tabelle 14).

38

Manuel Keppler Einrichtungsart

Berufsabschluss

Ambulante Pflegedienste (n=33) absolut %

Pflegeheime (n=36) absolut

%

Dreijährig (examinierte) Pflegeausbildung

694

60,1%

795

36,7%

Einjährig (examinierte) Pflegeausbildung

94

8,1%

215

9,9%

Hauswirtschaftlicher Berufsabschluss

52

4,5%

114

5,3%

Sonstiger berufsqualifizierender Abschluss

96

8,3%

180

8,4%

Akademischer Abschluss

59

5,2%

55

2,5%

Ohne Berufsabschluss

159

13,8%

805

37,2%

Tab. 14: Personelle Ressourcen. Quelle: Eigene Darstellung.

Die Angaben für den ambulanten Bereich zeigen, dass der überwiegende Teil (60,1%) der dort Beschäftigten eine dreijährige Pflegeausbildung abgeschlossen hat. Den Antworten zufolge macht diese Gruppe in Pflegeheimen lediglich 36,7% der gesamten Belegschaft aus. Auffällig hoch ist in dieser Einrichtungsart dahingegen der ausgewiesene Anteil von Beschäftigten ohne Berufsabschluss (37,2%). Helfer

Nein

Einrichtungsart Ambulante Pflegedienste (n=32) Pflegeheime (n=34)

17 53,1% 3 8,8%

Ja: Bis zu 4 Helfer 7 21,9% 9 26,5%

Ja: 5 bis 9 Helfer 0 0,0% 3 8,8%

Ja: 10 bis 24 Helfer 4 12,5% 6 17,6%

Ja: 25 bis 49 Helfer 1 3,1% 6 17,6%

Ja: 50 oder mehr Helfer 3 9,4% 7 20,6%

Tab. 15: Unterstützung durch freiwillige Helfer. Quelle: Eigene Darstellung.

Immerhin 46,9% der ambulanten Pflegedienste und 91,2% der Pflegeheime geben an, dass sie neben ihren fest angestellten Mitarbeitern Unterstützung durch freiwillige Helfer erhalten (Tabelle 15). Entsprechende Beispiele sind Ehrenamtliche, Praktikanten oder Menschen, die Bundesfreiwilligendienst bzw. ein freiwilliges soziales Jahr leisten. Die Anzahl der zusätzlichen Kräfte variiert dabei stark, wie die Verteilung der Antworten auf die vorab definierten Auswahlkategorien zeigt. Auffällig ist die Unterstützungsleistung von 50 und mehr Freiwilligen, die für 20,6% der stationären Einrichtungen angegeben wird. Für einen Großteil der antwortenden ambulanten Pflegedienste (84,4%) und alle Pflegeheime wird bestätigt, dass dort auch fest angestellte Mitarbeiter oder freiwillige Helfer mit Migrationshintergrund beschäftigt werden. Die darauf folgende Frage zum Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund an der gesamten Belegschaft offenbart wiederum Unterschiede zwischen

Kultursensible Altenpflege

39

den Einrichtungsarten. Von den 25 darauf antwortenden ambulanten Pflegediensten werden überwiegend die Kategorien ausgewählt, die einen geringen Anteil der fest angestellten Mitarbeiter mit Migrationshintergrund an der gesamten Belegschaft beschreiben (Tabelle 16). Beispielsweise haben 52% der Einrichtungsleitungen die Klasse mit einem Belegschaftsanteil von unter 5% ausgewählt. Ihre Kollegen aus der stationären Versorgung weisen die Kategorie von 10% bis unter 25% am häufigsten aus. Im Bereich der freiwilligen Helfer mit Migrationshintergrund wird von beiden Einrichtungsarten die Klasse mit einem Anteil von unter 5% am häufigsten ausgewiesen. Anteil

Unter 5%

Einrichtungsart Ambulante Pflegedienste (n=25) Pflegeheime (n=34)

5% bis 10% bis 25% bis unter 10% unter 25% unter 50% 24,0% 16,0% 8,0%

50% und mehr 0,0%

Mitarbeiter

52,0%

Helfer

70,0%

20,0%

0,0%

10,0%

Mitarbeiter

5,9%

26,5%

32,4%

29,4%

5,9%

Helfer

53,6%

32,1%

3,6%

7,1%

3,6%

0,0%

Tab. 16: Anteil Beschäftigter mit Migrationshintergrund. Quelle: Eigene Darstellung.

Bezüglich der Herkunftsländer bzw. Kontinente der Beschäftigten mit Migrationshintergrund zeigt sich ein ähnlich heterogenes Bild wie bei den zu versorgenden Pflegebedürftigen. Allerdings stimmen bei dieser Frage die drei von den Einrichtungsarten am häufigsten genannten Länder überein (Tabelle 17). Mehrfachnennungen erlaubt Herkunftsland bzw. Kontinent

Mitarbeiter Helfer n % n % 7 25,9% 3 11,1% Türkei 19 55,9% 3 8,8% 12 44,4% 2 7,4% Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina 24 70,6% 6 17,6% 6 22,2% 5 18,5% Italien 13 38,2% 2 5,9% 15 55,6% 4 14,8% Russische Föderation und Ukraine 31 91,2% 5 14,7% 3 11,1% 1 3,7% Griechenland 5 14,7% 1 2,9% 7 25,9% 2 7,4% Rumänien 20 58,8% 2 5,9% 11 40,7% 2 7,4% Polen 23 67,6% 2 5,9%  Ambulante Pflegedienste (n=27)  Pflegeheime (n=34)

Tab. 17: Herkunftsländer der Beschäftigten mit Migrationshintergrund – Auszug. Quelle: Eigene Darstellung.

40

Manuel Keppler

Den Antworten zufolge kommen die meisten Mitarbeiter mit Migrationshintergrund aus der Russischen Föderation bzw. der Ukraine. 55,6% der Vertreter von ambulanten Pflegediensten und 91,2% der Pflegeheime haben diese Kategorie ausgewählt. Danach folgen Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, die von 44,4% bzw. 70,6% der Teilnehmer genannt werden. Am dritthäufigsten wird Polen mit 40,7% bzw. 67,6% als entsprechendes Herkunftsland für Mitarbeiter mit Migrationshintergrund ausgewiesen. Darüber hinaus werden von den stationär arbeitenden Einrichtungen, im Gegensatz zur angegebenen Klientenstruktur, häufig Teammitglieder aus der Türkei (55,9%) angeführt. Bei der Frage nach deren Aufgabengebiet geben 57,9% (n=11) der antwortenden ambulanten Pflegedienste und 77,8% (n=21) der Pflegeheime an, dass ihre Beschäftigten mit Migrationshintergrund für spezielle kultursensible Aufgaben eingesetzt werden (Tabelle 18). Von diesen Teilnehmern wird mit 100% bzw. 95,2% die Pflege von Menschen mit Migrationshintergrund als häufigstes Einsatzgebiet für ihre fest angestellten Mitarbeiter angeführt. Weitere oft genannte Tätigkeitsbereiche sind die kollegiale Beratung zu kulturspezifischen Problemlagen (54,5% bzw. 71,4%), die Beratung von Klienten bzw. deren Angehörigen mit Migrationshintergrund (72,7% bzw. 66,7%) und Übersetzungsdienste (63,6% bzw. 81%). Bemerkenswert selten (9,1% bzw. 14,3%) wird die Antwortoption des Netzwerkaufbaus oder der Netzwerkpflege, beispielsweise zu Migrantenorganisationen, ausgewiesen. Ähnliches gilt für freiwillige Helfer mit Migrationshintergrund, die dem Antwortverhalten entsprechend nur selten für spezielle kultursensible Aufgaben eingesetzt werden.

Kultursensible Altenpflege

41 Mehrfachnennungen erlaubt

Aufgabe

Mitarbeiter

Helfer

n

%

n

%

Vermittlung von Hintergrundwissen über Migration und Herkunftsländer

4

36,4%

0

0,0%

7

33,3%

0

0,0%

Kollegiale Beratung zu kulturspezifischen Problemlagen

6

54,5%

0

0,0%

15

71,4%

0

0,0%

Vorleben kultursensibler Denk- und Handlungsweisen

2

18,2%

0

0,0%

6

28,6%

0

0,0%

Pflege von Menschen mit Migrationshintergrund

11

100,0%

1

9,1%

20

95,2%

2

9,5%

Beratung von Klienten bzw. der Angehörigen mit Migrationshintergrund

8

72,7%

0

0,0%

14

66,7%

2

9,5%

7

63,6%

2

18,2%

17

81,0%

3

14,3%

1

9,1%

1

9,1%

3

14,3%

1

4,8%

Übersetzungsdienste Netzwerkaufbau und Netzwerkpflege  Ambulante Pflegedienste (n=11)

 Pflegeheime (n=21)

Tab. 18: Aufgabengebiete Beschäftigter mit Migrationshintergrund. Quelle: Eigene Darstellung.

Bei der Frage nach der notwendigen Qualifikation für die kultursensible Versorgung ihrer Klienten unterscheiden sich die Angaben der Einrichtungen (Tabelle 19). Von den Vertretern der ambulanten Pflegedienste wird die Beachtung von kulturspezifischen Höflichkeitsregeln und Umgangsformen mit 85,7% am häufigsten genannt. Ähnlich bedeutend sind den Verantwortlichen Kenntnisse über religiöse Rituale bzw. kulturspezifische Lebensgewohnheiten, Krankheitsverständnisse und Pflegepraktiken sowie die kulturelle Empathie (je 81%). Diese Fähigkeiten spielen auch im stationären Bereich eine bedeutende Rolle. Am häufigsten werden von den Pflegeheimleitungen jedoch ausreichende Sprachkenntnisse gefordert (88,9%). Darüber hinaus spielt aus ihrer Sicht auch der Umgang mit tabuisierten Themen, wie beispielsweise dem Tod oder der Intimsphäre, eine besonders wichtige Rolle (70,4%).

42

Manuel Keppler

Qualifikation Ausreichende Sprachkenntnisse

Mehrfachnennungen erlaubt n

%

13

61,9%

24

88,9%

Kulturspezifische Höflichkeitsregeln und Umgangsformen

18

85,7%

23

85,2%

Kenntnisse über religiöse Rituale und kulturspezifische Lebensgewohnheiten

17

81,0%

21

77,8%

Fähigkeit zur partnerschaftlichen Konfliktberatung im Team

8

38,1%

11

40,7%

17

81,0%

21

77,8%

17

81,0%

22

81,5%

12

57,1%

19

70,4%

11

52,4%

11

40,7%

7

33,3%

Kenntnisse über kulturspezifische Krankheitsverständnisse und Pflegepraktiken Kulturelle Empathie Umgang mit tabuisierten Themen Fähigkeit das Denken und Handeln infrage zu stellen (Selbstreflexion) Frustrationstoleranz Bereitschaft zur ständigen persönlichen Weiterentwicklung

7

25,9%

14

66,7%

12

44,4%

 Ambulante Pflegedienste (n=21)  Pflegeheime (n=27) Tab. 19: Notwendige Qualifikationen. Quelle: Eigene Darstellung.

Die Basis für das dargestellte Qualifikationsniveau soll nach überwiegender Auffassung der Verantwortlichen (76,2% bzw. 77,8%) bereits in der Ausbildung gelegt werden (Tabelle 20).

Kultursensible Altenpflege

Qualifikationsmethode

43 Mehrfachnennungen erlaubt n

%

16

76,2%

21

77,8%

16

76,2%

17

63,0%

Einrichtungsübergreifender Erfahrungsaustausch

10

47,6%

10

37,0%

Schriftliches Informationsmaterial zu Religion, Sprache, Ethnizität etc.

13

61,9%

19

70,4%

Reflexion kulturübergreifender Erfahrungen im Team

15

71,4%

17

63,0%

13

61,9%

20

74,1%

11

52,4%

18

66,7%

Ausbildung Interkulturelle Fortbildungsprogramme

Erfahrungen im Pflegealltag Dialog mit Klienten, Angehörigen und anderen Beteiligten

 Ambulante Pflegedienste (n=21)  Pflegeheime (n=27)

Tab. 20: Qualifikationsmethoden. Quelle: Eigene Darstellung.

An anderer Stelle wird von der Leitung eines ambulanten Pflegedienstes auch explizit darauf hingewiesen, dass kultursensible Inhalte in der Altenpflegeausbildung immer noch zu kurz kommen. Im ambulanten Bereich werden darüber hinaus interkulturelle Fortbildungsprogramme (76,2%) und die Reflexion kulturübergreifender Erfahrungen im Team (71,4%) häufig angeführt. Für die Pflegeheimverantwortlichen spielen die im Pflegealltag gesammelten Erfahrungen die zweitwichtigste Rolle (74,1%). Darüber hinaus sehen sie schriftliche Informationsmaterialien und den Dialog mit Klienten bzw. deren Angehörigen als besonders geeignete Qualifikationsmethoden an. Weitere bemerkenswerte Erkenntnisse zur Art der Qualifikationsvermittlung ergeben sich aus den Freitextangaben bei den Fragen nach Teilnahmemöglichkeiten der Belegschaft an entsprechenden Fortbildungsprogrammen bzw. möglicher Hinderungsgründe. Hier weisen Vertreter der Pflegeeinrichtungen mehrfach darauf hin, dass sich ihre Mitarbeiter Fortbildungsmaßnahmen selbst aussuchen dürfen. Dabei treffen Fortbildungsangebote zur kultursensiblen Altenpflege bislang auf keine Nachfrage in der Belegschaft. Zusätzlich wird an anderer Stelle die geringe Verfügbarkeit geeigneter Fortbildungsprogramme bemängelt.

44

Manuel Keppler

3.4.6 Kultursensible Organisationsstrukturen Im Bereich der Organisationsentwicklung sind die durch kultursensible Angebote ausgelösten Veränderungen überschaubar. 19% der ambulanten Pflegedienste und 33,3% der Pflegeheime geben an, dass sie ihre Organisationsstruktur an das erweiterte Leistungsportfolio angepasst haben (Tabelle 21). Sturkturinformation Organisationsstruktur wurde für das Angebot kultursensibler Leistungen angepasst

Mehrfachnennungen erlaubt n % 4 19,0%

Bausteine der kultursensiblen Altenpflege werden beworben

9

33,3%

2

9,5%

4

14,8%

Einrichtungen erhalten zusätzliche Mittel zur Gestaltung der kultursensiblen Angebote

0

0,0%

1

3,7%

Evaluation der Inanspruchnahme von bzw. der Erfahrungen mit kultursensiblen Angeboten

16

76,2%

18

66,7%

 Ambulante Pflegedienste (n=21)  Pflegeheime (n=27) Tab. 21: Kultursensible Organisationsstruktur. Quelle: Eigene Darstellung.

Mit 9,5% bzw. 14,8% weisen vergleichsweise wenige Teilnehmer darauf hin, dass sie potenzielle Klienten mit Migrationshintergrund gezielt auf ihre kultursensiblen Angebote aufmerksam machen. Nahezu alle Einrichtungen machen durch ihre Antworten deutlich, dass ihnen keine zusätzlichen Mittel zur Ausgestaltung des veränderten Leistungsangebots zur Verfügung stehen. Lediglich eine Pflegeheimleitung verweist auf zusätzliche Ressourcen, die allerdings aus einer organisationsinternen Umverteilung resultieren. Durch ihr Antwortverhalten hervorgehoben wird von den Teilnehmern dahingegen die Bedeutung der Evaluation der kultursensiblen Angebote. 76,2% der betrachteten Einrichtungen aus dem ambulanten und 66,7% aus dem stationären Bereich geben an, dass sie entsprechende Analysen bereits durchführen. Immerhin ein ambulanter Pflegedienst und zwei Pflegeheime verweisen dabei auf die Beteiligung eines externen Anbieters.

Kultursensible Altenpflege

45

3.5 Diskussion Die vergleichsweise geringe Rücklaufquote aus den versendeten Fragebögen muss als Limitation der Ergebnisse diskutiert werden. Studien mit ähnlichen Fragestellungen weisen Teilnahmeraten von 19,7% bis 43,8% aus (Kolleck 2007, S. 264; Lotze/Hübner 2008, S. 2; Barg et al. 2013, S. 38). Die zweitgenannte Untersuchung von Lotze und Hübner wurde allerdings im Auftrag des Gesundheitsamtes Bremen durchgeführt. In der Literatur wird ein entsprechender institutioneller Hintergrund als förderlich für die Partizipation an den Forschungsbemühungen beschrieben (Cook/Heath/Thomson 2000, S. 827). Somit ist dieser Wert kaum vergleichbar mit der im Rahmen einer Masterthesis durchgeführten Befragung. Neben dem fehlenden institutionellen Hintergrund kann die geringe Teilnahme mit den Erkenntnissen aus diversen persönlichen und schriftlichen Rückmeldungen der angeschriebenen Einrichtungsleitungen teilweise erklärt werden. Zunächst hat die gewählte Befragungsmethode und die damit unterstellte Affinität im Umgang mit Onlinelösungen sicherlich nicht alle potenziellen Teilnehmer angesprochen. Diesbezüglich hätten alternative Varianten der Fragebögen zum Ausdrucken Abhilfe schaffen können. Allerdings sind diese ohne ein angemessenes Forschungsbudget nicht zu realisieren. Weitere Rückmeldungen deuten darauf hin, dass die verwendete Bezeichnung der „Studie zur kultursensiblen Altenpflege“ und der im Anschreiben genannte Bezug zur Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund zu einer Vorselektion des Teilnehmerkreises geführt haben. Bislang ist kein Einrichtungsverzeichnis verfügbar, das Rückschlüsse auf die Versorgung von Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund oder eine kultursensible Leistungsgestaltung zulässt. In der Literatur wird die Betroffenheit der potenziellen Teilnehmer von dem gewählten Befragungsthema als bedeutender Einflussfaktor auf die Partizipationsbereitschaft diskutiert (Maurer/Jandura 2009, S. 67). Entsprechend sind die Rückmeldungen einiger kleinen Pflegeeinrichtungen in ländlichen Regionen zu interpretieren. Diese haben bewusst auf eine Teilnahme verzichtet, da sie selbst keine oder nur wenige Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund betreuen. Mehrere potenzielle Teilnehmer haben zusätzlich auf den häufigen Eingang von Teilnahmeanfragen für wissenschaftliche Studien hin-

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Manuel Keppler

gewiesen. Im Alltag bedeutet die Beteiligung an entsprechenden Forschungsbemühungen eine zeitliche Mehrbelastung für die Befragten. Daher kann sich die in der Einladung angegebene Umfragedauer von 15 Minuten negativ auf die Teilnahmebereitschaft der Verantwortlichen ausgewirkt haben. Trotz der vergleichsweise geringen Rücklaufquoten ist die absolute Teilnehmerzahl als Stärke der durchgeführten Befragung zu sehen. Die bereits angesprochenen Studien mit ähnlichen Schwerpunkten weisen zwischen 49 und 127 teilnehmende Einrichtungen (Tabelle 22) aus (Kolleck 2007, S. 264; Lotze/ Hübner 2008, S. 2; Barg et al. 2013, S. 38). Selbst mit der durchgeführten Begrenzung der Studienergebnisse auf Einrichtungen, die aktuell Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund versorgen, ist der Umfang der Befragung mit den aufgeführten Studien vergleichbar. Es kann davon ausgegangen werden, dass durch die dargestellte Reduktion des Teilnehmerkreises valide Informationen zur aktuellen Versorgungssituation der betrachteten Bevölkerungsgruppe zur Verfügung stehen. Gleiches ist für die Umsetzung kultursensibler Angebote innerhalb dieser Einrichtungen und den damit einhergehenden Herausforderungen anzunehmen. Quelle

Studienbezeichnung

Region

Teilnehmer

Kolleck (2007)

Kultursensible Pflege in ambulanten Pflegediensten

Berlin

76

Lotze/Hübner (2008)

Migranten in der ambulanten Pflege

Bremen/ Bremerhaven

49

Barg et al. (2013)

Angebotsstruktur für ältere Migranten in Einrichtungen der Altenhilfe

Frankfurt am Main

127

Eigene (2014)

Kultursensible Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund

BadenWürttemberg

82

Tab. 22: Vergleichsstudien zur kultursensiblen Altenpflege. Quelle: Kolleck 2007, S. 264; Lotze/ Hübner 2008, S. 2; Barg et al. 2008, S. 38.

Die dargestellten Studienergebnisse vermitteln den Eindruck, dass die pflegerische Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund in Baden-Württemberg noch eine vergleichsweise geringe Bedeutung hat. Diese Wahrnehmung deckt sich mit den Erkenntnissen, die in den genannten Vergleichsstudien beschrieben werden (Kolleck 2007, S. 266; Lotze/Hübner 2008, S. 5; Barg et al. 2013, S. 44). In der allgemeinen Literatur wird diesbezüglich auf Zugangsbarrieren und Vorbehalte der betrachteten Bevölkerungsgruppe gegenüber der

Kultursensible Altenpflege

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pflegerischen Versorgung verwiesen (Zeman 2012, S. 461). Ob diese auch in Baden-Württemberg vorhanden sind, kann abschließend nur durch eine repräsentative Befragung der betroffenen Personen beantwortet werden. Durch die vergleichsweise geringe Nachfrage nach Pflegeleistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund fehlt auch der Handlungsdruck zur flächendeckenden Implementierung kultursensibler Angebote. Neben dem fehlenden Bedarf stellen unzureichende quantitative und qualitative Personalkapazitäten sowie möglicherweise fehlende finanzielle Ressourcen Hinderungsgründe für die Erweiterung des Leistungsportfolios dar. Bei der entsprechenden Fragestellung wurde diese Antwortoption vergleichsweise selten gewählt. In den abschließenden Bemerkungen weist eine bereits kultursensibel arbeitende Einrichtung allerdings explizit darauf hin, dass die angebotenen Leistungen ohne adäquate Vergütung nicht aufrechterhalten werden können. Entsprechende Hinderungsgründe werden auch in der Vergleichsstudie für die Stadt Frankfurt am Main angeführt (Barg et al. 2013, S. 48). Bezüglich der weiteren Verbreitung kultursensibler Angebote sind somit auch die politischen Akteure gefordert. Die derzeitige Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes und die damit einhergehende Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen bieten eine ideale Gelegenheit, die beschriebenen Leistungen in den Vergütungsvereinbarungen des SGB XI zu berücksichtigen. Ein Großteil der kultursensibel handelnden Einrichtungen berichtet von kulturspezifischen Schwierigkeiten und Konflikten im Pflegealltag. Als Hauptursache für entsprechende Irritationen werden Sprachbarrieren genannt. Zusätzlich bereiten die Ablehnung einer gegengeschlechtlichen Versorgung in beiden Einrichtungsarten und die Zusammenarbeit mit Angehörigen im ambulanten Bereich Schwierigkeiten. Als geeignete Bewältigungsstrategien werden neben der Vermittlung von kulturspezifischem Wissen zahlreiche Gespräche mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, langjährige Erfahrungen und die Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen angeführt. Darüber hinaus wird dem Einsatz von Pflegekräften mit Migrationshintergrund eine Schlüsselrolle für die Bewältigung dieser Situationen attestiert. Ähnliche Ergebnisse werden wiederum in der Studie von Barg et al. ausgewiesen (Barg et al. 2013, S. 51). Insgesamt verdeutlichen diese Eindrücke, dass eine qualitativ hochwertige Umsetzung der kultursensiblen Altenpflege nicht kurzfristig erreicht werden kann.

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Daher ist die frühzeitige Ausrichtung der Organisation auf zukünftige Herausforderungen zu empfehlen. Bei Betrachtung der weiteren Ergebnisse fällt auf, dass bislang nur wenige kultursensibel arbeitende Einrichtungen ihre Organisationsstruktur an ihr modifiziertes Leistungsangebot angepasst haben. Dies ist insofern bemerkenswert, da in der Literatur die transkulturelle Öffnung und die damit einhergehende Ausrichtung der Angebote auf die Bedürfnisse der Klienten mit Migrationshintergrund als wesentliches Erfolgskriterium für die Umsetzung kultursensibler Leistungen beschrieben wird (Lenthe 2011, S. 175). Vermutlich ist der Grund für die geringe Bereitschaft zu strukturellen Veränderungen darin zu sehen, dass den Einrichtungen dafür nur im Ausnahmefall erweiterte Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Allerdings muss auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass Möglichkeiten zur gezielten Bewerbung der kultursensiblen Angebote bislang nahezu ungenutzt bleiben. Diesbezüglich bleibt fraglich, wie Menschen mit Migrationshintergrund im Kontext möglicher Informationsdefizite und Zugangsbarrieren auf die Angebote aufmerksam werden. In der Praxis können hier beispielsweise die oftmals vorhandenen Ressourcen von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund genutzt werden, um den Kontakt zu potenziellen Klienten herzustellen oder Netzwerke mit Migrantenorganisationen und anderen Interessenvertretungen aufzubauen. Durch diese Maßnahmen kann zumindest die Nachfrage nach den angebotenen Leistungen gestärkt werden (Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2013, S. 4). Abschließend ist noch auf einen Aspekt hinzuweisen, der in der durchgeführten Studie nicht berücksichtigt, in der abschließenden Bewertung allerdings von mehreren Pflegeheimleitungen aufgegriffen wurde: Dabei handelt es sich um den Umgang mit demenziell erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund, die in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit ihre sprachlichen und motorischen Fähigkeiten einbüßen. Schwierigkeiten werden spätestens ab dem Zeitpunkt erwartet, in dem selbst Angehörige den Pflegebedürftigen nicht mehr verstehen. Diese Aussagen verdeutlichen, dass Pflegekräften in den kommenden Jahren noch eine Vielzahl an kulturspezifischen Irritationen im Pflegealltag bevorstehen wird. Daher gilt es, rechtzeitig die entsprechenden strukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen und auch die Forschungsbemühungen rund um die beschriebene Problematik zu intensivieren.

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Literatur

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Forum für eine kultursensible Altenhilfe (2014): Geschichte des Forums. Internet: http://www.kultursensible-altenhilfe.net/ueberuns/geschichte.html. (28.02.2015). Gölz, U./Weber, M. (2013): Pflege in Baden-Württemberg – zu Hause oder im Heim? Ergebnisse der Pflegestatistik 2011. Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 6. Stuttgart: Statistisches Landesamt BadenWürttemberg. Institut für Demoskopie Allensbach (2009): Pflege in Deutschland. Ansichten der Bevölkerung über Pflegequalität und Pflegesituation. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung im Auftrag der Marseille Kliniken AG. Allensbach: Institut für Demoskopie Allensbach (ifd). Kohls, M. (2012a): Demographie von Migranten in Deutschland. Challenges in Public Health. Band 63. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag. Kohls, M. (2012b): Pflegebedürftigkeit und Nachfrage nach Pflegeleistungen von Migrantinnen und Migranten im demographischen Wandel. Forschungsbericht 12. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Kolleck, B. (2007): Kultursensible Pflege in ambulanten Pflegediensten. Pflege & Gesellschaft 12 (3). S. 263 – 275. Kuhlmey, A./Blüher, S. (2011): Demografische Entwicklung in Deutschland. Konsequenzen für Pflegebedürftigkeit und pflegerische Versorgung. In: Schaeffer, D.; Wingenfeld, K. (Hrsg.). Handbuch Pflegewissenschaft. Neuauflage. Weinheim: Juventa Verlag. S. 185 – 198. Lenthe, U. (2011): Transkulturelle Pflege. Kulturspezifische Faktoren erkennen – verstehen – integrieren. Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG. Lotze, E./Hübner, N. (2008): Migrantinnen und Migranten in der ambulanten Pflege: Ergebnisse einer Erhebung in Bremen und Bremerhaven 2008. Bremen: Gesundheitsamt, Referat Migration und Gesundheit.

Kultursensible Altenpflege

51

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52

Manuel Keppler

Statistisches Bundesamt (2013b): Pflegestatistik 2011. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung – Ländervergleich Pflegebedürftige. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Statistisches Bundesamt (2013c): Pflegestatistik 2011. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung – Ländervergleich Pflegeheime. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2013): Pflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg. Dateiversion mit Microsoft Excel. Stuttgart: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg. Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ (2001): Zuwanderung gestalten – Integration fördern. Berlin: Bundesministerium des Innern (BMI). Weintritt, O. (2012): Altersbilder im Islam und unter Muslimen in Deutschland und Körperbilder im Islam. In: Berner, F.; et al. (Hrsg.). Individuelle und kulturelle Altersbilder. Wiesbaden: Springer VS. S. 231 – 287. Uzarewicz, C. (2003): Überlegungen zur Entwicklung transkultureller Kompetenz in der Altenpflege. In: Friebe, J.; Zalucki, M. (Hrsg.). Interkulturelle Bildung in der Pflege. Bielefeld: Bertelsmann Verlag. S. 29 – 46. Zeman, P. (2012): Ältere Migrantinnen und Migranten in der Altenhilfe und kommunalen Alternspolitik. In: Baykara-Krumme, H.; et al. (Hrsg.). Viele Welten des Alterns. Ältere Migranten im alternden Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. S. 449 – 465. Zielke-Nadkarni, A. (2013): Fremdheit verstehen – Transkulturelle Kompetenz in der Pflege. Certified Nursing Education (CNE) Fortbildung 4, Lerneinheit 15.

53

Manfred Erbsland

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung: Herausforderungen und Ansätze 1. Einleitung 2. Warum wurde die Pflegebedürftigkeit zu einem quantitativen und „sozialen Risiko“? 3. Entwicklung und Probleme der sozialen Pflegeversicherung 4. Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung 5. Fazit 6. Literatur

54

Manfred Erbsland

Stichwörter: Weiterentwicklungsgesetz, Dynamisierung, Leistungen, Soziale Pflegeversicherung, Kapitaldeckung, Kompressionshypothese, Medikalisierungshypothese, Preisstruktureffekt, Pflegebegriff. Zusammenfassung: Durch die Einführung der (Sozialen) Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurden die Gemeinden von den Ausgaben „Hilfe zur Pflege“ im Rahmen der Sozialhilfe stark entlastet. Durch die fehlende Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung und den dadurch verursachten Kaufkraftverlust stieg die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen und der kommunalen Haushalte erneut an. Eine Dynamisierung der Leistungen soll hier Abhilfe schaffen. Der Pflegebegriff des SGB XI ist verrichtungsorientiert und erfasst somit Menschen, die einen Betreuungsbedarf, aber noch keinen erheblichen Pflegebedarf haben, nur unvollständig. Ein neuer geplanter Pflegebegriff soll hier Abhilfe schaffen. Demografische Entwicklung, Dynamisierung der Leistungen und neuer Pflegebegriff werden die Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt bis Mitte dieses Jahrhunderts ansteigen lassen.

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

1

55

Einleitung

„Die Behandlung von kranken alten Menschen in großen Pflegeabteilungen, Pflegeheimen oder Krankenheimen …, fällt bei gesetzlich Krankenversicherten in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen“ (Kuratorium Deutsche Altershilfe 1974, S. 25). Dies forderte das Kuratorium Deutsche Altershilfe in einem Gutachten, das 1974 veröffentlicht wurde (Kuratorium Deutsche Altershilfe 1974). Es sollten noch 20 Jahre verstreichen, bis die Forderung nach einer sozialen Absicherung des Pflegerisikos sich im Jahr 1994 mit Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes erfüllte. Nicht wie gefordert unter dem Dach der Gesetzlichen Krankenversicherung, sondern als eigenständige „fünfte Säule“ der gesetzlichen Sozialversicherung. „Das ist ein guter Tag für den Deutschen Bundestag. Das Pflegeversicherungsgesetz wird beschlossen. Es ist vor allen Dingen ein guter Tag für diejenigen, die auf das Gesetz warten; es ist die beste Nachricht seit 20 Jahren“ (Deutscher Bundestag 1994, S. 19279B ), so der damalige Sozialminister Norbert Blüm euphorisch in seiner Rede im Deutschen Bundestag zur Beratung des Beschlusses des Vermittlungsausschusses zwischen Bundestag und Bundesrat zum Gesetz zur sozialen Absicherung der Pflege. Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde Pflege als allgemeines Lebensrisiko anerkannt und es gelang, „die Pflege (partiell) aus der Sozialhilfe auszugliedern.“ (Klie 2014, S. 210).

2

Warum wurde die Pflegebedürftigkeit zu einem quantitativen und „sozialen Risiko“?

Die demografische Entwicklung der Bevölkerung, die Änderung der Lebensform und der Familienstruktur sowie die steigende Berufstätigkeit der Frauen sind neben anderen Faktoren ursächlich dafür, dass die Pflegebedürftigkeit sich zu einem quantitativen, d. h. einem in der zunehmenden Anzahl der Pflegebedürftigen messbaren, sozialen Risiko entwickelt hat. Darüber hinaus verringert sich die Zahl derjenigen, die bereit oder in der Lage sind, die Pflege im

56

Manfred Erbsland

familiären Verbund oder als Nachbarn durchzuführen (Boeckh/Huster/Benz 2006, S. 327). Die Lebenserwartung nahm in den letzten 130 Jahren stark zu. Heute erreichen von 100.000 neugeborenen Mädchen 29.340 das 90. Lebensjahr und 1.887 das 100 Lebensjahr. 1871/81 waren es hingegen nur 471 Mädchen, die das 90. Lebensjahr bzw. drei, die das 100. Lebensjahr erreichten. Von 100.000 neugeborenen Jungen erreichen heute 3.175 das 90. Lebensjahr und 742 das 100. Lebensjahr. 1871/81 hingegen wurden nur 330 Jungen 90 Jahre alt und nur zwei Jungen 100 Jahre alt (Statistisches Bundesamt 2012a und 2012b). Die hinzugewonnenen Lebensjahre können in Krankheit und Pflege oder in Gesundheit verbracht werden. Diese beiden Pole determinieren neben anderen Ursachen den zeitlichen Prozess der Pflegeprävalenzen (Tab. 1)1. Es gibt drei theoretisch mögliche Szenarien für die Entwicklung der Pflegefallwahrscheinlichkeiten aufgrund einer steigenden Lebenserwartung (Erbsland 2008, S. 30 ff.; Hackmann/Moog 2008, S. 2 f., Pu 2011, S. 31):  Status quo-Hypothese: Die Pflegewahrscheinlichkeiten ändern sich im

Zeitablauf nicht.  Medikalisierungshypothese: Die hinzugewonnenen Lebensjahre werden

immer mehr in Krankheit und Behinderung verbracht. Die altersspezifischen Pflegewahrscheinlichkeiten nehmen zu.  Kompressionshypothese: Abnahme der altersspezifischen Pflegefallwahr-

scheinlichkeiten, da Morbiditätsrisiko und Behinderung erst kurz vor dem Lebensende sehr stark ansteigen.

1

Die in der Tabelle 1 angegebenen Pflegequoten werden u. a. auch durch die gesetzlich festgelegten Kriterien zur Bestimmung des Kreises der Pflegebedürftigen bestimmt. Die hier ausgewiesenen Werte „beschreiben somit weniger eine medizinische Wahrscheinlichkeit als vielmehr die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen von Pflegebedarf im Sinne des SGB XI“ (Wille et al. 1999, S. 683).

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung Altersklassen Frauen

Männer

Gesamt

Tab. 1:

< 15 15 – 60

60 – 65

60 – 65

70 – 75

57 75 – 80

80 – 85

85 – 90

> 90

1999

0,5

0,5

1,5

2,7

5,2

11,0

23,2

41,5

65,3

2011

0,5

0,5

1,6

2,7

4,7

10,5

22,9

41,9

65,2

1999

0,6

0,5

1,6

2,7

4,7

10,5

22,9

41,9

65,2

2011

0,7

0,6

1,9

3,0

4,8

8,9

16,6

28,6

36,9

1999

0,5

0,5

1,6

2,9

5,1

10,5

21,4

38,4

60,2

2011

0,6

0,5

1,8

2,8

4,8

9,8

20,5

38,0

57,8

Pflegequoten nach SGB XI nach Altersklasse und Geschlecht für die Jahre 1999 und 2011 in % Pflegestatistik (soziale und private Pflegeversicherung). Quelle: Statistisches Bundesamt (2001, S. 8; 2013b, S. 9).

Nur 11% der Frauen der Geburtsjahrgänge 1937 – 1942 hatten keine Kinder. Dieser Anteil stieg auf 20% für die Geburtsjahrgänge 1963 – 1967 an (Abb. 1). Dieser zunehmende Anteil von Frauen ohne Kinder trug mit dazu bei, dass das Personenpotential zurückging, das innerhalb der Familie Hilfeleistung und Unterstützung erbringen kann. Waren im Jahr 1957 60% der Haushalte Mehrgenerationenhaushalte (Rothenbacher 1997, S. 346), so sind es heute nur noch knapp 29% (Hammes 2013, S. 786). Im Jahr 1871 waren 6,1% der Haushalte Einpersonenhaushalte. Deren Anteil beträgt heute 40,5% (Abb. 2). In Ehe oder in Partnerschaft zusammenlebende Menschen können bei vergleichsweise geringfügiger Pflegebedürftigkeit eines Partners gegenseitig Hilfe leisten. Alleinstehende Personen bedürfen in solchen Fällen externer Hilfe (Wille et al. 1999, S. 647). Dadurch steigt der Bedarf an professioneller Pflege, die vom Pflegebedürftigen finanziert werden muss.

58

Manfred Erbsland 99,0

100,0 91,5 90,0 80,0

72,4

70,0 60,0 50,0

45,6

40,0 27,8

30,0 20,0 11,4

11,8

13,9

15,9

17,6

20,0

22,4

10,0 0,0

Abb. 1: Anteil der Frauen ohne Kinder nach Geburtsjahrgängen in % im Jahr 2012. Quelle: Statistisches Bundesamt (2013a) sowie eigene Berechnungen und Darstellung.

3

Entwicklung und Probleme der sozialen Pflegeversicherung

Die Antwort der Gesellschaft auf die steigende Pflegebedürftigkeit und die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen war die Gewährung von Hilfe zur Pflege im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014, S. 653). Hilfe zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe wurde aber erst dann gewährt, wenn die finanziellen Kräfte der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen überfordert waren. Der Zuwachs der Kosten für einen stationären Pflegeplatz im Zeitraum 1980 – 1993 lag bei 57%, während die Renten nominal nur um 32% wuchsen (Boeckh 2006, S. 327). Hierdurch waren immer mehr pflegebedürftige Rentnerinnen und Rentner gezwungen, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. So stieg von 1963 bis 1994 die Zahl der Empfänger/-innen von Hilfe zur Pflege von 2,9 je 1000 Einwohner auf 7,1 pro 1000 Einwohner an (Abb. 3). Wie Schaubild 4 verdeutlicht, nahmen im gleichen Zeitraum die Ausgaben Hilfe zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe von 247 Millionen € auf 9 Milliarden € zu. Um die Gemeinden finanziell zu entlasten, sollte

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

59

durch die Einführung der Pflegeversicherung das Risiko Pflege teilweise aus der Sozialhilfe ausgegliedert werden. „Ohne die Finanznot der Kommunen wäre sie allerdings wohl nie zustande gekommen“ (Klie 2014, S. 210 f.). Abb. 3 und 4 verdeutlichen, dass die erwartete Entlastung gelang, wobei aber in den letzten Jahren die Zahl der Empfänger/-innen von Hilfe zur Pflege wieder kontinuierlich zunimmt. 50,0%

40,5% 40,0% 33,6% 30,2% 30,0% 25,1% 19,4%

20,0%

10,0%

6,1%

6,6%

7,0%

7,1%

7,3%

6,7%

1871

1880

1890

1900

1910

1925

8,4%

20,6%

9,7%

0,0% 1933

1939

13. 09. 1950

06. 06. 1961

27. 05. 1970

April 1980 April 1991

2012

9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Empfängerinnen und Empfänger je 1000 Einwohner

Abb. 2: Entwicklung der Einpersonenhaushalte. Anteil in % an der Gesamtzahl der (privaten) Haushalte. Quelle: Rothenbacher (1997, S. 51, 346) und Hammes (2013, S. 784 sowie eigene Berechnungen und Darstellung (1871 – 1939 Deutsches Reich; 1950 – 1980 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland).

Abb. 3: Anzahl der Empfänger/-innen von Hilfe zur Pflege je 1000 Einwohner. Quelle: Statistisches Bundesamt (2014a, 2014c und 2014e, S. 29) sowie eigene Berechnungen und Darstellung. 1963 – 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland.

60

Manfred Erbsland 10000 9000 8000

Millionen €

7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000

1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

0

Abb. 4: Hilfe zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe 1963 – 2013 in Mio. €. Quelle: Statistisches Bundesamt (2014b und 2014e, S. 28) sowie eigene Darstellung. 1963 – 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland.

Die Pflegeversicherung trat stufenweise in Kraft (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014, S. 654):  Beginn der Beitragszahlung am 1. Januar 1995.  Beginn der Leistungen zur ambulanten häuslichen Pflege am 1. April 1995

(1. Stufe).  Beginn der Leistungen zur stationären Pflege am 1. Juli 1996 (2. Stufe).

Die Hauptleistungsarten der Pflegeversicherung sind (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014, S. 667 – 679):  Leistungen bei häuslicher Pflege:  häusliche Pflegehilfe (Pflegesachleistung),  Pflegegeld für selbstbeschaffte Pflegehilfen,  Kombination von Geld- und Sachleistungen (Kombinationsleistung).  Leistungen bei vollstationärer Pflege.

Schaubild 5 zeigt die anteilige Entwicklung der Pflegearrangements. Es wird deutlich, dass die Leistungsempfänger/-innen zunehmen, die vollstationäre Pflege oder die Kombinationsleistung beanspruchen, während die Inanspruchnahme der Geldleistung zurückgeht.

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

100%

1,4

3,1

4,1

4,0

4,2

4,5

4,6

4,9

5,1

61

5,5

5,7

5,9

6,4

7,1

7,6

8,4

9,1

9,8

27,9

28,0

28,0

27,6

27,0

26,5

26,4

26,2

25,2

12,5

13,3

15,5

15,6

90% 22,7 24,6

25,2

25,7

26,3

80%

70%

26,7

27,0

27,3

27,7

8,7 9,1 6,8

60%

9,6

10,2

10,3

10,5

10,4

10,3

10,3

10,2

8,4

8,4

8,6

8,5

8,5

6,9 7,5

8,1

8,5

50%

10,1

10,4

11,2

8,8

8,8

8,4

7,9

14,1

7,8

6,9

5,3

5,1

40%

30%

60,4

56,3

53,6

52,0

50,7

50,0

49,6

49,0

48,4

47,9

47,4

46,9

46,4

45,5

44,8

44,2

43,9

44,3

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

20%

10%

0% 1996

1997

Pflegegeld

1998

1999

2000

2001

2002

Pflegesachleistung

2003

2004

Kombinationsleistung

Vollstationäre Pflege

Sonstige Leistungen

Abb. 5: Pflegearrangements der Hauptpflegearten der sozialen Pflegeversicherung 1996 – 2013 (jeweilige Anteile an den gesamten Empfängern/Empfängerinnen). Sonstige Leistungen umfassen: Urlaubspflege, Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, vollstationäre Pflege in Behindertenheimen. Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2014a) sowie eigene Berechnungen und Darstellung.

Nach dem Maß des Hilfebedarfs gibt es drei Pflegestufen (Heberlein 2014, Rn. 45):  Stufe I (erheblich pflegebedürftig): einmal täglich Hilfebedarf für zwei

Verrichtungen.  Stufe II (schwer pflegebedürftig): dreimal täglich Hilfebedarf zu verschie-

denen Tageszeiten.  Stufe III (schwerstpflegebedürftig): Hilfebedarf „rund um die Uhr“.

Die folgende Tabelle 2 gibt die Leistungen der Pflegeversicherung in Euro pro Monat nach Pflegegraden wieder, wie sie seit Bestehen der Pflegeversicherung bis zum Jahr 2007 galten.

62

Manfred Erbsland Pflegestufe

Pflegesachleistung (häusliche Pflege)

Pflegegeld

Vollstationäre Pflege

Stufe I

384

205

1023

Stufe II

921

410

1279

Stufe III

1432

665

1432

Härtefall

1918

Tab. 2:

1688

Pflegesätze nach Pflegestufen bis zum Jahr 2007. Quelle: Boeckh (2006, S. 330).

Nach Einführung der Pflegeversicherung traten im Zeitablauf vor allem folgende zwei Probleme auf (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014, S. 652; Boeckh et al. 2006, S, 324; Nägele 2014, S. 29 f.):  fehlende Dynamisierung der Leistungen: Die realen Leistungen der Pfle-

geversicherung nahmen ab, da die nominalen Leistungen nicht erhöht wurden, um den Kaufkraftverlust auszugleichen. Die Pflegebedürftigen sind wieder vermehrt auf Hilfe zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe (SGB XII) angewiesen (Abb. 3). Das belastet wiederum die Sozialhaushalte der Städte und Gemeinden (Abb. 4).  Demenzkranke: Der erhöhte Betreuungsbedarf für Menschen mit „erheb-

lich eingeschränkter Alltagskompetenz“ wird nicht ausreichend finanziell unterstützt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die betroffenen Menschen nur einen Betreuungsbedarf, aber noch keinen erheblichen Pflegebedarf haben.

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

4

63

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 (Bundesgesetzblatt. I, 2008) reagierte die Politik auf die oben beschriebenen Probleme.2 Um ein weiteres Absinken der realen Leistungsbeiträge der Pflegeversicherung zu verhindern und zumindest zum Teil wieder an das reale Niveau zu Beginn der Pflegeversicherung heranzukommen, wurden die Pflegesätze erstmals seit 1995 in mehreren Schritten diskretionär erhöht. Die Veränderungsraten zeigt Tabelle 3. Pflegesachleistung

Pflegegeld

Vollstationäre Pflege

Pflegestufe

Pflegestufe

Pflegestufe

Jahr I

II

III

I

II

III

I

II

III

2008

9,4%

6,4%

2,7%

4,9%

2,4%

1,5%

0,0%

0,0%

2,7%

2010

4,8%

6,1%

2,7%

4,7%

2,4%

1,5%

0,0%

0,0%

2,7%

2012

2,3%

5,8%

2,6%

4,4%

2,3%

2,2%

0,0%

0,0%

2,6%

2015

4,0%

4,0%

4,0%

3,8%

4,1%

4,0%

4,0%

4,0%

4,0%

Tab. 3:

Diskretionäre Erhöhungen der Pflegebeträge, Veränderungsraten in %. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014, S. 667 – 679); Bundesministerium für Gesundheit (2014b), Tab. 2 sowie eigene Berechnungen.

Um den Kaufkraftverlust der von der Pflegeversicherung erstatteten Leistungen im Zeitablauf darzustellen, werden in Ermangelung eines sektorspezifischen Preisniveaus die Leistungen mit dem Verbraucherpreisindex deflationiert, der als Proxy für das allgemeine Preisniveau dient. Die hypothetischen realen Leistungsniveaus der Pflegeversicherung im Zeitablauf verdeutlichen die Abb. 6, 7 und 8. Die diskretionären Erhöhungen der Beträge in den Jahren 2008, 2010 und 2012 reichten nicht aus, um wieder auf das reale Ausgangsniveau zu kommen.

2

Zu den Wirkungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes siehe Bundesministerium für Gesundheit (2011).

64

Manfred Erbsland

Bei Pflegeleistungen handelt es sich um personalintensive und personennahe Dienstleistungen, die einer produktivitätserhöhenden Kapitalintensivierung enge Grenzen setzt, sodass davon auszugehen ist, dass ein negativer Preisstruktureffekt zuungunsten von Pflegeleistungen vorliegt und der Preisindex von Pflegeleistungen schneller als das allgemeine Preisniveau wächst (Wille et al. 1999, S. 646). Die Deflationierung der Leistungen der Pflegeversicherung mit dem allgemeinen Preisniveau dürfte somit den Realwertverlust eher unter- als überschätzen. 100,0%

95,0%

90,0%

85,0%

80,0%

75,0%

Pflegestufe I

Pflegestufe II

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

70,0%

Pflegestufe III

Abb. 6: Hypothetisches reales Leistungsniveau der Sachleistungen (ambulanter Bereich) der Pflegeversicherung (1995 = 100%). Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (2014, S. 667 – 679); Bundesministerium für Gesundheit (2014b); Statistisches Bundesamt (2014d); Tab 2 sowie eigene Berechnungen und Darstellung.

Ab 2015 ist eine Dynamisierung der Pflegesätze im dreijährigen Rhythmus vorgesehen. Die Anpassung soll die Preissteigerungen der zurückliegenden drei Jahre berücksichtigen, jedoch nicht höher als das Ausmaß der Bruttolohnentwicklung im gleichen Zeitraum ausfallen (§ 30 Pflege-Weiterentwicklungsgesetz; Bundesgesetzblatt I 2008, S. 878). Eine Projektion von Häcker kommt ausgehend vom Beitragssatz des Jahres 2006 in Höhe von 1,7% zum Ergebnis, dass der Beitragssatz bis zum Jahr 2055 auf 7,1% ansteigen müsste, um den Realwert der Leistungen zu erhalten (Häcker 2008, S. 11). Sie geht bei ihren Berechnungen von einer jährlichen Dynamisierungsrate für ambulante Leistungen von 2,74% und für stationäre Leistungen von 3,68% aus (Häcker 2006,

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

65

S. 7, 11). Eine konservativere Schätzung mit einem Dynamisierungsfaktor von 2,5% für alle Leistungen kommt zu einem Beitragssatz von 6,2% im Jahr 2055 (Häcker 2006, S. 11). 100,0%

95,0%

90,0%

85,0%

80,0%

75,0%

Pflegestufe I

Pflegestufe II

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

70,0%

Pflegestufe III

Abb. 7: Hypothetisches reales Leistungsniveau des Pflegegeldes der Pflegeversicherung (1995 = 100%). Quelle: gleiche Quellen wie zu Abb. 6.

100,0%

95,0%

90,0%

85,0%

80,0%

75,0%

Pflegestufe I, Pflegestufe II

Abb. 8

3

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

70,0%

Pflegestufe III

Hypothetisches reales Leistungsniveau der vollstationären Pflege der Pflegeversicherung (1995 = 100%). Quelle: gleiche Quellen wie zu Abb. 6.3

Hier verlaufen die realen Leistungsniveaus der Pflegestufen I und II identisch.

66

Manfred Erbsland

Der bisherige Pflegebegriff ist sehr an Verrichtungen ausgerichtet und „schließt vor allem Menschen mit kognitiven und psychischen Störungen aus“ (Bundesministerium für Gesundheit 2009, S. 41). Um bis zur gesetzlichen Einführung eines neuen Pflegebegriffs auch Demenzkranken, die einen erhöhten Betreuungsbedarf, aber noch keinen erheblichen Pflegebedarf haben, Leistungen aus der Pflegeversicherung zukommen zu lassen, wurde die sogenannte „Pflegestufe 0“ eingeführt (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014, S. 656; Bundesgesetzblatt I 2008, S. 882). Weitere Leistungsverbesserungen für demenziell Erkrankte enthält das Pflege-Neuausrichtungsgesetz (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014, S. 657). Um die Leistungsverbesserungen aufgrund des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes finanzieren zu können, wurde der Beitragssatz Mitte 2008 um 0,25%Punkte angehoben. Es folgten weitere Erhöhungen des Beitragssatzes in den Jahren 2010 und 2013. Im Jahr 2015 steigt der Beitragssatz weiter an. Abb. 9 zeigt die Höhe des Beitragssatzes zum jeweiligen Jahresanfang in der sozialen Pflegeversicherung. 3 2,6 2,5 2,2 1,95

2 1,7

1,7

1,7

1,7

1,7

1,7

1,7

1,7

1,7

1,7

1,95 1,7

1,95 1,7

1,95 1,95

2,2 1,95

2,2 1,95

2,2 1,95

2,3 2,05

2,3 2,35 2,05

1,7

1,5 1 1

0,5

0

Beitragssatz

Beitragssatz für Kinderlose

Abb. 9. Beitragssatz in der sozialen Pflegeversicherung zum Jahresanfang in %. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014, S. 655, 657); Bundesrat (2014, S. 7, RZ 21).

Zentral für die Neudefinition des Pflegebegriffs soll der Grad der Selbständigkeit der/des Betroffenen sein. Eine Unterscheidung zwischen körperlichen,

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

67

geistigen und psychischen Beeinträchtigungen bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit soll es nicht mehr geben. Die bisherigen drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014, S. 658). Grundsatz bei der Überleitung von den Pflegestufen zu den Pflegegraden ist, dass bisherige Leistungsbezieher/-innen durch den neuen Pflegebegriff nicht schlechter gestellt werden dürfen als bisher (Bundesministerium für Gesundheit 2013, S. 15). Durch die Neudefinition des Pflegebegriffs erweitert sich der Kreis der Leistungsbezieher/-innen in der Pflegeversicherung (Bundesministerium für Gesundheit 2009, S. 66) und führt somit zu einer Erhöhung der Pflegefallwahrscheinlichkeiten nach SGB XI.4 Niehaus errechnet in einer Projektion bei Zugrundelegung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs (Szenario I B, Niehaus 2010, S. 20 f.) und unter Berücksichtigung einer Dynamisierung der Pflegeleistungen ab 2012 in Höhe des Wachstums der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder pro Jahr um 1,3% einen Beitragssatz in der sozialen Pflegeversicherung von über 5% im Jahr 2060 (Niehaus 2010, S. 44). Ohne Berücksichtigung des neuen Pflegebegriffs ergibt sich ein Beitragssatz von 4,5% im Jahr 2060 (Niehaus, 2010, S. 40). Der neue Pflegebegriff führt somit zu einer Erhöhung des Beitragssatzes um etwa 0,5%-Punkte im Jahr 2060. Gründe für eine weitere Verschärfung der „Pflegeproblematik“ in der Gesellschaft sind neben Änderungen der Lebensform und der Familienstruktur (steigende Berufstätigkeit der Frauen und anhaltender Trend zur Kleinfamilie) sowie Verbesserungen der Leistungen und der Qualität in der Pflegeversicherung (neuer Pflegebegriff und Dynamisierung der Pflegeleistungen) die zukünftige demografische Entwicklung mit einem weiteren Anstieg der mittleren und ferneren Lebenserwartung und einer weiterhin unzureichenden Geburtenzahl. Darüber hinaus kommt die Generation der „Babyboomer“5 zunehmend in jene Alterskohorten, die höhere Pflegewahrscheinlichkeit aufweisen. Das führt dazu, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2055 stark zunehmen wird (Abb. 10). Das genaue Ausmaß hängt davon ab, wie sich die Pflegewahrscheinlichkeiten im Zeitablauf entwickeln. Unterstellt man im Zeitablauf

4

Zahlreiche Beispielrechnungen zu den finanziellen Auswirkungen des neuen Pflegebegriffs auf die Soziale Pflegeversicherung finden sich in Bundesministerium für Gesundheit (2013, S. 52 ff.)

5

Geburtsjahrgänge 1955 – 1969.

68

Manfred Erbsland

unveränderte Pflegequoten, (Status quo-Prognose) dann könnte die Zahl der Pflegebedürftigen gemäß einer Projektion von Pu (2011) auf etwa 4,2 Millionen bis zum Jahr 2055 anwachsen (Abb. 10, Scenario 1a). Die Medikalisierungsthese führt zu etwa 5,2 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2055 (Abb. 10, Szenario 5b), während die Kompressionsthese zu etwa 3,5 Millionen Pflegebedürftigen führt (Abb. 10, Scenario 4a). 5500

Anzahl Pflegebedürftiger in 1000

5000

4500

4000

Scenario 1a Scenario 2a

3500

Scenario 3b Scenario 4a

3000

Scenario 5b

2500

2000

1500 2008

2015

2020

2025

2030

2035

2040

2045

2050

2055

2060

Abb. 10: Pflegebedürftige in der Sozialen Pflegeversicherung 2008 – 2060. Quelle: Pu (2011, S. 57 f.) sowie eigene Darstellung.6

Die zunehmende Zahl an Pflegebedürftigen verursacht einen erhöhten Bedarf an Personal im Pflegesektor (Abb. 11). Eine Prognose von Infas zeigt, dass ausgehend vom Jahr 2009 bis zum Jahr 2030 zusätzlich 278.000 Pflegefachkräfte benötigt werden (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2012, S. 23). „Die Funktionsfähigkeit des Umlageverfahrens“, wie es auch für die Pflegeversicherung gilt, „basiert auf der Bildung eines in quantitativer und qualitativer Hinsicht hinreichenden Humankapitalbestandes“ (Wille et al. 1999, S. 61). Die6

Scenario 1a: Status Pro Prognose; Scenario 2a: altersspez. Durchschnittl. Änderungsraten gemäß SPV 1999 – 2008. Scenario 3b: sinkende Pflegefallwahrscheinlichkeiten – 1% pro Jahr bis 2030 für alle Altersklassen > 65 Jahre konstante Prävalenz für Junge. Scenario 4a: sinkende Pflegefallwahrscheinlichkeiten –0,51% pro Jahr für Männer, –0,43% für Frauen bis 2060, „Rechtsverschiebung“ genau um die Jahre der gesteigerten Lebenserwartung, gleich Veränderungsrate für Altersklassen > 65 Jahre, konstante Prävalenz für Jüngere. Scenario 5b: steigende Pflegefallwahrscheinlichkeiten +1% pro Jahr bis 2030, gleiche Änderungsraten für Altersklassen > 65, konstante Prävalenzen für Jüngere.

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

69

se Bedingung konnte Deutschland in der jüngeren Vergangenheit nicht erfüllen und wird es wohl auch zukünftig nicht können (Wille et al. 1999, S. 695). Demografiebedingt muss der Beitragssatz ansteigen, um die Leistungen der Pflegeversicherung in ihrem realen Wert aufrecht zu erhalten. Eine partielle Kapitaldeckung der Pflegeversicherung könnte diesen Anstieg (eventuell) mildern, da sie zum Teil die Effekte des demografiebedingten Humankapitaldefizits ausgleichen könnte (Wille et al., S. 695). Im Ersten Pflegestärkungsgesetz ist der vorübergehende Aufbau eines kollektiven Kapitalstocks, der sogenannte „Pflegevorsorgefonds“, vorgesehen (Bundesrat 2014, S. 9 ff.; Tz 30). Vom 20. Februar 2015 bis Dezember 2033 werden dem Fonds entsprechend Mittel zugeführt. Ab dem Jahr 2035 können die Mittel zur Beitragssatzstabilisierung benutzt werden, wenn vor allem die Kohorte der „Babyboomer“ hohe Ausgaben in der Pflegeversicherung verursacht. Der Fonds wird dann über 20 Jahre abgebaut. Ziel des Fonds ist es also, über eine Auflösung der angesparten Mittel die Beitragssatzentwicklung zu „untertunneln“.7 Der Beitragssatz wird deswegen zum 1. Januar 2015 um 0,3%-Punkte auf 2,35% (Kinderlose 2,6%) angehoben. Ein Drittel der Erhöhung (0,1%-Punkte) wird zum Aufbau des Fonds verwendet (Bundesrat 2014, S. 9 ff., Rz. 30). Die Bundesbank, die den Pflegevorsorgefonds verwalten soll, schreibt: „Überdies sollte die Wirkung der Rücklage angesichts einer möglichen Verdoppelung des Pflegeversicherungsbeitrags bis zur Mitte des laufenden Jahrhunderts nicht überschätzt werden, da sie den Beitragssatz über gut 20 Jahre gerade einmal um etwa 0,1 Prozentpunkte wird mindern können“ (Deutsche Bundesbank 2014, S. 10). Der Effekt auf den Beitragssatz ist somit relativ gering. Man kann auch von einem „Tropfen auf den heißen Stein“ sprechen.

7

Den Vorschlag, einen demografiebedingten Fonds aus Überschüssen der Pflegeversicherung anzulegen, um Beitragssatzsteigerungen zu „untertunneln“, haben Wille et al. schon 1999 in ihrem Gutachten für die Enquete Kommission demografischer Wandel gemacht (Wille et al., 1999, S. 690 ff.).

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Manfred Erbsland

Abb. 11: Rechnerischer Personalbedarf im Pflegesektor (ambulant und stationär) 2009 – 2030 einschließlich Verschiebung aus informeller Pflege. Quelle: Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft (2012, S. 23) sowie eigene Darstellung.

Ein solch kollektiv angesparter Kapitalstock kann in der Politik in finanziell schwierigen Zeiten durchaus Begehrlichkeiten wecken. Die Bundesbank schreibt hierzu: „Dies setzt allerdings voraus, dass die Sonderrücklage auch in den kommenden finanziell schwierigen Zeiten des demografischen Umbruchs nicht vorzeitig in Anspruch genommen wird. Der Gesetzgeber hat zwar einen eng definierten Verwendungszweck vorgesehen, letztlich kann diese Vorschrift aber bei Bedarf wieder geändert werden. Die Verwaltung durch die Bundesbank bietet insoweit keinen Schutz vor einem vorzeitigen Zugriff“ (Deutsche Bundesbank 2014, S. 10).

Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

5

71

Fazit

Die demografische Entwicklung wird bis zur Mitte dieses Jahrhunderts zu einem mehr oder weniger starken Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen führen. Die Pflege durch Familienangehörige wird weiter zurückgehen. Beide Effekte führen dazu, dass der Bedarf an Pflegefachkräften weiter zunehmen wird. Um die Leistungen der Pflegeversicherung pro Pflegebedürftigem real zu erhalten, müssen die Ausgaben der Pflegeversicherung pro Pflegebedürftigem aufgrund des Preisstruktureffekts, der zuungunsten von Pflegeleistungen wirkt, um mehr als die allgemeine Inflationsrate angehoben werden. Dies führt insgesamt dazu, dass die Pflege vor allem von alten Menschen ein immer größeres Stück des „Kuchens“ Bruttoinlandsprodukt in Anspruch nimmt, d. h. ein zunehmender Teil der Ressourcen muss in den Pflegesektor fließen, um das Leistungsniveau aufrecht erhalten zu können. Hier stellt sich die Frage: Ist die zukünftige Generation dazu bereit? Bzw.: Was ist die Pflege der „Alten“ den „Jüngeren“ wert? Hier kann man nur hoffen, dass die Jüngeren daran denken, dass auch sie alt und eventuell pflegebedürftig werden.

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6

Manfred Erbsland

Literatur

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Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

Landespflegekammer Rheinland-Pfalz 1. Einleitung 2. Weg zur Gründung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz 3. Ziele und Aufgabenkanon der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz für den Berufsstand der Pflege 4. Nutzen der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz für den Berufsstand der Pflege 5. Resümee und Ausblick 6. Literatur

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

Stichwörter: Landespflegekammer Rheinland-Pfalz – Gründung, Ziele, Aufgabenkanon – Nutzen für den Berufsstand der Pflege, Emanzipation der Pflege. Zusammenfassung: Die Hauptziele einer Landeskammer für Pflegeberufe sind die Sicherung einer sachgerechten professionellen pflegerischen Versorgung für Bürgerinnen und Bürger des jeweiligen Bundeslandes nach aktuellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen, der Schutz der Bevölkerung vor unqualifizierter Pflege sowie die Selbstverwaltung des Berufsstandes der Pflegenden. Im Ergebnis werden die Pflegekammern gerade auch zur Emanzipation der Pflege einen essentiellen Beitrag leisten. Allerdings müssen die Pflegenden eine berufspolitische sowie schlagkräftige Selbstverwaltungsorganisation aufbauen, um im Hinblick auf die Vielzahl der Berufsangehörigen, die sie repräsentieren, zu einer gewichtigen Größe und Mächtigkeit im Gesundheitswesen heranzuwachsen.

Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

1

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Einleitung

Die Berufsangehörigen der Pflegeberufe verfügen in der Bundesrepublik Deutschland bisher über keine strukturelle Repräsentanz in Form einer berufsständischen Selbstverwaltung, die rechtlich verankert als „Pflegekammer“ aktiv das Gesundheitswesen mitgestalten kann, aber auch im Rahmen der Binnendemokratie den Berufsstand eigenverantwortlich organisieren kann. Die Forderung nach einer Selbstverwaltung in Form einer eigenbestimmten und verantworteten Berufskammer – als Ergänzung und wohl auch als Gegenstück zu den seit über 50 Jahren bestehenden und aktiven Landesärztekammern – gibt es seit über 20 Jahren, ohne dass die Politik auf Bundes- oder Landesebene dieser Forderung nachgekommen ist. Zwar war man sich einig, im politischen Umfeld die Pflege „zu stärken“, sah jedoch bisher keinen Anlass, den Berufsangehörigen hierfür den Rechtsrahmen einer Pflegekammer zu gewähren. So war die Pflege gehalten, sich im Wesentlichen durch ihre Berufsverbände im deutschen Gesundheitswesen eine „Stimme“ aufzubauen. Zunächst auf Landesebene haben sich durch den Zusammenschluss der traditionellen Berufsverbände, insbesondere der Gesundheits- und Krankenpflege, in den letzten Jahren Strukturen gebildet, die eine abgestimmte und besser organisierte Vertretung ermöglichen sollten. Beispielhaft ist hier das Land Rheinland-Pfalz, in dem sich die Berufsverbände auf Initiative der Landesregierung zu einem Dachverband der Pflegeorganisationen zusammengeschlossen haben (DPO), der seit über 10 Jahren auf unterschiedlichen Ebenen im Lande RheinlandPfalz und in den Gremien der Landespolitik die Interessen der Pflege vertreten hat. Die Landesregierung hat diesen Dachverband nicht nur organisatorisch, sondern auch finanziell unterstützt. Damit war Rheinland-Pfalz Vorreiter einer ersten über die klassische Form des Berufsverbands hinausgehenden Bündelung der Interessen der Berufsangehörigen – von vielen auf Landes- und Bundesebene als notwendig, aber auch ausreichend verstanden – um damit den Berufsangehörigen der Pflege ein Mitwirkungsrecht an der Gestaltung des Gesundheitswesens einzuräumen. Über den DPO, aber auch mittels der Gründung der Landespflegekonferenz, die am rheinland-pfälzischen Gesundheitsministerium angesiedelt ist, war die Pflege in den maßgeblichen Gremien,

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

die sich mit der Thematik befassen, eingebunden. Dieses Vorgehen ist jedoch an Grenzen gestoßen. Auf Bundesebene hat sich vor 15 Jahren der Deutsche Pflegerat (DPR) als Dachverband der Pflegeverbände gebildet. Er soll mit seinen mittlerweile 16 Mitgliedern als zentraler Ansprechpartner auf Bundesebene für die Bundesregierung, die Krankenkassen und die anderen Leistungserbringer im Gesundheitswesen wirken. Seitens der Bundesregierung wurde der Deutsche Pflegerat als „Vertreter der Pflege“ auf Bundesebene zum Ansprechpartner und Berater sowie Sachverständigen in Fragen der Pflege; seien es Ausbildungsfragen, Versorgungsfragen oder Finanzierungsfragen. Als Vertretung der Pflegenden in Deutschland wird heute der Deutsche Pflegerat ganz anders als früher wahrgenommen. In den medialen wie in den politischen Diskussionen ist es mittlerweile kaum denkbar, die Profession über den Deutschen Pflegerat nicht zu beteiligen. Durch den Deutschen Pflegerat, aber auch einige Initiativen auf Landesebene, ging in den letzten Jahren verstärkt die Forderung in die Öffentlichkeit, die Berufsangehörigen nicht nur verbandlich zu stärken, sondern in Form einer organisierten Selbstverwaltung in einer Pflegekammer an den Entscheidungen im Gesundheitswesen zu beteiligen. Vorreiter hierfür waren zum Beispiel berufsverbandliche Initiativen in Niedersachsen und Bayern. Auf der politischen Ebene haben die Parteien sich in den letzten Jahren zunehmend mit dieser Thematik beschäftigt, ohne jedoch eine abgestimmte oder einheitliche Meinung in den jeweiligen Bundesländern zu vertreten. Lediglich die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ hat sich stets und in allen Bundesländern einheitlich für die Errichtung von Pflegekammern ausgesprochen. Angesichts der aktuell gewachsenen Bedeutung der Pflege (Stichwort „Demografie“) hat diese Diskussion in den letzten fünf Jahren erheblich an Gewicht gewonnen. Das von Bayern ausgehende „Bündnis für die Pflege“ – seinerzeit gestartet von der Bayerischen Staatsregierung und einigen Pflegeverbänden – war der Startschuss, den Forderungen der Pflegeverbände in den einzelnen Ländern größere Beachtung zu schenken. Die jeweiligen Landesministerien kamen nun nicht mehr umhin, sich diesen Fragen konkreter zu stellen und letztlich auch eine Antwort zu geben. Die von vielen als Hinhalte-

Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

81

taktik empfundene zurückhaltende Position der Landesregierungen erwies sich als nicht mehr haltbar. Befürworter und Gegner einer Pflegekammer lieferten sich in der Fachöffentlichkeit kontroverse Diskussionen, was die Politik dazu bewog, durch Befragungen des Berufstandes mehr Klarheit in diese Thematik zu bringen. So fanden in mehreren Bundesländern zahlreiche Befragungen statt, die im Wesentlichen eine eindeutige Mehrheit für die Errichtung von Landespflegekammern ergaben. Lediglich in Hamburg brachte die vom Senat initiierte Befragung keine Mehrheit für die Schaffung einer Pflegekammer. Auf der Basis dieses „Meinungsbildes“ des Berufsstandes entschlossen sich die Bundesländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, zunächst Eckpunkte und anschließend eigenständige Gesetze auf den Weg zu bringen, um den Weg in eine gesetzlich geregelte Selbstverwaltung der Berufsangehörigen der Pflegeberufe zu ermöglichen. Vieles ist daraufhin in Bewegung gekommen, wenn auch nicht alle Länder konsequent den Weg in Richtung Pflegekammer gegangen sind oder gehen werden. Bayern verfolgt einen alternativen Weg einer Körperschaft des öffentlichen Rechts als Interessenvertretung für die Pflege (Arbeitstitel: „Bayerischer Landespflegering“), allerdings ohne Pflichtmitgliedschaft. Hierzu sollen zunächst die Pflegekräfte vor Ort verstärkt informiert werden und später eine Gründungskonferenz einberufen werden, um die Details einer gesetzlichen Regelung vorzubereiten. Am weitesten fortgeschritten und am konsequentesten auf eine breit angelegte Selbstverwaltung der Pflegeberufe ausgerichtet, ist das Konzept „Landespflegekammer“ in Rheinland-Pfalz. Am 17. Dezember 2014 verabschiedete der Landtag von Rheinland-Pfalz einstimmig die Errichtung einer Landespflegekammer durch Novellierung des Heilberufsgesetzes RheinlandPfalz (Heilberufsgesetz, veröffentlicht im GVBl. vom 30. Dezember S. 203). Der im Gesetz (§ 111 Heilberufsgesetz) vorgesehene Gründungsausschuss wurde vom Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie RheinlandPfalz zum 2. Januar 2015 berufen und hat seine Arbeit aufgenommen. Rheinland-Pfalz ist damit das erste Bundesland, das den Rechtsrahmen für eine Pflegekammer gesetzt hat und mit dem Aufbau dieser Körperschaft begonnen hat.

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

„Warum braucht Deutschland Pflegekammern?“ Die Diskussion, ob und warum Deutschland eine Selbstverwaltung der Pflege in Pflegekammern braucht, ist vielschichtig. Sie kann auf folgende Grundthesen reduziert und wie folgt zusammengefasst werden:  Das deutsche Gesundheitswesen ist weder rein planwirtschaftlich/staat-

lich noch rein freiheitlich/marktwirtschaftlich organisiert.  Versorgung wird definiert und geleistet im System kollektiver Selbstverwal-

tung, innerhalb dessen Leistungserbringer und Kostenträger Verantwortung haben.  Die Rolle des gestaltenden Staates ist weitgehend auf die Gesetzgebung

beschränkt.  Weder die einzelne Pflegekraft noch die Pflegeverbände haben ein ei-

genes echtes Mitgestaltungs- und Verantwortungsrecht für die Gesundheits- und Pflegeversorgung.  Fach-, Rechts- und Finanzfragen werden von Dritten, insbesondere der

Ärzteschaft, entscheidend geprägt (vergleiche § 63c SGB V).  Für die größte Berufsgruppe ist hier gesetzlicher Handlungsbedarf, um die

Pflege als gleichberechtigter Leistungserbringer strukturell zu stärken und auf Augenhöhe zu bringen.  Die Errichtung von Pflegekammern auf Landes- und Bundesebene kann

hierzu ein Baustein sein.  Pflegetätigkeit ist Heilkundeausübung. Pflege ist ein Heilberuf.  Pflegeberufe gehören daher in das Gesetz der Heilberufe, das Heilbe-

rufsgesetz.  Will man Pflege politisch stärken, erfordert das die strukturelle Neuausrich-

tung der Pflege in Selbstverwaltungseinrichtungen wie Kammern – auf Augenhöhe mit andern Leistungserbringern.  Das deutsche Gesundheitswesen ändert sich. Neue sektoren- und be-

rufsübergreifende Versorgungskonzepte sowie der Aufbau einer Telematikinfrastruktur entpflichten die Ärzteschaft von ihrer alleinigen umfassenden Leistungsverantwortung.

Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

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 Die Gesundheitswelt wird arbeitsteiliger, aber auch kooperationsbedürf-

tiger.  Die Pflege wird gefordert sein, hier eigenständige Versorgungskonzepte

zu entwickeln und unter ihrer Federführung umzusetzen (z. B. elektronische Pflegeakte, arztentlastende Versorgung, Medikamentenversorgung in der ambulanten und stationären Altenpflege).  Der organisatorische und rechtliche Aufbau der Pflegekammer, die Ent-

wicklung eigenständiger Aufgaben und die Übernahme von Verantwortung für die Versorgung sollte wissenschaftlich begleitet, erforscht und evaluiert werden.  Die Errichtung der Landespflegekammern darf nicht auf Rheinland-Pfalz

beschränkt werden.  Zwar ist das hiesige Konzept Vorreiter, es ist jedoch zu beraten und – ge-

gebenenfalls in modifizierter Art – in anderen Ländern schrittweise zu entwickeln und umzusetzen.  Erst wenn alle Länder Pflegekammern haben und eine Bundespflege-

kammer als Bundesvertretung gegründet ist, ist die Selbstverwaltung der Pflegeberufe in Deutschland abgeschlossen.  Ziel sollte es sein, dies schrittweise in 10 Jahren zu erreichen.

2

Weg zur Gründung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

Die Frage nach der Gründung einer Pflegekammer ist von den Pflegeverbänden in Rheinland-Pfalz – auch aufgrund der Aktivitäten in anderen Ländern – seit 2010 intensiv diskutiert worden. Hierzu fanden zahlreiche Veranstaltungen in der Fachöffentlichkeit statt. Dabei kristallisierte sich immer mehr heraus, dass die Berufsverbände, organisiert durch den DPO, stärker als bisher eine Pflegekammer in Rheinland-Pfalz forderten. „Gestärkt“ durch diesen politischen Rückenwind, bat der DPO die seinerzeitige Ministerin für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit Malu Dreyer um ein Grundsatzgespräch. Dieses – aus heuti-

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

ger Sicht historische – Gespräch vom Juni 2011 brachte den entscheidenden Durchbruch in der berufspolitischen Diskussion. Staatsministerin Dreyer erklärte sich erstmals bereit, dem Wunsch der Pflegeverbände zu folgen und den gesetzlichen Rahmen für die Errichtung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz zu schaffen. Sie machte dies allerdings von einem einheitlichen Votum der Pflegeverbände sowie einer Mehrheit der Berufsangehörigen in einer Abstimmung „Pro oder Kontra Pflegekammer“ abhängig. Im März 2013 sprachen sich alle Berufsverbände der Pflege, koordiniert durch den DPO, für die Errichtung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz aus. Die Einrichtung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz wurde nach dem diesbezüglich positiven Votum der Berufsverbände von der Befragung der etwa 37.000 Berufsangehörigen und der rund 6.000 Auszubildenden abhängig gemacht. Die Einrichtung einer Befragungs- und Registrierungsstelle, die alle erforderlichen Arbeiten abzuwickeln hatte, wurde nach einer entsprechenden Ausschreibung an das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e. V. (dip) mit Sitz in Köln vergeben. Offizieller Start der Befragungs- und Registrierungsstelle war Montag, der 17. Dezember 2012. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch die zentrale Homepage, der Befragungs- und Registrierungsstelle (www.pflegekammer-befragungrlp.de) freigeschaltet. Nach der Registrierung der interessierten Pflegekräfte wurde erneut das Gespräch mit Vertretern des Datenschutzbeauftragten gesucht, um das Verfahren der eigentlichen Befragung abzustimmen. Die rheinland-pfälzischen Datenschützer waren außerdem zu jedem Zeitpunkt des Projektes in die Verfahrensweise eingebunden. Nach dem Aufbau einer Datenbank, die die Kontaktdaten der interessierten Pflegekräfte beinhaltete, hat die eigentliche Befragung im März des Jahres 2013 stattgefunden. Es gab kein Quotum, bei dessen Nichterreichen die Befragung als ungültig hätte betrachtet werden müssen. Parallel zu dieser Umfrage fanden zahlreiche Informationsveranstaltungen der Berufsverbände statt, um die Berufsangehörigen über das „Pro oder Kontra Pflegekammer“ und die Einzelheiten zum Aufbau einer Pflegekammer zu informieren. In über 120 landesweit vom DPO veranstalteten Informationsgesprächen konnten sich Interessierte zu dem Thema äußern, seien es die Befürworter, seien es die Gegner einer Pflegekammer. Ein intensiver Diskussionsaustausch aller Argumente bildete somit für alle Betroffenen eine profunde Grundlage der Ent-

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scheidung. Parallel dazu verfasste das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz einen Flyer mit Informationen zum Thema „Pflegekammer“ und verteilte ihn an alle Einrichtungen der Gesundheits- und Sozialpflege in Rheinland-Pfalz. Da diese Flyer auf große Resonanz und Nachfrage stießen, wurde er zweifach nachgedruckt und insgesamt in einer Größenordnung von 80.000 Stück abgegeben. Staatsministerin Dreyer erklärte in diesem Zusammenhang, dass sie in jedem Falle das Votum dieser Befragung akzeptieren werde. Ergebe sich keine Mehrheit für die Errichtung einer Pflegekammer, würden die entsprechenden Überlegungen seitens der Landesregierung eingestellt. Ergebe sich jedoch eine breite Mehrheit für die Errichtung einer Selbstverwaltungskörperschaft, werde man den gesetzlichen Rahmen im Heilberufsgesetz von Rheinland-Pfalz schaffen. Die Befragung endete im März 2013. 9.324 Berufsangehörige hatten sich registrieren lassen, das entspricht ca. 20% aller in Rheinland-Pfalz tätigen Pflegekräfte. Von diesen weit über 9.000 Pflegekräften haben sich 7.072 (75,8%) an der Abstimmung beteiligt. Hiervon stimmten 5.357 (75,8%) Pflegekräfte für die Einrichtung der Pflegekammer, 1.704 (24,1%) stimmten dagegen. 2.252 Pflegekräfte (24,1% der registrierten Berufsangehörigen) nahmen trotz der Registrierung nicht an der Abstimmung teil und enthielten sich somit der Stimme. Das Ergebnis war somit ein eindeutiges JA für die Pflegekammer in RheinlandPfalz. Staatsminister Schweitzer stellte diese Ergebnisse der Fachöffentlichkeit in einer Pressekonferenz im April 2013 vor und erklärte, dass der Dialog mit dem Berufsstand zu Fragen des Aufbaus und der Arbeit der Pflegekammer mit dieser Abstimmung nicht zu Ende sei, sondern über eine von ihm einberufene Gründungskonferenz intensiviert werden solle. Bevor mit der Verabschiedung des novellierten Heilberufsgesetzes (HeilBG) der gesetzlich verankerte Gründungsausschuss der Pflegekammer eingesetzt werden konnte, sollte die Zeit genutzt werden, um den Dialog mit den Pflegekräften fortzuführen und zu intensivieren. Daher wurde im Sommer 2013 die Gründungskonferenz zur Errichtung der Landespflegekammer eingerichtet und nahm die Arbeit zur Intensivierung der Planungen und Vorarbeiten der Errichtung der Pflegekammer auf. Mit der Etablierung der Gründungskonfe-

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renz waren klare Ziele und Aufgaben verbunden. Diese galt es im Zeitraum des Bestehens der Gründungskonferenz (01.07.2013 – 31.12.2014) zu erreichen. Die Arbeit der Gründungskonferenz war auf den Zeitraum bis zur Einsetzung des Gründungsausschusses der Pflegekammer nach dem HeilBG begrenzt. Ziel der Gründungskonferenz war es u. a.:  den bereits begonnen guten Dialog mit den Berufsgruppen in den Ein-

richtungen regional fortzuführen und zu vertiefen,  die Aufgaben und Leistungen einer Pflegekammer als berufsständische

Selbstverwaltung transparent zu machen und den Nutzen und Mehrwert der Pflegekammer gegenüber dem Status quo für Pflegende in Rheinland-Pfalz zu verdeutlichen und  die Akzeptanzbasis der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz im Land

und den Regionen zu verbreitern. Die Gründungskonferenz bestand aus 17 Mitgliedern. Die gleiche Zahl an Ersatzmitgliedern wurde bestellt, um die Kontinuität der Arbeit sicherzustellen. Die Mitglieder setzten sich zusammen aus Vertretern der Berufspraxis, der Berufsverbände, der Einrichtungsträger und Krankenhausträger, der Pflegewissenschaft und der Lehre, der Gewerkschaft und der Mitarbeitervertretungen. Das Ministerium war kein formales Mitglied, war aber als „ständiger Gast“ in der Gründungskonferenz mit beratender Stimme vertreten. Sprecherin und Vorsitzende der Gründungskonferenz war Sr. Basina Kloos, Vorsitzende der Marienhausstiftung. Ihr oblag es, die Gründungskonferenz einzuberufen und inhaltlich zu gestalten und zu moderieren. Die Gründungskonferenz kam neunmal im Zeitraum ihres Bestehens zusammen. Die Tagungen fanden in den vier rheinland-pfälzischen Großregionen (Trier, Koblenz, Rheinhessen, Pfalz) in dortigen Pflegeeinrichtungen und/oder Krankenhäusern statt. Flächendeckend wurde in Regionalkonferenzen überall im Land RheinlandPfalz die Diskussion fortgeführt und Anregungen sowie Vorschläge aus dem Berufsstand wurden gesammelt, die in das rechtliche Konzept zur Ausgestaltung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz aufgenommen werden sollten. Um den Dialog mit den Pflegekräften vor Ort aufrechtzuerhalten, wurden Multiplikatoren aus dem Kreis der Gründungskonferenzteilnehmer benannt. Damit

Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

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die Akzeptanz des Vorhabens erhöht werden konnte, stammten die Multiplikatoren aus dem Kreis der Vertreterinnen und Vertreter der Pflegepraxis in der Gründungskonferenz und kamen aus den vier Großregionen des Landes (Trier, Koblenz, Rheinhessen, Pfalz). Die Multiplikatoren hatten die Aufgabe, die Inhalte der Gründungskonferenz in den vorgenannten regionalen Veranstaltungen zu kommunizieren und im direkten Kontakt mit Ansprechpersonen in den Einrichtungen zu stehen. Die Regionalkonferenzen fanden landesweit statt. Die Arbeit der Gründungskonferenz hat sich bewährt. In über 200 regionalen Veranstaltungen („Gründungskonferenz vor Ort“) konnten die Vertreterinnen und Vertreter der Gründungskonferenz sowie die Multiplikatoren Berufsangehörige in allen Landesteilen erreichen und so auf die Verkammerung der Pflege hinweisen. Nicht zuletzt im Rahmen dieser Veranstaltungen wurden wertvolle Hinweise gegeben für den künftigen Aufbau der Kammer, das Aufgabenspektrum und die Wünsche der künftigen Berufsangehörigen einer Pflegekammer. Die Sitzungen der Gründungskonferenz waren von einer konstruktiven Arbeitsatmosphäre geprägt. Viele Vorarbeiten für die Arbeit des Gründungsausschusses und die Pflegekammer konnten bereits von der Gründungskonferenz begonnen und vollendet werden. Die Gründungskonferenz war damit eine Art „Gründungswerkstatt“, in der Fachexpertise und gestalterische Fähigkeiten vereint werden konnten. Insbesondere für die Zusammenarbeit und den Zusammenhalt der unterschiedlichen Akteure aus der Pflege war die Gründungskonferenz bereichernd. So stammt beispielsweise das Motto „… das ist meine Kammer!“ von ver.di-Vertreterinnen. Gleichzeitig leitete die Landesregierung zielorientiert durch einen Referentenentwurf zur Novelle des Heilberufsgesetzes ein Gesetzesverfahren zur Schaffung der Rechtsgrundlagen zur Errichtung einer Landespflegekammer Rheinland-Pfalz ein. Rheinland-Pfalz hat sich bewusst dafür entschieden, die Pflegekammer „auf Augenhöhe“ mit den bereits vorhandenen Heilberufskammern zu errichten. Dies bedeutete die Aufnahme in das Heilberufsgesetz und eine weitestmögliche Gleichstellung der Kammern in diesem Gesetz. Dies war gleichzeitig auch die Absage an ein eigenständiges Pflegekammerge-

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

setz, wie dies in Schleswig-Holstein und Niedersachsen geplant ist. Im Rahmen einer umfassenden Anhörung der Pflegeverbände, der Krankenhausgesellschaft, der Pflegegesellschaft, der gesetzlichen Krankenkassen sowie anderer Institutionen des Gesundheitswesens fasste die Landesregierung im Januar 2014 den Entschluss, ein entsprechendes Gesetz in den Landtag einzubringen. Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger sowie Altenpflegerinnen und Altenpfleger sollten Mitglied einer von diesen Berufsgruppen getragenen Selbstverwaltungskörperschaft (Landespflegekammer Rheinland-Pfalz) in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts werden. Die ursprüngliche Überlegung, die Berufsangehörigen der Krankenpflegehilfe sowie Altenpflegehilfe als Pflichtmitglieder in die Kammer zu integrieren, wurde fallengelassen. Diesen Berufsgruppen sollte ein Recht der freiwilligen Mitgliedschaft gesetzlich ermöglicht werden. Die Fach- und Rechtsberatungen des Landtags von Rheinland-Pfalz zur Novelle des Heilberufsgesetzes, insbesondere zur Errichtung einer Landespflegekammer, führten zu einer erneuten breitgefassten Anhörung der wesentlichen betroffenen Institutionen im Land Rheinland-Pfalz. Dabei sprach sich eine breite Mehrheit erneut für die Errichtung einer Pflegekammer aus. Auch die dieser Entwicklung bis dahin kritisch gegenüberstehenden Gewerkschaften zeigten sich – trotz nach wie vor bestehender Vorbehalte – offen und sagten zu, den anstehenden Errichtungsprozess konstruktiv zu begleiten. Am 17. Dezember 2014 verabschiedete der Landtag von Rheinland-Pfalz das Heilberufsgesetz und damit die Rechtsbestimmungen zur Errichtung der Pflegekammer, einstimmig. Dieses neue Heilberufsgesetz regelt die Aufgaben der Landespflegekammer, die Zusammensetzung ihrer Gremien sowie die einzelnen Verfahrensschritte zur Errichtung der ersten Landespflegekammer in Deutschland (vergleiche § 111 HeilBG Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 2014, GVBl. 2014, S. 302). Das fachlich zuständige Ministerium hat zum 2. Januar 2015 aus dem Kreis der Berufsangehörigen der verkammerten Pflegeberufe, die in Rheinland-Pfalz ihren Beruf ausüben, auf Vorschlag der in Rheinland-Pfalz vertretenen Berufsverbände und Gewerkschaften einen Ausschuss zur Errichtung der Landes-

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pflegekammer Rheinland-Pfalz (Gründungsausschuss) berufen. Dieser besteht aus 13 Mitgliedern; für jedes Mitglied ist ein Ersatzmitglied bestellt worden. In diesem Gründungsausschuss sind alle Berufsgruppen der durch dieses Gesetz verkammerten Berufe mit mindestens einem Mitglied und einem Ersatzmitglied vertreten. Zur Klarstellung, aber auch zur Bestimmung der Ziele des Gründungsausschusses gibt es Vorgaben für das Errichtungswesen. In § 11 Abs. 3 HeilBG ist bestimmt, dass der Gründungsausschuss bis zum ersten Zusammentritt der gewählten Vertreterversammlung deren Aufgaben und Befugnisse wahrzunehmen hat, soweit dies im Rahmen der Errichtung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz erforderlich ist. Der Gründungsausschuss hat die Rechtsstellung einer rechtsfähigen Körperschaft des öffentlichen Rechts und unterliegt der Rechtsaufsicht des zuständigen fachlichen Ministeriums. Es wird klargestellt, dass mit dem ersten Zusammentritt der gewählten Vertreterversammlung der Gründungsausschuss aufgelöst wird. Seine Rechte und Pflichten gehen damit auf die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz 2016 über. Der Gründungsausschuss hat Anfang Januar 2015 seine Arbeit aufgenommen und aus seiner Mitte ein vorsitzendes Mitglied und ein stellvertretendes Mitglied sowie zwei weitere aus der Mitte des Gründungsausschusses zu wählende Vorstandmitglieder gewählt. Die Geschäftsstelle des Gründungsausschusses hat ihren Sitz in Mainz und bereitet seit dem auf der Basis einer vom Gründungsausschuss erlassenen Meldeordnung die Registrierung der Berufsangehörigen und die ersten Wahlen zur Vertreterversammlung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz vor. Um ein breites Spektrum und eine gewisse Repräsentativität der Berufsgruppen zu erreichen, sieht das Gesetz vor, dass Krankenhäuser und stationäre Einrichtungen, ambulante Pflegeeinrichtungen sowie sonstige Einrichtungen, in denen Berufsangehörige der Pflege tätig sind, den Gründungsausschuss auf dessen Anforderung hin bei der Ermittlung der Berufsangehörigen aus den Pflegeberufen durch Übermittlung von Angaben, die zur Registrierung und Erstellung eines Wahlverzeichnisses notwendig sind, unterstützen. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass durch dieses Zusammenwirken von „Selbstmeldung“ der Berufsangehörigen und Meldung durch die Einrichtungsträger eine

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

große Zahl der Berufsangehörigen schon im Jahr 2015 registriert werden kann. Mit der Aufnahme der Arbeit des Gründungsausschuss ist die Pflege in die Selbstverwaltung übergegangen. Das Ministerium übt von nun an die Rechtsaufsicht über den Gründungsausschuss aus. Die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz wird formell zum 1. Januar 2016 errichtet werden. Nach Auflösung des Gründungsausschusses und Zusammentritt der ersten Vertreterversammlung der Landespflegekammer im Januar 2016 (§ 111 Abs. 7 HeilBG) sollen die Einrichtungsträger diese, wie schon den Gründungsausschuss, weiter durch Übermittlung entsprechender Angaben der bei ihnen tätigen Berufsangehörigen aus der Pflege unterstützen. Diese Verpflichtung endet zum 31. Dezember 2016 (§ 111 Abs. 6 HeilBG). Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Vorbereitungen und die Aufbauphase der Pflegekammer dann soweit gediehen sind, dass die Pflegekammer ab 2017 autonom und eigenverantwortlich die weiteren Schritte einer gewählten Selbstverwaltung der Berufsangehörigen organisieren kann. Da bei der Errichtung einer ersten Pflegekammer in Deutschland gesundheitsrechtlich und organisatorisch Neuland betreten wird, ist es wichtig, diesen Aufbauprozess durch externe Beratung, aber auch durch aktive Mithilfe der anderen Kammern zu unterstützen. Schon in der Phase der Gründungskonferenz haben Experten aus anderen Landeskammern der Heilberufe die Arbeit mit Rat und Tat bei der Ausarbeitung von Organisations- und Finanzkonzepten unterstützt. Von Beginn an war allen Beteiligten klar, dass ohne Hilfestellung von außen und ohne Beratung durch das Ministerium das Gesamtkonzept und insbesondere der Zeitplan für die einzelnen Schritte der Errichtungsphasen nur schlecht gehalten werden kann. Auf der Basis dieser offenen Unterstützungsbereitschaft und Kooperation sowie des Engagements der Berufsangehörigen der Pflegeberufe wird die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz ihren Weg gehen. Die Verantwortlichen haben sich zum Ziel gesetzt, binnen fünf Jahren die maßgeblichen Strukturen an Gründungsarbeiten abgeschlossen zu haben. Bis dahin wird die Landespflegekammer nicht nur eine demokratische Binnenorganisation haben, sondern schrittweise die Aufgaben übernommen haben, die ihr das Heilberufsge-

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setz Rheinland-Pfalz zuschreibt. Wichtig in dem Zusammenhang ist insbesondere die Entwicklung eines Weiterbildungs- und Fortbildungskonzepts, das bis zum 31. Dezember 2017 formal erarbeitet und rechtswirksam verabschiedet werden soll.

3

Ziele und Aufgabenkanon der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz für den Berufsstand der Pflege

Die Hauptziele der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz sind die  Sicherung einer sachgerechten professionellen pflegerischen Versorgung

für Bürgerinnen und Bürger in Rheinland-Pfalz nach aktuellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen,  Schutz der Bevölkerung in Rheinland-Pfalz vor unqualifizierter Pflege so-

wie  Selbstverwaltung des Berufsstandes der Pflegenden in Rheinland-Pfalz

(Hanika 2015, S. 1 ff.) Der Aufgabenkanon (Seewald 1997, S. 8 ff.; Martini 2014, S. 40 ff.; Hanika 2015, S. 1 ff.) der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz umfasst damit den klassischen kammertypischen Dreiklang  Standesvertretung,  Standesförderung und  Standesaufsicht.

Zur Standesvertretung zählen:  Wahrung des Gesamtinteresses der Berufsgruppe unter Berücksichtigung

der beruflichen Interessen der einzelnen Pflegefachberufe (Gesundheitsu. Krankenpflege, Kinderkrankenpflege, Altenpflege, Anästhesie- und Intensivpflege, psychiatrische Pflege etc.).

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

 Vertretung der Interessen der Pflegeberufe systematisch, kontinuierlich

und professionell organisiert.  Politische Einflussnahme, um die Interessen des Berufstandes wahrzu-

nehmen.  Einheitliche Interessenvertretung, die mit einer Stimme gegenüber dem

Staat, der Gesellschaft und anderen Akteuren des Gesundheitswesens im Gesundheitswesen in Rheinland-Pfalz zu sprechen vermag.  Legitimitätsanspruch vollständiger Interessensrepräsentation.  Anspruch auf vollständige und verbindliche Interessenskonkretisierung

und deren Kommunikation nach innen und nach außen.  Bündelung der gemeinsamen beruflichen Interessen der Berufsgruppe

Pflege in der öffentlichen Wahrnehmung.  Wahrnehmung der Interessen der Pflegenden gegenüber der Gesell-

schaft und konkurrierenden Interessen.  Leistungsdarstellung der Pflegeberufe in unserer Gesellschaft.  Einbringung pflegerischer Fachkompetenz in gesundheitspolitische Ent-

scheidungen.  Sammlung der Kompetenz der Mitglieder von Pflegeberufen.  Institutionelles nutzenstiftendes Gedächtnis im Dienste der Gesellschaft.  Entwicklung von Versorgungs- und Bildungskonzepten zur Zukunftsgestal-

tung der Pflege.  Informations- und Öffentlichkeitsfunktion für die Gesellschaft wie für die

Pflegeberufsangehörigen.  Anlaufstelle für die BürgerInnen.  Professionelle Begleitung gesundheitspolitischer Weichenstellung.  Stellungnahmen, Berichte sowie Gutachten für Gesetzgebungsprozesse,

Behörden und Gerichte zu pflegepolitischen Themen.  Beratung des Gesetz- und Verordnungsgebers, Beteiligung bei Gesetz-

gebungsverfahren und Kooperation mit der öffentlichen Verwaltung,

Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

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Auslegung gesetzlicher Bestimmungen, Umsetzung von Gesetzen, Anfertigung von Sachverständigengutachten.  Gutachtertätigkeit/Benennung von Sachverständigen.  Kooperationen und Kontaktpflege mit anderen nationalen und internati-

onalen Institutionen des Gesundheitswesens.  Einbindung der europäischen/internationalen Pflegekräfte.

Zur Standesförderung zählen:  Information der Öffentlichkeit über das berufsrechtliche pflegerische

Selbstverständnis.  Erhöhung der Attraktivität des pflegerischen Berufes in der öffentlichen

Wahrnehmung.  Positionierung der Berufsgruppe der Pflegenden auf ihren Platz im Ge-

sundheitswesen.  Förderung der Pflege als eigenständige Disziplin um die Autonomie und

Qualität der Pflege zu stärken (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe e.V. 2005, S. 7 f.).  Demokratische Willensbildung und Teilhabe der Pflegenden.  Förderung der Identifizierung der Kammermitglieder mit dem Beruf.  Unterstützung und Beratung der Berufsmitglieder in allgemeinen berufs-

standsbezogenen Fragen der Pflege.  Fachliche und rechtliche Beratung der Berufsangehörigen.  Entwicklung und Förderung des pflegerischen Berufsverständnisses.  Sicherheit für Berufsinhaber-/innen.  Wahrnehmung von Befugnissen in der beruflichen Fort- und Weiterbil-

dung, einschl. deren Förderung, Überwachung und Anerkennung.  Gestaltung von Weiterbildungsordnungen, die konkrete Pflichten zur

Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten begründen.  Zertifizierung von Fortbildungsveranstaltungen und -anbietern.  Ausstellung von Fortbildungszertifikaten.

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

 Beteiligung an der Konkretisierung der Ausbildungsstandards1.  Festlegung von Standards, Leitlinien etc. für Ausbildung und Praxis2.  Sammlung der Erkenntnisse der pflegerischen Fachdisziplinen.  Errichtung von Schlichtungskommissionen zur Beilegung von Streitigkeiten

zwischen Berufsangehörigen bzw. zwischen Berufsangehörigen und Dritten.  Benennung von Gutachtern für Streitfälle fachlicher Beurteilung pflegeri-

scher Leistungen.  Stärkung der Pflegewissenschaft.  Sicherstellung eines einheitlichen Qualitätsniveaus der pflegerischen Be-

rufsausübung. Zur Standesaufsicht zählen:  Gewährleistung der ordnungsgemäßen Berufsausübung der Kammer-

mitglieder im Allgemeininteresse.  Überwachung einer sachgerechten pflegerischen Versorgung der Bevöl-

kerung nach aktuellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen durch die Berufsangehörigen.  Sicherung einer qualitativ hochwertigen Versorgung der Bevölkerung mit

Pflegeleistungen (z. B. Codes of Conduct zur ordnungsgemäßen Aufgabenerledigung mit sanktionierten Verletzungen der ständischen Berufspflichten) (Wagner 2002, S. 91 ff.).  Herausbildung eines Berufsethos der pflegerischen Berufe.

1

Der gesetzliche Rahmen der Heilberufeausbildung liegt allerdings in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die dieser durch das Altenpflegegesetz und das Krankenpflegegesetz weitgehend wahrgenommen hat. Insoweit ist den Ländern die Gesetzgebung verschlossen, siehe hierzu: Martini 2014, S. 105 ff.

2

Insbesondere die Weiterentwicklung von Leitlinien und Standards könnten durch Pflegekammern besser koordiniert und gebündelt werden. Die vorhandene fachliche Pflegekompetenz muss durch haupt- und ehrenamtliche Berufsvertreter sowie Know-how anderer Berufsgruppen (z. B. Juristen, Gesundheitsökonomen, Sozialpädagogen etc.) in dem organisatorischen Umfeld einer Pflegekammer effektiv und effizient unterstützt und ausgebaut werden.

Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

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 Verankerung und Durchsetzung einer einheitlichen Berufsethik, Berufs-

ordnung und Berufsaufsicht über die Berufsangehörigen.  Berufsaufsicht, somit die Kontrolle sachgerechter Wahrnehmung der be-

ruflichen Pflichten entsprechend den ethischen und rechtlichen Grundlagen des Berufsstandes.  Die Überprüfung der für die Berufsausübung erforderlichen Sprachkom-

petenz im Rahmen der Anerkennung ausländischer Bildungsnachweise.  Einschreiten bei Missachtung der Berufsethik und der Berufsordnung.  Vorbereitung von und Mitwirkung an pflegerischen Qualitätsstandards,

Qualitätssicherung sowie ressourcenorientierten Pflegekonzepten.  Festsetzung von Standards für die Ausübung der beruflichen pflegeri-

schen Tätigkeit nach pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen.  Unterstützung von Forschung in der Pflege.  Abnahme von Prüfungen/Vergabe von Lizenzen und Zertifikaten3.  Professionalisierung der Pflegeberufe und ihrer Dienstleistung.  Schiedsstellentätigkeit zur Beilegung von Streitigkeiten, die sich aus der

Berufsausübung zwischen den Mitgliedern oder diesen und Dritten ergeben.  Systematische Registrierung aller Personen, welche die Erlaubnis zur Aus-

übung von Pflegeberufen besitzen.  Ausgabe von Heilberufsausweisen.  Erhöhung der Transparenz im Berufsgeschehen.  Erhebung und Auswertung berufsrelevanter Daten.

3

Beispielsweise machen professionelle Anforderungen sowie eine immer kürzer werdende Halbwertszeit des Wissens gerade auch in der Pflege das ständige Lernen und Überprüfen notwendig. Im Hinblick auf die immer stärkere Betonung von Qualitätssicherung und Prävention im Gesundheitswesen wird der Fort- und Weiterbildung eine zunehmend wichtigere Rolle zugesprochen. Die Pflegekammern könnten hierbei die Fort- und Weiterbildung koordinieren, organisieren und ggf. zertifizieren, um den steigenden Anforderungen an den Wissensstand der Pflegenden gerecht zu werden.

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4

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Nutzen der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz für den Berufsstand der Pflege

Auf der Gründungsversammlung der Berufsorganisation für die Krankenpflegerinnen Deutschlands definierte Agnes Karll 1903 erstmals das Selbstverständnis der pflegerischen Profession und forderte mit folgenden Worten eine selbstbestimmte Berufsorganisation ein: „Wir, die als selbstständige, selbstverantwortliche Menschen dem Leben gegenüberstehen, sind selbst schuldig, wenn wir nicht die rechtlichen Wege suchen und bahnen helfen, um fähig für unsere Lebensaufgabe zu werden. Wer soll denn unseren Beruf aufbauen, wenn wir es nicht selbst tun.“ (Karll, zit. nach Skibicki 2009, S. 8.) Hieraus und aus den oben dargestellten Aufgaben und Zuständigkeiten abgeleitet liegt der wesentliche Nutzen der Landesflegekammer Rheinland-Pfalz für den Berufsstand der Pflege in folgenden Themenfeldern begründet (Hanika 2015, S. 1 ff.):4  Gemeinwohlorientierte Interessenvertretung der professionell Pflegenden

gegenüber der Öffentlichkeit.  Ansprechpartner im politischen Entscheidungsprozess dank der demo-

kratischen und korporatistischen Kammerstruktur.  Beratungsstelle und Informationsquelle im Sinne des Verbraucherschutzes

durch die Zurverfügungstellung von Expertenwissen.  Stärkung der Stellung der Pflegenden in der Gesellschaft  Aufwertung der Pflege/Stärkung des Berufsstandes der Pflege, auch

durch Sicherung des Fachkräftebedarfs und der Qualität in den Pflegefachberufen.

4

Hierzu auch: Gesetzesentwurf der Landesregierung Rheinland-Pfalz zum Heilberufsgesetz vom 10.6.2014, Drucksache 16/3626, http://www.landtag.rlp.de/landtag/drucksachen/3626–16.pdf, S. 65 f.

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 Eigenverantwortliche Gestaltungsspielräume im Rahmen der Selbstver-

waltung  Selbst- statt Fremdbestimmung.  Ausweitung der innerberuflichen demokratischen Willensbildung der

Pflegenden.  Fort- und Weiterbildung.  Qualitätssicherung der pflegerischen Versorgung auf der Basis festge-

legter Berufsinhalte und Berufspflichten.  Interne Berufsaufsicht.  Förderung der Pflegeforschung und Wissenschaft.  Maßgebliche Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen der

Pflegeberufe  Neue institutionalisierte Macht in unserem korporativ organisierten Ge-

sundheitswesen.  Institutionelles Gedächtnis.  Innerberufliche demokratische Willensbildung der Pflegenden.  Berufsrecht Pflege hin zu einem gesicherten Berufsbild entwickeln.  Kompetenz- und Servicezentrum, welches den Mitgliedern beratend

zur Seite steht.  Gleichstellung und Aufwertung der Position bei der Weiterentwicklung

des Gesundheitswesens 

z. B. formelle Gleichstellung mit der ärztlichen Standesvertretung, die die Pflegenden in der Gesellschaft aufwertet und stärkt.

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

Resümee und Ausblick

Mit der Errichtung der Pflegekammer in Rheinland-Pfalz und der damit eingeräumten Selbst- statt Fremdbestimmung der professionell Pflegenden wird die große Chance und dringende Notwendigkeit genutzt, dass  die Pflege in unserem korporatistisch verfassten Gesundheitswesen eine

starke Stimme erhält und zu einer ausgewogeneren Verteilung der Kräfteverhältnisse beitragen kann,  die Pflege ihr Aktivierungspotential ausschöpfen kann,  die Pflegenden körperschaftlich organisiert und gemeinsam für die Wah-

rung des Ansehens des Berufsstands eintreten können,  die Pflege für ein kollegiales Verhältnis der Kammermitglieder unterei-

nander und zu Mitgliedern anderer Kammern sorgen sowie auf eine Kooperation mit Angehörigen sonstiger Gesundheitsberufe hinwirken kann,  die Pflege in Selbstbestimmung die Berufsausübung der Kammermitglie-

der regeln und Beratungen in berufsfachlichen und allgemeinen berufsrechtlichen Fragen anbieten kann,  die Pflege die Einhaltung der Berufspflichten der Kammermitglieder

überwachen sowie die zur Beseitigung berufsrechtswidriger Zustände notwendigen Maßnahmen treffen und hierüber bei Bedarf auch andere Kammern unterrichten kann,  die Pflege öffentliche Stellen in Fragen der Normsetzung und der Verwal-

tung beraten und unterstützen sowie Sachverständige benennen kann,  die Pflege die Aufsichtsbehörden über für den Berufsstand bedeutsame

Vorkommnisse in der Berufsausübung und Berufsaufsicht informieren kann,  die berufliche Fort- und Weiterbildung der Kammermitglieder in Selbst-

verwaltung regeln und fördern kann,  die Pflege ein Weiterbildungsregister für die in Weiterbildung befindlichen

Kammermitglieder aufstellen und laufend fortschreiben kann,

Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

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 die Pflege im Rahmen ihrer Zuständigkeit Belange der Qualitätssicherung

wahrnehmen sowie die Mitwirkung der Kammermitglieder an der Sicherung der Qualität ihrer beruflichen Leistungen regeln kann,  die Pflege an die Kammermitglieder Heilberufsausweise ausgeben und

ihnen sonstige Bescheinigungen ausstellen kann,  die Pflege die Aus- und Fortbildung der bei den Kammermitgliedern Be-

schäftigten fördern und die ihnen nach dem Berufsbildungsgesetz obliegenden Aufgaben wahrnehmen kann sowie  die Pflege Mitteilungsblätter heraus- oder mitherausgeben kann, die ins-

besondere der Bekanntmachung, Fortbildung, Information und Meinungsbildung dienen. Die obige dargestellte Auflistung ist nicht abschließend! Die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz hat die Möglichkeit, weitere über den Aufgabenkatalog hinausgehende kammereigene Aufgaben mit besonderem Sachbezug zu ihren Mitgliedern in deren Interesse wahrzunehmen und durch autonomes Satzungsrecht zu konkretisieren. Zu den gesetzlichen Aufgaben der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz zählen weiterhin: Fortbildungsveranstaltungen zu zertifizieren und Fortbildungszertifikate als Nachweis der Erfüllung der Fortbildungspflicht auszustellen, von Kammermitgliedern betriebene Qualitätsmanagementsysteme zu zertifizieren und Daten über die Nachweise von Fort- und Weiterbildung sowie fachlichen Qualifikationen fortlaufend zu erfassen und an zuständige Stellen weiterzuleiten. Die Pflegekammer Rheinland-Pfalz verfügt darüber hinaus über verschiedene ethikbezogene Instrumentarien und kann z. B. eine eigenständige Ethikkommission für ethische Fragen in der Pflege errichten. Pflegekammern werden der großen Berufsgruppe der professionell Pflegenden aus folgenden Gründen eine gewichtige Stimme im Konzert der verkammerten Berufszweige verleihen:5:

5

Weiterführend Hanika 2015, S. 1 ff. m. w. N.

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 Pflegekammern stellen eine neue institutionalisierte Macht in unserem

korporativ organisierten Gesundheitswesen dar.  Es ist in unserem deutschen Gesundheitswesen völlig gängig und aner-

kannt, dass Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten sowie Apotheker ihre Interessen vertreten und die Gesundheitsversorgung mitgestalten; die professionellen Pflegeberufe treten nunmehr in den Positionierungswettstreit der Gesundheitsberufe ein.  Pflegekammern verschaffen den pflegespezifischen Interessen ein größe-

res Gewicht in der Wahrnehmung, da die Vertreter der professionell Pflegenden in Gesetzgebung, in Gremien sowie in der Öffentlichkeit präsent sind.  Die politische Mächtigkeit der verkammerten Pflegeberufe liegt in ihrem

Aktivierungspotential aller Pflegenden.  Pflegekammern sind ein wichtiger Baustein für die gesellschaftliche Aner-

kennung der Pflege, da die Pflege nunmehr in wichtigen Gremien über Sitz- und Stimmrechte verfügen, Schlüsselpositionen einnehmen und dies die Attraktivität für den Nachwuchs erhöht und in der Rückkoppelung dieses Bedeutungszuwachses der Stellenwert in der Gesellschaft stabilisiert und weiter verbessert wird.  Der Sachverstand und die Expertise der Pflege sind in unserem gesund-

heitspolitischen System unabdingbar für den gesellschaftlichen Konsens bei anstehenden Fragen der Priorisierung, Rationierung sowie ethischer und medizin- sowie pflegetechnischer Fragestellungen.  Die Pflege wird in vielfältiger Weise in unserem Gesundheitsversorgungs-

system (SGB V, SGB XI) mitwirken sowie mitbestimmen, da sie nunmehr mit am „Tisch der Mächtigen“ sitzt. Im Ergebnis werden die Pflegekammern zur Emanzipation der Pflege einen essentiellen Beitrag leisten (Weidner 2014a, S. 28 ff.; Weidner 2014b, S. 324 ff.; Weidner 2014c, S. 334 ff.). Allerdings müssen die Pflegenden eine berufspolitische, professionelle und schlagkräftige Selbstverwaltungsorganisation aufbauen, um im Hinblick auf

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die Vielzahl der Berufsangehörigen, die sie repräsentieren zu einer gewichtigen Größe und Mächtigkeit im Gesundheitswesen heranzuwachsen. Die pflegerischen Berufe haben ihr Schicksal nunmehr selbstbestimmt in der Hand und müssen ihr Kammersystem professionell aufbauen und durch (berufs-)politisches Engagement in wirksamer Weise zur Geltung bringen.

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Jürgen Faltin | Heinrich Hanika

Literatur

Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe e.V. (2005): Pflegekammern – Beitrag zur Diskussion über Kammern in der Pflege, Stuttgart. Hanika, H. (2015): Ihre erfolgreichen Pflegekammern in Deutschland und Europa – Garanten der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung und legitime Selbstverwaltung der professionell Pflegenden. Ein Leitfaden für (berufs-)politisch Interessierte, Pflegende sowie Pflegekammerbeschäftigte zur pflegeberuflichen Selbstbestimmung, Stuttgart. Karll, A., zit. nach Skibicki, M. (2009): Pflege – Ein gesellschaftlicher Auftrag. Gute Argumente für die Verkammerung der Pflegeberufe; Förderverein zur Errichtung einer Pflegekammer in Niedersachsen e.V (Hrsg.). Broschüre Nationale Konferenz Stand 6/2009, S. 1 – 26. Martini, M. (2014): Die Pflegekammer – verwaltungspolitische Sinnhaftigkeit und rechtliche Grenzen, Berlin. Seewald, O. (1997): Rechtsgutachten: Die Verfassungsmäßigkeit der Errichtung einer Kammer für Pflegeberufe im Freistaat Bayern, (online) http://www.pflegekammer.de/Seewald.pdf (04.05.2015). Wagner, F. (2002): Berufsständische Selbstverwaltung – eine Pflegekammer?, in: Stöcker, G. (Hrsg.): Bildung und Pflege, Hannover, S. 1 – 252. Weidner, F. (2014a): Eine mächtige Gemeinschaft, in: Die Schwester Der Pfleger, 53. Jg., Heft 1, S. 28 – 31. Weidner, F. (2014b): Die Pflegekammer kommt! JA, warum denn nicht?, in: Die Schwester Der Pfleger, 53. Jg., Heft 4, S. 324 – 328. Weidner, F. (2014c): Aufgaben einer Landesärztekammer – „Beratung steht für uns an erster Stelle“, in: Die Schwester Der Pfleger, 53. Jg., Heft 4, S. 334 – 336.

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Karin Kersting

Die Coolout-Studien in der Pflege – eine Analyse des unauflösbaren Widerspruchs in den Anforderungen an Pflegende 1. Was ist Coolout? 2. Der unauflösbare Widerspruch in den Anforderungen an Pflegende 3. Die Metapher der Kälte und der Aufbau der Studienreihe 4. Die Kälteellipse und die Reaktionmuster 5. Coolout in der Pflege – ein den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldetes Phänomen 6. Literatur

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Stichwörter: Coolout, Kälte in der Pflege, moralische Desensibilisierung, Patientenorientierung, Pflegeausbildung. Zusammenfassung: Mit den Coolout-Studien wird der unauflösbare Widerspruch in den Anforderungen an Pflegende analysiert: Pflegende sollen den hohen pflegefachlichen Anspruch (Stichwort Patientenorientierung) bei der Versorgung und Betreuung der ihnen anvertrauten Menschen verwirklichen und zugleich sehen sie sich aufgrund der ökonomischen Zwänge im Pflegealltag genötigt, schnell zu arbeiten. Mit Rückgriff auf die Metapher der „Bürgerlichen Kälte“ wird erklärt, wie sie diesen Widerspruch in ihrem Arbeitsalltag aushalten können und zugleich zur Stabilisierung einer erklärtermaßen normativ inakzeptablen Praxis beitragen.

Die Coolout-Studien

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Was ist Coolout?

Coolout beschreibt und erklärt den Prozess einer moralischen Desensibilisierung in der Pflege. Die qualitative Studienreihe zum Phänomen Coolout in der Pflege ist seit 2007 einer der Forschungsschwerpunkte im Fachbereich Sozialund Gesundheitswesen der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. Erste Studien wurden bereits Ende der 90er Jahre an der Universität Duisburg-Essen durchgeführt (Kersting 2013). Zentrales Thema der Coolout-Studien ist der unauflösbare Widerspruch zwischen Pflege, wie sie gemäß Krankenpflegesetz und Ausbildungs- und Prüfungsverordnung sein soll und der an ökonomischen Zwängen ausgerichteten Wirklichkeit in der Praxis: Die Pflege soll nach dem pflegefachlichen Anspruch patientenorientiert sein: Pflegende sollen sich laut Krankenpflegegesetz im Sinne einer ‚gutenʼ und ‚richtigenʼ Pflege an den je individuellen PatientInnen und ihren Bedürfnissen orientieren. Zugleich findet Pflege unter Bedingungen statt, die dies nicht zulassen. In dem Spannungsfeld zwischen normativem pflegefachlichem Anspruch (Stichwort Patientenorientierung) und ökonomischen Zwängen des Pflegealltags kommt es zu einem „Prozess der moralischen Desensibilisierung“ (Kersting 2013, S. 53, 301). Pflegende, SchülerInnen, PflegepädagogInnen, PraxisanleiterInnen lernen es, sich unempfindlich, sich kalt zu machen gegenüber dem Widerspruch in den Anforderungen. Sie lernen es, den pflegerischen Anspruch zu unterwandern und zugleich daran festzuhalten.

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Der unauflösbare Widerspruch in den Anforderungen an Pflegende

Pflegende geraten in ihrem Arbeitsalltag immer wieder in moralische Konfliktsituationen, in denen sie das „Gute und Richtige“ im Sinne einer an den individuellen PatientInnen und ihren Bedürfnissen ausgerichteten Pflege tun sollen und wollen, aber die dafür erforderliche Zeit nicht zur Verfügung steht. Von Pflegenden wird gleichzeitig erwartet, sich im Alltag funktional an den aktuel-

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len Erfordernissen der Stationsabläufe zu orientieren: Alle Arbeiten müssen erledigt werden, egal wie viel oder wenig Pflegepersonal zur Verfügung steht, egal wie viele PatientInnen auf der Station sind, egal wie pflegebedürftig diese PatientInnen sind. Pflegende sehen sich dadurch oftmals genötigt, schnell zu arbeiten (Kersting 2013, S. 25 ff., Kersting 2014, S. 486 f.). Die Rahmenbedingungen, unter denen Pflege stattfindet, führen so zu einem unauflösbaren Widerspruch in den Anforderungen an Pflegende und SchülerInnen, die in der Praxis tätig sind. Dieser Widerspruch findet sich auch in den Anforderungen wieder, die an die Pflegelehrenden und an die PraxisanleiterInnen gestellt werden. Sie sind es, die den SchülerInnen den pflegefachlichen Anspruch vermitteln sollen. Zugleich müssen sie auch Sorge dafür tragen, dass SchülerInnen als Teil des Teams mitarbeiten können, sie sollen „praxistauglich“ ausgebildet werden, sie müssen in ihrem Alltag auch „funktionieren“ (Kersting 2012, S. 52 ff., S. 61 ff., Kersting 2014, S. 488 f., sowie Kersting 2015a). Was heißt „praxistauglich“ ausbilden in einer Pflegepraxis, die durch ökonomische Zwänge geprägt ist? Was heißt „praxistauglich“ überhaupt im Zusammenhang mit dem hohen pflegefachlichen Anspruch der im Krankenpflegegesetz, in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung verankert ist und sich in den vielfältigen Theorien, Konzepten, Instrumenten professionellen pflegerischen Handelns widerspiegelt? Der pflegerische Anspruch ist in der Gesetzgebung fixiert. Stichworte gemäß Krankenpflegegesetz § 3 sind hier: pflegewissenschaftliche Fundierung des Handelns, Selbständigkeit der PatientInnen fördern, ihre Selbstbestimmung, ihre individuelle Lebenssituationen und Lebensphasen und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen, umfassende Begleitung, Beratung, Betreuung, angemessene Kommunikation und Interaktion (Bundesgesundheitsministerium 2003). Aber nicht allein in der Gesetzgebung ist dieser Anspruch verankert. Ein Blick auf Klinik- oder Pflegeleitbilder zeigt, dass dem Anspruch nach auch hier die Orientierung an den individuellen PatientInnen und ihren Bedürfnissen hervorgehoben und in den jeweiligen Einrichtungen reklamiert wird. Wie aber sieht die Wirklichkeit im Pflegealltag aus? An dieser Stelle sei auf Untersuchungen wie etwa das ʻPflegethermometerʼ (Deutsches Institut für an-

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gewandte Pflegeforschung) verwiesen. Hier werden u. a. der massive Stellenabbau in Krankenhäusern in der Vergangenheit, die steigende Arbeitsverdichtung und Belastung der Pflegenden sowie ein chronischer Pflegemangel beschrieben. Problemfelder und Mängel in der Pflegepraxis sind laut Pflegethermometer z. B.  angemessene Überwachung von verwirrten PatientInnen,  Mobilisierung

und fachgerechte Lagerung von bewegungseinge-

schränkten PatientInnen,  Gesprächshäufigkeiten, Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme  sowie Betreuung Schwerstkranker und Sterbender (Isfort/Weidner et al.,

2010, S. 5 ff.). Es ist mehr als fraglich, wie die Pflegenden in einer solchen „Mängelpraxis“ den gesetzlich verankerten Anspruch erfüllen können sollen. Wie sollen SchülerInnen und Examinierte ihre Pflege an den je individuellen Bedürfnissen und der Förderung der Selbständigkeit der PatientInnen ausrichten, sie umfassend begleiten, beraten, betreuen? Wie sollen PflegepädagogInnen und PraxisanleiterInnen den SchülerInnen die Bedeutung und Handlungsrelevanz einer patientenorientierten Pflege glaubwürdig vermitteln, wenn sie doch wissen, in welcher „Mängelpraxis“ und in welchen ökonomischen Zwängen sich die SchülerInnen in ihrem Alltag bewegen? Was bedeutet es für die Pflegenden, Lehrenden, Anleitenden, wenn von ihnen etwas verlangt wird, das sie nicht erfüllen können, weil die realen Versorgungsbedingungen dem entgegenstehen? (Bundesgesundheitsministerium 2003, Anlage 1 A der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung der Berufe in der Krankenpflege „Theoretischer und praktischer Unterricht“).

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Die Metapher der Kälte und der Aufbau der Studienreihe

Nimmt man den gesetzlich verankerten normativen Anspruch ernst, so müsste man verzweifeln angesichts einer Realität, die die Verwirklichung systematisch versagt. Pflegende sind aber nicht alle verzweifelt, die meisten halten das aus, jeden Tag, SchülerInnen, Examinierte, alle AkteurInnen im Bereich der Pflege. Wie schaffen sie das? Wie halten sie aus, dass sie nicht machen können, was sie machen sollen und wollen. Wie halten sie die alltäglichen typischen moralischen Konfliktsituationen in diesem Spannungsfeld aus? Die Antwort lautet: durch „Bürgerliche Kälte“. Diesen Begriff prägten Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und später Andreas Gruschka mit ihren gesellschaftskritischen Analysen(Adorno 1994a, 1994b, Adorno/Horkheimer 1994, Gruschka 1994). Mit der Metapher der Kälte lässt sich erklären, wie Menschen das Spannungsfeld von normativen Ansprüchen und gesellschaftlichen Funktionen, die diesen Ansprüchen entgegenstehen, so aushalten, dass sie ihre moralische Integrität wahren und handlungsfähig bleiben können (Kersting 2013, S. 128, Gruschka 1994, S. 34 ff.). Indem wir uns gegenüber dem Widerspruch kalt machen, gelingt es uns, die Verletzung der Norm hinzunehmen. Mit der Metapher der „Kälte“ beschreiben die Coolout-Studien wie die AkteurInnen im beruflichen Bereich der Pflege das Spannungsfeld aushalten. „Mit ihr [der Kälte, K.K.] wird das mehr oder weniger widerstandslose Hinnehmen der Tatsache möglich, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein beansprucht bzw. wie sie sein sollte.“ (Gruschka 1994, S. 76) Dieser Begriff der Kälte hat eine Doppelsinnigkeit:

1. Die Metapher der Kälte bezieht sich zum einen auf das, was die Strukturen der Gesellschaft bzw. des Gesundheitswesens produzieren. Die Strukturen im Gesundheitswesen fordern auf der einen Seite von den Pflegenden, den hohen normativen fachlichen Anspruch zu verwirklichen und zwar auch innerhalb der wirtschaftlichen Zwänge, denn dies macht die Pflegeeinrichtungen erst zu humanen Einrichtungen. Die wirtschaftlichen Zwänge nötigen aber zugleich zu funktionalem Handeln: Alle Abläufe im Stationsalltag müssen erledigt werden, trotz knapper

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Ressourcen. Hier in diesem Widerspruch objektiviert sich die Kälte: Die Strukturen fordern etwas, das nicht einzulösen ist. Sie sind Kälte verursachend.

2. Mit der Metapher der Kälte wird zum anderen auch die Reaktionsform des einzelnen Pflegenden darauf beschrieben. Die Pflegenden lernen es, sich selbst kalt zu machen, sie lernen es, die strukturellen Bedingungen hinzunehmen und sie stabilisieren damit das, wovor sie sich zu schützen suchen: Kälte (Kersting 2014, S. 487). Die Coolout-Studien beschreiben, wie Pflegende auf den unauflösbaren Widerspruch, auf Kälte mit Kälte reagieren. Sie beschreiben, wie Menschen konflikthafte Alltagssituationen so für sich deuten, dass sie bestehen und handlungsfähig bleiben können. Die Ergebnisse der Coolout-Studien zeigen, dass alle Strategien erlernen, mit denen sie mehr oder weniger widerstandslos Normverletzungen im Alltag hinnehmen können. Dabei geht es nicht um eine eklatante, dramatische Verletzung der Norm, die sofort zum Protest führt. Es geht vielmehr um die häufige Verletzung der Norm im scheinbar Kleinen, eine vom Inhalt her tendenziell tolerierbare Regelverletzung, die nicht direkt Widerstand mobilisiert, die eher unscheinbar und insofern eher harmlos im Alltagsablauf erscheint. Gerade die Alltäglichkeit, die fehlende Besonderheit der Normverletzung birgt eine Normalitätstendenz, die zum Maßstab für Normalität selbst gesetzt wird – so der Soziologe Ulrich Oevermann (Oevermann 1999, S. 257; Kersting 2013, S. 93). Diese Normalitätstendenz strukturell regelverletzender Abläufe ist Teil des Pflegealltags, sie ist konstitutiv für den beruflichen Alltag und damit ist sie auch konstitutiv für berufliche Sozialisation. Pflegende, SchülerInnen, PraxisanleiterInnen und PflegepädagogInnen lernen es, sich unempfindlich zu machen gegenüber dem Widerspruch in den Anforderungen des Pflegealltags. Sie machen dies in einer Weise, die sie befähigt, grundsätzlich an dem hohen pflegefachlichen Anspruch festzuhalten und ihn zugleich zu unterlaufen. Wie das konkret aussieht, das zeigen die unten beschriebenen Reaktionsmuster der Befragten.

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Bislang wurden in der qualitativen Studienreihe in zehn Forschungsprojekten, davon acht studentische Projekte, 90 ProbandInnen aus dem Berufsfeld der Pflege zu dem oben skizzierten unauflösbaren Widerspruch befragt. Im Rahmen der Studienreihe werden – jeweils abgestimmt auf die unterschiedlichen konkreten Arbeitsfelder, in denen die Befragten tätig sind – Szenarien als Grundlage für die Befragungen entwickelt (bisher Schülerinnen der Gesundheits- und Krankenpflege und examinierte Pflegende, Schülerinnen der Altenpflege, Praxisanleiterinnen, Pflegepädagoginnen, Pflegedienstleitungen1). In allen Szenarien sind immer die beiden Seiten des Widerspruchs eingearbeitet, so wie sie in für die jeweiligen Tätigkeitsfelder typischen alltäglichen Konfliktsituationen auftreten. Strukturell sind die Szenarien somit vergleichbar, inhaltlich sind sie den Tätigkeitsfeldern bzw. dem jeweiligen Arbeitsalltag angepasst (Kersting 2013, S. 25, Kersting 2012, S. 75 ff.). Die Szenarien bieten den Einstieg in leitfadengestützte Einzelinterviews. Alle Interviews werden aufgezeichnet, anschließend wörtlich transkribiert, mittels Objektiver Hermeneutik nach Ulrich Oevermann in Interpretationsgruppen ausgewertet und so die Deutungsbzw. Reaktionsmuster der Befragten auf den Widerspuch herausgearbeitet (Kersting 2013, S. 87 ff.).

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Die Kälteellipse und die Reaktionsmuster

Coolout in der Pflege lässt sich in Form von Reaktionsmustern („Kältestrategien“) beschreiben, die einer bestimmten Entwicklungslogik folgen. Grafisch stellt dies die im Laufe der Studien entwickelte (Kälte)Ellipse dar. Die Anordnung der Muster in der Ellipse zeigt Unterscheidungen hinsichtlich einer Zunahme des Reflexionsniveaus2 (Kersting 2011, S. 7 ff., Kersting 2013, S. 133 ff., Kersting 2014, S. 271 ff.):  vom naiven Zugang, bei dem der Widerspruch in den Anforderungen

gar nicht erkannt wird, 1

Die Ergebnisse der Studie zur Situation der Pflegedienstleitungen liegen noch nicht vollständig vor.

2

Die Reaktionsmuster der Fiktionalen Auflösung werden hier nicht beschrieben. Die ausführliche Beschreibung aller Reaktionsmuster lässt sich bei Kersting 2013 nachlesen.

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 über eine (gleichsam ohnmächtige) Hinnahme in der Praxis,  über engagierte Versuche der praktischen Auflösung des Widerspruchs

mit unterschiedlichen Strategien  bis hin zu einer Einsicht in die Unauflösbarkeit des Widerspruchs. Die Kälteellipse – alle Reaktionsmuster

Operative Reaktionsformen

Reflexive Reaktionsformen

10. Drohende 9. Reflektierte Dekomposition Hinnahme 11. Reflektierte Identifikation 12. Reflektierter Protest

8. Individuelle Auflösung

7. Kompensation

für falsche Praxis

6. Idealisierung falscher Praxis

0. Naive Überwindung

1. Fraglose Übernahme 2. Ahnung von Kälte

3.a Opfer

4. Verdrängung falscher Praxis 3.b Täter

Fiktionale Auflösungen 5.a Fallweises Aussteigen 5.b Definitor. Auflösung 5.c Virtuelle Auflösung

Widerspruchserfahrung

Regelkonforme Reaktionsformen

Operative Reaktionsformen

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Abb 1: Kälteellipse alle Reaktionsmuster. Quelle: Eigene Abbildung.

Zunächst kann man sagen, dass es Reaktionsmuster gibt, die einen naiven Zugang zur beschriebenen widersprüchlichen Situation im Alltag zeigen. Hier lässt sich ein Reaktionsmuster beschreiben, welches als fraglose Übernahme objektiv Kälte verursachender Strukturen bezeichnet wird. Das Reaktionsmuster zeichnet sich dadurch aus, dass der strukturell verankerte Widerspruch gar nicht erkannt wird. Vielmehr werden beide Seiten des Widerspruchs – Norm wie Funktion – als Einheit wahrgenommen, welche die Praxis bestimmt. Die Bedingungen des Alltags werden als legitim angesehen und somit fraglos als richtig akzeptiert. Wie selbstverständlich fügt sich der Proband im Alltag den Regeln der Praxis, so wie er sie erlebt. Die Einsicht in die Notwendigkeit der

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Funktionalität gehört ebenso dazu wie das Wissen um den normativen Anspruch. Dabei steht der Proband3 der Norm keineswegs gleichgültig gegenüber, er erkennt aber überhaupt nicht, dass der normative Anspruch im Alltag nicht erfüllt wird und dies innerhalb der vorgegeben Strukturen auch nicht möglich ist. Er zeigt kein Bewusstsein für die widersprüchliche Beziehung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Das auf den ersten Blick erstaunlich Erscheinende an diesem Reaktionsmuster, nämlich die durchaus formulierte Forderung des Probanden nach der Erfüllung des normativen Anspruchs und das vermeintliche Gelingen, werden erst plausibel, wenn man dabei im Blick hat, dass das, was an Normverwirklichung erlebt und auch angestrebt wird, bereits funktional gebrochen und deshalb kompatibel mit den Bedingungen ist. Die Praxis wird so gedeutet, dass die Norm, oder das, was der Proband dafür hält, im Alltag als erfüllt angesehen wird. Der Proband ist so in das Regelwerk und die Gepflogenheiten der Arbeitsweisen eingebunden, dass er unreflektiert reproduziert, was er im täglichen Leben erlebt. Mögliche Bedingungen für diese Deutung können folgende sein:  Der Proband integriert sich in die Sachzwänge des Alltags und das Re-

gelwerk der Praxis. Die Regeln des Alltags gelten als Konventionen, die vorgeben, wie man sich zu verhalten hat. Eine eigenständige Verantwortung dafür, gestalterisch in den Alltag einzugreifen, wird auf die Konventionen abgeschoben. Diese Anpassung ist ein Ausdruck dafür, dass der Alltag unhinterfragt als unveränderbar angenommen wird.  Der Anspruch an die Norm ist so weit heruntergeschraubt, dass eine rei-

bungslose Eingliederung in die Praxis möglich ist, weil der Anspruch im Alltag als verwirklicht angesehen wird. Dadurch gibt es in der Praxis kein Problem hinsichtlich der Norm und der ihr entgegenstehenden Funktion. Unkritisch wird das, was dem Probanden und anderen dabei widerfährt, hingenommen.

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Konkrete Personen werden aus Gründen der besseren Lesbarkeit in der männlichen Form genannt, gemeint sind damit auch Probandinnen.

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Ein weiteres Reaktionsmuster Ahnung von Kälte beschreibt den Übergang zu einer bewussten Erfahrung des Widerspruchs. Zu den Merkmalen zählt die Wahrnehmung, dass Menschen in ihrem Alltag mit zwei sich widersprechenden Forderungen konfrontiert werden. Diese Forderungen können konkret benannt werden. Ein Verhalten entsprechend der Norm wird als das „Richtige“ und ein Verhalten entsprechend der Funktionalität wird als legitim anerkannt. Der Zusammenhang von Norm und Funktion als objektiver Widerspruch wird nicht in seiner Wechselbeziehung wahrgenommen, sondern getrennt betrachtet. Zugleich wird gesehen, dass es zu Schwierigkeiten hinsichtlich der Erfüllung des normativen, pflegefachlichen Anspruchs kommt, und es ist ein Bewusstsein dafür vorhanden, dass dies zu negativen Folgen führen kann. Die daraus resultierenden Konflikte gehören zur Normalität des Alltags. Zwar wird auch bei diesem Reaktionsmuster der Alltag, so wie er erlebt wird, als noch akzeptabel hingenommen, nur wird auch gezeigt – im Gegensatz zu der „fraglosen Übernahme“ – dass diese Hinnahme mit einem Unbehagen und/oder Unverständnis hinsichtlich der Normalität einhergeht. Diese Unstimmigkeit wird aber nicht in dem Sinne problematisiert, dass sie ergründet wird. Stattdessen werden pragmatische Maßnahmen vorgeschlagen, mit denen versucht wird, konflikthafte Situationen zu lösen. Das jedoch gelingt nur partiell, also nur für einzelne Situationen, nicht aber mit Blick auf den gesamten Alltag. Die Realität wird mit ihren konflikthaften Situationen so hingenommen, wie sie ist, denn eine Strategie zur Auflösung der Problematik wird nicht gesehen. Zurück bleibt eine Ahnung darüber, dass innerhalb der bestehenden Strukturen und somit innerhalb der Normalität des Alltags moralisch etwas nicht stimmt. Während bei den beiden letzten regelkonformen Reaktionsmustern normativer Anspruch und Funktionalität noch unbegriffen nebeneinander stehen, fallen sie in der Widerspruchserfahrung auseinander. Am Beispiel der Pflegenden heißt das, sie machen die Erfahrung, dass von ihnen etwas verlangt wird, was sie nicht ohne Weiteres erfüllen können, auch wenn sie dies wollen: Die Kommunikation beispielsweise mit einer Patientin, die an einer Aphasie (Sprachstörung) leidet, bedarf der Zeit genauso, wie die Begleitung sterbender PatientInnen nicht zwischen Tür und Angel möglich ist. Damit PatientInnen mit einer Hemiplegie (Halbseitenlähmung) Bewegungsabläufe neu erlernen und in der

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pflegerischen Betreuung die richtige Balance zwischen aktiver und passiver Unterstützung und Förderung der eigenständigen Durchführung von Verrichtungen findet, bedarf es einer sorgfältigen Planung der Pflege, die entsprechend auch umgesetzt wird. Mit schnellem Arbeiten lässt sich das nicht in Einklang bringen. Auf die Erkenntnis, dass systematisch nicht eingelöst wird, was Pflegende in der Ausbildung als optimale Pflege lernen, folgt, dass sie mit ihren subjektiven Urteilen die Zumutungen des Alltags nun nicht mehr fraglos hinnehmen können. Eine Sensibilität für die Normverletzung führt dazu, dass sie neue Deutungsformen für die Bewältigung des konflikthaften Alltags lernen müssen. Sie können und müssen sich nun bewusst zur Kälte verhalten. Hinter diese bewusste Widerspruchserfahrung können sie nicht mehr zurückfallen. „Der Versuch, nach der bewussten Widerspruchserfahrung mit dem Reaktionsmuster einer fraglosen Übernahme auf Kälte zu antworten, wäre nur mittels einer Selbsttäuschung möglich. Dies käme aber dem Reaktionsmuster einer Verdrängung gleich. Auch diese könnte die Bewusstwerdung des Widerspruchs nicht aufheben – das heißt, nicht rückgängig machen – sondern würde sie allenfalls verschleiern. Ebenso verstellt sich .. nach der Widerspruchserfahrung das Reaktionsmuster Ahnung von Kälte. Die Unbestimmtheit gegenüber den Widersprüchen in den regelkonformen Reaktionsformen ist durch die Widerspruchserfahrung zur Gewissheit geworden. Sie die ProbandInnen, K. K. sind folglich dazu gezwungen, sich in irgendeiner Weise zu diesem Wissen zu verhalten: Die Widerspruchserfahrung zeigt sich als ein Stück Aufklärung und als diese in ihrem Kern irreversibel. Der Weg zurück zu einer ursprünglichen Naivität im Umgang mit Kälte ist versperrt. Ein Wegsehen oder ein Absehen vom Widerspruch ist nur in Form eines intentionalen Aktes möglich, das heißt: Nach der bewussten Widerspruchserfahrung wird jeder, was er auch tun mag, immer in irgendeiner Weise sich zu den Widersprüchen verhalten – auch noch in den subtilen Versuchen, dieses Wissen um das Disparate zu ignorieren.“ (Heinrich 1999, zitiert nach Kersting 2013, S. 220 f.) Alle folgenden Reaktionsmuster sind somit als operative Reaktionsformen zu bezeichnen, weil mit ihnen unmittelbar auf den erkannten Widerspruch geantwortet wird. Hier sind weitere Unterschiede festzustellen. Eine Sichtweise besteht darin, dass der erkannte Widerspruch in den Anforderungen nicht aufzulösen ist, was zu einer praktischen Hinnahme des Wider-

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spruchs im Alltag führt. Auf diese Erkenntnis reagieren die Pflegenden wiederum unterschiedlich. So finden sich etwa zwei komplementäre Muster: Während die Pflegenden bei dem einen sich im Bewusstsein ihrer Hilflosigkeit der Übermacht der Verhältnisse fügen und darunter leiden, sichern sie sich bei dem anderen Muster durch Anpassung ihren Vorteil, auch wenn dies auf Kosten anderer geht. Der Dreh- und Angelpunkt des Reaktionsmusters Opfer ist die Erfahrung, dass der für gut und richtig anerkannte normative Anspruch in der Praxis nicht erfüllt, aber trotzdem an ihm festgehalten wird. Die Betroffenen wissen, wie sie sich gemäß der Norm verhalten müssen, und das streben sie auch an. In ihrer Deutung der Konfliktsituation spiegeln sie jedoch Erfahrungen wider, die zeigen, sie können sich nicht darauf verlassen, dass die Norm von allen als verbindlich angesehen wird. Sie haben in unterschiedlichen Situationen die Erfahrung gemacht, dass es zu einem Widerspruch zwischen der anzustrebenden Norm und ihrer sozialen Praxis kommt. Diese Situationen werden nicht als Ausnahmen von der Regel gedeutet, sondern es resultiert eine generelle Erwartungshaltung daraus, dass sie sich mit ihren Bemühungen um den normativen Anspruch nicht durchsetzen können. Sie erkennen, dass sie gegen die Übermacht der Verhältnisse nichts ausrichten können. In ihrem Bewusstsein bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich den Gegebenheiten anzupassen. Setzen sie auf die Erfüllung der Norm und orientieren sich daran, so scheitern sie im Alltag, weil dieses Verhalten keineswegs immer als gewünscht erfahren wird. Passen sie sich hingegen den Verhältnissen an, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, so scheitern sie erneut; diesmal weil sie zu Handlungen genötigt sind, die für andere Personen von Nachteil sind. Sie müssen eine Missachtung der Norm in ihrer täglichen Praxis nicht nur bei anderen Personen hinnehmen, sondern sehen sich gezwungen, selbst so zu handeln. Sie ziehen dabei keine Vorteile aus dem Anpassungsverhalten, bleiben vielmehr in ihrer Opferrolle verstrickt, weil sie die Nachteile ihres Verhaltens nicht mit Gleichgültigkeit, sondern mit Bedauern betrachten. Den Widerspruch können sie nicht auflösen. Diese Erkenntnis führt zu einer ohnmächtigen Hinnahme dessen, was im Alltag erlebt wird.

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In seiner subjektiven Wahrnehmung bietet dieses Reaktionsmuster aber dennoch eine Flucht aus der Spannung zwischen Norm und Funktion: Diese Probanden stilisieren die Ohnmacht, die sie zum Opfer macht, durch die konsequente Orientierung an der Norm hoch, auch wenn sie machtlos hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzung sind. So identifizieren sie sich mit der Rolle des Schwächeren, der alleine nichts gegen die Strukturen ausrichten kann. Das führt dazu, dass entgegen des besseren Wissens, dass die eigene Sicht die richtige ist, innerhalb des Bestehenden verharrt wird. Die Erkenntnis, dass die Norm im Alltag nicht verwirklicht werden kann, hat der Täter mit dem Opfer gemeinsam. Diejenigen, die sich aufgrund dieser Erkenntnis selbst als Opfer sehen, schlagen sich jedoch subjektiv auf die Seite der Norm. Derjenige hingegen, der sich selbst als Täter sieht, lässt sich kalkulierend auf die Praxis ein: Er versucht, sich möglichst vorteilhaft darin zu bewegen. Dies erreicht er, indem er die an ihn gestellten Anforderungen abwägt und hinsichtlich der Vorteile für seine eigene Person beurteilt. Dass dies auf Kosten anderer Personen geht, wird in Kauf genommen. Diese bewusste Billigung der Normverletzung und die aktive Anpassung daran resultieren aus der Erkenntnis, dass er die Situation im Alltag ohnehin nicht zu einer besseren wenden kann. Obgleich der Täter für sich keine andere Möglichkeit sieht, innerhalb des spannungsreichen Alltags zu bestehen, zeigt er ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Rolle. Denn ihm ist bewusst, dass sich sein Verhalten gegen eine postulierte Norm richtet. Er fühlt sich aufgrund der strukturellen Bedingungen im Recht, sich gegen die Norm zu verhalten, weil er sich zu diesem Verhalten genötigt sieht. Zugleich weiß er jedoch auch, dass er angesichts der Tatsache, dass eine Norm postuliert wird, kein Recht bekommen würde, wenn er versuchte, so seine schlechte Praxis zu rechtfertigen. Leitend für sein Verhalten ist nicht, absichtsvoll gegen mögliche Opfer (PatientInnen) vorzugehen, sondern reine Selbsterhaltung. Diese Selbsterhaltung gilt als Rechtfertigung innerhalb von Bedingungen, die das Gute nicht zulassen. Die drei nachstehenden Reaktionsmuster haben gemeinsam, dass mit ihnen Versuche unternommen werden, den Widerspruch aufzulösen (Praktische

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Negation des Widerspruchs). Das wohl tragfähigste Reaktionsmuster4 ist die Idealisierung falscher Praxis. Die Probanden mit dem Reaktionsmuster Idealisierung falscher Praxis haben in ihrem Alltag erfahren, dass unter den strukturellen Bedingungen der Praxis ein normgerechtes Handeln nicht uneingeschränkt umzusetzen ist, und sie wissen, dass dieses in Konfliktsituationen negative Folgen für die Betroffenen hat. Weil ihr Blick für die widersprüchlichen Anforderungen geschärft ist, werden Defizite in der Praxis deutlich erkannt, und daraus resultiert für sie die moralische Notwendigkeit, nach Maßnahmen zu suchen, mit denen diese Defizite beseitigt werden können. Überzeugt von der Richtigkeit und Wichtigkeit des normativen pflegefachlichen Anspruchs werden Anstrengungen unternommen, diesem zu seiner Geltung zu verhelfen, denn das, was im Alltag scheitert, muss und soll verbessert werden. Diese Verbesserung gilt es durch eine andere Art der Praxisgestaltung zu erreichen, sodass eine Normerfüllung doch möglich wird. Die konkreten Veränderungs- und Verbesserungsvorschläge können unterschiedlich sein. Allen Vorschlägen gemeinsam ist dabei die Überzeugung, die Anforderungen, die mit den Rahmenbedingungen und ökonomischen Zwängen des Alltags einhergehen, mit der Norm vermitteln zu können. Die Vorschläge sind somit allesamt praktikabel und können als Forderungen an alle im Alltag Handelnden gerichtet werden (Kersting 2013, S. 170 ff.). Sie beziehen sich etwa auf  Teamarbeit/Kollegialität: Wenn sich ein Arbeitsteam gut versteht und alle

Hand in Hand arbeiten, an einem Strang ziehen, sich KollegInnen untereinander gut abstimmen können, einer dem anderen hilft, es damit zu weniger Krankmeldungen kommt und eine gute Atmosphäre herrscht. So kann die anfallende Arbeit besser bewältigt werden. Der Trugschluss dabei ist, dass ein Team, welches knapp besetzt ist – auch wenn sich alle gut verstehen – ein Team bleibt, das knapp besetzt ist und dadurch die anfallende Arbeit, die Anzahl an PatientInnen, deren Bedürftigkeit und die erforderlichen pflegerischen Maßnahmen nicht weniger werden.

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Diese Aussage basiert darauf, dass 14 der ersten 40 KrankenpflegeprobandInnen das Muster zeigten und es von seiner Logik her so aufgebaut ist, dass die Pflegenden sich zugleich kritisch und konstruktiv zu ihrem Alltag verhalten können.

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 Empathie/Setzen von Prioritäten: Der Fähigkeit zur Empathie wird große

Bedeutung beigemessen, denn wenn die professionellen Helfer in der Lage sind, sich in die Situation der PatientInnen hineinzuversetzen, dann sind sie auch in der Lage, einschätzen zu können, welche Maßnahmen besonders wichtig für die PatientInnen sind. Das ist die Voraussetzung dafür, die richtigen Prioritäten innerhalb der Zwänge und des Zeitdruckes zu setzen. In der Umkehrung heißt Prioritäten setzen jedoch, Abstriche an den Maßnahmen und damit an der Pflege zu machen. Und das heißt streng genommen, es werden erforderliche Maßnahmen nicht durchgeführt, denn wären sie nicht erforderlich, so hätten sie gar nicht erst geplant werden müssen und dann müsste man auch keine Abstriche machen.  Kompromisse: Eine gängige Strategie zur Vermittlung zwischen der Forde-

rung etwa nach schnellem Arbeiten und zugleich einer Pflege/Zuwendung, mit der die Bedürfnisse der PatientInnen (z. B. Förderung der Selbständigkeit) berücksichtigt werden, liegt darin, Kompromisse einzugehen. Konkret heißt das, sich z. B. nicht ganz so viel Zeit für Gespräche mit PatientInnen zu nehmen und ein bisschen schneller zu arbeiten. Oder aber, sich an einem Tag einem Patienten besonders zuzuwenden und einer anderen Patientin weniger Zeit zukommen zu lassen und am nächsten Tag das Ganze umgekehrt zu praktizieren. Somit käme es auf einer Zeitachse zu einem Ausgleich zwischen besonders viel und weniger Zuwendung und der Norm wird aus der Sicht der Pflegenden Rechnung getragen. Kompromisse zeichnen sich dadurch aus, dass sich zwei entgegengesetzte Positionen einander annähern, wobei jede der Seiten Zugeständnisse macht. Die hier gezeigte Sicht auf Kompromisse beinhaltet jedoch, dass es sich je um Zugeständnisse von nur einer Seite handelt und zwar von der Seite der Norm, um der Funktionalität Rechnung tragen zu können. Es handelt sich also gar nicht um Kompromisse, sondern um Abstriche bei der Pflege unter dem Deckmantel eines Kompromisses. Denn letztlich spielen die Bedürfnisse der PatientInnen bei der Entscheidung keine Rolle. Weil es aber als Kompromiss interpretiert wird, legitimiert es den objektiven Verstoß gegen den normativen Anspruch.

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 Routine und Erfahrung: Im Laufe der beruflichen Tätigkeit wird eine Routi-

ne erworben – bezogen auf die Pflege als eine handwerksmäßige Gewandtheit in der Ausführung von Tätigkeiten. Hinzu kommen berufliche Erfahrungen, die Voraussetzung für die Fähigkeit sind, entscheiden zu können, welche Maßnahmen von Bedeutung und auf welche Maßnahmen man verzichten kann, ohne dass PatientInnen einen Schaden nehmen. Man könnte sagen, dass aus dieser Sicht das Prinzip der Benefizienz abgelöst wird vom Prinzip der Non-Malefizienz: Das Gute wird nicht mehr direkt angestrebt, sondern mittelbar durch eine Verhinderung des Schlechten. Patientenorientierung ist dann darauf ausgerichtet, niemandem zu schaden.  Verbesserung der Arbeitsorganisation: Viele Vorschläge beziehen sich

auf eine Verbesserung der Arbeitsorganisation, damit dann gelingen kann, was aktuell nicht gelingt. Mit einer besseren Arbeitsorganisation wird die Erfüllung des pflegefachlichen Anspruchs angestrebt, wobei alle Vorschläge zugleich im Blick haben, dass der reibungslose Ablauf gewährleistet bleibt – sie haben eine Vermittlungsfunktion. Sie beziehen sich auf die Zuteilung der Arbeitsaufgaben an das Personal und das zeitliche Verschieben von Tätigkeiten, also eine kluge zeitliche Planung. Dabei werden unterschiedliche Möglichkeiten gleichwertig in Betracht gezogen. Gemeinsam ist allen Vorschlägen, dass die Organisation verändert werden kann und soll, ein einigendes Prinzip ist indessen in den konkreten Vorschlägen der Probanden nicht erkennbar. Die Vielfalt der Möglichkeiten führt nicht dazu, dass eindeutige Aussagen darüber getroffen werden, welches nun tatsächlich die bessere Vorgehensweise ist. Dahinter steht die Annahme: Weil es so viele Möglichkeiten der Organisationsveränderung gibt, muss es wohl auch eine darunter geben, die von Vorteil für die Gestaltung der Pflege ist, welche auch immer das sein mag. Eine Veränderung der Organisation vorzuschlagen, dürfte so in einen eher blinden Aktionismus münden: Weil organisatorische Abläufe veränderbar sind, muss demnach auch hier eine Lösung gesucht werden. Bei begrenzten Ressourcen kann eine andere Organisation aber auch nur begrenzt dazu führen, Spielräume auszuschöpfen. Dies indessen sehen die

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Probanden nicht, sie gehen davon aus, mit einer verbesserten Organisation könne der pflegerische Anspruch erfüllt werden. Das Gelingen der verschiedenen praktischen Verbesserungsvorschläge wird vehement vertreten und sie werden jeweils durch ihre Logik und erprobte Praktikabilität legitimiert. Eben durch die Überzeugung, gegen die eigene Erfahrung einer als strukturell falsch identifizierten Praxis, sie innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen nun doch praktisch richtig machen zu können, wird die falsche Praxis idealisiert. Im Bewusstsein der Akteure ist damit der Widerspruch erfolgreich aufgelöst. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen eine Annäherung an den hohen pflegefachlichen Anspruch bedeuten kann, denn es werden einzelne vorhandene Defizite praktisch bearbeitet. Letztlich sind die Verbesserungs- und Veränderungsvorschläge jedoch ausschließlich so konstruiert, dass sie mit den Regeln der Praxis in Einklang gebracht werden können, denn die Verwirklichung der Norm darf nicht im Konflikt zur Funktionserfüllung stehen. Das Regelwerk der Praxis kann nicht radikal infrage gestellt werden, weil die sich widersprechenden Anforderungen beide als legitim anerkannt werden. Das zeigt sich in der Berücksichtigung beider Seiten des Widerspruchs innerhalb der Vorschläge. Weil der Fokus auf praktisch umzusetzende Lösungen gerichtet ist, werden die strukturellen Bedingungen, die zum Widerspruch führen, nicht angetastet, vielmehr werden die Lösungen innerhalb der bestehenden Bedingungen gesucht, um hier nutzbringend anzusetzen Alle Lösungsvorschläge sind so konstruiert, dass sich bei näherer Betrachtung die Funktionalität und nicht die Verwirklichung einer an einzelnen PatientInnen orientierten Pflege durchsetzt. Der dadurch an den Tag gelegte Pragmatismus verhindert den Blick über den bestehenden Alltag/die bestehenden Strukturen hinaus. Ein weiteres Reaktionsmuster, mit dem versucht wird, den Widerspruch im Arbeitsalltag aufzulösen, ist das Muster Kompensation für falsche Praxis. Die Diskrepanz zwischen dem, was im Alltag hinsichtlich des normativen Anspruchs gewünscht wird, und dem, was tatsächlich machbar ist, führt zu dem Bedürfnis nach einer gelingenden Praxis. Erkannt wird dabei

Die Coolout-Studien

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 der Anspruch einer an individuellen PatientInnen orientierten Pflege, der

als gut und richtig angesehen wird,  die Bedingungen des Alltags, die verhindern, dass dieser Anspruch erfüllt

werden kann,  die Notwendigkeit, dem Regelwerk der Praxis zu folgen, auch wenn der

normative Anspruch dadurch unterlaufen wird. Aufgrund der Einsicht in diese Notwendigkeit wird ein Verhalten angestrebt, das zunächst über Vermittlungsversuche auf eine Anpassung an die strukturellen Bedingungen abzielt. Im Bewusstsein der Grenzen, die einer praktischen Verwirklichung der Norm gesetzt sind, werden dennoch Versuche unternommen, Patientenorientierung zu verwirklichen. Eine Vermittlung von Norm und Funktion, wie sie beispielsweise durch die Strategien der Idealisierung gezeigt wird, ist aufgrund der Erkenntnis der strukturellen Folgen des Widerspruchs für diese Pflegenden nicht ausreichend. Sie zeigen eine Sensibilität für das Misslingen solcher Vermittlungsversuche. Resultierend aus dem Unbehagen gegenüber der falschen Praxis wird an der Norm festgehalten. Angesichts der objektiven Bedingungen wird nach Möglichkeiten innerhalb der bestehenden Strukturen gesucht, mit denen Patientenorientierung zumindest zeitweise erfüllt werden kann oder eine Annäherung geschieht. Die Pflegenden versuchen so, die Defizite im Alltag auszugleichen im Bewusstsein, dass ihnen dies auch zeitweise gelingt. Konkret heißt das, dass sich diese Pflegenden zu bestimmten Zeiten oder bezogen auf bestimmte PatientInnen Nischen suchen, in denen die Pflege dann optimal durchgeführt wird. Dies geschieht sowohl im Interesse der PatientInnen, denen es durch diese Pflege nachweislich besser geht, aber auch im Interesse der Pflegenden, die sehen können, welche Leistungen sie für PatientInnen und deren Genesung erbringen können. Die positiven Wirkungen, die aus diesen Versuchen hervorgehen, bestätigen sie in ihrem Verhalten. Sie sind dadurch in der Lage, das, was ihnen und anderen im Alltag widerfährt, durch erkennbar gelungene Momente zu kompensieren. Diese nur zeitweise gelingende Praxis ist jedoch nicht systematisch durchzusetzen. Dem gegenüber geben sich Pflegende mit dem Reaktionsmuster Individuelle Auflösung nicht mit solchen Nischen zufrieden. Aus der Erkenntnis des Widerspruchs im Alltag resultiert hier, dass die negativen Folgen, die damit einher-

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gehen, nicht geduldet werden. Eine Auflösung zur Seite des pflegefachlichen Anspruchs wird angestrebt. Eine differenzierte Wahrnehmung des Alltags lässt die Pflegenden gleichwohl erkennen, dass die strukturellen Bedingungen ein Verhalten erforderlich machen, welches damit nicht in Einklang zu bringen ist. An manchen Stellen reagieren sie darauf pragmatisch, das heißt, das Handeln wird den vorgegebenen Bedingungen angepasst und damit werden die Anforderungen erfüllt, die mit dem Realitätsprinzip einhergehen. Wird dies jedoch in einem Bereich verlangt, in dem es dadurch unweigerlich zu einer Normverletzung und negativen Folgen für PatientInnen kommt, so resultiert daraus eine Verweigerung, d. h. die Umstände, die das Ausrichten des Handelns an den Regeln der Praxis notwendig machen, werden ignoriert. Orientierungspunkt ist allein der pflegefachliche Anspruch. Hilfreich ist dabei das Bewusstsein, dass dieser Anspruch ein starkes Argument ist: Die Einhaltung der Norm wird reklamiert und damit instrumentalisiert, um eigene Interessen – die Verwirklichung des Anspruchs – durchzusetzen. Dadurch, dass der Zweck, die Norm, zugleich zum Mittel gemacht wird, indem sie von Pflegenden als das schlagende Argument vorgebracht wird, werden Freiräume geschaffen, in denen optimales Handeln möglich ist. So wird etwa darauf hingewiesen, welche Maßnahmen für die Verbesserung des Gesundheitszustandes eines Patienten geboten sind, und dass der Anspruch vertreten wird, so sorgfältig zu arbeiten, wie es erforderlich ist und wie es erlernt wurde. Dem kann sachlich nichts entgegen gehalten werden. Und dieser Hinweis geht etwa mit dem Angebot einher, auf diese Weise selbst alle Pflegebedürftigen zu versorgen, egal wie lange das dauert. Verkannt wird, dass diese Art des Umgangs mit dem Konflikt eine individuelle Lösung ist, die dadurch nur punktuell im Alltag Wirkung entfaltet. Die Entscheidung, gegen die Umstände an der Norm festzuhalten, wird nur praktisch umsetzbar, wenn andere ihr Handeln am Regelwerk der Praxis ausrichten. Als kollektive Lösung ist sie nicht tragfähig, weil mit ihr die Funktionalität der Institution nicht gesichert wird. Aus der subjektiven Perspektive wird die Norm verwirklicht. Objektiv gesehen kann es nur eine auf Einzelpersonen bezogene Strategie sein, weil die Wirklichkeit unter den gegebenen Bedingungen ein generelles Ausrichten des Handelns an der Norm für alle nicht zulässt.

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Reaktionsmuster der Einsicht in die immanente Unauflösbarkeit des Widerspruchs: Der Widerspruch zwischen Norm und Funktion wird bei dem Reaktionsmuster Reflektierte Hinnahme von Kälte als unauflösbar erfahren und als strukturell verankert identifiziert. Aufgrund dieser Erkenntnis kann es für diese Probanden keine praktische Lösungsstrategie geben, mit der sie in der Lage wären, diesen Widerspruch aufzulösen und den normativen Anspruch zu verwirklichen. Eine Verletzung der Norm lässt sich im praktischen Handeln nicht vermeiden, weil dieses immer notwendig zwischen Norm und Funktion angesiedelt ist. Pflegende mit diesem Reaktionsmuster wissen, dass sie trotzdem genötigt sind, sich realitätstüchtig zu verhalten und sehen bei aller Kritik keine andere Möglichkeit, als die sie umgebenden Bedingungen als konkreten Handlungsrahmen hinzunehmen. Wie sie jeweils tatsächlich reagieren, das ist dann situationsabhängig. Vorstellbar ist, dass die Pflegenden sich der anderen verschiedenen Reaktionsmuster wechselseitig bedienen. Es findet ein bewusstes Arrangement mit der falschen Praxis statt, etwa mit dem Verweis darauf, dass Pflegende immerhin noch merken müssen, wann sie einzelne PatientInnen zu wenig im Blick haben. Gefordert wird zum Beispiel, dass in der Pflegeausbildung eine Sensibilität und ein Bewusstsein dafür angebahnt werden müssen. Jedes Reaktionsmuster zeigt auf seine Weise eine Desensibilisierung der Pflegenden gegenüber dem objektiven Widerspruch in den Anforderungen: Sie alle integrieren den Widerspruch so in ihre Konfliktdeutung und -bearbeitung, dass sie sich den strukturellen Bedingungen des Pflegealltags anpassen können. Beschrieben werden also unterschiedliche Modi der Alltagsdeutung, mit denen Pflegende in dem Spannungsfeld zwischen normativem Anspruch und Funktionalität bestehen können (Kersting 2013, 2015a).

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Coolout in der Pflege – ein den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldetes Phänomen

Auf der Basis des Datenmaterials lässt sich Coolout als Theorie formulieren, mit der der Prozess einer moralischen Desensibilisierung beschrieben und erklärt wird (Kersting 2013, S. 38; S. 201, Kersting 2015a, S. 32 ff.). Es wird erklärt, in welcher Weise alle untersuchten AkteurInnen im Gesundheitswesen in diesen Prozess und die Mechanismen der Kälte verstrickt sind, wie sie ihren Alltag bewältigen, die Kälte aushalten und damit zugleich stabilisieren. Die Mechanismen der Kälte und das strukturell angelegte Scheitern des pflegefachlichen Anspruchs gilt es offenzulegen und in Studium sowie Aus- und Weiterbildung darüber aufzuklären. Die Ansprüche zur Ausgestaltung der Pflegepraxis müssen systematisch und offen mit den Bedingungen dieser Praxis in einen Zusammenhang gebracht werden. Wird dies unterlassen, führt das dazu, dass berufliches Handeln, welches den hohen pflegefachlichen Anforderungen folgen will, dem Scheitern unreflektiert ausgeliefert wird mit der Folge, dass dieses Scheitern personalisiert wird und das heißt, den einzelnen beruflich Handelnden zugeordnet wird. Der Einzelne wird dann ggf. pädagogisiert, psychologisiert, therapiert oder aufgefordert (etwa unter Bezugnahme auf Motivationsstrategien aus dem Hochleistungssport), sich immer wieder aufs Neue zu motivieren für einen Anspruch, der strukturell bedingt zum Scheitern verurteilt ist. Coolout ist aber kein individuelles Phänomen oder gar ein individuelles Versagen, dem man auf der individuellen Ebene zu begegnen hat, sondern es betrifft alle und ist den gesellschaftlichen Verhältnissen – hier der Versorgungsrealität im Gesundheitswesen – geschuldet. Mit den Coolout-Studien wird die Normalitätstendenz der Regelverletzung im Alltag thematisiert: Es ist schon völlig normal, dass wir die Norm verletzen. Es wird das Skandalöse aufgedeckt, welches in dem unauflösbaren Widerspruch zwischen den verschiedenen Anforderungen an Pflegende und in der Bedrängnis, der sie im Alltag ausgesetzt sind, steckt. Zum einen wird damit ein Bewusstsein über die Zumutungen und das Skandalöse der Kälte hergestellt

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bzw. erhalten: „Kälte erregt Anstoß. Ihre Analyse ist vom Motiv bestimmt, sie zu überwinden. Zugleich zeigt die Analyse unter den gegebenen Umständen die Unüberwindbarkeit der Kälte. Die Behauptung provoziert nun ihrerseits nicht etwa Gleichgültigkeit, sondern im moralischen Sinn die Frage, was denn dann noch gegen Kälte zu tun sei?! Wer sich mit dieser Frage wehrt, zeigt, dass er sich nicht mit Kälte einverstanden erklärt. In dieser Regung wird der innere Widerwille gegen eine Verhaltenslehre deutlich, der in der eigenen Praxis gleichwohl nicht konsequent widersprochen werden darf.“ (Gruschka 1994, S. 77.) Zum anderen resultiert aus der Auseinandersetzung damit aber auch etwas Entlastendes: Der unauflösbare Widerspruch, der Umgang damit und die Unhintergehbarkeit der Kälte werden sprachlich und damit der Reflexion zugänglich gemacht (Kersting 2015b). Eine daraus resultierende Einsicht in die eigenen Verstrickungen ist wichtig „als geistige Haltung, denn ohne sie wäre Kälte gar nicht mehr aufzuklären, sie verschwände im dumpfen Gefühl“ (Gruschka 1994, S. 51).

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Literatur

Adorno, Th. W. (1994a): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 22. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt. Adorno, Th. W. (1994b): Negative Dialektik, 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt. Adorno, Th. W./Horkheimer, M. (1994): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Fischer Verlag, Frankfurt. Bundesgesundheitsministerium (2003): Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege, http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/krpflg_2004/ gesamt.pdf. (Zugriff am 22. Oktober 2014). Gruschka, A. (1994): Bürgerliche Kälte und Pädagogik, Büchse der Pandora, Wetzlar. Heinrich, M. (1999): Zum Stand einer Theorie der Ontogenese Bürgerlicher Kälte Oder: „Wie man kalt wird“ (Teil 3), in: Pädagogische Korrespondenz. Zeitschrift für kritische Zeitdiagnostik in Pädagogik und Gesellschaft, Jg. 24, S. 5–29. Heinrich, M. (2000): Was tun? Zur Diskontinuität von moralischem Wissen, moralischem Urteil und moralischem Handeln, in: Pädagogische Korrespondenz. Zeitschrift für kritische Zeitdiagnostik in Pädagogik und Gesellschaft Jg. 25, S. 58–71. Isfort, M./Weidner, F. et al. (2010): Pflegethermometer – Eine bundesweite Befragung von Pflegekräften zur Situation der Pflege und Patientenversorgung im Krankenhaus. Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (dip) Köln (Hrsg.), http://www.dip.de/fileadmin/data/pdf/material/dip_ PflegeThermometer_2009.pdf (Zugriff am 23. Oktober 2014).

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Kersting, K. (2012): „Anspruch und Wirklichkeit in der praktischen Ausbildung: Studien zur moralischen Desensibilisierung“, in: Harold, Barbara (Hrsg.): Vorbereitet für die Zukunft? Aktuelle Herausforderungen in der praktischen Pflegeausbildung, Facultas Verlag, Wien, S. 50 – 74. Kersting, K. (2013): ‚Coolout’ in der Pflege. Eine Studie zur moralischen Desensibilisierung. 3. Auflage, Frankfurt (3. Auflage von Kersting, K. (2002): Berufsbildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Eine Studie zur moralischen Desensibilisierung im Pflegealltag, Huber, Bern und Göttingen. Kersting, K. (2014): Im Kälte-Modus. Neue Studien zum Coolout in der Pflege: Die Situation der PraxisanleiterInnen. In: Pflegezeitschrift, Jg. 67 (8), S. 486 – 491. Kersting, K. (2015a) Kälte in der Pflege: Die Theorie des Coolout und ihre Bedeutung für die Pflegeausbildung, Praxisanleitung und Pflegepädagogik, Mabuse-Verlag, Frankfurt (Veröffentlichung in Vorbereitung). Kersting, K. (2015b): Bürgerliche Kälte in der beruflichen Bildung – Strukturelle Bedingungen und Reaktionen von Lehrern. Eine Analyse aus der Pflegepädagogik, in: Dammer, Karl-Heinz (Hrsg.): Kritische Theorie und Erziehungswissenschaft. Kritische Theorie und Erziehungswissenschaft, Springer Verlag, Heidelberg (Veröffentlichung in Vorbereitung). Oevermann, U. (1999): Zur Sache. Die Bedeutung von Adornos methodologischem Selbstverständnis für die Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse, in: Friedeburg, L. von/Habermas, J. (Hrsg.): Adorno-Konferenz 1983, 3. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt, S. 234 – 289.

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Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege – Managementherausforderung für Pflegedienstleitungen 1. Einleitung 2. Rolle des Pflegemanagements und DRG-System 3. Steuerungsansätze in der Pflege 4. Pflegemanagement-Reporting am Universitätsklinikum Köln 5. Zusammenfassung 6. Literatur

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Stichwörter: pflegeferne Tätigkeiten, Fallsteuerung, leistungsbezogene Personalbedarfsermittlung, Personalcontrolling, Steuerungskennzahlen Pflege. Zusammenfassung: Mit der Umstellung auf das DRG-System im Jahr 2004 kamen große Veränderungen auf die Krankenhäuser zu. Sie waren gezwungen, sowohl die Prozesse als auch die Kosten- und Leistungsstrukturen zu optimieren, um auf die ökonomischen Herausforderungen adäquat vorbereitet zu sein. Das Pflegemanagement hat hier von Anfang an eine aktive Rolle sowie zusätzliche Aufgaben und Verantwortung übernommen. Neben der Neuzuordnung von pflegefernen Aufgaben und der Übernahme der Fallsteuerung durch das Case Management wurden ein systematisches und zielgerichtetes Pflegecontrolling entwickelt und ein Berichts- und Kennzahlensystem aufgebaut. Parallel erfolgte ein stringentes Personalkostenmanagement.

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

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Einleitung

Im Jahr 2004 wurde in Deutschland ein neues Vergütungssystem für stationäre Krankenhausleistungen, die German Diagnosis Related Groups1 eingeführt. Damit wurde auf ein einheitliches, leistungsorientiertes und pauschaliertes Vergütungssystem für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen umgestellt. Mit den DRGs kamen große Veränderungen und Herausforderungen auf die Krankenhäuser zu. Kürzere Verweildauer, Fallzahlsteigerungen, erhöhte Qualitätsanforderungen, erweiterte Möglichkeiten der externen Prüfung durch den MDK2 und der differenzierte Ausweis von Art und Anzahl der Leistungen mit dem Ziel der Verbesserung der Transparenz und Vergleichbarkeit zwischen den Leistungserbringern waren die Folge. Aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen mussten sich die Krankenhäuser zwangsläufig anpassen, um langfristig auf dem Krankenhausmarkt bestehen zu können. Der hohe Kosten- und Leistungsdruck zwang das Krankenhausmanagement, sowohl die Prozesse als auch die Kosten- und Leistungsstrukturen zu überprüfen und zu optimieren. Hieraus entstand für das Pflegemanagement als Vertretung der größten Berufsgruppe die Chance, sich aktiv in diesen Prozess einzubringen und die Rolle der Pflege, und insbesondere die Rolle des mittleren Pflegemanagements, neu zu definieren. Unter den veränderten Rahmenbedingungen kommt der aktiven zielgerichteten Steuerung von Kosten und Leistungen eine besondere Bedeutung zu; dies gilt auch für die Steuerung auf der Fallebene. Das Pflegemanagement hat in den letzten Jahren gerade im Bereich des Fallmanagements neue verantwortungsvolle Aufgaben und Funktionen übernommen. Zur Wahrnehmung der Steuerungsaufgaben benötigt das Pflegemanagement ein handlungsorientiertes Pflegecontrolling, das eine sachgerechte Informationsversorgung in allen Phasen des Planungs- und Steuerungsprozesses sicherstellt.

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G-DRG = aus dem engl. bedeutet German Diagnosis Related Groups (Diagnose orientierte Pauschale pro Behandlungsfall, für Deutschland geltend).

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MDK = Medizinischer Dienst der Krankenkassen.

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Rolle des Pflegemanagements und DRG-System

2.1 DRG-System als Rahmenbedingung Im Gegensatz zur vormaligen Krankenhausfinanzierung über Sonderentgelte sowie Abteilungs- und Basispflegesätze sollte mit den G-DRGs ein leistungsorientiertes und pauschaliertes Entgeltsystem eingeführt werden. Zusätzlich zu den fallpauschalierten DRG-Erlösen gibt es Zusatzentgelte (ZE) für kostspielige Therapien sowie besondere Entgelte für „Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“ (NUB). Das „Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus“ (InEK GmbH) ist für die Pflege des G-DRG-Systems zuständig und entwickelt sowohl die Fallklassifikation als auch die Kostenkalkulation stetig weiter. Sofern Krankenhäuser die Voraussetzungen erfüllen, können sie nach Abschluss einer Kalkulationsvereinbarung als Kalkulationskrankenhaus teilnehmen und ihre Kosten- und Leistungsdaten an das InEK senden. Entsprechend einer Kalkulationsmatrix, die Bestandteil des Kalkulationshandbuches ist (InEK 2007, S. 189), werden für jede DRG die Ressourcenverbräuche auf Basis der Istkosten differenziert nach definierten Kostenarten und Kostenstellen erfasst und die durchschnittlichen Gesamtkosten je DRG ermittelt. Anschließend werden die durchschnittlichen Gesamtkosten je DRG einem bundesweiten Bezugswert gegenübergestellt und so das relative Kostengewicht der DRG berechnet. Ebenso wie die Personalkosten des ärztlichen Dienstes und des medizinisch-technischen Dienstes werden im Rahmen der Kalkulaltion auch die Personalkosten des Pflegedienstes als eigene Kostenart ausgewiesen. Die Personalkosten der Pflege werden auf Basis der Leistungsminuten nach PPR3 den einzelnen Fällen zugerechnet (InEK 2007, Anlage 5). Voraussetzung dafür, dass der pflegerische Aufwand und damit die Kosten der Pflege adäquat zu ermitteln sind, ist somit eine zuverlässige und vollständige Dokumentation entsprechend den Regelungen der PPR. Eine lückenhafte Dokumentation kann dazu führen, dass der Pflegeauf3

PPR = Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Krankenpflege (Pflege-Personalregelung).

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wand unzureichend abgebildet wird und die Kosten für die Pflege in den Kostengewichten nicht adäquat berücksichtigt sind. Das Pflegemanagement legt daher aus gutem Grund großen Wert auf eine hohe Qualität der Pflegedokumentation. Aus der Summe der pflegerischen Erlösanteile der abgerechneten DRGs kann das Pflegebudget abgeleitet werden, welches für die pflegerische Versorgung der Patienten zur Verfügung steht. Bei diesem erlösorientierten Vorgehen ist das Pflegebudget unabhängig von den Prozessen und Strukturen der jeweils einzelnen Klinik oder Fachabteilung und stellt einen kalkulatorischen Durchschnittswert dar. Die Krankenhäuser sind also gut beraten, ihre Prozesse und Strukturen derart zu optimieren, dass sie ausreichend auf die ökonomischen Herausforderungen des DRG-Systems vorbereitet sind. Es gilt die Devise, mit den vorhandenen Mitteln (Erlösen) den größtmöglichen Nutzen (das bestmögliche Behandlungsergebnis) zu erzielen. Hierfür müssen die Prozesse und Strukturen optimiert und Kosten gesenkt werden. Sowohl die Effizienz als auch die Effektivität müssen gesteigert werden, um die Wirtschaftlichkeit spürbar und nachhaltig zu verbessern (Busch/Frewer 2013, S 606 ff.). Hierbei übernimmt das Pflegemanagement im Unternehmen zunehmend eine wichtige Rolle. Die veränderten Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen haben zwangsläufig dazu beigetragen, dass die Erwartungen an die Rolle des Pflegemanagements und dessen Aufgaben erweitert wurden. Das Pflegemanagement wiederum muss diese Erwartungen aber auch akzeptieren und annehmen (Bücker 2005, 12 ff.). Zu dieser neuen Rolle gehören u. a. die verantwortliche Mitwirkung bei der Optimierung der betrieblichen Prozesse und darüber hinaus ein differenziertes Pflegecontrolling als Instrument und wesentlicher Aspekt des Managements.

2.2 Pflegecontrolling als Managementaufgabe Die Pflegedienstleitungen in ihrer Führungsfunktion leiten vom Wert her quasi ein kleines Unternehmen und tragen damit eine hohe finanzielle Verantwortung. Zu ihren Aufgaben gehört der Einsatz des Pflegepersonals, dessen Aus-, Fort- und Weiterbildung, die Sicherstellung der Pflegequalität sowie der Dokumentation der erbrachten Leistungen. Der verantwortliche Umgang mit den Mitteln erfolgt dabei nach der Maxime des ökonomischen Prinzips (Wöhe

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2005, S. 49 f.). Aufgrund knapper Ressourcen im Gesundheitswesen ist dabei eher das Minimalprinzip der Leitgedanke für die ökonomische Ausrichtung und Gestaltung: Es gilt, ein vorgegebenes Ziel mit möglichst geringen Mitteln zu erreichen. Ökonomisches Handeln ist aber nicht nur das Leitprinzip für die Unternehmensleitung, sondern wird auch beim pflegerischen Handeln vorausgesetzt. Dies gilt sowohl beim Einsatz der personellen Ressourcen als auch beim Einsatz von Sachmitteln wie z. B. Verbandsmaterialien, Medikamenten und sonstigen Verbrauchsmaterialien. Die Steigerung der Effektivität und Effizienz ist eine bis dato in dieser Ausprägung noch nicht dagewesene Anforderung an das Pflegemanagement. Wenn mit vorhandenen Mitteln ein Maximum erreicht wird, zum Beispiel eine möglichst hohe Pflegequalität, dann spricht man von Maximalprinzip. Effizienz im Sinne des Minimalprinzips ist demgegenüber gegeben, wenn ein vorgegebenes Ziel mit möglichst geringem Mitteleinsatz, z. B. durch einen möglichst geringeen (Verbands-)Materialverbrauch und damit geringen Kostenaufwand, erreicht wird. Effizienz bezeichnet somit ein Input-Output-Verhältnis. Demgegenüber stellt Effektivität ein Maß für die Zielerreichung dar und beschreibt die Relation von Soll (z. B. SollKosten, Soll-Qualität) zu Ist (z. B. Ist-Kosten, Ist-Qualität) (Haubrock 2009, S. 39). Dabei sind die Kosten aus dem Einsatz der Ressourcen und die Pflegequalität als Ergebnis pflegerischer Prozesse nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Prozessoptimierungen können zu Kostensenkungen und gleichzeitig zur Qualitätsverbesserung führen. Hier liegt die Verantwortung des Pflegemanagements, welches sich geeigneter Instrumente bedienen muss, die wirtschaftliches Handeln unterstützen, Abweichungen frühzeitig sichtbar und rechtzeitiges Gegensteuern möglich machen. Für das Pflegemanagement erweist sich der Aufbau eines operativen Pflegecontrollings als ein sinnvolles und hilfreiches Steuerungsinstrument.

2.3 Pflegecontrolling als Kernelement der Führung im Universitätsklinikum Köln Je nach Größe der Organisation verantworten Pflegedienstleitungen die Leitung des Pflegedienstes für ein ganzes Krankenhaus mit mehreren hundert Beschäftigten, oder aber eines Bereiches mit mehreren Kliniken und einer oft-

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mals im dreistelligen Bereich liegenden Beschäftigtenzahl. Damit verbunden ist die Verantwortung für die Pflegequalität ebenso wie für den ökonomischen Einsatz der personellen, materiellen und finanziellen Ressourcen. Um wirksam führen und steuern zu können, müssen die Pflegedienstleitungen die Kernfunktionen der Unternehmensführung – Zielbildung einschließlich Abstimmung zwischen mehreren Zielgrößen, Planung, Organisation, Personalführung und Kontrolle (Wöhe 2007, S. 62 ff.) – kennen und annehmen. Controlling ist dabei ein wichtiges Instrument zur Führungsunterstützung, das für die Abstimmung zwischen den genannten Managementfunktionen sorgt und die Aktivitäten des (Pflege-)Managements auf Krankenhaus-, Bereichs- und Stationsebene miteinander verzahnt. Dies gilt sowohl für das strategische als auch für das operative (Pflege-)Controlling. Am Universitätsklinikum Köln sind für die Führung der Stationen und Bereiche vier Pflegedienstleitungen in der Allgemeinpflege, zwei Pflegedienstleitungen im Intensivpflegebereich, eine Pflegedienstleitung für den Funktionsdienst OPund Anästhesiepflege und eine Leitung Patienten Service eingesetzt. Die Verantwortungsbereiche sind in etwa gleich groß und umfassen mehrere klinische Fachbereiche und eine Beschäftigtenzahl zwischen 220 – 280 Vollkräften. Seit 2011 hat die Pflegedirektion sukzessive ein Personalcontrolling aufgebaut, das zu Beginn auf die Steuerung der Personalkosten ausgerichtet war und seither stetig weiterentwickelt wurde. Angelehnt an die Unternehmensziele soll die Steuerung im Pflegebereich auf der Basis von transparenten Daten, Kosten und Leistungen erfolgen. Das Controlling-System soll neben den Kosten und Leistungen weitere Kennzahlen umfassen (zu möglichen Kennzahlen siehe Plücker 2014, S. 176 f.). Folgende Ziele werden damit verfolgt:  Verbesserung der Transparenz,  Bereitstellung steuerungsrelevanter Informationen,  Bereitstellung interner Benchmarks,  Auseinandersetzung mit Entwicklungen,  Verläufe darstellen und Trends aufzeigen,  Versachlichung von Diskussionen,  Ergebnisse und Zielerreichung aufzeigen.

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Steuerung bezogen auf die wirtschaftlichen und versorgungsbezogenen Ziele eines Krankenhauses kann nur dann erfolgreich gelingen, wenn Einfluss auf die erfolgskritischen Parameter und deren Zielwerte genommen werden kann. Im Vorfeld ist daher sorgfältig zu prüfen, welche Parameter bzw. Indikatoren relevant sind und sich für eine Steuerung eignen. Im Verantwortungsbereich der Pflege sind hier insbesondere zu benennen: Aspekte des Aufnahme- und Entlassungsmanagements, die Kosten für den Einsatz des Pflegepersonals, die Qualifikation und die Menge des eingesetzten Personals sowie Qualitätsindikatoren für die pflegerische Versorgung der Patienten wie z. B. Sturz- und Dekubitusraten oder auch die mittels kontinuierlicher Patientenbefragungen ermittelte Qualität der Interaktion zwischen Pflege und Patienten. Es sind Steuerungsysteme zu entwickeln bzw. einzusetzen, die einerseits die Vorgabewerte (Soll-Größen) beinhalten und andererseits die Entwicklung der IstWerte im Zeitverlauf dokumentieren. Darüber hinaus sollen auch längerfristige Trends aufgezeigt werden. Aufgabe des Pflegecontrollings ist somit die Überwachung der Kosten für das Pflegepersonal gemäß der Wirtschaftsplanung sowie die Entwicklung der pflegerischen Leistungen und der Pflegequalität. Bei der jährlichen Leistungsplanung eines Krankenhauses werden alle Leistungen (DRGs, Zusatzentgelte, NUB) quantitativ und qualitativ (Menge und Schweregrad) sowie die daraus resultierenden Erlöse prospektiv geplant. Mit den Kostenträgern wird im Rahmen der Budgetverhandlung eine Vereinbarung über die Leistungen abgeschlossen. Diese Vereinbarung ist Grundlage für das operative Controlling, welches die Aufgabe hat, die unterjährigen Entwicklungen im Auge zu behalten, um bei gravierenden Planabweichungen rechtzeitig gegensteuern zu können. Erlösabweichungen können Mengen- oder aber Verweildauerabweichungen sein. Wenn Patienten zu früh entlassen werden, müssen Abschläge auf die DRG in Kauf genommen werden, oder aber Patienten liegen zu lange stationär und es besteht die Gefahr, dass die OGVD4 überschritten und damit höhere Kosten als Einnahmen entstehen. Planabweichungen stellen generell ein Risiko dar, welches sich negativ auf die Wirtschaftlichkeit auswirken kann. Vonseiten des Controllings erfahren Planabweichungen daher grundsätzlich eine besondere Aufmerksamkeit.

4

OGVD = obere Grenzverweildauer.

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Steuerungsansätze in der Pflege

3.1 Steuerung durch Neuverteilung von Aufgaben Um den ökonomischen Herausforderungen des DRG–Systems zielgerichtet zu begegnen, muss an der Optimierung des Gesamtprozesses von der Aufnahme bis zur Entlassung und, bei Einbeziehung des Entlassungsmanagements, darüber hinaus gearbeitet werden. Nachfolgend sollen drei Ansatzpunkte für Optimierungsmaßnahmen aufgegriffen werden: Neuverteilung von Aufgaben zwischen den Berufsgruppen (Aufgabenübertragung), Fallsteuerung und Personalcontrolling. Ziel der Neuverteilung von Aufgaben ist es, das Potential der professionellen Pflege besser zu nutzen (Stemmer et al. 2015, S. 451). Derartige Veränderungen wurden auch am Universitätsklinikum Köln vorgenommen. Im ersten Schritt wurde überlegt, welche Aufgaben bei günstigeren Personalkosten, aber ohne Qualitätsverlust in der Patientenversorgung an andere Berufsgruppen übertragen werden können (Bostelaar/Kießling 2010, S. 24 ff.). Bei der Prüfung der Übertragung von pflegefernen Tätigkeiten5 wurden alle infrage kommenden Tätigkeiten unter dem Aspekt der erforderlichen beruflichen Qualifikation betrachtet. Jede einzelne Tätigkeit wurde dahingehend geprüft, ob diese zwingend von einer examinierten Pflegekraft wahrzunehmen ist oder von einer kostengünstigeren Berufsgruppe übernommen werden kann. Daraus entstand am Universitätsklinikum Köln der Patienten Service, eine neue Berufsgruppe mit vollkommen neuem Aufgabenfeld. Pflegeferne Aufgaben, die bislang verschiedene Berufsgruppen leisteten, unter anderem auch die Pflege, wurden zu einem neuen Aufgabenprofil zusammengefasst und dem Patienten Service übertragen. Der Patienten Service am Universitätsklinikum Köln umfasst heute 228 Vollkräfte, die an allen Tagen der Woche zwischen 7– 20 Uhr im Einsatz sind. Durch die Delegation von Tätigkeiten auf den Patienten Service konnten, neben der Verbesserung der Servicequalität und der Pro5

Pflegeferne Tätigkeiten: Dazu gehören alle Tätigkeiten, für die keine pflegerische Ausbildung und Qualifikation notwendig ist, wie beispielsweise die Essensversorgung, Materialbestellung, Lagerverwaltung, Reinigungsaufgaben, logistische Aufgaben, administrative Aufgaben u. a.

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zessoptimierung, die Personalkosten deutlich reduziert und damit ein wesentlicher Beitrag zur Wirtschaftlichkeit geleistet werden (siehe Tabelle 1). Die Erfahrungen am Universitätsklinikum Köln, dass sich die Servicequalität für die Patientinnen und Patienten (z. B. gemessen als „patientenfreundlicher Tagesablauf“) verbessert und der veränderte Personalmix gleichzeitig Potential für eine Personalkostensenkung bietet, werden von ersten empirischen Erhebungen gestützt (Stemmer et al., S. 451 ff.). Man kann davon ausgehen, dass von den derzeit 228 Vollkräften (VK) im Patienten Service circa ein Drittel als Ersatz für examiniertes Pflegepersonal eingesetzt wird. Bei Einsparungen von rund 12.700 €/VK und Jahr liegt das jährliche Wirtschaftlichkeitspotential somit bei ca. 1 Mio. € und ist damit als erheblich anzusehen. Darüber hinaus wurden die Verantwortlichkeiten für diese Aufgaben sehr viel klarer und transparenter als bisher geregelt, was zu einer spürbaren Verbesserung der Zusammenarbeit6 über Schnittstellen hinweg und zur Steigerung der Patientenzufriedenheit beigetragen hat. Das Aufgabenprofil des Patienten Service hat sich in den letzten Jahren sehr dynamisch entwickelt und es wurden weitere Tätigkeiten hinzugefügt.

Bruttojahresgehalt Tab. 1:

1 Vollkraft Pflege

1 Vollkraft Patienten Service

Differenz

51.700,00 €

39.000,00 €

12.700,00 €

Durchschnittliche Personalkosten 2014 Pflegedienst und Patienten Service. Quelle: Universitätsklinikum Köln (2014). Eigene Darstellung.

3.2 Leistungs-Steuerung durch Case Management Mit der Umstellung auf das pauschalierte Krankenhausfinanzierungssystem wurde auch der Fallsteuerung bei stationären Patienten eine vollkommen neue Bedeutung beigemessen. Es wurde geprüft, wie die Fallsteuerung unter 6

Auch diese Erfahrung wird durch die Studie von Stemmer et al. gestützt, in die allerdings auch die Berufsgruppe der Ärzte einbezogen war, wonach die Neuverteilung von Aufgaben zu einer verstärkten Bereitschaft aller Beteiligten zum interprofessionellen Dialog führte (Stemmer et al. 2015, S. 453).

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den neuen Rahmenbedingungen effizienter und effektiver erfolgen könnte. Ziel ist einerseits die Optimierung der Aufnahme- und Entlassplanung: Dies soll eine hohe Auslastung der Kapazitäten gewährleisten – und damit Leerstand minimieren – und Abschläge auf die DRG durch eine zu frühe Entlassung beziehungsweise eine vermeidbare Überschreitung der OGVD verhindern. Andererseits sollten die Zuweiser verlässliche Ansprechpartner in den Kliniken erhalten und auch die Patientenzufriedenheit soll gesteigert werden. Um dies zu erreichen, ist gleichzeitig eine Prozessoptimierung notwendig. Das Case Management bietet sich als geeignetes Steuerungsinstrument an und wurde bundesweit in vielen Kliniken implementiert. Case Management wird definiert als „… Prozess der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Patientenversorgung über alle Abteilungen eines Klinikums (und darüber hinaus?). Es umfasst die Einschätzung, Planung, Dokumentation, Koordination, Organisation und Evaluation von Gesundheitsleistungen“ (VPU 2008, S. 2). Das Universitätsklinikum Köln hat die Notwendigkeit schon sehr früh erkannt und bereits 2003 ein Case Management, zunächst in zwei Kliniken als Pilotprojekt, eingeführt. Ab 2005 wurde das Case Management dann sukzessive ausgeweitet und bis 2008 flächendeckend in allen Kliniken implementiert. Die Schwerpunkte des Kölner Case Management Modells (Roland 2008, S. 52) liegen vor allem bei  Budget- und Kostensicherung,  Optimierung der Auslastung und Fallzahlsteigerung,  Reduzierung und Vermeidung von Fehlbelegung,  Qualitätssicherung durch lückenlose Behandlungsabläufe,  Sicherstellung der Versorgungskontinuität,  Steigerung der Patientenzufriedenheit,  optimaler Patientenüberleitung z. B. Vermeidung des Drehtür-Effektes,7  Wettbewerbssteigerung durch hohe Serviceorientierung.

7

Drehtür-Effekt: Der Drehtür-Effekt ist eine Metapher, die den schnellen Wechsel zwischen zwei Zuständen („rein/raus“) beschreibt. Mit Blick auf die Patientenversorgung ist der Begriff negativ besetzt. Er beschreibt den Sachverhalt, dass Patienten nach einer stationären Behandlung entlassen und, zum Beispiel infolge mangelnder intersektoraler Kommunikation, kurze Zeit später erneut stationär eingewiesen werden. (Rümenapf, G. et al. 2015, S. 22).

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Die angestrebten Ziele wurden vom Universitätsklinikum Köln nahezu alle erreicht (Tabelle 2). Die Auslastung liegt konstant über 85%, was einer Vollauslastung gleichkommt. Die Fallzahlen konnten kontinuierlich gesteigert werden und auch der CMI8 stieg von 1,63 in 2008 auf 1,74 in 2014. Damit verbunden ist eine positive Erlösentwicklung und seit mehreren Jahren in Folge ein positives Jahresergebnis. Von den Verantwortlichen im Universitätsklinikum Köln wird Case Management als eines von mehreren Steuerungsinstrumenten wahrgenommen, die zu diesem Erfolg maßgeblich beigetragen haben.

3.3 Personalkosten-Steuerung mittels Personalcontrolling In Krankenhäusern stellen die Personalkosten einen erheblichen Kostenblock dar. Sie machen etwa 60 – 70% der Gesamtkosten aus. Aus diesem Grund stehen die Personalkosten grundsätzlich immer im Fokus, da hier am ehesten Einsparpotentiale erwartet werden. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Entwicklung der Personalkosten als auch auf die Entwicklung der Personalkapazität und -qualität. Aufgrund der Aufbauorganisation von Krankenhäusern, die vielerorts noch traditionell der Drei-Säulen-Struktur (Ärztlicher Dienst, Verwaltung, Pflegedienst) folgt, ist das Pflegebudget in der Regel der Pflegedienstleitung zugeordnet. Damit trägt sie die Verantwortung für den bedarfsgerechten Einsatz des Pflegepersonals, für die Qualifikation des eingesetzten Personals und den wirtschaftlichen Umgang mit den zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln. Personalcontrolling im Pflegebereich zielt darauf, den Stationen und Bereichen zeitgerecht Pflegepersonal mit der notwendigen Qualitikation und in angemessener Anzahl bereitszustellen.

3.3.1 Leistungsbezogene Methoden der Personalbedarfsermittlung in der Pflege Im Rahmen der Personalbedarfsermittlung ist sowohl die Qualifikation des benötigten Personals als auch die Quantität zu ermitteln. Auf dieser Grundlage 8

CMI = Casemix Index gibt die durchschnittliche Fallschwere wieder und errechnet sich aus der Summe aller Relativgewichte eines Krankenhauses oder eine Abteilung geteilt durch die Fallzahl.

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

141

wird der Personalbedarf in Vollzeitstellen für jede Station, jede Klinik und schließlich für das gesamte Krankenhaus berechnet. Die Anzahl der ermittelten Vollkräfte wird dann mit dem Jahres-Bruttodurchschnittsgehalt einer Pflegekraft, differenziert nach Allgemeinpflege und Funktionsdienst, multipliziert. Daraus errechnet sich das Personalbudget in Euro. Neben der PPR gibt es verschiedene weitere Methoden der Personalbedarfsermittlung, welche zur Berechnung von Personalkapazitäten in der Pflege angewandt werden. Personalbedarfsberechnungen können beispielsweise nach der Arbeitsplatzmethode (siehe Tabelle 3), auf der Grundlage von Leistungen oder nach der Mindestbesetzungsmethode erfolgen (BKPV 1998, S. 16 ff.) Je nachdem, um welchen Arbeitsplatz oder Bereich es sich handelt, ist die entsprechende Methode zu verwenden. Berechnung nach der Mindestbesetzungsmethode: Ein Anwendungsfall für die Mindestbesetzungsmethode ist z. B. ein Ambulanzbereich, für den in der Zeit von 9:00 bis 15:00 Uhr nur ein sehr geringes Patientenaufkommen zu erwarten ist, der aber für den Fall, dass doch vereinzelt Patienten kommen, zu jeder Zeit besetzt sein muss. Vielfach decken die in Mindestbesetzungsbereichen erzielten Erlöse die entstehenden Kosten nicht. Beispiel Mindestbesetzung: 1 Pflegekraft von Mo bis Fr in der Zeit von 9:00 – 15:00 Uhr 1 Pflegekraft x 6 Std. x 5 Tage

= 30 Std. Woche

30,0 Std./Wo + 5,5 Std. (18,5% AFZ9)

= 35,5 Std./Woche

35,5 Std./Wo ÷ 38,5 Std.

= 0,92 Vollkraft (VK)

Berechnung nach der Arbeitsplatzmethode: Ausgangspunkt der Berechnung sind bei dieser Methode die ausgewiesenen Arbeitsplätze. Je Arbeitsplatz wird die abzudeckende Anwesenheitszeit pro Woche oder Jahr ermittelt und in Relation zum durchschnittlichen Arbeitszeitangebot einer Vollkraft gesetzt (Plücker 2014, S. 178). Folgendes Beispiel bezieht sich auf die Station 1 der HNO Klinik am Universitätsklinikum Köln, 28 Betten. 9

AFZ = Ausfallzeit.

142

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Dienstart

Qualifikation Wochen- Tage Std./Tag Tag

Anzahl VK/ Schicht

Std. ges./ Woche

Frühdienst

KS/KP*

Mo – So

7

7,7

3

161,7

Spätdienst

KS/KP

Mo – So

7

7,7

3

161,7

Nachtdienst KS/KP

Mo – So

7

10,0

1

70,0

Regeldienst

Mo – Fr

5

7,7

1

38,5

MFA**

Ges. Std./Wo

431,9

*KS/KP= Gesundheits- und Krankenpflegerin/Gesundheits- und Krankenpfleger **MFA= Medizinische Fachangestellte/-r

431,90 Std. + 79,9 Std. (= 18,5% AFZ) = 511,80 Std. 511,80 Std. ÷ 38,5 Std. Wochenarbeitszeit/VK = 13,29 VK Tab. 2:

Personalbedarfsberechnung nach Arbeitsplatzmethode (Station 1, HNO-Klinik). Quelle: Universitätsklinikum Köln. Eigene Darstellung

Berechnung nach der Leistungsmethode: Ausgangspunkt der Berechnung ist bei dieser Methode der Zeitaufwand je Leistungseinheit (Plücker 2014, S. 178). Der Zeitaufwand kann als Norm-Zeit vorgegeben werden oder den Ist-Werten vergangener Perioden entsprechen. Nachfolgendes Beispiel zeigt dies für Röntgenleistungen. 4.600 Röntgenaufnahmen/Monat x 25 Min.

= 92.000 Min.

92.000 Min. ÷ 60 Min.

= 1.533,33 Std./Monat

1.533,33 Std./Monat ÷ 1.564 Std. (Nettojabs/VK10)

= 0,98 VK

3.3.2 Strukturelle Vorgaben zur Personalausstattung in der Pflege Mittlerweile gibt es verschiedene Empfehlungen und regulatorische Vorgaben (z. B. Gemeinsamer Bundesausschuss, G-BA, Krankenhausplan NRW 2015 10

Nettojabs = Nettojahresarbeitszeit einer Vollkraft.

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

143

(MGEPA 2015)), die für bestimmte Bereiche Personalschlüssel und Qualifikationen, wie beispielweise die Fachkraftquote, regeln (für die Intensiv- und Notfallmedizin siehe DIVI 2010, S. 5). Mit den personellen und auch strukturellen Vorgaben wird eine gezielte Leistungssteuerung verfolgt, um die Patientenversorgung in dafür ausgewiesene Versorgungsschwerpunkte bzw. Zentren zu lenken. Die Vorgaben sind von den Kliniken zwingend zu beachten und umzusetzen, denn sie sind in der Regel Voraussetzung für die Genehmigung bzw. Anerkennung eines bestimmten Versorgungsauftrags. Werden die Vorgaben dauerhaft nicht erfüllt, droht nach Ablauf einer Frist die Aberkennung des Versorgungsauftrages für die entsprechende Leistung bzw. den Leistungslevel, wodurch das Risiko von Erlösverlusten in erheblichem Umfang entsteht. Tabelle 4 zeigt ein Monitoring der Fachkraftquoten der Intensivstationen am Universitätsklinikum Köln. Während das Nicht-Erreichen der seitens des G-BA vorgegebenen Soll-Quoten als sehr kritisch (rot) eingestuft wird, fällt ein Unterschreiten hausinterner Standards lediglich in den kritischen Bereich (gelb). Bereich/ Station

Quote verpflichtend ja/nein

ITS 1.2

Nein

30%

42,50%

12,50%

ITS 2.2

Nein

30%

9%

–21%

Inn 4B

Nein

30%

35,71%

5,71%

Anäs–1D

Ja (G-BA)

50%

46,94%

–3%

NICU

Ja (G-BA)

40%

28%

–12%

Tab. 3:

Quote-Soll Quote-Soll QuoteIst (interne (gesetzl. Vorgabe) Vorgabe)

Differenz

Status

Übersicht Fachkraftquoten der Intensivstationen, Stand 31.12.2014. Quelle: Universitätsklinikum Köln, Pflegedirektion (2014). Eigene Darstellung.

Aufgrund der hohen Relevanz sollte das Pflegemanagement diese Daten kontinuierlich erheben. Stetige Veränderungen beim Personalstamm durch Fluktuation, interne Versetzungen, Elternzeiten etc. haben unmittelbare Auswirkungen auf die Höhe der Fachkraftquote. Aus diesem Grund erfolgt seitens des Pflegemanagements ein engmaschiges Monitoring. Bei negativem Trend wird frühzeitig mit entsprechenden Maßnahmen, z. B. im Rahmen der Mitarbeitergewinnung und Mitarbeiterbindung sowie der Qualifizierung der Beschäftigten, gegengesteuert. Da diese Maßnahmen nicht kurzfristig greifen, son-

144

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dern eine Vorlaufzeit benötigen, sind Ad-hoc-Aktionen wenig zielführend. Es braucht eine langfristige und mit der Unternehmensführung abgestimmte Strategie, da bisher nicht alle Kosten, die durch diese Vorgaben entstehen, über die Leistungsentgelte von den Kostenträgern vergütet werden. Das Pflegemanagement ist daher verantwortlich für das kontinuierliche Monitoring und die Kommunikation der Daten an die Unternehmensleitung sowie den frühzeitigen Hinweis auf absehbare Risiken.

3.3.3 Leistungsorientierter Personalbedarf versus refinanzierte Personalkosten gemäß InEK Da die PPR Mitte der 90er Jahre ausgesetzt wurde und nicht mehr in allen Krankenhäusern zur Anwendung kommt, erfolgt die Personalbedarfsberechnung und die daraus abgeleitete Ermittlung des Personalkostenbudgets, außer in den Kalkulationskrankenhäusern, in der Regel nach den unter Punkt 4.3.1 beschriebenen Methoden. Parallel dazu werden ausgehend von den InEK-Kalkulationsdaten die refinanzierten Pflege-Personalkostenanteile aus den DRG-Erlösen ermittelt. Hierzu werden die je DRG-Fallgruppe ausgewiesenen Kalkulationsansätze für die Kostenart „Personalkosten Pflegedienst“ für die Intensiv- und Normalpflegebereiche sowie die Kostenart „Personalkosten Funktionsdienst“ für den OP-Bereich zum Gesamtpersonalbudget „Pflege“ aufsummiert. Das seitens der Pflegedienstleitung leistungsbezogen ermittelte Personalbudget (Personalbedarf) wird für stationäre Leistungen dem auf den Pflegebereich heruntergebrochenen Erlösbudget gemäß InEK-Daten gegenübergestellt (Busch/Frewer 2013, S. 610). Im günstigen Fall sollte das klinikintern leistungsbezogen ermittelte Budget niedriger ausfallen als der anteilige Erlös gemäß InEK-Kalkulation, mindestens aber übereinstimmen. Denn nur dann liegen die hausindividuellen Personalkosten des Pflegedienstes nicht über den Einnahmen aus den auf Durchschnittswerten basierenden pflegerelevanten InEK-Erlösanteilen und sind somit, bei anzustrebenden optimalen Strukturen und Prozessen, kostendeckend.

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

4

145

Pflegemanagement-Reporting am Universitätsklinikum Köln

4.1 Transparenz als handlungsleitende Maxime „Wir steuern auf der Basis von transparenten Daten, Kosten und Leistungen“, war eines von mehreren Zielen, dem sich das Universitätsklinikum Köln im Rahmen des Strategieprozesses „Universitätsmedizin Köln 2015“ verpflichtet hat. Die Pflegedirektion hat dieses Ziel, dank der Unterstützung vieler beteiligter Schnittstellen wie Controlling, Zeitmanagement, Personalrat u. a., konsequent in die Praxis umgesetzt. Mittlerweile können dezentrale Pflegedienstleitungen und die zentrale Pflegedirektion am Universitätsklinikum Köln auf ein stabiles und aussagefähiges Berichtssystem zurückgreifen, in dem Daten monatlich, quartalsweise, halbjährlich oder auch jährlich zur Verfügung gestellt werden. Neben sogenannten nachlaufenden Kennzahlen, die ein erreichtes Ergebnis dokumentieren (z. B. Vollkräften und Personalkosten in Euro) wurden weitere, die Personalkosten beeinflussende Parameter in den Fokus gerückt. Hierzu gehören unter anderem Kosten für Zeitarbeitskräfte, studentische Aushilfskräfte, Sitzwachen, Pool-Mitarbeiter und die Entwicklung von Mehrarbeitsstunden sowie ausbezahlter Überstunden. Diese Parameter belasten das Personalbudget. Dies zeigt sich beispielweise dann, wenn Pflegestellen nicht besetzt werden können und zur Vermeidung von Leistungseinschränkungen auf kostenintensivere Zeitarbeitskräfte zurückgegriffen werden muss. Die dezentralen Pflegedienstleitungen steuern ihr Personalbudget in eigener Verantwortung, jedoch in enger Abstimmung mit der Pflegedirektion. Die Zielvorgaben werden zu Beginn eines jeden Jahres besprochen und abgestimmt und sind Grundlage für die unterjährige Steuerung des Stellenplans (VK) und der Personalkosten (€). Im monatlichen Jour fixe werden die Entwicklungen besprochen, Abweichungen analysiert und gegebenenfalls notwendige Maßnahmen diskutiert und vereinbart.

146

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4.2 Ist-Ausbaustand des PflegemanagementReportings Die Pflegedienstleitungen steuern prospektiv primär über das Stellenbudget (Vollkräftebudget) und betrachten retrospektiv die angefallenen Personalkosten. In vielen öffentlichen Einrichtungen erfolgt, anders als in der privaten Wirtschaft, die Steuerung noch überwiegend über das Stellen- bzw. Vollkräftebudget. Unter anderem werden folgende Parameter erfasst und über das Berichtswesen kontinuierlich dargestellt:  Stellenplan Vollkräfte Soll-Ist-Vergleich (Abbildung 2),  Personalbudget Soll-Ist-Vergleich (Abbildung 4),  Überstundenentwicklung (Abbildung 5),  Einsatz von Studentischen Aushilfen pro Monat (Abbildung 4),  Einsatz von Pool-Mitarbeitern pro Monat (Abbildung 4),  Einsatz von Zeitarbeitskräften (Abbildung 4),  Kosten für Dienstvereinbarung „Kurzfristige Dienstplan-Änderungen“.

Die Parameter werden auf drei Führungsebenen dargestellt und analysiert. Zunächst gibt es ein Gesamtpflegebudget auf der Ebene der Pflegedirektion. Dieses wird herabgebrochen auf die Verantwortungsbereiche je Pflegedienstleitung, von da aus wiederum auf die Ebene der Teamleitungen. Auf jeder Führungsebene werden jeweils die Daten betrachtet, für die die Führungskräfte verantwortlich sind und auf die sie selbst Einfluss nehmen können bzw. die unmittelbar Auswirkungen auf den Verantwortungsbereich haben. Einmal jährlich wird die Entwicklung aller erhobenen Daten des abgelaufenen Jahres sowie der Vergleich zu den Vorjahren in der Leitungskonferenz für Führungskräfte der Pflege und des Patienten Service präsentiert. Einen Überblick über die im Rahmen des Pflegemanagement-Reportings bereitgestellten Auswertungen geben die nachfolgenden Abbildungen: Die Entwicklung der Vollkräfte in der Allgemeinpflege (Abbildung 1) verdeutlicht den Fachkräftemangel in der Pflege. Die planmäßig ausgewiesenen Stellen konnten in den Jahren 2012 bis 2014 nicht besetzt werden. Ein teilweiser Ausgleich erfolgte über Zeitarbeitskräfte, studentische Hilfskräfte und Poolkräfte.

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

147

920 900 880 860 2012 840

2013 2014

820 800 780 760 VK-Plan

VK-Ist

VK-Ist incl. SH + ZA

VK-Ist incl. SH + ZA + Pool

SH: Studentische Hilfskräfte/ZA: Zeitarbeitskräfte

Abb. 1: Entwicklung Vollkräfte in der Allgemeinpflege 2012 – 2014. Quelle: Universitätsklinikum Köln. Eigene Darstellung.

Einen Soll-Ist-Vergleich der Vollkräftezahlen gemäß Stellenplan zeigt Abbildung 2. Die rote Linie markiert den für das laufende Jahr vereinbarten Wirtschaftsplan, der nicht überschritten werden sollte. Auch an dieser Darstellung zeigt sich, dass eine der großen Herausforderungen für Pflegedienstleitungen gegenwärtig die Besetzung planmäßig ausgewiesener Stellen mit qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist.

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2140 2120 2100 2080 2060 2040 2020 2000 1980 Plan-VK (100 %)

Plan-VK (98 %)

Ist-VK

Ist-VK incl. SH + ZA

Ist-VK incl. SH + ZA + Pool

Abb. 2: Stellenplan Pflege in Vollkräften: Soll-Ist-Vergleich 2014. Quelle: Universitätsklinikum Köln. Eigene Darstellung.

Den zeitlichen Verlauf der Ausfallzeiten differenziert nach den Ursachen des Arbeitsausfalls im Bereich der dezentralen Pflegedienstleistung 1 zeigt Abbildung 3. Im Rahmen eines internen Betriebsvergleichs zwischen den PDLBereichen ist es denkbar, die Ausfallzeiten zu vergleichen und eventuelle Abweichungen zu analysieren.

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

149

40,00% 35,00% 30,00% 25,00% 20,00%

Ausfall G

15,00%

Ausfall K

Ausfall U Ausfall S 10,00% 5,00% 0,00%

Ausfallzeiten in %: Urlaub (U), Krankheit (K), Sonstige (S), gesamt (G).

Abb. 3: Ausfallzeiten PDL-Bereich 1. Quelle: Universitätsklinikum Köln (2014). Eigene Darstellung.

Der monatliche Budget- und Kennzahlenbericht (Abbildung 4) informiert in komprimierter Form über die wichtigsten steuerungsrelevanten Faktoren: Personalbudget (Soll und Ist in Vollkräften und Euro), Einsatz Aushilfskräfte, Zeitarbeitskräfte und Poolkräfte (in Vollkräften und Euro), er weist die Soll-IstAbweichung in Vollkräften und Euro aus und enthält eine Hochrechnung auf das Jahresende. Ergänzt werden die Budgetdaten um Kennzahlen zur Arbeitsleistung (u. a. Fallzahlen und Verweildauern) und zur Entwicklung der Arbeitszeitkonten sowie den Verlauf der Überstunden und die Fehlzeiten. Die zuletzt genannten Parameter werden auch grafisch dargestellt.

Abb. 4: Monatlicher Budget- und Kennzahlenbericht, Ebene PDL – Teamleitung. Quelle: Universitätsklinikum Köln (2014). Eigene Darstellung.

150 Vera Lux

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

151

80000

60000

40000

20000

0 Jun 12Sep 12Dez 12Mrz 13 Jun 13Sep 13Dez 13Mrz 14 Jun 14Sep 14Dez 14Mrz 15 Abb. 5: Entwicklung Überstunden 06/2012 bis 03/2015 im Pflegedienst gesamt. Quelle: Universitätsklinikum Köln. Eigene Darstellung.

Neben den zuvor genannten Parametern werden weitere Daten erfasst und als Kennzahlenreport regelmäßig zur Verfügung gestellt. Dies sind unter anderem PPR-Minuten, PKMS11, Anzahl der Entlastungsanzeigen12 (Abbildung 6), Anforderung und Stellung von Sitzwachen (Tabelle 5), Auslastung der Ausbildungskapazitäten je Ausbildungsbereich, Übernahmequote der Auszubildenden, Bewerberzahlen nach Quantität und Qualität (Abbildung 7), Sturzquote u. a.

11

PKMS = Pflegekomplexmaßnahmen Score, Der PKMS ist ein Instrument zur Abbildung der hochaufwendigen Pflege im Krankenhaus.

12

Entlastungsanzeige: Beschäftigte weisen mit der Entlastungsanzeige gegenüber ihrer/ ihrem Vorgesetzten auf eine Überlastungssituation hin, infolge derer sie ihre Aufgaben nicht in der erforderlichen Qualität und/oder nicht zum erforderlichen Zeitpunkt erledigen und dadurch eine Patientengefährdung nicht ausschließen können.

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2014

2013 Patienten Service Intensivpflege Allgemeinpflege Gesamt

2012

2011

0

50

100

150

200

250

300

350

400

Abb. 6: Anzahl Entlastungsanzeigen Pflege und Patienten Service 2011 – 2014. Quelle: Universitätsklinikum Köln. Eigene Darstellung.

1400 1200 1000 800 600 400 200 0

Abb. 7: Eingehende Bewerbungen Pflege (Anzahl, Berufserfahrung) 2012 – 2014. Quelle: Universitätsklinikum Köln. Eigene Darstellung.

2012 2013 2014

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

153

4.3 Geplante Ergänzungen um Qualitätsindikatoren und Limitationen Nachdem die bisherigen Berichte mittlerweile in die Routine übergegangen und zum Standard-Repertoire des Führungsinstrumentariums gehören, beabsichtigt das Pflegemanagement des Universitätsklinikums Köln, das Berichtswesen insbesondere im Hinblick auf Indikatoren zur pflegerischen Qualität zu erweitern. Dies wird nicht zuletzt mit Blick auf die gegenwärtig diskutierten Veränderungen durch das Versorgungsstärkungsgesetz von Bedeutung sein: die zunehmende Kopplung der Leistungsvergütung an die Qualität der erbrachten Leistungen (Deutscher Bundestag 2015). Auch wenn qualitätsbezogene Vergütungselemente erst für die Zukunft zu erwarten sind, ist das Thema bereits gegenwärtig von Interesse. Nicht zuletzt werden vonseiten der Versicherer hohe Anforderungen, auch im pflegerischen Bereich, an die interne Qualitätssicherung und das Risikomanagement gestellt. Pflegerische Qualitätsindikatoren in der externen Qualitätssicherung nach § 137 SGB V gibt es bis dato nur für den Dekubitus. Ein weiterer Indikator, der Indikator „Sturz“, wird bisher meist nur klinikintern erhoben, sodass hierfür keine systematischen und risikoadjustierten Vergleichsdaten zur Verfügung stehen. Patientenzufriedenheitsbefragungen, wie sie beispielsweise durch das Picker Institut Deutschland13 durchgeführt werden, bieten zumeist einen bundesweiten Vergleichswert zu verschiedenen Indikatoren zum Patienten-PflegeVerhältnis, in den die Werte einiger hundert Kliniken über alle Versorgungsstufen einfließen sowie einen speziellen Vergleich mit anderen Universitätskliniken. Zu den erwähnenswerten Limitationen des Pflegemanagement-Reportingsystems gehört der Berichtsumfang. Je intensiver sich das Pflegemanagement mit den Steuerungsaufgaben befasst, desto mehr Daten scheinen von Interesse und die Versuchung ist groß, diese in das Berichtssystem aufzunehmen. Die Gefahr besteht jedoch, das Reporting durch die Integration zu vieler Daten aufzublähen. Hierdurch gehen Übersichtlichkeit und damit unter Umständen Handlungsrelevanz und Akzeptanz verloren.

13

http://www.pickerinstitut.de/befragung/ (30.05.2015).

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Eine kleine Anzahl relevanter Kennzahlen bzw. Indikatoren ist grundsätzlich sinnvoller als ein überbordendes System, was am Ende keine Aufmerksamkeit mehr erfährt. Die Erfahrungen am Universitätsklinikum Köln belegen, dass nicht die Menge der Daten für den Erfolg ausschlaggebend ist, sondern die Qualität sowie Relevanz der Daten im Hinblick auf die Steuerung von Kosten und Leistungen, gepaart mit einem hohen Maß an Disziplin seitens der Führung bezogen auf die Durchsetzung und Einhaltung der vereinbarten Zielvorgaben. Dies gilt es zu beachten, Art und Umfang der erhobenen Daten immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und kritisch den Nutzen zu hinterfragen.

5

Zusammenfassung

Mit der Umstellung auf ein einheitliches, leistungsorientiertes und pauschaliertes Entgeltsystem im Jahr 2004 kamen große Veränderungen auf die Krankenhäuser zu. Sie waren gezwungen sowohl die Prozesse als auch die Kosten- und Leistungsstrukturen zu optimieren, um auf die ökonomischen Herausforderungen adäquat vorbereitet zu sein. Das Pflegemanagement hat hier von Anfang an eine aktive Rolle sowie zusätzliche Aufgaben und Verantwortung übernommen. Neben der Neuzuordnung von pflegefernen Aufgaben und der Übernahme der Fallsteuerung durch das Case Management wurde ein systematisches und zielgerichtetes Pflegecontrolling entwickelt und ein Berichts- und Kennzahlensystem aufgebaut. Parallel erfolgte ein stringentes Personalkostenmanagement. Mit dem Aufbau eines kontinuierlichen Berichtswesens von für die Steuerung von Kosten und Leistungen relevanten Daten hat sich das Pflegemanagement der Methoden moderner Unternehmenssteuerung bedient und letztlich die volle Verantwortung für das zugewiesene Personalbudget übernommen. Dies hat sich im Universitätsklinikum Köln bewährt und ist bis heute sehr erfolgreich, wurde das Budget doch transparent geführt und zu keiner Zeit überzogen. Im Gegenteil hat das Pflegemanagement mit dazu beigetragen, Budgetüberschreitungen anderer Bereiche aufzufangen. Eine disziplinierte und zuverlässige Einhaltung des Budgets ist aber auch die Voraussetzung dafür, dass das Pflegemanagement die Steuerungshoheit über

Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

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das Pflegebudget dauerhaft behält und nicht Gefahr läuft, direktiven Vorgaben und Eingriffen von außen ausgesetzt zu werden. Der fortwährende Abgleich der Daten im Hinblick auf die InEK-Erlöse und die tatsächlichen Kosten bleibt unabdingbar, um Abweichungen frühzeitig zu erkennen, Korrekturen vornehmen und rechtzeitig gegensteuern zu können. Dies gilt auch für nicht-monetäre Parameter und in der Zukunft insbesondere für die zu erwartenden Qualitätsindikatoren. Darüber hinaus schafft Pflegecontrolling die Voraussetzung dafür, Ziele klarer und messbar zu formulieren und damit die Zielerreichung stringent nachverfolgen zu können. Ein systematisches Berichtssystem schafft Transparenz und hilft zudem, den subjektiven Wahrnehmungen von Beschäftigten mit Fakten begegnen zu können und die oft sehr emotional geführten Diskussionen zu versachlichen. Wir erleben in Köln, dass dies für die Akzeptanz und zur Unterstützung des Pflegemanagements, auch im Fall von unangenehmen Entscheidungen, äußerst hilfreich ist.

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Literatur

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Leistungs- und Kostensteuerung in der Pflege

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Autoren/Herausgeber Autoren Prof. Dr. rer. pol. Manfred Erbsland Manfred Erbsland studierte Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie und Statistik an der Universität Mannheim mit dem Abschluss Diplom-Volkswirt. Nach der Promotion an der Universität Mannheim wechselte er an das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Von September 1998 bis Januar 2003 war er Professor für Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie und Statistik an der Hochschule Neubrandenburg. Seit Februar 2003 ist er Professor für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik am Fachbereich Management, Controlling, HealthCare der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. Die Forschungsschwerpunkte von Manfred Erbsland sind: demografische Entwicklung und die Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, Gesundheitsökonomie sowie angewandte Ökonometrie und Statistik. Dr. rer. publ. Jürgen Faltin Jürgen Faltin ist Volljurist und promovierter Verwaltungswissenschaftler. Promotion 1985 an der Verwaltungshochschule Speyer mit dem Thema: Grenzen der staatlichen Regelungsbefugnis gegenüber freigemeinnützigen Krankenhäusern. Seit 1979 Tätigkeit für die Landesregierung Rheinland-Pfalz. Berufliche Stationen u. a.: Krankenhausplanung, Finanzierungsrecht, Qualitätssicherung, Berufsrecht der Gesundheitsberufe und Gesundheitsrecht. Aktuell Referatsleiter Gesundheitsrecht, Telematik und Datenschutz im Gesundheitswesen, Patientenrechte im Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie mit den Arbeitsschwerpunkten: Heilberufsrecht/Errichtung einer Pflegekammer, Aufsicht Pflegeversicherung, Patientenrechte – Biomedizin, Rechtsfragen der Einführung und Anwendungen einer Telematikinfrastruktur (e-Health). Nebenberuflich als Lehrbeauftragter tätig: EBS Business School, Wiesbaden (Studiengang Gesundheitsökonomie), Hochschule Ludwigshafen am Rhein (Studiengang Gesundheitsökonomie im Praxisverbund – GIP) sowie Dozent an

Autoren/Herausgeber

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der Hochschule Fresenius, Idstein (Studiengang International Pharmacoeconomics and Health Economics). Prof. Dr. iur. Heinrich Hanika Die Interessenschwerpunkte liegen u. a. im Bereich Europa-, Pflege- sowie Wirtschaftsrecht. Seine vielfältigen Forschungsprojekte, Publikationen sowie Vorträge befassen sich insbesondere mit den Themenfeldern des Europa- und Wirtschaftsrechts, des Gesundheits- und Pflegerechts sowie des Heilberufeund Kammerrechts. Heinrich Hanika studierte Rechtswissenschaften sowie Volkswirtschaftslehre. Er ist u. a. Ansprechpartner von Landesregierungen, des Deutschen Pflegerates und verschiedenen Pflegeverbänden in Bayern, Berlin, Rheinland-Pfalz, Hamburg, Saarland sowie Schleswig-Holstein für die Zukunftsaufgabe Pflege und Pflegekammern. Aktuell wurde er zur rechtswissenschaftlichen Forschungsbegleitung des Gründungsausschusses zur Errichtung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz berufen (s. www.h.hanika.de). Manuel Keppler, M.Sc. Geboren 1979 in Karlsruhe. Im Anschluss an den Schulabschluss Zivildienst im Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Fachabteilung für Querschnittlähmungen. Ab September 2000 Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten, AOK Baden-Württemberg. In der Folge verschiedene Tätigkeiten, unter anderem im Controlling, im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung. Seit Februar 2015 Mitarbeiter im Vorstandbüro/Büro des Verwaltungsrats der AOK Baden-Württemberg. Von 10/2007 bis 09/2009 Fortbildung zum „AOK-Betriebswirt“. Studium der Gesundheitsökonomie an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein, Abschluss Bachelor of Science im Januar 2013. Ab März 2013 Studium im konsekutiven Masterprogramm „Versorgungssteuerung im Gesundheitswesen – Health Care Management“, ebenfalls Hochschule Ludwighafen am Rhein. Abschluss Master of Science im August 2014. Sowohl die Bachelorarbeit als auch die Masterarbeit wurde mit dem Förderpreis Gesundheitsökonomie des Fördervereins Gesundheitsökonomie an der Hochschule Ludwigshafen e.V. ausgezeichnet.

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Autoren/Herausgeber

Prof. Dr. phil Karin Kersting Krankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe, Diplom-Pädagogin, seit 2003 Professorin für Pflegewissenschaft/Pflegeforschung an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein, Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen, Leitung des Bachelorstudiengangs Pflegepädagogik. Vera Lux Vera Lux ist seit 2010 Pflegedirektorin im Vorstand der Uniklinik Köln. 1992 Übernahme der ersten Leitungsfunktion im Pflegebereich als stv. Pflegedienstleiterin am Städtischen Krankenhaus Bad Nauheim. Bis zum Wechsel ans Universitätsklinikum Köln von 1994 bis 2000 Pflegedirektorin am Kreiskrankenhaus Friedberg und von 2000 bis 2010 Pflegedirektorin des Klinikums Darmstadt; 2003 zusätzlich als Geschäftsführerin der SSG Starkenburg Service GmbH berufen. Vera Lux ist Kinderkrankenschwester und hat ein berufsbegleitendes Studium der Betriebswirtschaftslehre, Schwerpunkt Gesundheitswirtschaft absolviert mit dem Abschluss Betriebswirtin VWA. 2006 bis 2008 durchlief sie an der Fundraising-Akademie Frankfurt eine berufsbegleitende Ausbildung zur FundraisingManagerin. Zu ihren sonstigen Aktivitäten zählen Mitgliedschaft im Verband der PflegedirektorInnen der Universitätskliniken und Medizinischen Hochschulen Deutschlands e.V., wo sie den Ausschuss für Qualität leitet, Publikations-, Vortrags- und Moderationstätigkeit.

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Herausgeber Prof. Dr. rer.pol. Manfred Erbsland Manfred Erbsland studierte Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie und Statistik an der Universität Mannheim: Abschluss Diplom-Volkswirt. Nach der Promotion an der Universität Mannheim wechselte er an das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Von September 1998 bis Januar 2003 war er Professor für Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie und Statistik an der Hochschule Neubrandenburg. Seit Februar 2003 ist er Professor für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik am Fachbereich Management, Controlling, HealthCare der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. Die Forschungsschwerpunkte von Manfred Erbsland sind: Demografische Entwicklung und die Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, Gesundheitsökonomie sowie angewandte Ökonometrie und Statistik. Prof. Dr. rer. pol. Eveline Häusler Eveline Häusler studierte Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Passau und Mannheim mit dem Abschluss Diplom-Kauffrau. Promotion an der Universität Mannheim. Seit 2001 Professorin für Management und Controlling im Gesundheitsbereich am Fachbereich Management, Controlling, HealthCare der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. Zuvor arbeitete sie als Verwaltungsdirektorin eines Krankenhauses und stv. Geschäftsführerin in einer Landeskrankenhausgesellschaft. Als Initiatorin und wissenschaftliche Leiterin der Gesundheitsökonomischen Gespräche an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein will sie den Austausch zwischen Gesundheitswesenpraxis und Hochschule fördern. Die Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen Management von Krankenkassen, Steuerung von Versorgungsnetzen im Gesundheitssektor sowie ethische Aspekte des Gesundheitsmanagements.