Die ›Moor-SA‹. Siedlungspolitik und Strafgefangenenlager im Emsland 1934-1942 [1. ed.] 9783835350380, 9783835348035

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Die ›Moor-SA‹. Siedlungspolitik und Strafgefangenenlager im Emsland 1934-1942 [1. ed.]
 9783835350380, 9783835348035

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Einleitung
II. Etablierung (November 1933 – Mai 1935)
1. Männerbund im Staatsdienst. Die Aufstellung der SA-Wachmannschaften
Entstehung der staatlichen Konzentrationslager im Emsland
Ablösung der SS und Aufstellung von SA-Einheiten
Vorbereitungen zur Wachübernahme
Der erste SA-Kommandant: Walter Engel
Die staatlichen Konzentrationslager unter SA-Bewachung
Kommandeur der ›Moor-SA‹: Werner Schäfer
Übernahme der Lager durch die Justizverwaltung
2. Die Konstituierung der ›Moor-SA‹. Kollektivbiographischer Hintergrund, Dienstalltag und initiierende Gewalt
Räumliche Herkunft und sozialer Hintergrund der Wachmannschaften
Hubert Aerts und die Ausbildung von SA-Männern im Winter 1933/34
Ideologischer Hintergrund, Altersstruktur und Generationalität der ›Moor-SA‹
Lagerstruktur und Dienstalltag
Erste Todesopfer: Neusustrum unter Hans Giese
Gewalt als Initiationsritus
3. »Die Eroberung einer Provinz«. Das Emsland als utopischer Planungsraum
Innere Kolonisation. Siedlungsbestrebungen in der Weimarer Republik
Die »Notlage des Emslands«
Völkische Modernisierung. Akteure des nationalsozialistischen Siedlungsprojekts
Ordnungspioniere. Die Einbindung der ›Moor-SA‹ in die Planungen der Justizverwaltung
4. Umkämpfter Raum. Die SA-Wachmannschaften und das katholische Milieu
Aufruhr in Lingen. Frühe NS-Aktivisten im Emsland
Die Emslandlager als regionaler Wirtschaftsfaktor
Eindringlinge im katholischen Raum. Autoritätsanmaßungen durch SA-Männer
Konflikte auf Volksfesten und Abgrenzung zur SS
III. Durchsetzung (Juni 1935 – 1938)
1. »Gesetzgeber im Emsland bin ich ganz allein«. Werner Schäfer und die Justizverwaltung
Das ›Bild des Anderen‹ während der langen Jahrhundertwende
Strafvollzug in der Weimarer Republik
Die Emslandlager als ›moderne‹ Haftanstalten
Strafvollzug im Doppelstaat
Die Doppelstruktur der ›Moor-SA‹
2. Gemeinschaft als Aufstiegsversprechen. Gemeinschaftspraxis und Karriereperspektiven
Gemeinschaftsbildung und Freizeitkultur
Gewalt als ›Erziehungsmaßnahme‹
Habitus der Härte
Vertuschung von Gewalt als Gemeinschaftskatalysator
Doppelte Aufstiegsperspektive
Nutzung von Opportunitätsstrukturen: Die Karriere Karl Dubbels
Die ›Moor-SA‹ als ideologisierte Zweckgemeinschaft
3. Die Logik des Ausbauarguments. Anspruch und Wirklichkeit des Siedlungsprojekts
Unterstreichung des Pionieranspruchs. Kultivierungsarbeiten in der SA-Propaganda
Mittel zum Aufstieg. Wirtschaftsbetriebe und Korruption
Auseinandersetzung mit dem Reichsarbeitsdienst
Das Primat des Kultivierungsprojekts
4. Doppelte Kultivierung. Repräsentationskultur der ›Moor-SA‹
Volksfest und Fürsorge. Die Einbindung der ›Moor-SA‹ in das öffentliche kulturelle Leben
Lagerbesuche als Teil der Repräsentationskultur
Der Besuch durch Bischof Berning
»Ein Band der Kameradschaft und Manneszucht umschlingt alle«. Die öffentliche Selbst-Inszenierung der ›Moor-SA‹
5. Wendepunkt für die ›Moor-SA‹? Das Dienststrafverfahren gegen Werner Schäfer 1938
Hintergründe des Verfahrens
Vorfeld der Gerichtsverhandlung
Anklagepunkte und Verhandlung
Folgen des Verfahrens
IV. Abstieg (1939 – 1942)
1. Ins Abseits gelobt. Stagnation des Lagerprojekts und Bedeutungsverlust der ›Moor-SA‹
›Grüne‹ und ›Blaue‹. Die Umstrukturierung der Wachmannschaften
Zugeständnisse der Justizverwaltung und parallele Entwicklungen im RJM
Wendepunkt für die ›Moor-SA‹. Das Scheitern des Neubaus der südlichen Emslandlager
Bedeutungsverlust der ›Moor-SA‹ im Zweiten Weltkrieg
2. Grenzen der Gemeinschaft. Dissonanzerfahrungen und Auflösungserscheinungen
Die SA während des Schäfer-Verfahrens
›Grün‹ und ›Blau‹ schlagen. Gewaltverhältnisse in den Emslandlagern nach Schäfers Rückkehr
»Verbitterung der Wachtruppe«. Krisenphänomene der ›Moor-SA‹
Aufstieg ohne die Gemeinschaft
Erosion der Gemeinschaft
3. Ende der inneren Kolonisierung. Unterordnung des Kultivierungsprojekts unter die Kriegswirtschaft
»Großbeginn der Emslandkultivierung«. Berichterstattung über den Lagerausbau
Konflikte zwischen den beteiligten Instanzen
Das Ausbleiben der Siedlerstellen
Das Ende des Siedlungsprojekts
4. Gewöhnung und Entwöhnung. Öffentliche Gewalt und das Verhältnis zur Zivilbevölkerung im Krieg
Gewalt und Gewöhnung
Fortgesetzte Einbindung in das kulturelle Leben
Aufflammen der Auseinandersetzungen im Zweiten Weltkrieg
V. Nachklang (1943 – 1970)
1. Die Perpetuierung des Lagers. Fortwährende Nutzung über den Systemwechsel
Die Strafgefangenenlager in der zweiten Kriegshälfte
Das Herold-Massaker und die Befreiung der Lager
Weiternutzung der Lager nach dem Krieg
Das ›Vermächtnis‹ der ›Moor-SA‹
2. Nach der Gemeinschaft. Lebenswege von SA-Männern nach der ›Moor-SA‹
Die ›Moor-SA‹ vor Gericht
Weitere Karriere im Justizdienst: Das Beispiel Wilhelm Schenk
Rückkehr ins Zivilleben und die Erinnerung an die ›Moor-SA‹
VI. Schlussbetrachtung
Ideologie, Gewalt und männlicher Habitus
Monokratische Gemeinschaftssuggestion
Polymorphe Binnenstruktur der Gemeinschaft
Opportunität der Gemeinschaft
Tabellen und Abbildungen
Verwendete Abkürzungen
Quellen und Literatur
Personenverzeichnis
Danksagung

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David Reinicke Die ›Moor-SA‹

Schriftenreihe der Gedenkstätte Esterwegen Band 3 Herausgegeben im Auftrag der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen von Sebastian Weitkamp

David Reinicke

Die ›Moor-SA‹ Siedlungspolitik und Strafgefangenenlager im Emsland 1934 – 1942

Wallstein Verlag

Diese Publikation wurde freundlicherweise gefördert durch

Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Garamond Premier und der Brandon Grotesque Umschlaggestaltung: WSV Umschlagbild: »Ein Sonntagsausflug nach Borkum«. SA-Wachmänner auf einem Ausflugsdampfer, um 1935. Archiv AK DIZ Emslandlager, Sammlung Paul Meyer. Diss. Phil. Fak. Universität zu Köln ISBN (Print) 978-3-8353-5038-0 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4803-5

Inhalt Vorwort I. II.

9

Einleitung

13

Etablierung (November 1933 – Mai 1935)

45

1. Männerbund im Staatsdienst. Die Aufstellung der SA-Wachmannschaften

46

Entstehung der staatlichen Konzentrationslager im Emsland (47) – Ablösung der SS und Aufstellung von SA-Einheiten (54) – Vorbereitungen zur Wachübernahme (59) – Der erste SA-Kommandant: Walter Engel (62) – Die staatlichen Konzentrationslager unter SA-Bewachung (67) – Kommandeur der ›Moor-SA‹: Werner Schäfer (69) – Übernahme der Lager durch die Justizverwaltung (76)

2. Die Konstituierung der ›Moor-SA‹. Kollektivbiographischer Hintergrund, Dienstalltag und initiierende Gewalt

79

Räumliche Herkunft und sozialer Hintergrund der Wachmannschaften (80) – Hubert Aerts und die Ausbildung von SA-Männern im Winter 1933 /34 (85) – Ideologischer Hintergrund, Altersstruktur und Generationalität der ›Moor-SA‹ (90) – Lagerstruktur und Dienstalltag (101) – Erste Todesopfer: Neusustrum unter Hans Giese (105) – Gewalt als Initiationsritus (113)

3. »Die Eroberung einer Provinz«. Das Emsland als utopischer Planungsraum

118

Innere Kolonisation. Siedlungsbestrebungen in der Weimarer Republik (119) – Die »Notlage des Emslands« (122) – Völkische Modernisierung. Akteure des nationalsozialistischen Siedlungsprojekts (125) – Ordnungspioniere. Die Einbindung der ›Moor-SA‹ in die Planungen der Justizverwaltung (132)

4. Umkämpfter Raum. Die SA-Wachmannschaften und das katholische Milieu Aufruhr in Lingen. Frühe NS-Aktivisten im Emsland (141) – Die Emslandlager als regionaler Wirtschaftsfaktor (142) – Eindringlinge im katholischen Raum. Autoritätsanmaßungen durch SA-Männer (145) – Konflikte auf Volksfesten und Abgrenzung zur SS (150)

138

III. Durchsetzung (Juni 1935 – 1938)

155

1. »Gesetzgeber im Emsland bin ich ganz allein«. Werner Schäfer und die Justizverwaltung

156

Das ›Bild des Anderen‹ während der langen Jahrhundertwende (156) – Strafvollzug in der Weimarer Republik (159) – Die Emslandlager als ›moderne‹ Haftanstalten (163) – Strafvollzug im Doppelstaat (166) – Die Doppelstruktur der ›Moor-SA‹ (172)

2. Gemeinschaft als Aufstiegsversprechen. Gemeinschaftspraxis und Karriereperspektiven

178

Gemeinschaftsbildung und Freizeitkultur (179) – Gewalt als ›Erziehungsmaßnahme‹ (189) – Habitus der Härte (196) – Vertuschung von Gewalt als Gemeinschaftskatalysator (203) – Doppelte Aufstiegsperspektive (208) – Nutzung von Opportunitätsstrukturen: Die Karriere Karl Dubbels (212) – Die ›Moor-SA‹ als ideologisierte Zweckgemeinschaft (215)

3. Die Logik des Ausbauarguments. Anspruch und Wirklichkeit des Siedlungsprojekts

219

Unterstreichung des Pionieranspruchs. Kultivierungsarbeiten in der SA-Propaganda (220) – Mittel zum Aufstieg. Wirtschaftsbetriebe und Korruption (223) – Auseinandersetzung mit dem Reichsarbeitsdienst (227) – Das Primat des Kultivierungsprojekts (231)

4. Doppelte Kultivierung. Repräsentationskultur der ›Moor-SA‹

234

Volksfest und Fürsorge. Die Einbindung der ›Moor-SA‹ in das öffentliche kulturelle Leben (237) – Lagerbesuche als Teil der Repräsentationskultur (243) – Der Besuch durch Bischof Berning (246) – »Ein Band der Kameradschaft und Manneszucht umschlingt alle«. Die öffentliche Selbst-Inszenierung der ›Moor-SA‹

(250) 5. Wendepunkt für die ›Moor-SA‹ ? Das Dienststrafverfahren gegen Werner Schäfer 1938 Hintergründe des Verfahrens (255) – Vorfeld der Gerichtsverhandlung (259) – Anklagepunkte und Verhandlung (261) – Folgen des Verfahrens (269)

254

IV. Abstieg (1939 – 1942)

273

1. Ins Abseits gelobt. Stagnation des Lagerprojekts und Bedeutungsverlust der ›Moor-SA‹

274

›Grüne‹ und ›Blaue‹. Die Umstrukturierung der Wachmannschaften (274) – Zugeständnisse der Justizverwaltung und parallele Entwicklungen im RJM (282) – Wendepunkt für die ›Moor-SA‹. Das Scheitern des Neubaus der südlichen Emslandlager (287) – Bedeutungsverlust der ›Moor-SA‹ im Zweiten Weltkrieg (290)

2. Grenzen der Gemeinschaft. Dissonanzerfahrungen und Auflösungserscheinungen

295

Die SA während des Schäfer-Verfahrens (296) – ›Grün‹ und ›Blau‹ schlagen. Gewaltverhältnisse in den Emslandlagern nach Schäfers Rückkehr (300) – »Verbitterung der Wachtruppe«. Krisenphänomene der ›Moor-SA‹ (305) – Aufstieg ohne die Gemeinschaft (308) – Erosion der Gemeinschaft (312)

3. Ende der inneren Kolonisierung. Unterordnung des Kultivierungsprojekts unter die Kriegswirtschaft

321

»Großbeginn der Emslandkultivierung«. Berichterstattung über den Lagerausbau (321) – Konflikte zwischen den beteiligten Instanzen (324) – Das Ausbleiben der Siedlerstellen (328) – Das Ende des Siedlungsprojekts (330)

4. Gewöhnung und Entwöhnung. Öffentliche Gewalt und das Verhältnis zur Zivilbevölkerung im Krieg Gewalt und Gewöhnung (338) – Fortgesetzte Einbindung in das kulturelle Leben (343) – Aufflammen der Auseinandersetzungen im Zweiten Weltkrieg (345)

338

V. Nachklang (1943 – 1970)

353

1. Die Perpetuierung des Lagers. Fortwährende Nutzung über den Systemwechsel

353

Die Strafgefangenenlager in der zweiten Kriegshälfte (354) – Das Herold-Massaker und die Befreiung der Lager (357) – Weiternutzung der Lager nach dem Krieg (359) – Das ›Vermächtnis‹ der ›Moor-SA‹ (362)

2. Nach der Gemeinschaft. Lebenswege von SA-Männern nach der ›Moor-SA‹

365

Die ›Moor-SA‹ vor Gericht (366) – Weitere Karriere im Justizdienst: Das Beispiel Wilhelm Schenk (374) – Rückkehr ins Zivilleben und die Erinnerung an die ›Moor-SA‹ (378)

VI. Schlussbetrachtung

384

Ideologie, Gewalt und männlicher Habitus (385) – Monokratische Gemeinschaftssuggestion (387) – Polymorphe Binnenstruktur der Gemeinschaft (390) – Opportunität der Gemeinschaft (393)

Tabellen und Abbildungen

398

Verwendete Abkürzungen

400

Quellen und Literatur

402

Personenverzeichnis

432

Danksagung

435

9

Vorwort Erst mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus erscheint mit David Reinickes Buch »Die Moor-SA« die erste umfassende Studie zu den Wachmannschaften in den Emslandlagern. Sie erweitert bereits vorliegende Untersuchungen zu SS-Bewachern in NS-Konzentrationslagern, die im Zuge der in den 1990er Jahren in der Bundesrepublik einsetzenden neueren Täterforschung entstanden sind. Zusammen mit wissenschaftlichen Arbeiten zum Einsatz von Einsatzgruppen, Polizeibataillonen, Wehrmachtseinheiten und Verwaltungstätern im Holocaust hat diese Täterforschung ein Stereotyp revidiert, das jahrzehntelang vorherrschte. Denn in der Nachkriegszeit hatte sich als breiter Konsens die Auffassung durchgesetzt, neben den wenigen »Hauptkriegsverbrechern«, die 1945 bereits tot oder in Nürnberg verurteilt worden waren, hätte eine nur zahlenmäßig kleine Gruppe pathologisch kranker Männer die Verbrechen durchgeführt, die zudem auf wenige SS-Konzentrationslager räumlich begrenzt und damit exterritorialisiert wurden. Sie wurden als »Kriminelle« betrachtet, wozu zahlreiche Strafverfahren und die Berichterstattung über sie unmittelbar nach dem Ende des NS-Regimes und dann wieder seit den späten 1950er Jahren erheblich beitrugen. Es entsprach einem kollektiven Bedürfnis, den mit der Entnazifizierung erhobenen Vorwurf einer weitreichenden Involvierung der Deutschen in den Nationalsozialismus abzuweisen. Die Minimierung der Schuldigen erlaubte eine Maximierung der Unschuldigen. Zugleich legitimierte sie die umfassende Reintegration von NS-Belasteten in der Bundesrepublik, die im Grunde »anständig« geblieben seien. Seitdem Christopher Browning mit seiner 1992 auf Deutsch erschienenen Studie zum Hamburger Polizeibataillon 101 aber die Frage aufgeworfen hat, ob es sich bei den dort eingesetzten Männern nicht um »gewöhnliche Deutsche« gehandelt habe, hat sich in der NS- und Holocaust-Forschung ein Richtungswechsel ergeben: Es wird differenziert nach Herkunft, Prägungen, Motiven, Praktiken, Situationen und Gruppenfaktoren von NS-Tätern gefragt, um Antworten darauf zu finden, warum sich Hunderttausende Deutsche an den Verbrechen aktiv beteiligt haben. Sadistische Dispositionen, wenngleich sie verbreitet waren, haben sich dafür als Erklärung als ebenso unzulänglich erwiesen wie eine bestimmte weltanschauliche Grundhaltung, die gleichwohl ebenfalls einen wesentlichen Faktor darstellte. Zudem sind weit mehr Beteiligte in einer Vielzahl verbrechensrelevanter Tatzusammenhänge in den Blick genommen worden. Die Frage nach einer möglichen Gewöhnlichkeit der Täter ist deshalb von einer Sozialgeschichte der Deutschen vor, 9

10 im und nach dem Nationalsozialismus nicht zu trennen, wie auch die jüngsten Forschungen zu Anspruch und Wirklichkeit der »Volksgemeinschaft« gezeigt haben. In seiner fundierten Studie folgt David Reinicke diesen Ansätzen der neueren Täterforschung. Seine quellengesättigte Untersuchung ermöglicht erstmals ein komplexes Verständnis der Funktionsweisen der emsländischen Strafgefangenenlager der Justiz, das die Wachleute als Akteure ins Zentrum rückt. Als sich in den 1970er Jahren die ersten zivilgesellschaftlichen Gruppen bildeten, die sich eingehender mit der Geschichte der 15 Emslandlager befassten, die von 1933 bis 1945 als Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager bestanden, ging es ihnen vor allem um die Sichtbarmachung und Anerkennung des Schicksals der Häftlinge und Gefangenen. Ein gutes Jahrzehnt zuvor hatten die Recherchen der jungen emsländischen Journalisten Hermann Vinke und Gerhard Kromschröder bei den Einheimischen vor allem den Reflex ausgelöst, sich nun erneut kollektiv beschuldigt zu sehen. Auch die Arbeit des 1985 gegründeten, bürgerschaftlich getragenen Dokumentations- und Informationszentrums Emslandlager, das aus den ersten Initiativen in enger Zusammenarbeit mit Überlebenden und ihren Angehörigen entstand, sah sich dem Verdacht ausgesetzt, Dingen nachgehen zu wollen, über die man Gras hatte wachsen lassen. Jenseits des Schweigens hatte sich wie für die Häftlinge und Gefangenen auch für die Täter das Bild von unliebsamen »Fremden« etabliert, die 1933 in das Emsland gekommen seien – ein Bild, das schon zu Beginn der Geschichte der Emslandlager nicht vollends zutraf und dies immer weniger tat, je länger sie bestanden. Der Erinnerungsfokus auf die Häftlinge und Gefangenen hat wie eine gewisse Berührungsfurcht vor dem Thema der Täter mit dazu beigetragen, dass bislang nur wenige Aufsätze zu den Wachmannschaften der Emslandlager vorgelegt worden sind und nicht vor 2018 mit dem Buch »Mehr als nur Zaungäste« von Bianca Roitsch die erste Monographie erschienen ist, in der das Emsland als eines von drei Beispielen für die Verflechtungen von Lagern und Region behandelt wird. Es ist deshalb das große Verdienst der Arbeit von David Reinicke, die »Moor-SA« als Institution, Gruppe und Einheit umfassend beleuchtet zu haben. Als Institution, weil sie einen spezifischen Status im Unterschied zur SS in den Konzentrationslagern hatte, da sie reichsweit die einzige SA-Formation war, die aufgrund der besonderen Entstehungsumstände der emsländischen Strafgefangenenlager über 1934 hinaus in der Lagerbewachung eingesetzt wurde. Als Gruppe, weil David Reinicke überzeugend herausarbeitet, wie die »Moor-SA« gebildet wurde, wer ihr angehörte und wie sie organisiert war. Und schließlich als Einheit, da die SA-Wachleute hier in einer beeindruckenden Weise auf die Motive ihres Handelns, soziale Praktiken und die Rolle der Gewalt hin analysiert werden. Dabei erweist sich als wesentliche Erkenntnis, dass keine der drei Dimensionen, die ohnehin nur in ihren wechselseitigen Verflechtungen zu verstehen sind, 10

11 haft stabil, homogen oder einheitlich war. Auch anhand zahlreicher individueller Fälle kann David Reinicke ebenso schlüssig wie materialreich ein dynamisches Verhältnis zwischen einer Kerngruppe von Wachleuten und einer insgesamt relativ fluide zusammengesetzten Wachmannschaft zeigen, deren hinreichende Kohäsion durch Leistungsanreize, eine Pionieridentität und die ihnen übertragene Gewaltmacht erzeugt wurde. Was zunächst als Studie zu einer singulären Konstellation erscheinen mag, erweist sich somit als ein überaus wegweisendes Prisma, um jene Vielzahl an Verbrechenskomplexen im Nationalsozialismus besser zu verstehen, in denen politisch und rassistisch motivierte Exklusion, koloniales Eroberungsdenken und eine immense Gewaltbereitschaft zahlreicher Akteure in einer unheilvollen Weise zusammenkamen. So hat die »Moor-SA« den Machtanspruch der Nationalsozialisten auch im Mikrokosmos der Strafgefangenlager auf emsländischem Boden von 1934 bis 1945 nicht nur durchgesetzt, sondern eigenständig gestaltet. Im achten Jahrzehnt nach dem Ende des Lagersystems stellt David Reinickes Studie »Die Moor-SA« damit eine unverzichtbare Grundlage für weitere Forschungen zur Binnensituation in den NS-Zwangslagern im Emsland und weit darüber hinaus dar, in denen nicht zuletzt das Verhältnis zwischen den Wachmannschaften sowie den Häftlingen und Gefangenen noch eingehenderer Untersuchungen bedarf, wofür der in den vergangenen Jahrzehnten entstandene, reichhaltige Fundus an Selbstzeugnissen der Verfolgten und Überlebenden eine unverzichtbare Grundlage bildet.

Prof. Dr. Habbo Knoch, Historisches Institut, Universität zu Köln

11

12

Abb. 1 : 12

Emslandlager 1933 – 1938.

13

I. Einleitung Weit sind die emsländischen Moore, unsagbar weit. Man muß durch sie hindurchfahren, dann spürt man die Leistung der Männer der Moor-SA, die Jahr für Jahr tagaus, tagein hier oben ihren schweren Dienst als Wachttruppen versehen […]. Die SA schafft hier ein Denkmal der Kraft des nationalsozialistischen Deutschlands. Mit unermüdlicher Zähigkeit wird die Kultivierungsarbeit im Emsland vorangetrieben. Es ist möglich, da die Männer der Moor-SA mit einem starken Idealismus und von unbeugsamem Einsatzwillen für ihre Aufgabe beseelt sind. An der Spitze der Kommandeur, SA-Oberführer Schäfer, wird in ungewöhnlicher Opferbereitschaft eine neue Provinz für den Führer und sein Volk erkämpft.1 Die Blauen führten den Karabiner, Gummiknüppel oder auch eine Pistole. Obwohl ihre Aufgabe laut Vorschrift nur in der Bewachung bestand, mischten sie sich dauernd in den Arbeitsgang ein und trieben die Gefangenen, sobald sie mal eine kleine Arbeitspause machten, mit Kolbenschlägen oder Knüppel zum ›Weitermachen‹ an.2 Zwei höchst unterschiedlichen Perspektiven – eine Propagandaschrift von 1941 und die Aussage eines ehemaligen Strafgefangenen nach 1945 – beschreiben so die Rolle der SA-Wachmannschaften der emsländischen Strafgefangenenlager. Im ersten Fall kulminieren Zuschreibungen von gesellschaftlicher Erneuerung, der Gestaltung einer ›inneren Kolonisierung‹ im Emsland, heroischer Männlichkeit, Opferbereitschaft, Führerkult und gemeinschaftlicher Selbstaufgabe. Die eigentliche Tätigkeit der SA-Männer in der Häftlingsbewachung wird dabei nur indirekt erwähnt. Das zweite Zitat verdeutlicht hingegen, dass hierin die eigentliche Aufgabe der SA-Männer bestand und die tatsächlichen Arbeiten in der Moorkultivierung von den Strafgefangenen zu leisten waren. Die hier aufgrund ihrer Dienstuniform als ›Blaue‹ bezeichneten SA-Männer maßten sich selbst Aufgaben an, die über die reine Bewachung der Häftlinge hinausgingen, indem sie einen eigenen Gestaltungsanspruch entwickelten und die Haftbedingungen gewaltsam überformten. 1 2

Bernd W. Beckmeier: Gau Weser-Ems, Berlin 1941, S. 25 f. Aufzeichnung eines unbekannten Häftlings, ca. 1946, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1224. »Die Blauen« war eine ab 1938 gängige Bezeichnung für die SA-Wachmannschaften, die eine blaue Dienstuniform trugen.

Einleitung

13

14 Aus beiden Sichtweisen ergibt sich die Frage, warum die SA-Männer so handelten. Warum entwickelten sie Ansprüche zur Ausgestaltung der Häftlingsarbeit, wenn sie doch eigentlich ›simple Bewacher‹ waren? Warum waren die SA-Männer umgekehrt bereit, sich als Kollektiv für die Erschließung einer Region einzusetzen, wenn sie davon doch anscheinend keinen eigenen Gewinn hatten? Die vermeintlichen Entbehrungen der SA-Männer werden in einem weiteren Bericht unterstrichen: Man erkennt wohl nur angesichts dieser Sand- und Moorwüste, welch hohes Maß von Liebe und Treue zum Führer, welche Opferbereitschaft und welcher bedingungslose Glaube an die Aufgabe in den Männern der Standarte lebendig sein musste, um hier jahrelang auszuharren, abgeschnitten von Verkehr und Zivilisation.3 Natürlich sind derartige Propagandazuschreibungen kritisch zu lesen und so entsteht unmittelbar die Frage nach dem Maß an Eigennutz, das die SA-Männer mit ihrem Dienst im Emsland verbanden. Zunächst lässt sich aber festhalten, dass die SA-Wachmänner ihren Bewachungsauftrag weitgefasst auslegten und dass dies ohne eine äußere Anordnung geschah. Dies äußerte sich in spezifischen Ausformungen der Gewalt gegen Strafgefangene: Das Arbeitspensum war sehr hart und ich habe es einmal nicht erfüllen können. Kaiser [Oberwachtmeister Hermann Kaiser, D. R.] befahl mir, daß ich fünf Soden stechen sollte. Diese musste ich übereinanderlegen, dann meine Jacke ausziehen und mich barfuß auf eine kleine Anhöhe stellen, wobei ich mich auf die Soden stellen musste und mit erhobenen Händen gegen den Wind stehen. Wenn ich hierbei umfiel, wurde ich geschlagen.4 Parallel entwickelten die Wachmannschaften aber auch eine nach außen gerichtete Repräsentation, die in ihrem Ausmaß für andere Kollektive nationalsozialistischer Direkttäter bislang unbekannt ist. Über gemeinschaftliche Umlagen, sogenannte Kameradschaftskassen, wurden Filmvorführgeräte beschafft und weitere Unterhaltungsangebote wie etwa »Theateraufführungen reisender ›Deutsche Arbeitsfront‹- oder ›Kraft durch Freude‹-Gruppen« finanziert.5 Diese Maßnahmen

Geheimbericht: Die SA-Standarte Pionier 10 »Emsland«, in: Erich Kosthorst / Bernd Walter (Hg.): Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. Beispiel Emsland. Dokumentation und Analyse zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz, Bd. 1, Düsseldorf 1983, S. 884–890, hier: 885. 4 Aussage Waldemar F. vom 31. 5. 1948, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221. 5 Habbo Knoch: »Kampf im Moore«. Kameradschaftspraxis und Selbstverständnis der Wachmannschaften in den emsländischen Strafgefangenenlagern zwischen 1934 und 1942, 3

14

Einleitung

15 dienten aber nicht nur als Freizeitangebote zur inneren Vergemeinschaftung, sondern wurden auch zum Teil für die Umgebungsbevölkerung geöffnet: Das galt auch für die zahlreichen Fest- und Sportveranstaltungen, die vom öffentlichen Ostereiersuchen bis zum paramilitärischen Wettkampf der Lagerwachmannschaften gegeneinander reichten. Hier waren die Wachleute in ihrem Element, dessen Charakter wohl nicht zutreffend als nur ›gemütlich‹ und ›froh‹ beschrieben worden ist.6 Ihren Gestaltungsanspruch vertraten die Wachmänner somit nicht nur innerhalb des Lagerprojekts, sondern offensiv auch nach außen hin. Schon nach kurzer Zeit gaben sich die Wachmannschaften die Eigenbezeichnung ›Moor-SA‹. Als solche entwickelten sie im Verlauf des Lagerprojekts selbstbewusst den Anspruch, zur Erneuerung der Region beizutragen. Schon die Selbstbetitelung impliziert dabei eine – wie auch immer reale – Zusammengehörigkeit der Wachmannschaften. Der Anspruch, als Gemeinschaft durch die Disziplinierung der Häftlinge und die Erschließung der Region zur gesellschaftlichen Erneuerung im nationalsozialistischen Deutschland beizutragen, ist ein Alleinstellungsmerkmal dieser SA-Wachmannschaften.

Gegenstand und Fragestellung Gegenstand dieser Arbeit sind die SA-Wachmannschaften der emsländischen Strafgefangenenlager, die ursprünglich aus den Wachmannschaften der staatlichen Konzentrationslager im Emsland hervorgegangen waren. Nachdem die SS-Wachmannschaften dieser Lager im November 1933 abgelöst worden waren, beschlossen die beteiligten Instanzen – vor allem das Preußische Innenministerium und die Bezirksregierung Osnabrück – gewissermaßen als Notlösung, die neuen Bewachungseinheiten aus SA-Männern zusammenzustellen. Dies war der Beginn mehrerer größerer Veränderungen für den Lagerkomplex. Im April 1934 wechselte auch die Zuständigkeit für die Lager zum Preußischen Justizministerium, und die Schutzhäftlinge wurden durch gerichtlich verurteilte Gefangene aus regulären Zuchthäusern und Gefängnissen ersetzt.7

in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus, Bremen 2002, S. 50–65, hier: 58. 6 Ebd. 7 Vgl. Kurt Buck: Die frühen Konzentrationslager im Emsland, in: Karl Giebeler / Thomas Lutz / Silvester Lechner (Hg.): Die frühen Konzentrationslager in Deutschland, Bad Boll 1996, S. 176–184. Nur das Lager Esterwegen wurde bis 1936 weiterhin als Konzentrationslager genutzt und ab Juli 1934 wieder von SS-Einheiten bewacht. Gegenstand und Fragestellung

15

16 Die Bewachung der Lager verblieb aber in den Händen der SA-Männer, die mit der Übernahme durch die Justizverwaltung einen neuen Kommandeur, den damals 29 Jahre alten Werner Schäfer, erhielten. Diesem wurden vom Justizministerium, in dem praktisch keine Erfahrungen mit dem Strafvollzug in Lagern bestanden, ein unbürokratisches Vorgehen und eine weitgehende Handlungsautonomie zugesichert. Schäfer wusste in der Folge die unklaren Zuständigkeiten von SA und Justiz zum eigenen Machtausbau zu nutzen und die ›Moor-SA‹ aus bestehenden Unterstellungsverhältnissen weitmöglich herauszulösen. Auch wenn daraus Spannungen mit der Justizverwaltung entstehen sollten, stellten die Emslandlager für das Reichsjustizministerium (RJM), das Ende 1934 die Zuständigkeit übernommen hatte, ein Prestigeprojekt dar. In den fortgesetzten Kompetenzkonflikten der Justizbehörden mit Gestapo und SS sollte das Lagerprojekt durch einen bewusst harten Strafvollzug modellhaft veranschaulichen, wie weltanschauliche Verfolgung, ›volksgemeinschaftliche‹ Generalprävention und damit auch eine gesellschaftliche Neuordnung im Sinne einer ›Volksgemeinschaft‹ im Rahmen des Justizsystems umsetzbar waren.8 Daher wurde der Lagerkomplex mehrfach ausgebaut. Von vier Lagern für 4.000 Strafgefangene im April 1934 wuchs er bis 1937 auf sieben Lager für 10.500 Häftlinge an.9 Bis zu diesem Zeitpunkt bildeten die Strafgefangenenlager den größten zusammenhängenden Lagerkomplex im nationalsozialistischen Deutschland.10 Auch die Wachmannschaften wurden in diesem Rahmen von 650 auf 1.500 SAMänner erweitert. Eine nochmalige Verdoppelung von Gefangenenkapazität und Wachmannschaftsstärke war ab 1938 durch den Neubau von acht weiteren Lagern im südlichen Emsland geplant, wurde bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs jedoch nicht realisiert und anschließend aufgegeben. Eng mit der Entwicklung der Lager verknüpft war ein Erschließungs- und SiedVgl. Habbo Knoch: »Endlose Heide. Tempo! Tempo!«. Die Emslandlager von 1933 bis 1936, in: Jörg Osterloh / Kim Wünschmann (Hg.): »... der schrankenlosesten Willkür ausgeliefert«. Häftlinge der frühen Konzentrationslager 1933–1936 /37, Frankfurt a. M. 2017, S. 97–122. 9 Einen grundlegenden Überblick über die Entwicklung der Emslandlager und ihre Nutzung als Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager bietet Habbo Knoch: Die Emslandlager 1933–1945, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005, S. 531–570. 10 Die neugebauten Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald und das erweiterte Lager Dachau wiesen erst ab 1938 jeweils höhere Häftlingszahlen auf. Vgl. Wolfgang Benz / Barbara Distel: Das Konzentrationslager Dachau 1933–1945. Geschichte und Bedeutung, München 1994; Hermann Kaienburg: Sachsenhausen – Stammlager, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 17–72 und Harry Stein: Buchenwald – Stammlager, in: ebd., S. 301–356. 8

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Einleitung

17 lungsprojekt, mit dem die unterentwickelte Region modernisiert werden sollte. In diesem Rahmen wurden die Häftlinge von Beginn an umfassend zur Zwangsarbeit in der Moorkultivierung eingesetzt – in einer Phase, in der die Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern noch eine marginale Rolle spielte.11 Durch das Siedlungsprojekt entstanden Anknüpfungspunkte und Beteiligungsmöglichkeiten für eine ganze Reihe weiterer Instanzen, denen sich hier ein Experimentierfeld zur Umsetzung eigener Vorstellungen bot. Neben dem RJM waren die Reichsstelle für Raumordnung (Rf R), das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft (RMEL), die Bezirksregierung in Osnabrück, die Gauleitung Weser-Ems und schließlich auch die Oberste SA-Führung (OSAF) involviert. Lokale Behörden und die überwiegend katholische Bevölkerung begrüßten ebenfalls die Erschließung der Region, letztere allerdings wohl weniger die völkische Konnotation des Projekts. So entstand eine breite Interessenallianz von Lokal- und Mittelinstanzen sowie verschiedenen Reichsbehörden. Für diese gelangte das Siedlungsprojekt allerdings nie an die Spitze der Agenda, sondern verblieb in einer mittleren Zuständigkeitsebene. Dennoch kam diesem Erschließungsprojekt unter völkischen Vorzeichen in den 1930er Jahren durchweg eine exponierte Stellung zu. Erst mit Beginn des Zweiten Weltkriegs begann ein – dann allerdings rapide fortschreitender – Bedeutungsverlust des Straf- und Siedlungsprojekts. In den Lagern selbst blieb die Ausgestaltung der Arbeits- und Haftbedingungen aber durchweg den Wachmannschaften überlassen. Versuche des RJM, Einfluss auf die Verhältnisse in den Lagern zu nehmen, blieben zögerlich; auch bei einem 1938 angestrengten Dienststrafverfahren gegen den Kommandeur ist fraglich, ob damit eine Besserung der Lebensbedingungen der Strafgefangenen überhaupt beabsichtigt war. Die SA-Männer etablierten in den Lagern ein Gewaltregime, das sie als Mittel zur ›Erziehung‹ der KZ-Häftlinge und später der Strafgefangenen sahen. Dabei griffen sie vielfach Praktiken aus anderen frühen Konzentrationslagern auf; einzelne Gewaltrituale entstanden auch spezifisch mit der Zwangsarbeit im Moor.12 Durch das Versprechen des RJM, dass sich geeignete Wachmänner auf den kultivierten Flächen ansiedeln können sollten, entstand in den Wachmannschaften zudem eine breite Identifikation mit den Zielen des Erschließungsprojekts. Unter Schäfers Führung entwickelte die ›Moor-SA‹ eine großangelegte äußere Repräsentation, in der sich die SA-Männer als die eigentlichen Protagonisten der Emsland-

Vgl. zur Einordnung Volkhard Knigge / Rikola-Gunnar Lüttgenau / Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Begleitband zur Ausstellung, Weimar 2010, insbesondere S. 30–41. 12 Vgl. David Reinicke: »Erziehung fleißiger Staatsbürger für das 3. Reich«. Gewaltpraxis und Gruppendynamik der ›Moor-SA‹, in: Dietmar von Reeken / Malte Thießen (Hg.): ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn u. a. 2013, S. 275–289. 11

Gegenstand und Fragestellung

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18 kultivierung stilisierten, die zur Modernisierung der Region maßgeblich beitrügen. Dahingehende Maßnahmen wurden wiederum durch die regionale Presse in einer Vielzahl von Berichten aufgegriffen. Zusammen mit den wiederkehrenden Besuchen durch hochrangige Vertreter der beteiligten Instanzen, bei denen diese den Wachmannschaften ihren Dank und Respekt bekundeten, unterstrich dies die herausgehobene Stellung der ›Moor-SA‹ gegenüber der Umgebungsbevölkerung und auch den SA-Männern selbst.13 Insofern reicht die Bedeutung der ›Moor-SA‹ weit über ihre Eigenschaft als Bewachungseinheit hinaus. Ihre Geschichte ist nicht ›bloße Tätergeschichte‹, sondern führt in kultur- und sozialhistorischer Hinsicht unmittelbar in die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus hinein. In dieser Studie werden Entstehung, Zusammensetzung und Entwicklung der SA-Wachmannschaften in den emsländischen Strafgefangenenlagern untersucht sowie ihr soziales Innenleben und ihre kollektiven Durchsetzungsstrategien analysiert – sowohl in der Etablierung eines Gewaltregimes in den Lagern als auch im Bemühen, die eigene Position nach außen hin zu stärken. Das Kollektiv der SA-Männer vertrat sowohl gegenüber den Häftlingen als auch der lokalen Bevölkerung einen völkischen gesellschaftlichen Erneuerungsanspruch. Dafür übertrugen die SA-Männer den Begriff des ›Kampfes‹ aus der ›Bewegungsphase‹ vor 1933 – so die These – auf die neuen Verhältnisse im Emsland. Die oben bereits skizzierte Institutionengeschichte der Emslandlager stellt dabei nicht den eigentlichen Fokus dieser Arbeit dar. Die institutionellen Rahmenbedingungen bilden aber einen in Arbeiten zur Tätergeschichte häufiger vernachlässigten wichtigen Hintergrund, durch den sich für ein Täterkollektiv erst Möglichkeitsstrukturen und Handlungsoptionen bilden. Zudem können die konkreten Entwicklungen im Einzelfall von den Masternarrativen der NS-Historiographie oftmals durchaus abweichen. Sowohl die Ablösung von SS-Wachmannschaften Ende 1933 als auch die anschließende Verwendung von SA-Wachmannschaften weit über den ›Röhm-Putsch‹ hinaus sind in der Geschichte des Nationalsozialismus beispiellose Vorgänge, die ohne die Motivationen und Interessenlagen übergeordneter Instanzen nicht zu erklären sind. Die Machtentfaltung der ›Moor-SA‹ im regionalen Rahmen wäre wiederum ohne das breite institutionelle Interesse an den Lagern und den angeschlossenen Kultivierungsarbeiten bei einer gleichzeitigen Personalschwäche der NS-Institutionen vor Ort nicht denkbar gewesen. Vor diesem Hintergrund bilden das Handeln der SA-Männer in den Lagern und die inneren Dynamiken der Wachmannschaften den eigentlichen Kern dieser Arbeit. Schon bald nach ihrer Aufstellung begannen die SA-Männer, das Lagerprojekt nach ihren eigenen Vorstellungen mitzugestalten. Dies manifestierte sich zunächst in der Etablierung einer spezifischen Gewaltpraxis. Von Beginn an stand Gewalt 13

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Vgl. Knoch: Kampf, S. 52–59. Einleitung

19 als Mittel zur Herstellung von Machtverhältnissen in einem latenten Reibungsverhältnis zu ökonomischen Effizienzanforderungen, die zumindest rudimentär für die großflächige Zwangsarbeit in der Moorkultivierung von Bedeutung waren. Darüber hinaus entwickelten die Wachmannschaften nach Schäfers Dienstantritt bald Ansprüche zur weiteren Ausgestaltung des Lagerprojekts. Als neben den Lagern die ersten kultivierten Flächen entstanden, begannen die Wachmänner, darauf eigene Wirtschaftsbetriebe zu errichten. Mit ihnen konnten sie modellhaft die zukünftigen Siedlungserfolge veranschaulichen und gleichzeitig die eigene Ernährungssituation verbessern. Parallel entstand vor allem auf Schäfers Initiative eine Vielzahl an Freizeitaktivitäten der Wachmannschaften. Sie trugen als Beschäftigungsmöglichkeiten für die SA-Männer abseits des oftmals eintönigen Wachdienstes zur ritualhaften Gemeinschaftsbildung der ›Moor-SA‹ bei. Ebenso wie die Wirtschaftsbetriebe sollte sich diese Freizeitkultur zudem bald zum Gegenstand einer äußeren Repräsentation entwickeln. Schon hier zeigt sich, dass die ›Moor-SA‹ einen kulturell-ideologischen Überschuss hatte, der sich auch auf das Kollektiv der SA-Männer auswirkte, welches sich daher nicht mehr umfassend mit Begriffen wie ›Gruppe‹ oder ›Verband‹ beschreiben lässt. Stattdessen wird die ›Moor-SA‹ in dieser Arbeit als Gemeinschaft aufgefasst, um ihren inneren Zusammenhalt, ihre gruppendynamischen Prozesse und den nach außen getragenen gesellschaftlichen Erneuerungsanspruch fassen zu können. Will man die SA-Wachmannschaften als Gemeinschaft untersuchen und dies nicht als einfache Setzung belassen, stellt sich aber unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis von Kollektiv und Individuum, gewissermaßen nach dem ›Ich‹ im ›Wir‹ – inwiefern also der Gemeinschaftsentwurf für die einzelnen SA-Männer anschluss- und tragfähig war und welche Motivationen sie mit ihrer Gemeinschaftszugehörigkeit verbanden. Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautet daher: Wie und warum taten die SA-Wachmänner im Emsland das, was sie taten? Alleinstehend wäre diese Fragestellung sicher zu simpel und unbedarft, der breite Zugriff ermöglicht jedoch, verschiedene Fragenkomplexe produktiv zu integrieren: Wie sahen die räumliche Herkunft und soziale Zusammensetzung der Wachmänner aus? Welche Aussagen lassen sich hinsichtlich ihres vorherigen Werdeganges und ihrer Altersstruktur treffen? Wie entwickelte sich ihre Zusammensetzung im weiteren Verlauf des Lagerprojekts, vor allem angesichts der mehrfachen Vergrößerung der Wachmannschaften? Gab es Formen der Binnendifferenzierung innerhalb der SA-Gemeinschaft? Welche Motive hatten die SA-Männer, sich den Wachmannschaften anzuschließen? Wie sah ihre ideologische Prägung aus? Gab es parallel dazu auch materielle Aspekte, die für sie von Bedeutung waren? Entstanden inner- und außerhalb des Lagerprojekts Aufstiegschancen, und wie nutzen sie sich ihnen bietende Opportunitätsstrukturen? Welche Aussagen lassen sich über ein Ende von Täterschaft und über weitere Biographieverläufe treffen? Gegenstand und Fragestellung

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20 Welche Bindekräfte konnte die ›Moor-SA‹ gegenüber den Wachmännern entfalten? Welche Maßnahmen wurden zur Gemeinschaftsbildung ergriffen? Wie war die kollektive Gewaltpraxis ausgeformt, und welche Rolle spielte sie für das Kollektiv der SA-Männer? Welches Selbstverständnis hatten die SA-Männer hinsichtlich ihrer Tätigkeit? Wie wurden Dissonanzerfahrungen ausgehandelt, und gab es Grenzen der Gemeinschaft? Welche Rolle und welchen Gestaltungsanspruch hatte die ›Moor-SA‹ im Rahmen des Straf- und Siedlungsprojekts? Welche Maßnahmen wurden zur Außendarstellung der ›Moor-SA‹ ergriffen? Wie entwickelte sich das Verhältnis zur Umgebungsbevölkerung? Welche Motivlagen gab es im katholischen Milieu des Emslands im Kontakt mit den Wachmannschaften? In welchem Verhältnis standen die propagandistischen Ankündigungen und die reale Entwicklung des Siedlungsprojekts? Wie wirkten diese äußeren Prozesse wiederum in die SA-Gemeinschaft zurück? Um diesen zum Teil höchst unterschiedlichen Fragen nachgehen zu können, soll die ›Moor-SA‹ aus vier unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen werden. Zunächst stehen die institutionelle Einbindung der ›Moor-SA‹, äußere Einflüsse und die Organisationsgeschichte im Fokus: also die Entstehung der staatlichen Konzentrationslager, sodann der Transitionsprozess von der Ablösung der SS-Wachmannschaften bis zur Übernahme der Lager durch die Justizverwaltung, ferner Vorbedingungen und Entwicklung des nationalsozialistischen Strafverständnisses und schließlich auch die geänderte Haltung im Reichsjustizministerium im Vorfeld und Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Den Kern bildet die organisatorische Entwicklung der SA-Wachmannschaften – etwa hinsichtlich ihrer Unterstellungsverhältnisse, Größe und Bezeichnung. Als zweite Perspektive folgt die Binnensicht auf die ›Moor-SA‹. Hier werden Fragen nach sozialen Prozessen innerhalb der SA-Gemeinschaft behandelt. Ideologischer Hintergrund, soziale und räumliche Herkunft der Wachmänner sind dabei ebenso von Bedeutung wie der Dienstalltag in den Lagern, die Gewaltpraxis der SA-Männer, ihre Herausbildung als Gemeinschaft, die Bedeutung kollektiver Aufstiegsperspektiven und -erwartungen für den gemeinschaftlichen Zusammenhalt, die Frage nach einem geteilten Selbstbild und letztlich auch Dissonanzerfahrungen, die Enttäuschung der Gemeinschaftsverheißung und Abwanderungsbewegungen unter den Wachleuten. Eine dritte Dimension stellt die Einbindung der ›Moor-SA‹ in das Siedlungsprojekt im Emsland dar. Die räumlichen und ideengeschichtlichen Hintergründe für dieses großangelegte Projekt einer ›inneren Kolonisierung‹, die Einbindung verschiedenster Akteure und Institutionen mit ihren jeweiligen Zielsetzungen und der Stellenwert als Maßnahme völkischer Modernisierungspolitik sind hier ebenso von Bedeutung wie Fragen danach, wie innerhalb der SA-Gemeinschaft eine Identifikation mit der Siedlungsarbeit entstand, weshalb die SA-Wachmannschaften überhaupt als Protagonisten der Emslanderschließung auftreten 20

Einleitung

21 konnten und wie sich das letztliche Scheitern des Kultivierungsprojekts auf die ›Moor-SA‹ auswirkte. Eine vierte Perspektive ergibt sich durch die Außenbeziehungen der ›Moor-SA‹, vor allem im Verhältnis zur überwiegend katholisch geprägten Bevölkerung des Emslands. Während es gerade zu Beginn des Lagerprojekts des Öfteren zu – teilweise gewaltsamen – Konflikten zwischen Wachmännern und Ortsansässigen kam, traten derartige Vorfälle ab Mitte der 1930er Jahre vorübergehend nicht mehr auf. Darüber hinaus soll aber vor allem untersucht werden, inwieweit es zu anderen Kontakten zwischen Wachleuten und Angehörigen des katholischen Milieus kam. So waren die Lager für die Region ein durchaus ernstzunehmender Wirtschaftsfaktor; stellenweise bekamen Teile der Bevölkerung, darunter hochrangige Würdenträger, Zutritt zu den Lagern. Schließlich bildete die Zivilbevölkerung auch das Publikum für eine Vielzahl an Maßnahmen zur Repräsentation der ›Moor-SA‹. Insgesamt stellt sich hier die Frage, ob und inwieweit sich das Verhältnis zwischen Wachleuten und ziviler Bevölkerung normalisierte. Der Beobachtungszeitraum dieser Studie ist doppelt gefasst. Den eigentlichen Kern der Untersuchung bilden die Jahre 1934–1942, die Werner Schäfers Amtszeit als Kommandeur der ›Moor-SA‹ umfassen. Mit der Übernahme durch die Justizverwaltung im April 1934 war die langfristige Existenz der Lager gesichert und die Wachmannschaften begannen bald, sich über ihre Bewachungsaufgabe hinaus in das Straf- und Siedlungsprojekt einzubringen. Anfang der 1940er Jahre war die ›Moor-SA‹ zwar personell bereits stark geschwächt, konnte sich aber über Schäfers Position als Regierungsdirektor und SA-Oberführer zumindest im lokalen Kontext noch behaupten. Nach Schäfers Einberufung zur Wehrmacht im Mai 1942 gelang dies nicht mehr, zumal die Lager fortan durch einen Justizbeamten geleitet wurden. Von einer funktionsfähigen ›Moor-SA‹ lässt sich also nur bis zu diesem Zeitpunkt sprechen. Darüber hinaus besteht ein äußerer zeitlicher Rahmen, in den die Geschichte der ›Moor-SA‹ eingebettet ist. Die Einrichtung der Emslandlager, die Aufstellung von SA-Wachmannschaften und die Transformation von staatlichen Konzentrationslagern des Innenministeriums zu Strafgefangenenlagern der Justiz 1933 /34 bildeten die unmittelbare Vor- und Entstehungsgeschichte der ›Moor-SA‹. Um den kollektivbiographischen Hintergrund der SA-Männer zu erfassen, muss zudem zeitlich weiter vorgegriffen werden. Gleiches gilt für ideengeschichtliche Bezüge, etwa die Hintergründe des Sieldungsprojekts als Maßnahme einer ›inneren Kolonisation‹ oder biologistische Annahmen über Devianz und Kriminalität seit der Jahrhundertwende, auf denen das nationalsozialistische Strafverständnis aufbaute. Auch wenn nach 1942 nur noch wenige SA-Männer im Wachdienst beschäftigt waren, sind die Spätphase der Emslandlager und ihre Befreiung als Nachgeschichte ebenso von Bedeutung wie die Strafverfolgung von SA-Tätern in der frühen Bundesrepublik und der weitere Werdegang ehemaliger Wachmänner. Gegenstand und Fragestellung

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22 Ansatz und Methode Diese Arbeit schließt konzeptionell an zwei größere Forschungsfelder zur Geschichte des Nationalsozialismus an. Zum einen ist das die neuere Täterforschung seit Beginn der 1990er Jahre, die inzwischen eine Vielzahl an Zugängen zum jeweiligen Gegenstand hervorgebracht hat.14 So sind bislang gruppendynamische Prozesse,15 sozialpsychologische Referenzrahmen,16 biographische, kollektivbiographische und generationelle Ansätze17 sowie alltags- und geschlechtergeschichtliche Betrachtungsweisen18 zur Analyse von Täterschaft produktiv genutzt worden. Zuletzt wurde die räumliche Verortung von Gewalt stärker in den Blick genommen19 und die Geschichte der Täter in eine multiperspektivische Gesamtgeschichtsschreibung der Konzentrationslager integriert.20 Allmählich werden auch kulturgeschichtliche Aspekte in die Täterforschung ein-

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Vgl. als Forschungsüberblick zur Etablierung der Täterforschung als Teildisziplin Gerhard Paul: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und »ganz gewöhnlichen« Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: Ders. (Hg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002, S. 13–90. Vgl. Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Hamburg 62011. Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011 und Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. Andrea Riedle: Die Angehörigen des Kommandanturstabs im KZ Sachsenhausen. Sozialstruktur, Dienstwege und biografische Studien, Berlin 2011; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000 und Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 2001. Vgl. Elissa Mailänder Koslov: Gewalt im Dienstalltag. Aufseherinnen im Konzentrationsund Vernichtungslager Majdanek, Hamburg 2009; Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006 und Leonie Güldenpfennig: Die Lager-SS des KZ Neuengamme. Sozialstruktur und Alltag der SS-Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade, Magisterarbeit Universität Hamburg 2000. Vgl. Jörg Baberowski: Räume der Gewalt. Frankfurt a. M. 2015 und Timothy Snyder: Bloodlands. Europe Between Hitler And Stalin. New York 2010. Auch wenn beide Werke jeweils berechtigte Kritik hervorgerufen haben, sind sie hier als innovative Beispiele zur räumlichen Verortung von Gewalt hervorzuheben. Zur auch methodologischen Kritik an Baberowski vgl. Ulrike Jureit: Rezension zu: Baberowski, Jörg: Räume der Gewalt. Frankfurt a. M. 2015, in: H-Soz-Kult, 29. 3. 2016, Online-Ressource unter ‹http://www.hsozkult. de/publicationreview/id/rezbuecher-25069›, letzter Abruf: 2. 8. 2018. Vgl. Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016. Einleitung

23 bezogen,21 wie es auch in dieser Arbeit explizit beabsichtigt ist. Für Kollektive von Direkttätern beschränkt sich dies jedoch – auch aufgrund der verfügbaren Quellen – meist auf den Dienstalltag. Die sozialräumliche Verortung von Täterkollektiven im gesellschaftlichen Kontext, wie sie sich durch die Betrachtung der ›Moor-SA‹ als Gemeinschaft ergibt, bildet in der Forschung noch weitgehend eine Leerstelle. Zum anderen hat sich in den vergangenen Jahren eine Hinwendung zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus ergeben. Dies ist überwiegend im Rahmen einer Debatte um die ›Volksgemeinschaft‹ geschehen, bei der es im Kern darum geht, ob diese zentrale nationalsozialistische Propagandaformel auch als historisches Konzept nutzbar gemacht werden kann und als solches eine gesellschaftliche Verheißung oder soziale Realität beschreibt.22 Kritiker dieses Ansatzes bemängeln vor allem eine analytische Unschärfe des Konzepts, bei dem nicht klar sei, ob es das Verhalten der Bevölkerung in Relation zu einem nationalsozialistischen Leitkonzept oder doch zumindest implizit eine essentialisierende Vorstellung von ›der‹ Volksgemeinschaft meine. Zudem werde eine eigentlich beabsichtigte Ausdifferenzierung, die über die Trias von Tätern, Opfern und ›Bystandern‹ hinausgeht,23 gerade nicht geleistet, da Verhaltensweisen nur in Beziehung zu ›Volksgemeinschaft‹ gedeutet würden und am Ende nur ›Volksgenossen‹ und ›Gemeinschaftsfremde‹ blieben.24 Bei aller berechtigten Kritik ist die HinwenVgl. Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939–1944, München 2010. 22 Einen Überblick über die Debatte liefern Janosch Steuwer: Was meint und nützt das Sprechen von der »Volksgemeinschaft«? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: AfS 53 (2013), S. 487–534 und Detlef Schmiechen-Ackermann: »Volksgemeinschaft«: Mythos der NS-Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Einführung, in: Ders. (Hg.): »Volksgemeinschaft«: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Paderborn u. a. 2012, S. 11–52. Wichtige Anstöße zu dieser neueren Debatte lieferte Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007. Eine Perspektive auf Gesellschaft im Nationalsozialismus, die weitgehend ohne den Volksgemeinschaftsbegriff auskommt, bietet Frank Bajohr: Die Zustimmungsdiktatur. Grundzüge nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.): Hamburg im ›Dritten Reich‹, Göttingen 2005, S. 69–121. Als Vorläuferstudien sei verwiesen auf Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982 und Timothy Mason: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936–1939, Opladen 1975. 23 Vgl. hierzu Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt a. M. 1992. 24 Vgl. Wolf Gruner: Das Dogma der »Volksgemeinschaft« und die Mikrogeschichte der NS-Gesellschaft, in: Detlef Schmiechen-Ackermann u. a. (Hg.): Der Ort der ›Volksgemeinschaft‹ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn u. a. 2018, S. 71–90; Ulrich 21

Ansatz und Methode

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24 dung zu einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus grundsätzlich begrüßenswert, und das Verdienst dieser Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer ›Volksgemeinschaft‹ ist es, vielfache Impulse geliefert zu haben. Dadurch bestehen vielfältige Analogien zu dieser Arbeit, sowohl in begrifflicher als auch in methodologischer Hinsicht. Dennoch ist ›Volksgemeinschaft‹ für die Analyse der ›Moor-SA‹ kein erkenntnisleitendes Konzept. Eine weitgehende Identifikation mit Zielen des NS und die Bereitschaft, am Aufbau des nationalsozialistischen Staates mitzuwirken, können für die Wachmänner, die bis 1938 praktisch ausnahmslos vor ihrem Dienstantritt im Emsland der SA beigetreten waren, grundsätzlich angenommen werden.25 In dieser Studie geht es vielmehr um die gemeinschaftliche Verfasstheit der Wachmannschaften sowie um die Frage, wie sich die ›Moor-SA‹ über den Selbstentwurf als Gemeinschaft im gesellschaftlichen Kontext verortete. Das soziologische Konzept der Gemeinschaft geht auf Ferdinand Tönnies zurück, der diese als »reales und organisches Leben« definiert, dem alles »vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben« zuzurechnen sei.26 Im Gegensatz dazu versteht er Gesellschaft als mechanische und individualistische Organisationsform des Sozialen. Gemeinschaft und Gesellschaft sind für ihn Idealtypen, die sich als Begriffe einer ›reinen Soziologie‹ diametral entgegenstehen.27 Schon kurz nach der Erstveröffentlichung von Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft« präsentierte allerdings Emile Durkheim eine andere Deutung. Für Durkheim sind traditionale, homogene Sozialformen aufgrund ihrer hochgradigen Regulierung Ausdruck einer »mechanischen Solidarität«. Im Hervortreten flexibler, arbeitsteiliger Kollektive in der modernen Gesellschaft sieht er hingegen eine »organische Solidarität«.28 Ohne diesen Widerspruch an dieser Stelle auflösen zu können, verweist Durkheims abweichende Begriffsbildung darauf, dass Tönnies in einer kulturpessimistischen Sicht die traditionale Dorfgemeinschaft zum Ideal erhebt. Tönnies’ Ausfüh-

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Herbert: ›Volksgemeinschaft‹: Gleichheit und Ungleichheit, in: Winfried Nerdinger (Hg.): München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München, München 2015, S. 408–418 und Habbo Knoch: Die Zerstörung der sozialen Moderne. ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ im Nationalsozialismus, in: David Reinicke u. a. (Hg.): Gemeinschaft als Erfahrung. Kulturelle Inszenierungen und soziale Praxis 1930–1960, Paderborn u. a. 2014, S. 21–34. Eine Ausnahme von dieser Regel bildeten in der Frühphase der Lager SS-Männer, die erst mit der Übernahme der Bewachung durch die SA dieser beitraten. Ihre vorherige SS-Zugehörigkeit ändert aber nichts an dieser Feststellung. Beide Zitate: Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 71926 [1887], S. 1. Vgl. ebd. Vgl. Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a. M. 31999 [1893]. Einleitung

25 rungen sind daher keineswegs ›reine Soziologie‹; neben formal-logischen enthalten sie auch »anthropologische, […] zeitdiagnostische und ethische Elemente«.29 Auch deshalb greifen Historiker öfter auf Max Webers Begriff der Vergemeinschaftung zurück: ›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.30 Damit wird das Konzept über traditionale Gemeinschaften hinaus geöffnet; zumindest implizit ist darin auch eine prozessuale Komponente enthalten. Allerdings weist dieser Ansatz hinsichtlich der Operationalisierung für historiographische Arbeiten das gleiche fundamentale Problem auf wie schon der Gemeinschaftsbegriff bei Tönnies: Die Kategorie einer subjektiv gefühlten Zusammengehörigkeit lässt sich als Breitenphänomen in aller Regel historisch kaum nachweisen.31 Gerade die Bedingungen des öffentlich Sagbaren in diktatorischen oder totalitären Regimen bergen dafür gravierende Schwierigkeiten. Ein weiteres methodisches Problem ergibt sich dadurch, dass Gemeinschaft auch ein Quellenbegriff ist, der in den 1920er und 1930er Jahren eine besondere Konjunktur erlebte. Oftmals sind damit Sehnsüchte verbunden, die zeitgenössische Akteurinnen und Akteure in dieser Sozialform verwirklicht sehen wollten. Doch nicht jedes proklamierte Kollektiv ist tatsächlich auch existent. Die von Ulrike Jureit für die Generationenforschung aufgestellte Forderung, »grundsätzlich zwischen Generation als Selbstthematisierungsformel und Generation als analytischer Kategorie zu unterscheiden«,32 muss daher auch für die Analyse von Gemeinschaften übernommen werden. Im Ausbleiben dieser konsequenten Unterscheidung liegt ein grundlegendes Problem vieler Arbeiten zur nationalsozialistischen ›Volksgemeinschaft‹. So heißt es etwa in der Einleitung eines einschlägigen Sammelbands: Lars Gertenbach u. a.: Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg 2010, S. 39. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972 [1921 /22], S. 21. 31 Eine ernstgemeinte Geschichte von Emotionen und Emotionalität ist nicht gleichzusetzen mit einer massenhaften Zuschreibung von Gefühlen. Vgl. zu diesem Forschungsfeld Ute Frevert: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: GG 35 (2009), S. 183–208 und Alexandra Przyrembel: Sehnsucht nach Gefühlen. Zur Konjunktur der Emotionen in der Geschichtswissenschaft, in: L’Homme 16 (2005), S. 116–124. 32 Ulrike Jureit: Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 9. In diesem Kontext vgl. auch dies.: Imagination und Kollektiv. Die »Erfindung« politischer Gemeinschaften, in: Dies. (Hg.): Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Münster 2001, S. 8–20.

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26 »Im Mittelpunkt der Analyse steht Herrschaft als soziale Praxis […], weil im Prozess des Herstellens von ›Volksgemeinschaft‹ […] die spezifischen Merkmale der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft sichtbar werden.«33 Damit gibt also der Quellenbegriff die Ergebnisse schon vor; die Frage nach der Volksgemeinschaft wird so zur ›self-fulfilling prophecy‹.34 Der eigentliche Analysebegriff ist hier allerdings nicht ›Volksgemeinschaft‹, sondern ›Herrschaft als soziale Praxis‹:35 ein Umstand, der mit variierenden analytischen Konzepten und Begriffen für die meisten Arbeiten zur ›Volksgemeinschaft‹ gilt.36 Die subjektive Selbstverortung im gemeinschaftlichen Kontext ist dabei durchaus ein gewinnbringender Ansatz.37 Dafür ist es aber nötig, »den komplexen und hybriden Charakter des Begriffsfeldes Gemeinschaft zwischen Beschreibung, Aneignung und Inszenierung sozialer Realität im zeitlichen Verlauf zu berücksichtigen und zu reflektieren.«38 Dadurch verschiebt sich die Perspektive stärker auf 33 34

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Frank Bajohr / Michael Wildt: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 7–23, hier: 10. So auch bei Thomas Kühne, der aus dem weit verbreiteten Wissen über nationalsozialistische Massenverbrechen auf die Existenz einer mörderischen Volksgemeinschaft schließt. Vgl. Thomas Kühne: Belonging and Genocide. Hitler’s Community, 1918–1945, New Haven 2010. Eine deutlich differenziertere Perspektive auf die Kenntnis der deutschen Bevölkerung über den Holocaust bietet Frank Bajohr: Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen. Die deutsche Gesellschaft und die Judenverfolgung 1933–45, in: Ders./Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006, S. 20–79, hier: 55–65. Vgl. Alf Lüdtke: Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–63. Dies haben zuletzt Latzel, Mailänder und Maubach herausgestellt: »Selbst diejenigen, die davon sprechen, verwenden diesen Begriff [der ›Volksgemeinschaft‹, D. R.] nicht analytisch, also als aufschließendes Instrument (wie hätte das bei dessen Unschärfe und Bedeutungsreichtum auch gelingen sollen), sondern stattdessen gängige analytische Begriffe wie ›Rasse‹. ›Klasse‹, ›sozialer Wandel‹, ›Inklusion‹, ›Exklusion‹, ›Normen‹, ›Praktiken‹ usw.« (Klaus Latzel / Elissa Mailänder / Franka Maubach: Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft«. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.): Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft«, Göttingen 2018, S. 9–26, hier: 11). Zu dieser analytischen Uneindeutigkeit vgl. beispielhaft Bernhard Gotto / Martina Steber: ›Volksgemeinschaft‹. Ein analytischer Schlüssel zur Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes, in: Uwe Danker / Astrid Schwabe (Hg.): Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen?, Göttingen 2017, S. 37–47. Vgl. Janosch Steuwer: »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017 und Mary Fulbrook: Dissonant Lives. Generations and Violence Through the German Dictatorships, Oxford 2011. David Reinicke / Kathrin Stern / Gunnar Zamzow: Auf der Suche nach dem ›besonderen Band‹. Perspektiven für eine historische Gemeinschaftsforschung, in: Reinicke u. a. (Hg.): Gemeinschaft, S. 201–221, hier: 203. Vgl. als unterschiedliche Beispiele, in denen dieser Anspruch umgesetzt wird, Steffen Werther: SS-Vision und Grenzland-Realität. Vom Umgang Einleitung

27 das Verhältnis von Individuum und Kollektiv. So werden – im Gegensatz zu einer Definition allein über das Zugehörigkeitsgefühl – soziale Prozesse innerhalb des Kollektivs zum immanenten Teil des analytischen Blicks auf die Gemeinschaft.39 Dabei hat erneut Emile Durkheim am Beispiel religiöser Gemeinschaften darauf hingewiesen, dass für diese kollektive Rituale und Ereignisse bis hin zu Momenten des Rausches, die er als »kollektive Efferveszenz« bezeichnet, eine zentrale Rolle spielen.40 Vor allem in der französischsprachigen Soziologie ist diese Betrachtung, die zum Beispiel die Verwendung kultischer Gegenstände ebenfalls mit einbezieht, auch auf andere Gemeinschaftsformen übertragen worden.41 Die inneren Prozesse von Gemeinschaften lassen sich über die soziale Praxis hinaus noch auf verschiedene Bereiche erweitern, wie die Aushandlung gemeinschaftlicher Vorstellungen über einen Idealzustand, der durch die Gemeinschaftszugehörigkeit (wieder) hergestellt werden soll, oder kollektive Wertsetzungen innerhalb der Gemeinschaft. Eine entsprechende Gemeinschaftsdefinition präsentieren Ronald Hitzler, Anne Honer und Michaela Pfadenhauer. Ausgehend von der Betrachtung posttraditionaler Gemeinschaften machen sie für jegliche Gemeinschaft fünf konstitutive Elemente aus: a) die Abgrenzung gegenüber einem wie auch immer gearteten ›Nicht-Wir‹, b) ein wodurch auch immer entstandenes Zu(sammen)gehörigkeitsgefühl, c) ein wie auch immer geartetes, von den Mitgliedern der Gemeinschaft geteiltes Interesse bzw. Anliegen, d) eine wie auch immer geartete, von den Mitgliedern der Gemeinschaft anerkannte Wertsetzung und schließlich e) irgendwelche, wie auch immer geartete, den Mitgliedern zugängliche Interaktions(zeit)räume.42

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dänischer und »volksdeutscher« Nationalsozialisten in Sønderjylland mit der »großgermanischen« Ideologie der SS, Stockholm 2012 und Inge Marszolek: »Aus dem Volke für das Volk«. Die Inszenierung der »Volksgemeinschaft« im und durch das Radio, in: Dies./ Adelheid von Saldern (Hg.): Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (1924–1960), Potsdam 1999, S. 121–135. Einen Schwerpunkt auf die soziale Praxis innerhalb der NS-Gesellschaft legen von Reeken / Thießen (Hg.): Volksgemeinschaft. Vgl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M./ Leipzig 2007 [1912], S. 319–331 sowie auch Victor Witter Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M./New York 2005 [1969]. Vgl. Gertenbach u. a.: Theorien, S. 67–75. Für die Geschichte des 20. Jahrhunderts greifen dies vor allem Arbeiten im Kontext der osteuropäischen Geschichte auf. Vgl. Malte Rolf: Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006 und ders./Árpád von Klimó (Hg.): Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen, Frankfurt a. M./New York 2006. Aus soziologischer Perspektive vgl. Yvonne Niekrenz: Rauschhafte Vergemeinschaftungen. Eine Studie zum rheinischen Straßenkarneval, Wiesbaden 2011. Ronald Hitzler / Anne Honer / Michaela Pfadenhauer: Zur Einleitung: »Ärgerliche« Gesel-

Ansatz und Methode

https://doi.org/10.5771/9783835348035

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28 Über diese erweiterte Gemeinschaftsdefinition lassen sich die verschiedenen angesprochenen Elemente in die Gemeinschaftsanalyse integrieren. Gemeinschaft wird so auch aus der Gegenüberstellung zur Gesellschaft herausgelöst, wodurch Ausformungen des Gemeinschaftlichen im Gesellschaftlichen betrachtet werden können. Zudem lassen sich auch weitere historische Kategorien und Theorieansätze in die Analyse der ›Moor-SA‹ einbinden und nutzen. Ein bereits mehrfach im Kontext von NS-Täterschaft herangezogener Ansatz ist der der Generationalität.43 Gemäß dem klassischen Generationenverständnis nach Karl Mannheim können Angehörige benachbarter Geburtsjahrgänge aufgrund prägender Erlebnisse in Kindheit und Jugend »Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien« teilen, also ähnlich auf empfundene Herausforderungen im späteren Leben reagieren, und sich dadurch von früheren oder späteren »Generationslagerungen« unterscheiden.44 Auch das Konzept der Generation ist zwischenzeitlich inflationär genutzt worden, und es soll hier keineswegs eine eigenständige »Generation ›Moor-SA‹« ausgerufen werden. Vielmehr gilt es danach zu fragen, inwiefern in den SA-Wachmannschaften aufgrund einer ähnlichen Alters- und Sozialstruktur gemeinsame Erfahrungsschichtungen vorlagen, durch die sich das Handeln der Wachmänner mit erklären lässt.45 Eine weitere Kategorie, deren Einbeziehung sich daraus quasi zwangsläufig ergibt, stellt die Erfahrung dar. Auch dieser Begriff wird oft umgangssprachlich gebraucht, jedoch liefert auch der Erfahrungsbegriff keine unmittelbare Evidenz.46 Eine Definition des Begriffs bietet Reinhart Koselleck: Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können. Sowohl rationale Verarbeitung wie unbewusste Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsent sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen. Ferner ist in der je eigenen Erfahrung, durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben.47

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lungsgebilde?, in: Dies. (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, Wiesbaden 2008, S. 9–31, hier: 10. Vgl. hierzu besonders Wildt: Generation, als Vorläufer auch Herbert: Best. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Ders. (Hg.): Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied 1964 [1928], S. 509–565, hier: 542 u. 545. Die Adaption generationeller Konzepte für die Geschichte der ›Moor-SA‹ wird im entsprechenden Abschnitt dieser Arbeit näher erläutert. Vgl. Joan Scott: The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry 17 (1991), S. 773–797. Reinhart Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375, hier: 354. Einleitung

29 Die Kategorie ›Erfahrung‹ ist daher in mehrfacher Hinsicht für diese Untersuchung relevant: zum einen in Bezug auf die früheren Erfahrungen von SA-Wachmännern, die Einfluss auf ihre Dienstauffassung und die Gestaltung des Haftalltags hatten, zum anderen aber auch hinsichtlich der sozialen Praxis in den Lagern, indem das Erlebte durch die Wachmänner später inkorporiert und somit zu Erfahrung wurde. Dies ist vor allem im längeren Verlauf der SA-Gemeinschaft relevant, da sich dadurch auch Erfahrungen aus der bisherigen Dienstzeit auf die individuelle Sicht auf die ›Moor-SA‹ auswirkten. Für beide Gesichtspunkte von besonderer Bedeutung ist auch die von Koselleck angesprochene »fremde Erfahrung«, die durch Vermittlungsinstanzen – sei es eine generationelle Prägung oder die SA-Gemeinschaft im Emsland – in die jeweils eigene Erfahrung einfloss. Für die Gewaltpraxis der ›Moor-SA‹ werden wiederum mehrere Ansätze aus der Täterforschung herangezogen. Die SA-Männer waren keineswegs ›ganz normale Männer‹, allein schon, da sie mehrheitlich bereits vor der Machtübertragung der SA beigetreten waren. Dennoch muss der Frage nachgegangen werden, inwiefern ihr Gewalthandeln aus ideologischer Überzeugung oder auch aus gruppendynamischen Prozessen zu erklären ist.48 Der Fokus auf Gewalt in nationalsozialistischen Zwangslagern hat sich dabei inzwischen von einem institutionalisierten Verständnis auf die eigentliche Praxis vor Ort verschoben: Die massive Gewalt und Vernichtung […] sind nicht allein mit […] der ›Institution‹ Konzentrationslager zu erklären. Entscheidend dafür sind auch die konkreten Verhaltensweisen der Aufseherinnen und SS-Männer vor Ort mit ihren emotionalen Hintergründen. Im Kontext des Dienstalltags verflechten sich materielle Interessen und individuelle Befindlichkeiten bzw. Bedürfnisse mit der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik.49 Die in diesem Kontext vorgenommene mikrohistorische Perspektive auf Gewalthandeln, Motivationen und situative Hintergründe der einzelnen Akteure kann hier aufgrund der Quellenlage und Anzahl der SA-Wachmänner allerdings nur bedingt eingelöst werden.50 Stattdessen wird in dieser Arbeit auf das Konzept der Vgl. zu letzterem Ansatz Browning: Männer. Mailänder Koslov: Gewalt, S. 12. Inzwischen öfters aufgrund der Makroperspektive und einer fehlenden zeitlichen und räumlichen Dynamik kritisiert, zur Funktion und Bedeutung von Gewalt in nationalsozialistischen Konzentrationslagern aber immer noch wichtig ist Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1993. 50 Die von Mailänder betrachteten SS-Aufseherinnen in Majdanek umfassten insgesamt 28 Personen, während in der ›Moor-SA‹ zeitgleich zwischen 650 und 1.500 Wachmänner Dienst taten. Zur Mikrogeschichte von Gewalt in diesem Kontext vgl. auch Johannes Schwartz: »Weibliche Angelegenheiten«. Handlungsräume von KZ-Aufseherinnen in Ravensbrück und Neubrandenburg, Hamburg 2018, S. 10–21.

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30 ›dichten Beschreibung‹ zurückgegriffen, um einzelne Aspekte der Gewalt möglichst detailliert und umfassend darstellen zu können.51 Für den Deutungshorizont der SA-Männer in Bezug auf ihr eigenes Handeln und ihre eigene Rolle muss zudem der ausschließlich männliche Charakter der ›Moor-SA‹ berücksichtigt worden. Die wichtige Bedeutung der Kategorie ›Geschlecht‹ wird zwar in breitem Maße anerkannt, als analytischer Zugang ist sie bisher aber überwiegend für weibliche Täterkollektive genutzt worden.52 Männlichkeit wird in dieser Studie unter Rückgriff auf soziologische Ansätze als Geschlechtshabitus interpretiert; zudem wird auf das Konzept einer ›hegemonialen Männlichkeit‹ zurückgegriffen.53 Allerdings lassen sich Vorstellungen von Männlichkeit mit den verfügbaren Quellen auch nur zur Hälfte rekonstruieren – nämlich der männlichen Sichtweise.54 Die Perspektive der Frauen auf diese Männlichkeitskonstrukte – aus der Umgebungsbevölkerung, als Partnerinnen von Wachmännern oder Häftlingen – bleibt hier leider eine Leerstelle.55 Eine letzte, wiederum in mehrfacher Hinsicht bedeutsame Kategorie ist der Raum. In der Gemeinschaftstheorie unterscheidet Steven Brint zwischen ›communities of region‹ und ›communities of choice‹ und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass im 20. Jahrhundert Gemeinschaftsformen hervortreten, die nicht mehr auf Nahbeziehungen ihrer Mitglieder basieren.56 Im geschichtswissenschaftlichen Kontext bildet ›Raum‹ eine oftmals eingeforderte, aber nur selten ernst ge51 52

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Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987. Vgl. Schwartz: Angelegenheiten; Anette Kretzer: NS-Täterschaft und Geschlecht. Der erste britische Ravensbrück-Prozess 1946 /47 in Hamburg, Berlin 2009 und Mailänder Koslov: Gewalt. Für SS-Männer vgl. vor allem Christopher Dillon: Dachau and the SS. A Schooling in Violence, Oxford 2015. Zum männlichen Habitus vgl. Holger Brandes: Der männliche Habitus. Männerforschung und Männerpolitik, Bd. 2, Opladen 2002; Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Opladen 1998, S. 104–121 und Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling / Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a. M. 1997, S. 153– 217. Zum Konzept einer hegemonialen Männlichkeit vgl. Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999, S. 97–102. Vgl. in diesem Kontext Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der »SS-Sippengemeinschaft«, Hamburg 1997. Zur Rolle der Ehefrauen von SA-Männern liegt mit einem Interviewausschnitt genau eine Quelle vor – wiederum aus der Sicht des interviewten Mannes: »H. K.: Was hat ihre Frau denn dazu gesagt? Sie sagen, das war so schwer? / W. E.: Meine Frau hat mitgehalten. Es war schwer für sie. War ihre schwerste Zeit, die sie in unserem Leben gehabt hat. Da hat sie es sehr schwer gehabt. Aber sie hat auch immer Hilfe gehabt« (Archiv AK DIZ Interviewbestände Interview mit Walter Erhard, Transkript, S. 6; im Folgenden zit. als Int WE). Vgl. Steven Brint: Gemeinschaft Revisited. A Critique and Reconstruction of the Community Concept, in: Sociological Theory 19 (2001), S. 1–23, hier: 10–13. Einleitung

31 nommene Komponente historischen Arbeitens. Räumlichkeit ist dabei immer gegeben. Neben zeitlichem Verlauf und menschlichem Handeln ist sie eine von drei universellen Größen der Geschichtswissenschaft, da sich jedes Ereignis zeitlich und räumlich verorten lässt. Gleichzeitig ist ›Raum‹ aber keine deterministische Größe, die Ereignisfolgen vorgibt: Der Raum an sich ist nie Akteur, er ist hingegen eine oftmals unterschätzte Bedingung kollektiver Handlungszusammenhänge und in Form von Raumbildern, Utopien und räumlichen Ordnungskonzepten häufig auch ihr sinnstiftender Horizont.57 Der Wachdienst der SA-Männer fand in einem spezifischen räumlichen Setting – den Lagern und den Arbeitsstellen im Moor – mit eigenen sozialen und räumlichen Regeln statt. Gleichzeitig bedeutete der zivile Sozialraum des katholisch geprägten Emslands für die meist von außerhalb kommenden Wachmänner eine neue Umgebung. Und schließlich waren Idee und Umsetzung einer großangelegten regionalen Erschließung in zeitgenössische, räumlich-soziale Ordnungsvorstellungen eingebettet und dienten auch dazu, diese weiter zu entwickeln. Zur Operationalisierung dieser verschiedenen theoretischen Zugänge soll Gemeinschaft auf drei Ebenen betrachtet werden, die in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen.58 Zunächst besteht eine sozial und räumlich strukturierende Ebene. Gemeinschaften kommt immer eine inkludierende und exkludierende Funktion zu, bei der dem Kollektiv ein nicht-gemeinschaftliches ›Anderes‹ als negative Projektionsfläche gegenübergestellt wird. Die Zugehörigkeit verliert bei größeren Gemeinschaften häufig an Trennschärfe; im Fall der ›Moor-SA‹ gibt es jedoch über die Justizanstellung und SA-Zugehörigkeit klare Voraussetzungen dafür. Eine äußere Abgrenzung von Gemeinschaft ist aber dennoch schwierig, da sie letztlich auf dem Fühlen von Zugehörigkeit basiert. Wichtig ist jedoch, dass dieses Zusammengehörigkeitsgefühl eine wechselseitige Komponente ist: die individuelle Einschreibung in die Gemeinschaft und umgekehrt die – oftmals stillschweigende – Anerkennung durch die anderen Mitglieder. Gleichzeitig wirken Gemeinschaften auch nach innen hin strukturierend, indem sie Hierarchien, Rollen- und Statuszuschreibungen ausbilden. Die Kategorie Raum bildet besonders für traditionale Gemeinschaftsformen oftmals einen zentralen Bezugspunkt. Sie bestimmt den gemeinschaftlichen Hand-

Jureit: Rezension zu: Baberowski: Räume. Vgl. auch dies.: Territorialität als Ordnungsform. Überlegungen zu einer theoriegeleiteten Raumgeschichte, in: Geographische Revue 15 (2013), S. 5–17; zu Zugängen aus verschiedenen Disziplinen auch Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt a. M. 2008. 58 Vgl. hierzu und im Folgenden ausführlich Reinicke / Stern / Zamzow: Suche, S. 214–219. 57

Ansatz und Methode

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32 lungsraum und begründet durch die Überhöhung des ›eigenen‹ Raumes – etwa des Dorfes oder der Region – gleichzeitig die Anschlussfähigkeit der Gemeinschaft. Darauf Bezug nehmenden Gemeinschaftsdiskursen und -praktiken kommt dadurch eine scheinbare Unmittelbarkeit zu, wodurch die Gemeinschaft ›verständlich‹ wird. Als zweites haben Gemeinschaften eine Erfahrungsebene, auf der das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, zwischen Gemeinschaftsrede und Gemeinschaftserwartung verhandelt wird. Im Gegensatz zu bloßen Personenansammlungen »sind Gemeinschaften durch ein besonderes Band gekennzeichnet, das sich in vielen Fällen auf ein gemeinsames Erleben oder auch eine gemeinsame Vergangenheit bezieht«.59 Innerhalb von Gemeinschaft bestehen spezifische kollektive Rituale und Praktiken; ›kultischen‹ Gegenständen wie Fahnen oder Kleidung kann darin eine überhöhte Bedeutung beigemessen werden. Solche Gemeinschaftserlebnisse sind jedoch keine selbstevidente Bestätigung des Kollektivs, sondern müssen letztlich als Erfahrung ›einverleibt‹ werden, woraus sowohl Annahme als auch Ablehnung des Gemeinschaftsangebots resultieren können. Erst durch eine Gemeinschaftserfahrung kann also ein Verbundenheitsgefühl entstehen, was als »wechselseitiger Einschreibungsprozess von Individuum in Gemeinschaft und umgekehrt« zu verstehen ist.60 Dadurch ergibt sich, dass Gemeinschaften keine historischen Konstanten sind, sondern fragile Sozialgebilde, die »beständig gepflegt und aktualisiert werden [müssen], um auf Dauer gestellt zu bleiben«.61 Gemeinschaften sind in ihrem Bestehen somit selbst einem Wandel ausgesetzt. Schließlich weisen Gemeinschaften eine utopische Ebene auf, die Aspekte umfasst, die über den gegenwärtigen Zustand hinausweisen. Gemeinschaften rekurrieren auf ein idealisiertes Vergangenheitsbild oder versprechen eine idealisierte Zukunft. Dabei sind sie »gleichzeitig Ausdruck dieser Sehnsucht nach besseren Zeiten als auch das Mittel, durch das diese (wieder-)erlangt werden sollen.«62 Gleichzeitig beinhaltet auch die gegenseitig gefühlte Zusammengehörigkeit ein imaginatives Moment, da sie im Alltag schwerlich überprüft werden kann.63 Die utopische Ebene von Gemeinschaft bezieht sich außerdem darauf, dass die eigene Vergemeinschaftungsform als anderen überlegen wahrgenommen wird.64 Innerhalb von Gemeinschaften ent- und bestehen verschiedene Zuschreibungen 59 60 61 62 63

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Gertenbach u. a.: Theorien, S. 84. Reinicke / Stern / Zamzow: Suche, S. 218. Gertenbach u. a.: Theorien, S. 72. Reinicke / Stern / Zamzow: Suche, S. 218. Derartige ›gefühlte Kollektive‹ werden daher oftmals als weitaus größer empfunden, als sie in Wirklichkeit sind. Für die ›Moor-SA‹ liegt allerdings durch die Gesamtzahl der Wachmänner eine Obergrenze vor. Vgl. zu diesem Zusammenhang Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. Dies ist etwa bei Fangemeinschaften im Fußball unschwer nachvollziehbar. Einleitung

33 an das Kollektiv – Vorstellungen von Gleichheit, geteilten Idealen oder gemeinsamen Zielen –, die zu ihrer Attraktivität beitragen, letztlich aber unerfüllt bleiben. Auf der utopischen Ebene zeigt sich daher auch »die vielfältige Hybris der Gemeinschaft, da die Gemeinschaftsversprechen letztlich uneinlösbar bleiben.«65

Forschungsstand und Quellenlage Die Geschichte der Emslandlager war lange Zeit auch in der NS-Forschung ein eher randständiges Thema. Schon aus dem Exil erschienen einzelne Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge der frühen Konzentrationslager, aber es war vor allem das »Lied der Moorsoldaten«, das sich im öffentlichen Bewusstsein verankern konnte.66 Einen ersten Überblick über die Geschichte des Lagerkomplexes lieferte Willy Perk, bei dem – durch die eigene Hafterfahrung bedingt – der Schwerpunkt stark auf der Frühphase der Lager und den politischen Gefangenen lag.67 Aus der Ende der 1970er Jahre einsetzenden Geschichtswerkstättenbewegung resultierten zwei frühe Standardwerke der Geschichtsschreibung zu den Emslandlagern.68 Durch den Streit um eine Benennung der Oldenburger Universität nach Carl von Ossietzky begannen dortige Studenten, sich mit seiner KZ-Haft in Esterwegen auseinanderzusetzen.69 In diesem Kontext entstand die Dissertation von Elke Suhr, die intensiv Zeugnisse von Häftlingen heranzieht. Gewissermaßen als Reaktion auf das Interesse ›von außen‹ gab der Landkreis Emsland eine eigene Studie in Auftrag, die in der mehr als 3.600 Seiten umfassenden kommentierten Quellenedition von Erich Kosthorst und Bernd Walter resultierte. Diese bietet bis heute einen unschätzbaren Fundus an Dokumenten vor allem zur Verwaltungsgeschichte der Lager, der jedoch stellenweise unübersichtlich und nur schwer zu handhaben ist. Durch die Quellenauswahl geraten zudem die Haftbedingungen Reinicke / Stern / Zamzow: Suche, S. 219. Vgl. Wolfgang Langhoff: Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager, München 1946 [Zürich 1935]; Karl August Wittfogel: Staatliches Konzentrationslager VII. Eine »Erziehungsanstalt« im Dritten Reich, Bremen 1991 [London 1936] und DIZ Emslandlager (Hg.): Das Lied der Moorsoldaten 1933 bis 2000, Papenburg 2002. 67 Vgl. Willy Perk: Die Hölle im Moor. Zur Geschichte der Emslandlager 1933–1945, Frankfurt a. M. 21979. 68 Vgl. Etta Grotrian: Geschichtswerkstätten und alternative Geschichtspraxis in den achtziger Jahren, in: Wolfgang Hardtwig / Alexander Schug (Hg.): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009, S. 243–253. 69 Vgl. etwa Aktionskomitee Emslandlager e. V. (Hg.): Auf der Suche nach den Moorsoldaten. Emslandlager 1933–1945, Papenburg 21986; Werner Boldt / Elke Suhr: Lager im Emsland 1933–1945. Geschichte und Gedenken, Oldenburg 1985 und DIZ Emslandlager (Hg.): Die Emslandlager in Vergangenheit und Gegenwart. Ergebnisse und Materialien des internationalen Symposiums, Papenburg 1985. 65 66

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34 sowie der Einfluss lokaler und regionaler Instanzen aus dem Blick, während Suhr umgekehrt nicht ausreichend nach Lagertypen, Zuständigkeiten und zeitlicher Entwicklung unterscheidet.70 Aus der regionalen Geschichtsinitiative entstand das Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager (DIZ), das ab 1989 die »DIZ-Schriftenreihe« herausgab, in der Häftlingsberichte veröffentlicht und Teilaspekte der Lagergeschichte beleuchtet wurden. Seit der Jahrtausendwende entstanden zudem mehrere Forschungsarbeiten, die sich mit bestimmten Ausschnitten der Lagergeschichte befassen;71 eine dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Monographie zur Gesamtgeschichte der Emslandlager fehlt jedoch weiterhin. Diesem Anspruch wird am ehesten ein Überblicksaufsatz in der Reihe »Der Ort des Terrors« gerecht.72 Im Rahmen der Einrichtung der Gedenkstätte Esterwegen und der Arbeit an der dortigen Dauerausstellung sind zudem weitere Bereiche der Lagergeschichte ausgeleuchtet worden.73 Die Emslandlager sind wiederum in die Geschichte der Justizverwaltung und des Gefängniswesens im Nationalsozialismus eingebettet, zu welcher vor allem die Dissertation von Nikolaus Wachsmann wichtige Impulse gegeben hat.74 Die Geschichte der Täter nimmt in der Historiographie der Emslandlager einen vergleichsweise großen Raum ein. So liegen eine detailreiche Arbeit über 70

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Vgl. Erich Kosthorst / Bernd Walter (Hg.): Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. Beispiel Emsland. Dokumentation und Analyse zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz, 3 Bde., Düsseldorf 1983 (im Folgenden zit. als KW I–III) und Elke Suhr: Die Emslandlager. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentrations- und Strafgefangenenlager 1933–1945, Bremen 1985. Vgl. neuerdings Bianca Roitsch: Mehr als nur Zaungäste. Akteure im Umfeld der Lager Bergen-Belsen, Esterwegen und Moringen 1933–1960, Paderborn 2018 sowie Frank Bührmann-Peters: Ziviler Strafvollzug für die Wehrmacht. Militärgerichtlich Verurteilte in den Emslandlagern 1939–1945, Osnabrück 2002, Online-Ressource unter ‹http://repositorium.uni-osnabrueck.de/handle/urn:nbn:de:gbv:700–2003030518›, letzter Abruf: 15. 8. 2017 und Dirk Lüerßen: »Wir sind die Moorsoldaten«. Die Insassen der frühen Konzentrationslager im Emsland 1933 bis 1936. Biographische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen kategorialer Zuordnung der Verhafteten, deren jeweiligen Verhaltensformen im Lager und den Auswirkungen der Haft auf die weitere Lebensgeschichte, Osnabrück 2001, Online-Ressource unter ‹https://repositorium.ub.uni-osnabrueck.de/ handle/urn:nbn:de:gbv:700–2006033114›, letzter Abruf: 15. 8. 2017. Vgl. Knoch: Emslandlager. Vgl. hierzu den Begleitband zur Dauerausstellung: Bernd Faulenbach / Andrea Kaltofen (Hg.): Hölle im Moor. Die Emslandlager 1933–1945, Göttingen 2017. Vgl. Nikolaus Wachsmann: Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NSStaat, München 2006. Darüber hinaus ist noch auf die grundlegende und umfassende Studie von Lothar Gruchmann zur Geschichte des RJM in den 1930er Jahren zu verweisen: vgl. Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 21990. Einleitung

35 die SS-Kommandanten der frühen Konzentrationslager sowie eine biographische Studie zu Hans Loritz vor, der 1934–1936 das KZ Esterwegen leitete.75 Von Habbo Knoch stammen mehrere Aufsätze zur ›Moor-SA‹ selbst beziehungsweise zur Gewaltdynamik in den Lagern. Diese bieten reichhaltige Impulse zur Thesenbildung, jedoch liegen ihnen keine eigenen Archivrecherchen zugrunde.76 Sebastian Weitkamp hat sich wiederum mit den Gerichtsverfahren gegen den SA-Kommandeur Werner Schäfer befasst; zudem sind auch im Vorfeld dieses Buchs mehrere Aufsätze zur ›Moor-SA‹ entstanden.77 Arbeiten zur Gesamtgeschichte der SA konnten für diese Arbeit nur bedingt nutzbar gemacht werden. Peter Longerich geht in seinem Standardwerk über die »braunen Bataillone« nur am Rande auf die SA nach dem ›Röhm-Putsch‹ im Juni 1934 ein.78 Daniel Siemens betrachtet in seiner neueren Monographie zwar Breitenphänomene wie Sportabzeichen und ›Wehrkraftübungen‹ der SA in den 1930er Jahren und stellt zu Recht heraus, dass der SA noch bei Kriegsbeginn über eine Million Männer angehörten und die Mitgliederzahl 1938 dreimal so hoch war wie 1932. Die ›Moor-SA‹, die als einzige SA-Gruppierung noch staatliche Aufgaben in größerem Umfang wahrnahm, wird bei ihm jedoch an keiner Stelle erwähnt.79 Als weitaus gewinnbringender für diese Arbeit hat sich Sven Reichardts Studie über Gewaltpraktiken und Gemeinschaftsrituale in der SA der ›Kampf-

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Vgl. Hans-Peter Klausch: Tätergeschichten. Die SS-Kommandanten der frühen Konzentrationslager im Emsland, Bremen 2005 und Dirk Riedel: Ordnungshüter und Massenmörder im Dienst der »Volksgemeinschaft«. Der KZ-Kommandant Hans Loritz, Berlin 2010. Die Aufsätze basieren überwiegend auf den umfangreichen, aber trotzdem lückenhaften Materialien aus der Quellensammlung von Kosthorst / Walter und der Sammlung des AK DIZ. Vgl. Habbo Knoch: »Stupider Willkür ausgeliefert.« Organisationsformen und Gewaltpraktiken in den emsländischen Konzentrations- und Strafgefangenenlagern 1933–1940, in: Hermann Kaienburg (Hg.): Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933–1945. Die Veränderung der Existenzbedingungen, Berlin 2010, S. 25–50 und ders.: Kampf. Vgl. Sebastian Weitkamp: Zwischen SA und Justiz. Die Verfahren gegen SA-Oberführer und Regierungsdirektor Werner Schäfer 1938 und 1950, in: Albrecht Pohle / Martin Stupperich / Wilfried Wiedemann (Hg.): Was nicht in Vergessenheit geraten darf. Zur Geschichte der NS-Justiz und der Nachkriegsjustiz, Schwalbach 2014, S. 149–171; David Reinicke: Die ›Moor-SA‹. Selbstverständnis und Gewalt, in: Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 143–155; David Reinicke: Aufstieg durch Gemeinschaft. Sozialutopie und Gemeinschaftspraxis der SA-Wachmannschaften emsländischer Strafgefangenenlager 1934– 1942, in: Ders. u. a. (Hg.): Gemeinschaft, S. 129–155 und ders.: Erziehung. Vgl. Peter Longerich: Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989. Der Zeitraum von Juli 1934 bis zum Kriegsende wird darin auf insgesamt 19 Seiten behandelt. Vgl. Daniel Siemens: Stormtroopers. A New History of Hitler’s Brownshirts, New Haven / London 2017, hier besonders S. 183–216.

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36 zeit‹ erwiesen, die trotz des unterschiedlichen Beobachtungszeitraums vielfache Anknüpfungspunkte geboten hat.80 Nicht nur einen wichtigen Vergleichsmaßstab, sondern auch wertvolle methodische Bereicherungen und grundlegende Erkenntnisse zum Funktionieren von Bewachungseinheiten bieten Arbeiten zu anderen nationalsozialistischen Zwangslagern, vor allem der SS-geführten Konzentrationslager. Dies betrifft unterschiedlichste Aspekte wie Altersstruktur und Zusammensetzung,81 kollektive Gewaltpraxis,82 Selbstlegitimation und Dienstalltag83 sowie Freizeitkultur und Repräsentationen.84 Vor allem in methodischer Hinsicht sind auch verschiedene Arbeiten im Kontext der ›Volksgemeinschaft‹ gewinnbringend.85 Die Quellenlage zur Geschichte der ›Moor-SA‹ ist höchst disparat. Dies wird bereits anhand der verfügbaren Verwaltungsakten ersichtlich, die einen wichtigen Grundstock für dieses Buch bilden. Im Bundesarchiv Berlin und dem Niedersäch-

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Vgl. Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln / Weimar / Wien 2002. Ähnliches gilt für einen neueren Sammelband zur SA; vgl. Yves Müller / Rainer Zilkenat (Hg.): Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), Frankfurt a. M. u. a. 2013. Vgl. Jens-Christian Wagner: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 32015, S. 306–330; Angelika Benz / Marija Vulesica (Hg.): Bewachung und Ausführung. Alltag der Täter in nationalsozialistischen Lagern, Berlin 2011 und Orth: Konzentrationslager-SS. Vgl. Veronika Springmann: Gunst und Gewalt. Sport in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Berlin 2020; Nicola Wenge: »Das System des Quälens, der Einschüchterung, der Demütigung …«. Die frühen württembergischen Konzentrationslager Heuberg und Oberer Kuhberg, in: Osterloh / Wünschmann (Hg.): Willkür, S 123–150 und Nicolas Bertrand: Die Ordnung der Gewalt in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 131 (2014), S. 363–399. Vgl. Schwartz: Angelegenheiten; Dillon: Dachau; Mailänder Koslov: Gewalt. Vgl. Christophe Busch / Stefan Hördler / Robert Jan van Pelt (Hg.): Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS, Darmstadt 2016; Günter Morsch (Hg.): Von der Sachsenburg nach Sachsenhausen. Bilder aus dem Fotoalbum eines KZ-Kommandanten, Berlin 2007 und Leonie Güldenpfennig: Gewöhnliche Bewacher. Sozialstruktur und Alltag der Konzentrationslager-SS Neuengamme, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt, S. 66–79. Vgl. beispielhaft Kathrin Stern: Erziehung zur »Volksgemeinschaft«. Volksschullehrkräfte im Dritten Reich, Paderborn 2021; Gunnar Zamzow: Wilhelmshaven als »werdende Großstadt«. Die Inszenierung einer Kommune während des Nationalsozialismus, in: Reinicke u. a. (Hg.): Gemeinschaft, S. 89–112; Petra Spona: Städtische Ehrungen zwischen Repräsentation und Partizipation. NS-Volksgemeinschaftspolitik in Hannover, Stuttgart 2010 und Rudolf Oswald: ›Fußball-Volksgemeinschaft‹. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919–1964, Frankfurt a. M./New York 2008. Einleitung

37 sischen Landesarchiv (NLA) Osnabrück sind jeweils mehrere relevante Bestände vorhanden, die ebenso umfangreich wie lückenhaft sind. Im Bundesarchiv sind in den Beständen des Reichsjustizministeriums (RJM), aber auch anderer beteiligter Reichsbehörden zentrale Akten zur Entwicklung der Lager und der Wachmannschaften aufgefunden worden.86 In Osnabrück sind Bestände der Lagerverwaltung, der Kreisbehörden wie dem Wasserwirtschaftsamt Meppen und lokaler Instanzen wie etwa der Ortspolizei in Papenburg vorhanden, die zusammen eine dreistellige Zahl an Aktenmetern umfassen.87 Zudem ist eine Vielzahl an Quellen zur Organisationsgeschichte der Lagergeschichte in der bereits angeführten Quellenedition von Kosthorst / Walter abgedruckt.88 Bereits die Quellen zur Verwaltung der Lager sind oft nur fragmentarisch überliefert, sodass sich erst durch Querverbindungen aus verschiedenen Akten ein Gesamtbild der organisatorischen Entwicklung der Lager und der Interaktion der ›Moor-SA‹ mit anderen Instanzen ergibt. Die dabei vorhandenen Unklarheiten bezüglich der Aktenzuordnung reichen bis in den Beobachtungszeitraum zurück; auch in den nachfolgenden Jahrzehnten scheint die Überlieferungsgeschichte zum Teil abenteuerlich gewesen zu sein.89 Zudem ist die zentrale Kartei der SA-Wachmannschaften nicht überliefert. Eine wichtige Unterkategorie der Verwaltungsakten bilden daher rund 300 Personalakten aus dem NLA Osnabrück. Weitere Personalakten von verbeamteten Angehörigen der ›Moor-SA‹ – insbesondere des Führungspersonals – befinden sich im Landesarchiv Oldenburg und im Bundesarchiv Berlin, das mit den Beständen des Berlin Document Center (BDC) auch darüber hinaus Angaben zu einzelnen AnAkten zur Justizverwaltung befinden sich hauptsächlich im Bestand R 3001 zum RJM, aber auch als Splitterbestände in sogenannten ›Z-Akten‹, die aus DDR-Archiven übernommen wurden. Darüber hinaus sind weitere Akten in den Beständen R 2 zum Reichsfinanzministerium und NS 23 zur SA gefunden worden. 87 Im Niedersächsischen Landesarchiv Osnabrück wurden die zentralen Bestände Rep 947 Lin I zur Verwaltung der Strafgefangenenlager, Rep 675 Mep zum Wasserwirtschaftsamt Meppen und Dep 76 b zur Ortspolizeibehörde Papenburg vollständig ausgewertet. Weitere Verwaltungsakten befinden sich in den Beständen Rep 430 Dez 101 zu Organisation und Personal der Bezirksregierung und Rep 430 Dez 108 zur Bezirksplanungsstelle. 88 Vgl. hierfür vor allem KW I. Auch zu Justizverfahren gegen SA-Wachmänner und den Kommandeur der Emslandlager sind in den Bänden 2 und 3 dieser Sammlung viele Quellen vorhanden. 89 Als Beispiel seien hier drei Aktenbände über »Allgemeine Angelegenheiten der Wachtruppe der Strafgefangenenlager im Emsland« genannt, die für den Zeitraum von 1934 bis 1938 den Schriftverkehr zwischen Lagerkommandantur und Justizverwaltung umfassen. Einer davon befindet sich im NLA Osnabrück (NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 709), zwei davon inzwischen im Bundesarchiv Berlin, von denen jedoch einer über DDR-Archive (BA Berlin ZR 934 A 9), der andere über bundesdeutsche Archive (BA Berlin R 3001 Nr. 10073) überliefert ist. Diese werden im Folgenden als »Angelegenheiten I–III« zitiert. 86

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38 gehörigen der Wachmannschaften liefert. Zusammen mit weiteren, erneut oft nur fragmentarischen Angaben zu SA-Wachmännern sind letztere in eine eigene Datenbank mit über 600 Datensätzen eingeflossen. Diese Datenbank eignet sich aufgrund der spezifischen Eigenschaften der Quellen nur bedingt zu einer prozessualen Darstellung der Wachmannschaften, da die Kommandantur der Lager offenbar erst dann derartige Personalakten anlegte, wenn sie für den Schriftverkehr mit dem RJM relevant wurden – sei es aufgrund von Beförderungen, die einer ministeriellen Zustimmung bedurften, Beantragungen von Beihilfen oder größeren Disziplinarvergehen. Dennoch lassen sich darüber in Verbindung mit anderen Quellen Angaben über die zahlenmäßige Entwicklung und Sozialstruktur der ›Moor-SA‹ treffen. Das Verhalten der Wachmänner gegenüber den Häftlingen und die Gewaltverhältnisse in den Lagern werden wiederum in einer Vielzahl an Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge thematisiert.90 Darüber hinaus geben auch die Prozessakten gegen ehemalige Wachmänner Aufschluss über die Gewaltpraxis der SA.91 Polizeiund Gerichtsakten haben eine spezifische Eigenlogik, die dabei berücksichtigt werden muss. Bereits im Vorfeld von Verhandlungen besteht für Zeugen in aller Regel keine offene Erzählsituation: Die protokollierenden Beamten kondensieren Aussagen oft auf das aus ihrer Sicht Wesentliche – also vor allem Hinweise auf Straftatbestände. Die Beschuldigten versuchen wiederum, sich selbst belastende Aussagen zu vermeiden. Auch in der eigentlichen Gerichtsverhandlung herrscht eine stark reglementierte und mit spezifischen Sagbarkeitsgrenzen versehene Situation vor. Die Gerichtsurteile sagen daher häufig mehr über die zeitgenössische Sichtweise auf die Geschehnisse als über die Taten selbst aus.92 Dennoch lässt sich aufgrund der schieren Zahl der Aussagen ehemaliger Häftlinge, die die fortgesetzten und wiederkehrenden Gewaltrituale der SA bekunden, eine ›dichte Beschreibung‹ der Gewaltverhältnisse in den Lagern vornehmen. Dies bedeutet keineswegs, auf eine intensive Quellenkritik zu verzichten. Der spezifische Entstehungskontext der Aussagen ist dabei genauso zu berücksichtigen wie

Vgl. als publizierte Erinnerungsschriften Ernst Walsken: Warten auf die Freiheit. Zeichnungen und Aquarelle eines Moorsoldaten 1935–1939, Wuppertal 1984 und Karl August Wittfogel: Staatliches Konzentrationslager VII. Eine »Erziehungsanstalt« im Dritten Reich, Bremen 1991 [1936]. Das DIZ-Emslandlager unterstützte ehemalige Häftlinge nicht nur bei der Veröffentlichung ihrer Schriften, sondern sammelte auch darüber hinaus weitere Erinnerungsberichte. 91 Für Gerichtsverfahren gegen SA-Wachmänner in der Nachkriegszeit befinden sich die zentralen Bestände in den Landesarchiven Oldenburg und Osnabrück und sind für diese Arbeit ebenfalls vollständig ausgewertet. Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 und NLA Osnabrück Rep 945. 92 Vgl. zum Umgang mit dieser Quellengattung aus verschiedenen Perspektiven die Beiträge in Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching (Hg.): Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009. 90

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39 die jeweilige Motivation des Zeugen. So sind in den Gerichtsakten auch bewusste Falschaussagen enthalten, beispielsweise wenn sich ehemalige Häftlinge als Augenzeugen von Taten ausgaben, die sie aufgrund der räumlichen Verhältnisse nicht gesehen haben konnten. Dies verweist darauf, dass den Belastungszeugen die juristischen Voraussetzungen für Verurteilungen zum Teil genau bekannt waren, führt aber dazu, dass zumindest Teile ihrer Aussagen nicht verwertbar sind. Umgekehrt sind auch die Aussagen ehemaliger Wachleute nicht ausschließlich als Entlastungsnarrative zu verstehen. Aufgrund der Einlassungen ehemaliger SA-Wachmänner während ihrer Vernehmung oder der Verhandlung lassen sich stellenweise Aussagen zu ihrem Dienstverständnis ableiten. Gleiches gilt für Entnazifizierungsakten, die in dieser Arbeit – allerdings in beschränktem Ausmaß – ebenfalls herangezogen wurden.93 Auch diese Quellen sind bei aller berechtigter Kritik für die Beantwortung spezifischer Fragen aussagekräftig.94 Auf ihrer Grundlage lassen sich an manchen Stellen Aussagen zur Motivation, der ›Moor-SA‹ beizutreten oder zur Selbstwahrnehmung ehemaliger Wachmänner treffen. Selbstauskünfte und Beurteilungen in den Entnazifizierungsverfahren sind natürlich keine genaue Wiedergabe realer Verhältnisse; ähnlich wie bei den Prozessaussagen geht es darum, was trotz aller Versuche zur Entlastung dennoch gesagt wird. Eine für diese Arbeit immens wichtige Quellengattung sind durch die Wachmänner angefertigte Selbstzeugnisse und Egodokumente. In Arbeiten zur Täterforschung wird regelmäßig auf die geringe Zahl oder gar das vollständige Fehlen subjektiver Quellen verwiesen.95 Karin Orth erklärt die oftmalige Knappheit der Selbstzeugnisse damit, »daß die Mitglieder der Lager-SS nicht darin geübt waren, sich schriftlich zu äußern und über ihren Lebensweg zu reflektieren.«96 Gleichzeitig verweisen Aussparungen hinsichtlich des eigenen Gewalthandelns auf einen Residualbestand moralischer Werte, gemäß derer solche Taten auch gegenüber einem privaten Publikum – beispielsweise der eigenen Familie – nicht sagbar wa-

Entnazifizierungsakten sind aus folgenden Beständen genutzt worden: NLA Aurich Rep 250; NLA Hannover Nds 171 und NLA Osnabrück Rep 980. 94 Vgl. hierzu erhellend Hanne Leßau: Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit, Göttingen 2020. 95 Vgl. Ulrich Fritz: Wachmannschaften im KZ-Komplex Flossenbürg, in: Benz / Vulesica (Hg.): Bewachung, S. 23–39, hier: 33 f. und Riedel: Ordnungshüter, S. 22–26. 96 Orth: Konzentrationslager-SS, S. 13. Vgl. auch Hans Mommsen: Probleme der Täterforschung, in: Helgard Kramer (Hg.): NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 425–433. Kritisch zu derartigen Einschätzungen äußert sich Veronika Springmann: Rezension zu Riedel, Dirk: Ordnungshüter und Massenmörder im Dienst der Volksgemeinschaft. Der KZ-Kommandant Hans Loritz, Berlin 2010, in: H-Soz-Kult, 26. 4. 2012, Online-Ressource unter ‹http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/ rezbuecher-15745›, letzter Abruf: 18. 2. 2018. 93

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40 ren.97 Die geringe Dichte subjektiver Quellen erklärt sich aber vor allem durch die Schwierigkeiten einer Überlieferung. Auch NS-Täter haben Briefe geschrieben oder Fotos gemacht. Diese aber Forschern, Archiven oder Gedenkstätten zur Verfügung zu stellen würde damit einhergehen, sich selbst, einen Angehörigen oder einen Bekannten als Täter kenntlich zu machen. Auch für die Angehörigen der ›Moor-SA‹ liegen subjektive Quellen nicht en masse vor. Gleichzeitig muss aber konstatiert werden: Es gibt diese Quellen, und zwar in verschiedenen Formen. Dies fängt bei Selbstzeugnissen an, die im dienstlichen Kontext entstanden und oftmals in anderen Quellen enthalten sind. Dazu gehören selbstverfasste Lebensläufe ebenso wie die persönliche Rechtfertigung eines Lagerleiters, der dem Kommandeur sein Versetzungsgesuch erklären möchte, oder der Aufsatz eines Wachmanns, in dem dieser den Dienst in der ›Moor-SA‹ schildert.98 Darüber hinaus liegen insgesamt fünf Fotoalben über die Strafgefangenenlager vor, von denen drei durch SA-Wachmänner – davon wiederum zwei im privaten Rahmen – angefertigt wurden. Hinzu kommen Einzelfotografien und Kleinbestände.99 Allein die Existenz privater Fotoalben verweist darauf, dass die Wachmänner sich Elemente der äußeren Repräsentation der ›Moor-SA‹ zuminAuf dieses Bewusstsein, jenseits gesellschaftlicher Wertmaßstäbe zu agieren, verweist der Ausspruch Himmlers in seiner Posener Rede vom 4. 10. 1943, die Durchführung der Judenvernichtung sei »ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.« (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hg.): Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg (14. November 1945–1. Oktober 1946), Bd. 29: Urkunden und anderes Beweismaterial, Nummer 1850-PS – Nummer 2233-PS, Nürnberg 1948, S. 145). Zum aus der Diskursanalyse stammenden Konzept der Sagbarkeit vgl. Achim Landwehr: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2001; Philipp Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, in: Andreas Hirseland u. a. (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 53–79. 98 Vgl. als Beispiel für selbstverfasste Lebensläufe SA-Korrespondenz Friedrich Zerbst, BA Berlin SA D 0297. Von Zerbst sind darin zwei Lebensläufe enthalten, bei denen sich die Angaben zum Teil unterscheiden – je nachdem, was für den entsprechenden Entstehungszusammenhang opportun erscheint. Zu den anderen Beispielen vgl. Personalakte Wilhelm Schenk, NLA Wolfenbüttel 68 Nds Zg 16 /1989 Nr. 494 und Entnazifizierungsakte Anton G., NLA Hannover Nds 171 Hannover Nr. 27968. 99 Ein weiteres Album geht auf einen ins Emsland abgeordneten Justizvollzugsbeamten zurück; das fünfte wurde von Angestellten des Wasserwirtschaftsamts Meppen angefertigt. Diese Fotobestände sind zum Teil als Original, zum Teil als Kopie im Archiv des AK DIZ Emslandlager vorhanden. Nach Fertigstellung dieser Arbeit ist dort ein weiteres Album hinzugekommen; auch die Sammlung der Gedenkstätte Esterwegen enthält inzwischen zwei Fotoalben von SA-Männern. Einige dieser Fotos werden in dieser Publikation zur besseren Veranschaulichung abgebildet. Sie zeigen deutlich einen Täterblick und ihre propagandistischen Inszenierung, können aber über den Fließtext hinaus nicht einzeln kontextualisiert werden. 97

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41 dest in Teilen im privaten Rahmen zu eigen machten.100 Als weiteres Egodokument sind zudem die Briefe eines SA-Wachmanns an seine Eltern überliefert.101 Eine spezifische Unterform der subjektiven Quellen sind Interviews mit ehemaligen Wachmännern, von denen mehrere als Audiodateien oder Transkripte vorliegen.102 Erste Interviews sind bereits in den 1960er Jahren entstanden, als die Journalisten Gerhard Kromschröder und Hermann Vincke begannen, über die Emslandlager zu berichten, und bei ihren Recherchen auch mehrere ehemalige Wachmänner befragten. Ein weiteres Interview wurde in den 1980er Jahren für eine Radioreportage geführt. Dass sich hier gleich mehrere ehemalige Wachmänner zu Interviews bereit zeigten, deutet darauf hin, dass sie ihre eigene Rolle aufgrund der Justizanstellung als weniger verfänglich wahrnahmen. Wurden aber Fragen nach der Gewalt in den Lagern gestellt, reagierten die Interviewpartner abweisend und brachen das Gespräch in manchen Fällen auch ab. Dennoch liefern diese Quellen Details über das Alltagsleben der SA-Männer und die retrospektive Bewertung ihrer Tätigkeit. Zudem liegen den Interviewabschriften zum Teil selbstverfasste Texte der Befragten über ihre Tätigkeit und ihren Werdegang bei.103 Ein weiteres Interview wurde Anfang der 1990er Jahre von einem Göttinger Geschichtsstudenten geführt und entspricht als einziges weitgehend den methodischen Ansprüchen heutiger narrativer Interviews. Anhand dieser Quelle lassen sich auch Aussagen zu »Verarbeitung, Vergangenheitskonstruktion und Sinnbildung oder auch: Subjektivität« treffen, selbst wenn es sich um einen Einzelfall handelt.104 Ein vierter und letzter größerer Quellenbestand ist durch eine Analyse der 100 101 102

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Vgl. zu Fotografien als historischer Quelle Jens Jäger: Fotografie und Geschichte, Frankfurt a. M. 2009 und Susan Sontag: Über Fotografie, München 1978. Vgl. Archiv AK DIZ Fotoarchiv, Foto Diverse / Wachleute / Bestand Martin Clauß. Zur Methode der Oral History vgl. Dorothee Wierling: Oral History, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 81–151; und Lutz Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History, in: Ders. (Hg.): »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 3, Berlin (West) 1985, S. 392–445. Zur Anwendung für NS-Thematiken vgl. Malte Thießen: Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005, München 2007. Auch diese Quellen sind durch das DIZ-Emslandlager gesammelt worden. Vgl. Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I und Archiv AK DIZ Interviewbestände AV.EL_Int. GR.06. Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2001, S. 20. Die für das besagte Interview (Int WE) verwendeten Transkriptionszeichen sind … = Auslassung von Wörtern, – = Wort- oder Satzabbruch, […] = außersprachliche Handlungen, […] = kurzer Einwurf des anderen Gesprächspartners. Werden beide Gesprächspartner zitiert, so sind ihren Redebeiträgen die jeweiligen

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42 »Ems-Zeitung« (EZ) aus Papenburg – der damals größten regionalen Tageszeitung – hinzugekommen.105 Dadurch wurden Artikel über die Außendarstellung der Lager und vor allem des Siedlungsprojekts im regionalen Rahmen erfasst. Weil jedoch auch die vermeintlich weniger spektakulären hinteren Seiten mit dem Lokal- und dem Anzeigenteil einbezogen werden, ist eine Vielzahl weiterer Quellen ins Blickfeld geraten, die Hinweise auf die Beziehungen zwischen Wachmannschaften und der lokalen Bevölkerung geben: Von Einladungen zu Kameradschaftsabenden und Sportveranstaltungen über Besuchsfahrten und Musikkonzerte bis hin zu Wohnungsgesuchen und Spendenaufrufen bieten diese Quellen ein ausdifferenziertes Bild des öffentlichen Beziehungsnetzwerks der ›Moor-SA‹. Dafür wurden die Jahrgänge 1933–1936 in Gänze und spätere Jahrgänge punktuell gesichtet. Ergänzend sind über Bestände der Gedenkstätte Esterwegen und die Dokumentation von Kosthorst / Walter Artikel aus weiteren Zeitungen der Region aufgenommen worden.106

Aufbau der Arbeit Die Arbeit stellt in ihrem Ansatz die Wachmannschaften der emsländischen Strafgefangenenlager als SA-Gemeinschaft in den Mittelpunkt und beleuchtet ihre Entwicklung aus verschiedenen Perspektiven. Ihre Sozialstruktur und innere Hierarchie, der kollektivbiographische Hintergrund von Wachmännern und Lagerleitern, Gemeinschaftsrituale und -praktiken, die Gewalt gegen Häftlinge und die Rolle, die spezifische Personenkonstellationen und ein kollektives Selbstbild für ihre Ausprägung spielten, werden ebenso betrachtet wie die Außenbeziehungen der ›Moor-SA‹ zu anderen beteiligten Institutionen und zur lokalen Bevölkerung. Weitere Aspekte sind die ideologische Einbeziehung der Wachmannschaften in das Straf- und Siedlungsprojekt als auch die im Gemeinschaftsentwurf enthaltenen Zukunftsutopien und deren Anschlussfähigkeit für die einzelnen Wachmänner. Zugrunde liegt dabei ein analytischer Blick auf Gemeinschaft, bei dem die drei benannten Ebenen – eine sozial und räumlich strukturierende, eine Erfahrungsebene und eine utopische Ebene – wechselseitig in Beziehung gesetzt werden sollen. Dafür wird die Studie in drei chronologisch aufeinander folgende Hauptkapitel aufgeteilt. Die Zeitabschnitte orientieren sich dabei an ersten Arbeitshypothesen über die Entwicklungsstadien der ›Moor-SA‹. In Kapitel II wird die Formie-

Initialen vorangestellt. Ebenso werden die Initialen angegeben, wenn zuvor im Text nicht auf den Sprecher hingewiesen wurde. 105 Zur Presselandschaft im Emsland vgl. Wilfried Hinrichs: Die emsländische Presse unter dem Hakenkreuz. Selbstanpassung und Resistenz im katholischen Milieu, Sögel 1990. 106 Vgl. KW I, S. 1030–1146.

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Einleitung

43 rungsphase der ›Moor-SA‹ betrachtet. Den Beginn bildet die Aufstellung von SA-Wachmannschaften im November 1933, das Ende die erste Erweiterung der Strafgefangenenlager mit dem Hinzukommen neuer Standorte in Aschendorfermoor und Walchum im April beziehungsweise Mai 1935. Zu diesem Zeitpunkt waren nicht nur die Transformierung der ursprünglichen Konzentrationslager in Strafgefangenenlager der Justiz und die Übernahme der Lagerzuständigkeit durch das Reichsjustizministerium im Rahmen der Gleichschaltung abgeschlossen, sondern auch – trotz des ›Röhm-Putschs‹ – die Bewachung durch SA-Wachmannschaften etabliert. Zudem waren SA-Wachmänner aus Esterwegen, das ab August 1934 wieder von SS-Einheiten bewacht wurde, durch die neuen Lager nun zum Teil in die Wachmannschaften der Strafgefangenenlager integriert worden. Somit hatte sich die ›Moor-SA‹ zu einer größeren, eigenständigen SA-Einheit mit einer spezifischen soziostrukturellen Zusammensetzung entwickelt. Parallel sind für diesen Zeitabschnitt weitere Entwicklungen zu beobachten: Das Siedlungsprojekt entwickelte sich zu einem integralen Bestandteil der Strafgefangenenlager, dessen Ziele sich auch die Justizverwaltung zu eigen machte – wenn auch aus eigenen Motivlagen, um so etwa die verbreitete Gefangenenarbeitslosigkeit bekämpfen zu können. Auch andere Institutionen waren in das völkische Modernisierungsprojekt eingebunden, das die Entwicklung der erschließungs- und verkehrstechnisch rückständigen Region in einer bis dato unbekannten Dimension angehen sollte. Zudem waren die Lager auch für die überwiegend katholisch geprägte Bevölkerung der Region als neue Größe hinzugekommen. Zwischen Wachmannschaften und katholischem Milieu entstanden vor allem in dieser Anfangsphase oftmals Reibungen; gleichzeitig stellten die Lager einen Wirtschaftsfaktor dar, der der lokalen Bevölkerung neue Möglichkeiten bot. Kapitel III befasst sich gewissermaßen mit der ›Hochphase‹ der ›Moor-SA‹, die von Mitte 1935 bis Anfang 1938 angesetzt wird. Dieser Abschnitt wird aus mehreren Gründen als Phase der Durchsetzung betitelt. Zunächst hatte Werner Schäfer als Kommandeur die Wachmannschaften aus anderen Unterstellungsverhältnissen herauslösen und sowohl im Justizdienst als auch in SA-Hinsicht seine Machtansprüche durchsetzen können. Damit einhergehend blieben auch die Versuche zur Einflussnahme durch die Justizverwaltung in diesem Zeitraum marginal, sodass sowohl die Gewaltpraxis der SA-Männer als auch Ansprüche auf materiellen Besitz durch die Wachmannschaften kaum Einschränkungen unterlagen. Auch ihren eigenen Gemeinschaftsentwurf konnten die Wachmannschaften vergleichsweise ungehindert durchsetzen, was sich an verschiedenen Aktionen zur inneren Vergemeinschaftung wie auch an Maßnahmen zur äußeren Repräsentation der ›Moor-SA‹ ablesen lässt. Diese Durchsetzung erstreckte sich auch auf andere Bereiche: Mehrfach konnten für das Lagerprojekt Ansprüche von außen – zum Beispiel auf Einsatzgebiete für die Kultivierungsarbeiten – abgewehrt werden. Gleichzeitig wurden die WachAufbau der Arbeit

https://doi.org/10.5771/9783835348035

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44 mannschaften in diesem Zeitraum nahezu verdoppelt und wuchsen von 850 auf 1.500 SA-Männer an. Ein weiterer Lagerausbau war ab Ende 1937 geplant, der eine Vergrößerung der ›Moor-SA‹ auf rund 3.000 SA-Männer bedeutet hätte. Dieser Abschnitt endete jedoch mit einem großangelegten Dienststrafverfahren gegen Werner Schäfer, der Ende Januar 1938 als Kommandeur der Strafgefangenenlager wie auch als Führer der SA-Einheiten abgesetzt wurde. Die Bedeutung und Motivation des Verfahrens sind unterschiedlich bewertet worden. In jedem Fall ergab sich dadurch aber ein zehnmonatiges Moratorium, in dem die Bewachungssituation der Emslandlager ungeklärt blieb und das erst durch Schäfers Wiedereinsetzung als Kommandeur Ende November 1938 beendet wurde. In Kapitel IV, das die Jahre 1939 bis 1942 umfasst, muss daher zunächst auf die Entwicklung der Wachmannschaften jenseits des Hauptverfahrens gegen Schäfer eingegangen werden. Anschließend wird der Frage nachgegangen, wann und wie der Abstieg der ›Moor-SA‹ einsetzte – ob dieser unmittelbar im Schäfer-Verfahren begründet lag oder mit dem Bedeutungsverlust der Lager nach Kriegsbeginn. Zudem geht es hierbei auch um die sich ändernde Zusammensetzung der Wachmannschaften, Dissonanzerfahrungen von SA-Männern und zunehmende Legitimationsschwierigkeiten im letztlich fragilen Gemeinschaftsentwurf der ›MoorSA‹, die Einstellung des Siedlungsprojekts 1941 /42 und das sich erneut wandelnde Verhältnis zur Zivilbevölkerung. Die ersten drei Hauptkapitel sind jeweils unterteilt in vier Unterkapitel, in denen die unterschiedlichen Perspektiven auf die ›Moor-SA‹ eingenommen werden: zunächst eine organisationsgeschichtliche, anschließend auf ihre innere Sozialstruktur und soziale Praktiken, als drittes auf die Einbindung der Wachmannschaften in das Siedlungsprojekt und zuletzt auf ihr Verhältnis nach außen. In Kapitel III bildet ein eigenes, fünftes Kapitel zum Dienststrafverfahren gegen Schäfer gewissermaßen die Scharnierstelle zwischen Auf- und Abstieg der ›Moor-SA‹. Ein letztes, deutlich kürzeres Hauptkapitel befasst sich schließlich mit der Nachgeschichte der ›Moor-SA‹. Dieses ist nur noch in zwei Unterkapitel unterteilt: Das erste betrachtet den weiteren Verlauf des Lagerprojekts und der Siedlungstätigkeit im Emsland nach der Einberufung Schäfers, auch über das Kriegsende hinaus. Im zweiten Unterkapitel wird auf die weiteren Lebenswege von SA-Männern – sofern sie bekannt sind – eingegangen und die Strafverfolgung von SA-Tätern behandelt.

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Einleitung

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II. Etablierung (November 1933 – Mai 1935) Das Emsland galt zu Beginn der 1930er Jahre als rückständige und unterentwickelte Region.1 Bestrebungen zur Kultivierung der weitläufigen Moor- und Ödlandflächen, die um 1930 noch mehr als ein Drittel der Fläche des Emslandes ausmachten, hatte es bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gegeben. Zum Ende der Weimarer Republik intensivierte die Bezirksregierung Osnabrück ihre Planungen zu einer umfassenden Modernisierung der Region. Bereits wenige Wochen nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten trafen diese Bestrebungen mit Plänen des Preußischen Innenministeriums zusammen, ein eigenes, staatliches System von Schutzhaftlagern zu errichten. Zwischen Juni und Oktober 1933 entstanden drei staatliche Konzentrationslager in Börgermoor, Esterwegen und Neusustrum, die anfänglich von SS-Einheiten bewacht wurden. Diese wurden allerdings nach kurzer Zeit unter Gewaltandrohung wieder abgelöst und durch SA-Wachmannschaften ersetzt, die spätere ›Moor-SA‹. Die Emslandlager waren insbesondere in ihrer Frühphase Spielball machtpolitischer Bestrebungen und unterschiedlicher Interessen, sowohl als Repressionsinstrument als auch in Bezug auf raumplanerische Ordnungsvorstellungen. Bis Ende 1934 wechselte die Zuständigkeit für die meisten dieser Lager mehrfach – vom Innenministerium zum Preußischen Justizministerium und von diesem im Zuge der Gleichschaltung der Länder zum Reichsjustizministerium. So entstand bis zum Mai 1935 ein Komplex aus sechs Strafgefangenenlagern. Die Bewachung der Lager verblieb jedoch in den Händen der SA-Männer. Diese bildeten bald gemeinschaftliche Strukturen aus, die sich durch ähnliche vorherige Erfahrungen, ihre Ausbildungspraxis und den Dienstalltag sowie eine spezifische, eigene Gewaltpraxis etablieren konnten. Diese Etablierung betraf schließlich auch

1

Das Emsland ist historisch unterschiedlich definiert worden. In dieser Arbeit wird darunter das ›hannoversche Emsland‹ verstanden, das die Kreise Aschendorf-Hümmling, Meppen, Lingen sowie die südwestlich angrenzende Grafschaft Bentheim umfasst. Dieses wurde historisch als zusammenhängendes Entwicklungsgebiet aufgefasst; in sämtlichen Kreisen außer Lingen entstanden die insgesamt 15 Emslandlager. Vgl. Thomas Südbeck: Motorisierung, Verkehrsentwicklung und Verkehrspolitik in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre. Zwei Beispiele: Hamburg und das Emsland, Diss. Universität Hamburg 1992, S. 326.

Etablierung

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46 das Verhältnis der SA-Männer zur überwiegend katholisch geprägten Umgebungsbevölkerung, zu der anfangs ein konflikthaftes Verhältnis bestand.

1.

Männerbund im Staatsdienst. Die Aufstellung der SA-Wachmannschaften

Die Geschichte der ›Moor-SA‹ hat sowohl räumlich als auch von den beteiligten Personen her einen zweifachen Beginn. Einen ersten Schauplatz bildeten die schon bestehenden staatlichen Konzentrationslager im nördlichen Emsland – Börgermoor, Neusustrum, das Doppellager Esterwegen und die Kommandantur im nahe gelegenen Papenburg –, deren bisherige SS-Bewacher durch schwer bewaffnete Polizeieinheiten zum Abzug gezwungen wurden.2 Der zweite Schauplatz befand sich in Osnabrück, dem Sitz der für das Emsland zuständigen Bezirksregierung. Von hier aus wurde nicht nur die Polizeiaktion unterstützt, sondern parallel zu dieser fieberhaft die Aufstellung neuer Wachmannschaften betrieben. Die Ablösung von SS-Wachmannschaften durch Polizeieinheiten und die anschließende Installation von SA-Einheiten, die deren Aufgaben übernahmen, bildeten nicht nur einen »zweifellos […] einmaligen Vorgang in der Geschichte des ›Dritten Reiches‹«,3 der insofern bemerkenswert ist, als er die Degradierung von SS- und die Aufwertung beziehungsweise Neubildung von SA-Einheiten bedeutete und damit konträr zu den reichsweiten Prozessen der Jahre 1933 /34 verlief. Zugleich war diese Aktion Auslöser und Startpunkt einer Transformation des emsländischen Lagersystems, in deren Verlauf bis zum April 1934 nicht nur die Bewachungssituation, sondern auch die administrative Zuständigkeit und die Art der Häftlinge wechselten.4 Dieser Prozess war wiederum eingebettet in den anhaltenden Kompetenzkonflikt zwischen staatlichen Stellen, insbesondere dem Preußischen Innenministerium, und Hermann Göring auf der einen sowie der SS und Heinrich Himmler auf der anderen Seite, der letztlich mit der Ernennung Himmlers zum Inspekteur der preußischen Gestapo zu dessen Gunsten entschieden wurde. Im Kern ging es dabei um die Hoheit über die weltanschauliche Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, im konkreten Fall aber um die Vision eines eigenen, preußischen Lagersystems im Gegensatz zum ›Dachauer Modell‹.5 Am Prozess Vgl. als detaillierte Studie über die erste Phase der SS-Bewachung Klausch: Tätergeschichten. Ebd., S. 7. 4 Lediglich das Lager Esterwegen wurde weiter als Konzentrationslager genutzt und ab August 1934 erneut von SS-Einheiten bewacht. Vgl. hierzu Kurt Buck: Esterwegen – Das Lager (1933–1959), in: Bettina Schmidt-Czaia (Hg.): Esterwegen 1223 bis 1999. »Moor und Heide nur ringsum …?«, Esterwegen 1999, S. 205–253 und Riedel: Ordnungshüter, S. 97–125. 5 Vgl. hierzu Johannes Tuchel: Konzentrationslager. Organisation und Funktion der »Inspektion der Konzentrationslager« 1933–1938, Boppard 1991, S. 60–158. 2

3

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Etablierung

47 der Umstrukturierung der Emslandlager waren zudem auch das Regierungspräsidium in Osnabrück und lokale Akteure, insbesondere die mit den Lagern zusammenarbeitende Kulturbauleitung, beteiligt. Zur Ablösung der SS-Wachmannschaften unter Androhung von Waffengewalt sah sich das Preußische Innenministerium als Dienstherr der Lager genötigt, da in den vorangegangenen Monaten zunehmend Berichte über die Misshandlung von Häftlingen und Übergriffe gegen die lokale Bevölkerung publik geworden waren. Dies wirkte einer Konsolidierung des Regimes – insbesondere im katholisch geprägten und dem Nationalsozialismus mehrheitlich reserviert gegenüberstehenden Emsland – entgegen. Zudem befürchteten staatliche Stellen, dass im Ausland erscheinende Zeitungsberichte über Gefangenenmisshandlungen weiterreichende Konsequenzen nach sich ziehen könnten.6 Ein mindestens ebenso gewichtiger Grund dürfte sich für das Preußische Innenministerium durch den Umstand ergeben haben, dass sich die SS-Einheiten nahezu jeglicher administrativen Kontrolle entzogen hatten. Das Ministerium verband aber weitreichende Zielsetzungen mit dem Lagersystem im Emsland. Dieses war für Preußen als zentraler Ort der Internierung politischer Gegner geplant und sollte unter staatlicher Oberaufsicht stehen. Neben den drei SS-geführten Lagern befanden sich zwei weitere im November 1933 bereits im Bau.

Entstehung der staatlichen Konzentrationslager im Emsland Diese Planungen gingen ursprünglich auf eine Anfrage aus dem Preußischen Innenministerium im März 1933 zurück. Nach dem Reichstagsbrand vom 27./28. Februar 1933 und der daraufhin erlassenen »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat«7 war es zu einer Verhaftungswelle durch die neuen Machthaber gekommen, die bis dahin unbekannte Ausmaße annahm. In Preußen wurden allein in den Monaten März und April etwa 25.000 bis 30.000 Menschen in Schutzhaft genommen.8 Die Verhaftungen geschahen durch Angehörige von Polizei, Geheimpolizei, SA oder SS; als Haftorte kamen Polizei- und JustizgeVgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 90–102 u. 205 f. Die Verfolgung politischer Gegner hatte bereits unmittelbar nach dem Machtantritt der NSDAP am 30. 1. 1933 begonnen. Die sogenannte ›Reichstagsbrandverordnung‹ schuf dafür aber einen dauerhaften rechtlichen Rahmen. Ernst Fraenkel bezeichnete sie daher als »Verfassungsurkunde« des Dritten Reichs (Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im »Dritten Reich«, Frankfurt a. M. 1984 [1941], S. 26). Vgl. auch Thomas Raithel / Irene Strenge: Die Reichstagsbrandverordnung. Grundlegung der Diktatur mit den Instrumenten des Weimarer Ausnahmezustandes, in: VfZ 48 (2000), S. 413–460. 8 Vgl. Klaus Drobisch / Günther Wieland: System der NS-Konzentrationslager 1933–1939, Berlin 1993, S. 37 f.

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48 fängnisse zum Einsatz, neben denen aber ›Prügelkeller‹ der SA und erste Lager in ehemaligen Gefängnissen oder privaten Betrieben entstanden.9 Da Gefängnisse und provisorische Haftstätten bald überfüllt waren, wandten sich einzelne Regierungspräsidenten und Bürgermeister an das Preußische Innenministerium und ersuchten um die Einrichtung zentraler Sammellager für politische Häftlinge.10 In dieser Situation wandte sich Ludwig Grauert, Leiter der Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium, am 17. März 1933 an den Regierungspräsidenten in Osnabrück und ersuchte »um Bericht, ob im dortigen Regierungsbezirk die Unterbringung einer größeren Anzahl von Häftlingen – ca 250–300 Mann – in einem Lager möglich« sei. Die gegenwärtige Situation sei nicht aufrecht zu erhalten, »da die in Anspruch genommenen Anstalten anderweitig benötigt« würden.11 Darüber hinaus formulierte Grauert bereits relativ klare Ansprüche für den Standort künftiger Lager: Es muß sich um einen gut zu überwachenden Platz handeln, der nach Möglichkeit von Industriezentren abgelegen ist und auch Gelegenheit für eine Beschäftigung der Häftlinge bei gemeinnützigen Arbeiten bietet. Es ist hierbei an Arbeiten in Moorgegenden, an Rodungen von Waldgebieten und ähnl. zu denken. Die Unterbringung muß sich unter verhältnismäßig geringen Unkosten bewerkstelligen lassen.12 Am 25. März wurden die Regierungspräsidenten auch angewiesen, ihrerseits Landkreise und kreisfreie Städte mit der eigenständigen Unterbringung politischer Schutzhäftlinge zu beauftragen, woraufhin weitere, meist SA-geführte Lager entstanden.13 Die Bezeichnung früher Haftstätten als ›wilde Lager‹ vernachlässigt daher »das Zusammenspiel der unmittelbaren Terrorinstrumente, regionaler Stel-

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Vgl. beispielhaft Carina Baganz: Erziehung zur »Volksgemeinschaft«? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–34 /37, Berlin 2005 u. Volker Bendig: »Von allen Höllen vielleicht die grausamste«. Das Konzentrationslager in Brandenburg an der Havel 1933–1934, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.): Instrumentarium der Macht. Frühe Konzentrationslager 1933–1937, Berlin 2003, S. 103–109. Kurze Beschreibungen vieler weiterer Lager finden sich bei Benz / Distel (Hg.): Ort des Terrors, Bd. 2, S. 15–230. Vgl. Buck: Esterwegen, S. 207. Grauert, 17. 3. 1933, in: KW I, S. 100. Tuchel geht davon aus, dass diese Anfrage an alle Regierungspräsidenten gestellt wurde (vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 61). Zu Grauert, der vor 1933 Lobbyarbeit für die NSDAP betrieben hatte, vgl. Christoph Graf: Politische Polizei zwischen Demokratie und Diktatur. Die Entwicklung der preußischen Politischen Polizei vom Staatsschutzorgan der Weimarer Republik zum Geheimen Staatspolizeiamt des Dritten Reiches, Berlin (West) 1983, S. 348. Grauert, 17. 3. 1933, in: KW I, S. 100. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 62–64. Etablierung

49 len und Ministerien bei [deren] Anlage, Ausstattung und Führung«.14 Grauerts Anfrage vom 17. März zeigt vor allem den Anspruch des Preußischen Innenministeriums, die Inhaftierung von Schutzhäftlingen dauerhaft mitzugestalten, und bildete somit den Anfangspunkt für die Planung staatlicher Konzentrationslager.15 Kaum mehr als eine Woche später, am 25. März 1933, antwortete der Osnabrücker Regierungspräsident Adolf Sonnenschein mit dem Vorschlag, 300 Schutzhaftgefangene auf dem Wirtschaftshof des staatlichen Gebiets A bei Börgermoor unterzubringen.16 Am 5. April teilte das Innenministerium dem Osnabrücker Regierungspräsidenten die Entscheidung mit, mehrere Lager im Emsland zu errichten. Bereits am nächsten Tag konnte der Regierungsbaurat des Kulturbauamts Meppen, Wilhelm Sagemüller, einen Kostenvoranschlag für die Errichtung von drei Lagern für je 1.000 Häftlinge vorlegen, was dafür spricht, dass bereits zuvor zwischen Berlin, Osnabrück und Meppen darüber verhandelt worden war. Sagemüller veranschlagte 770.500 RM für den Bau der Lager und jährlich weitere 1.522.000 RM als Betriebs- und Verpflegungskosten.17 Der neue Regierungspräsident Eggers leitete diese Pläne am 8. April weiter und machte konkrete Vorschläge für nun bereits vier Lager: »Für die Lager wurden gefordert 1) Abgeschlossenheit, 2) leichte Überwachung, 3) Arbeitsmöglichkeit. Unter Zugrundelegung dieser Gesichtspunkte wurden 4 Lager zu je 1000 Mann ausgesucht.«18 Die Region entsprach tatsächlich weitgehend den von Grauert formulierten Anforderungen: Aufgrund der flachen Landschaft war die Bewachung von Häftlingen einfach zu bewerkstelligen, und vor allem boten die weitläufigen Moor- und Öd14

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Klaus Drobisch: Studien zur Geschichte der faschistischen Konzentrationslager 1933 /34, Berlin (Ost) 1987, S. 84. Der Begriff der ›wilden Lager‹ geht auf die exkulpatorische Rückschau eines Beteiligten zurück. Vgl. Rudolf Diels: Lucifer ante portas. … es spricht der erste Chef der Gestapo …, Stuttgart 1950. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 38–44. Karin Orth plädiert dafür, den Begriff des ›Konzentrationslagers‹ erst ab der Ausbauphase des Lagersystems der IKL zu verwenden und stattdessen von ›frühen Lagern‹ zu sprechen (vgl. Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, S. 23–26). Für eine Verwendung des Begriffs ›staatliche Konzentrationslager‹ sprechen aber die damit verbundenen Zentralisierungsbestrebungen in Preußen. Vgl. Knoch: Emslandlager, S. 564. Vgl. Regierungspräsident Osnabrück, 25. 3. 1933, in: KW I, S. 101. Sonnenschein war ursprünglich Zentrumsmitglied, trat jedoch in einem Versuch, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren, aus der Partei aus und stellte einen Aufnahmeantrag bei der NSDAP. Am 27. 3. 1933 wurde er dennoch durch den NSDAP-Mann Bernhard Eggers ersetzt. Vgl. Gedenkstätte Esterwegen: Dauerausstellung »›Die Hölle im Moor‹. Verfolgung und Gewalt in den Emslandlagern 1933–1945« und Werkstattausstellung »1945 bis heute. Die Nachgeschichte der Emslandlager«, unveröffentlicht [Esterwegen 2011], S. 31. Vgl. Kulturbaubeamter Meppen, 6. 4. 1933, in: KW I, S. 101–108. Regierungspräsident Osnabrück, 8. 4. 1933, in: ebd., S. 109.

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50 landflächen ein nahezu unbegrenztes Potential für den Arbeitseinsatz der Gefangenen. Umgekehrt hatte das Emsland aber auch reichhaltigen Bedarf an den von Grauert anvisierten gemeinnützigen Arbeiten. Die Region wies 1933 eine Bevölkerungsdichte von 49,7 Einwohnern/km2 auf, weit unter dem Reichsdurchschnitt von 140,3 Einw./km2.19 Noch 1925 arbeiteten etwa 77 Prozent der Beschäftigten im primären Sektor, und die wenigen Betriebe wiesen meist geringe Rücklagen und wenig Umsatz auf.20 In der benachbarten niederländischen Provinz Drenthe, die von den geographischen Voraussetzungen her vergleichbar ist, war die Erschließung der Moorgebiete hingegen weitgehend abgeschlossen.21 Das Emsland war, wie Claus Veltmann deutlich urteilt, »eine rückständige Durchgangsregion zwischen dem Rheinisch-Westfälischen Raum und dem Nordseebereich und die einzigen verkehrlichen Großprojekte, wie der Bau des Dortmund-Ems-Kanals, dienten ausschließlich der Verbindung dieser Räume«.22 Insofern war der Arbeitseinsatz der Häftlinge – und dies bedeutete de facto Zwangsarbeit – zur Moorkultivierung als Strukturmaßnahme von den lokalen und regionalen Behörden durchaus gewollt. Auch lokale Behörden und Unternehmen versprachen sich durch die Lager zusätzliche Aufträge und einen wirtschaftlichen Aufschwung.23 Bis zum Baubeginn der Lager sollten noch rund zweieinhalb Monate vergehen, in denen verschiedene Pläne kursierten – von zwei Lagern für zusammen 2.000 bis zu drei Lagern für insgesamt 5.000 Häftlinge.24 Zudem entstand im Preußischen Innenministerium ein Machtkampf zwischen Grauert und dem ›Inspekteur des Geheimen Staatspolizeiamtes‹ (Gestapa) Rudolf Diels sowie dem Leiter der Polizeiabteilung, Kurt Daluege.25 Während Grauert die Errichtung der Konzentra19 20

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Vgl. Carl-Heinrich Bösling: Staat und regionale Unterentwicklung. Emslandpolitik zwischen 1933 und heute, Diss. Universität Osnabrück 1985, S. 182. Zahlen nach Claus Veltmann: Die Wirtschaft des Emslandes von der Reichsgründung 1871 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Werner Franke / Josef Grave / Heiner Schüpp / Gerd Steinwascher (Hg.): Der Landkreis Emsland. Geographie, Geschichte, Gegenwart. Eine Kreisbeschreibung, Meppen 2002, S. 403–430, hier: 419 f., Online-Ressource unter ‹http://www.emsland.de/das_emsland/kreisbeschreibung/kreisbuch/kreisbuch. html›, letzter Abruf: 22. 8. 2013. Auch 1950 lag der Anteil der in der Landwirtschaft arbeitenden Bevölkerung bei nahezu 50 %. Vgl. Christof Haverkamp: Die Erschließung des Emslandes im 20. Jahrhundert als Beispiel staatlich regionaler Wirtschaftsförderung, Sögel 1991, S. 21–26. Zum Vergleich des Emslands mit der Region Drenthe vgl. David Reinicke: Continuity Versus Commemoration. The Emsland Camps and the Transit Camp Westerbork 1945–1970, Masterarbeit Universität Groningen 2005, S. 5–17. Veltmann: Wirtschaft, S. 403. Vgl. Buck: Esterwegen, S. 210 f. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 66–70. Daluege – unter den dreien der einzige ›alte Kämpfer‹ – war seit Februar 1933 im Preußischen Innenministerium tätig; 1936 wurde er ›Chef der Deutschen Ordnungspolizei‹. Etablierung

51 tionslager im Emsland vorantreiben und diese dem Innenministerium unterstellen wollte, sprachen sich Diels und Daluege für Lager unter Aufsicht der politischen Polizei aus und konnten ihre Position mit der Einrichtung des Lagers Sonnenburg zunächst durchsetzen.26 Erst nachdem der Regierungspräsident in Osnabrück am 13. Mai beim Innenministerium darum ersuchte, über seine Vorlage zu entscheiden, weil er inzwischen Probleme mit der Unterbringung von Schutzgefangenen hatte, wurden die Planungen für staatliche Konzentrationslager fortgesetzt. Weil Daluege zunehmend auf Distanz zu Diels ging, wurden die Lager schließlich der Polizeiabteilung des Innenministeriums – also nicht dem Gestapa – unterstellt. Am 19. Juni wurde dem Regierungspräsidenten fernmündlich die Ermächtigung zum Baubeginn gegeben.27 Vorgesehen waren ein Lager in Börgermoor mit 1.000 Gefangenen, ein Doppellager in Esterwegen mit 2.000 Gefangenen sowie ein weiteres Lager für 2.000 Gefangene in Neusustrum.28 Am 20.  Juli wurde dieser Plan dahingehend geändert, dass nun mit Neusustrum und Oberlangen zwei Lager für je 1.000 Gefangene realisiert werden sollten.29 Die ersten 90 Häftlinge erreichten das Lager Börgermoor gemeinsam mit 20 SS-Männern am 22. Juni 1933. Zu diesem Zeitpunkt waren nur zwei Baracken vorhanden – ihr künftiges Lager sollten die Häftlinge selbst errichten. Das Lager Börgermoor wurde nahezu termingerecht am 21. Juli bezugsfertig, Esterwegen ab dem 10. August mit Gefangenen belegt. Das Lager Neusustrum wurde nicht wie geplant zum 1. September, sondern erst Anfang Oktober 1933 fertiggestellt.30 Organisatorisch verfolgte das Innenministerium eine zweigleisige Lösung, die Johannes Tuchel als ›Direktorialverfassung‹ bezeichnet hat: Am 28. Juni 1933 richtete Daluege die ›Verwaltungsdirektion der staatlichen Konzentrationslager‹ mit Sitz in Papenburg ein, die direkt dem Innenministerium unterstellt war. Deren Leitung übernahm Polizeiobersekretär Georg Bergmann, der von der Polizeiverwaltung Harburg-Wilhelmsburg abgeordnet war. Ihm wurden drei Mitarbeiter in der zentralen Verwaltung sowie vier örtliche Wirtschaftsbeamte in den einzelnen La-

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Nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich wurde Daluege dessen Nachfolger als stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Als solcher war er für die Massaker von Lidice und Lezaky zuständig, wofür er 1946 in Prag hingerichtet wurde. Caron Cadle: Kurt Daluege. Der Prototyp des loyalen Nationalsozialisten, in: Ronald Smelser / Enrico Syring / Rainer Zitelmann (Hg.): Die braune Elite II. 21 weitere biographische Skizzen, Darmstadt 1993, S. 66–79. Vgl. Drobisch: Studien, S. 65 u. Tuchel: Konzentrationslager, S. 62–65. Vgl. ebd., S. 58 u. 68–70. Vgl. KW I, S. 126. Vgl. Einrichtung von Konzentrationslagern zur Beschäftigung politischer Häftlinge bei der Kultivierung der linksemsischen Moore, NLA Osnabrück Rep 430 Dez 502 Akz 11 /63 Nr. 3. Vgl. KW I, S. 148 und Klausch: Tätergeschichten, S. 66 f., 130 f. u. 223.

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52 gern zur Seite gestellt.31 Die Bewachung der Lager sollte zunächst noch von einem Kommando der Schutzpolizei wahrgenommen werden, das parallel bereits anwesende SS-Einheiten ausbilden sollte, um diesen am 13. Juli die Wachfunktion zu übertragen. Die SS-Kommandanten der einzelnen Lager waren zwar an die Anordnungen des Verwaltungsdirektors gebunden, jedoch hatte dieser keine explizite Weisungsbefugnis. Jeder Lagerkommandant sollte zudem »in den Grenzen seiner Aufgaben […] selbstständig«32 agieren können und unterstand nicht der Aufsicht des Innenministeriums, sondern der des Osnabrücker Regierungspräsidenten.33 Dass die Lager von SS-Einheiten bewacht wurden, ging auf eine Entscheidung Dalueges – selbst SS-Gruppenführer – im Juni zurück, nach der die Bewachung sämtlicher Konzentrationslager in Preußen künftig von SS-Wachmannschaften übernommen werden sollte.34 Mit der Einrichtung der staatlichen Konzentrationslager hatte sich das Preußischen Innenministerium – vor allem auf Betreiben von Grauert und Daluege – erhofft, eine zentrale Kontrolle der politischen Verfolgung zu erlangen. Den doppelten Grundgedanken dieser Kompetenzaneignung und eines gleichzeitigen Einsatzes der Gefangenen zu ›gemeinnütziger‹ Zwangsarbeit in der Moorkultivierung verdeutlichte Grauert, kurz nachdem die Entscheidung zur Errichtung der Lager gefallen war: Vor allem aber erscheint es notwendig, die Häftlinge, deren Freilassung jedenfalls innerhalb der nächsten Jahre nicht in Frage kommt, in einer Weise zu beschäftigen, die Werte für die Allgemeinheit schafft […]. Eine solche Werte schaffende Beschäftigung der Schutzhäftlinge […] ist praktisch nur in Unternehmungen des Staates möglich. […] Bei Berücksichtigung dieser Umstände lag es von vorneherein nahe, an die Beschäftigung der Häftlinge mit Ödlandkultivierung zu denken.35 Im Zuge der Etablierung eines eigenen, zentral gesteuerten staatlichen Lagersystems löste das Preußische Innenministerium zwischen Juni und September mehrere kleine, regionale Lager auf. Die Lager Sonnenburg, Brandenburg und Lichtenburg wurden als ›Durchgangslager‹ übernommen, während die emsländischen Konzentrationslager für eine längerfristige Inhaftierung gedacht waren.36 Das Or31 32 33 34 35 36

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Vgl. KW I, S. 155 f. Preußischer Innenminister, 25. 9. 1933, in: ebd., S. 178. Vgl. Regierungspräsident Osnabrück, 12. 6. 1933, in: ebd., S. 157 und Klausch: Tätergeschichten, S. 67–70. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 73. Preußischer Innenminister, 22. 6. 1933, in: KW I, S. 127 f. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 76 f. Zur Verlegung von Häftlingen aus zuvor aufgelösten kleineren Haftstätten und Lagern ins Emsland vgl. Lüerßen: Moorsoldaten, S. 43 f. Etablierung

53 ganisationsmodell der ›Direktorialverfassung‹ sollte fortan auch für die anderen preußischen Lager gelten. Der grundlegende Charakter der Schutzhaft sollte dabei sowohl in der Verfolgung und Bestrafung politisch Andersdenkender als auch in ihrem Arbeitseinsatz für die ›Volksgemeinschaft‹ liegen. In einer Vorlage der Polizeiabteilung des Innenministeriums für Görings Rede zur Eröffnung des Preußischen Staatsrats hieß es: Der volkswirtschaftliche Nutzen dieser Lager liegt darin, daß in ihnen tausende von Menschen ihrer volksverhetzenden und volksvergiftenden Tätigkeit entzogen werden und durch die Urbarmachung von Ödländereien größten Ausmaßes neuen Lebensraum für deutsche Volksgenossen schaffen.37 Dieses Vorhaben war aber keineswegs deckungsgleich mit der vorrangigen Intention der SS-Wachmannschaften: der Gegnerbekämpfung durch Terror, Vergeltung und Abschreckung. Die Kultivierungsarbeiten im Emsland waren für die SS-Männer nur ein weiteres Mittel zur körperlichen Bestrafung und Misshandlung ihrer Gefangenen; das Voranschreiten des Siedlungsprojekts war ein nachrangiges, wenn nicht gar zu vernachlässigendes Ziel. Durch die Entscheidung, die Lagerbewachung in Preußen bis auf wenige Ausnahmen generell der SS zu übertragen, war zudem Heinrich Himmler zum »Ministerial-Kommissar für die Hilfspolizeibeamten des Geheimen Staatspolizeiamtes« ernannt worden und hatte somit auch in Preußen staatliche Kompetenzen erhalten.38 Das Grundproblem bei der Etablierung des staatlichen Konzentrationslagersystems im Emsland lag vorrangig darin, dass die verworrenen Strukturen ein organisatorisches Chaos bedingten, in dem die SS-Wachmannschaften sich – zumindest vorläufig – jeglicher staatlichen Einflussnahme erwehren und Lageralltag und Haftbedingungen nach ihren eigenen Vorstellungen ausgestalten konnten. Offiziell waren sie beim Innenministerium angestellt, die Dienstaufsicht lag jedoch beim Regierungspräsidenten in Osnabrück. Der Verwaltungsdirektor der Lager, der direkt dem Innenministerium unterstellt war, sollte den Lagerkommandanten zwar Anweisungen geben können, konnte diesen gegenüber jedoch keine Befehlsgewalt durchsetzen. Zusätzlich erhielten Oberkommandant Brinkmann und die SS-Wachen bis zuletzt Unterstützung und Rückendeckung vom Führer ihres SS-Oberabschnitts West, Gruppenführer Fritz Weitzel.39 Insofern war vor Ort keine Kontrollinstanz vorhanden, die der SS im Alltag Grenzen hätte aufzeigen können. Nach der Eskalation der Ereignisse Ende Oktober / Anfang November 1933 blieb dem Preußischen Innenministerium demnach keine andere Option als die AblöZit. n. Tuchel: Konzentrationslager, S. 77. Vgl. ebd., S. 73. 39 Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 106–112. 37 38

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54 sung der SS-Wachmannschaften, um die Verfügungsgewalt über das eigene Lagersystem zurückzuerlangen.40

Ablösung der SS und Aufstellung von SA-Einheiten Nachdem erste Gerüchte von massiven Gefangenenmisshandlungen und dem Drangsalieren der Zivilbevölkerung Berlin erreicht hatten, wurde Mitte Oktober 1933 eine Untersuchungskommission unter Rudolf Diels ins Emsland entsandt. Die Wachmannschaften des Lagers Esterwegen gestatteten der Kommission erst nach Rücksprache mit ihrer zuständigen SS-Gruppenführung in Düsseldorf den Zutritt zum Lager. Im benachbarten Lager Börgermoor berichteten die Häftlinge Diels trotz des von den SS-Wachen aufrecht erhaltenen Bedrohungsszenarios ausführlich über Misshandlungen.41 Ein Vorfall, bei dem ein Papenburger Gastwirt von SS-Männern zusammengeschlagen wurde, rief bereits Ende Oktober eine zweite Untersuchungskommission auf den Plan, der neben Rudolf Diels auch Staatsanwalt Günther Joël vom Reichsjustizministerium angehörte. Obwohl sie dabei von Männern des SA-Feldjägerkorps begleitet wurden, deren Anordnungen SA- und SS-Männer Folge zu leisten hatten,42 wurde ihnen der Zutritt zu den Lagern nun gänzlich verwehrt. Joël, der schließlich selbst versuchte, das Lager Börgermoor zu betreten, wurde von der SS sogar beschossen.43 Damit hatten die SS-Wachmannschaften nicht nur einen ranghohen Vertreter des Justizministeriums tätlich angegriffen, sondern sich auch dem Feldjägerkorps widersetzt, das für sie als Angehörige einer Parteigliederung zuständig war. Diels und Joël reisten zurück nach Berlin, ließen aber zwei Feldjäger in Papenburg zurück, die ihnen Bericht erstatten sollten.44 Nur zwei Tage später, in der Nacht vom 3. auf den 4. November 1933, wurden die Feldjäger in ihrer Wache angegriffen. Gegen 2:10 Uhr wurde ein Ziegelstein durch das Fenster des Wachraums geworfen und anschließend ein Schuss abgegeben. Einer der SA-Männer schoss daraufhin zurück und sah »zwei bis drei flüchtende Personen«, bei denen es sich nach seiner Wahrnehmung »aller Wahrscheinlichkeit nach um SS-Männer« gehandelt habe. Auf der Suche nach Verdächtigen stellten Papenburger Polizisten 40 41 42 43 44

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Zum grundsätzlichen Scheitern der Direktorialverfassung vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 78. Vgl. Wolfgang Langhoff: Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager, München 1946 [Zürich 1935], S. 236–238 und Klausch: Tätergeschichten, S. 95–97. Vgl. Friedrich Wilhelm: Die Polizei im NS-Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, Paderborn 1997, S. 51 f. Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 103–105. Vgl. ebd., S. 105 f. Etablierung

55 gegen 4:30 Uhr fest, dass im »Hotel zur Post« noch Licht brannte, und »nahmen an, dass in dem Lokal noch gezecht wurde.«45 Die Beamten trafen fünf SS-Männer an, darunter den Oberlagerkommandanten der staatlichen Konzentrationslager, Standartenführer Paul Brinkmann, und den Kommandanten des Lagers Börgermoor, Wilhelm Fleitmann. Markanterweise handelte es sich um ebenjene Gastwirtschaft, deren Besitzer Gerhard Hilling zuvor von SS-Männern misshandelt worden war, was die neuen Untersuchungen erst ausgelöst hatte. Obwohl Brinkmann Polizeiobermeister Schäfer versprach, dass die SS-Männer nun gehen würden, waren diese eine Stunde später immer noch anwesend, woraufhin Schäfer androhte, das Lokal räumen zu lassen.46 Spätestens im Anschluss an diesen Vorfall fiel in Berlin die endgültige Entscheidung, die SS-Wachmannschaften abzulösen – notfalls auch mit Gewalt. Nach seiner Rückkehr aus Papenburg war Diels im Beisein Hermann Görings bei Hitler zum Rapport erschienen, worauf dieser die Übernahme der Lager durch Polizeieinheiten befahl. Daraufhin wurden zwei Hundertschaften der Schutzpolizei Osnabrück und schwerbewaffnete Sonderpolizeieinheiten aus Berlin ins Emsland kommandiert. Nachdem sich die SS daraufhin verschanzt und ihrerseits Maschinengewehre in Stellung gebracht hatte, bekräftigte Hitler am 4. November seine Entscheidung und stellte sogar Unterstützung durch die Reichswehr in Aussicht.47 In ihrer Verzweiflung stellten die SS-Wachmänner ihren Gefangenen in Aussicht, sie zu bewaffnen, um gemeinsam einen Ausbruch zu versuchen. So zitiert Wolfgang Langhoff einen SS-Mann mit den Worten »›Wißt ihr was, wenn die kommen, dann geben wir euch Waffen, und ihr schlagt mit uns zusammen den Angriff ab! Und nachher gründen wir ein ›Freikorps Fleitmann‹ und dann schlagen wir uns durch bis Österreich und machen dort die Revolution!‹«48 Derart phantastische Hirngespinste wiesen die Häftlinge natürlich zurück. Für sie musste es geradezu zynisch erscheinen, dass ausgerechnet ihre bisherigen Peiniger nun mit ihnen gemeinsame Sache machen wollten. Am 5. November stellten die SS-Männer schließlich fest, dass die Lager in einem 25 km weiten Radius umstellt waren, und die Polizei teilte mit, dass sie am kommenden Mittag die Lager notfalls gewaltsam übernehmen würde. Letztlich gab die SS daraufhin die Lager am 6. November kampflos auf.49 Damit hatten die staatlichen Behörden ihre Machtkompetenzen gegenüber der SS behauptet. Polizeioberst Stieler von Heydekampf,

Sämtliche Zitate: Bericht Polizei Papenburg, 4. 11. 1933, in: NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 782. Vgl. ebd. 47 Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 110 f. 48 Zit. n. Langhoff: Moorsoldaten, S. 242 f. Andere Pläne schienen immerhin insofern realistischer, als sich die SS-Wachen gemeinsam mit den Häftlingen in die nahegelegenen Niederlande absetzen wollten. Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 206 f. 49 Vgl. ebd., S. 111–114 u. 206–212 sowie Langhoff: Moorsoldaten, S. 242–247. 45 46

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56 der den Einsatz befehligte, verkündete seinen Männern seine Sicht auf die Dinge dahingehend, dass es »sich hier um einen Fall von Insubordination [handele], der sich gegen die Ordnung und Staatsräson wende und der im Interesse des nationalsozialistischen Staates nötigenfalls mit Waffengewalt [habe] niedergeschlagen werden müsse[n].«50 Die nun notwendig gewordene Planung einer neuen Bewachungssituation entwickelte sich ebenso wie die Ablösung der SS aus den Ereignissen heraus. Die Entscheidung für eine SA-Bewachung geschah gewissermaßen en passant: Noch am 30. Oktober 1933 informierte das Preußischen Innenministerium den Regierungspräsidenten in Osnabrück davon, dass »der Kommandant und das Wachtpersonal für das demnächst zu belegende Konzentrationslager Oberlangen […] von der SS-Gruppe Nord in Altona gestellt werden« solle.51 Diese 150 SS-Männer hätten am 10. November im Emsland eintreffen und fortan dem Kommandanten der Lager, SS-Standartenführer Paul Brinkmann, unterstellt sein sollen. Als das Schreiben am 3. November in Osnabrück einging, war die Situation im Emsland bereits eskaliert. So antwortete Regierungspräsident Bernhard Eggers, er nehme an, das Schreiben sei inzwischen überholt, da eine Unterstellung zukünftiger Wachmannschaften unter Brinkmann seiner Meinung nach nicht in Frage komme. Für die zukünftige Bewachung der Lager schlug er vor, »daß die Wachtmannschaften aus der Befehlsgewalt der zuständigen SS-Formation ausscheiden. Sie werden alsdann zu Hilfspolizeibeamten zu ernennen und der zuständigen Landespolizeibehörde zu unterstellen sein.«52 Nur so seien ähnliche Vorkommnisse zu vermeiden. Dieser trotz seiner Eindringlichkeit anscheinend ad hoc entstandene Vorschlag sollte sich nachhaltig auf die Gehalts- und Anstellungsstruktur der künftigen SA-Wachmannschaften auswirken – selbst über ihre Beschäftigung beim Preußischen Innenministerium hinaus. Die Entscheidung, die Bewachung fortan SA-Wachmannschaften zu übertragen, fiel innerhalb einer Woche, nachdem die SS die Lager aufgegeben hatte. Für die offenkundige Alternative der dauerhaften Übertragung dieser Aufgabe an Polizeioder Justizbeamte hatte anscheinend keine der beiden Behörden genügend Kapazitäten.53 Da eine erneute Anstellung der SS zumindest federführend nicht in Frage kam, blieb die SA praktisch als einzig gangbare Alternative übrig. Am 13. November informierte Regierungsrat Bode vom preußischen Justizministerium, das sich anscheinend in diese Entscheidung eingeschaltet hatte, den Leiter der Osnabrücker Gestapo, Regierungsrat Aderhold, telefonisch über die getroffene Entscheidung. Letzterer notierte anschließend: Ebd., S. 247. Ministerialdirigent Fischer, 30. 10. 1933, in: KW I, S. 186. 52 Regierungspräsident Osnabrück, 3. 11. 1933, in: ebd., S. 187. 53 Vgl. ebd., S. 85. 50 51

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57 Die Wachmannschaft sollte aus staatlichen Angestellten bestehen, die aus Angehörigen der SA. und SS. auszuwählen seien. Die Wachmannschaft werde der ausschließlichen Befehlsgewalt des Staates unterstellt werden. Es wurde […] angeordnet, daß sofort 100 Angehörige der SA als Stammpersonal einzustellen seien.54 Durch die »ausschließliche Befehlsgewalt des Staates« und die Ergänzung, eine dauerhafte Anstellung sei »von der Bewährung abhängig« zu machen, schienen diese Pläne einen doppelten Schutzmechanismus zu beinhalten, der die staatliche Autorität sicherstellte. Die Eignung der Wachmänner war jedoch allein »nach Pol[itischen]-Grundsätzen« festzustellen.55 Eine angestrebte Trennung von Staats- und Parteiaufgaben, wie sie von Mitarbeitern staatlicher Behörden in der Rückschau gern behauptet wurde, war in diesen Plänen nicht vorhanden.56 Als Ausbilder dieser ersten SA-Stammmannschaft war der Obersturmbannführer Walter Engel vorgesehen, der die Leitung der Osnabrücker SA-Standarte 78 innehatte. Da Engel in der Osnabrücker Staatspolizeistelle beschäftigt war, konnte Aderhold umgehend mit ihm verhandeln. Noch am gleichen Tag versicherte Engel seine Bereitschaft, die Ausbildung zu übernehmen. Drei Tage später, am 16. November, wurde mit der Aufstellung des Vorauskommandos begonnen, das vor allem aus Männern der SA-Brigade 64 mit Sitz in Osnabrück rekrutiert wurde. Da eine Bereitschaftseinheit der Landespolizeiabteilung die Bewachung der Lager übernommen hatte, konnte dieser erste Teil der neuen SA-Wachmannschaften in der Osnabrücker Polizeikaserne untergebracht werden. Neben Engel gehörte diesem Vorauskommando bereits der als Lagerführer vorgesehene Obersturmführer Waldemar Schmidt an. Die Ausbildung in Osnabrück dauerte nur wenige Tage, bevor die SA-Männer ins Emsland verlegt wurden.57 Auch hinsichtlich der Aufstellung weiterer Wachmannschaften gab es am 13. November bereits Vorstellungen. Nach seinem Telefonat mit dem preußischen Justizministerium notierte Aderhold dazu: Weitere 400 Mann seien einzuberufen, sobald das Lager Oberlangen bezugsfertig sei. Von diesen 400 Mann seien 80 % aus der SA und 20 % aus der SS zu entnehmen. […] Hinsichtlich der SA-Angehörigen sei die Verbindung mit der Gruppe Nordsee aufzunehmen, die insbesondere darauf hinzuweisen sei, daß ausschließlich bodenständige und bodenverwachsene Leute zu stellen seien,

Personalakte Walter Engel, NLA Osnabrück Rep 430 Dez 101 Akz 2004 /033 Nr. 27 (im Folgenden: PA Engel). 55 Ebd. 56 Vgl. in diesem Zusammenhang besonders Diels: Lucifer. Einen ähnlichen Standpunkt vertreten auch Kosthorst und Walter; vgl. KW I, S. 84 f. 57 Vgl. PA Engel. 54

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58 die unter Umständen die Absicht hätten, in den neu zu kultivierenden Gebieten sich anzusiedeln.58 An dieser Stelle wurde erstmalig der Gedanke entwickelt, den Wachmannschaften des Lagersystems eigene Siedlerstellen in Aussicht zu stellen, der in den kommenden Jahren für die Selbstlegitimation der ›Moor-SA‹ und als Bindekraft gegenüber den einzelnen SA-Männern einen zentralen Stellenwert haben sollte. Es ist anzunehmen, dass diese Überlegungen im preußischen Justizministerium dazu gedacht waren, die schroffen Gegensätze, die zwischen dem ländlich geprägten katholischen Milieu im Emsland und den hauptsächlich aus dem Ruhrgebiet stammenden SS-Wachmännern bestanden hatten, für die zukünftigen Wachmannschaften abzumildern. Durch die in Aussicht gestellte Ansiedlung von SA-Männern im Emsland entstand für diese zudem ein Eigeninteresse an einem halbwegs reibungsfreien Verhältnis zur lokalen Bevölkerung. Nachdem die ›Stammmannschaft‹ vermutlich ab dem 21. November in das inzwischen fertiggestellte Lager Oberlangen verlegt worden war, trafen gegen Monatsende mehrere hundert weitere SA-Männer dort ein. Da noch keine Straßenanbindung bestand, mussten die letzten Kilometer mit der Feldbahn zurückgelegt werden. Einer der damals neu eintreffenden SA-Männer beschrieb seine Ankunft im Emsland später so: Im November 1933 kamen wir nach Haren; wir waren etwa 200 Leute. In Haren standen einige Lkw bereit, zunächst mußten wir antreten. […] Die Lkw […] brachten uns nach Erika (Schleuse 89). Hier war die Welt gewissermaßen mit Brettern zugenagelt; hier wurden wir abgeladen.59 Die Ausbildung übernahmen Obersturmbannführer Engel und SA-Männer des Vorkommandos, aber auch anwesende Polizeioffiziere. Weder die Wasserversorgung noch der Stromanschluss waren im Lager fertig installiert. Wasser musste mit Handpumpen beschafft werden, Strom gab es nur im einige Kilometer entfernt gelegenen Lager Neusustrum. Aus diesem kamen zudem täglich Häftlinge, um am weiteren Aufbau des Lagers zu arbeiten.60 Ebd. Unter Einbezug des ›Stammpersonals‹ hätte sich so ein Anteil von 16 % aus SS-Männern ergeben. Dieser Verteilungsschlüssel hätte eine Umkehrung der Verhältnisse in den vorherigen Wachmannschaften bedeutet, von denen etwa 80 % aus der SS und 20 % aus der SA kamen. Vgl. Knoch: Kampf. 59 Unterlagen Bernhard W., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Darüber, dass sich dieser Eindruck auch in den Folgejahren kaum ändern sollte, gibt ein anderer Wachmann im Interview Auskunft. Vgl. Archiv AK DIZ, Interviewbestände, AV.EL_Int.GR.06. 60 Vgl. Unterlagen Bernhard W., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I und Lüerßen: Moorsoldaten, S. 41. 58

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59 Vorbereitungen zur Wachübernahme Sollten sich Mitarbeiter im Preußischen Innenministerium Hoffnung gemacht haben, nun dauerhaft die Kontrolle über die Emslandlager erhalten zu haben, wurden diese enttäuscht. Bereits im Oktober 1933 entstand auf Betreiben Hermann Görings der Entwurf für das 2. Gestapo-Gesetz, das aber erst am 30. November verabschiedet werden sollte.61 Damit wurde das Gestapa Göring direkt unterstellt und endgültig aus dem Innenministerium ausgegliedert. Dieser wollte die Gestapo dadurch als eigene ›Hausmacht‹ etablieren und der drohenden Einflussnahme anderer Stellen entziehen: Zum einen drohte sie, im Zuge der Gleichschaltung an das Reichsinnenministerium überzugehen, zum anderen gelang es Heinrich Himmler, in einer steigenden Zahl anderer Länder die politische Polizei zu übernehmen. Auch die Versuche Grauerts und Dalueges, die Gestapo wieder stärker in die innere Verwaltung einzubinden, liefen Görings Machtbestrebungen zuwider.62 Am 29. November übertrug Göring Rudolf Diels die Oberaufsicht über die preußischen Lager: »Die Kommandanten der Konzentrationslager unterstehen künftig dem Geheimen Staatspolizeiamt unmittelbar.«63 Die Bestrebungen zu Aufbau und Zentralisierung eines preußischen Lagersystems setzte Diels nicht fort. Kurt Daluege schrieb dazu am 22. Dezember 1933: »Zum mindesten erscheint mir eins sicher, daß Göring sich mit Diels gegenüber der Stellung Himmlers keinerlei Unterstützung geschaffen hat.«64 In den Lagern selbst hatte nach der Ablösung der SS-Wachmannschaften zum 15. November Polizeimajor Gümbel das Kommando übernommen. Verwaltungsdirektor Bergmann blieb im Amt, wurde nun jedoch dem Polizeikommandanten untergeordnet und leitete nur noch die neu eingerichtete Abteilung ›Wirtschaftsverwaltung‹.65 Auch in den Lagern selbst manifestierte sich damit in der zweiten Novemberhälfte das endgültige Scheitern der ›Direktorialverfassung‹. Während die neuen Wachmannschaften von Polizeioffizieren und SA-Führern in Oberlangen ausgebildet wurden, übernahmen vorläufig normale Schutzpolizisten die Bewachung der Lager. Die vorgesehene Abordnung von 105 SS-Männern scheiterte am Einspruch des Reichsführer-SS, vermutlich weil dieser Einsatz außerhalb seiner Kontrolle gelegen hätte und Himmlers Zielvorstellungen bereits deutlich weiter reichten.66 Allerdings wurden im Zuge der Auflösung der frühen Konzentrationslager Brandenburg und Sonnenburg »etwa 70 SS-Männer, die sonst zur

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Vgl. Graf: Polizei, S. 139–152. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 59 u. 85 f. Zit. n. ebd., S. 85. Zit. n. ebd., S. 60. Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 279 f. Vgl. ebd., S. 282.

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60 Entlassung gekommen wären, in die Wachtruppe für die Lager im Emsland aufgenommen.«67 Von ihnen wurden 45 Männer, die im August 1934 noch Mitglieder der Wachmannschaft waren, in die SA übernommen.68 Auch Angehörige der vorherigen Wachmannschaften wurden in die neue Wachtruppe übernommen. Zwar antwortete die Bezirksregierung in Osnabrück auf das Gesuch eines ehemaligen SS-Wachmanns um erneute Anstellung, »daß Angehörige der SS, die der früheren SS-Wachmannschaft in Börgermoor usw. angehört haben, aus grundsätzlichen Erwägungen für eine Wiedereinstellung nicht in Betracht kommen können.«69 Jedoch wurde dies weder konsequent noch auf Dauer für alle ehemaligen Wachen aufrechterhalten. Als ein Wachmann am 6. November 1938 sein Entlassungsgeld beantragte, gab er zur Dauer seiner Anstellung im Emsland an: Ich bin seit dem 25.  August 1933 in den hiesigen Lagern im Moor tätig. Am 23. Febr. 1933 wurde ich als SA-Mann zur Hilfspolizei einberufen (in Breslau). Bei der Eröffnung des Breslauer Konzentrationslagers wurde ich in die Wachttruppe desselben abkommandiert. Nach der Auflösung desselben am 23. August 1933 wurde ich mit mehreren Kameraden nach dem Staatl. Konzentrationslager Esterwegen kommandiert. Bei dem im November 1933 stattgefundnen Wechsel der Wachttruppe verblieben wir auf Befehl des Herrn Ministerpräsidenten Göring mit der Schutzpolizei im Lager. Am 25. November wurde ich als Lagerwachtmeister in die neue Wachttruppe übernommen. März 1934 wurde ich zur Ausbildung der neueingestellten Wachtmänner in das neu erbaute Lager III, Brual-Rhede kommandiert.70 Insofern wurde ein Teil der ehemaligen Wachtruppe nicht nur weiterhin beschäftigt, sondern übernahm auch eine Ausbilderfunktion für die neuen Wachmänner. Zudem ist auch für einzelne andere Wachmänner der SS-Phase eine Wiederanstellung bekannt.71 Auch in den Häftlingsberichten ehemaliger Strafgefangener, die ab April 1934 in den meisten Lagern inhaftiert waren, gibt es entsprechende Hinweise. Während einem der ersten Transporte in das neue Lager Brual-Rhede nutzte beispielsweise ein Wachmann seine vorherige Anstellung als Druckmittel:

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Zugehörigkeit der Wachtmannschaften zur SA bezw. SS [1934], in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Vgl. ebd. Dieser Vorgang dürfte im Zusammenhang mit der zeitgleich erfolgenden Übernahme von SA-Männern für das nun wieder unter SS-Bewachung stehende KZ Esterwegen gestanden haben. Vgl. Riedel: Loritz, S. 99. Regierungspräsident Osnabrück, 1. 12. 1933, in: KW I, S. 193. Personalakte Konrad Schmidt, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1094. Vgl. BA Berlin PK G 0054. Etablierung

61 ›Fresse, hierher drehen!‹ brüllte der Kommandoführer sie an: ›Ich will sehen, ob ich alte Bekannte aus Lager fünf [d. h. Neusustrum, D. R.] finde.‹ Er ging die Reihen entlang, ohne einen früheren Schutzhäftling wiederzuerkennen: ›Wer ist in Lager fünf in Schutzhaft gewesen?‹ Drei Mann traten vor. ›Aha! Na, dann kennt Ihr mich ja, könnt euren Kameraden gleich sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Mit der Humanitätsduselei ist es aus. Als Schutzhäftlinge hattet Ihr noch einige Freiheiten und seid dementsprechend behandelt worden. Das ist nun aus! Verlasst euch darauf, das ist aus! Los! Rechts um: Marsch!‹72 Die Übernahme der Bewachung durch die neu aufgestellten SA-Wachmannschaften wurde Anfang Dezember 1933 nochmals in Frage gestellt. Viktor Lutze, Oberpräsident der Provinz Hannover, ließ dem Regierungspräsidium in Osnabrück am 9. Dezember mitteilen, »dass die aus SA-Leuten gebildete Wachtruppe sofort aufzulösen sei.« Dem Bericht erstattenden Mitarbeiter zufolge hatte »der Herr Oberpräsident es stark beanstandet, dass er bei der ganzen Angelegenheit bisher völlig ausgeschaltet geblieben sei.« Ein ernsthaftes Interesse an der Auflösung der Wachmannschaften dürfte Lutze – selbst SA-Obergruppenführer und ab Juli 1934 als Nachfolger Ernst Röhms Stabschef der SA – allerdings nicht gehabt haben, da »im Falle einer Ausschaltung der SA bei der Aufstellung der Wachttruppe zahlreiche arbeitslose SA-Leute wieder ohne Erwerb« gewesen wären.73 Zudem stellte er sich damit gegen eine direkte Anordnung des Preußischen Innenministeriums, das sich diesbezüglich mit der Obersten SA-Führung abgesprochen hatte. Auch waren durch die bereits erfolgte Verlegung der neuen SA-Wachmannschaften ins Emsland sowie ihre begonnene Ausbildung Sachzwänge entstanden, die sich kaum noch hätten umkehren lassen.74 Vielmehr schien Lutze an einer eigenen Machtsteigerung gelegen zu sein, die er letztlich auch durchsetzen konnte.75 Erst mit einem Erlass vom 18. Dezember 1933 regelte Göring die Bewachungssituation der Emslandlager: Die Mannschaften und Führer sind zu Hilfspolizeibeamten zu bestellen. Die Wachtruppe hat, wie bereits in Aussicht genommen, die Schutzpolizei […] am 20. 12. 1933 abzulösen.

Wilhelm Henze: »Hochverräter raus!« Geschichten, Gedichte und Zeichnungen eines Moorsoldaten, Bremen 1992, S. 50 f. 73 Sämtliche Zitate: Dr. Schmieder, 9. 12. 1933, in: KW I, S. 194. 74 Vgl. ebd. 75 Tuchel nimmt an, dass es in der Woche nach dem 12. Dezember, ab dem sich Lutze in Berlin aufhielt, zu einer Aussprache zwischen ihm und Göring gekommen ist. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 88. 72

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62 Mit dem 20. 12. 1933 ist ferner anstelle der ursprünglich eingerichteten Verwaltungsdirektion eine ›Kommandantur der staatlichen Konzentrationslager‹ mit dem Sitz in Papenburg […] zu bilden.76 Görings eigenes Gestaltungsbedürfnis für die neue Wachtruppe war nur marginal. Außer der Maßgabe, dass sich das Anstellungsverhältnis der SA-Männer an dem einfacher Schutzpolizeibeamter zu orientieren habe, befasste er sich überwiegend und ausführlich mit den neuen Uniformen der Wachtruppe.77 Nahezu jegliche Kompetenzen zur Gestaltung des Arbeitsalltags, der Anstellung oder der Lagerordnung übergab er stattdessen an Viktor Lutze: Ihnen als Oberpräsident übertrag ich hiermit die unmittelbare Dienstaufsicht über die Kommandantur in Papenburg und sämtliche dazugehörigen Konzentrationslager. Sie werden damit Disziplinarvorgesetzter sämtlicher Beamten und Angestellten. […] Es gehört ferner zu ihren Aufgaben, alle für den Lagerbetrieb erforderlichen allgemeinen Vorschriften […] zu erlassen. Die Vorschriften sind vor ihrer Inkraftsetzung mir zur Genehmigung vorzulegen.78 Auch Personalangelegenheiten übertrug Göring an Lutze und behielt sich nur die Entscheidung über den Kommandanten sowie eine Kontrolloption für Personal des Führungsstabs vor.

Der erste SA-Kommandant : Walter Engel Sowohl der Regierungspräsident in Osnabrück als auch das Preußische Justizministerium waren bemüht, im Anstellungsverhältnis der neuen SA-Wachmannschaften einen staatliche Hoheitsanspruch zu manifestieren. Eine zusätzliche Befehlskompetenz, wie sie Fritz Weitzel als höherer SS-Führer gehabt hatte, durch die eigenmächtiges Vorgehen nachträglich legitimiert werden konnte, sollte für die neuen Wachmannschaften unbedingt vermieden werden. Vor diesem Hintergrund entstand der Vorschlag des Regierungspräsidenten, »daß die Wachtmannschaften aus der Befehlsgewalt der zuständigen SS-Formation ausscheiden« sollten.79 Ähnlich wollte das Justizministerium die Wachmänner »der ausschließlichen Befehlsgewalt

PA Engel. Vgl. ebd. 78 Ebd. 79 Regierungspräsident Osnabrück, 3. 11. 1933, in: KW I, S. 187. 76 77

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63 des Staates unterstellt« wissen.80 Diese Vorhaben waren aber mit den Angehörigen einer Parteiformation schlichtweg nicht umzusetzen, da auch die SA-Wachmannschaften ein internes Ranggefüge abbilden würden. Um sich die Loyalität der Wachmannschaften gegenüber ihrer Dienstaufsichtsbehörde in Osnabrück zu sichern, lag die Entscheidung also nahe, die Führung des SA-Männer einem Mitarbeiter der Bezirksregierung zu übertragen, wie es bei Walter Engel der Fall war. Walter Engel wurde am 4. Oktober 1902 in Dortmund geboren. Evangelisch getauft und konfirmiert, beendete Engel seine schulische Ausbildung im Alter von 16 Jahren mit der ›Reife für Obersekunda‹, also nach der zehnten Klasse. Die letzten zwei Jahre verbrachte er dabei auf einer staatlich anerkannten Privatschule.81 Am 15.  Mai 1920 begann Engel eine zwölfjährige Militärdienstzeit. Über die Zeit zwischen Schulabschluss und diesem Datum macht er in einem Lebenslauf von 1932 keine Angaben, sondern schreibt nur: »Ich wollte Soldat werden. Mein Wunsch ging auch bald in Erfüllung.«82 Engel war zunächst in Soest stationiert, wurde jedoch schon bald nach Osnabrück versetzt. Während seiner militärischen Laufbahn wurde er fünfmal befördert, letztmalig am 1. November 1927 zum Oberfeldwebel. Im Februar 1929 heiratete er. Vom 1. Oktober 1925 an besuchte Engel die Heeresfachschule für Verwaltung und Wirtschaft, um sich berufsbegleitend für eine an seinen Militärdienst anschließende Karriere im einfachen oder gehobenen mittleren Dienst in der öffentlichen Verwaltung zu qualifizieren. Den schriftlichen Teil der sogenannten ›Abschlussprüfung II für Beamtenanwärter‹ absolvierte er vom 2. bis 4. Mai 1932, konnte den mündlichen Teil aufgrund einer lebensbedrohlichen Unfallverletzung seines Vaters jedoch nicht ablegen. Der mündliche Teil der ›Abschlussprüfung I‹, den er stattdessen am 9. Juni 1932 bestand, qualifizierte ihn zwar für eine Laufbahn als Regierungssekretär, nicht jedoch als -obersekretär, wie es die eigentlich angestrebte Prüfung getan hätte. Zum Ende seiner Dienstzeit beschrieb ihn sein Vorgesetzter im Dienstleistungszeugnis als einen Mann »von vorbildlicher Arbeitsfreudigkeit und unbedingter Pflichttreue«, den er aufgrund seines Organisationstalentes weitgehend eigenständig habe arbeiten lassen können. Mehrfach hob er zudem Engels allgemeines und dienstliches Wissen hervor, das er sich durch Fleiß erworben habe. Allerdings bescheinigte der Hauptmann Engel auch, in »Gesinnung und Charakter […] unbedingt zuverlässig«83 zu sein, was wahlweise gegen sein Urteilsvermögen oder aber seine eigene Loyalität gegenüber dem politischen System der Weimarer Republik spricht. PA Engel. Vgl. ebd. 82 Ebd. 83 Ebd. 80 81

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64 Denn bereits eine Woche, nachdem Engel aus der Reichswehr ausgeschieden war, trat er am 22. Mai 1932 in die NSDAP ein. Dieser Umstand spricht dafür, dass Engel bereits zuvor Kontakte zu nationalsozialistischen Kreisen hatte und nur aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Reichswehr nicht schon früher in die Partei eintrat.84 Ein weiteres Indiz dafür ist, dass Engel wenig mehr als ein Jahr später bereits SA-Obersturmbannführer war und die Führung der SA-Standarte in Osnabrück innehatte.85 Am 26. Mai 1932 erbat Engel die Vormerkung für eine Beamtenstelle und war vom 26. August 1932 bis zum 31. Juli 1933 als Hilfsbuchhalter im Städtischen Betriebsamt in Osnabrück tätig. Ursprünglich hatte er sich zum 1. August auf eine Stelle bei der politischen Staatspolizei des Regierungsbezirks Osnabrück beworben, war dort aber erst ab dem 1. Oktober 1933 beschäftigt. Einen Monat später ersuchte der Osnabrücker Regierungspräsident beim preußischen Finanzminister, Engel trotz der fehlenden Prüfung auf eine freie Regierungsobersekretärsstelle berufen zu dürfen, was er vor allem mit Engels Engagement für die nationalsozialistische Bewegung begründete. Die positive Rückmeldung des Finanzministeriums vom 15. November 1933, nach der Engel umgehend seinen Probedienst als Regierungsbürodietär antreten sollte, kollidierte jedoch schon mit der von Engel geleiteten Ausbildung der SA-Wachmannschaften, die am 13. November veranlasst worden war. Offiziell ab dem 16. November betrieb Engel die Aufstellung des Vorauskommandos für die neuen SA-Wachmannschaften.86 Seine offizielle Dienstbezeichnung lautete zunächst ›Adjutant des Kommandanten der staatlichen Konzentrationslager‹; als solcher leitete er die Ausbildung der SA-Männer und hatte seinen Dienstort in der Kommandantur in Papenburg. Zudem übernahm Engel nach seiner Ankunft im Emsland die Führung der Papenburger SA-Standarte 229.87 Engel scheint maßgeblich für die rudimentäre Ausgestaltung der Wachmannschaftsausbildung, die nur aus Exzerzieren, Sport und Schießübungen bestand, verantwortlich gewesen zu sein. In sämtlichen bekannten Akten zur Aufstellung der neuen Wachmannschaften wird Engel als verantwortlicher Ausbilder genannt, ohne dass Auflagen seitens des Ministeriums oder des Regierungspräsidiums in Osnabrück gemacht worden wären.88 Engels Gehalt lag zunächst bei 300 RM im Monat, wurde jedoch im Erlass Her84

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Laut § 36 des Reichswehrgesetzes vom 23. 3. 1921 war es Soldaten verboten, sich politisch zu betätigen. Darunter fielen sowohl die »Zugehörigkeit zu politischen Vereinen« als auch die »Teilnahme an politischen Veranstaltungen« (RGBl 1921, S. 337). Umgekehrt hatte Hitler am 5. 12. 1928 allen NSDAP-Mitgliedern den Eintritt in die Reichswehr verboten. Vgl. Dirk Richhardt: Auswahl und Ausbildung junger Offiziere 1930–1945. Zur sozialen Genese des deutschen Offizierkorps, Diss. Universität Marburg 2003, S. 38. Vgl. Klausch, Tätergeschichten, S. 282. Vgl. PA Engel. Vgl. Klausch, Tätergeschichten, S. 282. Vgl. KW I, S. 191 u. Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Etablierung

65 mann Görings vom 18.  Dezember 1933, der die Aufstellung und Besoldung der SA-Wachmannschaften sowie die Übernahme der Bewachung durch diese regelte, auf 400 RM monatlich erhöht. Nach der Ablösung der Schutzpolizei am 20. Dezember 1933 übernahm Engel de facto auch die Leitung der staatlichen Konzentrationslager. Er blieb zwar weiterhin formal Adjutant des Kommandanten, dessen Geschäfte Polizeimajor Gotthilf Hoffmann, Dezernent für Schutzpolizei- und Landjägerangelegenheiten bei der Bezirksregierung in Osnabrück, kommissarisch wahrnahm. Da Hoffmann jedoch bis auf zwei Tage pro Woche in Osnabrück eingebunden war, war es Engel, der tatsächlich die Dienstgeschäfte des Kommandanten übernahm. Ohne auch nur einen Tag seines Probedienstes als Regierungsbürodietär abgeleistet zu haben, wurde Walter Engel am 23. März 1934 zum Regierungsobersekretär ernannt. Zuvor hatte er im Januar 1934 eine kurze mündliche Prüfung beim Osnabrücker Regierungspräsidium ablegen müssen, mit der seine Eignung für die Stelle festgestellt werden sollte. Somit konnte er den fehlenden Teil seiner Abschlussprüfung ausgleichen. Engel blieb jedoch auch nach der dauerhaften Übernahme ins Beamtenverhältnis weiterhin ohne Dienstbezüge beurlaubt, um seine Stellung im Emsland wahrnehmen zu können. Ab dem 16. Mai 1934 fungierte Engel als ›stellvertretender Kommandant der staatlichen Konzentrationslager‹. Bereits Ende April war Polizeimajor Hoffmann vollständig zurück nach Osnabrück beordert worden, da die meisten vorhandenen Lager inzwischen von der Justizverwaltung übernommen worden waren. Engel war somit nur noch Kommandant des Doppellagers Esterwegen, dessen Kommandoführer Heinrich Remmert und August Linnemann die eigentlichen Lagerleiter vor Ort waren.89 Nachdem Himmler sich das KZ Esterwegen am 21. Juni 1934 unmittelbar unterstellt hatte, übernahm zum 9. Juli 1934 Hans Loritz das Oberkommando über das Doppellager, das kurz darauf von Theodor Eicke, dem Leiter der neu gegründeten ›Inspektion der Konzentrationslager‹, nach dem ›Dachauer-Modell‹ reorganisiert werden sollte. Walter Engel erhielt im Zuge dieser Umstellung das Angebot, in die SS überzutreten und das KZ Sachsenburg zu übernehmen, lehnte aber ab.90 Dennoch stellte ihm Heinrich Himmler im November 1934 ein äußerst positives Dienstleistungszeugnis aus: Sowohl mein Amtsvorgänger wie auch ich selbst haben Engel während seiner Amtstätigkeit in Papenburg als in jeder Hinsicht zuverlässige und tüchtige Arbeitskraft sowie als pflichttreuen und energischen Soldaten kennen- und schätzen gelernt. Die ihm übertragenen Aufgaben und Dienstobliegenheiten hat En89 90

Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 283. Vgl. Riedel: Loritz, S. 98 f.

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66 gel trotz der schwierigen Verhältnisse im Moorgebiet von Papenburg stets mit anerkanntem Fleiß und Geschick zur vollsten Zufriedenheit seiner Dienstvorgesetzten ausgeführt […]. Das Ausscheiden dieses bewährten Mitarbeiters und Kämpfers, das […] auf eigenen Wunsch erfolgt, kann ich im Interesse des Dienstes nur bedauern.91 Engel schied offiziell zum 31. Juli 1934 aus seiner Anstellung bei den staatlichen Konzentrationslagern aus. Er kehrte jedoch nicht umgehend nach Osnabrück zurück, sondern übernahm bereits am 25. Juni die Geschäfte des Stabsführers der SABrigade 61 in Hannover.92 Dafür wurde er von der Bezirksregierung in Osnabrück bis zum 31. Dezember 1935 beurlaubt. Auch bei dieser Arbeit wurde Engel im nationalsozialistischen Sinne positiv beurteilt: E. ist sehr umsichtig, energisch und gewissenhaft. Als Vorgesetzter weiß er sich in allen Lagen durchzusetzen. Er vereinigt mit ausgesprochener Initiative auch ein besonderes ›Fingerspitzengefühl‹. E. ist gerade und offen. Charakterlich und weltanschaulich unbedingt gefestigt. Er ist ferner auch ausgesprochener Kamerad und setzt sich demgemäß auch sehr für seine Untergebenen ein. […] Engel füllt seine Dienststellung in jeder Hinsicht sehr gut aus.93 Zum Jahresbeginn 1936 trat Engel schließlich doch noch seinen Dienst bei der Regierung in Osnabrück an. Im September 1938 wurde er zum Leiter des Polizeibüros und als solcher im Januar 1939 zum Regierungsinspektor befördert. Auch hier wurde sein Verhalten als »einwandfrei« beurteilt.94 Zwischen Juni 1933 und August 1937 wurde Engel Vater dreier Kinder. Am 27. August 1939 wurde Engel eingezogen und war ab 1940 als Oberleutnant in Osnabrück stationiert. Am 19. November 1942 verunglückte Engel – inzwischen als Hauptmann mit einem Grenadierregiment in Port en Bessin in der Normandie stationiert – mit seinem Pferd auf dem Rückweg zu seiner Unterkunft und starb noch während der Fahrt ins Lazarett von Bayeux.

PA Engel. Auch hierbei ist eine Verbindung zu Viktor Lutze, Engels vorherigem Dienstherrn und nun, nach dem ›Röhm-Putsch‹, neuem Stabschef der SA, naheliegend, findet sich in den Quellen jedoch nicht wieder. 93 Ebd. 94 Ebd. 91 92

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67 Die staatlichen Konzentrationslager unter SA-Bewachung Als Engel am 20. Dezember 1933 das Kommando über die SA-Wachmannschaften übernahm, unterstanden ihm vier Lager mit ihren jeweiligen Kommandanten. Obersturmführer Waldemar Schmidt leitete das KZ Börgermoor, Sturmhauptführer Heinrich Remmert das KZ Esterwegen II, Obersturmführer August Linnemann das KZ Esterwegen III und Sturmbannführer Hans Giese das KZ Neusustrum.95 Unmittelbar nachdem die SA-Männer offiziell ihren Dienst begonnen hatten, besuchten Rudolf Diels und Regierungspräsident Eggers die Lager und verkündeten, dass etwa 1.500 Gefangene im Zuge einer ›Weihnachtsamnestie‹ aus der Haft entlassen würden.96 Die Gefangenenzahlen sollten auch zu Beginn des Jahres 1934 weiter absinken. Waren die Lager vor der ›Weihnachtsamnestie‹ – bei einer Kapazität für insgesamt 4.000 Gefangene – noch nahezu voll belegt, lag die Zahl der Schutzhaftgefangenen am 25. April 1934 noch bei 1.162, war also um etwa 71 Prozent gesunken.97 Bereits wenige Tage nach dem Dienstantritt der SA gab es die ersten Todesfälle in den Lagern. Am 4. Januar wurden bei einem Arbeitskommando des Lagers Neusustrum die Häftlinge August Henning und Ludwig Pappenheim angeblich ›auf der Flucht‹ erschossen.98 Auch die nächsten beiden Todesfälle ereigneten sich unter dem Kommando Gieses. Am 25. Februar 1934 verstarb der kommunistische Häftling Otto Böhne aus Wuppertal an einer Lungenentzündung. Wenige Tage, bevor die Justizverwaltung zum April 1934 das Lager Neusustrum übernahm, wurde der 22-jährige Herbert Schiemann am 20. März 1934 ›tot aufgefunden‹. Zwischen der Übernahme der Bewachung durch die SA und der Übernahme der Zuständigkeit für die Lager durch das Justizministerium am 1. April 1934 gab es nur einen einzigen Todesfall, der sich nicht im Zuständigkeitsbereich des Lagers Neusustrum ereignete, sondern im Lager Esterwegen III. Dabei handelte es sich anscheinend um Selbstmord.99 Auf organisatorischer Ebene sollte sich zunächst wenig ändern. So blieben laut Johannes Tuchel »Improvisation und Chaos […] für die Verwaltung und Orga95 96 97 98 99

Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 285 sowie Ermittlungsverfahren Hans Giese, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 2001 /054 Nr. 124 (im Folgenden: Ermittlungen Giese II). Vgl. EZ, 21. 12. 1933; EZ 23. 12. 1933 sowie Buck: Esterwegen, S. 214. Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 285. Vgl. Kommandantur der staatlichen Konzentrationslager, 4. 1. 1933, in: KW I, S. 196. Diese nur schlecht kaschierten Morde werden im Kapitel II.2 dieser Arbeit ausführlich betrachtet. Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 283–286. Diesen fünf Todesfällen stehen elf aus der Zeit der SS-Bewachung zwischen 2. September und 6. November 1933 gegenüber. Klausch weist zu Recht darauf hin, dass bei diesem Vergleich die deutlich geringere Belegung der Lager – für das Lager Neusustrum ermittelt er einen Durchschnittswert von 400 Häftlingen – in der Anfangszeit der SA-Bewachung zu berücksichtigen ist.

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68 nisation der preußischen Konzentrationslager Ende 1933 und im ersten Halbjahr 1934 kennzeichnend.«100 Zwar legte Viktor Lutze am 20. Januar 1934 dem Geheimen Staatspolizeiamt einen Entwurf für neue organisatorische Bestimmungen vor, jedoch blieb dieser anscheinend unbeachtet.101 Auch in den Lagern selbst war der bürokratische Organisationsgrad verschwindend gering. Noch im April 1934 konnte Verwaltungsdirektor Bergmann dem Preußischen Innenministerium keine ordnungsgemäße Haushaltsabrechnung vorlegen.102 Hermann Görings Desinteresse an dem Lagersystem im Emsland wich im Februar allerdings Plänen zur Umwidmung der Lager. So wandte sich der Ministerpräsident am 15. Februar an das preußische Landwirtschaftsministerium und erbat Vorschläge, wie mit den Lagern weiter zu verfahren sei: Aus Anlaß der produktiven Beschäftigung politischer Häftlinge in den Moorkulturlagern im Regierungsbezirk Osnabrück sind mir mehrfach Anregungen über eine großzügige Moorkultivierung dieser Gegend nach dem Vorbild der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe, und zwar mit Häftlingen aller Art (politische Häftlinge, Sicherungsverwahrte, Berufsverbrecher, Strafgefangene) unterbreitet worden.103 Damit waren Inhaftierungsform und -gründe in den Hintergrund getreten. Die Moorkultivierung hingegen wurde als Großprojekt analog zu den Arbeiten im faschistischen Italien als zukünftige Hauptaufgabe deklariert. Ob Göring insgeheim schon länger an einem entsprechenden Funktionswandel der Lager interessiert war oder entsprechende Vorschläge neu an ihn herangetragen worden waren, lässt sich nicht rekonstruieren.104 Seine Passivität gegenüber Lutzes Anmeldung von Kompetenzansprüchen im Dezember lässt sich in beide Richtungen interpretieren. Aufgrund eines Erlasses vom 20. Februar 1934 ging die Zuständigkeit für die Lager schließlich auf das Preußische Justizministerium unter Hanns Kerrl und im Zuge der Gleichschaltung der Länder zum 23. Juni 1934 auf Reichsjustizminister Franz Gürtner über.105 Bereits im Vorjahr hatte Kerrl das Konzentrationslager Oranienburg besichtigt 100 101 102 103 104

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Tuchel: Konzentrationslager, S. 87. Vgl. Drobisch: Studien, S. 101 f. Vgl. NLA Osnabrück, Rep 430 Dez 502 Akz 11 /63 Nr. 2. Zit. n. Tuchel: Konzentrationslager, S. 90. Franz Janich, der schon im Preußischen Innenministerium und später im Gestapa mit den emsländischen Lagern befasst war, scheint auch in diese Planungen involviert gewesen zu sein und wurde an das Preußische Landwirtschaftsministerium abgeordnet. Vgl. ebd.; zur Biographie Janichs vgl. Graf: Polizei, S. 357. Vgl. Einsatz von Gefangenen und RAD bei der Moorkultivierung 1934–1939, BA Berlin ZM 1682 A 6. Etablierung

69 und dabei dessen Kommandanten Werner Schäfer kennengelernt, dem er daraufhin die Leitung des Referendarlagers in Jüterbog antrug. Schäfer lehnte jedoch ab, da er sich dieser Verwendung nicht gewachsen sah.106 Im Februar 1934 machte ihm Kerrl ein erneutes Angebot, diesmal zur Führung der emsländischen Lager. Nach einiger Bedenkzeit und einer gemeinsamen Besichtigung der Lager im März 1934, an der neben Kerrl noch Ministerialdirektor Wilhelm Crohne und Ministerialrat Rudolf Marx teilnahmen, stand Schäfer dem Angebot auch weiterhin reserviert gegenüber, da ihm »der krasse Wechsel zwischen Berlin und Papenburg nicht gefiel.«107 Nach weiterem Zureden der Ministerialbeamten und der Zusage, Teile seines Stabes, seinen Fahrer und einen Kfz-Mechaniker mitnehmen zu können, erklärte sich Schäfer am 23. März 1934 zur Übernahme der Lager bereit.108

Kommandeur der ›Moor-SA‹ : Werner Schäfer Werner Schäfer wurde am 18. April 1904 in Straßburg geboren, wo sein Vater als Obermusikmeister beim Heer stationiert war. Dort besuchte er bis 1918 die Oberrealschule. Nach dem verlorenen Weltkrieg wurde der Vater entlassen; der Wohnort der Familie wechselte in den nächsten Jahren häufig. Schäfer besuchte Realschulen in Berlin und Kassel. Nach seiner Einjährigenprüfung besuchte er noch einige Monate lang die Obersekunda, musste die Schule aufgrund der schwierigen finanziellen Lage seiner Eltern jedoch abbrechen.109 Stattdessen nahm er vorübergehend verschiedene Gelegenheitsarbeiten als Eisenleger, Erdarbeiter beim Bau einer Talsperre und »Klavierspieler bei einer Russentruppe« an.110 Eine erste Lehre begann er im Januar 1922 bei der AGMA (auch »Agema«), einer Firma zur Herstellung elektromedizinischer Geräte, musste sie aber aufgrund des Bankrotts der Firma im September 1923 wieder aufgeben. Stattdessen begann er eine zweite Lehre bei der Wertheim-Bank in Berlin, die er 1925 abschloss.111 Da-

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Vgl. Urteil im Schwurgerichtsverfahren gegen Werner Schäfer, in: KW III, S. 2654–2733, hier: 2656 (im Folgenden: Urteil Schäfer 1950). Zum Referendarlager ›Hanns Kerrl‹ vgl. Folker Schmerbach: Das »Gemeinschaftslager Hanns Kerrl« für Referendare in Jüterbog 1933–1939, Tübingen 2008 sowie als Erfahrungsbericht Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914–1933, München 2002, S. 253–287. Urteil Schäfer 1950, S. 2656. Vgl. BA Berlin ZM 1682 A 6. Zu Kerrls Ansicht, dass Schäfer zur Führung der Justizlager geeignet sei, mag auch dessen bereitwillige Unterstellung des von der SA eingerichteten Lagers Oranienburg unter das Preußische Innenministerium beigetragen haben. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 43. Vgl. PA Schäfer. Urteil Schäfer 1950, S. 2655. Vgl. PA Schäfer.

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70 nach wollte er sich als Offiziersanwärter bei der Marine bewerben, reichte seine Unterlagen jedoch zu spät ein. Im April 1926 wurde er Anwärter bei der Schutzpolizei und zwölf Monate lang an einer Polizeischule in Brandenburg an der Havel ausgebildet. Anschließend war er als Polizeiunterwachtmeister in Berlin-Mitte tätig und wurde im Oktober 1927 zum Wachtmeister befördert. Sein Ausscheiden zum 7. Mai 1928 begründete er später damit, dass er sich aufgrund seiner politischen Einstellung an den »der Systemregierung gegebenen Eid nicht mehr gebunden« fühlte.112 Bereits im Januar 1928 hatte er sich bei der Kreissparkasse Niederbarnim beworben, bei der er darauf hin eine Anstellung fand. In seinen Bewerbungsunterlagen äußerte er jedoch eine andere Motivation für sein Ausscheiden aus dem Polizeidienst: Auf Grund ministerieller Verfügungen, die eine ganz besondere Härte für die mit nur Obersekundareife eingestellten Offiziersanwärter bedeuten […], sind nunmehr die Aufstiegsmöglichkeiten derart gemindert worden, dass […] die Polizei-Offizierslaufbahn so gut wie aussichtslos erscheint.113 Auch wenn dies seine späteren Angaben in ihrer Glaubwürdigkeit zumindest einschränkt, ist Schäfers politischer Aktivismus bereits in jungen Jahren dokumentiert: Dem völkischen Verband »Olympia – Verein für Leibesübungen« in Berlin gehörte er von 1921 bis 1925 an. Dabei handelte es sich de facto um einen Wehrverband, in dem sich ehemalige Frontsoldaten und Freikorpsangehörige organisierten und in 23 »Sportgruppen« Nachwuchs aus dem bürgerlichen Milieu paramilitärisch schulten.114 Schäfer, der seit 1922 Kameradschaftsführer gewesen war, erklärte seinen Eintritt später damit, es habe sich um die »damals stärkste Organisation in Berlin« gehandelt, »die völkisch eingestellt war.«115 Nach dem Verbot der Olympia im Sommer 1926 traten viele Mitglieder zur SA über, Schäfer als Polizeianwärter allerdings nicht.116 Wenige Monate nach seinem Wechsel zur Sparkasse trat Schäfer schließlich am 1. November 1928 mit der Mitgliedsnummer 102.539 in die NSDAP ein. 112

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Ebd. Zum Verhältnis von Schutzpolizei und Rechtsextremismus vgl. Daniel Schmidt: Schützen und Dienen. Polizisten im Ruhrgebiet in Demokratie und Diktatur 1919–1939, Essen 2009. Lebenslauf 16. 1. 1928, in: PA Schäfer. Vgl. Bernd Kruppa: Rechtsradikalismus in Berlin 1918–1928, Berlin (West) / New York 1988 und Kurt Finker: Olympia. Deutscher Verein für Leibesübungen, in: Dieter Fricke (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 3, Leipzig 1985, S. 548. SA-Stammrolle, in: PA Schäfer. Vgl. Kruppa: Rechtsradikalismus, S. 318 f. Es liegt nahe, dass Schäfer anlässlich seiner Bewerbung für den Polizeidienst aus der Olympia austrat. Etablierung

71 Abb. 2 :

Porträtfoto Werner Schäfers mit Widmung für einen SA-Wachmann, ca. 1936 (Widmung nach 1938).

Bereits kurz zuvor, am 1. September 1928, war er beruflich zum Vorsteher einer neu eingerichteten Nebenkasse in Klosterfelde aufgestiegen. Neben seiner Angestelltentätigkeit wurde Schäfer zunehmend politisch aktiv. Er wurde zum Kreistagsabgeordneten gewählt und leitete die von ihm gegründete Ortsgruppe Klosterfelde von 1930 bis 1932. Am 1. Mai 1932 trat er schließlich als Truppführer der SA bei. Bereits einen Monat später wurde er Sturmführer und übernahm die Leitung des Sturmbanns V/207. Seit Oktober 1930 war Schäfer verheiratet.117 Im Oktober 1932 sollte Schäfer auf eine Verwaltungsstelle bei der Hauptkasse in Berlin versetzt werden, was er später als »gewollte Lahmlegung seiner politischen Tätigkeiten« auslegte.118 Daraufhin kündigte er zum Ende des Jahres und wurde 117 118

Vgl. PA Schäfer. Urteil in der Dienststrafsache gegen Werner Schäfer vom 3. 6. 1938, NLA Osnabrück Rep 945 Nr. 48 (im Folgenden: Urteil Schäfer 1938).

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72 bis dahin unter Fortzahlung seiner Dienstbezüge beurlaubt. Anfang 1933 arbeitete er kurzfristig als Zeitungsfahrer für das NS-Organ »Der Angriff«. Im März 1933 wurde er zum Sturmbannführer des SA-Sturmbanns I/208 in Oranienburg ernannt. Damit wurde er auch Leiter der lokalen Hilfspolizei und gründete als solcher am 21. März 1933 das Konzentrationslager Oranienburg.119 Schäfers Werdegang in der Weimarer Republik ist von Elke Suhr so interpretiert worden, dass er »in verschiedenen Berufszweigen gescheitert war«.120 Sicherlich entsprach sein ungerader Lebensweg nicht den bürgerlichen Idealvorstellungen. Allerdings hatte er sowohl bei der Wertheim-Bank als auch im Polizeidienst die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen.121 Prägend für Schäfers Biographie sind die Empfindung eines sozialen Abstiegs der Familie als Folge des verlorenen Krieges und seine beständigen Versuche, selbst einen erneuten Aufstieg zu realisieren. Er selbst wies in seinen Personalunterlagen wiederholt darauf hin, dass ein weiterer Schulbesuch und der zu verschiedenen Zeitpunkten vorhandene Wunsch, ein Studium aufzunehmen, jeweils an den finanziellen Schwierigkeiten der Eltern scheiterten.122 Sowohl seine Stelle bei der Wertheim-Bank als auch bei der Schutzpolizei kündigte er, nachdem er anderswo größere und vor allem schnellere Aufstiegschancen ausfindig gemacht hatte. Auch seine Stelle bei der Kreissparkasse gab er von sich aus auf, als er in eine Position mit weniger Entscheidungskompetenzen versetzt werden sollte. Für Schäfers Behauptung, die Versetzung sei politisch motiviert gewesen, gibt es keinerlei Anhaltspunkte; tatsächlich wäre eine höhere Besoldung damit einhergegangen. Nach den Wahlerfolgen der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1932 und 1933 setzte Schäfer nun alles auf einen Aufstieg durch die nationalsozialistische Bewegung. Dieses bedingungslose Eintreten konnte er ebenso wie das berufliche ›Märtyrertum‹ und die kurze Arbeitslosigkeit während der Machtübertragung in ein äußerst vorteilhaftes biographisches Narrativ einfließen lassen.123 Durch seine langjährige Mitgliedschaft in völkischen Verbänden und der NSDAP, die zwischen-

Vgl. PA Schäfer. Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 61. 121 Suhr geht davon aus, dass Schäfer seine Banklehre abgebrochen hatte. Diese Angabe geht wohl auf missverständliche Formulierungen in den Gerichtsakten zurück, die besagen, dass Schäfer seine Anstellung anschließend wieder aufgab. Vgl. ebd. sowie KW III, S. 2460, 2508 u. 2655. 122 Schäfer wollte ursprünglich einen höheren Schulabschluss erlangen und anschließend ein wissenschaftliches Studium beginnen. Nach seiner Banklehre versuchte er, ein Studium an der Handelshochschule aufzunehmen und schrieb sich zwischenzeitlich als Gasthörer ein. Vgl. PA Schäfer. 123 Vgl. Werner Schäfer: Konzentrationslager Oranienburg, 1. Folge [1934], in: Archiv AK DIZ Unterlagen Werner Schäfer. Schäfer beschreibt darin geradezu pathetisch die eigene Rolle als Sturmbannführer vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit und Straßenkämpfen. 119 120

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Etablierung

73 zeitliche Tätigkeit für die Ordnungsmacht und seine Kenntnisse im Finanzwesen musste er für seine neue Stellung als Lagerkommandant geradezu prädestiniert erscheinen. Die Netzwerke, die er in seinem bisherigen Werdegang aufgebaut hatte, wusste er als Lagerkommandant kongenial zu nutzen: Durch die nach wenigen Tagen erfolgte Unterstellung unter das Regierungspräsidium Potsdam und die Kooperation sowohl mit der Gestapo als auch regulären Polizeikräften erklärt sich das relativ lange Überdauern des KZ Oranienburg. Vor allem wusste Schäfer auch seine Beziehungen zur Sparkasse einzubringen. So wurde das Lager neben Steuermitteln auch von der Kreissparkasse Oranienburg finanziert.124 Als Kommandant dieses frühen Lagers war Schäfer maßgeblich für die Haftbedingungen politischer Gegner im Großraum Berlin verantwortlich. Im Häftlingsbericht Gerhard Segers findet sich eine Charakterisierung des SA-Führers, die das weitgehend auf Selbstauskünften basierende Bild aus den Personal- und Verwaltungsakten bricht: Schäfer ist ein durchaus subalterner Mensch. Sein Haß gegen die Sozialdemokraten ist grenzenlos. Er betätigt ihn mit Vorliebe dadurch, daß er wehrlose Gefangene, die nach der Lagerordnung natürlich vor ihm strammstehen müssen, auf unflätige Weise beschimpft. Zu tätlichen Mißhandlungen durch Schläge hat sich Schäfer nicht häufig hinreißen lassen; um so freigebiger war er mit der Verhängung von Disziplinarstrafen, Dunkelarrest, Post- und Besuchssperre und Verschickung auf Strafkommandos.125 Die hier beschriebenen Maßnahmen sollten später auch in den Strafgefangenenlagern beliebte Sanktionsmittel gegen Gefangene bilden. Auch hier wandte Schäfer sich offiziell gegen Gefangenenmisshandlungen und Folter, ohne entsprechenden Verdachtsfällen ernsthaft nachzugehen. Stattdessen erklärte er, was in der »Polizei- und Vernehmungsabteilung« geschehe, »müßten die Betreffenden mit ihrem Gewissen abmachen.«126 Vgl. Bernward Dörner: Ein KZ in der Mitte der Stadt: Oranienburg, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.): Terror ohne System. Die ersten Konzentrationslager im Nationalsozialismus 1933–1935, Berlin 2001, S. 123–138; Peter Longerich: Vom Straßenkampf zum Anstaltsterror. Die Oranienburger SA und »ihr« Konzentrationslager, in: Günter Morsch (Hg.): Konzentrationslager Oranienburg, Berlin 1994, S. 23–32 und Hans Biereigel: Mit der S-Bahn in die Hölle. Wahrheiten und Lügen über das erste Nazi-KZ, Berlin 1994. Vgl. im erweiterten Kontext auch Daniel Schmidt: Die Sturmabteilung und die Staatsgewalt. Zum Verhältnis von SA und Polizei in Preußen 1930–1934, in: Müller / Zilkenat (Hg.): Bürgerkriegsarmee, S. 297–320. 125 Gerhart Seger: Oranienburg. Erster authentischer Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten, Karlsbad 1934, S. 27. 126 Ebd. 124

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74 Auch hinsichtlich der öffentlichen Darstellung des Lagers wurde Schäfer bereits in Oranienburg aktiv und sollte damit seiner späteren Tätigkeit im Emsland vorweggreifen. Nachdem erste Nachrichten über die Missstände im Lager aufkamen, ergriff Schäfer selbst die Initiative und organisierte eine Rundfunkreportage aus dem Lager. Zur Unterhaltung der SA-Führer und indirekt zur Beschwichtigung von Passanten waren eine Gefangenenkapelle und ein Chor gegründet worden, die nun Schäfers Präsentation des Lagers musikalisch untermalen mussten. Schäfer schloss schließlich mit den Worten: »Damit ist unsere Uebertragung beendet. Sie hatten einen Einblick in das singende und spielende Konzentrationslager Oranienburg.«127 Als propagandistische Reaktion auf den Anfang 1934 erschienenen Erlebnisbericht von Gerhard Seger verfasste Schäfer ein »Anti-Braunbuch«, das auszugsweise auch als Serie aus 22 Zeitungsbeilagen Verbreitung fand.128 Hier schilderte Schäfer den Machtantritt der NSDAP als sakralen Moment: »rechtzeitig genug noch vor dem Aufstand aller gegen alle – das Wunder und die Erlösung – der 30. Januar 1933.«129 Das von ihm geführte Lager stellte er unter völliger Verkehrung der realen Verhältnisse als Einrichtung zur Wiederherstellung von Ordnung dar, in der Marxisten und Deviante durch Arbeit im Sinne der ›Volksgemeinschaft‹ erzogen würden. Von den Häftlingen würden einige nach ihrer Entlassung sogar freiwillig im Lager bleiben. Gegenüber höheren Stellen bewies Schäfer Feingefühl. Im Herbst 1933 wollte das Preußische Innenministerium das KZ Oranienburg auflösen lassen. Nach heftigen Protesten der SA nahm die Behörde davon Abstand. Schäfer wiederum sträubte sich nicht gegen die Unterstellung Oranienburgs unter die Aufsicht des Ministeriums und konnte so seine Position sichern. Neben den Emslandlagern hatte Oranienburg als einziges größeres Zwangslager in Preußen im Frühjahr 1934 noch eine SA-Bewachung, während die anderen frühen SA-Lager überwiegend aufgelöst worden waren.130 Die ohnehin schon begonnene Auflösung kleinerer Lager wurde durch eine Verordnung Hermann Görings vom 11. März 1934 besiegelt, nach der sämtliche regionalen Lager und Schutzhaftgefängnisse aufzulösen seien. Zudem ließ er verbieten, dass »in Gefängnissen und Konzentrationslagern weiterhin noch SSbzw. SA-Mannschaften Verwendung finden.« Dies bezog sich ausdrücklich nicht auf SA-Männer, die »als Angehörige einer staatlichen Wachttruppe verpflichtet« wurden, wozu die Wachmannschaften im Emsland und in Oranienburg zählten.131

Ebd., S. 29. Vgl. Werner Schäfer: Konzentrationslager Oranienburg. Das Anti-Braunbuch über das erste deutsche Konzentrationslager, Berlin 1934. 129 Werner Schäfer: Konzentrationslager Oranienburg, 1. Folge [1934], in: Archiv AK DIZ Unterlagen Werner Schäfer. 130 Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 77. 131 Preußischer Ministerpräsident, 11. 3. 1934, in: KW I, S. 195. 127 128

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75 Dennoch dürfte Schäfer klar gewesen sein, dass ein SA-geführtes Konzentrationslager Oranienburg zeitlich nur begrenzt fortbestehen würde.132 Auch deshalb mag Schäfer in der zweiten Märzhälfte dem Werben Hanns Kerrls nachgegeben haben, der ihn schon seit Februar für die Leitung der Strafgefangenenlager gewinnen wollte. Auch wenn Schäfer sich zunächst gegen den Wechsel in die Provinz sträubte, bedeutete seine neue Aufgabe eine höherrangige Verwendung in einem deutlich größeren Lagersystem. Gleichzeitig versprach die Anstellung im Justizdienst eine längere Planungssicherheit. Das Kompetenzgerangel im Preußischen Innenministerium bei gleichzeitiger Abwesenheit weiterer Pläne für die Lager, die parallel verlaufende Machtakkumulation Himmlers als Chef der Ländergeheimpolizeien sowie die Auflösung der meisten frühen Lager unter SA-Bewachung dürften ihm seine Situation in Oranienburg zumindest unsicher erscheinen lassen haben. Der Machtwechsel 1933 hatte sich für Schäfer auch finanziell gelohnt. Sein Einkommen bei der Sparkasse belief sich zuletzt auf 259 RM (netto 196 RM). Als Kommandeur in Oranienburg bezog er ein Nettogehalt von 400 RM – eine Summe, die ihm Hanns Kerrl auch für seine Tätigkeit in Papenburg zusagte. Schäfers offizielle Amtsbezeichnung ab dem 1. April 1934 lautete zunächst noch »Leiter der Verwaltung der Strafgefangenenlager«. Seine Dienstbefugnisse entsprachen denen eines »Vorstehers einer besonderen Gefangenenanstalt«. Zum 1. Januar 1935 wurde er offiziell zum Strafanstaltsdirektor ernannt. Bereits 1934 wurde er aber im Schriftverkehr – auch mit dem RJM, das zwischenzeitlich die Zuständigkeit für die Lager übernommen hatte – allgemein als Kommandeur bezeichnet.133 Mit Schäfers Bestellung zum Strafanstaltsdirektor und der damit verbundenen Übernahme in das Beamtenverhältnis als Regierungsrat ging zunächst eine Verminderung seiner Dienstbezüge einher. Nach Abzug der Steuern und der weiter greifenden Gehaltskürzung für Beamte verblieben monatlich 289 RM. Schäfer brachte beim Ministerium vor, dass sein Adjutant monatlich 330 RM bekomme, Gleiches gelte für einen verheirateten Lagerleiter. Zum »Ausgleich dieser Härte«134 bat er, zusätzlich zu der ohnehin berücksichtigten Beschäftigung in Oranienburg und im Emsland seine Polizeidienstzeit sowie seine Tätigkeit als Amtswalter und SA-Führer – insgesamt fünf Jahre – auf seine Dienstzeit anzurechnen. Diese kreative Auslegung von Dienstvorschriften stieß bei der Justizverwaltung auf wenig Verständnis. Ein Härtefall liege hier keineswegs vor, die vorläufige Verminderung des Einkom-

Das Konzentrationslager Oranienburg wurde während des ›Röhm-Putschs‹ von SS-Einheiten besetzt und anschließend aufgelöst. 133 Vgl. Personalakte Werner Schäfer, BA Berlin R 3001 Nr. 73678 (im Folgenden: PA Schäfer) und Beamte, Angestellte und Lohnempfänger der Strafgefangenenlager im Emsland – ausgenommen Pfarrer, Medizinalräte und Wachtruppe, BA Berlin R 3001 Nr. 10071 (im Folgenden: Beamte etc.) 134 Gesuch 29. 12. 1934, in: PA Schäfer. 132

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76 mens sei sogar ein Regelfall. Zudem unterschreite Schäfer mit noch nicht einmal 31 Jahren das vorgesehene Mindestalter von 32 Jahren. Nach anhaltenden Protesten Schäfers wurde ihm von Roland Freisler bereits zum 1. Januar 1936 eine Strafanstaltsoberdirektorenstelle zugewiesen, womit eine monatliche Zulage von 100 RM einherging. Ab dem 23. April 1936 durfte Schäfer auf Erlass des Reichsjustizministeriums offiziell den Titel »Kommandeur der Strafgefangenenlager« führen; im Juni 1937 wurde er auch offiziell zum Oberregierungsrat und Strafanstaltsoberdirektor befördert. Bereits am 22. April 1934 war Werner Schäfer zum Obersturmbannführer der SA ernannt worden, im Folgejahr wurde er offiziell Standartenführer. Auch in anderen NS-Organisationen war Schäfer aktiv: er war Mitglied in der NSV, DAF, NS-Kriegsgräberfürsorge und dem Reichsluftschutzbund. Zudem war er, gemäß seiner Identifikation mit dem Siedlungsprojekt, Kreisbeauftragter im Reichskolonialbund. 1941 erhielt er zudem Ehrenmedaillen für deutsche Volkspflege und die ›Sudetenland-Medaille‹ zur Erinnerung an den 1. Oktober 1938. Am 29. Januar 1938 wurde Schäfer zwischenzeitlich vom Dienst suspendiert. Vorausgegangen waren Konflikte mit seinen Vorgesetzten im RJM, die ihm nun verschiedene dienstliche Verfehlungen vorwarfen.135 In einem großangelegten Dienststrafverfahren wurde Schäfer lediglich mit einem Verweis bestraft und ging de facto unbeschadet daraus hervor. Zu Beginn des Verfahrens war er von SA-Stabschef Lutze auch als SA-Standartenführer suspendiert und mit Uniformverbot belegt worden. Doch noch während des Verfahrens wurde Schäfer von Lutze in seine SA-Ämter wieder eingesetzt und zum Oberführer ernannt.136 Nachdem er Ende November 1938 von der Justizverwaltung in seiner Funktion als Kommandeur wieder eingesetzt worden war, folgte am 19. Juli 1940 eine weitere Beförderung zum Regierungsdirektor.

Übernahme der Lager durch die Justizverwaltung Zum April 1934 übernahm die Justizverwaltung schließlich die Lager Neusustrum, Oberlangen sowie das neu errichtete Lager Brual-Rhede.137 Obwohl die Übergabeverhandlungen erst am 6. April beendet waren, wurden zum Teil schon im März 1934 Strafgefangene in die Lager eingewiesen. Die Schutzhäftlinge aus Neusustrum wa-

Einer von fünf Anschuldigungspunkten war die ungenügende Überwachung der Lager, aus der die Misshandlung von Gefangenen durch SA-Wachmänner resultiert sei. Vgl. hierzu ausführlich Kap. III.5. 136 Vgl. KW III, S. 2657. 137 Zu Verzögerungen beim Bau des Lagers Brual-Rhede vgl. Habbo Knoch: Lager III Brual-Rhede. Skizzen zur Geschichte eines Emslandlagers, in: Henze: Hochverräter, S. 183– 203, hier: 187 f. 135

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77 ren zum 1. April nach Börgermoor verlegt worden. Nachdem die dortigen Schutzhaftgefangenen am 25. April in das Lager Esterwegen II verbracht worden waren, wurde ab dem 1. Mai 1934 auch Börgermoor als Strafgefangenenlager genutzt.138 Esterwegen unterstand weiterhin als Konzentrationslager dem Geheimen Staatspolizeiamt. Zu dessen Inspekteur hatte Göring am 20. April 1934 Heinrich Himmler ernannt, welcher den internen Machtkampf damit für sich entschieden hatte.139 Damit erhielt Himmler auch die Hoheit über die staatlichen Konzentrationslager in Preußen. Mit der Reorganisation dieser Lager beauftragte er Theodor Eicke, der am 20. Juni 1934 zum ›Inspekteur der Konzentrationslager‹ ernannt wurde.140 Am nächsten Tag unterstellte Himmler sich das Doppellager Esterwegen unmittelbar; neuer Kommandant wurde zum 9. Juli Hans Loritz.141 In der zweiten Julihälfte traf Eicke schließlich im Emsland ein und passte die Organisationsstruktur des KZ Esterwegen dem Dachauer Vorbild an. Zum August 1934 übernahm die SS wieder die Bewachung über das Lager. Den bisherigen SA-Wachmannschaften wurde freigestellt, ob sie in die SS übertreten wollten, was unter anderem Heinrich Remmert annahm, der fortan den SS-Wachverband führen sollte.142 Ungefähr die Hälfte der SA-Wachen lehnte dieses Angebot jedoch ab.143 Diese Männer sollten in die Wachmannschaften der neuen Strafgefangenenlager gewissermaßen rücküberführt werden. Da die vier vorhandenen Lager aber bereits in Betrieb und demnach auch die Wachmannschaften voll besetzt waren, konnten die meisten SA-Männer nicht sofort übernommen werden.144 Stattdessen wurden sie zunächst ohne Bezahlung beurlaubt und zwischenzeitlich beim Kulturbauamt Meppen, das die Arbeitsanweiser beim Einsatz der Gefangenen im Moor stellte, beschäftigt. Als die Fertigstellung der weiteren Strafgefangenenlager Aschendorfermoor und Walchum für April beziehungsweise Mai 1935 absehbar war, wurden

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141 142 143 144

Vgl. BA Berlin ZM 1682 A 6; NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225 und Klausch: Tätergeschichten, S. 285. Dies geschah vor allem, um den Machtansprüchen der SA einen eigenständigen Apparat aus SS und Gestapo entgegensetzen zu können. Vgl. Herbert: Best, S. 133–141. Vgl. Tuchel: Konzentrationslager, S. 165. Die ›Inspektion der Konzentrationslager‹ als Dienststelle der Gestapo wurde allerdings erst im Dezember 1934 gegründet. Vgl. ebd., S. 209–218 und Orth: Konzentrationslager-SS, S. 33 f. Zur Person vgl. generell Riedel: Loritz. Vgl. ebd., S. 99 f. u. Lüerßen: Moorsoldaten, S. 67–69. Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 38–40. Eine Ausnahme davon war die unmittelbare Weiterbeschäftigung des ehemaligen Lagerleiters von Esterwegen III, August Linnemann, im Lager Brual-Rhede. Da der Posten des Lagerleiters bereits besetzt war, wurde Linnemann im Justizdienst niedriger eingestuft und als Zugführer angestellt. Vgl. Gerichtsverfahren gegen August Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218.

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Abb. 3 :

Das Lager Walchum während der Bauphase 1935.

diese SA-Männer – bereits im Februar 1935 – wieder eingestellt.145 In diesem Zusammenhang wurden die Wachmannschaften von 650 auf 850 SA-Männer erweitert. Damit waren die SA-Wachmannschaften unter ihrem Kommandeur Schäfer für die Bewachung von sechs Strafgefangenenlagern zuständig: Lager I Börgermoor, Lager II Aschendorfermoor, Lager III Brual-Rhede, Lager IV Walchum, Lager V Neusustrum, Lager VI Oberlangen.146 Bis auf Walchum, das nur für 500 Gefangene ausgelegt war, lag die Kapazität der Lager bei 1.000 Häftlingen. Die ›Moor-SA‹ war nun also für einen Lagerkomplex zuständig, in dem bis zu 5.500 Justizgefangene festgehalten wurden. Für das Entstehen dieser Lager waren sowohl zentralstaatliche Interessen des Preußischen Innenministeriums als auch die Interessen lokaler und regionaler Behörden, die die Lager gewissermaßen als Infrastrukturprojekt für die Region sahen, entscheidend. Die im Innenministerium verfolgten Pläne eines zentral gesteuerten, eigenständigen preußischen Lagersystems scheiterten jedoch an den unterschiedlichen Strategien der Ministerialbeamten. Ludwig Grauert und Kurt Daluege arbeiteten zu diesem Zweck zwischenzeitlich in die gleiche Richtung, jedoch erwies sich Dalueges Entscheidung, die Bewachung der staatlichen Konzen145 146

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Vgl. Personalakte Karl Steil, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 880. Vorherige Zählweisen wichen zum Teil davon ab und wechselten mehrfach. Die hier vorgestellte Nummerierung sollte bis 1945 beibehalten werden. Etablierung

79 trationslager der SS zu überantworten, als folgenschwer. Rudolf Diels wiederum, dessen eigene Pläne für Gestapo-geführte Lager anfänglich wenig erfolgreich waren, schien keine weiterführenden Pläne für die Emslandlager zu entwickeln, nachdem diese dem Geheimen Staatspolizeiamt unterstellt worden waren. Auf Betreiben Görings wurden die meisten Lager nur wenige Wochen vor der Ernennung Himmlers zum Inspekteur des Gestapa in Strafgefangenenlager umgewandelt, die fortan dem Preußischen Justizministerium beziehungsweise bald dem Reichsjustizministerium unterstanden. Diese Beibehaltung von Kompetenzen, mit der die Justizverwaltung ein eigenes Lagermodell entwickeln konnte, war für die staatlichen Behörden ein »Teilerfolg […] in ihrer Auseinandersetzung mit SS und Gestapo«147

2. Die Konstituierung der ›Moor-SA‹. Kollektivbiographischer Hintergrund, Dienstalltag und initiierende Gewalt Während das Preußische Innenministerium und die Osnabrücker Bezirksregierung im November 1933 versuchten, mit der Aufstellung der SA-Wachmannschaften die Bewachungssituation der staatlichen Konzentrationslager dauerhaft zu sichern und dabei das Konfliktpotential gegenüber vorgesetzten staatlichen Stellen wie auch dem lokalen Milieu zu mindern, gab es für SA-Männer eigene Interessen, Stellen in der Wachmannschaft anzutreten, die über ein ideologisch motiviertes Interesse an der Verfolgung politischer Gegner weit hinausgingen. Für die Zusammensetzung der ›Moor-SA‹ waren bestimmte Dispositionen und Faktoren aus der Zeit vor 1933 von Bedeutung: ihre räumliche und soziale Herkunft, ihre Altersstruktur und ein gemeinsamer Erfahrungshorizont, den viele Wachmänner aufgrund ihrer vorigen SA-Zugehörigkeit und ähnlichen Biographieverläufen teilten. Mit der Ankunft im Emsland und der Übernahme der Bewachung am 20. Dezember 1933 war die ›Moor-SA‹ aber keinesfalls eine fertig herausgebildete Gemeinschaft. Weitere Komponenten für deren Formierung bestanden in der Ausbildungspraxis, der Dienststruktur und dem Dienstalltag in den Lagern sowie den hierarchischen Unterstellungen, die sich mit der Transformation der staatlichen Konzentrations- in Strafgefangenenlager der Justiz wandelten. In diesem männerbündisch und militärisch geprägten Umfeld entwickelten die SA-Männer eine Gewaltpraxis, die gewissermaßen als Initiationsritus für die Häftlinge fungierte. Gleichzeitig mussten die SA-Männer dabei austarieren, welches Maß an Gewalt durch die übergeordneten Stellen toleriert wurde.

147

Knoch: Emslandlager, S. 543.

Die Konstituierung der ›Moor-S

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80 Räumliche Herkunft und sozialer Hintergrund der Wachmannschaften Nur wenige der SA-Männer, die in den Wachmannschaften der Emslandlager Dienst taten, kamen aus der Region selbst. Das Emsland war durch ein homogenes, katholisches Milieu geprägt und hatte Anfang der 1930er Jahre einige der reichsweit höchsten Wahlergebnisse für das Zentrum aufzuweisen. Bei der Reichstagswahl vom 6. November 1932 stimmten in den drei Kreisen Aschendorf-Hümmling, Meppen und Lingen 76,2 Prozent der Wähler für die Deutsche Zentrumspartei. Die NSDAP hingegen hatte im Juli 1932 erstmals ein zweistelliges Ergebnis (10,1 Prozent) einfahren können, fiel im November aber auf 8,2 Prozent.148 SA-Gruppierungen wurden erst 1931 gegründet.149 Von den SA-Männern, die in diesem Umfeld zu finden waren, hatten mehrere bereits im August 1933 von der Einrichtung der Lager profitiert. Hierbei waren die Interessen lokaler SA-Verbände und der Bezirksregierung zusammengefallen. Die SA hatte – wie auch der Stahlhelm – in Osnabrück beantragt, bedürftige Mitglieder bei der Einrichtung zu berücksichtigen. Der Regierungspräsident wiederum wollte jeglichen Kontakt der Häftlinge zur Außenwelt unterbinden. Insofern hielt er es für nötig, dass die Vorarbeiter bei den Kultivierungsarbeiten »aus vollster Überzeugung fest aus dem Boden der bestehenden Staatsform stehen. Nur hierdurch werden die Vorarbeiter in die Lage versetzt, allen Einflüsterungen von Häftlingen zu widerstehen.«150 Technisches Können sei zunächst sekundär und später durch Ausbildungskurse vermittelbar. Die Kulturbauleitung in Esterwegen vermeldete am 29. August, dass bisher 61 Vorarbeiter eingestellt seien, von denen 36 SA-Männer waren.151 Insofern waren für arbeitsuchende SA-Männer aus der Region bereits Maßnahmen zur Aufnahme einer Beschäftigung ergriffen worden. Das am 16. November 1933 aufgestellte Vorauskommando wurde aus SA-MänVgl. Martin Löning: Die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaft im Emsland (1933–1935), Sögel 1996, S. 65. Bei der Novemberwahl erlangte das Zentrum reichsweit 11,9 %, die NSDAP 33,1 % der Stimmen. Noch bei der Reichstagswahl am 5. 3. 1933 erhielt das Zentrum in den drei Emslandkreisen mehr als zwei Drittel (67 %) der Stimmen, auf die NSDAP entfielen inzwischen 21,3 % – immer noch weniger als die Hälfte der reichsweiten 43,9 %. 149 Vgl. Helmut Lensing: Antidemokratische Wehrverbände im Emsland während der Weimarer Republik – der »Rote Frontkämpferbund« (RFB), der »Stahlhelm« und die nationalsozialistische »Sturm-Abteilung« (SA), in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 57 (2011), S. 49–84, hier: 73 f. und Gerd Steinwascher: Politische Geschichte im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Franke / Grave / Schüpp / Steinwascher (Hg.): Landkreis Emsland, S. 333–379, hier: 370. 150 Eggers, 24. 8. 1933, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Akz 2000 /029 Nr. 341. 151 Weitere 15 Männer entstammten der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation, einer der DAF. Damit waren 85 % dieser Vorarbeiter Mitglieder einer NS-Organisation. Vgl. Kulturbauleitung Esterwegen, 29. 8. 1933, in: ebd. 148

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81 nern aus Osnabrück und Umgebung rekrutiert. Die in den folgenden Wochen eingestellten Wachmänner kamen zu etwa 60 Prozent aus Ostfriesland, dem Raum Oldenburg sowie weiterhin aus dem Raum Osnabrück. Weitere etwa 30 Prozent entstammten den ländlichen Gebieten des heutigen Niedersachsens um Bremen, Hamburg und Hannover sowie dem nördlichen heutigen Nordrhein-Westfalen. Die Städte selbst waren als Herkunftsorte allerdings kaum vertreten, da nach den besagten »bodenständige[n] und bodenverwachsene[n]« SA-Männern gesucht wurde. Auch die Herkunftsregionen erklären sich dadurch, dass zunächst die SAGruppe Nordsee für die Rekrutierung kontaktiert wurde.152 Wie bereits angedeutet, kamen seit der Übernahme der Lager bis zum ersten Halbjahr 1934 Wachmänner aus anderen Konzentrationslagern in Preußen nach deren Auflösung im Emsland zur Anstellung. In den ersten Monaten nach seinem Dienstantritt holte der neue Kommandeur Werner Schäfer zudem mehrere Wachleute aus dem KZ Oranienburg nach. Diese Personengruppen wiesen natürlich andere Herkunftsregionen auf als die Mehrheit der ursprünglichen Wachleute.153 Im weiteren Verlauf der 1930er Jahre differenzierte sich die räumliche Herkunft der SA-Männer zunehmend aus. Vereinzelt wurden Wachleute aus Süddeutschland, Ostpreußen oder auch Österreich angestellt.154 Dennoch bildete der nordwestdeutsche Raum – auch wegen des Verbleibs vieler Wachmänner der ›ersten Stunde‹ – weiterhin die Hauptherkunftsregion.155 Eine wesentliche Motivation für SA-Männer, den Dienst im abgelegenen Emsland – meist in einiger Entfernung von ihren Familien und den bekannten sozialen Zusammenhängen – anzutreten, dürfte die damit einhergehende soziale Sicherheit gewesen sein. In den vorangegangenen Jahren waren die meisten von ihnen in prekäre wirtschaftliche Verhältnisse geraten. Im Kontext der Wirtschaftskrise erlebten sie einen sozialen Abstieg und mussten ihre ursprünglichen beruflichen Pläne und Biographieentwürfe aufgeben. Dies bedeutete zwar selten langfristige Arbeits-

PA Engel. Vgl. zur Herkunft ›siedlerfähiger‹ Wachleute Knoch, Kampf, S. 53. Diese Herkunftsstruktur korreliert mit Sven Reichardts Befund, dass die SA – entgegen ihrer Selbstdarstellung – in ländlich geprägten, protestantischen Regionen besonders stark vertreten und nur ihre Führerschaft städtisch geprägt war. Vgl. Reichardt: Kampfbünde, S. 267–273. 153 Vgl. Angelegenheiten II; beispielhaft auch die Angaben zum aus Oranienburg stammenden Halbzugführer Wilhelm Fickinger in BA Berlin PK C 0179 u. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 191. 154 Vgl. Personalakte Singer, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1024; Personalakte Czymay, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 928 und Personalangaben Anwander und Widhalm in NLA Osnabrück Rep 945 Akz 54 /1987 Nr. 37. 155 Anders hingegen sah es für die ab 1938 von regulären Justizvollzugsanstalten ins Emsland abgeordneten Haupt- und Oberwachtmeister aus. Diese stammten vorwiegend aus Mittelund Großstädten aus verschiedenen Teilen des Deutschen Reiches. Vgl. Archiv AK DIZ Ordner Börgermoor I+II. 152

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82 losigkeit, aber meist eine Abfolge kurzfristiger Anstellungen, häufig in Hilfsarbeiterstellen, die sich mit Phasen der Arbeitslosigkeit abwechselte.156 Aufgrund der geforderten ›Bodenständigkeit‹ der neuen Wachmänner kamen vielfach Landarbeiter und Handwerker zur Einstellung. Der aus Ostwestfalen stammende August Spreen beispielsweise gelangte 1933 mit 21 Jahren zu den Wachmannschaften. Nach dem Besuch der Volksschule arbeitete er ab 1926 im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb, musste zu Beginn der 1930er Jahre aber eine Aushilfsarbeit als Verkaufsfahrer antreten.157 Ebenfalls aus der Landwirtschaft kam der 1909 geborene Hermann Martens, der dort von 1930–1933 als Gehilfe mit einem Jahreseinkommen von 700 RM gearbeitet hatte. Seinen Wechsel zur Wachtruppe begründete er rückblickend damit, dass er in seiner ostfriesischen Heimat »keine sichere Existenz finden konnte.«158 Der spätere Oberwachtmeister Bernhard Rosenboom kam erst am 15. April 1935 als einfacher Wachmann zu den Strafgefangenenlagern. Der 1907 geborene Malergehilfe war seit Beginn der 30er Jahre immer nur saisonal von einer Wilhelmshavener Firma beschäftigt worden. Drei Mal, vom 1. Januar bis 20. März 1931, vom 30. November 1931 bis zum 25. April 1932 und vom 26. November 1933 bis 10. April 1933, war er arbeitslos. Angeblich um eine Arbeit auf der Marinewerft zu erhalten, trat er im Juni 1933 in die SA ein; die Anstellung erhielt er jedoch nicht. Auch eine erste Bewerbung in Papenburg war erfolglos. Als ihn seine Firma zum 10. April 1935 erneut entließ, wurde er schließlich im Strafgefangenenlager Neusustrum angestellt.159 Die Einstellungsmodalitäten waren an die Vorschriften für kündbare Polizeibeamte angelehnt. Mit der Übereignung der Lagerzuständigkeit übernahm das Justizministerium 1934 auch die Rechtsstellung der Wachmannschaften.160 Die Gehälter der Wachmänner waren nach den Besoldungsvorschriften für preußische

160

Aufgrund der meist nur fragmentarisch vorliegenden Angaben lassen sich derartige Aussagen nur schwer quantifizieren. In Lebensläufen werden solche Geschehnisse zudem oft kaschiert. Es kann aber umgekehrt festgestellt werden, dass nur vier SA-Männer bekannt sind, die aus einem andauernden Arbeitsverhältnis zu den Wachmannschaften wechselten. Neben dem stellvertretenden Kommandanten der KZ-Phase, Walter Engel, sind dies zwei Lagerleiter (Aerts und Remmert) sowie der Hauptwachtmeister Eberhard Hartmann. Alle vier gehörten zu den im November 1933 noch in Osnabrück aufgestellten Wachmannschaften. Diese Einstellungen erfolgten aufgrund einer vorangegangenen Beschäftigung beim Militär oder eines hohen Dienstgrades in der SA. Hartmann meinte im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung 1957 zu seiner Einstellung bei der Wachtruppe: »Ich trat dort als Hauptwachtmeister ein, weil ich bei der SA Sturmführer gewesen war« (NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 243). Da die Bezahlung in den unteren Diensträngen der Wachmannschaften auch nicht übermäßig hoch war, erscheint es unwahrscheinlich, dass SA-Männer mit einer festen Anstellung dafür ins Emsland gewechselt wären. Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 36 /1995 Nr. 13. Entnazifizierungsakte Hermann Martens, NLA Aurich Rep 250 Nr. 50618. Entnazifizierungsakte Bernhard Rosenboom, NLA Aurich Rep 250 Nr. 1883. Vgl. Beamte etc.

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83 Schutzpolizisten bemessen worden. Der Lohn eines einfachen Wachmanns entsprach ungefähr dem Einstiegsgehalt eines Ministerialamtsgehilfen und lag damit 50 Prozent über dem eines unverheirateten Freiarbeiters in der Landwirtschaft.161 Für höhere Dienstgrade stieg die Entlohnung deutlich. So konnte nicht nur die Aussicht auf eine unbefristete Anstellung, sondern auch auf einen eventuellen Aufstieg in einem staatlichen Anstellungsverhältnis Anziehungskraft auf SA-Männer ausüben.162 Tab. I :

Monatliche Nettodienstbezüge der Wachmannschaften163

Lagerleiter

unverheiratet

verheiratet, ein Kind

272,45 RM

344,30 RM

Hauptwachtmeister

207,15 RM

259,89 RM

Oberwachtmeister

155,98 RM

205,61 RM

Wachtmeister

125,90 RM

205,61 RM

Wachmänner

96,36 RM

124,95 RM

Von den Dienstbezügen wurde eine Verpflegungspauschale von 1 RM pro Tag abgezogen. Ausrüstung, Bekleidung – darunter die charakteristische blaue Dienstuniform der ›Moor-SA‹164 – und Unterkunft wurden jedoch gestellt. So hieß es in den von Göring am 18. Dezember 1933 erlassenen Bestimmungen: Die Ledigen [Wachmänner, D. R.] erhalten grundsätzlich Unterkunft in Natur […]. Die Angehörigen der Wachttruppe erhalten freie Bekleidung und Ausrüs-

Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1933, S. 293 u. 296, Online-Ressource unter ‹http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PPN=PPN514401303_1934&DMDID=dmdlog33&LOGID=log33&PHYSID=phys320#navi›, letzter Abruf: 3. 3. 2014. 162 Vgl. Entnazifizierungsakte Hermann Martens, NLA Aurich Rep. 250 Nr. 50618. Eine andere Perspektive auf die wirtschaftlichen Interessen von SA-Männern bietet die Aussage eines ehemaligen Häftlings des Konzentrationslagers Oranienburg, aus dem Werner Schäfer und mehrere SA-Wachmänner ins Emsland wechselten: »Die Unterhaltungen der SA-Leute untereinander drehten sich nur um ihren Sold, die davon gemachten Abzüge, ihre Schulden, ihre Saufgelage, ihren Geschlechtsverkehr« (Seger: Oranienburg). 163 Bei diesen Nettoangaben sind Steuern etc. schon abgezogen, nicht aber der monatlich zu entrichtende Betrag von 30 RM für die Gemeinschaftsverpflegung und die entsprechenden SA-Beiträge. 164 Dabei handelte es sich um alte Uniformen der Schutzpolizei, für die Göring detaillierte Änderungsanweisungen erließ. Neben Kragenfarbe, Spiegeln, Mützenband, Schulterstücken und Achselklappen war die Hakenkreuzbinde am Arm die wohl am besten wahrnehmbare Änderung. Vgl. Preußischer Ministerpräsident, 18. 12. 1933, in: PA Engel. 161

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84 tung. Die Bekleidungswirtschaft ist nach den Bestimmungen für die kündbaren Schutzpolizeibeamten zu führen.165 Auch die medizinische Versorgung wurde gestellt. Das Gestapa sah die Wachmannschaften daher als versicherungsfrei an, wodurch die Frage ihrer Alters- und Invalidenversicherung zunächst ungeklärt blieb.166 Für die Einstellung einfacher Wachmänner im Emsland war ihre bloße Verfügbarkeit das entscheidende Kriterium. Eine berufliche Qualifikation wurde nicht verlangt. Die Rekrutierungspraxis bedingte jedoch, dass nur Männer zur Einstellung kamen, die bereits zuvor SA-Mitglied geworden waren. So wurden im November 1933 SA-Männer von ihren lokalen Einheitsführern vorgeschlagen, wobei ihre berufliche Situation ein Hauptkriterium gewesen sein dürfte.167 Auch in späteren Anwerbeaufrufen war die Zugehörigkeit zur SA ein Einstellungskriterium.168 Darüber hinaus sollten »die Angehörigen der staatlichen Wachttruppe […] grundsätzlich unverheiratet sein.«169 Diese Vorgabe spiegelt dabei Vorstellungen über die männerbündische Verfasstheit einer neuen, auf Kameradschafts- und Gefolgschaftsidealen basierenden Wachtruppe wider. Zusätzlich begünstigten derartige Überlegungen einen längeren Verbleib der SA-Männer in der Lagerbewachung, da ihre Loyalitäten innerhalb der Wachmannschaften womöglich weniger stark durch die Bindung an eine selbst gegründete Familie aufgewogen wurden. Anhand des Familienstands der Wachmänner lässt sich zudem die materielle wie soziale Absicherung nachvollziehen, welche die Anstellung bei den Emslandlagern bedeutete. Noch 1935 waren nur wenig mehr als 10 Prozent der Wachleute verheiratet – das heißt 90 von 850. Ein Jahr später hatte sich die Zahl mit 195 verheirateten Wachmännern bereits mehr als verdoppelt.170 Auch die Mitte November 1933 noch sehr unkonkreten Ideen über die Übernahme neugeschaffener Bauernstellen durch SA-Wachmänner wurden bald präzisiert und vom Justizministerium mit übernommen: »Soweit es sich um bauernfähige Personen handelt, ist ihnen [die]

170

Ebd. Vgl. Beamte etc. Vgl. Int WE, S. 6 u. Ermittlungsverfahren Hans Giese, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 2001 /054 Nr. 123 (im Folgenden: Ermittlungen Giese I). Diese Praxis des Vorschlagens führte später dazu, dass mehrere SA-Männer behaupteten, sie seien ins Emsland ›abgeordnet‹ oder ›kommandiert‹ worden (vgl. Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I). Dies ist insofern irreführend, als die SA-Männer nur mit eigenem Einverständnis zu den Lagern kamen. Vgl. Einstellung von Wachtmannschaften, 26. 1. 1937, in: Angelegenheiten II u. BA Berlin NS 23 Nr. 425. Preußischer Ministerpräsident, 18. 12. 1933, in: PA Engel. Vgl. für 1935 Knoch: Kampf, S. 55; für 1936 BA Berlin ZR 934 A 9.

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85 Möglichkeit der Ansiedlung in dem urbar gemachten Gelände zugesagt.«171 Der aus Ostfriesland stammende Casjen Meyer gab 1954 an: »Als abgehender Sohn […] bewarb ich mich […] im Jahre 1933 für den Dienst der Strafgefangenen Lager Papenburg, um später eine Neu-Bauern Siedlung zu übernehmen.«172 Dieses Siedlungsversprechen bildete also eine zusätzliche Langzeitperspektive, die sich hier für aus der Landwirtschaft kommende SA-Männer, insbesondere zweit- und drittgeborene Söhne, auftat. Gleichzeitig sollte es ein zentraler Bestandteil der ideologischen Aneignung des Siedlungsprojekts durch die ›Moor-SA‹ werden.

Hubert Aerts und die Ausbildung von SA-Männern im Winter 1933 /34 Für die Ausbildung der SA-Wachmänner im Lager Oberlangen war der damals 39-jährige Obertruppführer Hubert Aerts aus Osnabrück zuständig. Aerts war am 14. April 1894 in Lüttich geboren worden. Im Gegensatz zu den meisten anderen SA-Wachmännern im Emsland kam er aus einem katholischen Elternhaus. Als er zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Deutschland und nahm in der Folge auch die deutsche Staatsangehörigkeit an. Bis zum 14. Lebensjahr besuchte Aerts die Volksschule in Essen und arbeitete dort anschließend als Bergmann bei der Firma Krupp. Am 8. August 1914 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst und wurde als Grenadier sowohl an der Ost- als auch an der Westfront eingesetzt. Dabei wurde er mehrmals verwundet und erhielt mehrere Auszeichnungen: das Eiserne Kreuz II. und I. Klasse und die österreichische Silberne Tapferkeitsmedaille II. Klasse. Wegen »Tapferkeit vor dem Feinde«173 wurde er im April 1916 zum Unteroffizier befördert. Im Zuge der Demobilmachung wurde Aerts zwar am 1. Dezember 1918 von seiner Einheit entlassen, er trat jedoch bald darauf dem Freikorps Lichtschlag bei, mit dem er »an den Aufständen im Ruhrgebiet gegen die Kommunisten« teilnahm.174 Das überharte Vorgehen dieses Freikorps gegen streikende Arbeiter trug im Februar 1919 zur Ausrufung des Generalstreiks bei. Auch in den Folgemonaten wurde es gegen die Sozialisierungsbewegung eingesetzt. Während des Kapp-Putsches

Beamte etc. NLA Aurich Rep 54 Nr. 585. Das Zitat entstammt einem Antrag Meyers, in dem er sich um eine Siedlerstelle bewarb – sein ursprünglicher Plan hatte sich also nicht erfüllt. Die Ausführungen Meyers sind aufgrund der argumentativen Struktur des Schreibens kritisch einzuordnen. Dennoch belegen sie, dass die Übernahme einer Siedlerstelle zumindest Teil seiner Motivation zum Beitritt zu den Wachmannschaften war. 173 Personalakte Hubert Aerts, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 932 (im Folgenden: PA Aerts). 174 Lebenslauf 1934, ebd. 171 172

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86 wurde das Freikorps am 15. und 16. März 1920 von der Roten Ruhrarmee in mehreren Gefechten in und um Dortmund aufgerieben.175 Zusammen mit den verbliebenen Angehörigen des Freikorps Lichtschlag wurde Aerts zum 1. Juli 1920 von der regulären Reichswehr übernommen. Im August 1920 wurde er Sergeant. Nach nur wenigen Monaten wurde er im Januar 1921 zum Brieftaubenzug der Nachrichten-Abteilung 6 nach Osnabrück versetzt, wo er im Juni 1922 zum Brieftaubenmeister (entspricht einem Feldwebel) letztmalig befördert wurde. Da ihm die Zugehörigkeit zum Freikorps angerechnet wurde, endete seine zwölfjährige Dienstzeit am 7. 8. 1926.176 Auch nach dem Ende seines Militärdiensts blieb Aerts in Osnabrück und wurde »Wachbeamter«177 bei den Klöckner-Stahlwerken im nahegelegenen Georgsmarienhütte. Bereits 1924 hatte er geheiratet; die Ehe blieb kinderlos. 1927 trat er zunächst dem Stahlhelm bei. Aus diesem trat er jedoch einige Jahre später, zeitgleich mit seinem Eintritt in die NSDAP und die SA, am 1. November 1931, aus. In der SA baute er 1932 einen Motorsturm für Osnabrück auf und wurde auch Leiter der dortigen Motorstaffel, zunächst als Trupp-, später als Obertruppführer.178 Am 15. November 1933 wurde Aerts als stellvertretender Kommandoführer in die neue Wachtruppe der Emslandlager eingestellt und übernahm die Ausbildung der SA-Männer im Lager Oberlangen.179 Ob Hubert Aerts und Walter Engel sich aus ihrer sich überschneidenden Militärzeit in Osnabrück kannten oder erst seit der gemeinsamen Führungstätigkeit in der dortigen SA-Standarte 78, ist nicht bekannt. Die hochrangige Verwendung Aerts’ von Beginn an spricht jedoch dafür, dass Engel ihn entweder persönlich sehr schätzte oder zumindest in seinem Lebenslauf mit der bestimmenden zwölfjährigen Militärdienstzeit einen entsprechenden Eignungsgrund sah.180 175

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Dem Freikorps Lichtschlag gehörten zahlreiche spätere NS-Funktionäre an, so auch Richard Glücks, der spätere Leiter der den KZs übergeordneten Amtsgruppe D im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt. Vgl. Klaus Tenfelde: Bürgerkrieg im Ruhrgebiet 1918 bis 1920, in: Karl-Peter Ellerbrock (Hg.): Erster Weltkrieg, Bürgerkrieg und Ruhrbesetzung. Dortmund und das Ruhrgebiet 1914 /18–1924, Dortmund 2010, S. 13–66. Vgl. PA Aerts. Ebd. Vgl. ebd. In der Phase der SA-Bewachung der staatlichen Konzentrationslager bezeichnete ›Kommandoführer‹ den jeweiligen Lagerleiter. Aerts’ Einstufung als stellvertretender Kommandoführer lag vermutlich daran, dass in Oberlangen noch kein regulärer Lagerbetrieb herrschte; einen direkten Vorgesetzten hatte er dort nicht. In den Strafgefangenenlagern ab April 1934 bezeichnete ›Kommandoführer‹ hingegen einen SA-Mann, der ein Arbeitskommandos befehligte und in der Hierarchie weit unter dem Lagerleiter stand. Engel kannte zumindest den späteren Lagerleiter Wilhelm Schenk seit 1921. Anschließend waren beide für sechs Jahre Unteroffiziere in der gleichen Kompanie. Schenk war wiederum nach Ablauf seiner zwölfjährigen Militärdienstzeit gemeinsam mit Hubert Aerts im Etablierung

87 Als die grundlegende Ausbildung der SA-Wachmannschaften abgeschlossen war und die Übernahme der Lager durch die Justizverwaltung anstand, wurde Aerts zum 1.  April 1934 die Leitung des neuen Lagers Brual-Rhede übertragen. Als Obertruppführer befand er sich dabei ganze drei SA-Dienstränge unter August Linnemann und Waldemar Schmidt, die als Obersturmführer unter den bisherigen Lagerleitern am niedrigsten eingestuft waren. Laut Aussage eines ehemaligen Wachmanns kümmerte sich Aerts während der Ausbildung der SA-Männer in Oberlangen wenig um womögliche Unterstellungsverhältnisse und geriet lautstark mit einem Sturmbannführer, dem späteren Hauptwachtmeister Eberhard Hartmann, aneinander, der ihn nicht zuerst gegrüßt hatte.181 Wohl wegen seines deutlich vernehmbaren Auftretens wurde Aerts als Lagerleiter bald »der Löwe von Brual« genannt.182 Wilhelm Henze, der als einer der ersten Strafgefangenen in das Lager kam, erläuterte in seinem »Panoptikum« über SA-Männer, zivile Vorarbeiter und Justizbeamte diesen Beinamen: »›Löwe‹, weil er immer das grimmige Gesicht einer Bestie zeigte, auch sonst wie ein Löwe brüllte.«183 Unmittelbare Misshandlungen von Gefangenen durch Aerts selbst sind nicht bekannt. Jedoch stellte er sich wenige Wochen nach seinem Dienstantritt als Lagerleiter vor seine Wachmannschaften, als am 11. Mai 1934 ein Häftling ›auf der Flucht‹ erschossen wurde.184 Zum Jahresbeginn 1937 übernahm Aerts die Leitung des Lagers Esterwegen. In der Folgezeit wurde in diesem Lager eine auch für die Emslandlager besonders hohe Zahl an Gefangenenmisshandlungen bekannt, bei denen er erneut seine Untergebenen schützte.185 Bereits im Mai 1936 war Aerts zu einer zweimonatigen informatorischen Beschäftigung der Strafanstalt Celle zugewiesen worden, bei der er »die Handhabung des Strafvollzuges in einer geschlossenen Anstalt, die Behandlung der Gefangenen und die Tätigkeit der verschiedenen Beamtengruppen« kennenlernen

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Wachdienst der Klöckner-Werke angestellt. Im Februar 1934 schlug Engel Schenk für eine Verwendung als Lagerleiter vor. Zu seiner Einstellung kam es allerdings erst am 1. 4. 1934 (vgl. Stv. Kommandeur, 22. 2. 1934, in: Personalakte Schenk, NLA Wolfenbüttel 68 Nds Zg 16 /1989 Nr. 494). Vgl. Unterlagen Bernhard W., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Ebd. Wilhelm Henze: Panoptikum, in: Ders.: Hochverräter, S. 169–181, hier: 178. An gleicher Stelle dichtete er über Aerts wenig schmeichelhaft: »›Löwe‹ ///// Du warst im Moor ›Herr Kommandant‹ /// und der Gefangenen grosser Schrecken /// wann wird man dich ins Moor reinstecken /// die Zeit, die kommt, ›Herr Kommandant‹! ///// Du Popanz, mit dem hohlen Kopf /// ich seh’ dich schon im Fette schwitzen /// dein Bitten wird dir wenig nützen /// du eitler aufgeblasener Tropf.« Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225. Vgl. Urteil Schäfer 1938.

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88 sollte.186 Dies sollte seine erste und einzige Unterweisung durch geschultes Justizpersonal bleiben. Dennoch bekundete der dortige Strafanstaltsleiter: Lagerleiter Aertz [sic!] zeigte reges Interesse und Verständnis für die Aufgaben des Strafvollzuges. Er ist eine energische, zielbewußte Persönlichkeit mit guter Auffassungsgabe, die sich in allen Lagen durchsetzen kann. Seine vornehme Gesinnung und seine unbedingte nationalsozialistische Pflichtauffassung lassen ihn als wertvollen Mitarbeiter erscheinen.187 Für die Ernsthaftigkeit dieser Ausbildung ist bezeichnend, dass hier als zentrale Kompetenzen das schon von den Emslandlagern her bekannte lautstarke Durchsetzungsvermögen und seine »vornehme Gesinnung« – also seine ideologische Überzeugung – herausgestellt wurden. Während seiner Zeit im Emsland wurde Aerts auf SA-Ebene mehrmals befördert; sein letzter Dienstgrad war Hauptsturmführer. Während der zwischenzeitlichen Suspendierung Werner Schäfers 1938 sollten die vormaligen Lagerleiter ins Beamtenverhältnis übernommen werden. Aerts verzichtete jedoch auf diese Umgruppierung und bekräftigte dies nach Schäfers Rückkehr erneut. Mit dem Beamtenstatus wäre zumindest eine Versetzung in die Kommandantur nach Papenburg einhergegangen, auf Dauer vermutlich aber an eine reguläre Justizvollzugsanstalt.188 Aerts hatte sich jedoch mit seiner Frau in Esterwegen angesiedelt und schien sich mit seiner Arbeit als Lagerleiter hochgradig zu identifizieren. So gab seine Frau später an, er habe »sich insbesondere der Pionierarbeit im Moor so verpflichtet [gefühlt], daß er auch gern darauf verzichtet hat, ins Beamtenverhältnis übernommen zu werden.«189 Nachdem Werner Schäfers ursprünglicher Adjutant, Hans-Hugo Daniels, zur Wehrmacht eingezogen worden war, übernahm Aerts zum 15. Mai 1940 dessen Aufgaben in der Kommandantur in Papenburg. Wenige Tage später, am 20. Mai, verstarb er jedoch an einem Herzleiden, weswegen er bereits im Vorjahr zur Kur gewesen war.190 Nach seinem Tod bekundete Kommandeur Schäfer: »Aerts war mir als alter SA-Führer in der ganzen Zeit seines hiesigen Wirkens, insbesondere in den ersten besonderes schweren Jahren, ein wertvoller Mitarbeiter. Als aufrechter Kämpfer für die Sache des Führers hat er sich auch hier voll eingesetzt. Die an-

PA Aerts. Ebd. 188 Dies legen die entsprechenden Biographieverläufe anderer Lagerleiter nahe. Vgl. SA-Korrespondenz Friedrich Zerbst, BA Berlin SA D 0297 u. Strafsache gegen Maue, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413. 189 PA Aerts. 190 Vgl. ebd. 186 187

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Abb. 4 :

»Die Zeit der Ausbildung«. SA-Wachmänner auf dem Exerzierplatz des Lagers Oberlangen, 1934.

fangs besonders schwierige Tätigkeit der Ausbildung der Wachttruppe wird immer mit seinem Namen verknüpft sein.«191 Diese Ausbildung bestand im Wesentlichen aus drei Bestandteilen: Schießübungen, Exerzieren und sportlichen Übungen. Theoretische Unterweisungen blieben auf den Umgang mit Schusswaffen beschränkt und bezogen sich nicht auf den Umgang mit Gefangenen.192 Der bereits erwähnte Wachmann Bernhard W. erinnerte sich beinahe 34 Jahre später: »Bei unserer Ausbildung wurden wir ganz schön geschliffen.«193 Bereits die Schwerpunktsetzung in der Ausbildung weist auf den militärischen Hintergrund der verantwortlichen SA-Männer hin. Engel, Aerts und Schenk hatten je zwölf Jahre gedient, die anderen Lagerleiter – soweit ihre Biographien bekannt sind – hatten als Soldaten am Weltkrieg teilgenommen.194 Zudem etablierte sich Ebd. Vgl. Int WE, S. 8 sowie Urteil gegen Bernhard Rakers, in: KW I, S. 334. Auch Fußballspiele waren regelmäßiger Bestandteil der Ausbildung. Vgl. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1006. 193 Unterlagen Bernhard W., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. 194 Vgl. Personalakte Schenk, NLA Wolfenbüttel 68 Nds Zg 16 /1989 Nr. 494; Ermittlungen Giese I u. Gerichtsverfahren gegen August Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 837. Auch die erst später eingesetzten Lagerleiter Maue und Zerbst waren im Ers191 192

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90 auch ein militärischer Jargon, der vermutlich auf die biographische Prägung der ausbildenden SA-Führer zurückging. So findet sich bei W. die Selbstbezeichnung »12-Ender«195, womit sonst auf zwölf Jahre verpflichtete Soldaten gemeint sind. Die Anstellung der SA-Männer – zunächst formal als Hilfspolizisten – brachte zwar keinen Beamtenstatus auf Lebenszeit mit sich, aber auch keine Befristung. Dennoch scheint der Begriff W.s Dienstauffassung passend wiederzugeben, da er ihn mehrfach verwendet.196 Auch nachdem ihre Arbeitsstätten in Strafgefangenenlager umgewidmet worden waren, fanden praktisch keine neuen Elemente – wie etwa der Umgang mit Gefangenen – Eingang in die Ausbildung der SA-Männer.197 Was blieb, war eine streng hierarchisch strukturierte Bewachungseinheit, die auf Idealen von Kameradschaft und Gefolgschaft basierte.198

Ideologischer Hintergrund, Altersstruktur und Generationalität der ›Moor-SA‹ Ein männerbündisch und paramilitärisch geprägtes Umfeld war der überwiegenden Mehrheit der Wachleute bereits vor ihrem Dienstantritt im Emsland bekannt gewesen. Von den anfänglich 650 SA-Männern waren 568 ›alte Kämpfer‹, die schon vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 in der nationalsozialistischen ›Bewegung‹ – als Angehörige der Kampfverbände SA und SS, der NSDAP oder der HJ – aktiv gewesen waren.199 Dies entsprach einem Anteil von 87 Prozent. Noch zum Jahreswechsel 1936 /37 waren drei Viertel der Wachmänner (74,7 Prozent ›alte Kämpfer‹. Erst im Zuge der massiven Erweiterung der Wachtruppe im ersten Halbjahr 1937 sank deren Anteil deutlich, lag jedoch weiterhin über 50 Prozent. Die Sollstärke der ›Moor-SA‹ betrug nun 1.500 Wachleute. Im August 1937 waren 785 von diesen vor dem Machtantritt in die SA, SS, HJ oder die NSDAP selbst eingetreten.200 Insofern ist anzunehmen, dass ein Großteil der

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ten Weltkrieg Soldaten gewesen. Vgl. Strafsache gegen Maue, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413 u. SA-Korrespondenz Friedrich Zerbst, BA Berlin SA D 0297. Vgl. Unterlagen Bernhard W., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Vgl. ebd. Vgl. Int WE, S. 8. Vgl. hierzu auch Yves Müller: »... wie ist’s denn mit dir, Hans …?« Männlicher Habitus, Kameradschaft und Männerbund in der SA, in: Ders./Rainer Zilkenat (Hg.): Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 355–371. Vgl. Zugehörigkeit der Wachtmannschaften zur SA bezw. SS [1934], in: Angelegenheiten I. Vgl. Anwärter auf den Wachtmeisterdienst bei den Vollzugsanstalten Juli 1936 – Februar 1939, BA Berlin R 3001 Nr. 9819. Die Angaben für 1936 und 1937 sind Mindestwerte. In den Aufstellungen dieser Akte werden ausnahmsweise die Wachmannschaften aller La-

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91 SA-Männer – für den Zeitraum 1933–1936 sogar die überwiegende Mehrheit – in den Jahren vor der Machtübertragung Erfahrungen von Kameradschaft und Gewalt gemacht hatte, wie sie Sven Reichardt im Vergleich von SA und italienischem Squadrismus detailliert nachgezeichnet hat.201 Von den im August 1935 erfassten SA-Männern waren 89 bereits vor dem ersten großen Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 14.  September 1930 in die Partei, SA oder HJ eingetreten. Im Januar 1937 erfüllten nur noch 68 SA-Männer dieses für die innerparteiliche Differenzierung so bedeutsame Kriterium.202 Ihr Anteil an den Wachmannschaften fiel damit innerhalb von 17 Monaten von 13,7 auf 10,5 Prozent.203 Die ›Moor-SA‹ rekrutierte sich also kaum aus solchen Vorreitern der ›Bewegung‹, sondern überwiegend aus derjenigen Klientel, die den Nationalsozialismus seit Beginn der 1930er Jahre und noch vor dem 30. Januar 1933 zur Massenbewegung gemacht hatte.204 Das anfängliche Überwiegen derjenigen SA-Männer, deren Beitritt zwischen September 1930 und Januar 1933 stattgefunden hatte, erklärt sich ebenso wie das Absinken ihres Anteils in späteren Jahren durch die Altersstruktur der Wachmannschaften. Für generationelle Ansätze, die in grundlegenden Arbeiten zur Täterforschung – etwa des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) oder der Konzentrationslager-SS  – produktiv genutzt werden konnten,205 bieten die Quellen zur ›Moor-SA‹ nicht genügend und zu stark fragmentierte Informationen zur Sozia-

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ger erfasst, die unterschiedlichen Entstehungszeiträume der Erfassung (Januar bzw. August 1937) bedingen aber eine gewisse Ungenauigkeit der Angaben, da sowohl nach dem 1. 1. 1937 ausgeschiedene als auch neu eingestellte ›alte Kämpfer‹ nicht verlässlich erfasst wurden. Zudem ist nicht bekannt, ob die neue Sollstärke im August bereits erreicht wurde. Vgl. Reichardt: Kampfbünde. Die erfahrungsgeschichtlichen Betrachtungen Reichardts beziehen sich dabei vorrangig auf einen SA-Sturm aus Berlin-Charlottenburg. Vgl. zu diesem auch ders.: Vergemeinschaftung durch Gewalt. Das Beispiel des SA-»Mördersturmes 33« in Berlin-Charlottenburg zwischen 1928 und 1932, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt, S. 20–36. Vgl. Angelegenheiten II u. BA Berlin R 3001 Nr. 9819. Nach der Erweiterung der Lager wurde diese Kategorie nicht mehr gesondert erfasst. Von den 1937 neu eingestellten ›alten Kämpfern‹ gehörte jedoch keiner mehr zu dieser Gruppe. Es ist daher anzunehmen, dass ihr Anteil noch deutlicher sank. Vgl. ebd. Die SA hatte im November 1930 gerade einmal 60.000 Mitglieder. Innerhalb des nächsten Jahres vervierfachte sich dieser Wert nahezu auf 221.000 SA-Männer. Bis Juli 1932 stieg der Mitgliederstand nochmals um mehr als 200.000 auf 425.000. Damit waren mehr Männer in der SA organisiert als im Stahlhelm. Vgl. Reichardt: Kampfbünde, S. 258 f. Vgl. hierzu besonders Herbert: Best; Orth: Konzentrationslager-SS und Wildt: Generation. Als Adaption für eine nicht unmittelbar tatbeteiligte, weibliche Berufsgruppe vgl. Franka Maubach: Die Stellung halten. Helferinnen der Wehrmacht im Einsatz. Erfahrungsräume und Lebensgeschichten, Göttingen 2009.

Die Konstituierung der ›Moor-S

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92 lisation der SA-Männer und deren Werdegang vor der Anstellung im Emsland.206 Es ist anzunehmen, dass ihr jeweiliger Erfahrungshaushalt mit anderen Angehörigen der als ›Kriegsjugendgeneration‹ und ›Nachkriegsgeneration‹207 bezeichneten Altersgruppen der nach 1900 Geborenen größere Übereinstimmungen aufwies, insbesondere was die unmittelbare Nachkriegszeit und die teils chaotischen Wendungen der Jahre 1918–1923 angeht. In anderer Hinsicht unterschied sich ihre Sozialisation aber auch grundlegend von den bürgerlich-akademisch geprägten Mitgliedern des RSHA, da Wachmänner wie Lagerleiter in aller Regel nur über eine Volksschulbildung verfügten und nur in wenigen Ausnahmefällen eine Realschule besucht hatten. Die für NS-Funktionseliten typischen Erfahrungen in jugendbewegten und studentischen Kreisen dürfte kaum ein Mitglied der ›Moor-SA‹ geteilt haben.208 Die Erfahrung der Wirtschaftskrise ab 1929 stellte sich hingegen für die sozial schlechter stehenden und somit finanziell in aller Regel auch weniger abgesicherten SA-Männer als existentiellere Bedrohung dar. Um es in den Kategorien Karl Mannheims auszudrücken: Die SA-Männer teilten mit der Führungsriege des RSHA zwar einen Generationszusammenhang, indem sie an den »gemeinsamen Schicksalen« partizipierten.209 Dass sie aber der gleichen Generationseinheit angehörten, die »Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien« teilte, lässt sich trotz einer ähnlichen politischen Ausrichtung zumindest hinterfragen.210 Ein Grundproblem besteht dabei in der klaren Grenzziehung zwischen den Al206

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Grundlegend für das Generationsverständnis im deutschen Sprachraum ist immer noch Mannheim: Problem. Unter den vielfältigen konzeptionellen Weiterführungen sind hervorzuheben: Bernd Weisbrod: Generation und Generationalität in der neueren Geschichte, in: APuZ, H. 8 /2005, S. 3–9, Jureit: Generationenforschung; Björn Bohnenkamp / Till Manning / Eva-Maria Silies: Argument, Mythos, Auftrag und Konstrukt. Generationelle Erzählungen in interdisziplinärer Perspektive, in: Dies. (Hg.): Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster, Göttingen 2009, S. 9–29. Die Begriffstrias von ›junger Frontgeneration‹, ›Kriegsjugendgeneration‹ und ›Nachkriegsgeneration‹ für die Altersklassen der 1890–1899, 1900–1909 und nach 1910 Geborenen geht zurück auf E. Günther Gründel: Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinnstiftung der Krise, München 1932. Gründel, 1903 geboren, gehörte der von ihm als besonders wichtig herausgestellten ›Kriegsjugendgeneration‹ an. Die andauernde Selbstthematisierung ist – zumindest in ihren klassischen, ›politischen‹ Ausformungen – ein elementarer Bestandteil der Generation. Daher ist es unumgänglich, gleichzeitig aber auch äußerst schwierig, »grundsätzlich zwischen Generation als Selbstthematisierungsformel und Generation als analytischer Kategorie zu unterscheiden« (Jureit: Generationenforschung, S. 9). Vgl. Wildt: Generation, S. 72–142. Mannheim: Problem, S. 542. Ebd., S. 545. Zu den Begriffen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit vgl. ebd., S. 541–551. Auf die nahezu ausschließlich männliche Konnotation zeitgenössischer (wissenschaftlicher wie populärer) Generationsdiskurse verweist Christina Benninghaus: Das Geschlecht der Generation. Zum Zusammenhang von Gene-

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93 tersgruppierungen, die oft in starre, zehn Geburtsjahrgänge umfassende Kohorten eingeteilt werden.211 Es lässt sich bezweifeln, dass die altersspezifische Erfahrung des Weltkriegs und die spätere Erinnerung daran für 1909 und 1911 geborene Menschen weitgehend voneinander abwichen. Das Erleben und Verarbeiten des Krieges dürften aber für einen bei Kriegsende 17-Jährigen, der nur wenige Monate von einer Einberufung entfernt war, grundsätzlich anders gewesen sein als für einen Achtjährigen, der den Kriegsbeginn vier Jahre zuvor kaum umfassend begriffen haben dürfte. Für die Männer der ›Moor-SA‹ sind die politischen Umstände der Weimarer Republik und die ökonomischen Krisen der frühen und späten 1920er Jahre sicherlich prägend gewesen. Ihre Verarbeitung erfolgte aber nicht nur gemäß einer frühkindlichen und jugendlichen Sozialisation, sondern auch entsprechend dem jeweiligen Lebensalter und damit dem Zusammenkommen von äußerem Ereignis und eigener (angestrebter) biographischer Entwicklung. So war die erste Riege der Lagerleiter rund zehn Jahre älter als die einfachen Wachmänner und Wachtmeister. Sieben Männer wurden 1934 /35 zu Leitern von Strafgefangenenlagern ernannt.212 Zwei von ihnen, Hans Giese und Waldemar Schmidt, wurden als Kommandoführer staatlicher Konzentrationslager übernommen, zwei weitere, Hubert Aerts und Wilhelm Schenk, am 1. April 1934 mit Inbetriebnahme der Lager Brual-Rhede und Oberlangen zu deren Leitern ernannt. Hans Giese wurde kurz darauf entlassen und durch Wilhelm Maue ersetzt. August Linnemann, der dem Konzentrationslager Esterwegen III vorgestanden hatte, verweigerte im Herbst 1934 den Übertritt zur SS und wurde im Lager Brual-Rhede durch die Justizverwaltung eingestellt – aufgrund mangelnder freier Stellen zunächst nur als Oberwachtmeister. Im Mai 1934 wurde er zum Leiter des neuen Lagers Walchum ernannt. Friedrich Zerbst wurde bei der Erweiterung von vier auf sechs Lager mit der Leitung des Lagers Neusustrum betraut.213 Soweit Daten zu ihrem vorangegangenen Lebensverlauf vorhanden sind, weisen

rationalität und Männlichkeit um 1930, in: Ulrike Jureit / Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 127–158. 211 Vgl. abweichend besonders Heinz Bude: Die biographische Relevanz der Generation, in: Martin Kohli / Marc Szydlik (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 19–35, hier: 21–25. 212 Durch diese Grenzziehung wird Heinrich Remmert, der ab Dezember 1933 das Konzentrationslager Esterwegen II leitete, nicht berücksichtigt. Hauptgrund hierfür ist, dass sich Remmert im Sommer 1934 bewusst gegen einen Verbleib in der SA und den Wechsel in den Justizdienst entschied, sondern im KZ-Wachdienst blieb und in die SS übertrat. Insofern gab es von ihm kein positives Bekenntnis zur ›Moor-SA‹, die sich erst im Anschluss herausbildete. Vgl. Verfahren gegen Remmert [1950], NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 565. 213 Vgl. Angelegenheiten II. Die Konstituierung der ›Moor-S

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94 die Lagerleiter darin bemerkenswerte Übereinstimmungen auf.214 Diese Männer waren zwischen 1894 und 1901 geboren worden und hatten nach dem Besuch der Volks- oder Realschule als Soldaten am Ersten Weltkrieg teilgenommen.215 Fünf von ihnen hatten anschließend versucht, weiterhin beim Militär oder bei der Polizei beschäftigt zu werden, was jedoch nur Aerts, Schenk und Schmidt längerfristig gelang. Giese und Zerbst wechselten Anfang der 1920er Jahre in zivile Berufe – ein Schritt, den Linnemann und Maue schon vorher gegangen waren. Selbst unter den Lagerleitern befanden sich nur zwei (Maue und Zerbst), die sich vor dem Wahlerfolg vom September 1930 den Nationalsozialisten angeschlossen hatten.216 Linnemann trat wenig später, am 1. Oktober 1930, in die NSDAP ein, die restlichen vier folgten 1931. Auch die Lagerleiter mussten seit Ende der 1920er Jahre Abstiegs- und Unsicherheitserfahrungen machen, nur war für sie – ihrer Altersstruktur und ihrem Familienstand entsprechend – die Fallhöhe größer: Maue und Zerbst mussten im Zuge der Wirtschaftskrise eigene Geschäfte aufgeben; auch Giese wurde zwischenzeitlich arbeitslos. Aerts und Schenk wurden wiederum nach ihrer Militärdienstzeit nicht wie sonst üblich in die Verwaltungslaufbahn übernommen. Zumindest Aerts, Giese, Linnemann, Maue, Schenk und Zerbst waren verheiratet, abgesehen von Aerts hatten sie auch Kinder. Im Gegensatz zu den normalen Wachleuten war weniger als Hälfte der Lagerleiter von Arbeitslosigkeit betroffen, die Bedrohungssituation stellte sich für sie als Familienversorger aber als weitaus existentieller dar als für unverheiratete SA-Männer mit etwa 20 Jahren.217 Somit bewegten sich auch diese SA-Führer, wie Mathilde Jamin es generell für die SA-Führerschaft beschrieben hat, »zwischen den Klassen«.218 214

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Zu Waldemar Schmidt sind nur Bruchstücke seiner Lebensdaten überliefert. Er war angeblich beim Militär und anschließend bei der Berliner Polizei gewesen, sein Geburtsdatum lässt sich nicht ermitteln (vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 284). Schmidt trat am 1. 8. 1931 in die SA und am 1. 9. 1931 in die NSDAP ein. Diese fragmentarischen Angaben passen allerdings in das Muster, das die Angaben zu den anderen Lagerleitern ergeben. Vgl. zu diesen PA Aerts und Schenk; Ermittlungen Giese I; Gerichtsverfahren gegen August Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 837; Strafsache gegen Maue, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6/1983 Nr. 413; und SA-Korrespondenz Friedrich Zerbst, BA Berlin SA D 0297. Aerts war der Älteste in dieser Gruppe. Danach folgten vier Lagerleiter, die zwischen 1896 und 1899 geboren wurden. Auch August Linnemann, der erst 1901 geboren wurde, meldete sich nach seinem Schulabschluss 1918 noch freiwillig und erlebte Kampfeinsätze in den Vogesen und in Russland. Vgl. Gerichtsverfahren gegen Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 837. Diese jedoch bereits 1926 (Zerbst) und 1928 (Maue). Vgl. Ermittlungsakte Maue, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 417; Gerichtsverfahren gegen Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 837. Vgl. Mathilde Jamin: Zwischen den Klassen. Zur Sozialstruktur der SA-Führerschaft, Wuppertal 1984. Etablierung

95 Der Einsatz im Ersten Weltkrieg scheint als zentrale Qualifikation für die Lagerleiter angesehen worden zu sein. Damit unterschieden sie sich auch von ihren Vorgesetzten: Walter Engel (*1902) und Werner Schäfer (*1905) hatten zwar Berufserfahrung beim Militär bzw. der Polizei gesammelt, den Krieg aber als Jugendliche erlebt.219 Hans-Hugo Daniels (*1904), Schäfers langjähriger Adjutant, wies als ehemaliger landwirtschaftlicher Beamter keinen beruflichen Hintergrund auf, der ihn für seinen Posten qualifiziert erscheinen lassen mochte, konnte jedoch Aktivitäten in völkischen und nationalistischen Vereinigungen seit Beginn der 1920er Jahre vorweisen.220 Mit dieser ›Eignung‹ für einen Führungsposten war Daniels aber keineswegs allein. Die mittlere Befehlsebene der Hauptwachtmeister und Oberwachtmeister zeigt sowohl hinsichtlich der Geburtsjahrgänge als auch der biographischen Hintergründe der Stelleninhaber, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gab, in eine Führungsposition innerhalb der ›Moor-SA‹ zu kommen. So variieren deren Geburtsjahrgänge zwischen 1894 und 1912 und liegen relativ gleichmäßig verteilt. Rund die Hälfte dieser SA-Führer wurde zwischen 1900 und 1909 geboren.221 Auch ihre biographischen Hintergründe zeigen ein heterogenes Bild: Einzelne von ihnen waren Soldaten im Ersten Weltkrieg gewesen,222 andere waren in der Weimarer Republik bei der ›schwarzen Reichswehr‹ oder im Justizdienst beschäftigt gewesen.223 Wachmannschaftsführer ohne derartige ›Qualifikationen‹ hatten sich besonders früh der NS-Bewegung angeschlossen oder wiesen hohe SA-Dienstränge auf.224 Es gab also unterschiedliche Facetten in der Führungsriege der ›Moor-SA‹. Im Gesamtbild zeigt sich dennoch, dass mit höheren Dienstgraden auch eine längere Partei- oder SA-Zugehörigkeit einherging: Das durchschnittliche Eintrittsdatum der Lagerleiter lag im Februar 1930, das der Hauptwachtmeister Ende Oktober des gleichen Jahres. Mittelwert für die Oberwachtmeister war der 30. Mai 1931 und für die Wachtmeister der 31. Januar 1932.225 Die SA-Männer der unteren Dienstränge hatten bekanntlich andere beruf liche

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Ihr jüngeres Alter muss bei ihrer Einstellung keineswegs als Manko ausgelegt worden sein, zumal sie der nicht vorhandenen Kriegserfahrung eine steilere Karriere in der SA entgegensetzen konnten. Vgl. Personalakte Hans-Hugo Daniels, BA Berlin, R 3001 Nr. 53886. 23,5 % waren vor 1900 geboren worden, 47 % zwischen 1900 und 1909, 29,4 % in den Jahren 1910–1912. Dabei liegen Daten für 17 von 30 dieser Funktionsträger vor. Vgl. eigene Datenbank. Vgl. SA-Korrespondenz Garbatschek, BA Berlin SA/163 und Angaben Kelm in BA Berlin, R 3001 Nr. 9819. Vgl. Int WE, S. 3 f.; Parteikorrespondenz Knappheide, BA Berlin, PK G 0054. Vgl. SA-Korrespondenz Baumert, BA Berlin SA/27 und die Personalangaben zu Eberhard Hartmann in NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 243. Vgl. Angelegenheiten II.

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96 Hintergründe und waren mehrheitlich Anfang der 1930er Jahre in NSDAP und SA eingetreten. Sie gehörten auch überwiegend jüngeren Geburtsjahrgängen an. Für Juni 1935 liegen insgesamt 424 Datensätze zu den Geburtsjahrgängen von Angehörigen der Wachtruppe (inklusive der Führungsränge) vor, was der Hälfte (49,9 %) ihrer Sollstärke entspricht.226 Nur 21 SA-Männer waren vor 1900 geboren worden, davon fünf im Jahr 1899. Auch den nachfolgenden vier Jahrgängen entstammten weniger als zehn Wachleute, 1904 war der erste Geburtsjahrgang mit einer zweistelligen Anzahl (elf ) von Wachmännern. Die Anzahl der Wachleute pro Geburtsjahrgang steigt für die Folgejahre sukzessive an und erreicht Höchststände von 60 (1910) und 61 (1912). Allein aus den vier geburtenstärksten Jahrgängen von 1909 bis 1912 kam über die Hälfte (53,1 %) der SA-Männer. Nimmt man die angrenzenden Geburtsjahrgänge 1907, 1908 und 1913 hinzu, repräsentieren diese mehr als drei Viertel (76,2 %) der ›Moor-SA‹ (siehe Abb. 5). Geburtsjahrgänge von 1914 und jünger waren im Juni 1935 noch kaum vertreten und gelangten erst in den Folgejahren in das Rekrutierungsprofil der ›Moor-SA‹. Dieses sah für neu angeworbene Wachleute zunächst ein Mindestalter von 22 Jahren vor, später wurde es auf 23 Jahre angehoben.227 Das Nachrücken dieser Jahrgänge erklärt auch das Absinken des Anteils ›alter Kämpfer‹ ab 1937: Diese waren aufgrund gezielter Versorgungsmaßnahmen in den ersten Jahren nach dem Machtantritt der NSDAP bis 1936 bevorzugt in Arbeitsverhältnisse  – insbesondere im öffentlichen Dienst – vermittelt worden;228 die nun verfügbaren SA-Männer waren zum Teil schlicht zu jung, um vor der Machtübernahme in der SA aktiv gewesen zu sein. Derartige altersstrukturelle Überlegungen tragen mit dazu bei, den relativ geringen Anteil der Wachleute mit Eintrittsdatum vor dem 14. September 1930 zu erklären. Die Angehörigen der stark vertretenen Geburtsjahrgänge ab 1909 hätten Vgl. eigene Datenbank. Aus der Zeit vor der Übernahme durch die Justizverwaltung sind keine Aufstellungen überliefert. Da SA-Männer, die im KZ Esterwegen beschäftigt waren und nicht zur SS übertreten wollten, nach ihrer zwischenzeitlichen Beschäftigung bei der Mooradministration erst im Frühjahr 1935 in die Wachmannschaften integriert wurden, wurde ein Zeitpunkt unmittelbar nach der Erweiterung auf sechs Strafgefangenenlager gewählt. 227 Vgl. Angelegenheiten II u. Einstellungen in die Wachtruppe der Strafgefangenenlager Papenburg [1939], BA Berlin NS 23 Nr. 425. 228 Vgl. Horst Kahrs: Die ordnende Hand der Arbeitsämter. Zur deutschen Arbeitsverwaltung 1933 bis 1939, in: Götz Aly u. a. (Hg.): Arbeitsamt und Sondererlass. Menschenverwertung, Rassenpolitik und Arbeitsamt, Berlin (West) 1990, S. 9–61, hier: 20 f. sowie beispielhaft Petra Weiß: Die Stadtverwaltung Koblenz im Nationalsozialismus, Diss. Fernuniversität Hagen 2011, S. 88–120. Zeitgenössisch dazu Max Timm: Die bevorzugte Arbeitsvermittlung für die alten Kämpfer der nationalsozialistischen Revolution, in: Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe 1 (1934), S. 6–8 sowie im regionalen Kontext: Unterbringung alter Kämpfer im Staatsdienst 1934, NLA Osnabrück Rep 430 Dez 101 Akz 7 /43 Nr. 467. 226

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Altersstruktur der Wachmannschaften im Juni 1935.

sich besonders frühzeitig – im Alter von unter 21 Jahren – für ein Engagement in der NS-Bewegung entscheiden müssen. Dies war zwar nicht unmöglich, wie Einzelfälle zeigen, aber in biographischer Hinsicht unwahrscheinlich.229 Die Lagerung der Geburtskohorten im Juni 1935 lässt eine Einordnung in die vorherrschenden generationellen Deutungsschemata nur schwerlich zu, da die auffällige Häufung der Geburtsjahrgänge von 1907–1913 genau im Übergang von der ›Kriegsjugend-‹ zur ›Nachkriegsgeneration‹ auftritt. Im Gegensatz zu den unmittelbar nach der Jahrhundertwende Geborenen dürfte für Angehörige dieser Jahrgänge eine eigene Erinnerung an Kriegsereignisse und -meldungen weniger prägend gewesen sein.230 Stärkeres Gewicht dürfte hingegen der kollektiven Erinnerung an die vermeintliche Schmach der Niederlage sowie der in nationalkonservativen und rechten Kreisen ubiquitären Ablehnung von republikanischer Verfassung und gesellschaftlichem Liberalismus in den 1920er Jahren zugekommen sein, die auch die relative Stabilität der Weimarer Republik bis 1929 als kri-

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Vgl. »Alte Nationalsozialisten«, in: BA Berlin, R 3001 Nr. 9819. Darauf, dass sich jüngere SA-Männer dennoch das Ideal des Frontkämpfers aneigneten und ihre Nicht-Teilnahme am Ersten Weltkrieg über ihren eigenen ›Kampf‹ zu kompensieren versuchten, verweist Lara Hensch: »Wir aber sind mitten im Kampf aufgewachsen.« Erster Weltkrieg und »Kampfzeit« in Selbstdarstellungen früher SA-Männer, in: Müller/ Zilkenat (Hg.): Bürgerkriegsarmee, S. 331–353.

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Vgl. hierzu Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2013. Zum breit erforschten Komplex der Krisenhaftigkeit der Weimarer Republik und dem Aufstieg rechter Strömungen können hier nur schlaglichtartige Themenbezüge hergestellt werden; vgl. Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987; Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993 und Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. 232 So Habbo Knoch in einem Interview mit dem Stern (Nicolas Büchse / Stefan Schmitz / Matthias Weber: Weltkriegsfilm »Unsere Mütter, unsere Väter«. Das gespaltene Urteil der Historiker, Online-Ressource unter ‹http://www.stern.de/kultur/tv/weltkriegsfilm-unsere-muetter-unsere-vaeter-das-gespaltene-urteil-der-historiker-1988290.html›, letzter Abruf: 14. 1. 2014). 233 Vgl. etwa Till Manning: Die Italiengeneration. Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren, Göttingen 2011, der den Italienurlaub der 1950er und 60er Jahre als ›Stilgeneration‹ analysiert. 234 Vgl. hierzu Johanna Brumberg: Die Vermessung einer Generation. Die Babyboomer und die Ordnung der Gesellschaft im US-Zensus zwischen 1940 und 1980, Göttingen 2015. 231

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99 bled sequentially from observations of the time of occurence of the behaviour being studied, and the interval since occurence of the cohort-defining event.235 Für die ›Moor-SA‹ lässt sich dies adaptieren, da dem ›kohortendefinierenden Ereignis‹ – der Einstellung in die Wachmannschaften – eine Verkettung von Ereignissen vorausging. Waren die Geburtsjahrgänge der anfangs eingestellten SA-Männer auch unterschiedlich verteilt, gab es doch Gemeinsamkeiten, die ein Großteil von ihnen unabhängig von der Altersstruktur teilten: das Auflösen ihrer ursprünglichen Biographieentwürfe und die Erfahrung prekärer Situationen während der Weltwirtschaftskrise, häufig im zeitlichen Zusammenhang damit das Aktivwerden in einer NS-Organisation – meist der SA – und die Gewalterfahrungen der hier wörtlich zu verstehenden ›Kampfzeit‹. Für die Zeit nach dem Machtantritt kam schließlich die frühzeitige Anstellung in den Wachmannschaften der Emslandlager hinzu, die zwar eine räumliche Trennung von Familien und sozialen Zusammenhängen bedeutete, aber gleichzeitig auch eine neue Berufsperspektive eröffnete, in der sie in doppelter Hinsicht zu einem völkischen Modernisierungsprojekt beitragen sollten: durch die Disziplinierung ›Gemeinschaftsfremder‹ und das Vorantreiben der Kultivierungsarbeiten. Diese Lagerung soll keineswegs dazu dienen, anhand der ›Moor-SA‹ eine neue politische Generation mit gesamtgesellschaftlichem Bezug auszurufen. Vielmehr zeigt sich hier eine spezifische Form von Generationalität innerhalb der SA-Wachmannschaften, welche in diesem Fall die von Norman Ryder verlangte »population definition« bilden. Die ›Primärkohorte‹ der bis April 1934 eingestellten Wachmänner teilte dabei die Erfahrung der Ausbildung im nur rudimentär ausgestatteten Lager Oberlangen und war praktisch seit Beginn der SA-Bewachung vor Ort. Die zweite, deutlich kleinere Kohorte kam durch den Neubau der Lager Aschendorfermoor und Walchum bis Juni 1935 hinzu und wies einen nur wenig niedrigeren Anteil an ›alten Kämpfern‹ auf. Aufgrund der administrativen Wirrnisse bei der Umwidmung der Lager sind die beiden Kohorten statistisch häufig schwer zu trennen. Dennoch war für SA-Männer der Zweiten Kohorte die Chance zu einem Aufstieg innerhalb der ›Moor-SA‹ bereits gesunken: Unter den Lagerleitern wurde insgesamt nur einer nach der Übernahme durch das RJM neu eingestellt, und hierbei handelte es sich um Wilhelm Maue, den Schäfer im Juni 1934 aus Oranienburg nachholte.236 Ende Dezember 1935 hatten insgesamt 31 SA-Männer Haupt- oder Oberwachtmeisterstellen inne. Von diesen waren 26 bis zum April 1934 eingestellt worden, zwei weitere im Juli 1934. Als die ›Moor-SA‹ im Frühjahr 1935 jedoch um Norman Ryder: The Cohort as a Concept in the Study of Social Change, in: Melissa A. Hardy (Hg.): Studying Aging and Social Change. Conceptual and Methodological Issues, Thousand Oaks / London 1997 [1964], S. 66–92, hier: 68 f. 236 Vgl. BA Berlin R 3001 Nr. 100523. 235

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100 30 Prozent erweitert wurde und in den zwei zusätzlichen Lagern insgesamt acht dieser Kommandostellen neu geschaffen wurden, erhielten nur zwei im Februar 1935 eingestellte SA-Männer solche Posten. Auch auf der darunterliegenden Ebene der Wachtmeister waren Ende 1935 nur elf der 101 Stelleninhaber im gleichen Jahr eingestellt worden, sieben weitere von Mai bis Dezember 1934.237 Dass ein Teil der Neueinstellungen nicht mit der Erweiterung der Lager zusammenfällt, weist auf eine generelle, anhaltende Fluktuation in den Wachmannschaften hin. Frei gewordene oder neu geschaffene Kommando- und Funktionsstellen wurden überwiegend mit bereits angestellten SA-Männern besetzt. Für August 1937 sind 37 Inhaber von Haupt- und Oberwachtmeisterstellen bekannt. Trotz einiger Neubesetzungen waren weiterhin nur zwei Stelleninhaber 1935 eingestellt worden und zwei weitere im Juli 1934 (davon einer neu). Die dritte Kohorte der überwiegend mit dem Lagerausbau 1937 eingestellten Wachmänner, die die ›Moor-SA‹ zahlenmäßig fast verdoppelte, war überhaupt nicht vertreten. Für die ihr angehörenden SA-Männer sollten höhere Dienstränge erst im Zweiten Weltkrieg erreichbar sein, als ein zunehmender Teil der älteren Kohorten bereits eingezogen worden war.238 Über einen etwaigen Aufstieg in den streng hierarchisch gegliederten Wachmannschaften entschieden also weniger Leistungskriterien als vielmehr Loyalität und Gehorsam, die durch die Dauer der Anstellung sowie durch das Eintrittsdatum in die ›Bewegung‹ nachgewiesen wurden. Die bevorzugte Stellung der Primärkohorte wurde zudem administrativ weiter verstärkt, als das RMEL im März 1936 konstatierte, das Versprechen, Wachmänner bei der Besetzung neuer Siedlerstellen bevorzugt zu berücksichtigen, gelte nur für SA-Männer, die bis zum 6. Dezember 1934 angestellt worden waren.239 Auch in der Selbstdarstellung der ›Moor-SA‹ wurde der hohe Anteil ›alter Kämpfer‹ und der seit November 1933 Dienst tuenden Wachmänner besonders betont. So stellte Lagerleiter Schenk im Juli 1935 heraus, Vgl. Angelegenheiten II. Beispielhaft ist der dienstliche Werdegang des bereits erwähnten Oberwachtmeisters Bernhard Rosenboom zu erwähnen: Rosenboom wurde am 15. 4. 1935 als Wachmann eingestellt. Nach der Lagererweiterung 1937 wurde er zum Oberwachtmann befördert, im Frühjahr 1939 wurde er Wachtmeister, nachdem er ins südliche Emsland verlegt wurde, wo acht weitere Lager entstehen sollten. Im Oktober 1943 wurde er schließlich zum Oberwachtmeister ernannt und noch im gleichen Monat zur Beaufsichtigung im Strafgefangenenlager West in Nordfrankreich eingesetzt. Zur gleichen Zeit wurde er ins Beamtenverhältnis bei der Untersuchungshaftanstalt Nürnberg übernommen, blieb aber an die Strafgefangenenlager abgeordnet (vgl. Entnazifizierungsakte Bernhard Rosenboom, NLA Aurich Rep 250 Nr. 1883). Einen leider stark lückenhaften Überblick über die Inhaber von Beförderungsstellen während des Krieges bietet NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1250. 239 Dieser Stichtag ergab sich dadurch, dass das RJM zu diesem Zeitpunkt formell erklärte, zum ursprünglich vom Preußischen Innenministerium gegebenen Siedlungsversprechen stehen zu wollen. Vgl. RMEL, 10. 3. 1936, in: BA Berlin ZR 934 A 9. 237 238

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Etablierung

101 die Wachmannschaft von Oberlangen bestehe »zu 90 Prozent aus alten bewährten SA-Männern, die den wahren SA-Geist in sich tragen und nur Pflichterfüllung, Opferbereitschaft und Disziplin kennen.«240 Insofern kam der Primärkohorte für das Pionierideal der ›Moor-SA‹ und die Herausbildung eines ›harten Kerns‹ der Wachmannschaften eine besondere Bedeutung zu.

Lagerstruktur und Dienstalltag Die SA-Wachtruppe wurde nahezu gleichmäßig auf die einzelnen Lager aufgeteilt, die auch baulich weitgehend ähnlich ausgestattet waren.241 Eine Ausnahme davon bildete das Lager Esterwegen, das als ›Doppellager‹ gebaut worden war und damit nicht nur über mehr Gefangenenbaracken verfügte, sondern auch eine größere Wachmannschaft beherbergen musste. Dies galt unverändert auch nach der erneuten Übernahme Esterwegens durch die SA 1937.242 Die zweite Abweichung von den ›genormten‹ Lagern für 1.000 Häftlinge war das 1935 in Betrieb genommene Lager Walchum, in dem nur halb so viele Gefangene untergebracht werden konnten. Weitere SA-Männer arbeiteten in Papenburg in der zentralen Kommandantur, die die Verwaltungsangelegenheiten des Lagerkomplexes regelte und die Dienstaufsicht über die einzelnen Lager hatte. Neben Polizeimajor Hoffmann und seinem Adjutanten Walter Engel war dort ein Oberwachtmeister angestellt, der als Fahrdienstleiter den gesamten Fuhrpark der Lager beaufsichtigte. In niedrigen Dienstgraden waren zunächst acht Schreiber, vier Telefonisten, acht Fahrer und zwei Waffenmeistergehilfen angestellt.243 Eine grundlegende Änderung dieser Struktur blieb nach der Übernahme durch die Justizverwaltung aus. Werner Schäfers Dienstgrad hieß anfänglich »Leiter der Verwaltung«, intern wurde er jedoch von Beginn an als »Kommandeur« bezeichnet.244 Sein Adjutant, Hans-Hugo Daniels, hatte diese Funktion bereits im KZOranienburg innegehabt.245 Eine Hauptwachtmeisterstelle für den Leiter der Bauabteilung war zum April 1934 neu geschaffen worden. Bei deren Besetzung wurde 240

241 242

243 244 245

Schreiben 6. 7. 1935, in: Angelegenheiten III. Kurz zuvor hatte Lagerleiter Zerbst für Neusustrum festgestellt: »Die meisten sind schon seit Anfang im Dienst« (Lagerleiter Neusustrum, 17. 5. 1935, in: ebd.). Vgl. Rudolf Marx: Die Kultivierung der Emsländischen Moore. Eine Kulturaufgabe des Staates, in: Deutsche Justiz 1 (1934), S. 732–734, hier: S. 733 f. In der Zwischenzeit hatte die SS allerdings von den KZ-Häftlingen das Lager zusätzlich mit einer Mauer umgeben und außerhalb des eigentlichen Lagergeländes ein Schwimmbad für die Bewacher errichten lassen. Vgl. Buck: Esterwegen, S. 211 u. 223. Vgl, NLA Osnabrück Rep 430 Dez 101 Akz 2004 /033 Nr. 27. Beamte etc. Vgl. Personalakte Hans-Hugo Daniels, BA Berlin R 3001 Nr. 53886.

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102 ein qualifizierender Berufsabschluss (Meister oder Abschluss an einer Ingenieursschule) erwartet, was selbst unter den Funktionsstellen eine Ausnahme war.246 Die Stellen der Wachtmeister und Wachmänner waren jeweils um 50 Prozent reduziert worden, wobei die Aufgaben der Waffenmeistergehilfen vollständig entfielen. Die nun fünf Wachtmeister und sechs Wachmänner arbeiteten dafür unter mehreren Verwaltungsbeamten, die von der Gefängnisverwaltung übernommen wurden. Diese Verwaltungsabteilung wurde von einem Strafanstaltsvorsteher geleitet, der auch die Führung der Kassenstelle wahrnahm.247 Ihm unterstanden vier Strafanstaltsinspektoren, von denen einer bei der Kassenführung assistierte. Die anderen drei Inspektoren leiteten die Bereiche Ökonomie, Arbeitsbetrieb und Geschäftsstelle. Zwei weitere Justizangestellte arbeiteten in der Kanzlei.248 Die staatlichen Konzentrationslager unterstanden jeweils einem Kommandoführer. In den Strafgefangenenlagern wurden diese schlicht als Lagerleiter bezeichnet; ihre Stellvertreter als Hauptwachtmeister. Unter ihnen hatten drei Oberwachtmeister als Zugführer die Aufsicht über die eigentliche Bewachung der Gefangenen. Ihnen war – entsprechend in drei Züge aufgeteilt – ein Großteil der Wachmänner unterstellt. Zunächst zwölf Wachtmeister nahmen Funktionen für die Verwaltung und Infrastruktur des Lagers wahr. Nach der Übernahme durch die Justizverwaltung verringerte sich deren Zahl zunächst auf maximal zehn pro Lager, die Gerätemagazin, Kammer, Küche, Poststelle und Waffenkammer beaufsichtigten oder als Platzmeister, Menagebuchführer, Sanitäter und Schreiber arbeiteten. Bereits 1935 waren einem Lager bis zu elf weitere Wachtmeister zur ›Fronttätigkeit‹ auf den Arbeitsstellen zugeteilt.249 Das Gros der Bewachungsmannschaften bildeten 107 (in der KZ-Phase 110) Wachmänner und Oberwachmänner (siehe Tab. II).250

Vgl. Beamte etc. Die Verwaltungsabteilung unterstand insgesamt Werner Schäfer – ähnlich wie nach der Ablösung der SS die von Verwaltungsdirektor Bergmann geführte Abteilung den Polizeikommandanten unterstellt gewesen war. 248 Vgl. Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: ebd. 249 Das Lager Walchum beschäftigte eine geringere Zahl von sechs Funktions- und vier Frontwachtmeistern. 250 Vgl. Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: Beamte etc. In der Praxis kam es immer wieder zu Abweichungen von diesen Sollstärken. 246 247

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Etablierung

103 Tab. II :

Etat für die Wachmannschaft eines Konzentrationslagers mit 1.000 Häftlingen Jahresgehalt

Jahresgehälter

Jeweils

Insgesamt

Wohnungsgeldzuschuss Tarifklasse

1

Kommandoführer

4.800 RM

4.800 RM

IV

1

stellv. Kommandoführer

3.100 RM

3.100 RM

V

3

Lageroberwachtmeister

2.300 RM

6.900 RM

V

1.800 RM

21.600 RM

VI

138.600 RM

VII

als Zugführer 12

Lagerwachtmeister als Unteroffiziere darunter :

1 Kammerunteroffizier 1 Geräteverwalter 1 Küchenunteroffizier 1 Koch 1 Materialienverwalter 1 Sanitätsunteroffizier 1 Waffenunteroffizier 1 Bürounteroffizier 4 Stationsleiter

110

Wachmänner darunter :

1.260 RM 2 Kraftfahrer 2 Telefonisten 1 Schreiber 2 Sanitäter

174.400 RM

Das Lager Börgermoor hatte eine weitere Hauptwachtmeisterstelle für die Leitung der zentralen Werkstätten zugeteilt bekommen. Mit der Inbetriebnahme des Lagers Aschendorfermoor wurde dort ein eigener Musikzug geschaffen, in dem 28 SA-Männer ausschließlich ›Musikdienst‹ zu versehen hatten. Durch die Einbindung in öffentliche Kulturveranstaltungen trug dieser maßgeblich zur Außenrepräsentation der ›Moor-SA‹ bei.251 In der Verwaltung der jeweiligen Lager arbeiteten je ein Strafanstaltsinspektor und ein -büroassistent, die – wie auch die Fachangestellten in der zentralen Verwaltung – in der Regel keine SA-Mitglieder waren.252 Vgl. BA Berlin R 2 Nr. 24006. Auf die breit angelegte Repräsentationskultur der ›MoorSA‹ wird in Kapitel III.2 und III.4 ausführlich eingegangen. 252 Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: Beamte etc. 251

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Abb. 6 :

»Vergatterung vor Aufziehen der Wache durch Hwm. Zerbst«, Lager Brual-Rhede 1934 /35.

Gleiches galt für die von den Lagern angestellten Mediziner. Im städtischen Marienhospital in Papenburg wurde eine eigene Abteilung für Gefangene und Wachmänner eingerichtet, die von Medizinalrat Dr. Woldemar Teigeler geleitet wurde. Dieser hatte auch die Oberaufsicht über die ärztliche Betreuung in den Lagern. Planungsgemäß sollte jedes Lager einen eigenen Lagerarzt haben, jedoch konnten nur selten alle Stellen besetzt werden, sodass meist mehrere Lager durch nur einen Arzt betreut wurden. In der Praxis übernahmen häufig Sanitätswachtmeister aus der SA die Leitung des Gefangenenlazaretts.253 In der Bezeichnung der einzelnen Stellen gab es Unterschiede zwischen dem Justizministerium als Arbeitgeber, das die offiziellen Dienstgrade vorgab, und der internen Lagerverwaltung, die nach der Funktion für die Lagerstruktur eine eigene sprachliche Regelung pflegte. So hießen die offiziellen Dienstränge zwischen Wachmann und Lagerleiter aufsteigend Unterwachtmeister (bzw. Gruppenführer), Wachtmeister, Ober- und Hauptwachtmeister. Intern wurden diese als Oberwachmann, Halbzugführer, Zugführer und Hauptzugführer (bzw. stellvertretender Lagerleiter) bezeichnet. Diese sprachliche Regelung war noch wäh253

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Über den Dienstantritt Teigelers wird berichtet in: Der Emsländer, 6. 5. 1934. Etablierung

105 rend der Zuständigkeit des Preußischen Innenministeriums entstanden und bildete in Anlehnung an militärische Begrifflichkeiten erneut die paramilitärische Ausrichtung der ›Moor-SA‹ ab.254 Im Dienstalltag wechselten sich die drei Bewachungszüge in einer Art Schichtsystem mit ihren Aufgaben ab. Der erste Tag begann vormittags mit Exzerzierübungen und gelegentlichen weltanschaulichen Schulungen. Ab dem Mittag begann ein 24-stündiger Bereitschaftsdienst zur Bewachung des Lagergeländes. Der Nachmittag des Folgetages stand zur freien Verfügung. Am dritten Tag hatte der Zug ›Außendienst‹ auf den Arbeitsstellen im Moor.255 Im Gegensatz zur Zwangsarbeit der Häftlinge bedeutete der Wachdienst für die SA-Männer kaum eine körperliche Arbeit. Dennoch empfanden die Wachleute ihre Arbeit als hart und belastend: W. E.: Und das will ich Ihnen auch sagen, das war ein ungeheuer schwerer Dienst, den die Leute, den wir alle damals gemacht haben. Stellen Sie sich vor, Sie müssen alle drei Tage, jeden dritten Tag vierundzwanzig Stunden Dienst machen, können Sie sich das vorstellen? Das war ’ne Selbstverständlichkeit. Und den nächsten Tag sitzen sie auf Posten.256 Das später in der Außendarstellung propagierte Bild, die ›Moor-SA‹ leiste »ihre schwere Arbeit« im Emsland in »freudiger Pflichterfüllung«,257 spiegelte sich demnach im Selbstverständnis der SA-Männer wider.

Erste Todesopfer : Neusustrum unter Hans Giese Nachdem die SA-Männer die Bewachung der Lager übernommen hatten, setzten umgehend wieder Gefangenenmisshandlungen ein. Während es in allen Lagern zu Gewaltakten kam und die Gewalt insbesondere nach der Einlieferung neuer HäftVgl. PA Engel. Im Lageralltag entstand wiederum ein eigener Sprachgebrauch, der insbesondere auf den unteren Dienstposten vorrangig ihre Funktion im Lager oder auf den Arbeitsstellen wiedergab. So bezeichneten Häftlinge Wachmänner, die ein Arbeitskommando befehligten, generell als ›Kommandoführer‹. Je nach Größe des Arbeitskommandos konnte der tatsächliche Dienstgrad des SA-Manns Gruppenführer, Wachtmeister oder bei den ›großen Kuhlkommandos‹ auch Oberwachtmeister sein. Auch die Inhaber von Wachtmeisterstellen, die ihren Dienst im Lager versahen, wurden meist nach ihrer Funktion, bspw. als ›Sanitätsbeamter‹ oder ›Platzmeister‹, bezeichnet. Vgl. etwa Heinz Hentschke: Moor und Heide ringsumher. Erinnerungen, Berlin (Ost) 1990, S. 36–41. 255 Vgl. Int WE, S. 13. 256 Ebd., S. 9. 257 Beide Zitate: Fünf Jahre Moor-SA, Neue Volksblätter, 29. 11. 1938. 254

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106 linge anschwoll, unterschieden sich die Gewaltregime einzelner Lager und konnten sowohl durch den Lagerleiter als auch bestimmte Personenkonstellationen auf der unteren Befehlsebene – vor allem des Platzmeisters und der Kommandoführer auf den Arbeitsstellen – verstärkt oder abgemildert werden.258 Mehrere Häftlinge bescheinigten beispielsweise Waldemar Schmidt, Misshandlungen unterbunden und die Gefangenen human behandelt zu haben.259 Insgesamt kam es zwischen dem Beginn der SA-Bewachung am 20. Dezember 1933 und der Übernahme der Lager durch das Justizministerium zum 1. April 1934 zu sechs Todesfällen in den Lagern. Am 4. Februar 1934 beging ein Häftling des von August Linnemann befehligten Lagers Esterwegen III Selbstmord. Die anderen fünf Todesfälle geschahen allesamt im Lager Neusustrum unter der Leitung von Hans Giese. Giese wurde am 20. Dezember 1898 in Berlin geboren. Ein Jahr später zog die Familie nach Hannover. Dort schloss Giese im März 1915 seine Schulzeit nach der Oberrealschule ab und meldete sich umgehend als Kriegsfreiwilliger. Er wurde zweimal verwundet und erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse, bei Kriegsende war er Unteroffizier. Wie Hubert Aerts wurde er von der Reichswehr übernommen und war in Münster und Hannover stationiert. In dieser Zeit machte er den Fahrlehrerschein, sodass er nach seinem Ausscheiden aus dem Militär bei verschiedenen Firmen in Hannover als Fahrlehrer arbeitete.260 Seit 1931 war Giese verheiratet und hatte mit seiner Frau drei Kinder. Nach dem Tod seiner ersten Frau 1948 bekam er in zweiter Ehe ab 1952 zwei weitere Kinder. 1931 trat Giese in die NSDAP ein261 und engagierte sich ab Anfang 1932 im Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK), wo er zum Staffelführer ernannt wurde. Über sein Eintreten für die nationalsozialistische Bewegung meinte er später wenig glaubhaft: In der Partei selbst habe ich mich nicht betätigt. Ich bin bis zu meiner Verwendung als Ausbilder der Wachmannschaft im Lager Neu-Sustrum im Rahmen des NSKK nur motorsportlich und in keiner Weise irgendwie politisch tätig gewesen.262 Vgl. Reinicke: Erziehung, S. 285–287. Vgl. beispielsweise Aussage Fritz Stahl, 27. 11. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218 sowie Klausch: Tätergeschichten, S. 284. Derartige Aussagen sind jedoch immer selektiv und bedeuten nicht, dass keine anderen Häftlinge misshandelt wurden bzw. es nicht zu anderen Zeiten verstärkt zu Gewaltakten kam. 260 Vgl. Ermittlungen Giese II. 261 Das genaue Datum seines Beitritts zur SA ist nicht bekannt, jedoch ist seine Mitgliedschaft sicher. 262 Ebd. Dieses Entlastungsnarrativ Gieses entspricht wohl kaum der Wahrheit. Zum einen war er NSDAP- und SA-Mitglied, zum anderen war auch das NSKK bei Partei- und SA-Veranstaltungen aktiv und organisatorisch in die SA eingebunden. Da Giese an dieser 258 259

106

Etablierung

107 Im Zuge der Wirtschaftskrise wurde Giese ab 1932 arbeitslos. Im Herbst 1933 erfuhr er schließlich über den Führer der Hannoveraner SA-Brigade 61 von der Beschäftigungsmöglichkeit bei den SA-Wachmannschaften im Emsland und wurde von diesem »beauftragt als Ausbilder der Wachmannschaft im Lager Neu-Sustrum tätig zu werden.«263 Ähnlich wie andere arbeitslose SA-Männer scheint Giese von einem vorgesetzten SA-Führer für den Dienst im Emsland vorgeschlagen worden zu sein, wäre jedoch nicht gegen seinen Willen abkommandiert worden. Wie auch bei den anderen Lagerleitern genügte Gieses Teilnahme am Ersten Weltkrieg anscheinend, um ihn für die Position eines Lagerleiters geeignet erscheinen zu lassen.264 Gemeinsam mit seinen Kollegen war er zwar zunächst in die Ausbildung der SA-Männer in Oberlangen eingebunden, jedoch stand bereits fest, dass er später Kommandoführer werden würde. Mit Übernahme der Bewachung durch die SA wurde Giese am 22. Dezember 1933 Lagerleiter von Neusustrum.265 In den vorangegangenen Wochen der Polizeibewachung hatten sich die Haftbedingungen in sämtlichen Lagern deutlich gebessert. Zwar kam es auch hier vereinzelt zu Misshandlungen, diese blieben jedoch die Ausnahme.266 Als die SA die Bewachung des Lagers übernahm, sollte sich die Lage jedoch umgehend verschlechtern. Der ehemalige Häftling Johann D. schilderte den Ermittlungsbehörden 1947, wie sich die Zustände unter den verschiedenen Bewachern unterschieden: Unter den SS-Wachmannschaften waren wir Häftlinge schon ziemlich schikaniert und geschlagen worden. Dieses besserte sich etwas, als die Schutzpolizei uns bewachte. Als Giese mit seinen SA-Leuten ins Lager kam, wurde es ganz schlimm. Nunmehr waren Mißhandlungen an der Tagesordnung.267

263 264 265 266

267

Stelle seine SA-Zugehörigkeit aber gänzlich unterschlägt, erscheint es durchaus plausibel, dass er in Wirklichkeit der Motor-SA angehörte, die erst 1934 mit dem NSKK zusammengelegt und aus der SA ausgegliedert wurde. Zum NSKK vgl. Dorothee Hochstetter: Motorisierung und »Volksgemeinschaft«. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931–1945, München 2004. Ermittlungen Giese II. Bereits zu seiner Abordnung ins Emsland meinte Giese: »Das war wohl deshalb, weil […] ich Berufssoldat gewesen war« (ebd.). Vgl. ebd. Ein derartiger Vorfall ereignete sich beispielsweise, nachdem die überwiegende Mehrzahl der Häftlinge im November 1933 gegen einen Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund gestimmt hatte. Die Polizisten zwangen die Gefangenen, durch den Schnee zu kriechen. Dabei wurden Häftlinge wohl auch geschlagen und getreten. Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1219. Vgl. auch Klausch: Tätergeschichten, S. 280 f. Ermittlungen Giese II. Auch Heinz H., ebenfalls ehemaliger KZ-Häftling, meinte zur Übernahme der Bewachung durch die SA: »Die Verhältnisse waren dann die gleichen, fast noch schlimmer als bei der SS« (NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221). H. gibt auch an, Giese selbst habe Häftlinge mit einem Gewehrkolben geschlagen.

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108 Hans Giese war unmittelbar an den Misshandlungen beteiligt und veranlasste diese persönlich. So gab ein anderer Häftling an: G[iese] begleitete die ausrückenden Arbeitskommandos, wobei er allerhand Schikanen befahl. Die Wachmannschaften mußten dann auf den Häftling, der sich nicht schnell genug hinwarf, mit dem Gewehrkolben schlagen. Einzelne Häftlinge wurden auch an der Arbeitsstelle unter Leitung des Giese von 2 Wachposten angetrieben und bis zum Umfallen geschlagen. Hiervon waren bes. die Juden betroffen.268 Auch der ehemalige Oberwachtmeister Walter Erhard, der später selbst wegen Gefangenenmisshandlung kurzfristig aus der Wachtruppe entlassen wurde, meinte im Interview rückblickend: »Der Giese, der Lagerleiter, der war ein Sadist damals schon, gleich von Anfang an. Ich mochte ihn absolut nicht. Aber er war ein echter und auch wahrscheinlich ein guter Soldat, kann man ihm nicht abstreiten, aber auch ein Angeber.«269 Die Einschränkung, Giese sei ein »guter Soldat« gewesen, weist jedoch auch auf ein Wertesystem hin, in dem Sekundärtugenden überhöht wurden und Gewaltakte, selbst wenn sie als Grenzüberschreitung wahrgenommen wurden, in diesem von ›Pflichterfüllung‹, Kameradschaft und Gehorsam geprägten Umfeld weder geahndet noch gemeldet werden konnten. Wenige Tage nach dem Jahreswechsel 1933 /34 wurden die Häftlinge Ludwig Pappenheim und August Henning angeblich ›auf der Flucht‹ erschossen.270 Pappenheim war bereits zuvor den Misshandlungen der SA-Männer ausgesetzt. So erinnerte sich sein Mithäftling Fritz Stahl: Pappenheim und ich wurden […] zum Lagerkommandanten befohlen. Dieser eröffnete uns, dass er aufgrund der Karteieintragung ersehe, dass wir beide Redakteure seien und somit als Träger marxistischen Gedankengutes als besonders gefährliche Volksverbrecher zu gelten hätten. Zunächst hätten wir besonders schwere Arbeiten zu verrichten. Nach dieser Eröffnung wurden wir einem Sonderkommando zugeteilt, das die Aufgabe hatte, nassen Sand in besonders großen Schubkarren nach einem etwa 200 m entfernten Ziel im Laufschritt zu fahren. Angesichts der Hungerration, die wir im Lager bekamen, hielt keiner von den Häftlingen lange aus und machten schlapp. Schläge mit dem Gewehrkolben und Fußtritte machten uns völlig leistungsunfähig. Pappenheim, der dick

Ermittlungen Giese II. Int WE, S. 8. 270 Vgl. Meldung Kommandantur, 4. 1. 1934, in: KW I, S. 196. 268 269

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109 aufgeschwollene Hände hatte, war nicht mehr fähig, auf seinen Beinen zu stehen. Kriechend musste er unter Schlägen und Fußtritten ins Lager zurück.271 Dass Pappenheim von den SA-Männern besonders schlimm misshandelt wurde, lag wohl daran, dass er als SPD-Politiker, Jude und kritischer Journalist in mehrfacher Hinsicht deren Feindbild entsprach.272 August Henning wiederum war ein kommunistischer Kommunalpolitiker. Auch er war zuvor in der Arrestbaracke misshandelt worden.273 Am Morgen des 4. Januar 1934 konnten die Arbeitskommandos aus Lager V aufgrund von Nebel nicht ausrücken. Dennoch wurden Henning und Pappenheim gegen 10 Uhr aus ihrer Baracke geholt und von zwei oder drei SA-Männern aus dem Lager geführt. Gegen Mittag erreichte die Nachricht das Lager, dass die beiden auf der Flucht erschossen worden seien.274 Die Aussagen ehemaliger Häftlinge und SA-Wachen weisen in diesem Fall eine ungewöhnliche Einigkeit bezüglich eines Vorsatzes und der Verantwortlichkeit für die Todesfälle auf.275 Ein Gefangener gab an, er habe zufällig eine Unterhaltung im Dienstzimmer des Kommandanten mitgehört, in der gesagt wurde, »heute wird der Papenheimer […] erschossen.«276 In anderen Aussagen wird betont, beide wären aufgrund der Misshandlungen körperlich gar nicht in der Lage gewesen, einen Fluchtversuch zu unternehmen.277 Der Kantinenpächter des Lagers war Mitglied der Allgemeinen SS und hatte den Betrieb bereits im Herbst 1933 übernommen. Der Polizei im westfälischen Münster sagte er 1959, er sei persönlich nicht Zeuge der Erschießungen gewesen, habe aber Kenntnis von der Mordpraxis der SA-Wachen gehabt: 271 272 273 274

275

276 277

Ermittlungen Giese II. Zur Biographie Ludwig Pappenheims vgl. Dietfrid Krause-Vilmar: Das Konzentrationslager Breitenau. Ein staatliches Schutzhaftlager 1933 /34, Marburg 22000, S. 191–203. Vgl. Ermittlungen Giese II. Vgl. Kommandantur, 4. 1. 1934, in: KW I, S. 196. Als Todesschützen wurden die Wachmänner Johann S. und Robert B. angegeben. Zur Zahl der anwesenden SA-Wachen liegen unterschiedliche Angaben vor. Möglich ist auch, dass zwei SA-Männer und ein Arbeitsanweiser die beiden begleiteten. Vgl. Ermittlungen Giese II und Dietfrid Krause-Vilmar: Ludwig Pappenheim (1887–1934). Vortrag in der Gedenkstätte Breitenau am 11. Juni 2002, S. 16, Online-Ressource unter ‹http://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34–2006120416046 /1/ansprache_vortrag_pappenheim_2002.pdf›, letzter Abruf: 13. 10. 2013. Krause-Vilmar gibt an gleicher Stelle für einen der Schützen den Klarnamen an, liefert dafür jedoch keine Belegstelle. Bei den Aussagen ehemaliger SA-Männer, die teils in polizeilichen Vernehmungen erfolgten, mag dies sowohl eigene Entlastungsstrategie gewesen sein als auch an den geringen Loyalitätsbindungen an Giese aufgrund dessen kurzer Dienstzeit gelegen haben. Aussage Georg G., 19. 7. 1950, in: Ermittlungen Giese II. Vgl. ebd.

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110 Es kam jedoch öfters vor, dass Angehörige der Wachmannschaft in angetrunkenem oder betrunkenem Zustand irgend etwas über die Geschehnisse verlauten liessen. […] Ich weiß aus Erfahrung, dass Erschiessungen von Häftlingen fast ausnahmslos auf den Arbeitsplätzen vorgekommen sind. […] von Erzählungen der Wachmannschaften in der Kantine erfuhr ich, dass die Häftlinge durch irgendeinen Vorwand vom Arbeitsplatz weggeschickt wurden und sie dann ›auf der sog. Flucht‹ erschossen wurden.278 Wachmann Walter H. arbeitete Anfang 1934 in der Verwaltung des Lagers Neusustrum. Noch 30 Jahre später konnte er sich an Pappenheim erinnern, von dessen Erschießung er aber nur gerüchteweise gehört habe: »Es wagte aber keiner von uns, nach Einzelheiten zu fragen, denn Giese führte ein strenges Regiment. […] Ich weiß auch nicht, wer den Befehl ausgeführt hat. Ohne Wissen des Giese kann es aber nicht geschehen sein.«279 H. ging demnach davon aus, dass es einen entsprechenden Befehl gegeben haben musste. Er versuchte also im Gegensatz zu vielen seiner ehemaligen Mitwachen nicht, die Schutzbehauptung des Fluchtversuchs (oder der völligen Unkenntnis) nach dem Ende des NS-Regimes aufrecht zu erhalten.280 Auch Walter Erhard gibt im Interview an, dass Giese einen entsprechenden Befehl gegeben habe: Und dann komm ich zufällig dazu, wie er zwei von meinen Leuten vom dritten Zug- er hatte sich die besten Schützen – er wusste das natürlich von den Schießübungen – die besten Schützen ausgeholt- herbeigeholt hatte und einen Gefangenen übergab und sagt: ›Da hinten ist der Vorfluter, der ist verstopft, der muss aufgemacht werden, das soll der Mann machen. Da gehen aber, weil Nebel ist, zwei Mann mit.‹ Der hatte aber mit den Beiden schon vorher gesprochen, und die beiden sollten den Gefangenen erschießen. Das war ein Jude.281

Ermittlungen Giese I. Aussage Walter H., 22. 1. 1964, in: Ermittlungen Giese II. 280 Eine eigene Verantwortung stritt er aufgrund der damaligen Tätigkeit in der Verwaltung ab; erst 1936 war er im Lager Brual-Rhede direkt mit der Bewachung von Häftlingen befasst. Insofern war es ihm in der Erzählsituation möglich, Angaben zur Gewalt der SA-Männer zu machen, ohne dabei auf etwaige eigene Verfehlungen oder Straftaten hinzuweisen. Auf die Möglichkeit von Häftlingserschießungen als Teil einer intrinsischen Gewaltpraxis, die ohne Befehlsstrukturen entstand, verweist er dementsprechend nicht. 281 Int WE, S. 15. An den Namen Pappenheim erinnert sich Erhard erst auf Nachfrage; August Henning kommt in seiner Erzählung nicht vor. Die Angaben sind dennoch wertvoll, da sie nicht im Zusammenhang mit den polizeilichen Ermittlungen stehen, als Parallelüberlieferung aber weitgehend die Angaben der ehemaligen Häftlinge bestätigen. 278 279

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111 In den nächsten Monaten starben mit Otto Böhne und Herbert Schiemann noch zwei weitere Schutzhaftgefangene in Gieses Machtbereich.282 Bereits vor der offiziellen Übernahme durch das Preußische Justizministerium war am 14. März 1934 der Strafgefangene Johann Wendling in das Lager Neusustrum verbracht worden. Nachdem er mehrfach von SA-Wachen zusammengeschlagen worden war, wurde er in das Papenburger Marienhospital eingeliefert. Dort starb er am 1. April 1934, dem Tag der Übernahme der Lagerzuständigkeit. Der obduzierende Arzt konnte keine eindeutige Todesursache feststellen, nahm jedoch ohne nähere Kenntnis der Vorgeschichte eine Blutvergiftung an.283 Ihm war nur bekannt, »dass der Kranke mit Verletzungen am Rücken, am Geschlechtsteile und an der rechten Gesäss-Seite ins Krankenhaus eingeliefert worden sei.« Laut Untersuchung war Wendlings Körper an den Armen, am Rücken und am Gesäß übersäht mit Hämatomen, »blasigen Abhebungen« und »Hautverlust in seiner größten Ausdehnung von 19 cm Länge und in seiner größten Breite von 12 cm«;284 zum Teil lag die Muskulatur frei zutage. Eine Fremdeinwirkung konnte oder wollte er dennoch nicht sicher feststellen. Noch vor Wendlings Überstellung ins Krankenhaus fertigte Giese einen Vermerk zu dessen Behandlung an. Darin meinte er: »Infolge seines ausserordentlich flegelhaften Verhaltens nahm ich an, dass W. ein Idiot sei.« Vor allem zum Schutz vor den anderen Gefangenen habe man ihn mehrfach in Arrest genommen. Warum er bereits am 20. März ins Lazarett gekommen war, erwähnte Giese nicht. Ansatzweise Aufschluss darüber liefern die Aussagen des Platzmeisters Ludwig Eickmann und des Wachtmeisters Otto Rekindt. Eickmann gab an, Wendling habe ihn mit »fortgesetzten Beleidigungen wie: ›Polacken, Aschlöcher [sic!], Idioten, Sonnenbrüder!‹« bedacht und sich wiederholt den Anordnungen der Wachmannschaften widersetzt. Weiter schrieb er: »Da dieses Verhalten meine autoritative Stellung in den Augen der anderen Mitgefangenen gefährdete, habe ich verschiedentlich von meinem Gummiknüppel Gebrauch machen müssen.«285 Auch Rekindt sagte aus, er habe Wendlings ›Widerstand‹ mit dem Gummiknüppel brechen müssen, als dieser sich weigerte, aus seiner Arrestzelle zu treten und stattdessen ruhig auf seiner Pritsche liegen blieb. Die großflächigen Verletzungen an seinem Oberkörper, die wohl Vgl. Klausch: Tätergeschichten, S. 286. Der zuständige Richter bemerkte dazu, »dass bei der Vornahme der Leichenöffnung die gerichtlichen Akten noch nicht wieder eingegangen waren. Der Sachverhalt wurde den Sachverständigen von dem unterzeichneten Richter aus dem Gedächtnisse wiedergegeben. Es wurde ferner versucht, das Krankenblatt vom Marienhospital in Papenburg einzuziehen. Das Krankenblatt war noch nicht aufgestellt. Der behandelnde Arzt war infolge einer Versetzung nicht zu erreichen. Die Schwester, die den Kranken zuerst gepflegt hat, war verreist« (Ermittlungen gegen Angehörige der Wachmannschaften 1934–1937, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225). 284 Beide Zitate ebd. 285 Sämtliche Zitate ebd. 282 283

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112 zu seinem Tod führten, hatte sich Wendling nach Aussage der SA-Männer hingegen selbst zugefügt, als er aus dem Fenster der Arrestbaracke geklettert war. Aus medizinischer Sicht scheint es schwer nachvollziehbar, dass im Gutachten ein Fremdverschulden nicht sicher festgestellt werden konnte, zumal sich Wendling zunächst seine Verletzungen bei der Flucht aus der Arrestbaracke selbst zugefügt haben sollte, anschließend aber nur unter Gewaltanwendung zweier Wachmänner wieder in seine Zelle zu bewegen war. Innerhalb von drei Monaten waren unter Gieses Kommando damit fünf Häftlinge umgekommen. Diese Zahl war wohl auch seinen Vorgesetzten zu viel: Bereits vor Wendlings Tod hatten interne Ermittlungen der Justizverwaltung begonnen, die anschließend von der Staatsanwaltschaft Osnabrück fortgeführt wurden. Werner Schäfer, seit Anfang April der neue Kommandeur, entließ Giese nur wenige Wochen später – wie er später angab allerdings, »weil Giese mit den Gefangenen Nachtalarme durchgeführt hatte und meine Befehle nicht ordnungsgemäß ausgeführt hatte.«286 Nach seiner Entlassung kehrte Giese im Mai 1934 nach Hannover zurück, wurde aber rund zwei Wochen später von SA-Feldjägern verhaftet. Zunächst wurde er nach Osnabrück in Untersuchungshaft verbracht. Das Verfahren im Fall Wendling wurde zwar im Juni 1934 eingestellt und Giese ohne die Erhebung einer Anklage wieder entlassen, aus der NSDAP wurde er jedoch ausgeschlossen.287 Anschließend arbeitete er wieder als Fahrlehrer und zog 1937 nach Hildesheim. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er für 18 Monate in einem amerikanischen Internierungslager inhaftiert – nach eigenem Bekunden, »weil ich alter Parteigenosse war.«288 Bis 1949 arbeitete er dann (freiwillig) als Vormann für die German Civil Labour Organisation, danach erneut als selbständiger Fahrlehrer in Hildesheim. 1964 ging er in Rente. Ermittlungen gegen Giese aufgrund seiner Beteiligung an Verbrechen in den Emslandlagern waren zwar schon seit den ersten Nachkriegsjahren angestrengt worden, wurden aber am 7. Juli 1966 ergebnislos und endgültig eingestellt.289

Aussage Schäfer, 12. 10. 1948, in: Ermittlungen Giese II. Schäfers Adjutant Daniels gab jedoch im Nachkriegsverfahren gegen Gieses Nachfolger Maue an, dass »der Vorgänger des Angeklagten, der Lagerleiter Giese wegen Gefangenenmißhandlung aus dem Dienste entfernt« wurde (NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413). 287 Vgl. Ermittlungen gegen Angehörige der Wachmannschaften 1934–1937, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225 u. Ermittlungen Giese II. 288 Ebd. 289 Vgl. ebd. 286

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113 Gewalt als Initiationsritus Mit ihrem Funktionswechsel im April 1934 waren die Strafgefangenenlager explizit Teil des regulären nationalsozialistischen Strafvollzugs geworden.290 Die Entlassung Hans Gieses ist daher auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die staatlichen Stellen – in diesem Fall das Justizministerium unter Mithilfe der Staatsanwaltschaft Osnabrück – 1934 versuchten, ihre Ansprüche auf die Kontrolle der Lager stärker umzusetzen.291 Dies unterschied die Strafgefangenenlager grundlegend von der Phase der staatlichen Konzentrationslager unter SA-Bewachung. Denn trotz aller anderslautenden Ankündigungen im November 1933 hatte die Bezirksregierung Osnabrück, die in Form des kommissarischen Kommandanten Hoffmann ja vor Ort vertreten war, die Lager nicht regelmäßig inspiziert oder irgendwie versucht, die Wachmannschaften in ihrer Bewachungssituation zu kontrollieren, wie sich auch im Fall Giese gezeigt hatte. So kam es nach Gieses Entlassung dazu, dass weitere Todesfälle vorläufig ausblieben. In sämtlichen vier Strafgefangenenlagern gab es 1934 fünf Todesfälle, davon jedoch nur zwei nach Gieses Entlassung. In den folgenden Jahren stieg die Todesrate zwar wieder an, erlangte aber nicht das unter Giese erreichte Niveau.292 Allerdings sollten sich derartige Kontrollversuche nur bedingt auf die Gewaltpraxis der Wachmannschaften auswirken. Denn trotz des weit auslegbaren Spielraums für ›disziplinarische‹ Gewalt kam es immer wieder zu Fällen, in denen die Gewalthandlungen der SA-Männer darüber hinausgingen. Daraufhin konnten – wie auch im Fall Wendling – Untersuchungen der Staatsanwaltschaft eingeleitet werden. Bereits in diesem frühen Fall reagierten die Wachmänner mit übereinstimmenden Aussagen, in denen sie versuchten, ihre Handlungen als regelkonform zu beschreiben. Diese Strategie hatte Erfolg. Keiner der beteiligten Wachmänner wurde dienstlich für das Vorgehen belangt. Die Entlassung Gieses und kurz darauf auch seines Stellvertreters293 beruhte letztlich auf einer Entscheidung Werner

Vgl. KW II, S. 2253. Die Bezeichnung ›regulärer‹ Strafvollzug dient hier und im Folgenden der Unterscheidung von der Schutzhaft. Analog dazu meinen ›reguläre‹ Haftanstalten Gefängnisse und Zuchthäuser, also keine Lagerhaft. 291 Auch gegen den Kommandanten des Lagers Esterwegen II, Heinrich Remmert, strengte die Staatsanwaltschaft Osnabrück ein Verfahren an, das im November 1934 sogar mit dessen Verurteilung zu 15 Monaten Gefängnishaft endete. Remmert verbüßte jedoch nur 13 Wochen Untersuchungshaft, da Hitler das Verfahren niederschlug. Remmert wurde anschließend Schutzhaftlagerführer im KZ Lichtenburg. Vgl. Gruchmann: Justiz, S. 363–366. 292 Kosthorst und Walter geben für die Strafgefangenenlager bis 1939 folgende Zahlen an: 1934: 5, 1935: 13, 1936: 16, 1937: 32, 1938: 16, 1939: 23. Vgl. KW III, S. 3552 u. 3573–3576. 293 Der Name dieses Hauptwachtmeisters wird mehrfach mit Watermann angegeben, an anderer Stelle jedoch mit Wartemeier. Weiteres ist über ihn nicht bekannt. Auch ein 1947 angestrengtes Ermittlungsverfahren musste aufgrund ungeklärter Personalien eingestellt 290

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114 Schäfers, der bei diesem Vorfall kurz nach seinem Dienstantritt im Sinne des Justizministeriums handelte und damit den SA-Wachmannschaften seine Machtstellung demonstrierte, gleichzeitig aber tunlichst vermied, in seinen Stellungnahmen explizit von Gefangenenmisshandlung zu sprechen. Zudem ergab sich für ihn durch die Entlassung Gieses die Möglichkeit, mit Wilhelm Maue einen seiner SA-Führer aus Oranienburg auf diese Position zu berufen.294 Als Wilhelm Maue von Schäfer als Lagerleiter eingeführt wurde, lautete seine Ansage an die Wachmannschaft angeblich: »Besauft euch nicht, beschlaucht euch nicht, dann habt ihr’s gut bei mich.«295 Abgesehen vom vorläufigen Ausbleiben weiterer Todesfälle änderte sich an der Gewaltpraxis im Lager Neusustrum wenig. Aufgrund seines Auftretens erhielt Maue von den Häftlingen bald den Spitznamen »Nero«. In der Anklage gegen ihn vor dem Landgericht Osnabrück im September 1950 heißt es: Die Misshandlungen der Gefangenen begannen in der Regel sofort bei Ankunft der Häftlingstransporte auf der Bahnstation. Die Gefangenen wurden regelrecht aus den Waggons herausgeprügelt und in die Waggons der zu den Lagern führenden Kleinbahn hineingeprügelt. Dies erfolgte unter lauten Beschimpfungen und Bedrohungen.296 Die Misshandlung der Häftlinge bei ihrer Ankunft im Emsland ist dabei keineswegs spezifisch für Maues Kommando, sondern war das allgegenwärtige ›Begrüßungsritual‹, dem die Gefangenen ausgesetzt waren  – oft noch im Beisein des Justizpersonals, das sie auf dem Transport bis dahin bewacht hatte.297 Die Drohkulisse, die die SA-Männer damit von Beginn an aufbauten, beschreibt der wehrmachtsgerichtlich verurteilte Hans Frese: In Lingen [werden wir] von einer stattlichen Schar ›Blauer‹ – so nennen wir unsere Bewachungsleute – in Empfang genommen. Die Maschinenpistolen werden

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werden. Vgl. Ermittlungsverfahren gegen Waterkant o. Ä., NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 461. Neben Maue stellte Schäfer zu diesem Zusammenhang mehrere ehemalige Angehörige seiner Wachmannschaft in Oranienburg ein. Vgl. Schreiben 6. 7. 1934, in: Angelegenheiten I. So wiedergegeben in Int WE, S. 11. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413. Vgl. nur beispielhaft aus unterschiedlichen Abschnitten der Lagergeschichte und für verschiedene Einzellager Henze: Hochverräter, S. 48–50; Hentschke: Moor, S. 19–22 und Hans Frese: Bremsklötze am Siegeswagen der Nation. Erinnerungen eines Deserteurs an Militärgefängnisse, Zuchthäuser und Moorlager in den Jahren 1941–1945, Bremen 1989, S. 49 f. Derartige Vorkommnisse finden sich in praktisch allen Häftlingsberichten und -aussagen, in denen die Ankunft in den Lagern thematisiert wird. Etablierung

115 vor unseren Augen geladen, und ab geht es zum Bahnhof. Dort hagelt es die ersten Ohrfeigen. Dem Kommandoführer geht nichts exakt genug: das Einsteigen zu langsam, die Haltung zu schlapp.298 Auch bei Ankunft im Lager waren Häftlinge Gewalthandlungen der SA-Männer ausgesetzt. Eine spezifische Ausformung dieser Gewaltpraxis war der ›Spießrutenlauf‹ unter Wilhelm Maues Kommando. Unter seiner Lagerleitung wurde dieser sowohl in Neusustrum als auch ab 1935 in Börgermoor praktiziert. Dabei hatten »die Gefangenen […] bis zur Aufnahmebaracke die Reihen der Wachtmänner zu passieren, die mit Händen und Fäusten auf sie einschlugen.«299 Insbesondere in den Wochen nach der Ankunft neuer Häftlingstransporte kam es zu Gewalthandlungen und -exzessen der Wachmänner. Die ›Moor-SA‹ verdeutlichte damit umgehend die Machtverhältnisse in den Lagern, in denen die Gefangenen fortwährend der Willkür ihrer Bewacher ausgeliefert waren.300 Schauplätze dieser Misshandlungen waren der ›Moorexpress‹301 – eine Kleinbahn, auf der die Gefangenen in offenen Waggons in die Lager und auch zum Arbeitseinsatz im Moor gebracht wurden –, die häufig entlegenen Arbeitsstellen302 sowie auch die Lager selbst. Hier wurde bereits beim morgendlichen ›Bettenbau‹ tatsächliche oder vermeintliche Unordnung mit Schlägen geahndet. Ein Pfarrer der Bekennenden Kirche meinte zu seiner Inhaftierung im Emsland: »Am Anfang meines dortigen Aufenthaltes war es besonders schlimm mit einer überspannten militärischen Disziplin.«303 Auch bei der Einteilung der Arbeitskommandos wurden Gefangene vom Platzmeister und seinen Untergebenen geschlagen und getreten, meist unter 298

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Frese: Bremsklötze, S. 49. Hans Frese wurde im Oktober 1942 von der im Emsland gelegenen Strafanstalt Lingen in die Strafgefangenenlager überführt. Die Behandlung von neu ankommenden Strafgefangenen glich sich also im gesamten Beobachtungszeitraum. Verfahren gegen Maue, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413. Vgl. Habbo Knoch: Schreiben im Verborgenen. Ein biographischer Versuch über Wilhelm Henze, in: Henze: Hochverräter, S. 247–283, hier: 261 f.; grundsätzlich zur Gewalt in den Emslandlagern auch Suhr: Emslandlager, S. 80–134. Bei Fahrten mit dem ›Moorexpress‹ wurden Gefangene vor allem beim Ein- und Aussteigen misshandelt. Dabei wurden Gefangene zur Eile angetrieben, wobei ihnen aber verboten war, über die Seitenwände zu klettern. Waren die Gefangenen nicht schnell genug, wurden sie geschlagen. Versuchten sie über die Seitenwand zu klettern, um schneller zu sein, wurden sie von Wachmännern heruntergerissen und ebenfalls geschlagen. Vgl. nur beispielhaft das Urteil gegen Paul Loss, der als Halbzugführer in Börgermoor sowohl auf der Feldbahn, im Moor und im Lager Gefangene misshandelte: Urteil in der Strafsache gegen Kaiser u. a. vom 29. 6. 1950, in: Handakten Maue, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 414 (im Folgenden: Urteil Kaiser u. a.). Auf die Gewalt während des Arbeitseinsatzes wird in Kapitel III.2 gesondert eingegangen. Zeugenaussage Gustav L., 14. 11. 1947, in: Emsland-Sache Zeugenvernehmungsprotokolle, Bd. III, Bl. 1–320, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218.

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116 dem Vorwand, dass einzelne Häftlinge eigenmächtig versucht hätten, in vermeintlich leichtere Arbeitskommandos zu gelangen und damit Unordnung auf dem Appellplatz hervorgerufen hatten.304 Nach der Rückkehr von den Arbeitsstellen im Moor wurden einzelne Gruppen von Häftlingen für angebliche Minderleistung oder Aufsässigkeit auf dem lagereigenen Sportplatz beim ›Strafexerzieren‹ oder ›Lagersport‹ so lange gescheucht, geschlagen und getreten, bis einige aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen konnten: Diese Art der Bestrafung war eine der grausamsten, die ein menschliches Gehirn ersinnen konnte. Mit Aufstehen und Hinlegen ging es durch ein schmutziges und morastiges Gelände bis zur völligen Erschöpfung, gejagt von Gummiknüppeln und abgerichteten Hunden. Häftlinge, welche zusammengebrochen am Boden liegen blieben, wurden mit Kolbenschlägen und Fußtritten so lange bearbeitet, bis sie sich am Boden kriechend weiter fortbewegten. Außerdem drohte ihnen eine Anzeige wegen Befehlsverweigerung mit nochmaliger Bestrafung, meistens Einkaufsentzug.305 Als weitere kollektive Strafe für vermeintlich fehlende Arbeitsdisziplin oder mangelnde Sauberkeit in den Baracken mussten die Häftlinge abends bei Sonderappellen stundenlang ausharren – oft begleitet von weiteren Beschimpfungen und Schlägen.306 Ein Lagerarzt, der offensichtlich andere Maßstäbe an den Justizvollzug anlegte, bemängelte, es werde »viel eher hingenommen, daß Gefangene verprügelt werden, als daß z. B. die Kopfkeile der ganzen Baracke nicht völlig gleichmäßig ausgerichtet in einer Linie liegen. Solche übertriebenen Äußerlichkeiten formaler Ordnung lassen sich ohne Schläge kaum durchführen.«307 Auch beim Abendappell in den Baracken kam es zu Misshandlungen. Oberwachtmeister Hermann Kaiser beispielsweise beorderte die Gefangenen unter einem Vorwand in den benachbarten Tagesraum. Er und ein weiterer Wachmann schlugen dann »auf die sich durch die Tür drängenden Gefangenen mit der flachen Seite Vgl. KW II, S. 1985–2035 u. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342. Heinz M., 20. 11. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218. ›Lagersport‹ war als kollektives Gewaltritual in NS-Zwangslagern durchweg verbreitet. Vgl. Veronika Springmann: »Sport machen«. Eine Praxis der Gewalt im Konzentrationslager, in: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hg.): KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der Konzentrationslager und ihrer Erinnerung, Berlin 2007, S. 89–101. 306 Ein nur unter dem Spitznamen ›Leo‹ bekannter Kommandoführer ließ beispielsweise »nach der Arbeit alle Leute, die ihr Pensum nicht geschafft hatten, besonders antreten und verprügelte jeden einzelnen vor versammelter Mannschaft mit dem Gummiknüppel« (Brief Konrad D., 20. 10. 1947, in: Emslandlagersache Sonderheft, Bd. IVa, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221). 307 Zit. n. Suhr: Emslandlager, S. 95. 304 305

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117 ihres Seitengewehrs ein und traten die Gefangenen mit ihren Stiefeln.«308 Die sogenannte ›Kaiserwache‹, wenn Kaisers Zug die Innenbewachung des Lagers übernahm, war auch deswegen berüchtigt, weil Kaiser und andere Wachleute Gefangene »wegen irgendeiner angeblichen Ordnungswidrigkeit […] in Hemd und Unterhose mit blossen Füßen aussen um die Baracke laufen« ließen.309 Neben unmittelbar körperlicher Gewalt ersannen die SA-Männer auch verschiedene Formen der Erniedrigung. Mehrere Gefangene gaben an, im Lager mit Kot und Urin überschüttet worden zu sein.310 Beim ›Sport‹ hielten Wachmänner auf dem Boden liegenden Gefangenen das Bajonett in den Nacken oder ans Gesäß, um diese zu ›kitzeln‹ und damit am Aufrichten zu hindern.311 Lagerleiter Maue schlug Gefangene mit einer Hundepeitsche und hetzte zwei Doggen auf die Häftlinge, angeblich mit den Worten »mögt ihr Menschenfleisch?«312 Eine weitere Form der Demütigung in Verbindung mit körperlicher Gewalt waren repetitive Schikanen. Dies geschah häufig beim ›Sport‹, wenn Gefangene beladene Schubkarren parallel zur Lagerstraße endlos auf und ab durch den Sand schieben oder auf dem Sportplatz sich abwechselnd hinlegen, robben, aufstehen, laufen etc. mussten.313 Kommandoführer Loss zitierte einen ihm bei der Arbeit auffällig gewordenen Gefangenen in die Baubaracke und versetzte ihm mehrere Schläge ins Gesicht. Anschließend schickte er ihn heraus, »rief ihn aber, nachdem dieser die Tür geöffnet hatte, wieder zurück, schickte ihn wieder heraus, rief ihn wieder herein und so mehrere Male. Dabei trat er [dem Gefangenen] jedesmal, wenn dieser sich anschickte herauszugehen, mit dem Stiefel ins Gesäss.«314 Mit derartigen sinnentleerten Wiederholungsschikanen, menschenverachtenden Demütigungen und entgrenzten Gewaltakten drückten die SA-Männer ihre männliche Dominanz aus und verdeutlichten den Gefangenen, dass diese der Willkür ihrer Bewacher nahezu vollständig ausgeliefert waren. Ziel dieser Initiationsphase war, durch die zwangsweise Unterordnung unter eine gewaltgetränkte, militarisierte Hierarchie die zuvor aktive und eigenständige Lebensform der Häftlinge

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Urteil Kaiser u. a. Ebd. Vgl. auch NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221. Vgl. Aussage Werner M., 9. 2. 1949, in: NLA Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001 /054 Nr. 123; Aussage Richard R., 27. 11. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221 sowie Anklage gegen Werner Schäfer 1950, in: KW III, S. 2505–2550, hier: S. 2519. Vgl. Urteil Schäfer 1950, S. 2690. Eidesstattliche Erklärung August A., 8. 11. 1948, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 36 /1995 Nr. 13. An gleicher Stelle bezeugen auch andere Häftlinge dieses Vorgehen Maues. Auch andere Lagerleiter und Kommandoführer waren dafür berüchtigt, ihre Hunde auf Häftlinge zu hetzen. Vgl. Aussage Hans v. D., 9. 9. 1948, in: Strafsache Hermann Lehmann, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 388. Vgl. Aussage Karl I., 15. 7. 1949, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1223. Urteil Kaiser u. a.

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118 zu brechen.315 Die Gewaltmuster ähnelten vielfach denen in frühen Schutzhaftlagern, was zum einen an den personellen Kontinuitäten in den ab November 1933 aufgestellten Wachmannschaften lag. Zum anderen wurden aber nach der Ankunft Werner Schäfers und anderer SA-Führungskräfte wie Wilhelm Maue verschiedene Elemente der Lagerhaft aus Oranienburg direkt übernommen.316 Einige Wochen nach der Ankunft neuer Häftlingskontingente klangen die Gewaltexzesse meist wieder ab. Die Strafgefangenen hatten in dieser Phase in aller Regel »einen habituellen Lernprozeß durchgemacht […], indem sie auf dem Grat zwischen bedingungsloser Unterordnung und lebensgefährlicher Protesthaltung wanderten.«317 Dazu gehörte das Lernen von Verhaltensweisen, die ihnen ermöglichten, sich den totalen Forderungen nach Arbeitseinsatz und Selbstaufgabe zu entziehen und dabei dennoch unauffällig zu bleiben: ein gemeinsamer Sprachcode, der auch Spitznamen für die SA-Wachen beinhaltete,318 eine arbeitsam wirkende, aber schonende Haltung bei der Moorarbeit sowie heimliches Essen und Rauchen.319 Die Bewacher der ›Moor-SA‹ hatten zu dieser Zeit ihre Dominanz der ungleichen Machtverhältnisse bereits nachhaltig unter Beweis gestellt. Zwangsarbeit, Unterversorgung, Drill und willkürliche Gewalt bildeten das Repertoire ihrer ›erzieherischen‹ Maßnahmen. Die SA-Männer erhoben damit ihre eigene militärisch-hierarchische Überformung zum Leitbild der Lagerhaft.320

3. »Die Eroberung einer Provinz«.321 Das Emsland als utopischer Planungsraum Mit dem Lagerprojekt im nördlichen Emsland waren von Beginn an Bestrebungen zur Modernisierung der Region verknüpft. Durch den umfassenden Arbeitseinsatz der Gefangenen sollten die großen Moor- und Ödlandflächen der Region kultiviert werden. Die Ansprüche von Preußischem Innenministerium und später dem Reichsjustizministerium, Häftlinge zu gemeinnützigen Arbeiten einsetzen zu wollen, trafen hier auf das Interesse der Behörden vor Ort, die Region beschleunigt 315 316 317 318

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Vgl. Knoch: Schreiben, S. 261 f. Vgl. KW III, S. 2514–2521. Vgl. Knoch: Schreiben, S. 262. Dies ging so weit, dass manche Häftlinge die SA-Männer nur unter diesen Spitznamen kannten und in ihren Anzeigen nach Kriegsende die tatsächlichen Namen ihrer Bewacher nicht nennen konnten. Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1220 u. 1221. Vgl. beispielhaft Henze: Hochverräter, S. 123–132. Zu soldatischen Männlichkeitsentwürfen in der SA vgl. Reichardt: Faschistische Kampfbünde, S. 665–68; im gesamtgesellschaftlichen Kontext Ute Frevert: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 314–327. Osnabrücker Tageblatt, 24. 4. 1937. Etablierung

119 zu erschließen.322 Die damit einhergehenden Modernisierungsvorstellungen waren hochgradig völkisch geprägt und boten vielfache Anknüpfungspunkte zu Ideologemen nationalsozialistischer Politik: Der Einsatz der Gefangenen zu harter, körperlich auszehrender Zwangsarbeit diente sowohl ihrer Bestrafung als auch ihrer ›Erziehung‹ im nationalsozialistischen Sinne. Durch die Moorkultivierung sollte dabei neuer Siedlungsraum geschaffen werden, der im Sinne der ›Blut-und-Boden‹-Ideologie zur Stärkung des ›deutschen Bauerntums‹ und Bestrebungen zur Sicherstellung einer autarken Nahrungsmittelversorgung für den ›Volkskörper‹ dienen sollten. Die SA-Wachmannschaften waren in dieser Konstellation insofern ein neuer Faktor, als sie stärker in das Siedlungsprojekt eingebunden werden sollten. Durch die in Aussicht gestellte Übernahme von Siedlerstellen für die SA-Männer entwickelte sich die ›Moor-SA‹ zu einem zentralen Akteur der völkischen Modernisierung. Die Modernisierungsbestrebungen für das Emsland waren aber keineswegs eine nationalsozialistische Entwicklung. Ansätze dazu hatte es bereits seit dem 19. Jahrhundert gegeben, die aber ohne nennenswerte Erfolge blieben. Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg erhielt die Idee einer Emslandkultivierung als Projekt einer ›inneren Kolonisation‹ breiten Zulauf. Der Zuspruch von Vertretern unterschiedlicher politischer Lager verweist auf die Einbindung dieser Diskurse in einen breiteren ideengeschichtlichen Kontext.323

Innere Kolonisation. Siedlungsbestrebungen in der Weimarer Republik Bis zum Ersten Weltkrieg gingen Ansätze zur Moorkultivierung meist auf private Initiativen zurück. Zwischen 1876 und 1907 wurden die Moorkolonien Schöninghsdorf, Provinzialmoor und Fehndorf gegründet, von denen aufgrund der Armut der Siedler jedoch keine größeren Impulse zur Erschließung ausgingen.324 Ein staatliches Interesse setzte erst dadurch ein, dass das Deutsche Reich mit dem VerVgl. KW I, S. 100–108. Die Literatur über die Erschließungsmaßnahmen im Emsland ist verhältnismäßig dicht und geht bereits auf den Beobachtungszeitraum zurück. Vgl. Gerd Steinwascher: Die wirtschaftliche Erschließung des Emslandes vor dem Emslandplan, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 46 (2000), S. 128–149; Haverkamp: Erschließung; A. Herzog: Die großzügige Siedlungsarbeit des Staates im Emsland, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatvereins 1 (1953), S. 26–37; Hubert Hüppe: Ländliche Siedlung im hannoverschen Emsland, Diss. Universität Münster, in: H. Schultz u. a. (Hg.): Beiträge zur Landeskunde des hannoverschen Emslandes, insbesondere der Erschließungs- und Meliorationsmaßnahmen, Oldenburg 1939, S. 47–117. 324 Vgl. Veltmann: Wirtschaft, S. 407. Die Siedlungen liegen westlich von Meppen bzw. Haren an der niederländischen Grenze und gehören heute zur Gemeinde Twist. 322 323

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120 sailler Vertrag landwirtschaftliche Überschussgebiete abtreten musste, wodurch – im Nachhinein unbegründete – Befürchtungen hinsichtlich einer ausreichenden Ernährung für die Gesamtbevölkerung entstanden. Mit dem Reichssiedlungsgesetz vom 11. August 1919 wurde ermöglicht, dass der Staat unbewirtschaftete Moor- und Ödlandflächen aus Privatbesitz ankaufen oder enteignen konnte, wenn die Eigentümer zur Erschließung nicht willens oder fähig waren.325 Aufgrund der angespannten Haushaltslage und der Hyperinflation von 1923 blieben unmittelbare Erfolge zwar aus, die rechtliche Handhabe schuf jedoch eine wichtige Voraussetzung für eine gesteuerte regionale Erschließung.326 Die Idee einer derartigen ›inneren Kolonisation‹ hatte es – auch in Bezug auf das Emsland – bereits zuvor gegeben; sie war vielschichtig in den Modernediskurs der ›langen Jahrhundertwende‹ eingebettet.327 Schon im Kaiserreich verfestigte sich das »Wahrnehmungsmuster eines schrumpfenden Raumes, das seine Dynamik aus den gravierenden Modernisierungs- und Technisierungsprozessen bezog.«328 Als Gegenbewegung zu Urbanisierungsprozessen und dem Wandel der Beschäftigungsstruktur fand die ›innere Kolonisation‹ Befürworter unterschiedlicher politischer Couleur, die »in zahlreichen Siedlungsprojekten […] diverse Gemeinschaftsexperimente«329 erprobten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Idee, durch die Kultivierung von Ödländereien neue Siedlungsflächen innerhalb der Reichsgrenzen zu gewinnen, zunehmend virulent. Aufgrund der Gebietsverluste in Ostmitteleuropa und der deutschen Kolonien wurde die ›Tragfähigkeit‹ des Reichsgebiets in Frage gestellt. Eine Vielzahl an Raumdeutern beteiligte sich an derartigen Diskursen: Neben Politikern waren Publizisten, Geographen, Historiker und die Vertreter neu aufkommender 325 326 327

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Vgl. Heinrich Becker: Handlungsspielräume der Agrarpolitik in der Weimarer Republik zwischen 1923 und 1929, Stuttgart 1990, S. 107–113. Vgl. Südbeck: Motorisierung, S. 327. Vgl. etwa Alfred Hugenberg: Innere Colonisation im Nordwesten Deutschlands, Straßburg 1891. Die Idee, das ›Zeitalter der klassischen Moderne‹ von etwa 1870–1930 als ›lange Jahrhundertwende‹ zu betrachten, ist gerade in den letzten Jahren für kulturgeschichtliche Arbeiten genutzt worden. Vgl. Habbo Knoch: Grandhotels. Luxusräume und Gesellschaftswandel in New York, London und Berlin um 1900, Göttingen 2016; Tobias Becker u. a.: Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen 2016 und Uffa Jensen / Daniel Morat: Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen in der langen Jahrhundertwende (1880–1930), in: Dies. (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008, S. 11–34. Ulrike Jureit: Ordnungen des politischen Raumes im Kaiserreich. Territorium, Raumschwund und Leerer Raum, in: Steffi Marung / Katja Naumann (Hg.): Vergessene Vielfalt. Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2014, S. 47–61, hier: S. 48. Ariane Leendertz: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008, S. 35. Etablierung

121 Fachrichtungen wie etwa der Geopolitik um Karl Haushofer, aber auch Unternehmer mit privatwirtschaftlichen Interessen beteiligt.330 Ein Gedankenkonvolut aus Reagrarisierung, Autarkiebestrebungen, Kritik an städtischer Wohnungsnot und unhygienischen Lebensbedingungen, Forderungen nach ›Kriegerheimstätten‹ für zurückkehrende Soldaten und dem nun in einer Sinnkrise befindlichen deutschen Kolonialismus führten kurzfristig zu einer regelrechten Siedlungseuphorie in sämtlichen politischen Lagern. Nachdem dieses breite Interesse bald abgeebbt war, bekam die ›innere Kolonisation‹ eine zunehmend agrarromantische, nationalistische bis völkische Konnotation.331 Als Grundidee beinhaltete sie sowohl modernistische als auch antimodernistische Elemente: Die technischen Neuerungen von Ödlandkultivierung und Siedlungsplanung auf der einen Seite gingen einher mit dem Wunsch nach einer ›Rückbesinnung‹ auf traditionelle Lebensformen und Gesellschaftsstrukturen auf der anderen. Insofern war die ›innere Kolonisation‹ geradezu prädestiniert für ihre spätere Vereinnahmung im Sinne nationalsozialistischer Ideologie. Als ihre Hauptbefürworter traten Vertreter einer weiteren in der Formierung begriffenen Disziplin hervor: der Raumplanung. Durch die wechselseitige Betrachtung von räumlich-ökonomischen Strukturen und sozial-lebensweltlichen Verhältnissen hatte sie etwa seit 1910 ein Alleinstellungsmerkmal entwickelt, mit dem sie sich von anderen Akteuren räumlicher Erschließung unterschied und das ihre fachliche Expertise etablierte. Dennoch blieb die rechtliche und administrative Durchsetzungsfähigkeit der Raumplanung in der Weimarer Republik begrenzt. Zwar wurden rund dreißig Landesplanungsstellen eingerichtet, aber bis 1933 entstand nur im Ruhrgebiet ein Gesetz, das die überkommunale Planung koordinierte und ihr damit Rechtssicherheit und Hoheitsbefugnisse gewährte.332 Auch im Emsland blieb eine koordinierte Planung der regionalen Erschließung noch aus. Ab 1924 arbeiteten verschiedene Akteure der Emslandkultivierung neNeben der ›inneren Kolonisierung‹ entstand dabei ein zweiter Diskursstrang um die ›Erweiterung des Lebensraums‹, in dem politische und nationalstaatliche Raumdeterminationen zunehmend durch kulturbiologistische und damit kontinentalimperialistische Ansprüche abgelöst wurden. Durch den 1926 erschienenen gleichnamigen Roman Hans Grimms entstand schließlich das Schlagwort ›Volk ohne Raum‹. Vgl. Michael Fahlbusch: »Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!« Die Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994 und Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 127–157 u. 219–286. Das organisch-biologistische Konzept des ›Lebensraums‹ geht zurück auf Friedrich Ratzel: Politische Geographie oder die Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges, München / Leipzig 1897. Vgl. zudem Hans Grimm: Volk ohne Raum, München 1926. 331 Vgl. Heinz Wilhelm Hoffacker: Entstehung der Raumplanung, konservative Gesellschaftsreform und das Ruhrgebiet 1918–1933, Essen 1989 u. Leendertz: Ordnung, S. 35–37. 332 Vgl. Leendertz: Ordnung, S. 27–49. 330

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122 beneinander. Zum einen schufen mehrere Siedlungsgenossenschaften insgesamt 545 neue Siedlerstellen auf einer Fläche von 7.800 Hektar. Diese arbeiteten zum Teil mit den staatlichen Kulturbauämtern zusammen. Zudem entstanden weitere 520 Stellen durch Einzelsiedlungen von Bauern und Heuerleuten, von denen aber 38 Prozent Kleinstellen unter 5 ha waren.333 Zum anderen kaufte eine Sonderkommission des Landes Preußen zwischen 1925 und 1931 östlich der Ems 4.816 ha Moorfläche an, die durch die staatliche »Deutsche Ödlandkulturgesellschaft« (Dökult) mit Dampfpfluggespannen kultiviert werden sollten. Ab 1932 wurden weitere Flächen im Bourtanger Moor westlich der Ems angekauft.334 Auch wenn die Zahl der privat oder durch Siedlungsgenossenschaften gegründeten Siedlerstellen auf den ersten Blick beachtlich erscheinen mag, bot dieser Weg keine Möglichkeit zur Gesamterschließung der Region. Die kultivierten Flächen lagen meist nur am Rand größerer Moorgebiete, deren Inneres aufgrund fehlender Wirtschaftswege kaum erreichbar war. Zudem war die Größe der neuen Höfe kaum ausreichend und auch die Kultivierung der durch Erbteilung zerstückelten Kleinflächen häufig nicht rentabel. Die Kultivierung vom Staat angekaufter Flächen sollte deshalb auch über 1945 hinaus die Grundlage zur Erschließung dieser Region bilden.335 Ein regionaler Aufschwung blieb aufgrund der Vereinzelung von Maßnahmen und der Engführung auf die Kultivierung von Ödlandflächen aus. Der 1927 begonnene Bau des Küstenkanals, der auch als Hauptvorfluter fungieren sollte, blieb zunächst das einzige Projekt einer verkehrstechnischen Erschließung der Region.336

Die »Notlage des Emslands« Ende 1928 begann der Regierungspräsident des Bezirks Osnabrück Adolf Sonnenschein, flächendeckend Material über den Zustand der damals noch fünf Emslandkreise anzufordern.337 Zudem bereiste er mehrfach selbst die Region und lud dazu 333 334 335

336 337

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Vgl. Südbeck: Motorisierung, S. 328 f. sowie zur Größe der Einzelsiedlungen Hüppe: Siedlung, S. 85. Vgl. Haverkamp: Erschließung, S. 34–48. Vgl. KW I, S. 530 f. u. Südbeck: Motorisierung, S. 328. In der regionalen Geschichtsschreibung hält sich hartnäckig die Ansicht, dass die private Kultivierung gebremst worden sei, wofür es aber keine Belege gibt. Vgl. Haverkamp: Erschließung, S. 32. Nahezu wortgleich findet sich diese Argumentation bereits in der nationalsozialistisch gefärbten Dissertation Hüppes von 1937 (vgl. Hüppe: Siedlung, S. 84 f.). Vgl. Haverkamp: Erschließung, S. 35–38. Adolf Sonnenschein war 1922 Regierungspräsident von Osnabrück geworden. Der 1886 geborene Zentrumspolitiker hatte bereits zuvor kreative Lösungen für die Kultivierung der emsländischen Moore ausprobiert, die aber ohne nennenswerten Erfolg blieben. Auf-

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123 Journalisten und auch den Oberpräsidenten der Provinz Hannover, Emil Noske, ein.338 Erst jetzt zeigte sich die Armut der Region im vollen Ausmaß: »Keine Straßen, nur wüste Sand- und Moorwege – Behausungen, die keine Häuser sind, sondern nur traurige Hütten aus Lehm, Erde und Stroh – Lebenshaltung und Ernährung der Bewohner sind das Elendste, was man sich denken kann.«339 In den nörd lichen Emslandkreisen waren zu Beginn der 1930er Jahre ein Drittel bis die Hälfte der Gemeinden nicht an befestigte Straßen angeschlossen. Hygienische Bedingungen, Ernährungslage und Krankenstand waren besorgniserregend.340 Ein weiterer in diesem Kontext verfasster Bericht zeigt zudem, wie koloniales Überlegenheitsdenken auch auf die ›innere Kolonisation‹ transferiert wurde: Sind doch heute noch im Jahre 1929 die Bewohner ganz weiter Landstriche mit Dörfern und grösseren Siedlungen auf dem Kulturniveau entlegener Polendörfer und es ist nicht zuviel gesagt, wenn sie uns in ihrer Primitivität wie Hottentottengründungen anmuten.341 1931 verfasste Sonnenschein eine Denkschrift über die »Notlage des Emslandes«. Hier bündelte er zunächst die zusammengetragenen Erkenntnisse: Über 150.000 ha waren nicht kultiviertes Ödland, dies entsprach 38,9 Prozent der fünf Emslandkreise; die Einwohnerdichte im Landkreis Hümmling war mit 26,3 Einw./km2 die geringste in Preußen. Die Wohnungen bestanden häufig nur aus einer Küche und – wenn überhaupt – ein bis zwei Schlafräumen, in denen vielfach acht bis zehn Personen in Schlafschränken, sogenannten ›Butzen‹, nächtigten. Die Zahl der Tuberkulosetoten lag im Emsland ein Drittel über dem Durchschnitt des Freistaats.342

338

339 340

341

342

grund seines missglückten Übertrittsversuchs zur NSDAP im Frühjahr 1933 fand er keinen Rückhalt für eine weitere Verwendung in der Region nach 1945 (vgl. ebd., S. 32 f. u. 67 f.). Eine fotographische Dokumentation dieser Emslandreisen findet sich in NLA Osnabrück Rep 430 Dez 501 Akz 26 /43 Nr. 8. Vgl. auch Peter Martin Lampel: Packt an! Kameraden! Erkundungsfahrten in die Arbeitslager, Berlin 1932. Zit. n. KW I, S. 534. Vgl. Südbeck: Motorisierung, S. 334 f.; Franz Redeker / Gerhard Demohn: Hygienische Untersuchungen im Emsland, Berlin 1936; und Haverkamp: Erschließung, S. 50–56. Redeker / Demohn belegen bauliche und hygienische Verhältnisse eindrücklich mit über 100 Fotografien. In kleinerer Zahl finden sich solche auch im Anhang bei Haverkamp: Erschließung. Bericht der Niedersächsischen Heimstätte GmbH: »Zustand der alten Landarbeiterwohnungen« [1929], zit. n. Haverkamp: Erschließung, S. 51. Auch Redeker / Demohn meinten: »Man glaubt manchmal, in einem afrikanischen Eingeborenenkral zu sein« (Dies.: Hygienische Untersuchungen, S. 92). Vgl. Adolf Sonnenschein: Die Notlage des Emslandes, S. 1–3, in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 66.

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124 Am sichtbarsten kommt die Not des Emslandes zum Ausdruck in seinem Wohnungselend. In Dörfern und Einzelhöfen sind die Wohnungsverhältnisse vielfach geradezu menschenunwürdig. Namentlich die Heuerleute, aber auch die kleineren ländlichen Besitzer leben vielfach in Häusern, die von Tag zu Tag einzustürzen drohen und polizeilich wegen Gefährdung der Sicherheit und Gesundheit der Bewohner geschlossen werden müssten.343 Ein durchaus anderes Bild bot sich westlich der nahen Grenze in den niederländischen Provinzen Drenthe und Groningen, auf die sich das Bourtanger Moor ebenfalls erstreckte. Hier war durch eine Kombination aus verschiedenen staatlichen Programmen und privatwirtschaftlichen Anstrengungen seit Mitte des 19.  Jahrhunderts nicht nur ein Großteil der Moorflächen kultiviert worden, sondern auch eine funktionierende Infrastruktur und ländliche Industriebetriebe entstanden.344 Durch den unterschiedlichen Kultivierungsgrad war die Grenze geradezu physische Realität geworden. Niederländische Zeitungen brachten dies Ende der 1920er Jahre auf die Formel »Wo Holland aufhört, hört die Kultur auf.«345 Die »blühenden Moorkolonien Hollands« dienten fortan häufig als Vergleichsmaßstab.346 Für die deutsche Seite veranschaulichte Sonnenschein, dass einseitige Fördermaßnahmen keine positiven Effekte hätten und wandte sich vehement gegen eine »ressortpartikularistische Isolierung.« Stattdessen schlug er das Konzept einer »Produktivsanierung« vor, das eine Leistungssteigerung der ansässigen Betriebe zum Ziel hatte. Dafür sei eine Vielzahl von Maßnahmen nötig: eine Produktivitätssteigerung, vor allem der für die Wirtschaft zentralen Molkereien, eine Verbesserung des Wegesystems, Bildungsinvestitionen, medizinisch-hygienische Aufklärung und nicht zuletzt eine Verbesserung der Wohnsituation. Nötig sei dafür eine doppelte »Totalität in der Sanierungsmethode«: sowohl eine »Totalität der sanierenden Behörden, die durch Planung, Arbeitsgemeinschaften und kommissarische Beauftragung sichergestellt werden« müsse, als auch »die Totalität einer natürlichen Gebietseinheit: Kreisteil, Kirchspiel, Schulbezirk, Molkereibezirk, etc.«, in der die Planungen jeweils umgesetzt würden.347 Sonnenscheins Konzept war insofern neu, als damit erstmals eine koordinierte Planung für die Modernisierung der Region eingefordert wurde. Investitionen sollten nicht pauschal erfolgen, sondern für einzelne Planungsgebiete nach der Analyse

Ebd., S. 2. Vgl. Haverkamp: Erschließung, S. 27–29; Reinicke: Continuity, S. 16 f. 345 Zit. n. Kurt Brüning: Das hannoversche Emsland, in: RuR 1 (1937), S. 222–230, hier: 222. 346 Hüppe: Siedlung, S. 47. 347 Sämtliche Zitate: Sonnenschein: Notlage, S. 7 f., in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 66. Zum Bau des Kanalnetzes westlich der Ems vgl. auch Rudolf Stadermann: Wasserwirtschaft im Emslande, in: RuR 1 (1937), S. 237–245, hier: 238. 343 344

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Etablierung

125 ihrer Bedürfnisse jeweils gezielt eingesetzt werden. Dafür forderte er die »Aufstellung eines Gesamtprogramms etwa in Form eines Fünf- oder Zehnjahresplanes.«348 Sonnenschein bemühte sich zwar um eine Finanzierung aus öffentlichen Mitteln, angesichts der Sparpolitik in der Wirtschaftskrise blieb ein größerer Erfolg vor seiner Abberufung am 27. März 1933 wegen »nationaler Unzuverlässigkeit« jedoch aus. Einzig seine Beobachtung, dass in den Niederlanden ein Moorgebiet von »Erwerblosen durch Handarbeit […] zur Kultur gebracht« würde,349 führte 1931 zum Einsatz des Freiwilligen Arbeitsdiensts (FAD), der mit bis zu 11.750 Männern im Emsland aktiv war. Zudem kamen bereits einige hundert Strafgefangene zum Einsatz.350 Gerade die Idee einer Planungstotalität sollte nach dem Machtantritt virulent bleiben. Meinte Sonnenschein damit noch die Zusammenfassung und Zielgerichtetheit von planerischen Kompetenzen, boten sich der Raumplanung ab 1933 völlig neue Möglichkeiten, da sie nicht mehr an das Hindernis der Aushandlung pluralistischer Interessen in einer parlamentarischen Demokratie gebunden war.351

Völkische Modernisierung. Akteure des nationalsozialistischen Siedlungsprojekts Die Attraktivität einer nationalsozialistischen Raumplanung, der scheinbar keine Schranken gesetzt waren, lässt sich anhand des Osnabrücker Bezirksplaners Richard Hugle nachzeichnen. Hugle war von 1925 bis 1933 Direktor des Verkehrs- und Presseamts der Stadt Osnabrück gewesen. Als früheres Zentrumsmitglied wurde er eigenen Angaben zufolge 1933 auf Betreiben von Nationalsozialisten entlassen.352 Dennoch wurde er umgehend vom neuen Regierungsdirektor Eggers zum Pressedezernenten und kommissarischen Leiter der Bezirksplanungsstelle berufen.353 Zudem ernannte ihn Eggers im Herbst 1933 zum Geschäftsführer des »Vereins zur Förderung der Wohlfahrt des Emslands«, der sich hauptsächlich Kulturprojekten widmete.354 Auf dessen Hauptversammlung im August hatte Hugle bereits »die großen Zukunftsmöglichkeiten dieses Landstriches für deutsche Siedlung und 348 349 350 351 352

353 354

Sonnenschein: Notlage, S. 13, in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 66. Ebd., S. 6. Vgl. auch Haverkamp: Erschließung, S. 66–68. Vgl. ebd., S. 56 f. und Suhr: Emslandlager, S. 188. Zur Raumplanung im NS vgl. grundlegend Leendertz: Ordnung, S. 107–216. Hugle war 1890 in Furtwangen geboren worden und hatte in Münster studiert und promoviert. 1930–1932 hatte er dem Zentrum angehört, gab später aber an, 1932 SPD gewählt zu haben. Vgl. Entnazifizierungsakte Hugle, NLA Osnabrück Rep 980 Nr. 33208 und Lebenslauf 25. 3. 1950, in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 14. Vgl. Dr. Hugle verläßt Osnabrück, EZ, 30. 3. 1935. Dieser Verein war 1930 von Regierungspräsident Sonnenschein gegründet worden. Mit-

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126 deutsches Volkstum« hervorgehoben. Für die langsame Erschließung seien »Jahrzehnte des einseitigen liberalistischen Wirtschaftsdenkens« verantwortlich.355 Die nachträgliche Schutzbehauptung, Hugle habe nur deshalb NS-Vokabular verwendet, weil er einer Entlassung zuvorkommen wollte,356 kann diese Ausführungen allein kaum erklären, zumal dieser Vortrag vor den zentrumsnahen Honoratioren des Emslands gehalten und erst nachträglich abgedruckt wurde. Hier sprach vor allem ein Raumplaner, den die mangelnden rechtlichen Mittel der Weimarer Zeit anscheinend frustriert hatten, und der sich nun deutlich größere Durchsetzungsmöglichkeiten erhoffte: Wenn hier im Denken der Nation ein Wandel eintreten kann, dann kann er nur jetzt eintreten, wo der Begriff der Landnot plötzlich nationales Problem geworden ist. [Es wird] nötig sein, das gesamte Emslandwerk in einem organischen Siedlungs- und Wirtschaftsplan zusammenzufassen!357 Seine Kritik an den Weimarer Verhältnissen äußerte Hugle später noch umfassender, als er die »Unzulänglichkeiten des parlamentarischen Systems«358 sowie einen »Wust bürokratischer Hemmungen [und] sich überschneidender Zuständigkeiten«359 für die schlechten Erschließungsleistungen verantwortlich machte. Im Prinzip kritisierte er damit nicht mehr als den schon von Sonnenschein bemängelten ›Ressortpartikularismus‹, deutete die Ursachen aber als systemische Fehler. Zudem traten in seinen Äußerungen die latenten völkischen Ideen, die der ›inneren Kolonisierung‹ als einer organisch-biologistischen Raumvorstellung inhärent waren, nun offen zutage: Das Dritte Reich übernahm die Aufgabe der Emslandkolonisierung sofort, aber unter ganz neuen Gesichtspunkten. Zum ersten Mal trat der Gedanke der inneren Kolonisation bewußt hervor. Ausnutzung des deutschen Bodens, Sicherung der Ernährungsgrundlage, Besinnung auf die eigene Kraft, das wurden fundamentale Grundsätze der Staatspolitik.360

355 356 357 358 359 360

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glieder waren Gemeinden der Region und Einzelpersonen. Vgl. Verein zur Förderung der Wohlfahrt des Emslandes, NLA Osnabrück Rep 430 Dez 106 Akz 15 /65 Nr. 486. Sämtliche Zitate: Richard Hugle: Die Förderung des Emslandes – eine nationale Aufgabe, Osnabrücker Tageblatt, 11. 8. 1933. Etwa bei Haverkamp: Erschließung, S. 70. Hugle: Förderung, Osnabrücker Tageblatt, 11. 8. 1933. Ders.: Die Erschließung des Emslandes, in: RuR 1 (1937), S. 230–232, hier: 231. Ders.: Emsland – Zukunftsland, in: Weserbergland – Niedersachsen 1935, H. 6, zit. n. Suhr: Emslandlager, S. 203. Richard Hugle: Neubildung deutschen Bauerntums im Emsland. Die Erschließung von »Rhede-Brual«. Eine landesplanerische Untersuchung, Oldenburg 1937, S. 7. Etablierung

127 Hugles rege Publikationstätigkeit in regionalen Zeitungen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen diente dabei gleichermaßen der öffentlichkeitswirksamen Außendarstellung des Siedlungsprojekts und der Einforderung eigener grundlegender Planungskompetenz – Letzteres als Appell sowohl an andere staatliche Stellen als auch die emsländische Bevölkerung. Dabei ordneten sich seine Ausführungen in die allgegenwärtige Volksgemeinschaftsrhetorik ein: Im Zuge der Neubildung deutschen Bauerntums und der Anliegersiedlung werden vielen Volksgenossen neue, bessere Lebensmöglichkeiten zurückgegeben […]. Alles dies kann nur bewältigt und seinem Ziel zugeführt werden, wenn der Einzelne sich immer stärker als Teil der großen Schicksalsgemeinschaft unseres Volkes empfindet […]. Der Städtebauer und Landschaftsgestalter insbesondere muß sich unter die strenge Aufsicht seines völkischen und konstruktiven Gewissens begeben.361 Die Biographie Hugles ist geradezu ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche, aber gleichzeitig partiell bleibende Aneignung des Nationalsozialismus durch bürgerliche Verwaltungseliten. Im NS-Staat sah er die Chance auf deutlich stärkere Planungskompetenzen und teilte die Überzeugung, dass das Erlangen neuen Siedlungsraums eine Notwendigkeit für das ›Volksganze‹ sei, hinter dem Fragen wirtschaftlicher Rentabilität zurückzustehen hätten. Seine Zustimmung zum neuen System war jedoch nicht vorbehaltlos, sodass er nach 1945 seine Mitgestaltung als rein berufsbezogen rechtfertigen konnte. Ausdruck seiner Einschreibung in den Nationalsozialismus waren seine Beitritte als Fördermitglied zur SS und zur SA-Reserve bis zum Sommer 1934. Nachdem er 1939 NSDAP-Mitglied geworden war, trat er aus den beiden Gliederungen jedoch wieder aus. Seine Stelle als kommissarischer Leiter der Bezirksplanungsstelle verließ er 1935 und arbeitete sechs Wochen lang als Verkaufsleiter einer privaten Firma, kehrte jedoch zurück, als seine alte Stelle in die eines vollwertigen Bezirksplaners umgewandelt wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde er bis zum Major der Reserve befördert, im Oktober 1944 aber seiner Stellung enthoben und wegen Wehrkraftzersetzung (Defätismus) angeklagt. Seine Ablösung vom System begann also schon vor der endgültigen Niederlage. Nach kurzer Zeit in US-Gefangenschaft kehrte Hugle noch 1945 auf seine Stelle als Bezirksplaner zurück und war anschließend federführend an der Planerstellung im Vorfeld des Emslandplans beteiligt.362

Ders.: Kulturgemeinschaft und Dorfgestaltung. Eine Forderung der Landesplanung im Emsland, in: Schultz u. a. (Hg.): Beiträge, S. 34–37, hier: 34. Eine Sammlung von Vortragsmanuskripten und Zeitungsartikeln Hugles findet sich in Nachlass Hugle, NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 66 u. 69. 362 Vgl. Entnazifizierungsakte Hugle, NLA Osnabrück Rep 980 Nr. 33208; Lebenslauf 25. 3. 1950, in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 14. 361

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128 Hugles Hoffnung, im ›Dritten Reich‹ ungehemmt die Erschließungsplanung vorantreiben zu können, sollte sich aber nicht erfüllen. Zwar unterlag die Raumplanung deutlich geringeren zivilrechtlichen Einschränkungen, aber der nationalsozialistische Aktionismus der Tat schuf neue Hindernisse. Aufgrund einer Vielzahl beteiligter Akteure setzten bald das für die NS-Herrschaft typische Kompetenzwirrwarr und Streitigkeiten ein. So blieb Hugle nicht der einzige Raumplaner, der die Möglichkeiten einer totalen Planung bei dieser »Eroberung einer Provinz« sah.363 Ausgangspunkt hierfür war das Engagement Hanns Kerrls, der als Preußischer Justizminister für die Übernahme der Emslandlager verantwortlich war. Kerrl hatte sein Justizreferendariat in Papenburg absolviert und äußerte später, »mit dem Emsland verbinde ihn eine alte Liebe seit seiner früheren Tätigkeit auf diesem Gebiete.«364 Seine direkte Verantwortlichkeit für die Strafgefangenenlager dauerte zwar nur bis Ende Juni 1934, in der Folge wurde Kerrl aber nicht nur Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten, sondern auch Leiter der 1935 gegründeten Reichsstelle für Raumordnung. Angebunden an die Reichsstelle war die Reicharbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG), welche der Rf R Unterstützung aus dem akademischen Bereich bieten sollte.365 Mithilfe dieser Instanzen schaltete sich Kerrl erneut in das Modernisierungsprojekt im Emsland ein, bei dem sich für die beteiligten Planer ein Experimentierfeld für eine umfassende Planung in nahezu menschenleerem Raum bot. Eine weitere Bindung zu den von der ›Moor-SA‹ bewachten Lagern mochte auch daher rühren, dass nicht nur Kerrl selbst SA-Obergruppenführer war, sondern auch mehrere seiner Mitarbeiter der SA angehörten.366 Zwischen der Rf R und Bezirksplaner Hugle kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen bezüglich der Qualität der jeweiligen Arbeit und der Oberhoheit über die Planungen.367 An anderer Stelle arbeiteten Hugle, Planer der Rf R und lokale Behörden Hand in Hand. Bereits im ersten Jahrgang der von Konrad Meyer herausgegebenen Zeitschrift »Raumforschung und Raumordnung« war ein erstes Doppelheft der Erschließung des Emslands gewidmet.368 Im Geleitwort verdeutlichte Hermann Muß, stellvertretender Leiter der Rf R, die Grundsätze einer nationalsozialistischen Raumplanung und deren Interesse an der Emslandkultivierung:

363 364 365 366 367 368

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Das Ziel der Emslandplanung: Die Eroberung einer Provinz, Osnabrücker Tageblatt, 24. 4. 1937. Pressestelle Rf R, 7. 7. 1937, in: KW I, S. 651. Vgl. Leendertz: Ordnung, S. 107–112. Vgl. ebd., S. 109 u. 284. Vgl. NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 48 u. Suhr: Emslandlager, S. 203–206. Vgl. RuR 1 (1937), H. 6 /7, S. 221–296. Die Zeitschrift erscheint bis heute. Etablierung

129 Es sei uns heilige Pflicht: Der Boden muß für das deutsche Volk wieder die Kraftquelle werden. Kein Fleckchen Erde in Deutschland darf ungenutzt bleiben. Jedes Stückchen ungenutzten oder schlecht genutzten Bodens muß als Schandfleck für Deutschland betrachtet werden.369 Insgesamt 13 Beiträge zu Themen der Raumplanung, Bodenkunde und -nutzung lieferten ein umfassendes Bild über den Entwicklungsstand der Region und mögliche Entwicklungskonzepte. Die Beiträge fügten sich in die zeitgenössische Betrachtung der ›Notstandsgebiete‹ ein, bei der sich die NS-Raumplanung an verschiedenen Konzepten regionaler Steuerung versuchte.370 Durch ihre breite Datenbasis lieferten die Beiträge zur Emslanderschließung neue Impulse für die Raumplanung, die Gerhard Isenberg als vermeintlich objektive »Tatsachenforschung« deklarierte.371 Auch das RMEL und das Reichskriegsministerium entwickelten Interesse an den Kultivierungsarbeiten, da diese eine Verbesserung der Ernährungslage versprachen.372 Für die Legitimation des Siedlungsprojekts ist daher immer auch der Versorgungsmangel im Ersten Weltkrieg als Hintergrund zu berücksichtigen. Ein vollmundig angekündigter »einheitlicher, großzügiger Aufschließungs- und Wirtschaftsplan«, in dem die einzelnen Teilaufgaben durch »die großen Gesichtspunkte einer schöpferischen, von jedem Bürokratismus freien ›Landesplanung‹« bestimmt worden wären, blieb vorerst jedoch aus.373 Am 6. Dezember 1934 wurde unter Federführung des RMEL ein »Zehnjahresplan« zur Durchführung des Siedlungsprojekts zwischen den beteiligten Reichsinstanzen und Regionalbehörden vereinbart, der die Gesamtkultivierung der Moorgebiete in diesem Zeitraum versprach. Eine detaillierte Planerstellung fand allerdings ebenso wenig statt wie die Bestimmung einer zentralen Steuerungsinstanz des Siedlungsprojekts. Stattdessen beschränkte sich die Vereinbarung – als die sich dieser »Zehnjahresplan« treffender bezeichnen lässt – darauf, die Einsatzgebiete der Arbeitskräfte abzugrenzen und die Einbindung der lokalen Behörden zu regeln.374 Die Zahl der eingesetzten Schutzhäftlinge aus dem KZ Esterwegen belief sich demnach auf 2.000. Durch die Erweiterungen des Justizlagerkomplexes kamen bis 1935 5.500 Strafgefangene hinzu. Beide Gruppen wurden in den staatlichen Moorgebieten des Landkreises Aschendorf-Hümmling eingesetzt. In den drei südlichen Emslandkreisen waren hingegen rund 3.500 Arbeitsdienstmänner in 21 Lagern für 369 370 371 372 373 374

Hermann Muß: Geleitwort, in: RuR 1 (1937), S. 221. Vgl. Konrad Meyer: Ein Beitrag zur Frage der Notstandsgebiete, in: RuR 1 (1937), S. 200 f. Vgl. Gerhard Isenberg: Das hannoversche Emsland im Spiegel der Statistik, in: RuR 1 (1937), S. 271–275 u. Leendertz: Ordnung, S. 132–134. Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 204. Die Erschließung des Emslandes. Ein Großziel nationaler Aufbauarbeit, Osnabrücker Tageblatt, 7. 8. 1934. Vgl. Reichsfinanzministerium, 8. 6. 1936, in: KW I, S. 585 f.

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130 Kultivierungsarbeiten untergebracht.375 Ein späterer Deutungskonflikt zwischen dem »Ehrendienst«376 des Reichsarbeitsdiensts (RAD) und der Zwangsarbeit der ›Volksschädlinge‹ war hierbei bereits vorprogrammiert.377 Die bauliche Aufsicht über die einzelnen Maßnahmen hatte die jeweilige Kulturbauleitung vor Ort. Insgesamt 66 Beamte und Angestellte waren beim Kulturbauamt Meppen (ab 1939 Wasserwirtschaftsamt) mit der Leitung der Erschließungsarbeiten betraut; weitere rund 150 Vorarbeiter und Anweiser, ›Kneiste‹ genannt, waren auf mehrere Außenstellen verteilt, die bei den Konzentrations- und Strafgefangenenlagern gegründet worden waren.378 Die Einteilung von Häftlingen zu den jeweiligen Arbeitskommandos unterstand aber den Lagerwachmannschaften. Planung und Koordination der Häftlingsarbeiten erfolgten daher nur bedingt, die Arbeitseinteilung der Kulturbeamten sorgte aber zumindest dafür, dass nicht mehr nur einzelne Flächen kultiviert wurden, sondern auch straßenbauliche Arbeiten und Entwässerungsmaßnahmen in größerem Umfang in Angriff genommen wurden. Das wichtigste Projekt für die Erschließung war der Bau der 60 km langen ›Nord-Süd-Straße‹, die die linksemsischen Lager und Siedlungen miteinander verband und den Zugang zu den dortigen Moorflächen erst erlaubte.379 Die staatliche Moorverwaltung in Neusustrum unter Wirtschaftsdirektor Richard Holland beaufsichtigte die Kultivierungsarbeiten im engeren Sinne: das Kuhlen der entwässerten Moorflächen per Hand, bei dem die Ortsteinschicht durchbrochen wurde, und die nachfolgende landwirtschaftliche Zwischenwirtschaft, die den Boden für seine spätere Nutzung vorbereiten sollte. Die Moorverwaltung war durch kleinere Administrationen ebenfalls bei den Lagern vertreten und konkurrierte mit der Kulturbauleitung um die Arbeitskraft der Häftlinge.380 Bei allem planerischen Eifer ist das tatsächliche Vorgehen der beteiligten Behörden nach der Machtübernahme kaum als planvoll zu bezeichnen. Es gab weder eine zentral steuernde Instanz noch einen gemeinsamen Planungsstab der beteiligten Behörden. Die Aufmerksamkeit, die der Modernisierung des Emslands zukam, bewegte sich aber auf einer nationalen Ebene. So waren mehrere Reichsinstanzen involviert – Justizministerium, Finanzministerium, Landwirtschaftsministerium, RAD und Rf R. In den einzelnen Ministerien gelangte die Emslanderschließung zwar nie an die Spitze der Agenda, sondern wurde auf der mittleren Verwaltungsebene betreut, doch die obersten Staats- und Parteispitzen wurden 375 376 377 378 379 380

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Vgl. Kulturbeamter Meppen, 1. 9. 1935, KW I, S. 568–578 u. Suhr: Emslandlager, S. 190 f. So RAD-Führer Konstantin Hierl über den Arbeitsdienst, zit. n. KW I, S. 533. Vgl. hierzu Kap. III.3. Vgl. KW I, S. 570 f. Vgl. Herzog: Siedlungsarbeit, S. 29. Vgl. R. Holland: Die staatliche Oedlandkultivierung im Emsland mit besonderer Berücksichtigung der Anlage von Sand-Mischkulturen auf flach stehendem Hochmoor, in: Schultz u. a. (Hg.): Beiträge, S. 21–24 und Suhr: Emslandlager, S. 204 f. Etablierung

131 von dem Anliegen in Kenntnis gesetzt und zu überzeugen versucht. Regierungspräsident Eggers wandte sich im Januar 1934, also rund neun Monate nach seiner Ernennung und noch vor jeglichen Plänen zur Übergabe der Lager an die Justiz an Ministerpräsident Göring, um ihn davon zu überzeugen, dass »die siedlerische Erschliessung des Emslandes eine Aufgabe von solchem Umfang« sei, dass »sie nur durch Einsatz der Staatsmittel im vollen Ausmass zu lösen« sei. Dies sei »im Sinne nationalsozialistischer Aufbauarbeit Lebensnotwendigkeit« und bilde »ein notwendiges Gegenstück und eine Ergänzung der deutschen Ostraumpolitik.«381 Einen Monat später wandte sich der Reichsfinanzminister an Hitler persönlich, um ihm eine eigene Denkschrift zur Emslandkultivierung zu unterbreiten. Zu seinem Plan führte er aus: Nach seiner Vollendung würde sich vor den Toren des hochindustriellen Ruhrgebiets ein landwirtschaftliches und gärtnerisches Gebiet ausbreiten, das sich mit jenem in glücklicher Weise ergänzen würde. Es würde sich um ein Kulturwerk größten Ausmaßes handeln.382 Schwerin von Krosigk hatte sich dafür mit anderen Fachressorts nicht abgesprochen, sondern wollte lediglich erfragen, ob Hitler »den Plan und die vorgeschlagene Art seiner Durchführung grundsätzlich billigen« würde.383 Diese scheinbar harmlose Anfrage hätte dem Finanzministerium die Oberhoheit über das Modernisierungsprojekt gegeben, wozu es aber nicht kommen sollte. Auch weiterhin wurde auf die fortgeschrittene Moorkultivierung in den benachbarten Niederlanden verwiesen, um die Entwicklungspotentiale des Emslands aufzuzeigen.384 Den Referenzrahmen bildete nun aber das faschistische Italien: »Die Kultivierung des Emslandes als Großaufgabe des deutschen Volkes bedeutet die Beseitigung unserer ›Pontinischen Sümpfe‹ in einer Ausdehnung von 100.000 Hektar!«, meinte Richard Hugle bereits 1934.385 In der Folge verwiesen auch andere Autoren auf die »großzügige Kolonisationstätigkeit Italiens in den pontinischen

381 382

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Sämtliche Zitate: Regierungspräsident Osnabrück, 3. 1. 1934, in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück, Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 69. Reichsfinanzministerium, Februar 1934, in: KW I, S. 559. Der Plan nannte allerdings völlig überhöhte Zahlen – es sei eine Siedlungsfläche von 300.000 ha für 20.000 Bauerfamilien zu gewinnen. Die vier Emslandkreise umfassten insgesamt 391.000 ha. Ebd. Vgl. z. B. Regierungspräsident Osnabrück, 3. 1. 1934, in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück, Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 69; Holland: Oedlandkultivierung, S. 22. Vgl. Die Erschließung des Emslandes. Ein Großziel nationaler Aufbauarbeit, Osnabrücker Tageblatt, 7. 8. 1934.

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132 Sümpfen«, nicht ohne hervorzuheben, dass die dortige Kultivierungsfläche mit 75.000 ha kleiner war als die emsländischen Ödlandflächen.386 Die Angaben zur kultivierenden Fläche im Emsland variierten ohne verbindliche Definition zwischen 100.000 und 150.000 ha.387 Der staatliche Ankauf von Moorflächen schritt auch nach 1933 weiter voran. Bis 1935 wurden 17.660 ha, bis 1941 26.100 ha angekauft.388 Die tatsächlich vom Staat kultivierbare Fläche lag jedoch deutlich niedriger als anfänglich behauptet. Bei einem erneuten Vergleich mit den pontinischen Sümpfen sprach Hugle 1937 nur noch von »über 50.000 ha Moor-, Sumpf- und Heideland«, die zu erschließen wären, da »der Splitterbesitz […] nicht einbezogen« sei.389 An einer umfassenden Zwangsenteignung der emsländischen Bauern hatten also auch die NS-Planer kein Interesse. Besitzansprüche und Befindlichkeiten der lokalen Grundbesitzer waren auch für sie eine nicht zu umgehende Größe, zumal sich NS-Organisationen schwer taten, im katholischen Milieu der Region Fuß zu fassen.

Ordnungspioniere. Die Einbindung der ›Moor-SA‹ in die Planungen der Justizverwaltung Bei aller fachlichen Expertise beziehungsweise Vertrautheit mit den lokalen Gegebenheiten, die die beteiligten Planer mitbringen mochten, spielten sie doch nur Nebenrollen bei der angestrebten völkischen Modernisierung der Region. Die zentralen Akteure für Ausgestaltung und Durchführung des Kultivierungsprojekts waren die Trägerinstanzen der Lager beziehungsweise als deren Vertreter vor Ort die Lagerwachmannschaften. Das Preußischen Innenministerium hatte für die staatlichen Konzentrationslager ein generelles Interesse an einem Arbeitseinsatz der Gefangenen »bei gemeinnützigen Arbeiten«,390 wie sich bei den Standortverhandlungen gezeigt hatte. Die dafür anvisierten Häftlingszahlen wurden zunächst mehrfach angehoben: Anfang November 1933 waren acht Konzentrationslager für bis zu 10.000 Häftlinge geplant. Neben den vier bestehenden Lagern – Börgermoor, dem Doppellager Esterwegen und Neusustrum – waren weitere in Oberlangen, Brual-Rhede, Wesuwe 386

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Arnold Ossig: Die bäuerliche Besiedlung des Emslandes, in: RuR 1 (1937), S. 245–252, hier: 246. Vgl. auch Zur Kultivierung der Emsländischen Moore, Lingener Volksbote, 11. 6. 1934. Zudem überlegte der Berliner Geographieprofessor Georg Wegener im Juli 1935, sein Forschungsprojekt zu den Meliorationsarbeiten in der Pontinischen Ebene auf das Emsland auszuweiten. Vgl. Schreiben Wegener, 24. 7. 1935, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. Vgl. Brüning: Emsland, S. 222 u. Hüppe: Siedlung, S. 51–57. Vgl. Südbeck: Motorisierung, S. 328. Vgl. Hugle: Neubildung, S. 7. Preußisches Innenministerium, 17. 3. 1933, in: KW I, S. 100. Etablierung

133 und Fullen geplant. Die Bauplätze der letzten beiden Standorte im Landkreis Meppen beanspruchte bald der RAD, der dort bereits tätig war. Zunächst ohne genaue Absprache entstand ein Status quo, nach dem Arbeitsdienstabteilungen im südlichen Emsland zuständig waren und die Gefangenenlager für die staatlichen Moorgebiete im Landkreis Aschendorf-Hümmling.391 Während die Beamten im Innenministerium zunächst kaum Interesse an der Ausgestaltung des Kultivierungsprojekts zeigten, waren sie bei der Neugestaltung der Wachmannschaften für eine Weichenstellung verantwortlich, die für die Einbindung der ›Moor-SA‹ in das Siedlungsprojekt von immenser Bedeutung sein sollte. Um das konflikthafte Verhältnis zur emsländischen Landbevölkerung abzumildern und ein Grundinteresse der neuen Wachmannschaften an den Kultivierungsarbeiten herzustellen, entstand das Einstellungskriterium der besagten ›bodenständigen‹ und ›bodenverwachsenen‹ SA-Männer, »die unter Umständen die Absicht hätten, in den neu zu kultivierenden Gebieten sich anzusiedeln.«392 Aus dieser beiläufig anmutenden Formulierung sollte das Versprechen gegenüber den SA-Wachmännern resultieren, dass sie bei der Ansiedlung auf dem kultivierten Gebiet bevorzugt berücksichtigt würden. Dieses Siedlungsversprechen wurde später durch das Justizministerium übernommen und mit dem Landwirtschaftsministerium, das für die Ansiedlung zuständig war, abgestimmt.393 Siedlungswillige SA-Männer mussten sich dazu von der »Reichsstelle für Raumordnung bei der Neubildung deutschen Bauerntums« des RMEL ihre ›Bauernfähigkeit‹ bescheinigen lassen.394 Im Frühjahr 1935 wurden dem Landwirtschaftsministerium 193 SA-Männer als ›bauernfähig‹ namentlich gemeldet. Nach den ersten Lagererweiterungen wurde die Liste noch im gleichen Jahr auf 236 Namen erweitert. Dies entsprach 29,7 beziehungsweise 27,8 Prozent der Wachmannschaften.395 Insofern ist davon auszugehen, dass ein Teil der SA-Männer ein ganz eigenes Interesse an den Kultivierungsarbeiten entwickelte. Das Siedlungsversprechen bildete den Kern der dauerhaften Einbeziehung der

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Formal wurde eine entsprechende Vereinbarung erst im Dezember 1936 getroffen. Vgl. ebd., S. 601 f.; zu den Ausbauplänen des Preußischen Innenministeriums vgl. ebd., S. 147. Regierungsrat Aderhold, in: PA Engel. Vgl. Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: Beamte etc. Auch in den Folgejahren wurde dieses Versprechen mehrfach bekräftigt. Vgl. Ansiedlung von Angehörigen der Wachttruppe, 22. 1. 1935, in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I und RJM, 27. 5. 1940, in: KW I, S. 879 f. Diese 1935 aufgelöste Stelle ist nicht zu verwechseln mit der Rf R unter Hanns Kerrl. Durch Gerhard Isenberg, den später mit den Statistiken der Emslandkreise befassten Planer, bestand jedoch eine personelle Verbindung. Vgl. zu dieser Reichsstelle Uwe Mai: »Rasse und Raum«. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn u. a. 2002, S. 72–75. Vgl. Angelegenheiten II.

»Die Eroberung einer Provinz«

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Abb. 7 :

»Durchbruch durch die moorbildende Ortssteinschicht«. Strafgefangene bei der Zwangsarbeit im Moor, 1935.

›Moor-SA‹ in das Siedlungsprojekt, jedoch blieb diese nicht darauf beschränkt. Die Justizbehörden verbanden von Beginn an größere Pläne mit dem Lagerprojekt. Bereits 1934 stellte der für die Strafgefangenenlager zuständige Ministerialrat Rudolf Marx öffentlich eigene Überlegungen zur Emslandkultivierung an. Insgesamt 21 Lager seien zu errichten, um innerhalb von zwölf Jahren 50.000 ha Ödland, die aus größeren, zusammenhängenden Moorflächen bestünden, zu kultivieren.396 Als gestalterischen Anspruch der Justizbehörden erklärte er unumwunden den flächendeckenden Einsatz von Zwangsarbeit: »Eine Aufgabe von so gewaltigem Umfange läßt sich mit Erfolg in absehbarer Zeit nur durchführen, wenn in ausreichendem Maße Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die zwangsweise zur Arbeit angehalten werden können.« Anschließend hob er gesondert hervor: »Die Justizverwaltung ist somit der eigentliche Träger dieses umfassenden Kultivierungsprogramms.«397

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Vgl. Marx: Kultivierung. Sämtliche Zitate: ebd., S. 733. Hervorhebungen im Original. Die Öffentlichkeitswirksamkeit derartiger Artikel zeigt sich unter anderem darin, dass sie umgehend von der regionalen Presse aufgegriffen wurden. Vgl. Die emsländischen Moore werden durch Strafgefangene kultiviert, EZ, 9. 6. 1934. Der Zeitungsartikel bezieht sich dabei ausführlich auf Marx’ Text. Etablierung

135 Insofern erfüllte der Arbeitseinsatz der Strafgefangenen eine doppelte Funktion für die Justizverwaltung: Die Einbindung in die nun prestigeträchtige Emslanderschließung ging einher mit dem Anspruch eines ›produktiven‹ Strafvollzugs. Die Gefangenenarbeit sollte in diesem Sinne in den Dienst der ›Volksgemeinschaft‹ gestellt werden. In einem weiteren Aufsatz meinte Marx dazu: »Der Rechtsbrecher ist gezwungen, während Verbüßung seiner Strafzeit durch Hergabe seiner ganzen Arbeitskraft dem Volksganzen zu dienen.«398 Das Paradoxon, dass der übermäßig harte Strafvollzug einer beschleunigten Emslanderschließung entgegenstand und der massenhafte Arbeitseinsatz zwar die grassierende Häftlingsarbeitslosigkeit bekämpfen half, aber als reine Handarbeit weitaus weniger effizient war als eine maschinell unterstützte Kultivierung, ergab sich aus nationalsozialistischer Perspektive nicht. Zu verschiedenen Zeitpunkten boten Unternehmen an, mit Dampfpflügen die Kultivierungsarbeiten zu unterstützen. Obwohl sie teilweise auf den erfolgreichen Einsatz ihrer Maschinen bei der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe verweisen konnten, lehnten die zuständigen Stellen eine Zusammenarbeit ab, da es hierbei um Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung gehe und Rentabilitätsfragen nur eine untergeordnete Rolle zukomme.399 Der Osnabrücker Regierungspräsident stellte zudem den propagandistischen Mehrwert der manuellen Kultivierung heraus: »Infolge der Handarbeiten läßt sich der eigentliche Beginn der Inkulturnahme der Flächen nicht übersehen.«400 Regierungsrat Wilhelm Schmitz, Referent der Rf R, gab unumwunden zu, dass sich »vom Standpunkt der Rentabilität und im Verhältnis zum Marktpreis der Erzeugnisse Aufwendungen für Kultivierung, Bestellung oder Verbesserung nicht gelohnt hätten.« Dies war seiner Meinung nach aber ein Fehler in vorheriger Zeit gewesen, da die »Enge des deutschen Lebensraums« die Ausnutzung sämtlicher Flächen erfordere.401 Die Raumvorstellungen hatten sich dahingehend entwickelt, dass nun ausschließlich deterministische und biologistische Raumkonzepte vorherrschten, bei denen aufgrund autarkiepolitischer Erwägungen der ›deutsche Boden‹ im wörtlichen Sinne zur Grundlage des Raumdenkens geworden war: »Wir betrachten den Boden als die Grundlage unserer völkischen Existenz und erkennen die Pflicht, ihn zu höchster Leistung zu entwickeln. Unser Denken geht also in allen Fragen der Wirtschaft vom Volke aus.«402 Die erwarteten Kultivierungserfolge, die bereits vorab propagandistisch ausge-

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Rudolf Marx: Die Gefangenenarbeit unter besonderer Berücksichtigung der Urbarmachung von Ödländereien, in: Deutsches Strafrecht 2 (1935), S. 364–373, hier: 364. Vgl. Bewerbungsunterlagen Fa. Heucke, März 1936, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 289 u. KW I, S. 534. NLA Osnabrück Rep 430 Dez 502 Akz 11 /63 Nr. 2. Beide Zitate: Schmitz: Emslandplanung, S. 232. Ebd., S. 232.

»Die Eroberung einer Provinz«

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136 schlachtet wurden, konnten aber nicht denjenigen zugeschrieben werden, die die tatsächliche Arbeit leisteten: den Häftlingen. Auch Marx’ Anspruch, die Justizverwaltung als Träger des Siedlungsprojekts hervorzuheben, war kaum durchführbar, da bei den Lagern selbst keine höheren Justizbeamten eingesetzt waren. Stattdessen waren es die Angestellten der Justiz vor Ort in Form der SA-Wachmannschaften, denen die Kultivierungserfolge öffentlich zugeschrieben wurden. Die regionale Presse vermeldete: »SA schafft Bauerndörfer im Emsland«. Nach der Devise »Gestern Moor – morgen Erbhof« errichte die SA »die Zukunftsheimat eines frohen Geschlechts«.403 Geschickt wurde in derartigen Artikeln kaschiert, dass die SA die Kultivierungsarbeiten nicht selbst leistete: Wer heute die Gegend um Neusustrum besucht, der wird nicht wenig erstaunt sein über die sauberen Straßen und über die weiten Kulturflächen, die bereits in harter Arbeit dem Moore abgerungen wurden. Es ist ein schwerer Dienst, den die SA-Männer draußen im Moor zu verrichten haben und ist es ein hartes Los zugleich, draußen abgeschnitten von der Welt seine Pflicht am deutsche Volk erfüllen zu müssen.404 Stattdessen wurde das Selbstbild der SA-Männer, dass von ihnen »ein ungeheuer schwerer Dienst«405 verrichtet wurde, in den Propagandaberichten gespiegelt. Die ›Moor-SA‹ unter Werner Schäfer besetzte damit die Schnittstelle aus der Disziplinierung ›Gemeinschaftsfremder‹ und dem völkisch aufgeladenen Kultivierungsprogramm, von dem sie zum Teil selbst profitieren sollte. War für Richard Hugle die Kultivierung des Emslands eine ›Pionierleistung‹,406 wurden die Männer der ›Moor-SA‹ nun als »Pioniere deutschen Bauerntums«407 gefeiert, die, wie Roland Freisler bei einem Besuch der Lager meinte, »in die Einsamkeit gegangen seien, um in Treue zu Führer, Volk und Vaterland ihre Pflicht zu erfüllen.«408 Das Pionierideal hatte dabei vielfältige Implikationen hinsichtlich der Kultivierungsarbeiten und mit dem Lagerprojekt ausgedrückter Ordnungsvorstellungen, die Habbo Knoch treffend unter dem Begriff der ›Ordnungspioniere‹ gefasst hat.409 403 404 405 406 407

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Sämtliche Zitate: EZ, 20. 8. 1937. Feierliche Einweihung des Emslandhauses, EZ, 16. 10. 1936. Int WE, S. 9. Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 203. »Moor-SA« schafft neues Bauernland, Rheinische Landeszeitung, 3. 12. 1941, in: KW I, S. 1145 f. Zur Berichterstattung über die ›Moor-SA‹ im Zusammenhang des Siedlungsprojekts, in der ›Pioniergeist‹ und ›Opferbereitschaft‹ der Wachmänner hervorgehoben wurden, vgl. ebd., S. 1030–1146. Zur Emslandkultivierung als Pionierleistung vgl. auch Hüppe: Siedlung, S. 97. Eine Besichtigungsfahrt durch die Strafgefangenenlager, EZ, 5. 9. 1935. Vgl. Knoch: Kampf, S. 59–62. Etablierung

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Abb. 8 :

Wachmannschaftsbereich im Lager Esterwegen, um 1938.

Manifest wurde es schließlich mit der Ernennung der Wacheinheiten zur ›Pionierstandarte 10‹ im Jahr 1937. Für die Machtentfaltung der ›Moor-SA‹ unter Schäfer spricht, dass diese Vorreiterrolle innerhalb des Siedlungsprojekts von keiner anderen Instanz öffentlich angezweifelt wurde.410 Ihr Status innerhalb des Modernisierungsprojekts wirkte für die Wachmannschaften als doppeltes Integrationsangebot. Zum einen versah es die eigene, oftmals eintönige Tätigkeit mit einem höheren Sinn und brachte vielfache positive Zuschreibungen durch die nationalsozialistische Presse und verschiedene Amtsträger mit sich. Zum anderen diente die Funktion innerhalb des Siedlungsprojekts aber auch dazu, dass von vornherein schwierige Verhältnis zum katholischen Milieu zu entspannen, in dem gleichfalls ein Interesse an den Kultivierungsarbeiten bestand. Unfreiwillige Unterstützung erhielt die ›Moor-SA‹ in dieser Hinsicht von den SS-Wachmannschaften im Lager Esterwegen. Deren neuer Kommandant Loritz verweigerte weitgehend die Zusammenarbeit mit dem Kulturbauamt und stellte ab Oktober 1934 nur noch selten Schutzhäftlinge für die Moorkultivierung zur Verfügung.411 Im Vergleich dazu setzten sich die SA-Wach410 411

Dies sollte sich erst im Zweiten Weltkrieg ändern. Vgl. hierzu Kap. IV.3. Vgl. Gedenkstätte Esterwegen: Dauerausstellungen, S. 78.

»Die Eroberung einer Provinz«

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138 mannschaften also deutlich stärker für die regionale Modernisierung ein. Vom Negativbeispiel der weitaus rabiater auftretenden SS-Wachmannschaften sollte die ›Moor-SA‹ noch mehrfach profitieren.

4. Umkämpfter Raum. Die SA-Wachmannschaften und das katholische Milieu Auch im Sozialraum des Emslands waren die SA-Wachmannschaften eine neu entstandene Größe. Das ortsansässige katholische Milieu war nach außen weitgehend abgeschottet und wies selbst zum ähnlich geprägten Oldenburger Münsterland erstaunlich wenige Verbindungen auf. Die SA-Männer waren hier, wie auch viele andere NS-Funktionäre, zunächst Außenstehende, die zum überwiegenden Teil von außerhalb der Region zugezogen waren.412 In den traditionsgebundenen Gemeinschaftsformen der Dörfer und Kleinstädte des Emslands fanden die Vertreter der NS-Bewegung nur schwer Anschluss. Erst nach der Machtübertragung traten vermehrt Emsländer in die NSDAP ein. Die Übernahme administrativer Funktionen durch diese neuen Parteimitglieder galt einerseits einer milieuinternen Machtkonservierung, war andererseits aber auch Ausdruck von lokalen Rivalitäten, mit denen andere Honoratioren entmachtet werden sollten. Dennoch blieb die Personaldecke der NSDAP dünn.413 Eine beschleunigte Emslandkultivierung fand hingegen weitreichenden Rückhalt in der Bevölkerung, auch weil zweit- und drittgeborene Bauernsöhne bevorzugt angesiedelt werden sollten. Mit den sozial- und kulturpolitischen Implikationen des völkischen Modernisierungsvorhabens taten sich die Emslandbewohner weitaus schwerer, da diese ihr traditionell-religiöses Alltagsleben bedrohten. Insofern erscheint es problematisch, hier von einer real entstehenden ›Volksgemeinschaft‹ zu sprechen.414 Auch ihre ›Herstellung‹ als geteilte Praxis zu untersuchen,415 ist bei den emsländischen Verhältnissen schwierig: ›Volksgemeinschaft‹ wird in den vorliegenden Quellen meist nur von NS-Führern verwendet, die sich beklaVgl. Hubert Rinklake: Modernisierung im Emsland – Vision oder Realität?, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 65 (1993), S. 49–77. 413 Vgl. Bianca Roitsch: »Ueberall […] merkt man, daß sich in nächster Nähe eine kleine Stadt aufgetan hat.« Interaktionsformen der frühen Konzentrationslager Moringen und Esterwegen mit ihrem Umfeld, in: Reinicke u. a. (Hg.): Gemeinschaft, S. 63–88, hier: 66 f. und Hubert Rinklake: Katholisches Milieu und Nationalsozialismus. Traditionelle Verhaltensweisen und gesellschaftlicher Umbruch im Emsland vom Ende des Kaiserreiches bis zur Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., Göttingen 1994, Bd. I, S. 265 f. 414 Zu dieser Position vgl. beispielsweise Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005. 415 Vgl. Wildt: Volksgemeinschaft. 412

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Etablierung

139 gen, dass die emsländische Bevölkerung sie nur wenig kenne.416 Der lokalen Bevölkerung war es aber bei allem Beharren auf ihrer religiösen Prägung sehr wohl möglich, sich Teilaspekten nationalsozialistischer Politik – hier namentlich dem Siedlungsprojekt – gegenüber zustimmend zu verhalten. So entstanden auch für das katholische Milieu Formen der Einschreibung in nationalsozialistische Modernisierungsbestrebungen, ohne dass deren ideologischer Überbau unbedingt geteilt worden wäre.417 Umgekehrt wird der von Martin Broszat für das katholische Milieu geprägte Begriff der »partiellen Resistenz«418 in der Regionalgeschichtsschreibung zum Teil überbetont und exkulpatorisch verwendet. So wird trotz aller gegenläufigen Befunde eine generelle »Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Katholizismus« behauptet.419 Auch eine systematische Unterscheidung regimekritischen Verhaltens erfolgt nur selten.420 Stattdessen attestiert etwa Maria Anna Zumholz dem katholischen Milieu aufgrund des Gebots der Nächstenliebe pauschal einen »weltanschaulichen Widerstand […] mit dem Ziel, eine ›Gleichschaltung der Seelen‹ im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu verhindern«, der womöglich »dem Wesen eines totalitären menschenfeindlichen Regimes gerechter wird als ausschließlich politischer Widerstand.«421 Solche Einschätzungen sind hochgradig problematisch: Die potentielle Mehrdeutigkeit des Nationalsozialismus, der eben keine bis ins Letzte kohärente Ideolo-

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So sprach beispielsweise Lagerleiter Schenk von der »wenig Volksgemeinschaft kennende[n] Bevölkerung des Emslandes« (Lagerleiter Oberlangen, 6. 7. 1935, in: Angelegenheiten III). Vgl. Claudia Bade: »Die Mitarbeit der gesamten Bevölkerung ist erforderlich!« Denunziation und Instanzen sozialer Kontrolle am Beispiel des Regierungsbezirks Osnabrück 1933 bis 1949, Osnabrück 2009, S. 40–43. Vgl. Martin Broszat: Zur Sozialgeschichte des deutschen Widerstands, in: VfZ 34 (1986), S. 293–309, hier: 300–304. Vgl. auch ders./Elke Fröhlich: Alltag und Widerstand. Bayern im Nationalsozialismus, München / Zürich 1987. Vgl. kritisch dazu Klaus-Michael Mallmann / Gerhard Paul: Resistenz oder loyale Widerwilligkeit? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 41 (1993), S. 99–116, hier 113. Klemens-August Recker: »Wem wollt ihr glauben?« Bischof Berning im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1998, S. 193. Vgl. kritisch zu derartigen Exkulpationsversuchen Cornelia Rauh-Kühne: Anpassung und Widerstand? Kritische Bemerkungen zur Erforschung des katholischen Milieus, in: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.): Anpassung, Verweigerung, Widerstand. Soziale Milieus, politische Kultur und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland im regionalen Vergleich, Berlin 1997, S. 145–164. Vgl. beispielsweise Gilbert Merlio: Widerstand, Opposition und Resistenz im Nationalsozialismus und in der DDR. Überlegungen zur Begrifflichkeit in vergleichender Absicht, in: Totalitarismus und Demokratie 2 (2005), S. 61–70. Maria Anna Zumholz: Anpassung – Verweigerung – Widerstand? Katholisches Milieu im Emsland 1933–1945, in: Emsländische Geschichte 13 (2006), S. 22–104, hier: 103 f.

Umkämpfter Raum

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140 gie war, sondern als ›broad church‹ für verschiedene Strömungen offen war, wird darin ebenso wie das individuell unterschiedliche Verhalten von Katholiken vollständig ausgeklammert.422 Eine generelle Frontstellung zwischen ›den Nationalsozialisten‹ und ›der allgemeinen Bevölkerung‹ ist kaum aufrechtzuerhalten. Die Möglichkeiten zur Partizipation waren ebenso vielfältig wie die Grade der Involviertheit in das NS-System. Neben verschiedenen Gliederungen der Partei, beispielsweise der NS-Frauenschaft, den Jugendverbänden und dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, gab es eine Vielzahl angeschlossener Verbände wie die DAF, NS-Volkswohlfahrt (NSV), NS-Kriegsopferversorgung und verschiedene Berufsverbände. Allein NSV und DAF hatten zeitweise Mitgliederzahlen im zweistelligen Millionenbereich.423 Zudem sagen Mitgliederzahlen wenig über die jeweilige Kongruenz individueller und nationalsozialistischer Weltsicht aus, sondern sind vielmehr Ausdruck gesellschaftlicher Erwartungen an die Mitgliedschaft in NS-Organisationen im jeweiligen regionalen und sozialen Kontext. Umgekehrt konnten historische Subjekte auch ohne eine solche Zugehörigkeit Anknüpfungspunkte zu politischen oder auch weltanschaulichen Aspekten des Nationalsozialismus haben. Der Totalitätsanspruch des NS-Regimes spiegelte sich eben nicht in der individuellen Einstellung gegenüber dem System. Eine partielle Resistenz umfasste auch immer die Möglichkeit der Gleichgültigkeit, Befürwortung und Teilhabe in anderen Bereichen nationalsozialistischer Politik – genau wie ein Aktivwerden in solchen Teilbereichen nicht eine generelle Zustimmung zur ›Volksgemeinschaft‹ bedeutete, sondern auch mit Ablehnung in anderen Momenten einhergehen konnte. Um das Verhältnis der SA-Wachmannschaften zu ihrer Umgebungsgesellschaft analysieren zu können, ist daher eine differenziertere Untersuchung nötig, die unterschiedliche Bereiche des Sozialen beleuchtet und eine potentielle Mehrdeutigkeit individuellen Verhaltens im Alltagsleben in Betracht zieht. Den Hintergrund hierfür bietet zwar weiterhin das katholische Milieu, in der konkreten Betrachtung ist es aber kleinräumiger zu unterteilen in lokale, traditionale Gemeinschaften und Netzwerke von Akteuren.424

Vgl. Robert Gellately: Backing Hitler: Consent and Coercion in Nazi Germany, Oxford 2001. 423 Armin Nolzen geht davon aus, dass 1939 zwei Drittel der deutschen Bevölkerung Mitglieder in NS-Organisationen waren. Vgl. Armin Nolzen: Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft, in: Jörg Echternkamp (Hg): Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben, München 2004, S. 99–193, hier: 103–117. 424 Vgl. zur Konzeptionalisierung des Gemeinschaftsbegriffs Reinicke / Stern / Zamzow: Suche. 422

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141 Aufruhr in Lingen. Frühe NS-Aktivisten im Emsland Am 7. Juli 1933 versammelten sich gegen 8 Uhr abends etwa 70 bis 80 Menschen – vorrangig junge Männer zwischen 16 und 23 Jahren – auf dem Adolf-Hitler-Platz in Lingen. Ähnlich wie auch an anderen Orten in den ersten Monaten nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten vermischten sich zu diesem Anlass einbestellte SA-Männer und Teile der lokalen Bevölkerung, um als Mob gegen vermeintliche Missstände aufzubegehren. Als Rädelsführer wurde später der 22-jährige Gerichtsangestellte und SA-Sturmführer Arthur Knappheide ausgemacht, der auf der Treppe des Rathauses eine Hetzrede hielt, in der laut den Polizeiakten »Worte wie Blutsauger, Arschlöcher, Lump [und] dergleichen fielen«.425 Diese Attacken richteten sich jedoch nicht gegen politische Gegner oder Juden, sondern gegen Geschäftsführer und Vorstand der ›Nationalen Nordwestdeutschen Siedlungsgenossenschaft‹. Diese war zwar erst Anfang des Jahres gegründet worden, aber die Angeschuldigten standen bereits im Verdacht, Misswirtschaft zu betreiben und Gelder unterschlagen zu haben. Ihnen wurde vorgeworfen, »Siedlungsgewillte an sich heranzuziehen und sie dann um Anzahlungen usw. [zu] erleichtern, ohne den Leuten Siedlungsstellen verschaffen zu können.«426 Im Anschluss an Knappheides Rede zog die weiter anwachsende Menge zu den Wohnungen dieser Männer und sang dabei das Lied »O Deutschland hoch in Ehren«. Nachdem der Geschäftsführer Nikolaus W. nicht angetroffen worden war, wurde der Rechtsanwalt V. als Mitglied des Vorstands aus seiner Wohnung und auf den Marktplatz gezerrt, wo ihn die aufgebrachte Menge umringte. Laut Polizeiangaben stellte sich Knappheide dort jedoch schützend vor V., der anschließend von der Polizei zurückgebracht wurde. Das darauf folgende Strafverfahren gegen Knappheide wurde niedergeschlagen, da die Ereignisse im Rahmen der ›nationalsozialistischen Revolution‹ geschehen seien und dadurch unter eine Amnestie vom 22. Juli 1933 fielen.427 Zum Zeitpunkt des Lingener Vorfalls waren gerade 15 Tage seit der Ankunft der ersten KZ-Häftlinge in Börgermoor vergangen. Arthur Knappheide, der am 13. Januar 1911 in Osnabrück geboren worden war, lebte aber schon einige Jahre im Emsland. Von 1929 bis 1930 hatte er einen einjährigen Militärdienst absolviert und war seit dem 15. Mai 1931 als Angestellter beim Amtsgericht Meppen, später am Amtsgericht Lingen tätig. Mit 20 Jahren trat er im Dezember 1931 der SA bei; zum Jahresbeginn 1932 wurde er Mitglied der NSDAP.428 Später gab er an, seine BA Berlin R 3001 Nr. 183369. Ebd. 427 Vgl. ebd. 428 Vgl. BA Berlin R 3001 Nr. 9819. 425 426

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142 politischen Aktivitäten seien ihm von seinen Vorgesetzten und den Emsländern generell verübelt worden: Es waren in der hiesigen Gegend wo alles schwarz war und auch heute noch ist, höchstens 6 bis 8 SA Männer, somit kam es auf jeden Einzelnen an. Sehr oft wurde ich von den Beamten des Amtsgerichts Meppen angeekelt, was ich in den Versammlungen machte […]. Oft sind wir mit drei oder vier [SA-Männern] in die Versammlungen gegangen und haben uns durchgesetzt.429 Insofern bestätigt Knappheide beispielhaft die Außenseiterstellung früher NSAktivisten im Emsland. Als Zugezogener ohnehin wenig integriert, verdeutlichte sein Eintreten für die NS-Bewegung die Unterschiede zum katholischen Milieu. Zeitgleich mit der Einrichtung der Strafgefangenenlager wurde Arthur Knappheide am 1. April 1934 als Oberwachtmeister in den SA-Wachmannschaften angestellt. Für die relativ hochrangige Verwendung dürfte seine vorherige Anstellung im Justizdienst von Bedeutung gewesen sein. Ob er vom Amtsgericht zu den Wachmannschaften ›abgeschoben‹ wurde oder ob er aus freien Stücken in den Lageraufsichtsdienst wechselte, ist nicht bekannt. 1937 wurde er zum Hauptwachtmeister im Lager Brual-Rhede befördert und später zum Wacheinheitsführer von Neusustrum ernannt.430 Die personelle Kontinuität zwischen frühen NS-Aktivisten und der ›Moor-SA‹ ist ein durchaus interessanter Aspekt, an dieser Stelle aber nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr verdeutlicht der Aufruhr in Lingen, dass es für die emsländische Bevölkerung durchaus Anknüpfungspunkte zur ›nationalen Erhebung‹ gab. Gerade in Fragen der Emslandmodernisierung lag eine geteilte Interessenlage vor, aufgrund derer Teile des katholischen Milieus und SA-Männer in einer ähnlichen Richtung mobil werden konnten.

Die Emslandlager als regionaler Wirtschaftsfaktor Bereits durch den Bau und die Einrichtung der staatlichen Konzentrationslager im Sommer 1933 erhielten Handwerksbetriebe und Unternehmen aus der Region eine Vielzahl an Aufträgen. Die Lager waren von Beginn an auch als Fördermaßnahme für die wirtschaftlich schwache Region gedacht. Bereits der Bau eines Lagers für 1.000 Häftlinge kostete 350.000 RM. Für die Versorgung der Lager mussten allein in den ersten sechs Monaten 1.000.000 RM bereitgestellt werden.431 Das InnenSchreiben 9. 11. 1934, in: BA Berlin PK G 0054. Vgl. Angelegenheiten II; NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1250 u. Nr. 1261. 431 Das Lager Börgermoor wurde auf dem Gelände eines Wirtschaftshofs errichtet und war daher mit 280.000 RM günstiger. Vgl. KW I, S. 134 u. 138. 429 430

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143 ministerium beabsichtigte, dafür »auch die ortsansässigen kl. Firmen mit aufzufordern«.432 Die »Ems-Zeitung« vermeldete am 20. Juli 1933: Wer der Ansicht ist, daß der friedliche und geruhige Bürger noch immer die tiefe Abneigung hat, sich mit diesen Menschen [d. h. kommunistischen Häftlingen, D. R.] in Verbindung zu setzen, der wird im Augenblick anders belehrt, wo die gesamte Geschäftswelt sich einmütig für die Belieferung des Lagers zur Verfügung stellt. […] Alles in allem bedeutet der Vorgang da draußen im wüsten Moor für uns etwas sehr Gutes und Nützliches.433 Tatsächlich erhielt eine Vielzahl an Firmen aus der Region Aufträge während des Baus der Lager; auch der benötigte Stacheldraht wurde öffentlich ausgeschrieben.434 Bei der Ablösung des Meppener Landrats im Herbst 1933 wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit erhielt dieser durch die Gewerbegilde Zuspruch »dafür, dass Lieferungen für die Konzentrationsläger auch nach Meppen kommen.«435 Gleichzeitig beschwerten sich Handwerker aus näher gelegenen Orten darüber, dass eine Meppener Firma mit dem Bau mehrerer Baracken in Esterwegen beauftragt worden war.436 Der Papenburger Bürgermeister Richard Jansen konnte erwirken, dass in den Lagern ausschließlich mit Torf geheizt wurde, um so die heimische Torfindustrie zu fördern. Im Juni 1933 forderte er, dass Anhänger der NSDAP bei der Auftragsvergabe bevorzugt werden sollten. Dadurch entstand für lokale Betriebe ein Assimilationsdruck, um an entsprechende Aufträge zu gelangen. Mit der Ausstattung der Lager wurden ebenfalls Papenburger Firmen beauftragt.437 Auch in weniger naheliegenden Bereichen versuchten lokale Akteure, von der Einrichtung der Lager zu profitieren. Die Papenburger Feuerwehr etwa beantragte bei der Brandkasse Ausrüstungsgegenstände für Feuerwehrleute, mehrere hundert Meter Schlauchmaterial sowie einen Vorspannwagen für ihre Motorspritze, da es durch die Lager zu größeren Einsätzen weiter außerhalb der Stadt kommen könnte.438 Die Kreisfrauenschaftsführerin erfuhr Anfang 1934 gerüchteweise, dass sich in der Hauptverwaltung der Lager 30–40 Nähmaschinen befänden. Da die NS-Frauenschaft »in den einzelnen Ortsgruppen nur eine oder fast gar keine Nähmaschine«

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Preußischer Innenminister, 20. 6. 1933, in: ebd., S. 124. EZ, 22. 7. 1933. Vgl. NLA Osnabrück Rep 430 Dez 209 Akz 61 /87 Nr. 63; KW I, S. 138–146 u. Katholischer Volksbote, 10. 7. 1933. Vgl. NLA Osnabrück Rep 430 Dez 101 Akz 7 /43 Nr. 265. Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 211. Vgl. Roitsch: Ueberall, S. 79 f. Vgl. NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 1011.

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144 zu Verfügung hatte, versuchte sie nun zu erreichen, dass ihnen zehn dieser Nähmaschinen überlassen würden.439 Aufträge zur Errichtung oder Erweiterung der Lager wurden immer wieder erteilt, da der Lagerkomplex bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs mit einer Ausnahme 1936 jährlich erweitert wurde. Eine dauerhafte Auftragslage versprach aber vor allem die Versorgung der Lager mit Lebensmitteln. Auch bei diesen langfristig gesicherten Einnahmen schienen einige Betriebe an einer Gewinnsteigerung interessiert zu sein – auf Kosten der Qualität und damit der Strafgefangenen. Im Februar 1936 wandte sich Kommandeur Schäfer an die Gesundheitsbehörde des Landkreises und bat, die Bäckereien und Schlachtereibetriebe zu überprüfen, die die Lager belieferten: Zu dieser Bitte sehe ich mich veranlasst, weil verschiedentlich im Schwarzbrot Blech und Pappe und einmal sogar eine Maus eingebacken gefunden wurden. Es [besteht auch] die Möglichkeit, dass des niedrigen Preises wegen sogenanntes Futterschrot verbacken wird.440 Bei einer Überprüfung der Papenburger Metzgereien wurde zwei Jahre später bei einem Betrieb festgestellt: »2 Pfd verdorbene u. verschimmelte Blutwurst beschlagnahmt u. unschädlich beseitigt. Das Schlachthaus ist unhaltbar.«441 Derartige Befunde konterkarieren die tradierte regionale Erzählung, die Bevölkerung habe die Gefangenen generell unterstützt.442 Es gab durchaus Fälle, in denen die Zivilbevölkerung Häftlingen zur Flucht verhalf oder für sie Briefe schmuggelte – teils gegen Geld, teils ohne Gegenleistung. Derartige Handlungen waren aber eher die Ausnahme und bildeten nur einen Ausschnitt des Handlungsspektrums der Zivilbevölkerung.443 Im Aufeinandertreffen von Lagerprojekt, Wachmannschaften und Zivilbevölkerung entstand ein Spannungsfeld, in dem Hinzugezogene auf Alteingesessene trafen, Tradition auf Modernisierungsanspruch und moralische Wertvorstellungen auf ökonomisch-biographische Opportunitätsstrukturen. Die Frontlinien verliefen hier nicht eindeutig zwischen regionalem Milieu und SA, sondern auch innerhalb traditioneller Gemeinschaften und Netzwerke, wie Bianca Roitsch ausführt: »Die Gründung der Konzentrationslager bedeutete schließlich nicht nur einen deutlichen Eingriff in lokale Wirtschaftsstrukturen, sondern auch eine Herausforderung für die lokalen Prestigeverhältnisse.«444 Dies

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Vgl. NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 1284. W. Schäfer, 6. 2. 1936, in: NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 921. Veterinärrat Aschendorf-Hümmling, 26. 7. 1938, in: ebd. Hervorhebung im Original. Vgl. etwa Wilhelm Maria Badry: Konzentrations- und Gefangenenlager im Emsland von 1933–1945, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 15 (1968), S. 127–136. Vgl. NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 835; Buck: Esterwegen, S. 214. Roitsch: Ueberall, S. 81. Etablierung

145 führte nur peripher zur Auflösung von Milieustrukturen, da sich Anknüpfungsbereiche ergaben, die anscheinend wenig mit katholischer Lebensausrichtung zu tun hatten. Wie in anderen Sozialzusammenhängen, gab es auch hier multiple Identitäten und uneindeutige Verhaltensweisen historischer Akteure,445 sprich die allgemeine Inkonsistenz des menschlichen Subjekts. Insofern war auch das Emsland im Nationalsozialismus bei allem weltanschaulichen, geradezu störrischen Beharrungsvermögen »alles andere als ein Hort des aktiven Widerstands.«446 Auch Hubert Rinklake kommt zu dem Schluss, dass sich das Milieu zwar nach innen »gegen den Nationalsozialismus selbstbehauptet [hat], ohne Widerstand zu leisten«, nach außen letztlich aber systemstabilisierend wirkte.447

Eindringlinge im katholischen Raum. Autoritätsanmaßungen durch SA-Männer Um die scharfen Gegensätze abzumildern, die zwischen der Zivilbevölkerung und den SS-Wachmannschaften im Herbst 1933 bestanden hatten, war für die neuen Wachmannschaften die ›Bodenständigkeit‹ der SA-Wachmänner zum Einstellungskriterium erhoben worden. Militärischer Drill und strenge Disziplin während der Ausbildung waren auch dazu gedacht, eine unmittelbare Wiederholung solcher Zusammenstöße zu vermeiden. Den SA-Wachmannschaften wurde anfangs untersagt, sich mehr als 500 Meter vom Lager zu entfernen. Der erste Ausgang wurde nach sechs Wochen gewährt und fand unter Aufsicht eines Halbzugführers statt.448 Als die Wachmänner später in ihrer Freizeit die Lager allein verlassen durften, kam es auch zwischen ihnen und der Bevölkerung zu Konflikten, die in den Polizeiunterlagen aktenkundig geworden sind. In aller Regel trafen dabei Gruppen von Wachleuten und Zivilpersonen im Umfeld von Festen und Feiern aufeinander. Dass dabei ausschließlich Männer aufeinandertrafen und die Beteiligten unter Alkoholeinfluss standen, ist wenig verwunderlich. Ein zentrales Unterscheidungskriterium für die Bewertung dieser Konfliktsituationen ist daher die Frage, ob sie aus den politisch-weltanschaulichen Gegensätzen zwischen ideologisierten Vgl. etwa Janosch Steuwer / Rüdiger Graf: Selbstkonstitution und Welterzeugung in Tagebüchern des 20. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 7–36 und Peter Fritzsche: Der Kampf ums Dasein und die Gestaltung des Selbst, in: ebd., S. 85–99. 446 Henning Harpel: Die Emslandlager des Dritten Reichs. Formen und Probleme der aktiven Geschichtserinnerung im nördlichen Emsland 1955–1993, in: Emsländische Geschichte 12 (2005), S. 134–239, hier: 144. 447 Rinklake: Milieu, Bd. I, S. 271. 448 Vgl. Knoch: Kampf, S. 58. 445

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146 SA-Männern und katholischer Landbevölkerung herrührten oder aus dem Aufeinandertreffen klar abgegrenzter Dorfgemeinschaften und den in ihrer Lagerunterbringung sozial isolierten Wachmännern. In der Praxis vermischten sich diese Motivlagen jedoch häufig. Zusätzlich zu den weltanschaulichen Unterschieden konnte auch eine Anspruchshaltung der Wachmänner als Repräsentanten der nationalsozialistischen ›Bewegung‹ zur Eskalation der Konflikte beitragen, da diese Selbstsicht lokale Autoritäten in Frage stellte. Ende Mai 1934 kam es beispielsweise zu einer Auseinandersetzung zwischen Polizeibeamten und SA-Männern der Lagerkommandantur in Papenburg. Der Hintergrund hierfür war eine katholische Glaubenskundgebung in Meppen gewesen, von der spätabends noch mehrere Papenburger in Sonderzügen zurückkehrten. Der 28-jährige Truppführer Adalbert Lindemann war zuvor in Uniform auf einer privaten Feier gewesen. Anschließend ging er zum Bahnhof, wo um 23:30 Uhr der letzte Sonderzug eintreffen sollte. Offensichtlich hatte der aus Aurich zugezogene SA-Mann in seiner kurzen Zeit im Emsland soziale Kontakte geknüpft: Unterwegs traf er eine Bekannte, die dort ihren Vater und ihren Verlobten abholen wollte. Letzteren empfing Lindemann am Bahnhof mit den Worten »Was, Du bist auch mit der schwarzen Bande nach Meppen gewesen?« und ereiferte sich über die katholische Kundgebung, worauf dieser ihn bat, »ruhig zu sein, damit die vielen Straßenpassanten das nicht hörten.« Vater und Tochter gaben später beide an, Lindemann sei »gut angetrunken« gewesen.449 Nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, traf Lindemann drei weitere Kommandanturangestellte in einer Gastwirtschaft. Hier rühmte er sich damit, am Bahnhof einen Priester angerempelt und einem Jungen das DJK-Abzeichen abgerissen zu haben. Zudem lästerte er über »Himmelskomiker und schwarze Hunde des Emslandes.« Daraufhin kam es zu kurzen Handgreiflichkeiten mit zwei anderen Gästen, die ebenfalls in Meppen gewesen waren. Die Situation eskalierte jedoch nicht, auch weil »seine Kameraden [ihm sagten], wenn er Nationalsozialist sein wolle, müsse er auch Disziplin und Ruhe bewahren können.«450 Die eigentliche Auseinandersetzung ereignete sich erst, als die SA-Männer auf dem Weg nach Hause waren. Als sie sich weiter über die katholische Bewegung im Emsland unterhielten, kamen zwei Polizeibeamte hinzu. Diese waren zuvor ebenfalls am Bahnhof gewesen, wo sie »ein Glas Bier und einen kleinen Schnaps« getrunken hatten. Über die nun folgenden Ereignisse könnten die Darstellungen unterschiedlicher kaum sein. Beide Parteien bezichtigten die jeweils andere, betrunken gewesen zu sein. Einigkeit bestand dahingehend, dass die beiden Polizeihauptwachtmeister in einiger Entfernung stehen blieben und zu hören versuchten, was die SA-Männer sagten, worauf Lindemann sie auf ihr Verhalten ansprach. 449 450

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Sämtliche Zitate: NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 801. Beide Zitate: ebd. Etablierung

147 Die Polizisten gaben an, die sich laut unterhaltenden SA-Männer nun zur Ruhe ermahnt zu haben. Darauf habe Lindemann erwidert: »Sie können weitergehen, sie sind auch einer von den schwarzen Gesellen, Vaterlandsverrätern und roten Brüdern.« Die SA-Männer stellten den Vorfall wiederum so dar, dass auf Lindemanns erste Frage die Polizisten auf sie zugekommen seien. Einer der beiden habe mit dem Finger gedroht und gerufen: »Ihr SA-Lümmel und SA-Rüpel; Euch wollen wir es schon beistreichen.«451 Beide Parteien wollten nach diesem hitzigen Wortwechsel die Personalien der anderen Seite verlangt haben. Drei der SA-Männer gingen darauf zum Rathaus und schlugen an die Tür, um sich bei Polizeiobermeister Schäfer zu beschweren. Nach mehrfachem Hin und Her wurden Lindemann und ein weiterer SA-Mann schließlich unweit des Rathauses festgenommen und in der dort befindlichen Polizeiwache in eine Arrestzelle gesperrt. Nach etwa 20 Minuten erschien Obermeister Schäfer und veranlasste die Freilassung der SA-Männer. In den Aussagen, die in den nächsten Tagen aufgenommen wurden, wiesen die Polizisten wie auch die SA-Männer ein eigenes Fehlverhalten weit von sich und stellten ihre Handlungen als korrekt dar. Auch wenn die Beamten durch Beleidigung der SA-Männer zur Eskalation des Konflikts beigetragen haben und der Herausforderung ihrer polizeilichen Autorität übermäßig repressiv begegnet sein sollten, war es vor allem das Verhalten der SA-Männer, die sich hier eine eigene öffentliche Ordnungskompetenz angemaßt hatten, die diese Situation überhaupt entstehen ließ. Dass sie die Personalien der Polizisten verlangten und am Rathaus lautstark deren Vorgesetzten zu sprechen forderten, ist in diesem Kontext als Hybris der SA zu bewerten. Dieser Vorfall macht allerdings auch deutlich, dass zwischen Wachmännern und der Umgebungsbevölkerung durchaus Nahbeziehungen existierten: Trotz gegensätzlicher religiöser Auffassungen bestanden dennoch private Bekanntschaften zwischen SA-Männern und Zivilpersonen. Neun Monate später kam es im Papenburger Obenende zu einer Auseinandersetzung, bei der erneut der katholische Glaube der Bevölkerung eine Rolle spielte. Im »Hotel zur Post«, aufgrund der Besitzerfamilie auch als ›Lokal Hilling‹ bezeichnet, fand am 27. Februar 1935 eine Feier der Kolpingfamilie statt. Kurz vor Mitternacht betraten mehrere Wachleute des Lagers Börgermoor, angeführt von Hauptwachtmeister Hartmann, den Saal und bestellten Bier. Auch hier waren die SA-Männer mit dem Gastwirt und mehreren Feiergästen bekannt oder befreundet und begannen Gespräche. Der Präses der Obenender Kolpingfamilie, Vikar Schwarte, wies die SA-Männer darauf hin, dass es sich um eine geschlossene Gesellschaft handele. Hartmann erwiderte darauf: »Geschlossene Gesellschaften gibt es überhaupt nicht mehr im Dritten Reich.« Als die SA-Männer angaben, am Tresen »nur ein paar Glas Bier trinken« zu wollen, ließ der Vikar es zunächst dabei bewenden.452 451 452

Sämtliche Zitate: ebd. NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 798.

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148 Als Wachmann Paul Freisberg mit einem Mädchen tanzen wollte, wurde er von mehreren Festteilnehmern abgedrängt, wobei ihm einer der katholischen Gesellen an die Uniform griff. Der Wachmann protestierte lautstark, worauf der Kolpingbruder angeblich bemerkte: »Ich greife keine Uniform an, die in Ehren getragen wird, aber nicht wie von euch.« Kurz darauf weigerten sich Hartmann und Freisberg – im Gegensatz zu den anderen SA-Männern –, bei einer Sammlung für das Kolpinggrab zu spenden. Dies heizte die Stimmung offenbar weiter an und führte zu lauter werdendem Protest der Feiernden. Der Vikar bat die SA-Männer nun erneut, die Feier zu verlassen und wies den Wirt an, ihnen keine Getränke mehr auszuschenken. Als dieser der Aufforderung nachkam, erklärte ihm Hartmann: »Dann sind wir Freunde gewesen.« Der Leiter der Feier, Lübbertus Wübbels, wies daraufhin die Kolpingsöhne an, wieder an ihre Plätze zu gehen und hielt eine Rede, in der er die Verdienste des Katholizismus am Aufbau des ›neuen Deutschlands‹ hervorhob. Dieser habe »vielleicht ebensoviel Anteil, wie die Herren, die jetzt die Veranstaltung störten.« Von dieser Rede und dem darauf folgenden Beifall fühlten sich die SA-Männer provoziert und verließen die Gaststätte, wobei die Wirtstochter den Ausruf hörte: »Die Bude ist wert, dass sie in die Luft gesprengt wird.«453 Am Folgetag beschwerte sich Hartmann bei Kommandeur Schäfer, der daraufhin Regierungspräsident Eggers schrieb, er halte »ein Verbot der Kolpingsjugend für Papenburg für unbedingt erforderlich.« Der Vorfall sei eine hochgradige Gefährdung des Lagerprojekts: Nachdem ich es bisher als meine vornehmste Aufgabe betrachtet habe, meine Wachtmänner so zu erziehen, dass sie niemals mit der Bevölkerung kollidierten, hat es die Kolpingsjugend fertiggebracht, durch ihr unglaubliches Verhalten unter Beweis zu stellen, dass sie nicht gewillt ist im Sinne der von uns angestrebten Volksgemeinschaft zu handeln.454 Daher habe er auch einen Boykott des Lokals durch die Wachmannschaften und sämtliche Formationen der NSDAP erwirkt. Nachdem die Polizei bereits mehrere Anwesende zum Sachverhalt gehört hatte, versuchte Vikar Schwarte am 4. März mit einem Brief den Konflikt beizulegen. Die Zutrittsverweigerung sei nur zur Einhaltung der rechtlichen Bestimmungen erfolgt, man habe dahingehend zuvor schlechte Erfahrungen gemacht. Auch habe man zu Beginn der Feier die Zustimmung zum neuen Staat deutlich zum Ausdruck gebracht: Herr Wübbels hat zu Anfang die Mitglieder begrüsst, hat in dankbaren und anerkennenden Worten des Führers des deutschen Volkes gedacht und […] ein drei453 454

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Sämtliche Zitate: ebd. Ebd. Etablierung

149 faches ›Sieg Heil‹ ausgebracht, in das alle Anwesenden begeistert miteinstimmten. Es wurde dann gemeinsam mit zum deutschen Gruss erhobener Hand das Deutschlandlied gesungen.455 Auf die Vorwürfe, die Kolpingfamilie stehe dem ›Dritten Reich‹ ablehnend gegenüber, reagierte er geradezu verzweifelt: »Ich bitte nur um Anweisungen, wie wir uns in diesem Dilemma verhalten sollen: Wenn wir ›Heil Hitler‹ sagen, dann ist das nicht aufrichtig, wenn wir es nicht sagen, schliessen wir uns aus der Volksgemeinschaft aus.« Die eigene Haltung sei aber klar: »Zudem weiss jeder, dass es für einen Katholiken unmöglich ist in seinem Gewissen, dass er staatsfeindlich eingestellt ist. Darüber zu debattieren, heisst kath. Weltanschauung zu verkennen.« Die Bevölkerung vom Papenburger Obenende sei zwar »gegen alles Neue erst schwerfällig«, aber »doch pflichtbewusst, arbeitsam und treu«.456 Polizeiobermeister Schäfer legte den Konflikt letztlich mit dem Hinweis bei, dass eine Duldung der SA-Männer durch die Festleitung rechtswidrig gewesen wäre. Bei diesem Vorfall war es erneut ein Angehöriger der mittleren Führungsränge der ›Moor-SA‹, der meinte, dass zivilgesellschaftliche Regeln für die SA-Männer als Vorkämpfer der ›Bewegung‹ nicht gälten. Hartmann und seine Kameraden zeigten eine Anspruchshaltung, nach der sie völlig selbstverständlich in einen Kernbereich katholischer Milieubildung vorzudringen versuchten – die Wachmänner hätten ebenso gut im offenen Gastraum der Wirtschaft bleiben können. Kommandeur Schäfer wiederum nutzte diesen Anlass, um die eigene Machtposition auszubauen. Er dürfte weder das Verbot der Obenender Kolpingfamilie als realistisch noch einen langfristigen Boykott der Gastwirtschaft für opportun angesehen haben. Doch deren bloße Androhung zwang die Angeschuldigten, ihre Treue zum nationalsozialistischen Staat zu bekräftigen und sich um Schäfers Wohlwollen zu bemühen. Schäfers Position wurde dadurch gestärkt, dass er auf ein ansonsten weitgehend reibungsfreies Auftreten der Wachmannschaften und die eigene »Aufbauarbeit« verweisen konnte. Die katholische Gesellenvereinigung versuchte verständlicherweise, das Vordringen der SA in diesen Bereich religiös aufgeladener Vergemeinschaftung abzuwehren. Ein Austarieren zwischen der zu diesem Zeitpunkt noch durchaus ernstgemeinten Bereitschaft, am Aufbau eines ›neuen Deutschlands‹ teilhaben zu wollen, ohne dabei aber die katholische Identität mit den ihr eigenen Alltagspraktiken und Ritualen aufzugeben, bedeutete eine stete Gradwanderung.457

Ebd. Sämtliche Zitate: ebd. 457 So wies der Präses dieser Kolpingfamilie auf die vielfältige Mitarbeit der Mitglieder in NS-Organisationen hin. Vgl. ebd. 455 456

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150 Konflikte auf Volksfesten und Abgrenzung zur SS Die beiden beschriebenen Vorfälle unterschieden sich deutlich von anderen dokumentierten Auseinandersetzungen, bei denen Gruppen meist einfacher Wachmänner mit jungen Emsländern – teilweise physisch – aneinandergerieten. Dies geschah häufig auf Schützen- oder Volksfesten, aber auch in Gaststätten. Dabei scheint es sich aber eher um das Aufeinandertreffen der ›auswärtigen‹, ausschließlich männlichen SA-Männer und traditionellen Dorfgemeinschaften gehandelt zu haben. Als im Juli 1934 auf einem Schützenfest in Lindloh bei Haren Streit zwischen Wachmännern und Einheimischen ausbrach, fasste der Polizeibeamte dies so zusammen: »Gegen 3 Uhr nachts kam es zwischen den Jungbauern und den Lagerleuten (etwa 30 Mann) zu Reibereien wegen der Mädchen.«458 Nachdem die Lagerkommandanten Maue und Schenk den Wachleuten befohlen hatten, nach Hause zu fahren, wurde ein Landwirt von einem Bierglas getroffen und erlitt Schnittwunden an Kopf und Hals. Während das Opfer angab, auf einem Motorrad vorbeifahrende SA-Männer hätten das Glas geworfen, hielten die anwesenden Polizisten es für wahrscheinlicher, dass Ortsansässige die abfahrenden Wachmänner zum Ziel gehabt hätten und nur versehentlich den Landwirt trafen.459 Zur gleichen Zeit kam es auch bei einem Schützenfest in Papenburg-Obenende zu Spannungen zwischen SA-Männern und anderen Anwesenden. Der diensthabende Polizeihauptwachtmeister meinte dazu: »Nach allem zu urteilen, was man so hört, scheint das Publikum Gelegenheit zu nehmen, die Vorfälle mit den Wachtleuten allgemein stark aufzubauschen.«460 Der Sohn des Wirtes Hilling wurde von mehreren SA-Männern bedroht, hatte diese nach Angaben der Polizeibeamten aber im alkoholisierten Zustand provoziert. Als Hilling sich darauf bei der Ortspolizeibehörde beschwerte, drohten ihm die Beamten mit einer Anzeige wegen falscher Anschuldigung.461 Derartige Drohungen, mit denen die Polizei die SA in Schutz nahm, mögen mit dazu beigetragen haben, dass ab 1935 bis zum Beginn des Krieges keine weiteren Beschwerden der Zivilbevölkerung vorliegen. Ebenso zeigt sich anhand dieser Fälle, dass das Konfliktpotential vielfach aus dem Eindringen einer neuen Gruppe in bestehende Sozialstrukturen erwuchs. Dies wird auch daran ersichtlich, dass ähnliche Vorfälle auch im wenige Kilometer nördlich beginnenden Ostfriesland auftraten. Als es im September 1935 auf einem Jahrmarkt in Weener zu Ausschreitungen kam, bei denen ein SA-Mann sogar einen scharfen Warnschuss abgab, verhängte die Kommandantur nach Rück-

NLA Osnabrück Rep 430 Dez 101 Akz 15 /43 Nr. 60. Vgl. ebd. 460 NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 782. 461 Vgl. ebd. 458 459

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151 sprache mit dem Landrat ein viermonatiges Aufenthaltsverbot.462 Bereits drei Tage nach dessen Ablauf wandte sich der Regierungspräsident in Aurich an den Reichsinnenminister und beschwerte sich über die erneute Präsenz der SA-Männer, die »besonders gern und ausgiebig dem Alkohol zusprechen« würden,463 sodass neuerliche Ausschreitungen wohl nur eine Frage der Zeit seien. Kommandeur Schäfer wies diese Vorwürfe scharf zurück und bemerkte, dass die vorausgegangenen zwei Tage kaum ausgereicht haben dürften, um solche Anschuldigungen zu begründen. Die Auseinandersetzung vom September 1935 schilderte er nun so: Das Verbot von Weener wurde damals notwendig, als es anläßlich einer Tanzveranstaltung in Weener durch ortsansässige junge Burschen, die erheblich unter Alkohol standen, zu Auseinandersetzungen kam. Unsere Männer, die auf ihren Motorrädern sofort ihre Heimreise in das Lager antreten wollten, wurden durch Herabzerren von den Rädern daran gehindert und haben dann als alte SA Männer verschiedenen Radauhelden kräftige Lehre erteilt.464 Da einige SA-Männer aus dem Gebiet stammten, konnte er mehrere Stellungnahmen von Gaststättenbesitzern und Ladeninhabern aus Weener beifügen. Auch die Bürgermeister von Weener und Leer bescheinigten den SA-Männern ein reibungsfreies Verhalten. Der Kreisleiter Aschendorf-Hümmling gab an: »[D]as Auftreten der Wachtmannschaften der Strafgefangenenlager [ist] stets anständig, einwandfrei und korrekt […]. Weiter bemerke ich, dass das Verhältnis der Wachmannschaften der Strafgefangenenlager zur Bevölkerung ein sehr gutes ist.«465 Insgesamt reichte Schäfer mit seinen Ausführungen mehr als 30 solcher Leumundszeugnisse ein, wodurch die Angelegenheit erledigt war. Auch in diesem Fall profitierte die ›Moor-SA‹ vom Verhalten der Lager-SS aus Esterwegen. Während des Aufenthaltsverbots der SA für Weener suchten SSMänner aus Esterwegen in Loga bei Leer in einer Gastwirtschaft zunächst gezielt Streit mit Arbeitern. Anschließend verprügelten sie vor dem Lokal mehrere dieser Männer sowie unbeteiligte Passanten, darunter auch den Ortsgruppenleiter B. des Nachbarorts Logabirum. Dass dieser von einem aus der Gegend stammenden SSMann als ›alter Kämpfer‹ identifiziert wurde, hinderte dessen Kameraden nicht daran, B. vom Fahrrad zu zerren und zusammenzuschlagen. Hinterher musste der Kreisleiter dafür sorgen, dass dieser Vorfall nicht publik wurde.466

Vgl. NLA Aurich Rep 16 /1 Nr. 965. Regierungspräsident Aurich, 3. 2. 1936, in: Angelegenheiten II. 464 W. Schäfer, 17. 2. 1936, in: ebd. 465 Kreisleiter Aschendorf-Hümmling, 15. 2. 1936, in: ebd. 466 Vgl. NLA Aurich Rep 16 /1 Nr. 965. 462 463

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152 Zwischen SS und SA kam es auch zu direkten Auseinandersetzungen. Nachdem das KZ Esterwegen der IKL unterstellt worden war, entschied sich ein Teil der SAWachmannschaft im August 1934 gegen eine Übernahme in die SS. Nicht alle SAMänner wurden umgehend entlassen, sondern blieben zum Teil noch mehrere Monate übergangsweise in Esterwegen.467 Im September 1934 waren sowohl SA- als auch SS-Männer aus Esterwegen auf der Kirmes in Aschendorf. Nur wenige Monate nach dem ›Röhm-Putsch‹ herrschte hier eine aufgeheizte Stimmung zwischen beiden Gruppen. Laut Polizeibericht schlugen SS-Männer Zivilpersonen, hantierten mit einer ungeladenen Pistole und prellten die Zeche. Weiter notierte der Beamte: Ferner wurde mir von dem Gend.-Wachtm. Heber und Paetschke mitgeteilt, daß die Mannschaft und die Führer des Lagers 2 untereinander Streit gehabt hätten […] und nur durch das Dazwischentreten der beiden Beamten wurde eine Schlägerei unter den Wachtmannschaften verhindert. Soweit festgestellt werden konnte, war der Grund folgender. Nachdem die Mannschaft in Stimmung war, ist von der SS zur SA gesagt worden, hier SSSS[,] SSSS, worauf die SA gerufen hat, hier SA. […] Die Mannschaft von den anderen Lagern hat sich gut aufgeführt und auch harmonisch mit der Zivilbevölkerung gelebt.468 Die Bezirksregierung in Osnabrück fertigte daraufhin einen Geheimbericht an, in dem sie vor einer Wiederholung der Vorfälle im Herbst 1933 warnte: Ähnlich wie im vorigen Jahre beginnen auch jetzt die Bewachungsmannschaften der Esterweger Lager, die Bevölkerung der umliegenden Orte zu terrorisieren, indem sie insbesondere Händel in Gastwirtschaften, bei Festlichkeiten und dergl. suchen.469 Doch am Verhalten der SS änderte sich wenig. Im März 1935 wurde der Papenburger Handelsvertreter Hans W. auf seinem nächtlichen Heimweg Zeuge, wie die Frau eines Konditors Streit mit einem SS-Mann hatte. Ein weiterer SS-Mann forderte den Passanten »auf, weiterzugehen und schlug mich sofort zweimal mit der Faust ins Gesicht, und zwar auf das rechte Auge.«470 Nach einer erneuten Erwiderung erhielt W. einen weiteren Schlag ins Gesicht. Als Zeugen gab er anschließend den bei der Kommandantur angestellten SA-Mann Karl-Heinz Wittstock an, war aber dermaßen eingeschüchtert, dass er keinen Strafantrag stellen wollte.

Vgl. Gerichtsverfahren gegen August Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 1405 Nr. 1218. 468 Gendarmerie Aschendorf, 14. 9. 1934, in: KW I, S. 214. 469 Ebd., S. 213 f. 470 NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 798. 467

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153 Vor dem Hintergrund solcher Vorfälle wandte sich Kommandeur Schäfer 1935 an Hans Loritz, den Kommandanten des KZ Esterwegen, um ein gemeinsames, weniger konfrontatives Auftreten von SS und SA zu erreichen: Unser Kampf hier im Emsland darf nicht gegen die katholische Bevölkerung geführt werden, sondern muss sich einzig und allein gegen jene Kreise richten, die hier als Drahtzieher, mehr oder weniger gut getarnt, zu gelten haben. Der Kampf ist für uns insofern schwer, als wir uns einer Bevölkerung gegenüber befinden, die noch heute grösstenteils sich in der seit Jahrhunderten vererbten geistigen Zwangsjacke befindet.471 Der Begriff des Kampfes, den Schäfer hier nutzte, war eine wiederkehrende Formel, die der SA-Kommandeur und die Lagerleiter noch mehrfach gebrauchen sollten.472 Die Selbstdeutung der ›Moor-SA‹ als Kämpfer für die nationalsozialistische Sache griff dabei sowohl die Erfahrungen der ›Kampfzeit‹ als auch die paramilitärischen Strukturen der Wachmannschaften auf. Die Aufgabe der SA-Männer legte Schäfer aber deutlich weiter aus als die – ohnehin schon politisch aufgeladene – Bewachung der Strafgefangenen. Auch über die Erschließung neuen Siedlungsraums reichte diese Vorstellung hinaus: Die eigene Arbeit sah er als einen Kampf an, der zum Ziel hatte, die Bevölkerung aus ihrer »geistigen Zwangsjacke« zu befreien, ihr also Ziele und Ideen des Nationalsozialismus näherzubringen. Als Feindbild dienten hier eben nicht die Bewohner der umliegenden Orte, sondern die alten Eliten des katholischen Milieus – also Priester und Zentrumspolitiker, aber auch katholische Laien wie der Leiter der Kolpingfeier in Papenburg. Die völkische Modernisierung wollte Schäfer so auch auf einer geistig-kulturellen Ebene vollziehen. Die von Schäfer vorgenommene Zweiteilung in ›normale Bevölkerung‹ und ›Drahtzieher‹ spiegelte sich in der Realität so natürlich nicht wieder und wurde dem vielschichtigen Beziehungsgeflecht innerhalb des katholischen Milieus nicht gerecht. Gerade gegenüber den ideologischen Missionierungsversuchen der NS-Führer bestand weiterhin eine verbreitete Skepsis. Das Verhältnis der ›Moor-SA‹ gestaltete sich nach Schäfers Ankunft im Emsland also nach wie vor angespannt, jedoch wirkten er und seine SA-Führer dahingehend auf die Wachmannschaften ein, dass offene Konflikte weitgehend unterblieben. SA-Wachmänner und lokale Bevölkerung arrangierten sich so, dass die durchaus vorhandenen unterschiedlichen Ansichten und Politisierungsgrade in ihren Nahbeziehungen – wie sich anhand der verschiedenen dokumentierten Vorfälle ersehen lässt – ausgeklammert 471 472

BA Berlin OPG Hans Loritz. Vgl. hierzu Kap. III.2 dieser Arbeit sowie Feierliche Einweihung des Emslandhauses, EZ, 16. 10. 1936; Lagerleiter Oberlangen, 6. 7. 1935, in: Angelegenheiten III u. Recker: Berning, S. 193 f.

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154 werden konnten. Schäfer und die SA-Wachmannschaften erreichten damit immerhin, dass der Betrieb der Lager in diesem Umfeld reibungsfrei funktionierte. Die Bevölkerung mochte den völkischen Aspekt des Modernisierungsgedankens zwar vielfach ablehnen, war aber ebenso in die Versorgung, die Zwangsarbeit und den Ausbau der Lager vielfältig involviert. Durch eine Mischung aus Beschwichtigung und latenter Drohung kam es bis Kriegsbeginn zu keinen weiteren (dokumentierten) Beschwerden seitens der Bevölkerung.

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III. Durchsetzung (Juni 1935 – 1938) Mitte des Jahres 1935 hatten sich die Verhältnisse für die SA-Wachmannschaften geordnet – die Zuständigkeit für die Lager war geklärt, ihre Bewachung durch SA-Männer wurde nicht in Frage gestellt und insgesamt war ein Komplex von sechs Lagern für 5.500 Häftlinge entstanden. Innerhalb des Kollektivs der SA-Männer entstand bald der Anspruch, dass die Wachmänner auch persönlich von ihrem Einsatz für das Straf- und Siedlungsprojekt profitieren und einen ökonomischen wie auch sozialen Aufstieg erleben sollten. Durch den weiter anhaltenden Lagerausbau schien sich diese Vision zumindest für einen Teil der Wachmänner zu erfüllen. Werner Schäfer hatte seit seiner Einsetzung als Kommandeur versucht, die Wachmannschaften aus anderen Unterstellungsverhältnissen herauszulösen, was ihm bald auch gelungen war. Dadurch kam es zu einer Machtentfaltung der ›Moor-SA‹, die sich sowohl auf die Verhältnisse in den Lagern bezog, wo die SA-Männer die Lagerhaft gewaltsam überformten und damit eigene ›Erziehungsansprüche‹ umsetzen wollten, als auch nach außen wirksam wurde, indem die ›Moor-SA‹ ihre Ansprüche zur Modernisierung der Region offensiv vertrat und eine breit angelegte Repräsentations- und Freizeitkultur entwickelte. Die Justizverwaltung sah die auf seine Person zugeschnittenen Machtbestrebungen Schäfers kritisch, war gleichzeitig aber auf die äußere Repräsentation des Lagerprojekts durch die ›Moor-SA‹ angewiesen, da sich mit der SS in Esterwegen und dem Reichsarbeitsdienst im südlichen Emsland konkurrierende Organisationen in der Region befanden. Nachdem die SS das Lager Esterwegen aufgegeben hatte und sich das Lagerprojekt im Rahmen der Kultivierungsarbeiten gegen den RAD hatte durchsetzen können, versuchte die Justizverwaltung, den inzwischen unliebsamen Kommandeur zu entfernen, indem sie Anfang 1938 ein formelles Dienststrafverfahren gegen ihn einleitete. Dieses Verfahren gegen Schäfer ist in der bisherigen Geschichtsschreibung oftmals als Wendepunkt in der Geschichte der Emslandlager angesehen worden.

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156 1. »Gesetzgeber im Emsland bin ich ganz allein«.1 Werner Schäfer und die Justizverwaltung Nach ihrer Umwidmung avancierten die emsländischen Strafgefangenenlager bald zu einem Prestigeprojekt ihrer Trägerinstitutionen. Für die SA hatte die ›Moor-SA‹ nach dem ›Röhm-Putsch‹ eine besondere Bedeutung, da sie als einzige SA-Gruppierung noch staatliche Aufgaben größeren Umfangs wahrnahm. Aber auch für staatliche Stellen waren die Emslandlager von erheblicher Bedeutung, da sie wegen Himmlers Ernennung zum Inspekteur der preußischen Gestapo weitreichende Kompetenzen bei der Verfolgung politischer Gegner hatten abtreten müssen. Daher gab es ein übergeordnetes Interesse, hier einen Restbestand eigener Verfolgungsgewalt ohne Einfluss von SS und Gestapo zu behalten. Mit den Strafgefangenenlagern konnte die Justizverwaltung nun modellhaft verdeutlichen, wie die Verfolgung politischer und weltanschaulicher Gegner im Rahmen der regulären Strafrechtsprechung aussehen konnte. Gleichzeitig sollte die Lagerhaft als besonders harte Form des Strafvollzugs ein Sinnbild dafür sein, wie der NS-Staat mit Gefängnis- und Zuchthausgefangenen umzugehen gedachte. Damit griffen die verantwortlichen Stellen im Preußischen und später Reichsjustizministerium verschiedene Diskursstränge der ›langen Jahrhundertwende‹ auf, deuteten die Problemstellungen jedoch bald im eigenen Sinne neu.

Das ›Bild des Anderen‹ während der langen Jahrhundertwende Ein Wandel des Strafens hatte bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert eingesetzt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden neben einer modernen Rechtsordnung neuartige Gefängnisse, in denen die erstmals allein zuständige Strafjustiz versuchte, durch Disziplinierung und Kontrolle eine Besserung der Häftlinge zu bewirken. Die Delinquenten selbst, in christlicher Tradition als ›gefallene Menschen‹ betrachtet, blieben dabei noch weitgehend unbeachtet.2 Mit Beginn der ›klassischen Moderne‹ gerieten Straftäter jedoch schlagartig ins Blickfeld, als Cesare Lombroso 1876 in seinem Hauptwerk »L’uomo delinquente«3 die These eines ›geborenen Verbrechers‹ präsentierte, der Merkmale einer früheWerner Schäfer laut Aussage Max Schermer, 13. 3. 1946, in: KW III, S. 2488–2490, hier: 2490. Vgl. Thomas Nutz: Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775–1848, München 2001 sowie – aufgrund der zivilisatorischen Implikationen immer noch aktuell – Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976. 3 Das Buch erlebte bis zur Jahrhundertwende allein in Italien fünf Auflagen. Als deutsche Erstausgabe vgl. Cesare Lombroso: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, Hamburg 1887.

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157 ren Evolutionsstufe aufweise. Im Deutschen Reich lösten Lombrosos Thesen eine breite Debatte aus. Seine anthropologische Deutung wurde zwar mehrheitlich zurückgewiesen, der biologistische Erklärungsansatz hingegen nicht.4 Stattdessen vertraten die meisten deutschen Experten den medizinischen Ansatz der Degeneration: Devianz wurde als psychischer Defekt gedeutet, der sich nicht anhand physischer Merkmale festmachen ließ, sondern in der ›Minderwertigkeit‹ breiter Bevölkerungsteile als Disposition begründet lag: Alle diese Deformitäten an Verbrecherschädeln sind nur Zeugnisse von niedrigem Werth ihrer Organisation, welche wiederum in mehr oder minder hohem Grad dem Charakter der Degeneration der Volksschichten entspricht, aus denen die Verbrecher zum grössten Theile hervorgehen.5 Dabei war der Hintergrund der Juristen, Anthropologen, Mediziner und Psychologen, die sich an dieser Formierung der Kriminologie beteiligten, häufig ein liberaler. Aufgrund der angenommenen biologischen Disposition für kriminelle Handlungen sollte die Strafe nicht mehr pauschal der Vergeltung dienen, sondern der Person des Täters angemessen sein und ihn von künftigen Straftaten abhalten.6 Der Jurist Franz von Liszt fasste diese Forderung prägnant unter dem Schlagwort »Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungsfähigen« zusammen.7 Das Augenmerk der aufkommenden Kriminologie lag dabei eindeutig auf dem Erkennen von ›unverbesserlichen‹ Berufskriminellen, sprich einer Lokalisierung des Bösen.8 Dabei verfestigte sich die Vorstellung einer kriminellen Gegenwelt, die sich in der Unterschicht herausbilden würde: Bettler und Vagabonden, Prostituierte beiderlei Geschlechts und Alkoholisten, Gauner und Halbweltsmenschen im weitesten Sinne, geistig und körperlich Degenerierte – sie alle bilden das Heer der grundsätzlichen Gegner der Gesellschaftsordnung, als dessen Generalstab die Gewohnheitsverbrecher erscheinen.9 Zwischen vorgeblich und tatsächlich erklärbaren Ursachen von Devianz klaffte 4 5 6 7 8 9

Vgl. Richard Wetzell: Inventing the Criminal. A History of German Criminology, Chapel Hill /London 2000, S. 15–71. Abraham Adolf Baer: Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung, Leipzig 1893, S. 113. Vgl. Christian Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871–1933, Göttingen 2004, S. 125–169. Franz von Liszt: Der Zweckgedanke im Strafrecht [1882], in: Ders.: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Erster Band: 1875 bis 1891, Berlin 1905, S. 126–179, hier: 166. Vgl. Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002, S. 289–329. Liszt: Zweckgedanke, S. 167.

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158 zwar eine eklatante Lücke, doch das Versprechen einer doppelten Lokalisierbarkeit von Devianz – sowohl im medizinischen als auch im sozialen Kontext – stieß auf eine breite gesellschaftliche Resonanz. Durch Annahmen über eine Unterwelt und die Konstruktion eines anti-bürgerlichen ›Anderen‹ konnte sich die bürgerliche Gesellschaft ihrer selbst vergewissern. Neben Polizeiberichten und Gerichtsreportagen wurden Kriminalromane und Detektivgeschichten seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert als Bücher, Zeitungsbeilagen und Heftromane massenhaft verbreitet; Journalisten lieferten in zahllosen Reportagen bildreiche und klischeebeladene Beschreibungen nächtlicher Erkundungsgänge in die ›Unterwelt‹. Die Beschäftigung mit einer kriminellen Gegenwelt bot Anknüpfungspunkte sowohl für Sozialreformer als auch kulturpessimistische Großstadtkritiker.10 Nach dem Ersten Weltkrieg steigerte sich die öffentliche Aufmerksamkeit für Verbrechen zur regelrechten Obsession. Im Medium Film entstanden neue Möglichkeiten des Zeigbaren; in Berliner Kinos wurden in Filmpausen gar Fahndungsfotos gezeigt.11 Für besonderes Aufsehen sorgten die Taten sogenannter Lustmörder wie Fritz Haarmann oder Peter Kürten, bei denen die Verbindung aus ungezügeltem sexuellem Trieb und brutalem Mord einen gleichzeitigen Anlass für Faszination und Grauen bot. Durch die Bildprogramme, die diese Kriminalfälle begleiteten, erfuhren Thesen über pathologische Deformation oder degenerative Psyche der Täter ihre scheinbare selbstevidente Bestätigung.12 Angesichts derart brutaler Kriminalfälle und ihrer massenmedialen Aufbereitung wurde das liberale Programm einer angemessenen Bewertung individueller Schuld und Verantwortung zusehends durch Forderungen nach Kriminalprävention und dauerhaftem Schutz der Gesellschaft übertönt. Annahmen über die ›Minderwertigkeit‹ von Gesellschaftsschichten wurden vermehrt erbbiologisch konnotiert. Als ordnungspolitische Antwort wurden nun oftmals eugenische Maßnahmen gefordert.13 Gerade in konservativen Kreisen blieben zudem Vorstellungen des Vergeltungscharakters von Strafe weiter populär. So wurde gegen ›Berufsverbrecher‹ ein schnelles, hartes Vorgehen gefordert, auch wenn dies bedeutete, deren Rechte deutlich einzuschränken. Die ab 1933 von den neuen Machthabern ausgedrückten Vgl. Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840–1930, München 1991. 11 Vgl. Daniel Siemens: »Vom Leben getötet.« Die Gerichtsreportage in der liberaldemokratischen Presse im Berlin der 1920er Jahre, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 327– 354. 12 Vgl. Anne-Kathrin Kompisch: Wüstling – Werwolf – Teufel. Medienbilder von Serienmördern in der deutschen Massenpresse 1918–1945, Hamburg 2008, Online-Ressource unter ‹http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2009 /4297/›, letzter Abruf: 14. 5. 2018. 13 Vgl. Jürgen Simon: Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920–1945, Münster u. a. 2001. 10

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159 Ordnungsvorstellungen zur Verbrechensbekämpfung und zum Umgang mit Wiederholungstätern waren daher auch weit über die nationalsozialistische Kernklientel hinaus anschlussfähig.14

Strafvollzug in der Weimarer Republik In den Anfangsjahren der Weimarer Republik kam es zu einem sprunghaften Anstieg registrierter Eigentumsdelikte. Vor dem Hintergrund von Kriegsende und Hyperinflation stieg die Zahl der innerhalb eines Jahres verurteilten Straftäter (348.000 im Jahr 1919) auf mehr als das Doppelte (824.000 im Jahr 1923). Die Tatsache, dass viele Delinquenten erstmalig straffällig geworden waren und sich bei der Einlieferung der Häftlinge ihre wirtschaftliche Notlage anhand fehlender oder mangelhafter Kleidung zeigte, führte vermehrt zu Forderungen, derartige Ersttäter nach Verbüßung ihrer Haftstrafe wieder in die Gesellschaft zu integrieren.15 Für eine grundlegende Reform des Strafrechts auf Reichsebene legte der Sozialdemokrat Gustav Radbruch 1922 den »Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches« vor, in dem er die Ideen Franz von Liszts aufgriff. Trotz mehrfacher Überarbeitung wurde aber bis 1933 keine grundlegende Strafrechtsreform umgesetzt. Ein neues Jugendstrafrecht, das die Idee einer Resozialisierung berücksichtigte, wurde hingegen mit dem Jugendgerichtsgesetz von 1923 eingeführt.16 Im föderal geregelten Strafvollzug konnten Reformer ebenfalls Erfolge erzielen. Die Landesregierungen einigten sich 1923 auf gemeinsame »Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen«. Darin wurde etwa das Beschwerderecht der Gefangenen verankert, Verpflegung, Arbeitseinsatz, Unterricht und Disziplinarmaßnahmen geregelt, aber auch eine Sonderbehandlung für »geistig Minderwertige« empfohlen.17 Eine zentrale Neuerung war, dass mit der Einführung eines progressiven Stufensystems das Resozialisierungsprinzip als Richtlinie des Strafvollzugs festgeschrieben wurde:

Vgl. Thomas Roth: Verbrechensbekämpfung und soziale Ausgrenzung im nationalsozialistischen Köln. Kriminalpolizei, Strafjustiz und abweichendes Verhalten zwischen Machtübernahme und Kriegsende, Köln 2010 und Patrick Wagner: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996. Zeitgenössisch vgl. Robert Heindl: Der Berufsverbrecher. Ein Beitrag zur Strafrechtsreform, Berlin 1926. 15 Vgl. Nikolaus Wachsmann: Between Reform and Repression. Imprisonment in Weimar Germany, in: Richard Wetzell (Hg.): Crime and Criminal Justice in Modern Germany, Oxford / New York 2014, S. 115–136. 16 Vgl. Müller: Verbrechensbekämpfung, S. 180–223. 17 KW II, S. 2240. Vgl. auch ebd., S. 2213–2243. 14

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160 Der Vollzug in Stufen soll auf der Grundlage aufgebaut sein, daß der Strafvollzug je nach dem Fortschreiten der inneren Wandlung des Gefangenen seiner Strenge entkleidet und durch Vergünstigungen, die nach Art und Grad allmählich gesteigert werden, gemildert und schließlich so weit erleichtert wird, daß er den Übergang in die Freiheit vorbereitet.18 Da diese Grundsätze keine Gesetzeskraft hatten, gestaltete sich ihre Umsetzung in den einzelnen Ländern höchst unterschiedlich. Zumindest das Stufensystem wurde bis 1926 in sämtlichen Ländern eingeführt. Einzelne Länder hatten bereits zuvor Reformen initiiert, so beispielsweise Thüringen: Im eigentlich baufälligen Gefängnis Untermaßfeld entstand dort eine Modellanstalt des Reformstrafvollzugs: Die Anstaltsseelsorger wurden durch Sozialarbeiter ersetzt; anstelle religiöser Unterweisung sollten die Strafgefangenen nun auf ein Arbeitsleben nach ihrer Entlassung vorbereitet werden und erhielten unter anderem die Möglichkeit einer Berufsausbildung. Nach dem dreigliedrigen Stufensystem wurden den Gefangenen bei guter Führung sukzessive mehr Freiräume zugestanden, über die Teilnahme an Unterricht und Gemeinschaftsaktivitäten bis hin zu sonntäglichen Spaziergängen mit dem Anstaltsleiter ohne Aufsichtspersonal.19 Die Begrenztheit derartiger Reformprojekte wird daran deutlich, dass 1927 von reichsweit 58 Sozialarbeitern an deutschen Strafanstalten 55 in den reformorientierten Ländern Thüringen, Sachsen und Hamburg arbeiteten. In diesen waren aber nur zwölf Prozent der deutschen Strafgefangenen inhaftiert. Die überwiegende Mehrheit der Länder setzte weiter auf moralische und religiöse Unterweisung als Besserungsinstrument: hierzu waren im selben Jahr reichsweit 864 Gefängnisgeistliche und 150 Lehrer angestellt. Das Wachpersonal war überwiegend noch im Kaiserreich eingestellt worden und sah in strenger militärischer Ordnung ein Allheilmittel für den laufenden Gefängnisbetrieb. In den wenigen Haftanstalten mit Reformcharakter kam es daher unweigerlich zu Konflikten. Bereits 1923 boykottierte der Großteil der Aufseher in Untermaßfeld eine Informationsveranstaltung über die Neuausrichtung der Haftanstalt und belegte stattdessen einen Lehrgang in japanischer Kampfkunst. Auch die Gefängnisdirektoren standen den Reformversuchen größtenteils skeptisch gegenüber und betonten weiter Abschreckung und Vergeltung als Sinn der Strafe.20 Damit teilten sie die grundlegende Kritik, die die Gefängnisreform durch rechte

Ebd., S. 2231. Vgl. Uta Klein: Gefangenenpresse. Ihre Entstehung und Entwicklung in Deutschland, Bonn 1992, S. 108–116 sowie aus zeitgenössischer Perspektive Lothar Frede u. a. (Hg.): Gefängnisse in Thüringen. Berichte über die Reform des Strafvollzugs von thüringischen Strafanstaltsdirektoren und Fürsorgern, Weimar 1930. 20 Vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 33–36.

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161 Parteien und Presseorgane auch von außerhalb der Anstaltsmauern erhielt. Diese warfen den Vollzugsanstalten generell eine zu laxe und zuvorkommende Behandlung der Gefangenen vor. Die Kritik der Strafanstaltsbeamten beschränkte sich hingegen vorerst auf Einzelaspekte. Neben der Einschränkung von Disziplinarmaßnahmen wurde insbesondere das nun deutlich ausgebaute Beschwerderecht der Häftlinge angeprangert, auch wenn das monierte ›Beschwerdeunwesen‹ weitgehend Fiktion war.21 Weitaus stärkeren Anklang fand in diesen Kreisen hingegen die Idee einer Spezialprävention unter dem Schlagwort der ›Unschädlichmachung der Unverbesserlichen‹. Über deren Existenz war man sich in der Weimarer Gesellschaft weitgehend einig – nur vereinzelt merkten kritische Stimmen an, dass man ohne ernstgemeinte Versuche zur Besserung kaum von Unverbesserlichkeit sprechen könne. Die Sicherungsverwahrung, die weitläufig zum Schutz der Gesellschaft vor ›Berufsverbrechern‹ gefordert wurde, blieb aufgrund der ausbleibenden Strafrechtsreform noch Fiktion. Doch bereits mit den bestehenden Gesetzen konnten Gefangene zur ›korrektionellen Nachhaft‹ in Arbeitshäuser eingewiesen werden oder im Stufenvollzug schlicht auf der untersten Stufe, oft in Einzelhaft, belassen werden.22 Ab 1923 führte die bayerische Gefängnisverwaltung zudem als erste Justizbehörde kriminalbiologische Untersuchungen der Inhaftierten ein. Neben der Registrierung der sozialen Herkunft und der peniblen Vermessung physischer Attribute beinhalteten diese Untersuchungen auch eine soziale Prognose, nach der die Häftlinge als besserungsfähig oder unverbesserlich eingestuft wurden. Die Anstaltsärzte attestierten rund 36 Prozent aller Gefangenen Unverbesserlichkeit. Auch andere Länder – unter anderem Sachsen, Hamburg und Preußen – führten ähnliche kriminalbiologische Untersuchungen durch.23 Dass mit Sachsen und Hamburg zwei Länder diese Untersuchungen praktizierten, die progressive Ideen des Reformvollzugs umgesetzt hatten, verdeutlicht, dass die Frontlinie hier nicht allein zwischen einem traditionell-repressiven Strafvollzug und einer liberal-reformerischen Strömung verlief. Die Liszt’schen Ideen von Besserung und Unschädlichmachung waren Teil desselben Programms – nur dass letztere als repressive Maßnahmen für rechtskonservative Gefängnisbürokraten tendenziell anschlussfähiger waren als Vorschläge zur Lockerung der Haftstrukturen im Sinne einer Reintegrationsmaßnahme. Vgl. ebd., S. 37 f. Vgl. Müller: Verbrechensbekämpfung, S. 171–271. 23 Aussagekräftig sind diese Untersuchungen, wie Wachsmann ausführt, vor allem im Hinblick auf die Vorstellungen über ›Unverbesserlichkeit‹ und ›Degeneration‹ von Wiederholungstätern durch die Strafanstaltsbeamten: »Hinter der Fassade wissenschaftlicher Objektivität drückten die Untersuchungen vor allem die Vorurteile der Beamten aus und waren durch unbewiesene Unterstellungen, moralisierende Annahmen und die Reduzierung von abweichendem Verhalten auf biologische Faktoren geprägt« (Wachsmann: Gefangen, S. 42). 21 22

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162 Im Gefolge der kriminalbiologischen Untersuchungen wurden Stimmen aus unterschiedlichen politischen Lagern laut, die zur ›Unschädlichmachung der Unverbesserlichen‹ neben einer Sicherungsverwahrung nun auch eugenische Maßnahmen forderten. Bei rückfälligen Straftätern sollte als ›sozialhygienische Maßnahme‹ eine Sterilisation auch zwangsweise durchgeführt werden. In einzelnen Ländern gab es entsprechende Gesetzesinitiativen, die aufgrund des massiven Widerstands vor allem von liberalen Parteien und des Zentrums nie umgesetzt wurden.24 In der zweiten Krisenphase der Republik wurde die Kritik am Reformstrafvollzug zusehends stärker. Angesichts der grassierenden Arbeitslosigkeit in der Wirtschaftskrise erschienen die Vergünstigungen, die Häftlinge in Reformprojekten genossen, als ungerechtfertigter Luxus – zumindest wurden sie in schamlos übertriebenen Presseberichten als solcher dargestellt. Tatsächlich wurden Anfang der 1930er Jahre mehr Eigentumsdelikte beobachtet – verursacht durch die wirtschaftliche Notlage weiter Bevölkerungsteile. Die Zahl der Strafgefangenen war jedoch von 110.000 im Jahr 1924 auf rund 54.000 im Jahr 1928 gefallen. Bis 1932 stieg sie nur leicht auf 63.000 Gefangene an und das, obwohl die Gerichte nun verstärkt Gefängnisstrafen statt Geldbußen verhängten.25 Im zunehmend hysterischen öffentlichen Diskurs wurden diese nüchternen Zahlen aber praktisch nicht wahrgenommen. Die ansteigende Gewalt bei den Straßenkämpfen zwischen der SA und linken Gruppen führte zur Aushöhlung der rechtsstaatlichen Autorität und steigerte das Unsicherheitsempfinden in der Bevölkerung. Ironischerweise spielte diese Zunahme der politischen Gewalt gerade der Partei in die Hände, die sie zwar hauptsächlich verursacht hatte, als Vertreterin einer ›harten Linie‹ aber daraus politisches Kapital schlagen konnte – der NSDAP.26 Die Kritik an der vermeintlich zu liberalen Weimarer Justiz und den angeblich ›zuchtlosen‹, ja geradezu anarchischen Zustände im Erziehungsstrafvollzug gehörte nicht nur für Politiker und Publizisten der erstarkenden Rechten zum Allgemeingut. Derartige Einschätzungen stießen auch bei juristischen Berufsverbänden auf Zustimmung, die nun auf die Möglichkeit hofften, die ungeliebten Gefängnisreformen weitgehend rückgängig zu machen. Die sich ohnehin in der Defensive befindenden Gefängnisreformer waren durch Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung ihrer Pläne im Gefängnisalltag mehr und mehr desillusioniert. In dieser Gemengelage wurden in mehreren Ländern Gefängnisreformen rückgängig gemacht und die Haftbedingungen verschärft. So beschloss etwa die bayerische Justizverwaltung mit Beginn der 1930er Jahre, den Aufstieg im Stufensystem deut-

Vgl. Simon: Kriminalbiologie, S. 65–160 und Bernd Walter: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne, Paderborn 1996, S. 369–408. 25 Vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 44 f. 26 Vgl. Bernd Weisbrod: Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen, in: GWU 43 (1992), S. 391–404. 24

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163 lich zu erschweren, weshalb sich bald 80 Prozent der Gefangenen auf der untersten Stufe befanden. Gleichzeitig verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Häftlinge aufgrund von Budgetkürzungen für Strafanstalten und der massiv steigenden Gefangenenarbeitslosigkeit.27 Das reformerische Pilotprojekt in Thüringen fand noch zu Republikzeiten ein jähes Ende: Mit der Landtagswahl im Juli 1932 war die NSDAP dort an die Macht gekommen und ersetzte die führenden Gefängnisbeamten mit rechtsgerichteten Nachfolgern. Praktisch reichsweit setzte sich in der Wirtschaftskrise ein besonders rigider Umgang mit den Gefangenen durch, der sowohl von Verwaltungsbeamten als auch dem Wachpersonal überwiegend begrüßt wurde. Vom Liszt’schen Doppelansatz war in der Praxis nur eine Seite geblieben. Von der Existenz ›Unverbesserlicher‹ waren Gefängnispersonal und Fachpublikum mehr denn je überzeugt; mancher Gefängnisarzt ging davon aus, dass mindestens 50 Prozent der Gefangenen dazuzurechnen seien. Ein rechtlicher Rahmen für ihre ›Unschädlichmachung‹ entstand in der Weimarer Republik dennoch nicht. Nationalsozialistische Ordnungsvorstellungen, die neben einem allgemein härteren Umgang mit Strafgefangenen auch in dieser Hinsicht Abhilfe versprachen, hatten daher auch im Gefängniswesen ein hohes Anschlusspotential.28

Die Emslandlager als ›moderne‹ Haftanstalten Nach der Machtübernahme zeigte sich auch im Strafvollzug schnell die Janusköpfigkeit des NS-Systems, indem vorgebliche Modernität mit traditionell aufgeladenen, reaktionären Bezügen vermischt wurde. In seiner Rede zur Eröffnung des preußischen Landtags unterstrich Hermann Göring am 18. Mai 1933, dass das Verbüßen der Haft eine spürbare Härte bedeuten müsse: »Nur als Übel kann Strafe abschreckend und sichernd wirken und gleichzeitig durch Gewöhnung und Ordnung dort Erziehungsarbeit leisten, wo Besserung noch möglich ist.«29 Die Ausgestaltung der Strafe griff ein ganzes Arsenal an Vollzugspraktiken aus dem Kaiserreich wieder auf; die Neuerungen der Gefängnisreformbewegung wurden überwiegend zurückgenommen. Abgesehen davon, dass spätestens seit dem ›Gewohnheitsverbrechergesetz‹ vom 24. November 1933 ohnehin härtere Strafen verhängt wurden, sollten bei Zuchthausstrafen der entehrende Charakter wieder stärker betont und die Sanktionsmöglichkeiten ausgeweitet werden. Disziplin und Gehorsam waren nun die Maßgaben des Gefängnisalltags, der zunehmend militaVgl. Wachsmann: Gefangen, S. 47–51. Vgl. ebd., S. 44–55. 29 Hermann Göring: Der Geist des neuen Staates. Rede des Ministerpräsidenten Hermann Göring, gehalten am 18. Mai 1933 im Preußischen Landtag, Berlin 1933, S. 20. 27 28

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164 risiert wurde. Als oberstes Ziel der Strafe wurde der Schutz der ›Volksgemeinschaft‹ proklamiert, doch gegenüber dem Delinquenten wurde insbesondere der Vergeltungsgedanke betont.30 Gleichzeitig knüpften hohe Justizbeamte zumindest rhetorisch an den Modernediskurs an. Demnach lag das Ziel der Strafe auch in der ›Erziehung‹ der Gefangenen, die potentiell in die ›Volksgemeinschaft‹ reintegriert werden sollten. Als Mittel zur Erziehung wurden nun allerdings keine Aus- oder Fortbildungen durch geschulte Sozialarbeiter angesehen, sondern vorrangig ein körperlich harter Arbeitseinsatz. Rudolf Marx, der ab 1935 als Ministerialdirigent im RJM die Unterabteilung Strafvollzug leitete und damit direkt für die Strafgefangenenlager verantwortlich war, verdeutlichte im gleichen Jahr dieses fundamental gewandelte Strafvollzugsverständnis: Mit der Einführung der zwangsweisen Erziehung durch Arbeit und zur Arbeit ist dem ehemals toten Körper der Freiheitsstrafe erst eine Seele eingehaucht worden. […] Durch sie [die Gefangenenarbeit, D. R.] wird der in der Strafe liegende Sühnegedanke erst verwirklicht. Der Rechtsbrecher ist gezwungen, während Verbüßung seiner Strafzeit durch Hergabe seiner ganzen Arbeitskraft dem Volksganzen zu dienen. Nur regelmäßige körperliche Arbeit ist auf die Dauer auch geeignet, den Gefangenen vor geistigem und körperlichem Siechtum zu bewahren und ihm die seelische Spannkraft und körperliche Widerstandsfähigkeit zu erhalten.31 In dieser kruden Gemengelage waren Vergeltung und Sühne als Strafzweck auch gleichzeitig Erziehungsmittel; die ›Volksgemeinschaft‹ sollte vor Straftätern geschützt werden, diese aber – wenn sie sich durch ihre Arbeit für die ›Volksgemeinschaft‹ eingesetzt hatten – zumindest potentiell wieder als ›Volksgenossen‹ aufgenommen werden. Die Übernahme der Emslandlager durch die Justizbehörden war in diesem Verständnis nur folgerichtig. Als neuartige Haftstätten mit verschärften Haftbedingungen und Barackenunterbringung unterstrichen sie den nationalsozialistischen Anspruch nach einem Vergeltungscharakter der Strafe.32 Vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 73–77. Marx: Gefangenenarbeit, S. 364. 32 Neben der Ausgestaltung der Lagerhaft sind die klimatischen Bedingungen als Hafterschwernis hervorzuheben. Für die Wachmänner wurde schon 1934 angenommen, dass aufgrund der feucht-kalten Witterung »mit vorzeitigem Ausscheiden von Mannschaften infolge Erkrankung bei dem anstrengenden Dienst im Moorgebiet gerechnet werden muß« (Beamte etc.). Für die Gefangenen sah eine medizinische Dissertation aus dem Folgejahr die Lagerhaft in gesundheitlicher Hinsicht als weitgehend unbedenklich an. Vgl. Hans Pfeiffer: Über Lagerhygiene. Erfahrungen aus den Strafgefangenenlagern bei Papenburg, Börgermoor 1935. 30 31

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165 Außerdem versprach die Einrichtung der Strafgefangenenlager eine längerfristige Möglichkeit zum umfassenden Zwangsarbeitseinsatz der Häftlinge. In diesem Punkt gingen ideologische und wirtschaftlich-pragmatische Überlegungen Hand in Hand: Durch die Übernahme der Emslandlager konnte die massenhafte Arbeitslosigkeit unter den Gefängnisinsassen umgehend reduziert werden. In Preußen war die Zahl der unbeschäftigten Gefangenen zwischen 1929 und 1933 von 26 auf 67,3 Prozent gestiegen. Nachdem 1934 die ersten vier Strafgefangenenlager in Betrieb genommen worden waren, sank dieser Anteil bis zum Jahresende auf 60,4 Prozent.33 Die Ausweitung der strafrechtlichen Verfolgungspraxis im Nationalsozialismus hatte zudem Sachzwänge entstehen lassen, auf die die Justizbehörden reagieren mussten. Allein in Preußen war die Zahl der Gefängnisinsassen 1933 um 50 Prozent gestiegen; reichsweit waren es 1934 erstmals mehr als 100.000. So gelangten nicht nur die Belegungskapazitäten regulärer Haftanstalten bald an ihre Grenzen; auch die Kosten stiegen immens und sollten nun durch den Arbeitseinsatz der Gefangenen gesenkt werden.34 Die Strafgefangenenlager sollten in beiderlei Hinsicht Abhilfe schaffen, ohne sich dabei »dem Vorwurf einer Konkurrenz des freien Handwerks oder Gewerbes auszusetzen.«35 Dieser Punkt war für die Legitimierung des Arbeitseinsatzes von entscheidender Bedeutung, da die Wirtschaftskrise immer noch spürbar war. In der »Verordnung für den Vollzug von Freiheitsstrafen« vom 17. Mai 1934, nach der die verschärften Grundsätze von 1923 nun als »reichsrechtliche Grundlage des Vollzugs«36 galten, hieß es: »Auf das Privatgewerbe und die freie Arbeit ist billige Rücksicht zu nehmen. Die freie Arbeit soll nicht unterboten werden.«37 Auch wenn Rudolf Marx meinte, »die Rücksichtnahme auf die freie Arbeit hat bereits ein Ausmaß angenommen […], das für den Strafvollzug nicht mehr tragbar ist« und dass von »einer Konkurrenz im allgemeinen […] überhaupt nicht gesprochen werden« könne,38 betonte er umgehend, dass die Gefangenenarbeit vor allem in solchen Bereichen erweitert werden solle, in denen sich privatwirtschaftlich kaum Gewinn erzielen lasse. Dafür müsse man »die vermehrte Heranziehung von Gefangenen zu Kulturarbeiten ins Auge fassen«.39 Dies kam wiederum dem ideologischen Anspruch entgegen, die sühnende Arbeit der Gefangenen solle dem ›Volksganzen‹ dienen. Die verschärften Bedingungen der Lagerhaft und das Siedlungsprojekt griffen also ineinander und waren gleichermaßen Teil der völkischen Modernisierungs-

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Vgl. Marx: Gefangenenarbeit, S. 367. Vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 59 und Suhr: Emslandlager, S. 189 f. Marx: Kultivierung, S. 733. Verordnungen über den Vollzug von Freiheitsstrafen (1934), in: KW II, S. 2243. Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen (1923), § 66, in: ebd., S. 2223. Marx: Gefangenenarbeit, S. 368. Ebd., S. 369.

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166 politik im Emsland. Die Einbindung der Strafgefangenen in das Siedlungsprojekt verdeutlichte nochmals den ›Sühnecharakter‹ der Strafe, da die Häftlingsarbeit einem volksgemeinschaftlich konnotierten Aufbauprojekt zugute kam. Die Repressionsmaßnahmen gegen verschiedene missliebige Delinquentengruppen – ›Berufs- und Gewohnheitsverbrecher‹, Kommunisten oder Homosexuelle – versprachen ebenso wie die ›innere Kolonisation‹, eine – freilich nur rudimentär ausgestaltete  – Gemeinschaftsutopie zu verwirklichen. Daher bezeichnete 1936 auch Marx’ Vorgesetzter, der spätere Präsident des Volksgerichtshofs und damalige Staatssekretär Roland Freisler, die Strafgefangenenlager als »den modernsten Teil des Strafvollzuges.«40 Durch die Ausweitung der strafrechtlichen Verfolgungspraxis stieg die Zahl der Strafgefangenen weiter. Der Höchststand der Vorkriegszeit wurde am 28. Februar 1937 mit 122.305 erreicht. Eine erneute Erweiterung des Lagerkomplexes im Emsland war daher ein naheliegendes Mittel, um die überfüllten Gefängnisse zu entlasten.41 Bereits im Spätsommer 1936 hatte die SS das Lager Esterwegen aufgegeben und die verbliebenen Häftlinge zum Aufbau des neuen KZ Sachsenhausen abtransportiert. Die IKL versuchte zwar zunächst, das Lager dem Reichsarbeitsdienst zu verkaufen, zum Jahresende 1936 konnte aber das RJM seine Ansprüche auf das Lager durchsetzen. Ab dem 7. Januar 1937 wurde Esterwegen als Lager VII für 2.000 weitere Strafgefangene geführt.42 Gleichzeitig forderten die Osnabrücker Bezirksregierung und die Reichsstelle für Raumordnung einen deutlich größeren Arbeitseinsatz, da ihnen die Moorkultivierung zu langsam voranschritt. Bis Ende April 1937 wurde daher die Kapazität der bisherigen sechs Lager um jeweils 500 Häftlinge erhöht. Insgesamt waren die Lager nun für 10.500 Strafgefangene vorgesehen. In diesem Rahmen erfolgte auch die erneute Erweiterung der SA-Wachmannschaften auf nun 1.500 Mann, wodurch sich die soziale Zusammensetzung der ›Moor-SA‹ deutlich verändern sollte.43

Strafvollzug im Doppelstaat Bereits im März 1933 hatte Hitler in seiner Regierungserklärung zum Ermächtigungsgesetz deutlich gemacht, dass die Rechte einzelner Personen nun hinter einem – von ihm selbst zu definierenden – Gemeinwohl zurückzustehen hätten: »Unser Rechtswesen muß in erster Linie der Erhaltung dieser Volksgemeinschaft dienen. […] Nicht das Individuum kann Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge sein, Arbeitstagung der Generalstaatsanwälte am 14. 11. 1936, in: BA Berlin R 3001 Nr. 1263. Vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 59 f. und Knoch: Willkür, S. 40. 42 Vgl. KW I, S. 584, 608 u. 622–625. 43 Vgl. ebd., S. 582–652. 40 41

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167 sondern das Volk.« Dafür verlangte er »eine Elastizität der Urteilsfindung zum Wohl der Gesellschaft« und damit die Abkehr von allgemeingültigen, normierten Rechtsstandards.44 Da staatliches, politisches Handeln in der Folge von Machtantritt, Reichstagsbrandverordnung und Ermächtigungsgesetz keinen Normen mehr unterlag, sondern sich allein an Maßnahmen orientierte, bezeichnete Ernst Fraenkel in seiner vielzitierten Studie diesen Teil des NS-Staats als ›Maßnahmenstaat‹, der von dem Verwaltungshandeln des weiterbestehenden ›Normenstaats‹ abzugrenzen sei. Gerade im Bereich des Strafrechts zeigte sich, wie weit jedoch der ›politische Sektor‹ des Maßnahmenstaats in scheinbar weiterhin normierte Bereiche vorzudringen vermochte und gleichzeitig, wie Fraenkel es formulierte, eine »innere Anpassung des Normenstaates an den Maßnahmenstaat« stattfand.45 Ebenfalls in seiner Rede vom 23. März 1933 forderte Hitler: »Landes- und Volksverrat sollen künftig mit aller Rücksichtslosigkeit ausgetilgt werden.«46 In der Folge wurden nicht nur politische Gegner einer Terrorwelle bis dahin unbekannten Ausmaßes durch Schutzhaft in den frühen Lagern ausgesetzt und das spätere, zentralisierte Verfolgungssystem aus Gestapo und den Konzentrationslagern der SS geschaffen. Vielmehr wurde auch die reguläre Strafrechtsprechung als Verfolgungsinstrument gegen politische und weltanschauliche Gegner eingesetzt. Nach derartigen Gesichtspunkten Verurteilte wurden ebenso wie ›kriminelle‹ Häftlinge47 in den emsländischen Strafgefangenenlagern verschärften Haftbedingungen ausgesetzt. Etwa 20 Prozent der Häftlinge der Emslandlager waren nach schärfer ausgelegten oder gänzlich neu geschaffenen Straftatbeständen wie Vorbereitung zum Hochverrat, »Heimtücke«, Homosexualität oder »Rassenschande« verurteilt worden.48 Somit waren »Gerichte und Vollzugsanstalten […] zu zentralen Instru-

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Rede Adolf Hitlers vor dem Reichstag, 23. 3. 1933, in: Verhandlungen des Reichstags. VIII. Wahlperiode 1933, Bd. 457, Berlin 1934, S. 25–32, hier: 28. Ähnlich forderte Hans Frank: »alles, was dem Volk nützt, ist Recht; alles, was ihm schadet, ist Unrecht« (Hans Frank: Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, München 1934, S. XVI). Vgl. Fraenkel: Doppelstaat, S. 100. Fraenkel sah angesichts der unbeschränkten Entscheidungskompetenz des ›Maßnahmenstaats‹ »bei den Organen des Normenstaates zunehmend die Tendenz […] diesem Beispiel zu folgen und den Umfang ihres freien Ermessens so weit auszudehnen, daß sich mehr und mehr die Grenzlinie zwischen Entscheidungs- und Ermessensfreiheit verwischte« (ebd.). Rede Adolf Hitlers vor dem Reichstag, 23. 3. 1933, in: Verhandlungen des Reichstags, S. 28. Die Kategorisierung von Häftlingen als ›kriminell‹ ist unter anderem deshalb schwierig, weil politisch-weltanschauliche Motive – beispielsweise über Sondergerichte oder das »Volksschädlingsgesetz« – Einzug in die Strafrechtsprechung hielten. Vgl. KW II, S. 1265; zum breiteren Kontext Dagmar Lieske: Unbequeme Opfer? »Berufsverbrecher« als Häftlinge im KZ Sachsenhausen, Berlin 2016. Vgl. KW II, S. 1773–1900.

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168 menten der nationalsozialistischen Repression geworden, und das wäre ohne die Mitarbeit der Justizbeamten nicht möglich gewesen.«49 Durch die Nutzung der Emslandlager als neuartige Vollzugsanstalten hatten staatliche Stellen einen Restbestand politischer und weltanschaulicher Verfolgungshoheit gegenüber der SS und der Gestapo behaupten können. Mit dem vorgeblich ›modernen‹ Strafvollzug in diesen Lagern konnten die Justizbehörden modellhaft verdeutlichen, wie die Repression ›Gemeinschaftsfremder‹ im Rahmen der regulären Strafrechtsprechung ausgestaltet werden konnte. Mit dem Anspruch einer ›volksgemeinschaftlichen Generalprävention‹ drängten die Justizbehörden daher »in den exekutiven Bereich der weltanschaulichen Neuordnung hinein.«50 In der Belegung der Lager spiegelte sich dies wider, indem vor allem politische Gefangene und solche mit hohen Haftstrafen – vor allem Zuchthausgefangene – in das Emsland verbracht wurden. Auch in den Folgejahren versuchte das Justizministerium mehrfach, weltanschauliche Verfolgungskompetenzen zurückzuerlangen und bestehende Verfolgungsbefugnisse auszuweiten.51 Daher war auch nach dem Übergang der Verantwortlichkeit für die Lager vom Preußischen Justizministerium zum RJM Ende 1934 die Beibehaltung dieser Lager zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt worden. Hanns Kerrl hatte sich ähnlich wie Hans Frank Hoffnungen gemacht, den Posten des Reichsjustizministers übernehmen zu können, den jedoch auch nach der Gleichschaltung der Länder der nationalkonservative Franz Gürtner behielt. Kerrl, Hauptinitiator und -fürsprecher der Strafgefangenenlager, war nun nicht mehr direkt für diese zuständig, auch wenn er durch seine raumplanerische Tätigkeit mit dem Siedlungsprojekt verbunden blieb. Die hochrangigen Justizbeamten, die mit dem Lagerkomplex betraut waren, wurden dafür ins RJM übernommen und konnten ihre Zuständigkeitsbereiche zum Teil sogar erweitern: Roland Freisler, der im Juni 1933 Staatssekretär im preußischen Justizministerium geworden war, behielt diese Funktion im RJM und war unter anderem für das Gefängniswesen zuständig. Der fanatische Nationalsozialist Freisler, Parteimitglied seit 1925, befasste sich selbst kaum mit dem Justizvollzug, machte jedoch mehrmals deutlich, dass die Vollzugsanstalten ein Mittel zur Abschreckung sein sollten. Im September 1932, kurz nachdem ein entsprechendes Verbot für preußische Justizbeamte aufgehoben worden war, trat auch Wilhelm Crohne in die NSDAP ein. Crohne wurde 1933 preußischer Ministerialdirektor; im Reichsjustizministerium stand er ab 1935 der Abteilung für Strafrechtspflege und Strafvollzug vor. Rudolf Marx, der unter Crohne die Unterabteilung Strafvollzug leitete, hatte hingegen keine entsprechende Parteibiographie. Marx, Jahrgang 1880, war als ehemaliger Strafanstaltsdirektor bereits 1929 ins damals noch sozialdemoWachsmann: Gefangen, S. 60. Knoch: Emslandlager, S. 543. 51 Vgl. Knoch: Willkür, S. 43 f. und Gruchmann: Justiz, S. 320–432 u. 535–745.

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169 kratische Preußische Justizministerium berufen worden. 1934 trat er der SA bei, wurde jedoch nie NSDAP-Mitglied. Mit seinem Wechsel zum Reichsjustizministerium stieg er vom Ministerialrat zum -dirigenten auf. Er selbst bezeichnete sich nach 1945 als reinen ›Fachmann‹.52 Derartige Schutzbehauptungen unterstellen eine vermeintliche Neutralität des Verwaltungshandelns der zuständigen Behörden und unterschlagen dabei das Eigeninteresse, das die Justizbeamten an einem verschärften Justizvollzug und den Emslandlagern als Vorzeigeprojekt hatten.53 Die bereits aufgezeigten Vorstellungen, die Marx zur Ausgestaltung des Strafvollzugs und der Gefangenenarbeit äußerte, stehen in einer ganzen Reihe von Aussagen durch Vertreter des Justizministeriums, die in ihrer ideologischen Aufladung die Entlastungsnarrative konterkarieren.54 Die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Institutionen und der SA als Parteiinstanz gestaltete sich zwar wiederholt reibungsvoll, war aber durchweg vom Zusammenkommen ähnlicher Interessen geprägt. Vor und nach dem Übergang der Lagerzuständigkeit auf das RJM erwogen die zuständigen Ministeriumsmitarbeiter nie ernsthaft eine Ablösung der ›Moor-SA‹. Stattdessen erwähnten sie deren ›Leistungen‹ auch in den entsprechenden Fachaufsätzen.55 Dass die Strafgefangenenlager ein »ausgeprägtes Eigenleben als Straf- und Siedlungsprojekt«56 entfalten konnten, liegt auch darin begründet, dass sie sowohl für die SA als auch für die Justizbehörden einen starken Prestigecharakter hatten. Die Wachmannschaften waren nicht nur die einzige SA-Einheit, die nach dem ›Röhm-Putsch‹ noch in größerem Umfang staatliche Aufgaben wahrnahm. Bis zur Gründung der »Wachstandarte Stabschef« im Oktober 1935, aus der später die Standarte »Feldherrnhalle« hervorgehen sollte, bildeten sie auch die einzige kasernierte SA-Einheit.57 52

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Vgl. zur Personalpolitik im Zuge der Gleichschaltung ebd., S. 84–123 und Wachsmann: Gefangen, S. 60–73. Auch der zuständige Ministerialbeamte Hecker war wie Rudolf Marx seit den Übergabeverhandlungen mit den Strafgefangenenlagern befasst. Vgl. BA Berlin ZM 1682 A 6. Auch in der Forschungsliteratur ist die Sicht einer ideologisch unbelasteten Justizverwaltung aufgegriffen worden. So verstehen Kosthorst / Walter die durchaus vorhandenen Kontrollansprüche der Justizbehörden als Bemühen, die Haftzustände in den Strafgefangenenlagern zu bessern. Vgl. KW I, S. 527–548. Nur beispielhaft sei hier auf Rudolf Marx’ Stellvertreter, Edgar Schmidt, verwiesen, der bereits 1933 ausführte: »Nicht die Einzelpersönlichkeit steht im Mittelpunkt des Denkens, sondern das Volk, die Nation. […] Aus dieser Anschauung heraus ist der neue preußische Strafvollzug geboren. Er will wieder eine wirksame Waffe werden im Kampf gegen die Schädlinge der Gemeinschaft […] Strafe muß Strafe sein. Zum Begriff der Strafe gehört das Strafübel« (Edgar Schmidt: Preußens neuer Strafvollzug, in: Deutsche Juristen-Zeitung 38 (1933), S. 1076–1082, hier: 1079). Vgl. etwa Marx: Gefangenenarbeit, S. 371. Knoch: Emslandlager, S. 542. Vgl. KW III, S. 2631 f., zur Standarte »Feldherrnhalle« vgl. Siemens: Stormtroopers, S. 249–257.

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170 Für die Justizbehörden waren die Emslandlager ein Laboratorium zur Ausgestaltung des neuen Strafverständnisses und wiesen als solches einen erheblichen Vorzeigewert auf. So kam es regelmäßig zu Besichtigungsfahrten höherer SA-Führer und Justizbeamter ins Emsland.58 Im August 1935 fand in Berlin der XI. Internationale Strafrechts- und Gefängniskongress statt. Vor 700 Teilnehmern aus 50 Ländern hielten NS-Größen wie Joseph Goebbels, Franz Gürtner und Hans Frank Vorträge über das neue Rechtsverständnis im Dritten Reich.59 Während dieser Konferenz wurden die Teilnehmenden zu einer Besichtigung der Strafgefangenenlager eingeladen, woraufhin eine Expertengruppe sämtliche Lagerstandorte mit Ausnahme Neusustrums besichtigte.60 Freisler, der gemeinsam mit Marx diese Studienreise begleitete, hielt vor Ort »eine Ansprache, in der er die Verdienste der alten SA-Männer herausstellte, die in die Einsamkeit gegangen seien, um in Treue zum Führer, Volk und Vaterland ihre Pflicht zu erfüllen.«61 Den internationalen Gästen gegenüber konnten die SA-Wachmannschaften die Lager als geordnete Musteranstalten präsentieren. Ein Schweizer Teilnehmer berichtete anschließend durchweg positiv über diese Fahrt und hob die ›Moor-SA‹ lobend hervor: Das Personal der Lager besteht aus jungen, aufgeweckten Leuten, die durchwegs einen sympathischen Eindruck machen. Ihre Arbeit und ihr Leben in dieser vom Verkehr abgelegenen, in ihrer unendlichen Flachheit leicht melancholisch wirkenden Gegend verlangt um so mehr Begeisterung, als damit meistens auch für längere Zeit eine Trennung von der Familie verbunden ist. […] Was im Emsmoor im Zeitraum von wenigen Jahren an aufbauender Arbeit geleistet worden ist, ist großartig und staunenswert.62 Der Modellcharakter der Strafgefangenenlager wurde auch dadurch unterstrichen, dass Gefängnispersonal regulärer Vollzugsanstalten regelmäßig zur ›informatori-

Vgl. hierzu Kap. III.4 dieser Arbeit. Vgl. Franz Gürtner: Der Gedanke der Gerechtigkeit in der deutschen Strafrechtserneuerung. Vortrag auf dem 11. Internationalen Strafrechts- und Gefängniskongreß in Berlin, Berlin 1935; Hans Frank: Zwischenstaatliche Strafrechtspolitik. Vortrag gehalten in der Festsitzung der Akademie für Deutsches Recht anläßlich des XI. Internationalen Strafrechts- und Gefängniskongresses in Berlin am 21. August 1935, Berlin 1935; Roland Freisler: Der Wandel der politischen Grundanschauungen in Deutschland und sein Einfluß auf die Erneuerung von Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug. Vortrag auf dem 11. Internationalen Strafrechts- und Gefängniskongreß in Berlin, Berlin 1935. 60 Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 55–60. 61 EZ, 5. 9. 1935. 62 Otto Kellerhals: Die Kongress-Studienreise, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 39 (1935), S. 442–463, hier: 461 f. 58 59

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171 schen Beschäftigung‹ ins Emsland abgeordnet wurde.63 Dies karikierte die Professionalisierungsbestrebungen, die die Gefängnisreformbewegung zum erzieherischen Umgang mit Häftlingen verfolgt hatte, da die nur rudimentär und vor allem paramilitärisch ausgebildeten SA-Wachmannschaften damit zum Musterbeispiel der Gefangenenbewachung erhoben wurden. Anfang 1938 strebten Generalstaatsanwälte und Kommandeur Schäfer gar an, reichsweit sämtliches Bewachungspersonal für kürzere Zeit ins Emsland abzuordnen.64 Bei allem Vorzeigewert, den die Lager als Modellprojekt hatten, blieb das Interesse der Justizverwaltung an der Ausgestaltung von Abläufen und Haftbedingungen begrenzt, was sicher auch daran lag, dass die zuständigen Ministerialbeamten keinerlei Erfahrung mit dem weitgehend unerprobten Lagervollzug hatten.65 Für die Wachmannschaften wurden die vagen Bestimmungen, die Hermann Göring im Dezember 1933 für die Wachtruppe erlassen hatte, nahezu vollständig übernommen. Das Justizministerium erließ zunächst weder eine eigene Disziplinaroder Lagerordnung noch Vorschriften zum Dienstalltag. Als Ende 1934 die Gleichschaltung von Preußischem und Reichsjustizministerium anstand, stellte der mit der Angelegenheit betraute Ministerialbeamte, Staatsanwalt Hecker, fest, dass in den beinahe neun Monaten der eigenen Zuständigkeit die Frage der Alters- und Invalidenversicherung der Wachmänner ungeklärt geblieben war. Aufgrund bekanntwerdender Fälle von Gefangenenmisshandlung hatte sich ein weiteres Problem gezeigt: »Schließlich ist die Dienststrafgewalt noch nicht abschließend geregelt. Außer fristloser Entlassung sind z.Zt. nur Diensterschwerungen (Strafwachen, Sonntagsdienst, Urlaubsentzug) möglich.«66 Heckers Vorgesetzte erachteten hingegen die allgemeinen Dienstvorschriften für den Strafvollzug auch für die Emslandlager als ausreichend.67 In Ergänzung dazu konnte Werner Schäfer Kommandanturbefehle erlassen, um auf die spezifische Situation des Lagervollzugs reagieren zu können. Das Justizministerium musste ih63

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Ein durchaus kritischer Vortrag über eine derartige Abordnung durch einen Regierungsrat des Strafgefängnisses Bernau findet sich in: Arbeitsverwaltung für die Vollzugsanstalten. Sammelberichte, BA Berlin, R 3001 Nr. 9867. Vgl. Knoch: Kampf, S. 59 f. Im Gegenteil sollten die Emslandlager dazu dienen, Fachkenntnisse über Aspekte der Lagerhaft zu entwickeln. Vgl. Pfeiffer: Lagerhygiene. Erst gegen Ende der 1930er Jahre entstanden weitere Strafgefangenenlager der Justiz an anderen Orten, die von eigenen Publikationen begleitet wurden. Vgl. Hans Semler: Strafvollzug in festen Anstalten und in Lagern, in: Blätter für Gefängniskunde 70 (1939 /40), S. 3–14 und Ollmann: Der Einsatz der Strafgefangenen beim Bau der Ostmarkstraße, in: Blätter für Gefängniskunde 72 (1941 /42), S. 53–61. Bericht Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: Beamte etc. Das Repertoire an Disziplinarmaßnahmen gegen Wachmänner wurde im Laufe der Zeit allerdings erweitert. Während des Zweiten Weltkriegs waren beispielsweise auch Verweise, Geldbußen und Versetzungen innerhalb der Lager möglich. Vgl. KW III, S. 2503 f.

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172 nen zwar noch zustimmen, jedoch war Schäfer zugesichert worden, er solle »nicht bürokratisch eingeengt werden.« Als eigentlich für den Maßnahmenstaat typische, deutungsoffene Regelung sollte der Vollzug in den Lagern »zwar unter grundsätzlicher Innehaltung gegebener Bestimmungen, aber doch weitherzig gehandhabt werden.« Allgemeine Vorschriften sollten zwar ihre Gültigkeit behalten, aber das Ministerium erklärte sich bereit, »bei Abweichungen großzügig« zu sein.68 Zur Unterbindung der Gewalt von Wachmännern gegen Häftlinge wurden also weder externe noch interne Kontrollinstanzen und -mechanismen geschaffen. Stattdessen gab im Fall der ›Moor-SA‹ der Normenstaat Kompetenzen im eigenen Verfügungsbereich an eine Institution des Maßnahmenstaats ab. Als Laboratorium für Gewalt- und Erziehungsformen blieben die Strafgefangenenlager letztlich den SAWachmannschaften überlassen, die bald die Schnittstelle zwischen Siedlungsprojekt und Strafvollzug zu besetzen wussten. Neben den SA-Männern arbeiteten einzelne zivile Verwaltungsangestellte und Sachbearbeiter in den Lagern und der Kommandantur; einen für deren Aufgabenbereiche zuständigen Staatsanwaltschaftsrat entsandte das Ministerium aber erst 1936.69 Die Etablierung paralleler Dienstwege für die Lagerverwaltung unterblieb jedoch weiterhin, und auch für diesen Teil der Belegschaft war Kommandeur Schäfer der dienstliche Vorgesetzte. Zudem waren die Strafgefangenenlager nicht wie andere Vollzugsanstalten in die Gerichtsbezirke integriert, sondern dem Justizministerium unmittelbar unterstellt. Somit befand sich Rudolf Marx als direkter Vorgesetzter des Kommandeurs 400 Kilometer entfernt in der Reichshauptstadt, und jeglicher Schriftverkehr zwischen Lagerkomplex und Ministerium lief zwangsläufig über Schäfer.70 Vor Ort gab es also keine Instanz, die Schäfers Machtstreben hätte eindämmen können.

Die Doppelstruktur der ›Moor-SA‹ Nach seiner Einsetzung als Kommandeur begann Werner Schäfer umgehend, seine eigene Machtposition auszubauen und das Lagerprojekt nach seinen eigenen Vorstellungen umzugestalten. Durch Kommandanturbefehle führte er eine ganze Reihe von disziplinarischen Maßnahmen gegen Häftlinge ein, die an die Vergeltungspraktiken in Oranienburg und den emsländischen Konzentrationslagern an-

Sämtliche Zitate: Urteil Schäfer 1938. Vgl. ebd. 70 Diese Regelung ging auf die Anwerbung Schäfers durch Kerrl, Crohne und Marx zurück. Schäfer hatte die direkte Unterstellung unter das Ministerium vorgeschlagen, da er mit Kerrl »unmittelbar Fühlung behalten« wollte und »eine Unterstellung unter einen Generalstaatsanwalt nicht für zweckmäßig« hielt (Urteil Schäfer 1950, S. 2659). 68 69

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173 gelehnt waren. Strafkompanien und das Strafexerzieren – unter Häftlingen auch als ›Lagersport‹ gefürchtet – bildeten Kollektivstrafen, die auch in den modifizierten »Grundsätzen für den Vollzug von Freiheitsstrafen« so nicht vorgesehen waren.71 Zusätzlich bestand oft eine besonders gesicherte Gefangenenabteilung ›unter Aufsicht‹. Im Schwurgerichtsverfahren gegen Schäfer von 1950 wurde befunden, dass diese sogenannte ›U. A.-Kolonne‹ »ursprünglich nur als Sicherung, nicht als Strafe gedacht war, in ihrer praktischen Handhabung jedoch vielfach diesen Charakter annahm.«72 Das RJM unterstrich mit der Zustimmung zu diesen Kommandanturbefehlen den neuartigen Haftcharakter der Emslandlager. Die Regelungen zur Ausgestaltung der Disziplinarmaßnahmen und darüber, wer sie verhängen durfte, waren bewusst unübersichtlich gestaltet und in der Praxis ohnehin kaum zu überprüfen, sodass ein »Einfallstor für Misshandlungen und Schikanen« entstand.73 Tatsächlich ähnelten die Haftbedingungen in der Folge denen in frühen Konzentrationslagern.74 Aus der direkten Unterstellung unter das Ministerium resultierte ohnehin eine überaus nachlässige Kontrollpraxis. Lediglich in den Anfangsmonaten der Strafgefangenenlager erfolgte eine monatliche Kassenprüfung durch einen Justizverwaltungsrat vom Oberlandesgericht Celle.75 Später fanden in unregelmäßigen Abständen Revisionen durch die Ministerialbeamten selbst statt, die zu diesem Zweck und zur Besprechung weiterer dienstlicher Angelegenheiten nach Papenburg kamen. In den dazwischenliegenden Zeiträumen wurde der sonst übliche schriftliche Dienstweg überwiegend durch fernmündliche Absprachen ersetzt.76 Vor Ort versuchte Schäfer den Einfluss der Verwaltungsbeamten möglichst klein zu halten. Er betonte deren Unterstellung unter die Lagerleiter und hielt sie an, sich nur über diese an die Kommandantur zu wenden. Im März 1935 versuchte Schäfer die anstehende Beförderung eines Strafanstaltssekretärs im Lager Oberlangen zu verhindern, weil der Beamte mehrfach ein Mitspracherecht für den Arbeitseinsatz von Häftlingen im Lager gefordert hatte. Schäfer räumte zwar ein, dass »hinsichtlich der […] büromäßigen Arbeiten Klagen nicht zu erheben waren.«77 Anschließend machte er aber deutlich, wo sein Hauptaugenmerk für das gesamte Lagerpersonal lag: 71 72 73

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Vgl. Knoch: Willkür, S. 40. Urteil Schäfer 1950, S. 2669. Erich Kosthorst / Bernd Walter (Hg.): Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933–1945. Zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz. Darstellung und Dokumentation, Düsseldorf 1985, S. 317. Vgl. Knoch: Emslandlager, S. 542. Vgl. Beamte etc. Vgl. Urteil Schäfer 1938. Daraus resultiert auch eine höchst lückenhafte Überlieferung der Verwaltungsvorgänge in den Akten. KmSGL, 9. 3. 1935, in: Strafvollzugsamt Hamm 1921–1940, BA Berlin R 3001 Nr. 10025.

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174 Vorbedingung für ein gedeihliches Arbeiten in den Strafgefangenenlagern ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl und Kameradschaftsgeist aller im Lager Beschäftigten. Sekretär P. hielt sich von allen Zusammenkünften fern, war scheu und zurückhaltend; er störte hierdurch als sogen. Aussenseiter den Betrieb erheblich.78 Die Beförderung konnte Schäfer letztlich nicht verhindern, machte aber deutlich, dass er auch gegen Verwaltungsangestellte der Lager vorging, wenn diese die Machtstellung der SA-Wachmannschaften in Frage stellten. Mochte Schäfers Begründung seiner Einwände auch vorgeschoben sein, verdeutlichte sie aber seine Vorstellung des Lagerpersonals als einer hierarchisch gegliederten Einheit, in der Gehorsam und Unterordnung unter ein Kameradschaftsideal weitaus stärker gefragt waren als dienstliche Kompetenz. Das Justizministerium ordnete in der Folge zum Teil deutlich jüngere Beamte, die selbst der SA angehörten, zu den Emslandlagern ab.79 Schäfers Bestrebungen zur Organisation des Lagerpersonals, die letztlich seine eigene Machtstellung festigen sollten, bezogen sich aber vorrangig auf die SA-Wachmannschaften selbst. Diese befanden sich in einer »Zwitterstellung«80 aus Anstellung im Justizdienst und SA-Zugehörigkeit und verkörperten sinnbildlich beide Seiten des ›Doppelstaats‹ in Personalunion. Zunächst unterstanden die einzelnen SA-Männer jedoch weiterhin ihren heimatlichen SA-Verbänden. Bereits wenige Tage nach seinem Dienstantritt, am 11. April 1934, wandte sich Schäfer direkt an den Preußischen Justizminister und empfahl, die Wachmannschaften unter seiner Führung in der SA-Hierarchie als Justizstandarte wahlweise Hanns Kerrl selbst oder der Obersten SA-Führung zu unterstellen, womit Stabschef Ernst Röhm Schäfers direkter SA-Vorgesetzter geworden wäre.81 Als Grund gab Schäfer an, dass örtliche SA-Führer – vor allem Walter Engel für die Cloppenburger SA-Standarte 229, in dessen Dienstbereich sich die Lager befanden – außerhalb des Dienstes Zugriff auf die SA-Männer hätten. Er wolle aber selbst die Freizeit »zur weiteren Fortbildung der Männer ausnutzen.«82 Wenige Monate später  – inzwischen war das RJM für die Lager zuständig  – nahm Schäfer eine Verleihung von Ehrendolchen an »alte SA-Männer« zum Anlass, diesen weiterhin ungeklärten Punkt in seinem Sinne zu regeln: Während der Zeremonie hatten sich ein SA-Brigadeführer und Walter Engel von Wachmännern über die Zustände in den Lagern berichten lassen. Einer der SA-Männer hatte dies zum Anlass genommen, »dem Brigadeführer gegenüber dienstliche Massnahmen

Ebd. Vgl. Personalakte Kurt Kramer, BA Berlin R 3001 Nr. 64503 u. Personalakte Max Schermer, NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 60. 80 Knoch: Willkür, S. 40. 81 Vgl. KmSGL, 11. 4. 1934, in: ebd. 82 Vgl. ebd.

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175 zu kritisieren«. Schäfer verwies dabei nicht nur auf die eigene Position als Vorgesetzter im Justizdienst, sondern auch darauf, dass es »nicht im Interesse der Justizverwaltung« liege, »dass die Angelegenheiten der Lager uns nicht zur Kenntnis gelangen, sondern bei einer SA-Dienststelle Aufnahme finden.« Sein Fazit lautete daher: »Zwei Dienstwege sind für die Wachmänner eine glatte Unmöglichkeit.«83 Schäfers Ziel einer direkten Unterstellung unter die Oberste SA-Führung wurde zwar nicht erreicht, aber die Wachmannschaften der einzelnen Lager wurden nun auch als eigene SA-Stürme unter den Lagerleitern zusammengefasst. Nachdem Walter Engel nach Hannover gewechselt war, übernahm Schäfer selbst die Führung der Cloppenburger SA-Standarte und konnte daher auch über die Lager hinaus in der Region Einfluss nehmen. Die SA-Stürme der einzelnen Lager bildeten darin den Sturmbann I/229.84 Die Wachmannschaften wiesen nun eine Doppelstruktur auf, in der sie dem Kommandeur und den Lagerleitern sowohl im Justizdienst als auch als SA-Führern unterstanden. Der Grundgedanke der Bezirksregierung Osnabrück vom November 1933, nach dem die neuen Wachmannschaften »der ausschließlichen Befehlsgewalt des Staates unterstellt werden« sollten,85 war somit unterlaufen worden. Die Einführung dieser Doppelstruktur stellt gewissermaßen die eigentliche Geburtsstunde der ›Moor-SA‹ dar, als die sich die Wachmänner bald selbst bezeichneten. Ohne sie ist die regionale Machtentfaltung der SA-Wachmannschaften unter ihrem Kommandeur in den Folgejahren nicht zu erklären. Schäfer nutzte die aus der Doppelstellung resultierende Ungenauigkeit der Zuständigkeiten, um die Angelegenheiten der Wachmannschaften weitgehend eigenständig zu gestalten und auch seine eigene Machtposition zu stärken. So verwies er dem Justizministerium gegenüber mehrfach auf den SA-Charakter der Wachmannschaften, um ein unabhängiges Vorgehen zu rechtfertigen.86 Gleichzeitig hatte er die Unterstellung der Wachmänner als SA-Stürme unter seinem Kommando dem geteilten Interesse des Ministeriums zu verdanken; dessen Fürsprache bei der SA-Führung sollte er später erneut für sich nutzen.87 Schäfer zeigte sich auch weiterhin umtriebig: Nachdem Hanns Kerrl als Justizminister und Dienstherr der Lager ausgeschieden war und Schäfer damit seinen Gewährsmann im Ministerium verloren hatte, wandte er sich im Oktober 1934 direkt an Staatssekretär Freisler und bat diesen, ihn zum persönlichen Vortrag nach Berlin zu zitieren. Seine inhaltlichen Beweggründe ließ Schäfer dabei im Ungefähren:

83 84 85 86 87

Sämtliche Zitate: KmSGL, o. D. [Juli 1934], in: ebd. Der betreffende Wachtmeister wurde von Schäfer zum einfachen Wachmann degradiert und zum Lager Neusustrum überwiesen. Vgl. Zugehörigkeit der Wachtmannschaften zur SA bezw. SS [1934], in: ebd. PA Engel. Vgl. Angelegenheiten I–III. Vgl. PA Schäfer.

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176 Es handelt sich dabei keineswegs um wirtschaftstechnische Schwierigkeiten, sondern um Dinge, die ich als alter Nationalsozialist gerne mit Ihnen besprochen haben möchte, da ich erfahrungsgemäß mit dem vom Ministerium eingesetzten Sachreferenten in diesen Fragen bisher keinen Schritt weitergekommen bin.88 Schäfer verdeutlichte hier, dass er bereit war, den Dienstweg zu umgehen, um seine Ziele zu erreichen. Statt seiner eigentlichen Ansprechpartner Marx und Hecker wandte er sich an den zwei Dienstränge darüber stehenden ›alten Kämpfer‹ Freisler, der sich mit Fraenkels Termini weitaus eher als maßnahmen- denn normenorientiert bezeichnen lässt. Freisler entsprach Schäfers Bitte, wenn auch nicht in dem Punkt, sein Anliegen alleine vortragen zu dürfen. Als Schäfer vom 26. bis 31. Oktober 1934 zu diesem Zweck nach Berlin fuhr, war bei der Besprechung auch Staatsanwalt Hecker anwesend. Die Inhalte des Gesprächs sind nicht bekannt, jedoch fällt auf, dass zum einen ungefähr zu diesem Zeitpunkt die monatlichen Kassenprüfungen aufhörten und zum anderen Hecker wenig später das Problem formulierte, zu geringe disziplinarische Handhabe gegen einzelne Wachmänner zu haben. Im Vormonat waren zwei Wachtmeister und ein Oberwachtmeister wegen Gefangenenmisshandlung fristlos entlassen, zwei Wochen später jedoch wieder eingestellt worden, nachdem Schäfer sich für sie eingesetzt hatte.89 Mehr oder minder stillschweigend kam es in der Folge zu einer Übereinkunft, dass bei Misshandlungsvorwürfen deutlich nachsichtiger gegen Wachmannschaften vorgegangen wurde. Von 1935 bis 1937 wurden zwar 45 Strafverfahren gegen Wachmänner wegen Gefangenenmisshandlung eingeleitet, jedoch kam es in keinem dieser Verfahren überhaupt zur Anklageerhebung.90 Das unorthodoxe Vorgehen Schäfers bei dieser Aktion trug sicher nicht dazu bei, das Verhältnis zur Justizverwaltung zu entspannen. Dennoch hatte das Lagerprojekt für das Ministerium ein derartiges Prestige, dass keiner der Beamten bereit war, ein größeres Risiko einzugehen. Versuche, Schäfers Machtbereich wieder einzudämmen, waren zunächst zaghaft und bezogen sich vor allem darauf, Schäfer zur Wahrnehmung seiner dienstlichen Aufgaben zu ermahnen. Im Februar 1936 erreichte Schäfer das vertrauliche Schreiben eines hohen Ministerialbeamten – aller Wahrscheinlichkeit nach Ministerialdirektor Wilhelm Crohne –, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass man aufgrund der Revisionen durch Marx der Ansicht sei, »daß die umfangreichen und verantwortungsvollen Geschäfte, die Ihnen als dem leitenden Justizbeamten obliegen, des Einsatzes Ihrer ganzen Arbeitskraft bedürfen und daß eine Zersplitterung Ihrer Kräfte nach Möglichkeit vermieden werden muß.« Daher wurde ihm nahegelegt, die Führung der SA-Standarte 229 wieder abzugeKmSGL, 10. 10. 1934, in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Vgl. KmSGL, 20. 9. 1934, in: ebd. 90 Urteil Schäfer 1938. 88 89

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177 ben. Der Verfasser beeilte sich aber zu ergänzen, dass seiner Auffassung nach »der SA-mäßige Charakter der gesamten Wachtmannschaften unter allen Umständen erhalten bleiben muß.« Schäfer solle auch seinen SA-Rang als Standartenführer behalten, sich aber nunmehr auf die Führung der ›Moor-SA‹ beschränken. Daher sollte Schäfer im Auftrag des Ministeriums mit der SA-Gruppe Nordsee Kontakt aufnehmen und über die Herauslösung der ›Moor-SA‹ aus der Cloppenburger Standarte verhandeln: »Ich denke dabei daran, daß es vielleicht möglich wäre, für die gesamten Wachtmannschaften eine Standarte z. b.V. entstehen zu lassen, die SA-mäßig der Gruppe zu unterstellen wäre.«91 Schäfer gab daraufhin die Standartenführung zum 20. April 1936 ab.92 Eine direkte Unterstellung unter die SA-Gruppe Nordsee unterblieb jedoch vorerst und war noch im Dezember 1936 in den neuen Richtlinien zur Organisation der SA nicht vorgesehen. Stattdessen blieb die ›Moor-SA‹ als ›Sturmbann z. b.V.‹ Teil der Cloppenburger Standarte. Im April 1937 wurde die ›Moor-SA‹ als ›Sturmbann I/No‹ schließlich doch der SA-Gruppe direkt unterstellt und aus den Standarten und Brigaden herausgelöst. Als wenige Monate später die Wachmannschaften durch die Lagererweiterungen auf 1.500 SA-Männer anwuchsen und damit die Sollstärke eines Sturmbannes von 500 bis 1.000 weit überschritten, wurde die ›Moor-SA‹ zur ›Pionierstandarte 10‹ ernannt – auch eine Pionierstandarte war Ende 1936 von der SA-Führung nicht vorgesehen gewesen.93 Damit war Schäfer Mitte 1937 auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen: Er hatte die Wachmannschaften aus sämtlichen kleinräumigeren Unterstellungsverhältnissen herausgelöst; die ›Moor-SA‹ war unter seiner Führung um mehr als das Doppelte angewachsen und konnte vor Ort höchst eigenständig agieren. Die Vorgesetzten des Kommandeurs in Berlin beziehungsweise Bremen waren weit entfernt, und selbst die Aufgabe der Standartenführung dürfte Schäfer kaum geschmerzt haben, da er sich in der Zwischenzeit gute Verbindungen zu den Führern verschiedener Verbände wie der Kreisbauernschaft und kooperationswilligen Honoratioren aufgebaut hatte.94 Die ›Moor-SA‹ bildete im regionalen Kontext neben Kreisleitung, Landrat und Bürgermeistern eine eigenständige Größe. Die These einer zentralisierten und strukturierten Machtausübung durch das Justizministerium ab Ende 1934 ist damit zumindest für die Verhältnisse im Emsland einzuschränken.95

Sämtliche Zitate: PA Schäfer. Vgl. Der Emsländer, 23. 4. 1936. 93 Vgl. OSAF: Organisation der SA, 15. 12. 1936, in: KW I, S. 847–856 und Knoch: Kampf, S. 53. 94 Vgl. hierzu Kap. III.4 dieser Arbeit. 95 So etwa bei Gruchmann: Justiz, S. 84–123. 91 92

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178 2. Gemeinschaft als Aufstiegsversprechen. Gemeinschaftspraxis und Karriereperspektiven Nach der Übernahme der Lager durch die Justizverwaltung änderte sich für die Wachmannschaften zunächst wenig. Die vom Preußischen Innenministerium getroffenen Regelungen hinsichtlich der Bezüge, Unterbringung, Verpflegungsgelder, Uniformierung, ärztlichen Behandlung und Unfallfürsorge blieben ohne Abänderung in Kraft. Auch die noch ungeklärte Frage der Alters- und Invalidenversicherung blieb weiterhin im Ungefähren.96 Eine langfristige Perspektive für die SA-Männer entwarfen die Verwaltungsbeamten nur bedingt. Im Januar 1935 bekräftigte Ministerialdirigent Marx, dass das Justizministerium »diesen SA-Männern gegenüber die Verpflichtung übernommen hat, sie, soweit sie im Besitz der Bauernfähigkeit sind, in den kultivierten Gebieten anzusiedeln«.97 Da mit rund 70 Prozent der größere Teil der Wachmänner den Nachweis der Bauernfähigkeit nicht erbringen konnte oder wollte, sagte Marx an gleicher Stelle wenig konkret zu, »die Nichtbauernfähigen in der Verwaltung unterzubringen.«98 Nur wenige Wochen zuvor hatte Justizrat Hecker aber festgestellt, dass dabei eine »Übernahme in den Justizdienst […] wegen der Stellenvorbehalte für Versorgungsanwärter nur ganz ausnahmsweise in Frage kommen« werde.99 Anfänglich wurden daher nur einzelne Lagerleiter, Haupt- und Oberwachtmeister sowie einige wenige Wachtmeister auf Funktionsstellen für mehrere Monate zur »informatorischen Beschäftigung« an Gefängnisse und Zuchthäuser abgeordnet.100 Im Ministerium befürchtete man durchaus zu Recht, dass dies auf Dauer zu Verstimmungen in den Wachmannschaften führen würde, zumal sämtliche Wachmannschaftsstellen im Haushaltsplan mit einem ›kw‹-Vermerk versehen waren, also als »künftig wegfallend« angesehen wurden.101 Dies war einerseits Ausdruck der optimistischen Annahme der Ministerialbeamten, dass nach zügiger Vollendung der Kultivierungsarbeiten die Lager mittelfristig überflüssig sein würden, verdeutlichte andererseits aber den SA-Männern, dass die Beschäftigung in den Strafgefangenenlagern eben keine unbeschränkte Zukunftsperspektive bot.102 Daher schlug Hecker die »Gewährung einer Abfindungssumme nach einer bestimmten Min96 97 98 99 100 101 102

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Vgl. Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: Beamte etc. Schreiben vom 22. 1. 1935, in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Ebd. Bericht Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: Beamte etc. Vgl. Angelegenheiten III u. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 36 /1995 Nr. 13. Urteil Schäfer 1950, S. 2659. Die Endlichkeit des Lagerprojekts war auch in der Selbstinszenierung der SA-Wachmannschaften durchaus präsent, wurde hier aber als Zukunftsutopie des gemeinschaftlichen Erfolges präsentiert. Vgl. EZ, 14. 10. 1935. Durchsetzung

179 destdienstzeit« vor, offiziell »weil mit vorzeitigem Ausscheiden von Mannschaften infolge Erkrankung bei dem anstrengenden Dienst im Moorgebiet gerechnet werden muß.«103 Auf diese bald darauf als ›Treueprämie‹ ausgelobte Zuwendung in Höhe von 1.800 RM (nach Abzügen 1.500 RM) hatten die SA-Männer nach fünfjähriger Dienstzeit Anspruch. Mit jedem weiteren Monat, den sie darüber hinaus der Wachtruppe angehörten, sollte sich die Summe um 30 RM erhöhen.104 Darüber hinausgehende Mittel – etwa zur Ausgestaltung der Wachmannschaftsbereiche – stellte das Justizministerium aber nicht zur Verfügung. Derartige Diskrepanzen zwischen dem gestalterischen Anspruch der ›Moor-SA‹ in der selbst zugeschriebenen Rolle als Pioniere der Emslanderschließung und der ausbleibenden materiellen Zuwendung durch die vorgesetzten Behörden traten in der Folge immer wieder zutage und sollten zu Verstimmungen innerhalb der Wachmannschaften führen.

Gemeinschaftsbildung und Freizeitkultur Während die Übernahme des Lagerkomplexes durch die Justizverwaltung für die meisten Wachmänner also zunächst kaum spürbare Veränderungen mit sich brachte, wirkte sich die zeitgleiche Ankunft Schäfers im Emsland weitaus stärker auf den Dienstalltag der SA-Männer aus, da dieser umgehend Ansprüche anmeldete, die über rein dienstliche Belange weit hinaus gingen. Um den inneren Zusammenhalt der ›Moor-SA‹ zu stärken, ließ Schäfer regelmäßig Wachmänner oder ganze Bewachungszüge zu anderen Lagern versetzen. Zudem gingen auch Beförderungen in aller Regel mit einem Lagerwechsel einher – vermutlich auch, um Friktionen mit den alten ›Kameraden‹ vorzubeugen.105 Die vagen Zukunftsversprechen über Siedlerstellen und Justizanstellung hätten allein kaum ausgereicht, um die Mehrzahl der SA-Männer auf Dauer an ihre Dienststellung zu binden. Um internen Dissonanzen zuvorzukommen und eine stärkere Identifikation der SA-Männer mit dem Straf- und Siedlungsprojekt herzustellen, entstand nahezu umgehend nach Schäfers Dienstbeginn ein breites Repertoire an gemeinschaftsbildenden Maßnahmen. In ihrer Freizeit wurden die Wachmänner durch SA-Lehrer ideologisch geschult; zudem wurden in den einzelnen Lagern regelmäßig Kameradschaftsabende abgehalten, bei denen der Musikzug aufspielte.106 Darüber hinaus gab es größere Feiern etwa zu Weihnachten, öffentliche Eintopfessen sowie Aufmärsche zu offiziellen

Sämtliche Zitate: Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: Beamte etc. Vgl. Angelegenheiten I. 105 Vgl. Aussage Johann A., 28. 10. 1945, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1246 u. Archiv AK DIZ Sammlung Gertrud Sieg. 106 Vgl. zu SA-Lehrern KmSGL, 11. 4. 1934, in: Archiv AK DIZ Sammlung Gertrud Sieg Ordner 103 104

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180 Anlässen, bei denen die ›Moor-SA‹ aufgrund ihrer Größe und des eigenen Musikzugs eine prominente Stellung einnahm. Bereits zur ›Heimkehr des Saarlandes‹ Anfang 1935 marschierte die ›Moor-SA‹ zentral in Papenburg auf, während die »Kapelle des NS-Arbeitsdienstes« oder der »Spielmannszug des Jung-Volks« in die kleineren Orte der Umgebung ausweichen mussten.107 Derartige Aktionen weisen bereits auf einen Zusammenhang zwischen der Freizeitkultur und einer stärkeren Einbindung der ›Moor-SA‹ in das öffentliche Leben im Emsland hin. Weitere Freizeitaktionen wiesen jedoch bewusst über den engeren regionalen Kontext hinaus und sollten für die SA-Männer Abwechslung schaffen. Ausflüge nach Borkum und Norderney sind durch Fotografien dokumentiert, ein weiterer führte 1937 zum Volksschauspiel »De Stedinge« in Bookholzberg.108 Um den Besuch des völkisch-propagandistischen Theaterstücks für sämtliche SA-Männer zu ermöglichen, arrangierte die Organisation ›Kraft durch Freude‹ (KdF) Fahrten zu mehreren Vorstellungen. Die Zusammenarbeit mit der KdF hatte bereits in der ersten Jahreshälfte 1936 begonnen, als zunächst Filmvorführungen mit mobilen Apparaten in den Lagern organisiert wurden. Mehrere Wachmänner konnten auch an Urlaubsfahrten der KdF teilnehmen, und zumindest einer von ihnen präsentierte sich auf Kreuzfahrt vor der norwegischen Küste in SA-Uniform.109 Ab Juni 1936 bereisten Schauspielgruppen der ›Reichsautobahnbühne‹ die Lager und boten Theater- und Varietévorstellungen dar.110 Wenig später wurden die Lager auf Betreiben der KdF durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda mit Bibliotheken ausgestattet.111 Während öffentliche Auftritte der ›Moor-SA‹ die selbst zugeschriebene Rolle als Protagonisten des Siedlungsprojekts unterstreichen sollten, boten Kameradschaftsabende und Unterhaltungsveranstaltungen Gelegenheit zur inneren Vergemeinschaftung. Ein Indiz für die Wirksamkeit dieser Gemeinschaftsbildung liefert ein Aufsatz, den der Wachmann Anton G. 1937 zur Frage »Nach welchen Grund-

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Wachmannschaften I sowie EZ, 13. 7. 1936. Zu Kameradschaftsabenden vgl. EZ, 27. 12. 1935 und Ostfriesische Tageszeitung (OTZ), 4. 8. 1937. EZ, 2. 3. 1935. Zum Eintopfessen vgl. EZ, 3. 3. 1936. Vgl. zu diesen nationalsozialistischen Großinszenierungen Gehrhard Kaldewei: »›Stedingsehre‹ soll für ganz Deutschland ein Wallfahrtsort werden«. Dokumentation und Geschichte einer NS-Kultstätte auf dem Bookholzberg 1934–2005, Delmenhorst/Berlin 2006. Zu den Ausflügen der ›Moor-SA‹ vgl. neben dem Titelbild dieses Buches Archiv AK DIZ Sammlungen Paul Meyer u. Gertrud Sieg. Vgl. EZ, 12. 6. 1936; EZ, 22. 7. 1936 und Archiv AK DIZ Sammlung Paul Meyer. Vgl. EZ, 12. 6. 1936. Ein derartiger Varietéabend in Lager VII ist ebenfalls fotografisch dokumentiert – inklusive des gemeinsamen Besuchs des lagereigenen Schwimmbads von Wachmännern und Schauspielerinnen am nächsten Tag. Vgl. Archiv AK DIZ Fotoalbum Hillermann / Mitschke. Vgl. EZ, 22. 7. 1936. Durchsetzung

181 sätzen ist die Wachtruppe der Gefangenenlager in Papenburg aufgestellt und wie gestaltet sich der tägliche Dienst?« schrieb: Die Wachtmannschaft der Gefangenenläger ist und wird auch heute noch im SA-Geist der Kampfzeit erzogen zur Kameradschaft und Einsatzbereitschaft bis zum Äußersten. Und das ist gut; denn hier im Moor sind wir eine große Familie. Einer ist auf den Anderen angewiesen. Wir haben hier vom Führer die große Aufgabe erhalten, das Emslandmoor zu kultivieren. Das ist Arbeit für viele Jahre, viele einsame Jahre und da kam es für uns nur darauf an, dass wir uns verstehen wie Brüder und uns im Dienst helfen wo wir können.112 G. beschwor hier formelhaft Topoi einer männlichen, militärisch geprägten Gemeinschaft, von Opferbereitschaft und Zusammenhalt, wie sie von Schäfer und anderen Führern der Wachmannschaften propagiert wurde und drückte dies zumindest teilweise mit eigenen Begriffen wie ›Familie‹ und ›Hilfsbereitschaft‹ aus. Deutlich wird hier, dass zumindest die Inszenierung der Gemeinschaft und das Pionierideal der ›Moor-SA‹ auch für einzelne SA-Männer anschlussfähig waren. Auch in seiner Schilderung des Alltags abseits der Bewachungssituation folgte G. der militärisch-kameradschaftlichen Selbstinszenierung, die zudem männerbündisch aufgeladen war: Der Dienst ist hier straff und streng. Morgens wecken, […] alsdann kommt Frühsport. Da geht es natürlich über Stock und Stein. Und dann kommt das Waschen mit entblößtem Oberkörper. Trifft der Lagerleiter dabei einen im Hemde, so bringt ihm der Alte gleich einen Pelzmantel.113 Doch auch G. schilderte den Arbeitsalltag als gleichförmige und eintönige Abfolge wiederkehrender Handlungen: Nach dem Waschen schnell ankleiden, essen und das Bett bauen […]. Dann kommt das exezieren [sic!] mit Erdkunde und so. Anschließend werden die Waffen gereinigt, wird gegessen und der ganze Zug zieht auf Wache. 24 Stunden sind wir dann auf Wache, wenn der einzelne Mann aber auch nur 8 Stunden auf seinem Posten stehen braucht, so ist das immer noch anstrengend genug.114

Entnazifizierungsakte Anton G., NLA Hannover Nds 171 Hannover Nr. 27968. Ebd. Ob es sich bei dem »Pelzmantel« um ein bestimmtes Ritual oder eine ironische Bemerkung handelt, ist nicht bekannt. 114 Ebd. 112 113

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182 Vor diesem Hintergrund kam der Ausgestaltung des unmittelbaren Lebensumfelds der Wachmänner in der Freizeitkultur der ›Moor-SA‹ ein wesentlicher Stellenwert zu. Das Lager war nicht nur Arbeitsplatz und Wohnraum der Wachmänner, sondern auch für die alltägliche Freizeitgestaltung zentral, da sich die Wachmänner zunächst ohne Genehmigung nicht weiter als 500 m vom Lager entfernen durften.115 Doch auch nachdem der entsprechende Kommandanturbefehl aufgehoben worden war, gab es in den nächstgelegenen, ohnehin nur kleinen Ortschaften kaum Anlaufpunkte. Im Lager selbst bot zunächst nur die von einem Pächter betriebene Kantinenbaracke Gelegenheit für Abwechslung. Wenig verwunderlich war dies ein Ort vielfacher Alkoholexzesse, bei denen sich die Wachmänner mit ihren Gewalttaten brüsteten oder anschließend für neue Misshandlungen in den Häftlingsbereich des Lagers begaben.116 In dieser Situation zeigte Werner Schäfer sein fiskalisches Talent, indem er auch ohne Zuschüsse des RJM auf kreative Weise Gelder und Sachmittel zur Freizeitgestaltung akquirierte. Als etwa für den Transport der SA-Männer zur Stedingsehre nicht genügend Sonderzüge zur Verfügung standen, ließ er die KdF kurzerhand die Mannschaftstransportwagen der Lager anmieten. Damit wurde der ›Moor-SA‹ nicht nur ein kostenloser Besuch des Schauspiels ermöglicht, sondern letztlich sogar Geld dafür gezahlt.117 Mit lokalen Baumschulen kooperierte Schäfer, indem er ihnen unentgeltlich Häftlingskommandos zur Verfügung stellte. Im Austausch erhielt die ›Moor-SA‹ insgesamt über 40.000 Pflanzen und Setzlinge, mit denen sie teils in den Wachmannschaftsbereichen selbst, teils in unmittelbarer Nähe der Lager Parkanlagen errichteten.118 Diese Parks waren unterschiedlich groß und zum Teil stilistisch dem Rokoko nachempfunden. In einigen wurden Pavillons oder Freizeithäuser wie die »Villa Kampfpause« errichtet, die durch Spenden der Wachmänner finanziert worden waren. In mehreren Parkanlagen errichteten die Wachmänner Horst-Wessel-Gedenksteine, an denen anschließend die Vereidigung von SA-Führern vorgenommen wurde.119 Auch die Wachmannschaftsbaracken wurden durch Eigeninitiative der Wachmänner wohnlicher ausgestattet und durch zusätzliche Sitzgelegenheiten im Außenbereich mit einer Art Veranda versehen. Zu ihrer ›Verschönerung‹ wurden zudem Leitsprüche der SA-Männer an die Außenwände gemalt – im Lager V etwa Knoch: Kampf, S. 58. Vgl. Aussage Heinrich S. [1950], in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 2001 /054 Nr. 123; Aussage Bernhard M. vom 17. 11. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218. 117 Vgl. KdF, 15. 6. 1937, in: Angelegenheiten III. 118 Ausführungen des Verteidigers im Schwurgerichtsprozess gegen Werner Schäfer [1950], in: KW III, S. 2626. 119 Vgl. Archiv AK DIZ Fotoalbum 1935, Sammlung Paul Meyer u. Bildbestand Luftwaffe; EZ, 26. 6. 1936 u. 15. 11. 1937. 115 116

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Abb. 9 :

»Villa Kampfpause«. Freizeithaus in einer Parkanlage, vermutlich beim Lager Börgermoor 1935.

»Die Treue ist das Mark der Ehre«120 –, die ihre Dienstauffassung symbolisieren sollten. Unter den Lagern wurden regelrechte Schönheitswettbewerbe hinsichtlich der Barackengestaltung veranstaltet. Die finanziellen Mittel für derartige Maßnahmen wie auch größere Freizeitveranstaltungen und Filmvorführungen kamen durch regelmäßige Umlagen unter den Wachleuten, die sogenannten Kameradschaftskassen, zusammen.121 Neben den Lagern wurden Sportplätze angelegt, die im Lageralltag für die Ausbildung von Wachleuten ebenso genutzt wurden wie für Schikane und Misshandlung von Gefangenen nach der Moorarbeit. Darüber hinaus bildeten sie eine Kulisse für gemeinschaftliche Großereignisse. Mit einfachsten Mitteln wurde hier der gigantomanischen Architektur von Reichsparteitaggelände und anderen NS-Auf-

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Archiv AK DIZ Sammlung Gertrud Sieg. Vgl. Unterlagen Theodor G., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I und Knoch: Kampf, S. 58.

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184 marschstätten nachgeeifert, wie die »Ems-Zeitung« zur Einweihung des Sportplatzes in Börgermoor berichtete: Der Sportplatz ist dadurch entstanden, daß man die dicke Moorschicht abgegraben hat. Die natürliche Umwallung an der Südseite ist terrassenförmig ausgearbeitet und bietet reichlich Platz für die Zuschauer. Ungefähr in der Mitte dieser Seite ist ein schönes Podium geschaffen, auf dem die Standartenkapelle […] schneidige Märsche zum besten gab. Auf der anderen Seite ist der künstlich aufgeschüttete und mit Grassoden belegte Abschlußdamm schön unterbrochen durch eine kanzelförmige Rednertribüne, die ebenfalls aus Plaggen hergestellt ist.122 Neben der groß angelegten Gemeinschaftsinszenierung, bei der die vorbeimarschierenden SA-Männer »ein herrliches Bild straffster Disziplin« abgaben, bot diese Veranstaltung auch Raum für andere Elemente der Freizeitkultur. So wurden »der Wurstpavillion und die Schießbude ›Zum afrikanischen Moorschützen‹ sowie das große Festzelt […] während des ganzen Tages eifrig besucht« und in letzterem »manch ›munteres Helles‹ geschlabbert«.123 Der befremdlich anmutende Name der Schießbude verweist auf einen kolonialen Gestus, der als Ausdruck der Identifikation mit dem Siedlungsprojekt auch an anderer Stelle zum Vorschein kam. So trat die Wachmannschaft der Lagers Neusustrum geschlossen in den Reichskolonialbund ein und dokumentierte diesen Schritt mit reichhaltigem Bildmaterial. Während die Grenzen zwischen innerer und äußerer Kolonisation in diesem Bereich verschwammen, zeigte sich ein rassistisches Überlegenheitsdenken umso klarer.124 Die Sportplatzeinweihung in Börgermoor nutzte Werner Schäfer, um erneut die Gemeinschaftsutopie der ›Moor-SA‹ zu beschwören, in der die Lager Keimzellen der späteren Siedlungsgebiete und die SA-Männer die Protagonisten der Emslanderschließung sein sollten: Dieser Sportplatz ist nicht allein für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft. Er soll ein Dokument sein für die Arbeiten, die von der SA im Moore geleistet wurden. Wenn die Siedler später hier den Acker bebauen, soll dieser Sportplatz sie immer daran erinnern, daß die SA die Zukunft des deutschen Vaterlands bereiten half und den Boden geschaffen hat, auf dem sie leben.125

EZ, 14. 10. 1935. Sämtliche Zitate: ebd. 124 Vgl. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 707 und Archiv AK DIZ Sammlung Paul Meyer. 125 EZ, 14. 10. 1935. 122 123

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Abb. 10 : »Gemeinschaftsraum mit Kolonialecke im Lager 5 – Neu Sustrum«, Ansichtskarte 1942.

Den Anspruch, mit den Lagern bereits den Kern zukünftiger Siedlungen zu bilden, griffen die Wachleute auf, indem sie begannen, eine eigene landwirtschaftliche Produktion unmittelbar neben den Lagern aufzuziehen. Dazu wurden erneut die Häftlinge ausgenutzt, um Wirtschaftsgebäude und landwirtschaftliche Nutzflächen anzulegen; die darüber hinaus benötigten Mittel wurden teils vom Ministerium, teils durch die Kameradschaftskassen gestellt.126 In langfristiger Perspektive unterstrichen die Wachmänner damit ihre Rolle als Vorreiter der Emslandkultivierung und den eigenen Anspruch auf Siedlerstellen. Mittelfristig dienten die Betriebe auch dazu, die Situation der Wachmänner weiter zu verbessern. Zuvor hatten die Wachmänner für ihre Verköstigung pro Tag 1 RM an den Verpflegungsfonds des jeweiligen Lagers zahlen müssen, was für einen unverheirateten Wachmann beinahe ein Drittel seines Gehalts bedeutete. Als die Wirtschaftsbetriebe bald Überschüsse erwirtschafteten, wurden diese entweder als Naturalien oder als Verkaufserlös dem Verpflegungsfond zugeführt, wodurch die Gehaltsabzüge abgemildert wurden und sich die finanzielle Situation der Wachmänner sichtlich entspannte.127 Ein zentraler Ort für Großveranstaltungen der ›Moor-SA‹ entstand, nachdem 126 127

Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Nr. 48 und BA Berlin R 2 Nr. 24006. Vgl. ebd. und NLA Osnabrück Rep 945 Nr. 48.

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Abb. 11 :

SA-Wachmänner zur Audienz bei Adolf Hitler, Weihnachten 1935.

Schäfer im Dezember 1935 mit einer Abordnung von 17 Wachleuten nach Berlin gereist war. Bei einer Audienz überreichten sie Hitler ein Fotoalbum, das die Kultivierungsleistungen dokumentieren sollte.128 Als Dank finanzierte Hitler der ›Moor-SA‹ ein Kameradschaftshaus, das nach Plänen Albert Speers gebaut wurde. In der »Ems-Zeitung« hieß es über das sogenannte Emslandhaus: »Das Heim wird eine Stätte echter nationalsozialistischer Volksgemeinschaft sein und den SA-Männern in ihrer Mooreinsamkeit Erholung und abwechslungsreiche Stunden bereiten.«129 Erneut waren es die Strafgefangenen, die beim Bau die eigentliche körperliche Arbeit zu verrichten hatten.130 Die Presseberichte hoben hingegen die ›Leistung‹ der ›Moor-SA‹ hervor, die »alle Einrichtung außer Tischen und Stühlen […] selbst

Vgl. EZ, 16. 1. 1936. EZ, 10. 10. 1936. Die EZ hatte zuvor mehrfach über das Bauvorhaben berichtet. Vgl. vor allem EZ, 23. 5. 1936 u. 9. 6. 1936. 130 Vgl. Int WE, S. 21 und Archiv AK DIZ Sammlung Paul Meyer. 128 129

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187 hergestellt« habe.131 Selbst in die Querbalken waren, wie es dort hieß, »sinnfällige auf den Geist des neuen Deutschland abgestimmte Sprüche« eingraviert, »wie z. B. ›Je größer die Aufgaben sind, die uns der Führer stellt, desto freudiger werden wir sie erfüllen‹, oder ›Deutschland wird uns nicht geschenkt, man muß es erringen‹, oder ›Da muß die Not aus dem Lande weichen, wo Führer und Volk die Hand sich reichen‹.«132 Diese aktivistische Rhetorik setzte Werner Schäfer in seiner Eröffnungsrede fort, in der er das Emslandhaus als »Pflegestadt nationalsozialistischen Geistes, nationalsozialistischer Haltung und nationalsozialistischen Willens« bezeichnete. Seine Ansprache gipfelte in der Parole vom »Kampf im Moore«, den die ›Moor-SA‹ hier führe.133 Zu diesem Anlass machten zudem Gauleiter Röver, SA-Gruppenführer Böhmcker, Ministerialdirigent Marx sowie weitere Vertreter von NSDAP und staatlichen Behörden ihre Aufwartung und ließen sich das nahegelegene Lager Neusustrum als mustergültige Vollzugseinrichtung präsentieren. Trotz der Anwesenheit des ranghohen Besuchs war die Veranstaltung auch für die einfachen SA-Männer durchaus unterhaltsam gestaltet. Der Programmablauf bestand aus: 1015 Uhr Antreten der Wachtmannschaften vor dem Emslandhaus 1030 Uhr Meldung an den Herrn Staatssekretär 1035 bis 11 Uhr Besichtigung des Emslandhauses 11 bis 12 Uhr Sinfoniekonzert ausgeführt vom Musikkorps der Kommandantur 12 bis 1215 Uhr Begrüssung durch den Kommandeur Schäfer 1215 bis 1245 Uhr Einweihungsrede des Gauleiters 13 bis 14 Uhr Gemeinsames Mittagessen (während des Essens Militärkonzert) 14 bis 1530 Besichtigung des Lagers Neusustrum 1530 bis 17 Uhr Kaffeetafel (Militärkonzert und Darbietungen von Künstlern ›Kraft durch Freude‹) Zum Abschluss Zapfenstreich134 Während sich die Veranstaltung über den Vor- und Nachmittag hinzog, wurde die Aufnahmekapazität der Wachmänner mit zwei kurzen Reden nicht über Gebühr beansprucht. Dennoch bildete das Programm eine durchchoreographierte Ehrer-

EZ, 16. 10. 1936. Tatsächlich hatte Schäfer zuvor die Zivilbevölkerung um »Sachspenden zur würdigen Ausschmückung« gebeten (EZ, 8. 8. 1936). Zudem hatten Albert Speer und Joseph Goebbels den Wachleuten ein großes Ölgemälde sowie einen Filmprojektor und eine weitere Bibliothek geschenkt. 132 EZ, 16. 10. 1936. 133 Beide Zitate: ebd. 134 BA Berlin ZM 1682 A 6. 131

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Abb. 12: Innenansicht des Emslandhauses, undatierte Ansichtskarte.

bietung für die Wachmannschaften und war mit mehrfachem Antreten in Formation, verschiedenen Musikdarbietungen und Mahlzeiten gleichermaßen pompös wie auch abwechslungsreich gestaltet und konnte so für die SA-Wachmannschaften eine integrative Wirkung entfalten.135 Die Freizeitkultur der ›Moor-SA‹ war somit Teil des gestalterischen Anspruchs der ›Moor-SA‹ und hatte einen stark repräsentativen Charakter. Die Schaffung neuer Kultur- und Freizeitangebote in der sprichwörtlichen Einöde stellte gewissermaßen eine zweite ›Kultivierung‹ dar, in der die Wachmänner das soziale Leben der Region ausgestalten wollten. Nutznießer dieser Maßnahmen, die immer wieder von Versatzstücken nationalsozialistischer Weltanschauung durchzogen waren und von aktivistischer Kampfrhetorik begleitet wurden, blieben aber in erster Linie die SA-Männer selbst.

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Vgl. ebd. Durchsetzung

189 Gewalt als ›Erziehungsmaßnahme‹ Die gesteigerte Identifikation der Wachmannschaften mit den Zielen des Strafund Siedlungsprojekts zeigte sich auch in der Gewaltpraxis der ›Moor-SA‹. Einzelne Elemente entstammten den frühen Emslandlagern, dem KZ Oranienburg oder anderen frühen Lagern,136 jedoch erfuhr die Gewaltpraxis in den Strafgefangenenlagern eine eigene, spezifische Ausformung mit zum Teil neuen Gewaltpraktiken. Wie Ministerialdirigent Marx betont hatte, waren die Strafgefangenenlager als volksgemeinschaftliches Erziehungsprojekt gedacht, in dem die Zwangsarbeit den »Sühnegedanken« der Strafe verdeutlichen sollte. Als Ziel dieser ›Erziehungsmaßname‹ gab Marx aus, dass die »Willenskraft« jedes ›besserungsfähigen‹ Gefangenen »so gestählt wird, daß er in der Lage ist, den Lebenskampf erfolgreich aufzunehmen.«137 Da die Justizverwaltung keinerlei Ambitionen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Lageralltags zeigte und ihre Kontrolloptionen nie mehr als rudimentär ausgeprägt waren, griffen die SA-Männer auf bekannte Gewaltpraktiken als ›Erziehungsmittel‹ zurück und eigneten sich somit den pädagogischen Anspruch der Lagerhaft an. Durch das Siedlungsprojekt waren aber auch ökonomische Zielsetzungen Teil der Legitimation des Lagerprojekts geworden. Aus nationalsozialistischer Perspektive ergab sich zwar keine unmittelbare Diskrepanz zwischen der Ineffektivität der gewaltüberformten Zwangsarbeit und dem Fortschreiten der Kultivierungsarbeiten. Da aber die Häftlingsarbeit zumindest ansatzweise Effizienzkriterien unterstellt werden musste, adaptierten die SA-Männer ihre Gewaltpraxis, was zum Beispiel das Abklingen der initiierenden Gewalt erklärt. Mit der Ankunft neuer Häftlingskontingente kam es zwar zur erneuten Gewalteskalation, jedoch niemals so weit, dass die Kultivierungsarbeiten gänzlich zum Erliegen kamen.138 Die neuartige Form des Lagervollzugs brach mit verschiedenen Elementen des modernen Gefängnisses. Auch dort waren die Gefangenen durch Inhaftierung und die andauernde Be- und Überwachung einer strukturellen Form von Gewalt ausVgl. KW III, S. 2514–2521 und Knoch: Willkür, S. 37. Habbo Knoch verweist darauf, dass Gewaltpraktiken wie das ›Moordenkmal‹ und der Strafsport auch im KZ Esterwegen fortgeführt wurden. Zur Gewaltpraxis in anderen frühen Konzentrationslagern vgl. beispielsweise Baganz: Erziehung, S. 155–197 und Irene Mayer-von Götz: Terror im Zentrum der Macht. Die frühen Konzentrationslager in Berlin 1933 /34–37, Berlin 2008, S. 118–163. 137 Marx: Gefangenenarbeit, S. 364. 138 Vgl. Knoch: Schreiben, S. 261. Das Gegenbeispiel bildet hier erneut das KZ Esterwegen, dessen SS-Wachmänner sich nicht dem Siedlungsgedanken verpflichtet sahen. Nach der Adaption des ›Dachauer Modells‹ herrschte dort eine deutlich umfassendere Gewaltpraxis vor. In der Folge kam es zu Ausfällen beim Arbeitseinsatz, was das Kulturbauamt bemängelte (vgl. Kulturbaubeamter Meppen, 1. 9. 1935, in: KW I, S. 570–574). Zur Gewaltpraxis im KZ Esterwegen vgl. Buck: Esterwegen, S. 215–222. 136

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190 gesetzt. Zudem kam es im Nationalsozialismus auch in regulären Vollzugsanstalten häufiger zu Demütigungen und Misshandlungen von Häftlingen.139 In den Strafgefangenenlagern versprachen die Gemeinschaftsunterbringung in Baracken und die Beschäftigung ›im Freien‹ nicht nur vermehrte soziale Kontakte und damit eine Abminderung der Isolation, sondern auch einen gewissen Schutz vor der allgegenwärtigen Überwachung. Unter Gefangenen, die ins Emsland verlegt werden sollten, konnte daher auch eine gespannte, teilweise gar positive Erwartungshaltung bestehen.140 Noch vor Ort konnte das propagierte Bild der geordneten Lager den ersten Eindruck bestimmen. So schildert der kommunistische Politiker und Schriftsteller Karl Schröder den ersten Anblick der Lager geradezu idyllisch: Wir landeten vor dem ersten Lager und waren – überrascht. Überrascht vom äußeren Schein. Im Halbkreis schmucke Wohnbaracken, umrahmt von jungen Gartenanlagen, zur Seite ein Wirtschaftshof, auf dem sich Kleinvieh tummelte, und drüben sahen wir Wachmannschaften mit zwei jungen Waschbären spielen. Wahrhaftig, ein beinahe freundliches Bild, in dem die Teile der Stacheldrahtgitter, die im Hintergrund zu sehen waren, nur eben wie Schönheitspflästerchen wirkten.141 Die Illusion dieses Scheins war den Häftlingen indes bei ihrer Ankunft vielfach schon bewusst, da sich der Ruf der Emslandlager bereits nach kurzer Zeit in den Haftanstalten verbreitete. So hatten auch in Schröders Erzählung mehrere Mithäftlinge bereits Lager und Moorarbeit kennengelernt. Diese seien zuvor »die Schweigsamsten gewesen«, denen »das Blut aus den Gesichtern wich, als zur Gewißheit wurde: wir kommen ins Börgermoor.«142 Die Gewalt der SA-Männer war dabei ein Element in einem größeren »System von Belastungsfaktoren«:143 Ein Großteil des Tages wurde von der Zwangsarbeit in der Moorkultivierung bestimmt, die für viele Gefangenen ungewohnt und daher zusätzlich anstrengend war. In den Sommermonaten betrug die Arbeitsdauer zehn, ab Kriegsbeginn zwölf Stunden täglich. Im Winter wurde die Arbeitszeit durch die längere Dunkelheit und die damit einhergehende erhöhte Fluchtgefahr begrenzt. Das Arbeitspensum lag zwar ungefähr 40 Prozent unter dem ziviler Moorarbeiter, war aber rund doppelt so hoch wie das von Reichsarbeitsdienstlern, die im südlichen Emsland eingesetzt wurden. Neben der Zwangsarbeit trug die Unterversorgung in nahezu sämtlichen Bereichen – Medizin, Hygiene, vor allem aber der Er-

Vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 73–77. Vgl. Henze: Hochverräter, S. 44 f. 141 Schröder: Station, S. 123. 142 Ebd., S. 124. Vgl. auch Henze: Hochverräter, S. 44–47. 143 Suhr: Emslandlager, S. 80. 139 140

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191 nährung – zusätzlich zur Auszehrung der Häftlinge bei.144 Die Haftbedingungen waren durch die Justizbehörden bewusst hart gestaltet, jedoch wäre zum Beispiel die Ernährungslage bis Kriegsbeginn theoretisch zumindest ausreichend gewesen. Mit dem Ziel der Kostenersparnis wurde die Verpflegung jedoch höchst einseitig zusammengestellt, sodass Fleisch- und Milchprodukte nur in verschwindend geringen Mengen zur Verfügung standen. Das von Werner Schäfer aus Oranienburg übernommene Kapo-System aus Barackenältesten und Funktionshäftlingen, den sogenannten ›Kommandierten‹, für das bevorzugt ›kriminelle‹ Häftlinge eingesetzt wurden, führte zudem zur Vorteilnahme durch Häftlingscliquen und wiederholt zu Engpässen in der Versorgung der normalen Gefangenen.145 Das Ineinandergreifen der verschiedenen Belastungsfaktoren verdeutlicht ein kurzer Eintrag, den Wilhelm Henze nicht einmal eine Woche nach seiner Ankunft im Lager Brual-Rhede notierte: »Schon mehrere Male träumte ich von Esswaren. Ich bin fasst [sic!] immer hungrig. Die Arbeit im Straßenbau ist sehr schwer. Ich muß mich fasst immer bücken. Dadurch habe ich wieder heftige Magenschmerzen.«146 Die Schikanen der SA-Männer waren auf die Verkettung dieser weiteren Belastungsfaktoren abgestimmt. So bestand die eigentliche Belastung von Strafappellen und ähnlichen Maßnahmen darin, dass sie den Gefangenen die nötige Erholungsphase nach der körperlich harten Arbeit im Moor verkürzten. Zudem verzögerte sich dadurch auch die Essensausgabe: Verpflegung gab es meistens nach unserer Ankunft im Lager nicht gleich. Je nachdem unsere Aufseher gesonnen waren, wurden wir durch allerhand willkürlichen Innendienst ›beschäftigt‹, sodass wir nicht zum Essen kamen. […] Zum Genuss der Ruhezeit kamen wir durch die Willkür der Aufsichtsbeamten fast nie. Je nachdem unsere Wärter gesonnen waren, besonders wenn sie sich betrunken hatten, war es mit der Ruhe nichts. Es wurden immer neue Methoden erfunden, die unter der Maske des Dienstes uns von Ruhe und Essen abhielten. Dadurch gingen bei vielen Menschen die Nerven kaputt.147 Wiederholt gab es Phasen, in denen die ›Putz- und Flickstunden‹ über mehrere Wochen um 1 Uhr nachts abgehalten wurden. Da die Gefangenen bereits wenige Stunden später geweckt wurden – im Sommer um 4:30 Uhr, im Winter um 5:00

Vgl. ausführlich ebd., S. 80–134. Eine eindrückliche Schilderung davon bietet Schröder: Station, S. 114–120. Zur Installation des Kapo-Systems durch Schäfer vgl. Anklage gegen Werner Schäfer 1950, in: KW III, S. 2505–2550, hier: 2514. 146 Henze: Hochverräter, S. 207. 147 Ludwig M., 13. 11. 1947, in: Emsland-Sache Zeugenvernehmungsprotokolle, Bd. III, Bl. 1–320, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218. 144 145

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192 Uhr –, bedeuteten diese nächtlichen Unterbrechungen für die Häftlinge de facto Schlafentzug.148 Auch die Unterversorgung im medizinischen Bereich wurde von den SA-Männern nach eigenem Gutdünken zur ›Erziehung‹ der Häftlinge eingesetzt. Obwohl nominell in jedem Lager ein eigener (ziviler) Arzt arbeiten sollte, waren »wegen Schwierigkeiten in der Gewinnung solcher Kräfte« selten alle dieser Stellen besetzt.149 Ohnehin wurde den Gefangenen der Gang zum Lagerarzt oft verweigert. Häftlinge, die sich krank meldeten – oftmals aufgrund von Misshandlungen oder Krankheiten, die sie sich durch die mangelnde Ausstattung mit wetterfester Kleidung zugezogen hatten –, wurden dennoch zu Arbeitskommandos eingeteilt, da ihnen Sanitätswachtmeister oder Kommandoführer nach eigenem Gutdünken attestierten, nur »faulkrank« zu sein, sich also vor der Arbeit ›drücken‹ zu wollen.150 Ein Sanitätswachtmeister, der die Verbände der Gefangenen roh abriss, meinte Heinz Hentschke zufolge: »Der Führer hat noch viel vor mit jedem Deutschen, auch mit dir … Aber dabei benötigt er keine Waschlappen, wie Du noch einer bist.«151 Deutlich äußerte der SA-Mann hier eine Sichtweise, nach der die Gefangenen vermeintlich ›weich‹ und »von schwächlicher Natur waren«152 und nicht dem hegemonialen Modell einer soldatischen Männlichkeit entsprachen.153 Dieser Erziehungsgedanke der ›Moor-SA‹, der sich an ihrem kollektiven Selbstverständnis als männlich-militärischer Gemeinschaft orientierte, zeigte sich sowohl in den willkürlichen, kollektiven Maßnahmen zur Einhaltung unerfüllbarer Disziplinvorgaben als auch in der gezielten Misshandlung einzelner Strafgefangener.154 Gaben Häftlinge Fieber als Grund ihrer Arbeitsunfähigkeit an, wurden sie von Wachmännern dennoch zur Arbeit eingesetzt, mit der Begründung, dass Fieber »erst von 40° ab« gelte.155 Oft kam es infolgedessen zu weiteren Misshandlungen. Der Gefangene Konrad D., der im Lager Walchum morgens von einem Sanitätswachtmeister an der Lazarettbaracke abgewiesen worden war, krümmte sich bei

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Vgl. Urteil Kaiser u. a.; KW II, S. 2146 u. KW III, S. 2514. Vgl. Beamte etc. Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342. Eine ausführliche Schilderung sowohl dieser Aufnahmepraxis als auch der ›Versorgung‹ im Lazarett gibt Heinrich K., 2. 7. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218. Hentschke: Moor, S. 58. Urteil Schäfer 1950, S. 2691. Vgl. Frank Werner: »Hart müssen wir hier draußen sein.« Soldatische Männlichkeit im Vernichtungskrieg 1941–1944, in: GG 34 (2008), S. 5–40, hier: 8–13. Auf die soldatischen Einflüsse auf die Gewaltpraxis von SA und SS verweist Hermann Kaienburg: KZ-Terror und Kriegsgewalt. Zur Bedeutung von soldatischen Traditionen beim Aufbau von SS-Eliteverbänden, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt, S. 37–49. Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342. Durchsetzung

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Abb. 13 : »Marsch zur Arbeit«. Arbeitskommando und SA-Männer im Moor, ca. 1935–1939.

der Arbeit vor Schmerzen und erbrach sich mehrfach. Als der Kommandoführer – D. nur unter dem Spitznahmen ›Leo‹ bekannt – dies bemerkte, befahl er ihm mit den Worten »Du bist ja viel zu dick angezogen, so kannst Du nicht arbeiten. Da kann ja gar keine Luft an den Körper«,156 sich im kühlen Frühjahr bis aufs Hemd auszuziehen und weiterzuarbeiten. Auch wenn sich Häftlinge im Winter vor der Kälte zu schützen versuchten, konnte dies Misshandlungen zur Folge haben. Heinrich Lange etwa, Wachtmeister im Lager Börgermoor und unter den Gefangenen als ›Schinderhannes‹ berüchtigt, befahl Häftlingen, die verbotenerweise Handschuhe angezogen hatten, diese »voll Schnee zu füllen oder ins Wasser zu stecken und dann wieder anzuziehen und anzubehalten.«157 Die Arbeitsstellen im Moor waren ohnehin Schauplatz der gröbsten Formen von Gefangenenmisshandlung. Für die diensthabenden SA-Wachen war hier die Kontrolloption in Form von Lagerleiter, Vorgesetzten, aber auch anderen Wachmännern im Vergleich zum Lager selbst deutlich herabgesenkt. Einzelne SA-Männer waren dabei durchaus auch bereit, Zugeständnisse an die Häftlinge zu machen. Wilhelm Henze berichtet etwa von einem Posten, der ein kleineres Arbeitskom156 157

Konrad D., 20. 10. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221. Urteil Kaiser u. a.

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194 mando allein bewachen musste und zu den Gefangenen sagte: »Nun macht eure Arbeit, damit ich nicht auffalle und nicht zu krakeelen brauche. Stellt euch nicht aufrecht hin, immer bücken, auch wenn Ihr nichts auf die Schaufel nehmt.«158 Weitaus häufiger kam es aber zu einer weiteren Entgrenzung der Gewalt. Bei neu eingelieferten Häftlingskontingenten suchten die SA-Männer einen beliebigen Vorwand – eine ungeübte Arbeitshaltung, Gespräche zwischen Häftlingen, Meldungen durch die ›Kneiste‹ oder die Antwort auf die Frage nach dem Haftgrund –, um den ausgewählten Gefangenen mit einer ersten Serie von Schlägen und Tritten einzudecken. Daran schlossen sich meist ritualisierte Formen der Misshandlung an, wie etwa das ›Karre fahren‹: Nachdem der Student von den Posten kreuz und quer durch das Heidekraut gehetzt wurde, mußte er an die Karre und Moordreck fahren. […] Eduard mußte eine besonders große und schwere Karre, mit extra schmalem Rad, übervoll mit Dreck laden. Kulen-Paule [i. e. Kommandoführer Buchowski, D. R.] und der Posten standen dabei und trieben mit Stockschlägen und Fußtritten zur Eile an. […] Eduard mühte sich ab, die volle Karre über die weiche, locker gekuhlte Sandfläche zu schieben. Mehrfach brach er zusammen. Doch immer und immer wieder wurde er hochgeprügelt.159 Nach solch einem »Tanz über die Moorgräben« rannten einzelne Häftlinge über die Postenkette, um die Schikanen durch die eigene Erschießung zu beenden.160 Ein auf den ersten Blick weniger brutales, letztlich aber deutlich perfideres Gewaltritual war das ›Moordenkmal‹, das Gefangene auf Befehl der SA-Männer ›stellen‹ mussten: Auf […] aufeinandergeschichtete Torfsoden musste sich der betreffende Gefangene stellen und einen nassen Torfsoden auf den Kopf nehmen, von dem ihm das Wasser am Körper herunterrann. Der Gefangene hatte sich mit dem Gesicht gegen den Wind zu stellen und in dieser Stellung unter Umständen mehrere Stunden auszuharren.161 Aus Sicht der SA-Männer war die gewaltsame Überformung der Haftbedingungen eine logische Weiterentwicklung der vom Justizministerium geforderten har-

Henze: Hochverräter, S. 60. Zit. n. Suhr, Emslandlager, S. 88. 160 Archiv AK DIZ Erinnerungsberichte, Interview Ernst Walsken 1982. Vgl. auch Knoch: Emslandlager, S. 546. 161 Urteil Kaiser u. a. 158 159

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195 ten Haftbedingungen und der »Erziehung durch Arbeit und zur Arbeit«.162 Da die Ausgestaltung der realen Haftbedingungen den SA-Männern de facto selbst überlassen blieb und die Justizverwaltung ihnen weder Handlungsoptionen in der Auseinandersetzung mit den zu ›Gemeinschaftsfremden‹ erklärten Häftlingen aufzeigte noch innere Kontrollmechanismen zur Selbstregulierung installierte, ist es kaum verwunderlich, dass sie dabei in Gewaltmuster verfielen, die vielfach aus anderen ›frühen Lagern‹ bekannt waren beziehungsweise auch direkt aus diesen übernommen wurden. Dass die Wachmänner mit ihrer Tätigkeit tatsächlich einen volksgemeinschaftlichen Erziehungsanspruch verfolgten, verdeutlichen unter anderem Aussagen, die sie im Kontext der Misshandlungen tätigten. In einer von Heinz Hentschke berichteten Episode waren die Häftlinge bereits ins Lager zurückgekehrt. Während die alteingesessenen Häftlinge schon weggetreten waren, mussten die Neuangekommenen aufgrund von ›Minderleistung‹ noch auf der Lagerstraße ausharren: Dann brachen Brüllen und Schlagen mit einer Wucht über uns herein wie ein Unwetter […]. Wir wurden gehetzt und geprügelt von diesen schneidigen und ausgeruhten Angehörigen der Moor-SA, bis wiederum der größte Teil von uns am Boden lag, bis die Schläger keine oder nur noch zerbrochene Gummiknüppel in den Händen hielten. […] Nahezu eine Stunde dauerte der ›Lehrgang zur Erziehung fleißiger Staatsbürger für das 3. Reich‹, wie der Platzmeister diese Knüppelei bezeichnete.163 Besonders gezielt richtete sich die Gewalt gegen Häftlinge, die aus politischen Gründen verurteilt worden waren. Der ehemalige Strafgefangene Hermann S. berichtet etwa, dass ihn Wachtmeister Heinrich Lange während der Moorarbeit nach seinem Haftgrund fragte: Als ich ihm sagte, wegen Hochverrat, stand er langsam auf und knallte mir eine Ohrfeige, daß mir Hören und Sehen verging. Dann ging es los, rechts eine, links eine, bis ich umfiel. Als ich wieder aufgestanden war, ging es erneut los. Zum Schluß bekam ich noch einen mit dem Stock übers Kreuz und konnte gehen.164 Die zielgerichtete Gewalt gegen politische Gefangene mochte damit zusammenhängen, dass die SA-Männer hier ihre Feindbilder aus der ›Kampfzeit‹ wiedererkannten. Im Gegensatz zu den großen Kontingenten von Zuchthausgefangenen, Marx: Gefangenenarbeit, S. 364. Hentschke: Moor, S. 40. 164 Hermann S., 20. 4. 1948, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221, S. 401. Vgl. auch Karl I., 15. 7. 1949, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1223. 162 163

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196 die überwiegend aus ›Gewohnheitsverbrechern‹ und ›Berufsverbrechern‹ bestanden, wurde den politischen Gefangenen aber auch eine ›Besserungsfähigkeit‹ attestiert, was ebenfalls zu ihrer – hier im doppelten Sinne zu verstehenden – ›Disziplinierung‹ führen konnte.

Habitus der Härte Neben dem politisch motivierten Erziehungsanspruch mochten auch Monotonie und Abgeschiedenheit zur Gewalteskalation beigetragen haben. In ihren Selbstzeugnissen verweisen ehemalige SA-Männer wiederholt auf die ›Härte‹, die ihr Dienst in der ›Einsamkeit‹ im Moor bedeutet habe.165 Härte gegen sich selbst und andere diente Walter Erhard auch beinahe 60 Jahre nach den Geschehnissen als Legitimationsgrund für sein eigenes Gewalthandeln, das er in einer Episode seines Interviews als angeblich singuläres Ereignis beschreibt: »Einmal, muss ich ganz ehrlich zugeben, ist mir auch die Hand ausgerutscht.« Er hatte die Akte eines ›aufsässigen‹ Häftlings eingesehen und als dieser erneut ›frech‹ wurde, »hab ich ihm einen Schlag auf die Hand versetzt mit nem Gummiknüppel«.166 Diese Darstellung ist zweifelsohne verharmlosend, da Erhard kurz nach diesen Geschehnissen am 4. September 1934 in Untersuchungshaft kam.167 Seiner eigenen Erzählung zufolge wurde er nach drei Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen – ausgerechnet wegen der Fürsprache des misshandelten Gefangenen: Der war nämlich- der hatte- war er zum zweiten Mal im Zuchthaus- seine zweite Zuchthausstrafe. Weshalb? Weil er seine eigene Tochter geschwängert hatte. Deswegen is mir die Hand bei dem ausgerutscht. Und der hat für mich gut ausgesagt. Da sagt der Staatsanwalt zu mir: ›Der sagte wörtlich zu mir wenn meine erste Strafe so gewesen wäre, dann wär ich das zweite Mal nicht straffällig geworden.‹ Also hat das schon was auf sich gehabt, wir mussten schon manchmal hart sein. Das ging nicht anders.168 Tatsächlich wurde Erhard und zwei weiteren Wachmännern am 8. September fristlos gekündigt. Erst nachdem der Staatsanwalt die Ermittlungen wenig später ein-

Vgl. Int WE, S. 9; Unterlagen Bernhard W., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I u. Entnazifizierungsakte Anton G., NLA Hannover Nds 171 Hannover Nr. 27968. 166 Int WE, S. 11. 167 Dieser Vorfall wird im Folgenden noch näher beschrieben. Da Erhard gemeinsam mit zwei weiteren Wachmännern verhaftet wurde, handelte es sich offensichtlich um eine exzessive gemeinschaftliche Gewaltausübung. Vgl. Angelegenheiten I. 168 Int WE, S. 11. 165

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197 gestellt und Werner Schäfer sich persönlich bei der Justizverwaltung für die drei SA-Männer eingesetzt hatte, wurden diese wieder im Wachdienst eingestellt.169 Dies kaschiert Erhard in seiner Erzählung mit den positiven Einschätzungen des Staatsanwaltes und des von ihm Misshandelten, die beide sein Verhalten gutheißen. Der betroffene Strafgefangene wird nicht als das Opfer einer Gewalthandlung dargestellt, sondern zum Leumund für das eigene Vorgehen verkehrt. Dessen Kennzeichnung als Sexualstraftäter soll dabei eine universelle Legitimität der Bestrafung  – auch jenseits des nationalsozialistischen Gesellschaftszusammenhangs – herstellen, bei der die nicht näher ausgeführte ›harte‹ Behandlung der Gefangenen rechtmäßig erscheinen soll. Das Appellieren an »weit jenseits der NS-Ideologie geteilte Gesellschaftsauffassungen, Weltbilder und eine vermeintliche Notwendigkeit ›disziplinierender‹ Maßnahmen« bildet so den »Legitimationskern einer entgrenzten Gewalt«.170 Denn der eigentliche Adressat ist hier der Interviewpartner, der die Handlung des Wachmanns nachträglich gutheißen soll. Der ehemalige Wachmann selbst sah also noch Anfang der 1990er Jahre eine ›Disziplinierung‹ durch Schlagen als probates und erfolgreiches ›Erziehungsmittel‹ an. Dieses Selbstbild der SA-Männer, nach dem ihre Gewalt als Mittel einer Erziehung zu Disziplin und ›Härte‹ legitim war, zeigt sich in kodierter Form auch in den Aussagen der Wachmänner vor Gericht. So meinte Harm Bleeker, er sei als stellvertretender Platzmeister im Lager II »streng« gewesen, ebenso sein Vorgesetzter Willi Punke.171 Theodor Hündchen, den Häftlingen in Aschendorfermoor meist nur unter dem Spitznamen »Harry Piel« bekannt, behauptete, die Gefangenen hätten durch ihn eine »strenge aber gerechte Behandlung« erfahren.172 Auch Hermann Kaiser war gemäß seiner eigenen Aussage »streng und gerecht«, Paul Loss hingegen »stets gerecht«.173 Angesichts der Vielzahl dokumentierter Misshandlungsvorwürfe gegen jeden einzelnen dieser SA-Männer erscheinen derartige Selbsteinschätzungen als Chiffre dafür, dass sie Gefangene geschlagen hatten, dies jedoch weiterhin als gerechtfertigt ansahen. Einzig Kommandoführer Heinrich Lange, Karl Schröder zufolge »ein großer Trinker und als solcher […] geneigt, überraschend die Wahrheit herauszubrüllen«,174 gab offen an, er habe »immer hart durchgegriffen und auch Gefangene mit der Hand geschlagen.« Allerdings empfand auch er das eigene Handeln als legitim, da er nur geschlagen habe, »wenn ein Grund vorgelegen habe«.175

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Vgl. KmSGL, 20. 9. 1934, in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Knoch: Kampf, S. 63. Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342. Vernehmung Theodor Hündchen, 2. 8. 1950, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 339. Urteil Kaiser u. a. Schröder: Station, S. 132. Beide Zitate: Urteil Kaiser u. a.

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198 Härte war als männlicher Habitus integraler Bestandteil des im Nationalsozialismus hegemonialen Konzepts soldatischer Männlichkeit.176 Durch die wiederkehrende Betonung des eigenen ›harten Loses‹ wurde ein eigener Opferstatus bestimmt – in diesem Sinne lebten die SA-Männer Härte. Dadurch erschien auch ihr Einsatz von Härte gegen die Gefangenen, um sie nach dem hegemonialen Modell zu ›erziehen‹, gerechtfertigt. Die Selbstzuschreibung von männlicher Härte im Einsatz kollektiver Gewalt gegen andere ist dabei ein breiteres Phänomen, das auch bei anderen nationalsozialistischen Tätergruppen zu beobachten ist.177 Frank Werner sieht im Habitus der Härte den Ausdruck eines weithin anschlussfähigen soldatischen Männlichkeitsentwurfes. Für die deutschen Soldaten im Vernichtungskrieg entwickelte dieser »weniger in der inhaltlich-rassistischen Zuspitzung des Konzepts als in seiner massiven Mobilisierung« besonderen Einfluss: Interpretierten die Soldaten den Vernichtungskrieg als Herausforderung der Männlichkeit, partizipierten sie aus eigenem Antrieb, verinnerlichten weltanschauliche Imperative als individuelle Verhaltensziele und verliehen der Unmoral moralischen Sinn: Skrupellosigkeit konnte als mannhafte Standhaftigkeit, Brutalität als Ausdruck von Entschlossenheit erfahren werden.178 Werner verweist hier auf moralische Verschiebungen über das Leitbild einer soldatischen Männlichkeit, die die Ausübung entgrenzter Gewalt ermöglichten. Herkömmliche Moralvorstellungen wurden vom Habitus der Härte übertüncht, ohne jedoch gänzlich außer Kraft gesetzt zu werden. Für die ›Moor-SA‹ lässt sich dies etwa daran ablesen, dass misshandelnde SA-Männer sich wenig später herzlich im Umgang mit ihrer Familie zeigten: »derselbe Mann, der eben einen wehrlosen Menschen schlug, war nun liebevoller Gatte und Familienvater, der sein Kind auf

Vgl. Kühne: Kameradschaft, S. 97–110; George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a. M. 1997, S. 203–233 sowie früh schon Hans Buchheim: Die SS – das Herrschaftsinstrument. Befehl und Gehorsam, Freiburg i. B. 1965, S. 295–314. 177 So beschreibt Christopher Dillon »Härte gegen sich selbst« auch für SS-Wachmänner als Leitbild (Dillon: Dachau, S. 205). Vgl. aufgrund der analytischen Einbindung von Männlichkeitsvorstellungen insbesondere Frank Werner: »Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser.« Soldatische Männlichkeit im deutschen Vernichtungskrieg 1941–1944, in: Anette Dietrich / Ljiljana Heise (Hg.): Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis, Frankfurt a. M. 2013, S. 45–63 und ders.: Hart; aber auch schon Browning: Männer. 178 Werner: Hart, S. 38. 176

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Abb. 14 : SA-Männer aus dem Lager Aschendorfermoor beim Schwimmbadbesuch, undatiert.

der Straße abherzte.«179 Im dienstlichen Kontext aber traten traditionelle Moralvorstellungen in den Hintergrund. Nur unter Ausklammerung von Empathie und humanitären Moralvorstellungen konnten die SA-Männer zu dem Schluss kommen, die von ihnen oftmals beklagte vorgebliche ›Härte‹ ihres Wachdienstes sei mit ihrer gewaltsamen Härte gegen die Strafgefangenen zu vergleichen. Dafür, dass die Gewalt gegen Häftlinge nicht fortwährend eskalierte, sondern zyklisch auch wieder zurückging, waren verschiedene Mechanismen verantwortlich. Da sich die ›Moor-SA‹ als Träger der Kultivierungsleistungen stilisierte und SA-Männer, für die das Siedlungsversprechen galt, auch eigene Interessen am Fortschreiten der Arbeiten hatten, befanden sich die Wachmänner auf einer andauernden Gratwanderung zwischen gewaltsamer Repression und Arbeitseffizienz der Häftlinge. So wurden manche Gewaltexzesse nach einiger Dauer von anderen SA-Männern beendet. Der oftmals selbst gewalttätige Kommandoführer Loss trat bei einer mehrere Stunden andauernden Misshandlungsorgie seines vorgesetzten 179

Hermann S., 20. 4. 1948, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221.

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200 Oberwachtmeisters Hermann Kaiser auf diesen zu und forderte ihn auf, »mit der ›Schinderei‹ endlich aufzuhören.«180 Das Abklingen der entgrenzten Gewalt hatte den Hintergrund, dass die Häftlinge nach einiger Zeit ›gelernt‹ hatten, sich der Lagerhierarchie zumindest äußerlich zu unterwerfen und nun im Sinne des Zwangsarbeitsprojekts zu ›funktionieren‹. Insofern dürften sich die SA-Männer in ihrem Erziehungsanspruch bestätigt gesehen haben. Um diesen Status aufrechtzuerhalten, musste anschließend aber ein Residualbestand der entgrenzten Gewalt abrufbar bleiben. Als Drohkulisse, die den Gefangenen das Gewaltpotential andauernd vergegenwärtigte, fungierte dabei die sogenannte Strafkompanie. Die Einführung von Strafkompanien ging auf einen Kommandanturbefehl Werner Schäfers zurück. Vorgeblich sollte sie dazu dienen, dass zur Bestrafung angeblich arbeitsscheuer Häftlinge und Minderleister eine Maßnahme zur Verfügung stand, die über den in regulären Strafanstalten üblichen Arrest hinausging. Das Argument, dass Gefangene bewusst eine Arreststrafe provozieren würden, um dem Arbeitseinsatz zu entgehen, entpuppte sich als Schein, da auch die Arrestanten zur Zwangsarbeit herangezogen wurden.181 Die Zuteilung zur Strafkompanie, in der die Gefangenen bei verminderter Kost ein höheres Arbeitspensum zu erfüllen hatten, konnte zudem erneut als ›Erziehungsmaßnahme‹ dienen. Ein ehemaliger Häftling gab beispielsweise an, er sei »auf Grund der Tatsache, dass man in mir als Brillenträger einen Intellektuellen sah«, der Strafkompanie zugewiesen worden.182 Insbesondere waren die auch durch spezielle Kleidung gekennzeichneten Gefangenen hier auf Dauer der entgrenzten Form der Gewalt ausgesetzt. Es kam fortwährend zu Misshandlungen durch SA-Männer, und die Strafkompanie hatte grundsätzlich am Lagersport teilzunehmen, auch wenn dieser für ein anderes Arbeitskommando angesetzt wurde.183 Ähnliche Haftbedingungen gab es auch in der ›U. A.-Kolonne‹. Diese Abteilung ›unter Aufsicht‹ stehender Gefangener, bei denen angeblich Fluchtgefahr bestand, wurde im Allgemeinen nur in der Nähe des Lagers eingesetzt. Vorgeblich als Sicherungsmaßnahme eingerichtet, entwickelte auch sie sich bald zur kollektiven Strafeinrichtung.184 Gefangene der Strafkompanie und U. A.-Kolonne wurden unter anderem regelmäßig zur Säuberung der Latrinen eingeteilt und daUrteil Kaiser u. a. Vgl. KW III, S. 2669. Zudem waren die Arrestbaracken mit ihren Einzelzellen bevorzugter Ort weiterer Misshandlungen. Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 105–107. 182 Georg B., 5. 1. 1951, in: NLA Osnabrück, Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 388. 183 Vgl. KW III, S. 2518 u. Suhr: Emslandlager, S. 107 f. 184 Vgl. ebd u. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1223. Tatsächlich ergibt sich aus den Akten und Häftlingsberichten keine trennscharfe Unterscheidung zwischen Strafkompanie und ›U. A.-Kolonne‹. Strafkompanien bestanden anscheinend deutlich häufiger und länger. Eine parallele Existenz beider Einrichtungen war hingegen ein Sonderfall. Letztlich scheint es von den Präferenzen des Lagerleiters und der Wachmannschaft abhängig 180 181

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201 bei oftmals gezwungen, die Arbeit in den Latrinen stehend und ohne die vorgesehenen Hilfsmittel zu verrichten. Von Wachmännern wurde dieses ›Jauchekommando‹ bald hämisch als »Ode-Kolonnje« bezeichnet.185 Allein die Androhung, in die Strafkompanie oder die ›U. A.‹ versetzt zu werden, löste daher bei Gefangenen schiere Angstzustände aus.186 Nicht jeder SA-Wachmann im Emsland beteiligte sich an den Gefangenenmisshandlungen. Vereinzelt geben Häftlingsberichte Auskunft über SA-Männer, die anscheinend genug moralisches Rückgrat besaßen, um sich auf Dauer der Gewaltausübung zu entziehen. So stellt Karl Schröder prototypisch zwei Wachleute gegenüber: einerseits der sadistische ›Schinderhannes‹ – dabei handelt es sich um den bereits erwähnten Wachtmeister Heinrich Lange –, der an anderer Stelle als »groß, bärenkräftig mit ein paar Händen wie Kohlenschaufeln« und »wohl die Person, die am brutalsten wütete«,187 beschrieben wird: »Wo Härte und Rücksichtslosigkeit, wo Willkür und persönliche Rache, wo Blut und blanker Mord triumphieren, dort taucht die Figur des Hannes auf, die Reitgerte gegen die Stiefel klatschend, mit Löwenstimme den Platz überbrüllend.«188 Das Gegenstück dazu bildet der pedantische ›Schulmeister Peters‹,189 der übermäßig auf Ordnung bedacht war, dabei aber nicht misshandelte: Mit einer Zähigkeit ohne gleichen nahm er sich jedes einzelnen an, ihm die richtige Art der Arbeit zu zeigen. Die Arbeit ging ihn gar nichts an. Er war ja Kommandoführer und hatte nur für Bewachung zu sorgen. Die kümmerte ihn aber herzlich wenig. Den ganzen Tag stolzierte er von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, griff selber zum Spaten, die Führung zu zeigen, war immer dabei, das beste System rationeller Arbeit herauszufinden.190 Derartiges Verhalten bildete jedoch die Ausnahme. Im Prozess gegen Werner Schäfer von 1950 bekundete der Staatsanwalt: »vollständig zurückgehalten von Misshandlungen haben sich nur wenige Wachmannschaften«191 – eine Einschätzung,

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gewesen zu sein, ob diese nochmals verschärfte Form der Lagerhaft als Strafkompanie oder U. A.-Kolonne betitelt wurde. Int WE, S. 18. Alternativ findet sich auch die Bezeichnung ›Kolonne 4711‹ als Anspielung auf die bekannte Kölnisch-Wasser-Marke (vgl. Hentschke: Moor, S. 55). Vgl. ebd., S. 45–60. Hermann S., 20. 4. 1948, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221. Schröder: Station, S. 132. Zum Zeitpunkt von Schröders Inhaftierung im Lager Börgermoor ist ein Oberwachmann Hepke Peters bekannt, der 1931 der SA beigetreten und im November 1933 Wachmann geworden war. Vgl. BA Berlin R 3001 Nr. 9819. Schröder: Station, S. 132. Anklage gegen Werner Schäfer 1950, in: KW III, S. 2518.

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202 die sich sowohl in den massenhaften Aussagen von Zeugen in Nachkriegsprozessen und Beschreibungen der SA-Männer in Häftlingsberichten widerspiegelt als auch mit generellen Erkenntnissen der Täterforschung übereinstimmt.192 Umgekehrt beförderten bestimmte Personenkonstellationen die Entgrenzung der Gewalt. Die Exzesse während der Moorarbeit ereigneten sich meist im ›großen Kuhlkommando‹, dem mehrere hundert Häftlinge – oftmals die halbe Lagerbelegschaft – angehörten. Auch hier mussten sich nicht unbedingt alle Wachmänner an den Misshandlungen beteiligen, da die meisten als Posten Wache standen. Die eigentlichen Misshandlungen wurden in der Regel vom Kommandoführer – im ›großen Kuhlkommando‹ ein Wachtmeister – und einigen Vertrauten begangen. Zudem musste der zuständige Oberwachtmeister, der die einzelnen Arbeitskolonnen kontrollierte, die entgrenzte Gewalt zumindest tolerieren.193 Damit sich in einem Lager ein durchgehendes Gewaltregime etablierte, war ferner die Mitwirkung des Platzmeisters nötig, da dieser die Aufsicht über das Lagergelände ausübte. Die Schilderungen gewaltaffiner Platzmeister zeigen, wie die Gewalt noch vor dem Ausrücken bei der Einteilung der Arbeitskommandos eingeleitet wurde und sich auch nach deren Rückkehr auf der Lagerstraße oder dem angrenzenden Sportplatz fortsetzte.194 Bei allen Unzulänglichkeiten, die die Nachkriegsprozesse in der Erfassung und Ahndung kollektiver Gewaltausübung und wachmannschaftsinterner Gruppendynamiken aufweisen, geben sie doch allein durch die zum Teil vorgenommene Anklage mehrerer Wachmänner eines Lagers und die daraus resultierenden Überlappungen in den Zeugenaussagen einen Hinweis auf die Ausbildung regelrechter Gewaltcliquen über bestimmte Zeiträume. Im Lager Börgermoor wirkten in dieser Form Oberwachtmeister Kaiser, Platzmeister Dubbel, dessen Nachfolger Friese und Addicks sowie die Kommandoführer Loss, Klemm und Lange zusammen. Für Aschendorfermoor gilt Ähnliches für Platzmeister Willi Punke, seinen Stellvertreter Hermann Köslin, den Kommandoführer und später ebenfalls stellvertretenden Platzmeister Harm Bleeker sowie wechselnde Kommandoführer, unter anderem Karl Steil und Willi Wüster. Hinweise auf ähnliche Gewaltcliquen gibt es für Neusustrum und Esterwegen, während sie für Brual-Rhede und Oberlangen fehlen.195 Auch wenn einzelne Aussagen ehemaliger Gefangener darauf hinweisen, dass die Verhältnisse in diesen Lagern etwas besser gewesen sind,196 werden zum einen auch dort Misshandlungen durch Vgl. Browning: Männer, S. 223 f. und Welzer: Täter. Vgl. Urteil Kaiser u. a. und KW III, S. 2518 f. 194 Vgl. Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342 und KW III, S. 2518–2520. 195 Vgl. vor allem die zusammengetragenen Häftlingsaussagen in NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218–1223 sowie den Bestand zu Nachkriegsverfahren gegen Angehörige der Wachmannschaften NLA Osnabrück Rep 945. 196 Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Nr. 46. 192 193

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203 Wachmänner bekundet. Zum anderen bedeutet das Fehlen entsprechender Dokumente nicht automatisch, dass es nicht auch in den Lagern III und VI zumindest zwischenzeitlich entsprechende Konstellationen gab.

Vertuschung von Gewalt als Gemeinschaftskatalysator Durch das Besetzen zentraler Funktionsstellen im Lager hatten diese Gewaltcliquen nicht nur den Häftlingen, sondern auch einem Großteil der Lagerwachmannschaft gegenüber eine umfassende Machtposition. Dennoch waren sie auf mehr als die stillschweigende Duldung ihrer SA-Kameraden angewiesen. Denn die Strafgefangenen hatten aufgrund ihrer gerichtlichen Verurteilung die Möglichkeit, bei den Justizbehörden Beschwerde gegen ihre Behandlung einzulegen.197 Im Gegensatz zum System der Konzentrationslager, das sich explizit außerhalb des herkömmlichen Rechtsraumes befand und bei dem die vollständige Entrechtung der Gefangenen – von Hannah Arendt als »Tötung der juristischen Person«198 bezeichnet – den ersten Schritt der Lagerhaft darstellte, sollten die Strafgefangenenlager explizit Teil des regulären Strafvollzugs sein. Damit sollte auch die Integrität der juristischen Person – zumindest in der Theorie – gewahrt bleiben. Trotzdem hatten die Strafgefangenenlager eine Sonderstellung: Die Kommandanturbefehle, die Werner Schäfer erließ, überschritten die Grenzen der Strafvollzugsordnung. Jeder einzelne Kommandanturbefehl zur Einführung von Strafkompanie, Lagersport und verschärften Arreststrafen wurde allerdings durch seine Vorgesetzten im Ministerium nachträglich abgesegnet.199 Der Katalog von Disziplinarmaßnahmen gegen Strafgefangene bewegte sich damit zwischen den Extremen von anhaltender räumlicher Isolation und Kollektivstrafen, die durch die Ermangelung weiterer Zeugen beziehungsweise die Anonymität kollektiver Gewalt gleichermaßen den Nachweis individueller Misshandlungen erschwerten. Die Gewaltpraxis der SA-Männer ging aber über diese erweiterten DiszipliDie dahingehenden Rechte von Strafgefangenen wurden zwar während der nationalsozialistischen Herrschaft zunehmend eingeschränkt, waren jedoch durchgehend vorhanden. Vgl. Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen. Vom 7. Juni 1923, Reichsgesetzblatt 1923, Teil II, Nr. 23, § 147–153; Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsstrafen verbunden sind. Vom 17. Mai 1934, Reichsgesetzblatt 1934, Teil 1, Nr. 53, § 147–153; Vereinheitlichung der Dienst- und Vollzugsvorschriften für den Strafvollzug im Bereich der Reichsjustizverwaltung (Strafvollzugsordnung ). Allgemeine Verfügung des RJM vom 22. 7. 1940, § 196–200, abgedruckt in: KW II, S. 2234, 2246 f. u. 2303 f. 198 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München / Zürich 1986 [1955], S. 687. 199 Vgl. KW III, S. 2614–2616. 197

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204 narbefugnisse weit hinaus. Durch die Öffentlichkeitsdrohung, die das Beschwerderecht der Häftlinge bedeutete, entstand ein interner Kameradschaftsdruck zur Vertuschung von Gewalttaten. Zum einen führte dies zur andauernden, gemeinschaftlichen Einschüchterung von Häftlingen, damit sie entsprechende Vorfälle nicht meldeten.200 In einem Nachkriegsprozess stellte der Richter fest: »Das Ergebnis einer in einzelnen Fällen eingereichten Beschwerde war im allgemeinen, daß der Beschwerdeführer dann dem Unmut der Aufsichtspersonen in besonderem Maße ausgesetzt war.«201 Da manche Häftlinge solche Beschwerden jedoch nach der Rückkehr in ihre Mutteranstalten vorbrachten, entwickelte sich zum anderen ein immer wieder gleiches Muster der Schuldabwehr zur Verdeckung von Missständen, bei dem andere SA-Männer den Beschuldigten generell ein einwandfreies Verhalten bescheinigten. Im Todesfall des Strafgefangenen Wendling unmittelbar nach der Ankunft der ersten Strafgefangenen hatten die befragten Wachmänner ihre Schilderung des Tathergangs noch mit charakterlichen Einschätzungen des Gefangenen vermischt. So begründete Platzmeister Eickmann das Schlagen des Häftlings auch damit, dass dieser seine »autoritative Stellung in den Augen der anderen Mitgefangenen gefährdete«.202 In späteren Verfahren verfeinerten die beschuldigten SA-Männer ihre Entlastungsstrategie: Die Schilderung des Tathergangs und eine Charakterisierung der Häftlinge wurden nun getrennt vorgenommen, Einschätzungen zu unbeteiligten Gefangenen unterblieben vollständig. Das eigene Verhalten wurde so dargestellt, dass es sich wieder im Rahmen der erlaubten disziplinarischen Gewalt befand. Fälle tödlicher Gewaltausübung wurden als Unfall, Notwehr oder Verhinderung eines Fluchtversuchs (nach angeblichen Warnschüssen) geschildert. Lautete der Vorwurf auf (nicht tödliche) Gefangenenmisshandlung, wurde diese wahlweise als notwendige Disziplinierungsmaßnahme oder ebenfalls als Notwehr ausgelegt.203 Charakterisierungen als »Drückeberger und […] ausgesprochener Querulant«204 oder als »einer der aufsässigsten Gefangenen«205 sollten die betroffenen Häftlinge erst nach der Darstellung der Ereignisse diskreditieren. Die Wachmänner profitierten zusätzlich davon, dass sich Schäfer und die Lagerleiter schützend vor sie stellten.206 Dies führte umgekehrt dazu, dass die Wach200 201 202 203 204 205 206

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Vgl. ebd., S. 2521 f. Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342. Ermittlungen gegen Angehörige der Wachmannschaften 1934–1937, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225. Vgl. ebd. und KW III, S. 2387–2404. Aussage eines Halbzugführers vom 4. 9. 1940, in: NLA Osnabrück, Rep 947 Lin I Nr. 633. Karl Dubbel, 2. 7. 1935, in: Ermittlungen gegen Angehörige der Wachmannschaften 1934– 1937, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225. Als am 21. 3. 1935 der Häftling Kurt Rülke in Oberlangen erschossen wurde, meinte Schäfer Durchsetzung

205 mannschaften von einem entsprechenden Verhalten ihrer SA-Führer abhängig waren, wodurch die hierarchischen Bindungen verstärkt wurden. Mit der Entlassung von Lagerleiter Giese hatte Schäfer früh seine Machtkompetenzen verdeutlicht. In seiner weiteren Amtszeit wusste er seine Position dadurch zu stärken, dass er beschuldigte Wachmänner schützte und sich so deren Loyalität sicherte. Dies zeigte sich bereits im September 1934, als das Lager Neusustrum erneuter Schauplatz eines versuchten Einschreitens der Justizbehörden wurde. Die Wachtmeister Kaiser207 und Eickmann sowie der später interviewte Oberwachtmeister Walter Erhard wurden aufgrund ihnen vorgeworfener Häftlingsmisshandlungen von Feldjägern im Lager verhaftet und anschließend fristlos entlassen. Lagerleiter Maue beschwerte sich deshalb und meinte, dass »das Autoritätsgefühl jedes einzelnen Wachmanns hierdurch herabgesetzt« worden sei und »die Disziplin durch die im Lager erfolgte Festnahme bei den Gefangenen ausserordentlich gelitten« habe.208 Nach Schäfers persönlicher Fürsprache beim Justizminister wurden die Wachleute wieder eingestellt.209 Noch Jahre später fühlte sich Walter Erhard seinem Kommandeur verpflichtet. Er bezeichnete ihn als »ordentliche[n], korrekte[n] Mann«210 und meinte zu seinem Interviewpartner bei der Betrachtung eines Fotos von Schäfer: »Gucken Sie den Mann an, können Sie dem was Schlechtes nachsagen, das können Sie nicht«.211 Kurze Zeit später bemängelte Justizrat Hecker vom Justizministerium, dass außer fristloser Entlassung nur Diensterschwerungen möglich seien. Die von ihm implizit geforderte Erweiterung der Sanktionsmöglichkeiten unterblieb jedoch bis 1937, und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft waren spätestens seit dem Jahreswechsel 1934 /35 nur noch halbherzig.212 So musste das Gericht im Dienststrafverfahren gegen Werner Schäfer feststellen, dass in den Jahren 1935–1937 zwar 45

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beispielsweise: »Dem Gruppenführer Meiners kann eine Schuld an dem Unfall nicht beigemessen werden. Es handelt sich vielmehr um einen unglücklichen Zufall, der durch das plötzliche Heranstürmen der Strafgefangenen an die Arbeitsgeräte entstanden ist« (ebd.). Vgl. auch KW III, S. 2391–2404, 2465 f. und 2525–2538. Dabei handelt es sich erneut um Hermann Kaiser, der später als Oberwachtmeister in Börgermoor die ›Kaiserwache‹ einführte. Beide Zitate: Lagerleiter Neusustrum, 5. 9. 1934, in: Angelegenheiten I. KmSGL, 20. 9. 1934, in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Int WE, S. 12. Ebd., S. 16. Auch der ehemalige Wachmann Theodor G. charakterisierte Schäfer in einem Interview als »Respektsperson«, der sich »ordentlich benommen« habe: »Wenn der kam, knallte alles die Hacken zusammen.« (Unterlagen Theodor G., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I). Vgl. Bericht Personal bei den Strafgefangenenlagern im Emsland, in: Beamte etc. Ein Entwurf für eine Dienststrafordnung wurde erst Anfang 1937 erstellt. Vgl. Entwurf einer Dienststrafordnung, in: Angelegenheiten III.

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206 Verfahren wegen Gefangenenmisshandlungen anhängig gewesen seien, aber von diesen »nicht ein einziges auch nur zur Erhebung einer Anklage geführt« habe.213 Das Ineinandergreifen halbherziger Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und der Verdeckungspraxis der SA-Männer zeigte sich in einem Ermittlungsverfahren von Februar bis Mai 1935. Gegenstand der Untersuchung waren erneut Wachmänner aus Neusustrum. Außer einem Wachtmeister und zwei Wachmännern waren diesmal auch Lagerleiter Maue und Oberwachtmeister Elimar Ziegler beteiligt. Am 25. Oktober 1934 waren drei Strafgefangene über die holländische Grenze entkommen, die in unmittelbarer Nähe lag. Am darauffolgenden Tag wurden die Gefangenen der Strafkompanie auf ihrer Arbeitsstelle zu je 50 Kniebeugen gezwungen, während ihre SA-Bewacher neben ihnen in den Boden schossen. Als Maue, Ziegler und weitere Wachmänner aufgrund der Schüsse herbeiliefen, wurden die Häftlinge ins Lager zurückgeführt und nacheinander einzeln in der Kommandantur von Maue und Ziegler durch Schläge und Fußtritte misshandelt.214 Obwohl das folgende Ermittlungsverfahren länger und breiter als üblich angelegt war, verzichtete die Staatsanwaltschaft darauf, die Eigenlogik der SA-Männer zu durchbrechen. Kommandeur Schäfer hatte zuvor bei der Staatsanwaltschaft interveniert und angegeben, dass »Vernehmungen von Strafgefangenen […] zu Gehorsamsverweigerungen geführt« hätten.215 Damit hatte er Anfang 1935 zumindest zwischenzeitlich erreicht, dass die Staatsanwaltschaft bei derartigen Ermittlungen keine Häftlinge zu den Vorkommnissen befragte. Stattdessen sollte »zunächst an Hand etwaiger Krankenblätter und […] der Arrestantenliste festgestellt werden, ob Mißhandlungen oder Züchtigungen bezw. Arreststrafen vermerkt sind.«216 Selbst wenn die SA-Männer ihr eigenes Vorgehen überhaupt als grenzüberschreitend wahrgenommen haben sollten,217 hatten sie dies wohl kaum dokumentiert. Womöglich um Maue aus der Schusslinie zu nehmen, nutzte Schäfer die Fertigstellung des Lagers Aschendorfermoor für eine Rochade der Lagerleiter: Maue wurde nach Börgermoor versetzt, während dessen bisheriger Leiter Schmidt das neue Lager II übernahm. Lagerleiter in Neusustrum wurde Friedrich Zerbst. Dieser nahm seinen Vorgänger gegenüber den Justizbehörden in Schutz und bezeichnete die betroffenen Häftlinge als »Abschaum der gesamten Insassen.«218 Die Staatsanwaltschaft folgte auch dieser Aussage:

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KW III, S. 2468. Vgl. Ermittlungsverfahren gegen Maue u. a. [1935], BA Berlin R 3001 Nr. 100523. Ebd. Oberstaatsanwalt Osnabrück an RJM, 27. 2. 1935, in: ebd. Dafür spricht die Angabe des Häftlings, dass ein Wachmann den Wachtmeister aufforderte, nicht mehr zu schießen, da die Luft »nicht rein« war (ebd.). Oberstaatsanwalt Osnabrück, 6. 6. 1935, in: ebd. Durchsetzung

207 Diese Beurteilung findet eine gewisse Bestätigung darin, daß die Gefangenen zur Zeit der fraglichen Vorfälle disziplinarisch der ›Strafkompanie‹ zugeteilt waren. Ihre Aussagen würden daher nur mit grösster Vorsicht verwertet werden können. Ausserdem ist es verständlich, wenn der Strafkompanie seitens der Wachtmannschaft schärfer entgegengetreten wird als den anderen Gefangenen, da diese Kompanie naturgemäss eine Gefahrenquelle und ein Unruheherd im Lager ist.219 Mit ihrer Interpretation bestrafte die Staatsanwaltschaft die Häftlinge der Strafkompanie praktisch ein zweites Mal, indem sie ihren Angaben von vornherein keine Aussagekraft beimaß. Stattdessen überließ die Staatsanwaltschaft den beteiligten Wachmännern die Deutungshoheit und folgte ihren abenteuerlichen Erklärungen. So hätten die Gefangenen bereits beim Ausrücken das Singen verweigert und seien auf der Arbeitsstelle hin- und hergelaufen. »Um einer drohenden Meuterei von vorneherein entgegenzutreten, sei darauf der Befehl gegeben worden, Kniebeugen zu machen und sich hinzulegen.« Als die Gefangenen dies verweigert und einzelne sogar zu lachen angefangen hätten, habe ein Wachmann die Pistole gezogen und ein anderer geschossen. Es seien »keine Bedenken dagegen zu erheben, dass einer der Wachtmänner einige Schüsse abgab, um Ihnen zu verstehen zu geben, dass nunmehr ernstlich durchgegriffen würde.«220 Maue und Ziegler wiederum behaupteten, niemanden misshandelt zu haben, was aufgrund der ausbleibenden Befragung weiterer Häftlinge auch unwidersprochen blieb. Der Häftling, der Anzeige erstattet hatte, habe Maue gegenüber »eine derart herausfordernde Haltung angenommen«, dass dieser befürchtete, er werde »tätlich werden.« Daraufhin habe ihm Maue »ein paar runter gehauen« und Ziegler ihn hinausgeworfen.221 Die Staatsanwaltschaft glaubte, mangels unbeteiligter Zeugen diesen Widerspruch nicht aufklären zu können, kam aber zu dem Schluss: »Nach der Darstellung der Beschuldigten würde eine strafbare Handlung nicht vorliegen, da die Aufrechterhaltung der Lagerdisziplin ein scharfes Zufassen erfordert und unter Umständen auch eine leichte körperliche Züchtigung rechtfertigt.«222 Nach diesem Vorgehen war es praktisch unmöglich, dienstliche Vergehen der Wachmänner festzustellen. Indem die Angaben der Häftlinge per se als unglaubwürdig dargestellt wurden, hätten sich die Wachmänner selbst belasten müssen, um ein Fehlverhalten nachweisbar zu machen. Das Abgeben von (Warn-)Schüssen, ohne dass ein Fluchtversuch unternommen worden wäre, oder das ›prophylaktische‹ Ohrfeigen eines Gefangenen waren prinzipiell zwar Überschreitungen der Ebd. Beide Zitate: Oberstaatsanwalt an Strafgefangenen S. am 6. 6. 1935, in: ebd. 221 Sämtliche Zitate: ebd. 222 Ermittlungsverfahren gegen Maue u. a. [1935], BA Berlin R 3001 Nr. 100523. 219 220

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208 dienstlichen Kompetenzen. Im Sinne des nationalsozialistischen Rechts wurde das jeweilige Vorgehen aber nachträglich legitimiert, da es dem vorgeblichen Ziel der Herstellung von Ordnung und Disziplin unterzuordnen sei.223 Zum Zusammenhalt der ›Moor-SA‹ trug nicht nur die gemeinsam getragene Gewaltpraxis bei, sondern auch das Verdecken der entgrenzten Gewalt gegenüber den vorgesetzten Stellen. Für längerfristig im Emsland verbleibende Wachmänner der ersten und auch der anschlussfähigen Teile der zweiten Kohorte verstärkte dies ihr – sicherlich vielfach auf Erfahrungen aus der ›Kampfzeit‹ rekurrierendes – Selbstbild, hier weiterhin im Sinne der nationalsozialistischen ›Bewegung‹ zu agieren. Die Bereitschaft, dabei nötigenfalls auch Vorgaben des Justizministeriums – und damit vermeintlich überkommenen staatlichen Strukturen – zuwider zu handeln, entsprang auch einer in der SA vorherrschenden antibürgerlichen Haltung.224

Doppelte Aufstiegsperspektive Die kollektive Gewalt gegen die Häftlinge nahm als geteilte Praxis für die Gemeinschaft der SA-Männer eine wichtige Funktion ein. Jedoch erklärt sie für sich allein gesehen nicht die langfristigen Bindekräfte, die die ›Moor-SA‹ entwickelte. Hierfür sind die utopischen Verheißungen der SA-Gemeinschaft von besonderer Bedeutung.225 Werner Schäfer befand sich seinen Vorgesetzten gegenüber in einer andauernden Forderungshaltung. Immer wieder versuchte er, neue Funktionsstellen bewilligen oder vorhandene Stellen aufwerten zu lassen.226 Mit seinen Anträgen hatte Schäfer mehrfach Erfolg, zumal er in diesem Kontext wiederholt auf den Status vieler Wachmänner als ›alte Kämpfer‹ verwies. Als Versorgungsmaßnahmen für diese langgedienten Angehörigen der ›Bewegung‹ konnten die Beamten im Justizministerium anscheinend deutlich leichter weitere Geldmittel bewilligen.227 Zu-

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Vgl. zu diesem Vorgehen als formaljuristische Grundlage Carl Schmitt: Der Führer schützt das Recht, in: Deutsche Juristen-Zeitung 39 (1934), S. 945–950. Zur juristischen Praxis vgl. Gruchmann: Justiz und Sarah Schädler: ›Justizkrise‹ und ›Justizreform‹ im Nationalsozialismus. Das Reichsjustizministerium unter Reichsjustizminister Thierack (1942–1945), Tübingen 2009. Allgemein beschreibt dies Reichardt: Faschistische Kampfbünde, S. 643–653. In der ›Moor-SA‹ wurden antiintellektuelle Ressentiments in der Behandlung der Gefangenen deutlich. So kam es auf den Arbeitsstellen im Moor zur gezielten Misshandlung von Gefangenen mit bürgerlich-akademischem Hintergrund. Vgl. beispielsweise Suhr: Emslandlager, S. 88. Vgl. hierzu Reinicke / Stern / Zamzow: Suche. Vgl. Angelegenheiten I–III. So überreichte Schäfer beispielsweise im August 1935 eine Liste mit »80 Parteigenossen, Durchsetzung

209 sätzlich versuchte er, für einzelne Wachmänner Gehaltsvorschüsse oder Einmalzahlungen auszuhandeln, wenn diese etwa durch Aufwendungen für die Familie bedürftig erschienen.228 Die bewilligten Stellen konnte Schäfer nach seinen eigenen Präferenzen besetzen. Über Dienstränge bis zum Wachtmeister durfte er komplett eigenständig entscheiden, bei Stellen vom Oberwachtmeister an musste er die Justizverwaltung vorab um Erlaubnis fragen.229 Es ist jedoch kein Fall bekannt, bei dem gegen Schäfers Vorschläge Einwände erhoben worden wären. Auf diese Weise konnte Schäfer also Loyalitätsbeziehungen stärken beziehungsweise unliebsame Wachmänner bei der Stellenvergabe übergehen. Eine ähnliche Funktion kam auch der vermutlich im Zuge der Lagererweiterung 1937 erlassenen Dienststrafordnung zu. Diese räumte dem Kommandeur und den Lagerleitern weitreichende Kompetenzen zur Disziplinierung ihrer Untergebenen ein und ermöglichte ihnen, von vorgesetzten Stellen unabhängig vorzugehen. Gleichzeitig wuchs damit die Abhängigkeit der Wachmänner vom Wohlwollen der Lagerleiter: Die Verjährungsfrist betrug nach der Maßgabe, dass »die Strafe der Verfehlung auf dem Fuße zu folgen« habe, gerade einmal drei Monate.230 Wurden Verfehlungen durch die SA-Führer gedeckt, war ein disziplinarisches Eingreifen der Justizverwaltung wegen dieser Frist kaum wahrscheinlich. Auch auf andere Weise versuchte Schäfer, eine grundsätzliche finanzielle Besserstellung der Wachmannschaften zu erreichen. Den Anlass dazu bot im Sommer 1935 eine erste Abwanderungswelle von Wachmännern, die aufgrund der verbesserten Wirtschaftslage anderswo besser bezahlte Stellen erhielten. So schrieb der Wachmann Wilhelm Windhorst im Juli 1935: »Ich bitte um meine Entlassung zum 1. August 1935. Grund: als ich in der Landwirtschaft bessere Aussichten habe weiter zu kommen als in der Wachtmannschaft, weil uns hier keine gute Zukunft geboten wird.«231 Als zeitgleich die Frage nach Kranken- und Sozialversicherung erneut aktuell wurde, berichteten die einzelnen Lagerleiter scheinbar unabhängig voneinander Kommandeur Schäfer von einer krisenhaften Stimmung in ihrer jeweiligen Wachmannschaft: Bisher haben meine Männer ihren schweren Dienst willig und mit ganzer Hingabe für die große Sache als alte SA-Männer versehen. Sie trugen willig die Ent-

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die vor dem 14. 9. 1930 der Partei beigetreten sind« und bat: »Für das Rechnungsjahr 1936 möchten etwa 20 Obw.-Stellen [i. e. Oberwachmannstellen, D. R.] zwecks Unterbringung von alten Pg. für die Lager beantragt werden« (Angelegenheiten II). Vgl. NLA Oldenburg Rep 947 Lin Nr. 709; Personalakte Erich B., NLA Osnabrück, Rep 947 Lin I Nr. 849 und Personalakte Werner B., NLA Osnabrück, Rep 947 Lin I Nr. 891. Vgl. Angelegenheiten II. Entwurf einer Dienststrafordnung, in: Angelegenheiten III. Entlassungsgesuch, 8. 7. 1935, in: ebd.

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210 behrungen, die nun einmal das einsame Leben mitten im Moor, weitab von jeglicher Kultur, mit sich bringt. Auf Grund der vielen Versprechungen glaubten sie, dass ihre Existenz gesichert sei und ihre soziale Lage mit der Zeit gebessert würde. Dieser Glaube ist restlos erschüttert.232 Die Topoi von Opfergeist und Härte, die sich als Formel der Selbstbeschreibung auch in diesem Schriftverkehr finden, dienten als Argument, um eine Besserung der Zustände zu fordern. Zudem müssten die Wachmänner »auch die wenig Volksgemeinschaft kennende Bevölkerung des Emslandes in Kauf nehmen.«233 Anlass für diese Unmutsbekundungen war die Einführung von Beiträgen zu Kranken-, Invaliden- und Sozialversicherung sowie zur Arbeitslosenhilfe zum 15. Juli 1935. Diese Absicherung wurde zwar grundsätzlich begrüßt, jedoch bedeuteten die Abzüge von sechs bis acht Reichsmark einen erheblichen Einschnitt für einfache Wachmänner, deren Nettogehalt nach Abzug des Verpflegungsgeldes noch 65 RM im Monat betrug.234 Lagerleiter Schmidt zufolge hatten ihm SA-Männer bei einem Kameradschaftsabend berichtet, »dass sie sich das Dritte Reich etwas anders vorgestellt hätten«, zumal »Stahlhelmer und andere frühere Gegner des Staates […] in gesicherten Stellungen« säßen.235 Hinzu kamen diffuse Ängste, die Lager würden vom Reichsarbeitsdienst übernommen werden, der nach dem entsprechenden Gesetz vom 26. Juni 1935 allgemein verpflichtend eingeführt worden war.236 Neben einer ausgleichenden Lohnerhöhung war die eigentliche, langfristige Forderung der SA-Führer eine »Übernahme in den Staatsdienst«, also ins Beamtenverhältnis. Auch wenn die Lagerleiter den »alten hervorragenden SA-Geist«237 ihrer Wachmannschaften beschworen und ihre Verantwortung als SA-Führer betonten, lagen der Beschwerdeaktion letztlich materielle Interessen als Form eines kollektivierten Eigennutzes zugrunde: Ich bin fest überzeugt, dass unsere alten treuen SA-Männer ihren schweren Dienst mit der bisherigen Aufopferung und Liebe zur Aufgabe weiter versehen werden, wenn jetzt unverzüglich Massnahmen getroffen werden, die den Männern das Gefühl wieder geben, dass ihre grossen Leistungen anerkannt werden und für sie selbst in ausreichendem Masse gesorgt wird.238

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Lagerleiter Walchum, 8. 7. 1935, in: ebd. Lagerleiter Oberlangen, 6. 7. 1935, in: ebd. Vgl. Lagerleiter Börgermoor, 8. 7. 1935, in: ebd. Lagerleiter Aschendorfermoor, 12. 6. 1935, in: ebd. Entsprechende Bestrebungen des RAD sollte es im Folgejahr tatsächlich geben. Vgl. hierzu Kap. III.3 dieser Arbeit. Lagerleiter Oberlangen, 6. 7. 1935, in: Angelegenheiten III. Lagerleiter Walchum, 8. 7. 1935, in: ebd. Durchsetzung

211 Werner Schäfer leitete diese vermutlich von ihm selbst initiierten Stimmungsberichte gesammelt an das RJM weiter.239 Zusätzliche Zuwendungen blieben jedoch weiterhin aus, wohl auch, weil die Angaben über kündigungswillige Wachmänner – je nach Lager zwischen 20 und 70 Prozent – deutlich überzogen wirkten. Allerdings ließ die Justizverwaltung Ende 1935 erstmals Wachleute für den Vorbereitungsdienst zum Oberwachtmeister zu und eröffnete so eine – vorerst noch begrenzte – Perspektive für die Übernahme ins Beamtenverhältnis.240 Hier zeigte sich die Fragilität des Gemeinschaftsentwurfs der ›Moor-SA‹: Diesem lag die utopische Verheißung zugrunde, dass die SA-Männer auch persönlich vom Siedlungsprojekt profitieren und kollektiv einen sozialen Aufstieg erleben würden. Um dauerhaft die Anschlussfähigkeit dieses Gemeinschaftsentwurfs zu garantieren, mussten dessen Versprechungen zumindest im Ansatz für die SA-Männer erfahrbar werden.241 Eine derartige Aufstiegsperspektive ergab sich mittelfristig durch die kontinuierliche Erweiterung des Lagerkomplexes und die auch in den oberen Diensträngen vorhandene Fluktuation, durch die automatisch freie Beförderungsstellen entstanden. Zudem führten Schäfers anhaltende Eingaben im Ministerium dazu, dass die für sechs Lager vorgesehene Zahl der Wachtmeister, Ober- und Hauptwachtmeister von ursprünglich 85 bis Januar 1936 auf 129 anstieg.242 Damit war noch vor den großen Erweiterungen des Jahres 1937 die Anzahl der Beförderungsstellen um 50 Prozent gewachsen. Allein zum 1. November 1935 konnte Schäfer acht Beförderungen zum Oberwachtmeister und 24 Beförderungen zum Wachtmeister aussprechen.243 Durch den Stellenausbau hatte Schäfer eine weitere Perspektive für die SA-Männer geschaffen, die zusammen mit der Aussicht auf Siedlerstellen ein doppeltes Aufstiegsversprechen bildete. Die Gemeinschaftsutopie eines kollektiven Aufstiegs war in diesem Fall sogar umfassender, da nicht von vornherein eine Mehrzahl der SA-Männer ausgeschlossen blieb, wie dies beim Siedlungsversprechen der Fall war. Zudem blieb dieser Aufstieg nicht allein eine Verheißung für die Zukunft, sondern wurde durch die realen Begebenheiten unmittelbar nachvollziehbar. Insofern ließ sich hier die Gemeinschaftsutopie des Aufstiegs mit der Erfahrungsebene 239 240 241

242 243

Da sämtliche Lagerleiter sowie Schäfers Adjutant Daniels innerhalb von vier Wochen ähnlich lautende Schreiben einreichten, besteht begründeter Anlass zu dieser Vermutung. Vgl. Regelung der Dienstverhältnisse aller Angehörigen der Wachtruppe bei den Strafgefangenenlagern Papenburg (Ems), 1938, BA Berlin R 3001 Nr. 24560. Vgl. Reinicke: Aufstieg. Auf die Problematik von Spannungen zwischen sozialer Realität und kultureller Deutung verweist schon Jens Alber: Nationalsozialismus und Modernisierung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989), S. 346–365, hier: 356. Vgl. Beamte etc. u. Angelegenheiten II. Vgl. KmSGL, 17. 10. 1935, in: ebd.

Gemeinschaft als Aufstiegsversp

211

212 der SA-Gemeinschaft verknüpfen. Im Hinblick auf gemeinschaftliche Bindekräfte dürfte der Anreiz auf Beförderungen durch seine lebensweltliche Realität der längerfristigen Aussicht auf Siedlerstellen bald den Rang abgelaufen haben. Kollektivierter Eigennutz entwickelte sich somit zum zentralen Bestandteil der Gemeinschaft und war gleichermaßen Durchsetzungsstrategie und verbindendes Element. Hinsichtlich der gemeinschaftlichen Konstitution der ›Moor-SA‹ barg dieses Aufstiegsversprechen aber – ebenso wie die Siedlerstellen, die nie realisiert wurden – langfristig Probleme. Auch dieser Aufstieg blieb einer Mehrzahl der SA-Männer verwehrt, wodurch Dissonanzerfahrungen von SA-Männern, die davon nicht profitieren konnten, vorprogrammiert waren. Der tatsächliche Aufstieg durch Beförderungen war nicht gemeinschaftlicher, sondern individueller Natur.244

Nutzung von Opportunitätsstrukturen : Die Karriere Karl Dubbels Ein Beispiel für die individuellen Opportunitätsstrukturen, die durch diese gemeinschaftliche Aufstiegsperspektive entstanden, bietet die Biographie des SAManns Karl Dubbel. Der am 15. November 1910 im ostwestfälischen Tengern geborene Sohn eines Landwirts absolvierte nach der Volksschule eine Fleischerlehre. Anschließend arbeitete er parallel als Metzger und auch als Maurer, musste seit Beginn der 1930er Jahre aber wieder aushilfsweise in der Landwirtschaft tätig werden. Am 1. September 1931 trat er sowohl in die NSDAP als auch in die SA ein und wurde auf seine eigene Bewerbung hin am 25. November 1933 als Wachmann bei den Emslandlagern eingestellt.245 Auch Dubbel erhoffte sich von dieser Anstellung zunächst, später eine Siedlerstelle übernehmen zu können und ließ sich seine ›Bauernfähigkeit‹ bescheinigen.246 Er wurde zunächst im Lager Börgermoor eingesetzt und 1934 gleich zweimal befördert. Nachdem er nur kurz Oberwachmann gewesen war, wurde er Halbzugführer und anschließend als Platzmeister eingesetzt. In dieser Funktion war er an einer Vielzahl von Gefangenenmisshandlungen beteiligt und erhielt von den Gefangenen den Spitznamen »Große Staubwolke«.247 Zwischenzeitlich hatte Dubbel die Tochter eines Gaststättenbetreibers aus Börgermoor geheiratet, mit der er zwei Kinder bekam.248 Am Abend des 2. Juli 1935 erschoss er den jüdischen Strafgefangenen David W.,

244 245 246 247 248

212

Auf Opportunismus und Interessenegoismus als wesentliche Triebkräfte in diesem Kontext verweist Knoch: Zerstörung. Vgl. Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 326. Vgl. Aufstellung der siedlerfähigen Wachmannschaften, 27. 12. 1935, in: Angelegenheiten II. Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep. 945 Akz 6 /1983 Nr. 326. Vgl. Aussage Franz H., 9. 10. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221. Durchsetzung

213 der zu diesem Zeitpunkt der Strafkompanie angehörte. In seiner kurzen Vernehmung erklärte Dubbel, der Gefangene sei mehrfach auf ihn eingedrungen und habe ihn schließlich mit einem Knüppel angegriffen. Ihm hätten »keine anderen Mittel zur Verfügung gestanden, um den tätlichen Angriffen des W[.] zu begegnen und den Widerstand zu brechen«, weshalb er seine Pistole gezogen habe. Als W. »daraufhin zum Sprung« ansetzte, machte Dubbel »von der Schusswaffe Gebrauch und streckte W[.] nieder.«249 Ein Mitgefangener berichtete später, dass zuvor der Wagen der SA-Schulspeisung nachts im Lager beschmiert und die Aufschrift »SA speist 2000 Kinder« mit den Worten »von Gefangenenkost« ergänzt worden war.250 David W., der die SA-Männer anscheinend häufiger verbal herausforderte, wurde anschließend verdächtigt, dafür verantwortlich zu sein; nachweisen konnten ihm die Wachmänner dies allerdings nicht. W. wurde für drei Monate in die Strafkompanie versetzt, wo er in besonderem Maß den Misshandlungen der Wachmänner ausgesetzt war. Dubbel, der auch in anderen Fällen jüdische Strafgefangene gezielt misshandelt hatte, beteiligte sich hieran ausgiebig.251 Am 2. Juli 1935 ließ Dubbel schließlich nach Rückkehr der Gefangenen ins Lager die Gefangenen der Strafkompanie für Strafarbeiten nochmals antreten. Von den sechs Gefangenen verweigerten drei die Arbeit, darunter W., der Dubbel heftige Widerworte entgegenbrachte. Während die drei arbeitswilligen Gefangenen – anscheinend ohne Arbeit – in der Arrestbaracke verblieben, führte Dubbel die anderen drei zur Arbeitsstelle am Geräteschuppen. Dort angelangt erklärten sich zwei weitere Gefangene bereit zu arbeiten und wurden darauf von Dubbel in Begleitung von Gruppenführer Stein, dem Führer der Strafkompanie, zurück zur Arrestbaracke geschickt, da der Platzmeister mit ihnen »alleine die schwere Arbeit nicht leisten konnte«. Mit dem verbliebenen, immer noch arbeitsunwilligen David W. ging Dubbel daraufhin zum innerhalb der Umzäunung befindlichen Schießstand und befahl ihm, »einige Hölzer an eine von [ihm] bezeichnete Stelle zu tragen.«252 Die Abwesenheit von Zeugen, die Dubbels Darstellung der nun folgenden Auseinandersetzung hätten widersprechen können, wirkt in dieser Ereigniskette geradezu vorsätzlich herbeigeführt. Dubbel selbst hatte dem Strafgefangenen befohlen, das Holzstück aufzuheben, das angeblich als Angriffswaffe diente. Seinen Gummiknüppel hatte der Wachmann wiederum vergessen, sodass ihm laut eigener Darstellung nur der Griff zur Waffe blieb. Das Zusammenkommen dieser Reihe von

Ermittlungen gegen Angehörige der Wachmannschaften 1934–1937, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225. 250 Aussage Franz H., 9. 10. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221. 251 Vgl. Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 326. 252 Beide Zitate: Ermittlungen gegen Angehörige der Wachmannschaften 1934–1937, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225. 249

Gemeinschaft als Aufstiegsversp

213

214 Zufällen überschreitet die Grenze zur Unwahrscheinlichkeit. Plausibler ist die Annahme, dass Dubbel einen aufsässigen Gefangenen gezielt ermordete, womöglich auch als Zeichen der Stärke, um die im Vorfeld herausgeforderte Machtposition der Wachmänner zu verdeutlichen. Die anschließenden Ermittlungen verliefen erneut halbherzig. Kommandeur Schäfer befragte nur Dubbel und Gruppenführer Stein; die staatsanwaltlichen Ermittlungen durch einen Gerichtsassessor aus Sögel wurden bald eingestellt. Erst im April 1949 wurde Dubbel in Oldenburg angeklagt. Dem Staatsanwaltschaft erschien »seine Einlassung […] schon deswegen völlig unglaubhaft, weil er keinen einleuchtenden Grund dafür angeben kann, dass er W. allein zurückbehielt, um mit ihm zum Schießstand zu gehen, während er die anderen beiden Gefangenen zurückschickte.«253 Auch der ehemalige Leiter des Gefangenenlazaretts, Woldemar Teigeler, bezeichnete den Vorfall in einer Nachkriegsaussage als Mord: Krass vor Augen steht mir noch ein Fall, bei dem der athletisch gebaute Wachtmeister Du. einen kleinen, schwächlichen Juden innerhalb des Lagers erschoß. Um Notwehr zu tarnen, hatte man dem Juden ein kleinfingerdickes Stöckchen in die Hand gedrückt.254 Dubbels weiterer Dienstlaufbahn stand die Tötung W.s jedenfalls nicht im Weg. Noch im gleichen Jahr wurde er zum Oberwachtmeister befördert. Im Herbst 1936 wurde er schließlich Hauptwachtmeister; innerhalb von drei Jahren war er damit vom einfachen Wachmann zum stellvertretenden Lagerleiter geworden. Bis Februar 1938 war Dubbel durchgehend im Lager Börgermoor eingesetzt. Anschließend war er in Esterwegen und 1939 im nur kurz für Strafgefangene genutzten Lager Bathorn tätig. Im März 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, aber bereits im Oktober des gleichen Jahres aufgrund eines Beinleidens als dienstuntauglich entlassen. Anschließend war er Wacheinheitsführer in Esterwegen, das heißt Führer der SA-Wachmannschaft, die inzwischen aber nur noch für die Außenbewachung des Lagers zuständig war. Ende 1941 wurde Dubbel das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse verliehen, da er »sich besonders um die vormilitärische Ausbildung der ihm unterstellten SA-Männer verdient gemacht« habe.255 Ende 1942 wurde er in die Kommandantur versetzt und übernahm im Februar 1943 die Füh-

Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep. 945 Akz 6 /1983 Nr. 326. Aussage Teigeler 1947, in: KW III, S. 2485–2488, hier: 2486. Teigelers Aussage hat durchaus Rechtfertigungscharakter. Intern hatte er zwar Misshandlungen durch SA-Männer moniert, ohne aber offiziell, etwa in Obduktionsberichten, die Entlastungsnarrative der SA in Frage zu stellen. So bescheinigte er auch die Tötung W.s im Juli 1935 noch als Notwehr (vgl. Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep. 945 Akz 6 /1983 Nr. 326). 255 BA Berlin PK B 0398. 253 254

214

Durchsetzung

215 rung des Wachsturmbanns, also sämtlicher Wachmannschaften. Auch wenn der inzwischen einberufene Werner Schäfer offiziell Kommandeur blieb und zu diesem Zeitpunkt nur noch eine geringe und weiter schrumpfende Zahl an SA-Männern Dienst im Emsland tat, hatte Dubbel damit einen beispiellosen Aufstieg vom einfachen Wachmann an die Spitze der ›Moor-SA‹ durchlaufen.256

Die ›Moor-SA‹ als ideologisierte Zweckgemeinschaft Dubbels Werdegang in der ›Moor-SA‹ verdeutlicht zwei Aspekte des kollektiven Aufstiegsversprechens der ›Moor-SA‹. Zum einen gab es tatsächlich Möglichkeiten zum individuellen, sowohl sozialen als auch materiellen Aufstieg durch Beförderungen innerhalb des Ranggefüges der Wachmannschaften. Dubbels Karriereweg blieb ein Einzelfall,257 doch insbesondere die Angehörigen der ersten beiden Einstellungskohorten der ›Moor-SA‹ konnten vielfach von Beförderungen profitieren. Zweitens verdeutlicht Dubbels Biographie, dass die Beteiligung an Gewaltakten und Misshandlungen, selbst wenn diese aktenkundig wurden und zum Tod eines Strafgefangenen führten, einem Aufstieg innerhalb der ›Moor-SA‹ keineswegs im Wege standen. Hermann Kaiser etwa wurde bereits wenige Monate nach seiner zwischenzeitlichen Entlassung bei der Justizverwaltung erneut aktenkundig. Justizminister Gürtner erhielt im Mai 1935 über den (zum damaligen Zeitpunkt nicht zuständigen) Generalstaatsanwalt in Hamm eine Eingabe, die mit »Die Kulturbeamten« unterzeichnet war. Darin wurden nicht nur die »Willkürherrschaft der SA« und Korruption der Lagerleitung in Neusustrum bemängelt, sondern auch berichtet, »der Wachtmeister Kaiser schlage die Leute nach Willkür und Laune«.258 Obwohl Kaiser durch seine Gewaltausbrüche dem Justizminister persönlich bekannt geworden war, wurde er wenige Monate später zum Oberwachtmeister in Börgermoor befördert. Hier traf er auf seinen alten Lagerleiter Maue und trug mit Karl Dubbel und anderen Funktionsträgern dazu bei, ein Gewaltregime zu etablieren, das nach 1945 die meisten Strafprozesse nach sich zog.259 Es wäre ohnehin ein Trugschluss, die ›Leistungen‹, die zu Beförderungen führten, in einer vorschriftsmäßigen Dienstführung oder einer gesteigerten ArbeitsVgl. Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep. 945 Akz 6 /1983 Nr. 326. Bernhard Sauthoff, der vor Dubbel die SA-Wachmannschaften leitete, wird erstmals 1937 als Hauptwachtmeister aktenkundig, war aber ebenfalls seit November 1933 im Emsland. Kurt Garbatschek, der nach Dubbel bis Kriegsende die ›Moor-SA‹ befehligte, kam erst im Februar 1935 zur ›Moor-SA‹, wurde jedoch schon im November des gleichen Jahres vom Wachtmeister zum Oberwachtmeister befördert (vgl. Angelegenheiten II u. BA Berlin R 3001 Nr. 9819). 258 Tagebuch Franz Gürtner, 22. 5. 1935, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 36 /1995 Nr. 13. 259 Vgl. Urteil Kaiser u. a. 256 257

Gemeinschaft als Aufstiegsversp

215

216 produktivität der Häftlinge im entsprechenden Kommando begründet zu sehen. Aufschluss darüber gibt beispielsweise die »Beurteilung der dienstlichen Leistungen« der 1937 erfassten ›alten Kämpfer‹ in der ›Moor-SA‹. Höhere Dienstgrade oder Wachmänner, für die spätere Beförderungen nachweisbar sind, fallen hierbei nicht durch eine bessere Benotung auf. Auffällig ist hingegen, dass sich die Bewertung zwischen einzelnen Lagern deutlich unterschied. Im Lager Aschendorfermoor wurden 85 von 88 Wachleuten mit »gut« beurteilt, die verbleibenden drei mit der Note »2–3«. In Walchum wurden hingegen 110 von 114 SA-Männern mit »3+«, »3« oder »3-« eingestuft.260 Für das Arbeitsverhalten bestanden also keine klaren Bewertungsmaßstäbe. Über Aufstiegschancen innerhalb der ›Moor-SA‹ entschieden weniger Leistungskriterien als vielmehr eine diffuse Gemengelage aus Loyalität und Gehorsam, dem kameradschaftlichen Eintreten für die SA-Gemeinschaft, zu dem die Bereitschaft zur ›Härte‹ und auch das ›Decken‹ anderer SA-Männer gehörte, sowie schließlich auch der Zugehörigkeitsdauer zur ›Bewegung‹.261 Vor diesem Hintergrund erscheint die ›Moor-SA‹ als spezielle Ausformung einer Gemeinschaft, die auch Elemente des Gesellschaftlichen absorbierte. Denn über die kulturpessimistische Definition einer traditionalen Gemeinschaft von Ferdinand Tönnies oder auch Max Webers Vorstellung, wonach Vergemeinschaftung auf »subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht«,262 gehen die Charakteristika der ›Moor-SA‹ deutlich hinaus. Mochte der ursprüngliche SA-Beitritt, der ja überwiegend vor der Machtübertragung gelegen hatte, noch auf dem Wunsch zur Zugehörigkeit zur ›Bewegung‹ basiert haben, stellten sich spätestens mit dem Dienstantritt im Emsland auch rational-zweckgerichtete Motive in Form der sozialen Absicherung ein.263 Eine deutlich stärkere Übereinstimmung besteht zur Gemeinschaftsdefinition von Hitzler, Honer und Pfadenhauer, die verschiedene konstitutive Elemente ausmachen: die Abgrenzung nach außen, ein entstandenes Zusammengehörigkeitsgefühl, ein von den Mitgliedern geteiltes Interesse, eine von ihnen anerkannte Wertsetzung und schließlich der Zugang zu Interaktions(zeit)räumen. Zudem berücksichtigen die Autoren das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, das im vorliegenden Kontext von besonderer Bedeutung ist: In dem Maße aber, in dem Gemeinschaft dergestalt zu einer Frage der Entscheidung wird, avancieren auch Fragen nach Aufwand und Ertrag zu Krite-

Vgl. BA Berlin R 3001 Nr. 9819. Vgl. Knoch: Kampf, S. 56 f. 262 Weber: Wirtschaft, S. 21. 263 Zur Einordnung der ›Moor-SA‹ in traditionelle bzw. posttraditionale Gemeinschaftsentwürfe vgl. Reinicke: Aufstieg, S. 140–142. 260 261

216

Durchsetzung

217 rien der individuellen Entscheidung für oder gegen die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft.264 Als Gemeinschaft rekurrierte die ›Moor-SA‹ zum einen auf eine hohe ideologische Affinität der Wachleute zu den Zielsetzungen des Straf- und Siedlungsprojekts. In einer männerbündisch geprägten, militärisch-hierarchischen Sozialstruktur konnte ein großer Teil der Wachmänner auf entsprechende Erfahrungen der ›Kampfzeit‹ zurückgreifen, deren Ideale von ›Opfergeist‹, ›Kampf‹ und ›Härte‹ gemäß den neuen Aufgaben adaptiert wurden. Der Habitus einer soldatischen Männlichkeit bestimmte auch weiterhin ihre Selbstbeschreibung. Selbstbewusst vertraten die SA-Männer den Anspruch, als ›Ordnungspioniere‹ eine maßgebliche Rolle im Projekt der Strafgefangenenlager einzunehmen und die verschiedenen Aspekte der angestrebten völkischen Modernisierung sinnhaft zu verknüpfen: Hier durch die Disziplinierung ›Gemeinschaftsfremder‹ mittels Gewalt und Zwangsarbeit an der Umsetzung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen mitzuwirken und gleichzeitig eine doppelte Kultivierung des Emslands voranzutreiben, bei der nicht nur neues Kulturland geschaffen werden sollte, sondern die SA-Männer durch ihre Freizeitkultur auch als nationalsozialistische ›Kulturbringer‹ auftraten, produzierte vielfache Integrationsangebote und ideologische Anknüpfungspunkte.265 In dieser Hinsicht äußert sich auch Walter Erhard in seinem Interview: »Sie glaubten an den Nationalsozialisten- es waren Nationalsozialisten und haben da dran geglaubt, und ich habe im Lager auch geglaubt, daß wir wirklich Werte schaffen, daß es was wert ist.«266 Zum anderen bildete die ›Moor-SA‹ in mehrfacher Hinsicht eine ›Zweckgemeinschaft‹. Sie war genuin mit einem äußeren Auftrag – der Häftlingsbewachung und der damit verbundenen Emslandkultivierung – versehen. Darüber hinaus erfüllte sie aber auch für die einzelnen Wachmänner einen jenseits der SA-Vergemeinschaftung liegenden Zweck: den der eigenen Absicherung und eines sozialen Aufstiegs. Insofern müssen der angestrebte eigene Nutzen und die SA-Gemeinschaft im Emsland parallel gedacht werden; sie sind analytisch kaum voneinander zu unterscheiden. Die Gemeinschaftsutopie der ›Moor-SA‹ bestand nicht nur in der Vorstellung, die Wachmänner würden als ›Ordnungspioniere‹ das Straf- und Siedlungsprojekt ausgestalten, sondern auch darin, dass sie als Protagonisten der Emslanderschließung davon selbst materiell profitieren würden. Die Gemeinschaft beinhaltete damit ein Aufstiegsversprechen, das eine bessere Zukunft für die Gemeinschaftsangehörigen verhieß. Insofern stellt sich die ›Moor-SA‹ als ideologisierte Zweckgemeinschaft dar,

Hitzler / Honer / Pfadenhauer: Einleitung, S. 11. Nur sehr vereinzelt wird von Wachmännern berichtet, die aufgrund der Gewaltpraxis ihrer ›Kameraden‹ den Dienst in der Wachmannschaft wieder quittierten. Vgl. Unterlagen Bernhard W., in: Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. 266 Int WE, S. 19. 264 265

Gemeinschaft als Aufstiegsversp

217

218 die auf einer Verquickung von ideologischer Zustimmung und kollektiviertem Eigennutz basierte. Um auf Dauer anschlussfähig zu bleiben, musste die Gemeinschaft nicht nur in der Erfahrungswelt der SA-Männer immer wieder durch Rituale und Praktiken aktualisiert werden, sondern auch der versprochene soziale Aufstieg zumindest rudimentär greifbar werden. Aus dieser spezifischen Verfasstheit der SA-Gemeinschaft erklären sich nicht nur die andauernden Forderungen nach materieller Besserstellung, mit der die Wachmannschaften ihre selbst wahrgenommene Bedeutung durch die Justizverwaltung gewürdigt sehen wollten, sondern auch die über die Freizeitkultur hinausgehende äußere Repräsentation der ›Moor-SA‹, die im Folgenden analysiert wird. In dem Maße, wie sich der Aufstieg der SA-Männer nicht wie erhofft im Kollektiv, sondern nur individuell realisieren ließ, sollte sich allerdings auch die Einstellung der SA-Männer zur Gemeinschaft ändern. Diejenigen SA-Männer, für die sich durch Beförderungen das Aufstiegsversprechen bewahrheitet hatte, wiesen eine überdurchschnittlich lange Verweildauer im Emsland auf. Aus diesen Profiteuren vor allem aus der ersten und zweiten Einstellungskohorte, die als SA-Führer auch die äußere Repräsentation maßgeblich prägten, bildete sich allmählich ein ›harter Kern‹ der ›Moor-SA‹ heraus.267 Dem gegenüber standen Wachmänner in den unteren Diensträngen, die als Angehörige der ersten beiden Kohorten bei Beförderungen nicht berücksichtigt wurden. Diese Gruppe von SA-Männern, für die der eigene Aufstieg ein uneingelöstes Versprechen blieb, wuchs durch die Erweiterung der ›Moor-SA‹ von 1937 auf 1.500 Wachmänner noch deutlich an. Da allein aufgrund der Altersstruktur deutlich weniger der nun eingestellten SA-Männer noch ›alte Kämpfer‹ waren, bestand für sie eine geringere Aussicht auf eine Beförderung. Zudem hatte für diese dritte Einstellungskohorte das Siedlungsversprechen keinen Bestand mehr.268 Dennoch konnten sich auch Wachmänner, die erst in späteren Jahren ins Emsland kamen, zumindest zwischenzeitlich in das Gemeinschaftsideal der ›Moor-SA‹ einschreiben, wie in einem Brief des Wachmanns Martin Clauß an seine Eltern deutlich wird: Und ein richtiger SA-Mann muß sich in alle Lagen schicken und fügen können und das habe ich gelernt im meinen Leben denn ich kann es nun heute an dieser Stelle offenbaren, das mir mein bisheriges Leben schon manchen Tropfen Schweiß, Kampf und auch manch eine innerliche Träne gekostet hat denn ich

Einen »ausgeprägten Kern von 200 bis 300 SA-Männern« vermutet bereits Knoch: Kampf, S. 57. 268 Vgl. RMEL, 10. 3. 1936, in: Angelegenheiten II. 267

218

Durchsetzung

219 bin ein Mensch der sich für das Große das von uns der Führer verlangt zu jeder Zeit opfere und das ist mein größtes Idial.269 Durch den massiven Zustrom oftmals jüngerer SA-Männer, die den kollektivbiographischen Hintergrund der ›alten Kämpfer‹ nicht mehr teilten und zudem durch ihre meist weiter entfernt liegenden Herkunftsorte das Einzugsgebiet der Wachmannschaften deutlich erweiterten, wandelte sich jedoch die ›Moor-SA‹ als Gemeinschaft  – zumindest in soziostruktureller Hinsicht. Die Beschaffenheit der ›Moor-SA‹ als ideologisierte Zweckgemeinschaft zeigt aber auch, dass Gemeinschaftlichkeit selbst einem historischen Wandel unterzogen ist. Von postmodernen, oftmals situativen oder kurzlebigen Gemeinschaftsformen wie Fangemeinschaften oder Internet-Communities war die ›Moor-SA‹ noch weit entfernt. Gegenüber Tönnies’ auf einer idealisierten Dorfgemeinschaft basierendem Bild einer organisch gewachsenen Gesellungsform bestanden aber ebenso deutliche Unterschiede. Einen zentralen Unterschied bildete die verhandelbare Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Dadurch, dass die Wachmänner sich auch gegen die Gemeinschaft entscheiden konnten, musste diese sich fortwährend legitimieren.

3. Die Logik des Ausbauarguments. Anspruch und Wirklichkeit des Siedlungsprojekts Über die Selbstzuschreibung als Ordnungspioniere hatten sich die SA-Wachmannschaften eine exponierte Rolle im Siedlungsprojekt angeeignet. Diese wussten sie in der Außendarstellung geschickt zu nutzen, indem sie sich als Protagonisten der Emslanderschließung präsentierten. Die zukünftigen Kultivierungserfolge sollten dabei mithilfe der lagereigenen Wirtschaftsbetriebe symbolisch vorweggenommen und veranschaulicht werden. Dies wirkte nicht nur für die SA-Gemeinschaft sinnstiftend, sondern führte auch zur Verbesserung der finanziellen Situation der Wachmannschaften. Die tatsächlichen Kultivierungserfolge blieben jedoch weit hinter den unrealistischen Zielsetzungen zurück. Die Erschließungsarbeiten erwiesen sich in der Realität als weitaus komplizierter als in den pauschalen Annahmen im Zehnjahresplan des Landwirtschaftsministeriums. Zudem trugen auch Lagerverhältnisse und Wachmannschaften dazu bei, dass der Einsatz der Strafgefangenen ineffektiv verlief, da die allgemeine Unterversorgung und die Gewalt der Wachmänner die Arbeiten verlangsamten. Effizienzdenken und damit auch Eigeninteresse traten hier für die SA-Männer hinter ideologischer Überzeugung – der gewaltüberform-

269

Brief 1. 8. 1938, in: Archiv AK DIZ Fotoarchiv, Foto Diverse/Wachleute/Bestand Martin Clauß.

Die Logik des Ausbauarguments

219

220 ten ›Erziehung‹ der Gefangenen – zurück. Schon bei der Einteilung der Arbeitskommandos ließen die Wachmänner eine Art sozialdarwinistische Auslese walten: Bei jeder großen Arbeitseinteilung trat stets der folgende Zustand ein: an alle Plätze, die vergleichsweise weniger Kraft verbrauchten, kamen immer die Kräftigsten, die Gesunden, natürlich auch die Skrupellosen, die alten Füchse und Ellenbogenleute. […] Wenn alle Menschenvernunft dazu drängte […], eine Arbeit rationell zu gestalten durch beste Einordnung jedes Mannes, war hier nicht die Spur von Vernunft zu finden.270 Die Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Ankündigungen und den tatsächlichen Fortschritten des Siedlungsprojekts wurde für die beteiligten Planungsinstanzen spätestens 1936 ersichtlich. Da es aber undenkbar war, die Ineffizienz der völkischen Modernisierungspolitik einzugestehen, folgten die Planer der Logik des Ausbauarguments: Das langsame Voranschreiten der Kultivierungsarbeiten lag für sie nicht in falschen Planungsannahmen oder ineffizienter Gefangenenarbeit begründet, sondern darin, dass schlichtweg zu wenige Strafgefangene zur Verfügung standen.

Unterstreichung des Pionieranspruchs. Kultivierungsarbeiten in der SA-Propaganda Als eine Abordnung von Wachmännern im Dezember 1935 Adolf Hitler in Berlin ein Fotoalbum überreichte, wurden darin die Kultivierungsleistungen der Jahre 1934 und 1935 besonders herausgestellt (vgl. Tab. III). Eine kurze Anmerkung erklärte zwar, dass es sich hierbei um »die Arbeit von Strafgefangenen unter der Bewachung von alten SA-Männern« handelte. Im gestalterischen Kontext der Übersicht wurden die Kultivierungsarbeiten jedoch schlicht mit »Leistung« überschrieben. Im Zusammenhang mit der Widmung, nach der »die Tat, die freudig dem Worte voraneilt«, der eigentliche Gewinn der SA-Männer sei, erschien diese Leistung hier als Werk der ›Moor-SA‹. Durch Passivkonstruktionen wurde die Beteiligung der Gefangenen ausgespart: »es waren bestellt«, »es werden bestellt« und »es wurden gebaut«.271

270 271

220

Schröder: Station, S. 133. Sämtliche Zitate: Archiv AK DIZ Fotoalbum 1935, S. 2. Durchsetzung

221 Tab. III :

Angaben der ›Moor-SA‹ zu den Kultivierungsarbeiten im Dezember 1935

Leistung I.

II.

Mit der Hand gegraben bis zu 1½ mtr.

1.271

Mit der Hand planiert

2.284

"

Mit dem Dampfpflug gepflügt

3.010

"

1.530

Morgen

Es waren bestellt 1935

Grünland Kartoffeln Hafer Roggen

Es werden bestellt für 1936

Es wurden gebaut

"

90

"

40

" "

Winterroggen

167

Morgen

Kartoffeln

820

"

Hafer

300

"

Sommerroggen

IV.

550

580

Gründüngung III.

Morgen

140

"

Gründüngung

1.073

"

Grünland

1.813

"

feste Straßen Wege Vorfluter Deiche kleine Entwässe-

44,6

km

7,9

"

46,65

"

8,94

"

230

"

rungsgräben

Von Wachtürmen aufgenommene Fotografien der einzelnen Lager, von Wachmannschafts- und Funktionsbaracken, parkähnlichen Elementen oder auch einem Wegweiser, der in Oberlangen die Richtungen von Verwaltung, Schießstand, Küche, Autoschuppen und »Frisör« anzeigte, präsentierten die Lager erneut als mustergültige Anlagen. Für jedes Lager wurde die angetretene Wachmannschaft abgebildet, ebenso kleinere SA-Formationen beim Antreten, der Ausbildung oder der Wachübergabe. Immer wieder stellten die Betitelungen von Fotos die vorgeblichen Leistungen und die vermeintlich harte Arbeit der ›Moor-SA‹ heraus: »Durch eigene Kraft. Gewächshäuser der S-A Männer«, »Handwerkerbaracke. Eigene Arbeit – spart« und »Der S-A Mann als künftiger Siedler baute aus eigenen Mitteln Ställe – und züchtet sein Vieh.«272 Die Abgeschiedenheit der Dienststellung wurde durch Bildunterschriften wie »Auf 272

Ebd., S. 35 u. 40 f.

Die Logik des Ausbauarguments

221

222 einsamem Posten« oder »Auf der Wacht« thematisiert;273 Fotografien von einzelnen, zum Teil berittenen Wachmännern in der vermeintlich unbegrenzten Weite der Moorlandschaft griffen in ihrer Bildkomposition erneut den kolonialen Gestus der ›Moor-SA‹ auf.274 Der »Unendlichkeit des Moores«275 wurde die im doppelten Sinne ›kulturbringende‹ Funktion der Wachmannschaften entgegengestellt: Fotos von Parkanlagen waren überschrieben mit »Alte S-A Männer schufen sich im einsamen Moor eine neue, freundliche Heimat«, das Bild eines Freizeitpavillons mit »Villa ›Kampfpause‹. Errichtet durch freiwillige Spenden der Wachmannschaft. Hier spielt ›Hein‹ an warmen Sommerabenden sein Lied über’s Moor.«276 Auch die Freizeitbereiche der Wachmänner wurden als »selbsthergerichtete, gemütliche Räume« präsentiert.277 Strafgefangene sind hingegen nur auf 14 von insgesamt 50 Seiten zu sehen – erstmalig auf Seite 20. Ihre Abbildung dient in Kombination mit den Bildüberschriften vor allem dazu, den vermeintlich erzieherischen Wert von Zwangsarbeit und Disziplinierung herauszustellen: »Arbeitsmuss – das heisst Erziehung – Erziehung und Rückgewinnung«, »Die Arbeit als Erzieher«, »Die Strafkompagnie – disziplinar bestrafte Zuchthäusler«, »Der Erfolg saurer Arbeit. Über 70.000 Zentner Kartoffeln wurden nach 1½ jähriger Arbeit geerntet. Der Erfolg – als Erzieher« und, bei den einzigen Fotos aus Häftlingsbaracken, auf denen allerdings keine Strafgefangenen zu sehen sind, »Erziehung zu Sauberkeit und peinlicher Ordnung.«278 Bereits diese propagandistische Aufstellung der Kultivierungsleistungen zeigt allerdings deutlich, dass das tatsächliche Ausmaß der neu gewonnenen Fläche relativ gering war.279 Zudem war fast die Hälfte davon mithilfe von Dampfpflügen kultiviert worden, die im Staatsgebiet H bei Walchum trotz aller anderslautenden Ankündigungen zum Einsatz kamen.280 Ein Großteil der Arbeit der Gefangenen waren infrastrukturelle Maßnahmen wie die Anlage von Vorflutern, Entwässerungsgräben und Straßenbauprojekten. Diese 273 274

275 276 277 278 279

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Ebd., S. 14 u. 16. Vgl. ebd., S. 13, 16 u. 31. Zur Kolonialfotografie vgl. Jens Jäger: Plätze an der Sonne? Europäische Visualisierungen kolonialer Realitäten um 1900, in: Claudia Kraft / Alf Lüdtke / Jürgen Martschukat (Hg.): Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt a. M. 2010, S. 160–182. Archiv AK DIZ Fotoalbum 1935, S. 23. Ebd., S. 38 f. Ebd., S. 47. Ebd., S. 20, 25, 30, 32 u. 46. Die Angabe der bearbeiteten Fläche in Morgen statt – wie in den Planungen üblich – in Hektar dürfte ein propagandistischer Trick der SA-Männer gewesen sein, um die Zahlen größer erscheinen zu lassen. Vgl. die Erläuterungen zum Stand der Arbeiten, 1. 9. 1935, in: KW I, S. 568–578. Diese Aufstellung von Kulturbaurat Sagemüller ist zwar detaillierter und umfassender als die Angaben der ›Moor-SA‹, jedoch lässt sich der Anteil der Arbeiten durch Strafgefangene daran nicht ermitteln. Durchsetzung

223 Arbeiten bildeten eine wichtige, unerlässliche Grundlage für die weitere Kultivierung. Bis Mitte 1938 waren 439 km Straßen und Wirtschaftswege gebaut sowie 503 km Vorfluter angelegt worden.281 Insbesondere der Bau der 60 km langen NordSüd-Straße, die die Lager Walchum, Oberlangen und Neusustrum an das Straßennetz anschloss, stellte eine wichtige Maßnahme dar, um überhaupt Zugang zu den linksemsischen Mooren zu erhalten und deren Erschließung zu ermöglichen. Die für diese infrastrukturellen Erschließungsmaßnahmen notwendige Arbeitskapazität lag allerdings weit über den dafür veranschlagten 10 Prozent.282 Die Neugewinnung kultivierter Flächen blieb demnach deutlich hinter den hochtrabenden Ankündigungen zurück. Doch auch hier wurden in der Außendarstellung Kniffe ersonnen, um Erfolge einer nationalsozialistischen Siedlungstätigkeit präsentieren zu können. Östlich von Esterwegen war das rund 1.000 ha große Staatsgebiet Hilkenbrook bereits 1932 an die Hannoversche Siedlungsgesellschaft übergeben worden. Da die Siedlerstellen in Hilkenbrook zum Großteil erst nach der Machtübertragung entstanden und die Gefangenen der Emslandlager dort weiterhin Arbeiten verrichteten, wurden diese als Leistung des Dritten Reichs vereinnahmt. Anlässlich einer Besichtigungsreise durch Regierungspräsident Eggers im November 1935 wurden 30 neue Siedlerstellen in Hilkenbrook angegeben, bis 1938 sollten es 75 werden.283 Ähnlich verhielt es sich mit der Siedlung A bei Börgermoor, wo 1936 elf neue Bauernstellen vergeben wurden. Hier war die Siedlungsfläche bei der Entstehung der Lager bereits entwässert worden und wurde anschließend durch die Strafgefangenen kultiviert. Mit dem bereits im 18. Jahrhundert gegründeten Neulehe wurde diese Siedlung zum Ort Eggershausen zusammengelegt – benannt nach dem im Oktober 1937 verstorbenen Osnabrücker Regierungspräsidenten Berhard Eggers.284 In beiden Fällen bestanden langfristige Verträge mit zukünftigen Siedlern, sodass die SA-Männer nicht berücksichtigt wurden.

Mittel zum Aufstieg. Wirtschaftsbetriebe und Korruption Die wenigen Hektar kultiviertes Land, die zunächst in unmittelbarer Nähe zu den Lagern entstanden, wurden der SA von der Moorverwaltung überlassen. Mit lagerVgl. Kulturbaubeamter Meppen: Leistungen in den emsländischen Mooren bis zum 30. Juni 1938, in: KW I, S. 741. Diese Angaben beziehen auch die Arbeiten zwischen 1927 und 1933 ein und liegen damit höher als die für sich allein nicht mehr ermittelbaren Zahlen für die Jahre 1934–1938. 282 Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 200 und Veltmann: Wirtschaft, S. 409. 283 Vgl. NLA Osnabrück Rep 430 Dez 101 Akz 8 /66 Nr. 145 u. NLA Osnabrück Rep 430 Dez 108 Akz 26 /73 Nr. 412. 284 Vgl. Veltmann: Wirtschaft, S. 409 u. EZ, 12./13. 8. 1939. Nach 1945 hieß der Ort wieder Neulehe. 281

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224 eigenen Wirtschaftshöfen bestellten die Wachmänner dieses Land und konnten damit den eigenen Anspruch als Pioniere der Emslandkultivierung unterstreichen. Bei den wiederholten Besuchen der Lager durch NS-Prominenz wurden auch diese »mustergültigen Wirtschaftsbetriebe« immer wieder präsentiert.285 In der propagandistisch überhöhten Deutung des Siedlungsprojekts bildeten die Lager mit ihren landwirtschaftlichen Betrieben die Keimzellen der zukünftigen Siedlungen.286 Diese utopisch-propagandistische Vision richtete sich jedoch nicht allein an die Öffentlichkeit, sondern zielte auch in die SA-Gemeinschaft hinein, da sie das Siedlungsversprechen aufgriff. Insofern verdeutlichten die Betriebe nicht nur die ›Produktivität‹ des Lagerprojekts, sondern boten den SA-Männern auch die Möglichkeit, die erhoffte eigene Zukunft greif- und erfahrbar zu machen. Diese Vorwegnahme der versprochenen Kultivierungserfolge nutzten die Wachmannschaften in der Praxis für ganz eigene Zwecke. Tatsächlich dienten die Wirtschaftsbetriebe vor allen Dingen dazu, die Ernährungslage der Wachmannschaften zu verbessern und gleichzeitig finanzielle Mittel für die SA-Gemeinschaft zu generieren. Organisiert waren sie in einem undurchsichtigen Geflecht aus Verpflegungsfonds und Kameradschaftskassen. Beides waren Finanztöpfe, die durch Einzahlungen der Wachmänner entstanden waren. Der Unterschied lag in der zuständigen Aufsichtsbehörde, nach der sich auch die Eigentumsansprüche richteten. In den Verpflegungsfonds eines Lagers wurde das Verpflegungsgeld von einer Reichsmark pro Wachmann und Tag eingezahlt; über den Fonds sollte also die Ernährung der Wachmannschaften organisiert werden. Der Menagebuchführer, ein Wachtmeister, war für die Bestellung von Lebensmitteln und das Bezahlen der Rechnungen zuständig; seine Geschäfte wurden vom Verwaltungsinspektor des Lagers kontrolliert. Formal gesehen war der Verpflegungsfonds also Teil der Justizverwaltung. Anders die Kameradschaftskassen: Diese waren durch Umlagen unter den Wachmännern als Mitglieder der SA-Stürme entstanden. Entsprechend erhob also die SA-Gemeinschaft Anspruch auf Besitz und Vermögen der Kameradschaftskassen.287 Die Aufteilung der Zuständigkeiten für die landwirtschaftlichen Betriebe variierte von Lager zu Lager. Auch unterschied sich die Ausrichtung nach Vieh- oder Feldwirtschaft. Im Juni 1938 bewirtschaftete der Verpflegungsfonds in Oberlangen 80 Morgen Land und besaß 10 Lämmer und 58 Gänseküken. Die Kameradschaftskasse hingegen besaß »35 Schweine, 1 Kuh, 2 Rinder, viele Hühner und 4 Schafe.« In Walchum hingegen bewirtschaftete die Kameradschaft auch die Felder und besaß über 100 Schweine. Zudem beanspruchte sie »die Hühner, Tauben, Enten, Fa-

EZ, 11. 9. 1936. Vgl. EZ, 14. 10. 1935; 13. 6. 1936; 26. 6. 1936 u. 11. 9. 1936. 287 Vgl. Prüfbericht vom 21. 7. 1938, in: BA Berlin R 2 Nr. 24006. 285 286

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225 sanen und die sonstigen Tiere.«288 Die Erträge verkauften die Kameradschaften zu Großmarktpreisen an den jeweiligen Verpflegungsfonds. Auf diese Weise wurde also Geld in die Kameradschaftskassen gespült, das für Neuanschaffungen, aber auch Gemeinschaftsaktionen genutzt werden konnte. Auch in Börgermoor und Aschendorfermoor betrieb fast ausschließlich die Kameradschaft den Wirtschaftshof, während der Verpflegungsfonds die Produkte aufkaufte. In Esterwegen und Brual-Rhede waren die Besitzverhältnisse hingegen umgekehrt. Die jeweilige Ausgestaltung entschied sich danach, ob die SA ihre Besitzansprüche gegenüber den Verwaltungskräften des Lagers behaupten konnte. Einen Sonderfall stellte das Lager Neusustrum dar, wo die Kameradschaftskasse im Februar 1938 aufgelöst worden war. Der zuständige Lagerwachtmeister Bode hatte zuvor 1.600 RM unterschlagen und war anschließend vom Amtsgericht Meppen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden.289 Die Frage der Besitzansprüche von Verpflegungsfonds oder Kameradschaftskasse war dabei einerseits für die Geldmittel der SA-Gemeinschaft entscheidend, andererseits aber kaum an reale Eigenleistungen der SA-Männer gekoppelt. Tatsächlich waren die Betriebe überwiegend durch die kostenfreie Ausnutzung von Häftlingsarbeit errichtet worden, was die SA gegenüber der Justizverwaltung auch unumwunden zugab. Die SA behauptete zwar, die Gebäude aus eigenen Mitteln errichtet zu haben, konnte aber zum Beispiel im Lager Börgermoor, wo sie einen massiv gebauten Viehstall mit anliegender Wohnung, Waschküche und Futterraum, ein Einfamilienhaus, ein Treibhaus und groß angelegte Ziergärten beanspruchte, einer Prüfkommission des Rechnungshofs keinerlei Nachweise über den Kauf von Baumaterialien oder Ähnlichem vorlegen. Auch die Bewirtschaftung der Landwirtschaftsflächen erfolgte überwiegend durch Häftlinge, erneut unentgeltlich. Auch die Betriebskosten für Strom, Wasser usw. trug die Justizkasse.290 Insgesamt entstand so ein Geldkreislauf, in dem die SA-Männer in den Verpflegungsfonds einzahlten, dieser aber mehr und mehr Lebensmittel von der Kameradschaft bezog. Durch diesen Handel gelangte das Geld zu den SA-Männern zurück, die diese Mittel zwar nicht individuell, aber gemeinschaftlich nutzen konnten. Die treibende Kraft hinter diesem System war Kommandeur Schäfer, der selbst die dreistesten Auswüchse sanktionierte.291 Schäfer nutzte hier also seine gefestigte Machtposition ebenso wie sein fiskalisches Talent, um die Situation der

Ebd. Vgl. ebd. 290 Vgl. ebd. 291 So hatte Schäfer für Neusustrum eine Verfügung erlassen, nach der die Verkaufserlöse der Kameradschaftskasse zuzuführen waren, während Anschaffungs- und Unterhaltskosten nachweislich vom Verpflegungsfonds getragen wurden. Vgl. ebd. 288 289

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226 SA-Gemeinschaft zu verbessern und einen größeren Spielraum für Gemeinschaftsaktivitäten zu erreichen. Wie auch bei den gemeinschaftsbildenden Maßnahmen verknüpfte Schäfer im Fall der landwirtschaftlichen Betriebe eine Verbesserung der Lebensumstände der Wachmannschaften mit einer nach innen gerichteten, identifikatorischen Sinnstiftung ebenso wie mit einer äußeren Repräsentation. Als utopische Überhöhung reichte beides über den engeren Rahmen des Siedlungsversprechens hinaus, da es hier nicht mehr allein um die SA-Siedlerstellen, sondern um die Lager als Ausgangspunkte ganzer Siedlungen ging. Der Fall des Wachtmeisters Bode weist aber auch darauf hin, dass in den Wachmannschaften eine allgemeine Korruption verbreitet war. Diese entsprang allem Anschein nach einer Anspruchshaltung, die sich aus dem Aufstiegsversprechen entwickelt hatte und gemäß derer den SA-Männern mehr zustand, als ihnen die Justizverwaltung zubilligte. Schäfers kreative Verfahren zur Kapitalakquise überschritten immer wieder die Grenzen des verwaltungsrechtlichen Rahmens, was schließlich mit zu seiner Suspendierung und dem folgenden Dienststrafverfahren im Jahr 1938 beitragen sollte.292 Die Korruption der Lagerleitung von Neusustrum war ebenfalls über den Kreis der Wachmänner hinaus bekannt.293 So ist es kaum verwunderlich, dass sich auch andere SA-Männer persönlich bereicherten. Karl Schröder zufolge hatten nicht nur die Wachleute, sondern auch die Kneiste »alle […] ›Dreck am Stecken‹.«294 Beispielsweise ließen Wachleute von Gefangenen Bau- und Renovierungsarbeiten an ihren Wohnungen durchführen – eine Praxis, die sich auch nach dem Dienststrafverfahren weiter fortsetzte.295 Die Unterschlagung von 1.600 RM durch Wachtmeister Bode war sicherlich ein Extremfall, bei dem auch die sonst übliche Vertuschungspraxis der SA-Führer nicht mehr griff. Walter Erhard berichtet im Interview, dass seine Lagerleiter Maue und Zerbst nicht einschritten, wenn er Gefangene für eigene Zwecke einsetzte. Beim Betrachten eines Fotos erzählt Erhard, dass er auch mit SA-Männern derartige ›Arbeitseinsätze‹ durchführte: WE: Hier, sehen Sie, da bin ich mit meinem Zug in die Gefangenenkleiderkammer gegangen, habe ihnen Gefangenenkleidung anziehen lassen und bin mit ihnen da hin gegangen und habe einem Bauern in Walchum geholfen bei der Kartoffelernte, mit meinen Leuten. Da konnte ich mit Gefangenen nicht hin. Das hab ich mit meinen Leuten gemacht. I: Und warum haben Sie die sich umziehen lassen?

Vgl. hierzu Kap. III.5. Tagebuch Franz Gürtner, 22. 5. 1935, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 36 /1995 Nr. 13. 294 Schröder: Station, S. 132. 295 Vgl. Urteil Schäfer 1938; NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 191 u. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 812. 292 293

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227 WE: Das hat meine Leute abgelenkt, das hat meine Leute es auch leichter gemacht, dass sie so was machen. I: Ach so, warum haben die sich umgezogen? [Bitte?] Warum haben die sich umgezogen oder warum habenWE: Weil ich doch nicht erwarten konnte, dass sie mit ihrem Zeug da auf der Erde rum kriechen. Haben se Gefangenenkleidung angekriegt.296 Dass die SA-Männer Häftlingskleidung anzogen, erscheint durchaus bemerkenswert. Naheliegender als Erhards wechselnde Begründungen ist, dass ein Ernteeinsatz von vermeintlichen Strafgefangenen für Außenstehende unverdächtiger aussah. Tatsächlich wurden jährlich große Gefangenenkontingente zur Erntehilfe eingesetzt.297 Dies streitet Erhard aber ebenso ab wie die Bezahlung der SA-Männer, die er nur begrenzt zugeben mag: I: WE: I: WE:

Hat der auch dafür bezahlt? Nein. [Der Bauer-] Essen und Trinken. Weil die Bauern, wenn die also- die konnten ja auchNee, das ist nicht immer gewesen- das ist mal gewesen- sind alles Ausnahmen. I: Die konnten ja auch Gefangene bekommenWE: Nein, konnten sie nicht bekommen, nein, das konnten sie nicht kriegen.298 Für den ehemaligen Wachmann, der auch 50 Jahre später die ›Moor-SA‹ als legitime Ordnungsinstanz ansieht, ist es an dieser Stelle kaum möglich, die eigene Korruption zu benennen. Dass die Bezahlung solcher Arbeiten »alles Ausnahmen« gewesen seien, erscheint mehr als unwahrscheinlich und widerspricht den anderen Befunden zu Korruptionsfällen. Die Korruption erscheint vielmehr als Ausdruck einer Erwartungs- und Ermächtigungshaltung der Wachmänner, die den versprochenen kollektiven Aufstieg nicht einfach abwarten wollten. Wenn man die Korruption aber als flächendeckendes Phänomen begreift, muss auch sie zum langsamen Fortschreiten der Kultivierungsarbeiten mit beigetragen haben.

Auseinandersetzung mit dem Reichsarbeitsdienst Im Zuge der Erweiterung des KZ-Systems wurde das Konzentrationslager Esterwegen im September 1936 aufgelöst. Die Grenznähe war sicherheitspolitisch bedenkInt WE, S. 25. Vgl. KW I, S. 673 f. 298 Int WE, S. 25. 296 297

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228 lich, und es fehlten Erweiterungsmöglichkeiten.299 Heinrich Himmler hinterließ dem konkurrierenden Projekt der Strafgefangenenlager allerdings ein vergiftetes Abschiedsgeschenk, indem er die Entscheidung öffentlich anders begründete: Dieses Lager im Emsland habe ich aufgelöst auf die Vorstellungen des Reichsarbeitsführers Hierl hin, der mir ebenso wie die Justiz erklärte, es sei falsch, wenn man dem einen sage, der Dienst im Moor, der Dienst, ein Land urbar zu machen, sei ein Ehrendienst, während man den anderen als Häftling dort hinsetze und ihm sage: Dir Burschen werde ich schon Mores beibringen, dich schicke ich ins Moor.300 Nach einer Absprache vom 6. Dezember 1934 waren die Arbeitsbereiche von RAD und Strafgefangenenlagern eigentlich klar getrennt: während die Justizverwaltung für den nördlichen Emslandkreis Aschendorf-Hümmling zuständig war, sollte der Arbeitsdienst in den Kreisen Meppen, Lingen und Grafschaft Bentheim eingesetzt werden, die durch den größeren Anteil an Sand- und Heideflächen eine leichtere Kultivierung versprachen.301 Im Sommer 1936 verkaufte die Gestapo im Auftrag Himmlers das Lager Esterwegen allerdings an den RAD, womit dieser in die von der Justizverwaltung beanspruchten Gebiete eindrang. Der Vorgang wurde erst nach Vertragsabschluss bekannt; Himmlers Aussage, die Justiz teile seine Vorstellungen, war also erfunden gewesen.302 Die Justizverwaltung protestierte daraufhin vehement gegen die geplante Übernahme Esterwegens durch den Arbeitsdienst. Staatssekretär Freisler pochte auf die »scharfe örtliche Trennung der Arbeitsplätze«,303 ohne die er sich nicht in der Lage sah, Strafgefangene zum Arbeitseinsatz zu stellen. Hierl antwortete mit einer Kampfansage: Er bezeichnete jegliches »Ansinnen, unsere große Kulturarbeit im Emsland mit Strafgefangenen zu teilen, als Angriff auf die Arbeitsehre des Reichsarbeitsdienstes überhaupt«. Eine Rückgabe Esterwegens komme für ihn grundsätzlich nicht in Betracht: Vgl. Knoch: Emslandlager, S. 542. Rede des Reichsführers-SS Heinrich Himmler vom Januar 1937 über Wesen und Aufgabe der SS und Polizei, in: KW I, S. 245–248, hier: 246. 301 Vgl. Reichsminister Kerrl an RMEL, 25. 6. 1936, in: KW I, S. 582–584. Zur Geschichte des RAD in den südlichen Emslandkreisen vgl. Hubert Gerlich: »Die neue Provinz des Führers«. Der Reichsarbeitsdienst im Emsland (1935–1938), in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 53 (2007), S. 98–114 und Hubert Titz: Die Reichsarbeitsdienstlager in der Grafschaft Bentheim. Organisation und Aufgaben des Reichsarbeitsdienstes, in: Volkshochschule Nordhorn (Hg.): Lager unterm Hakenkreuz. Reichsarbeitsdienst, Kriegsgefangene und Flüchtlinge in der Grafschaft Bentheim, Bad Bentheim 1990, S. 1–14. 302 Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 191 u. RMEL, 20. 7. 1936, in: KW I, S. 587. 303 Staatssekretär Freisler, 7. 9. 1936, in: ebd., S. 591.

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229 ich werde im Gegenteil den Kampf zur Beseitigung des gegenwärtigen […] Zustands mit allen tauglichen Mitteln fortführen, bis unser Arbeitsgebiet von Strafgefangenen völlig frei ist. In Ehrensachen gibt es für den Reichsarbeitsdienst keine Kompromisse.304 Die geplante Übernahme Esterwegens und der Anspruch der alleinigen Zuständigkeit für das Kultivierungsprojekt durch den RAD mussten auf die Wachmannschaften als eine existenzielle Bedrohung wirken. Schon zuvor war es mehrfach zu Konflikten zwischen Lagerprojekt und Arbeitsdienst gekommen, die sich anscheinend auch im Befinden der Wachmänner niederschlugen. Im Sommer 1935 berichtete Hans-Hugo Daniels, dass immer wieder Gerüchte aufkämen, die Strafgefangenenlager würden durch den Arbeitsdienst übernommen werden und »die Wachtmänner auf der Straße liegen.«305 Hatte Daniels schon damals den Eindruck, die SA-Männer würden seinen gegenteiligen Beteuerungen kaum Glauben schenken, dürfte sich die dahingehende Stimmungslage rund ein Jahr später nochmals deutlich verschlechtert haben. In dieser Konfliktsituation erfuhr das Lagerprojekt jedoch weitläufige Unterstützung durch verschiedene Reichs- und Mittelinstanzen. Das Finanzministerium, Kriegsministerium, Wirtschaftsministerium, die Reichsstelle für Raumordnung, die Osnabrücker Bezirksregierung und natürlich auch das Justizministerium befürworteten den Komplex der Strafgefangenenlager und den Arbeitseinsatz seiner Häftlinge.306 Das von Werner Schäfer forcierte Programm von Besuchen durch Amtsträger, bei denen sich die SA-Männer als Ordnungspioniere gerierten und geordnete Lager, Kultivierungserfolge und landwirtschaftliche Musterbetriebe präsentierten, dürfte diese institutionenübergreifende Rückendeckung zumindest begünstigt haben, zumal der RAD, in dessen Bereich lediglich Vorbereitungsarbeiten verrichtet und »keine nennenswerten Ergebnisse erzielt worden« waren,307 vergleichbare Maßnahmen nicht ergreifen konnte. Der Arbeitsdienst hatte bis dahin im südlichen Emsland statt ursprünglich vereinbarter 7.700 Männer nur 3.500 Arbeitsdienstler bereitgestellt, deren jeweilige Tagesleistung zudem maximal die Hälfte der Leistung eines Strafgefangenen erreichte. Insofern erschien es mehr als fraglich, ob der RAD die nötigen Abteilungen für das nördliche Emsland überhaupt stellen konnte. Der Osnabrücker Regierungspräsident Eggers verfasste daher einen Gegenentwurf, nach dem sämtliche Erschlie-

Sämtliche Zitate: RAD-Führer Hierl, 14. 9. 1936, zit. n. Suhr: Emslandlager, S. 192. Hervorhebungen im Original. 305 Adjutant KmSGL, 9. 7. 1935, in: Angelegenheiten III. 306 Vgl. KW I, S. 582–604. 307 Suhr: Emslandlager, S. 193. 304

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230 ßungsarbeiten – auch in den südlichen Emslandkreisen – durch Strafgefangene durchzuführen seien.308 Unter diesem Druck musste der RAD schließlich doch von einem Kauf Esterwegens absehen und das Lager der Justizverwaltung überlassen. Im Dezember 1936 wurde die bisherige Raumaufteilung bekräftigt.309 Allerdings musste auch die Justiz Zugeständnisse machen: So sollten zukünftig mit Zuchthaus Bestrafte nach Möglichkeit nicht mehr ins Emsland verlegt werden, um den Ehrvorstellungen des RAD entgegenzukommen.310 Außerdem sollte die Arbeit der Strafgefangenen »auf jeden Fall so rechtzeitig beendet [werden], dass dem Reichsarbeitsdienst die Ableistung der letzten Vorbereitungsarbeiten und die erste Siedlerhilfe überlassen bleibt.«311 Diese Abmachung bildete einen fundamentalen Widerspruch zum Selbstverständnis der ›Moor-SA‹. Werner Schäfer hatte mehrfach das Vermächtnis hervorgehoben, das die SA zukünftigen Siedlern hinterlassen würde, so auch im Mai 1936 zum Richtfest des Emslandhauses: »Möge das Haus Generationen überdauern, und alle den Bauern und Siedlern, die später hier im Moor ansässig sein werden, Zeugnis geben von der harten Arbeit, die jetzt hier geleistet wird, damit sie auch uns nicht vergessen möchten.«312 Auch die regionale Presse stellte immer wieder die vermeintlichen Leistungen der ›Moor-SA‹, die ja in Wirklichkeit durch Gefangenenarbeit entstanden waren, heraus. So hieß es beispielsweise in der »Ems-Zeitung« nach einer Beschreibung der Parkanlagen und Sportplätze der Lager: »Wie dankbar werden die Bewohner [zukünftiger Siedlungsdörfer, D. R.] den SA-Männern sein dafür, daß sie ihnen für den Dorfplatz diese Anlagen schufen.«313 Dennoch finden sich in diesem Kontext keine Proteste der SA-Männer im Schriftverkehr der Lager mit der Justizverwaltung – im Gegensatz zu anderen, teils weitaus weniger gravierenden Anlässen.314 Zum einen dürfte sich auch bei den SAMännern nach den ersten Jahren eine gewisse Nüchternheit eingestellt haben, was vorschnelle Ankündigungen und Zielsetzungen vorgesetzter Instanzen anbelangte. Den SA-Männern war bekannt, dass das Lager Esterwegen nun von ihnen übernommen würde, und ebenso dürften sie gehört haben, dass der RAD im südlichen 308 309 310

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Vgl. ebd., S. 191 und Regierung Osnabrück: Erschließung der Staatsgebiete in den emsländischen Mooren, 8. 12. 1936, in: KW I, S. 595–598. Vgl. KW I, S. 601 f. Der Einschub »nach Möglichkeit« wurde hinzugefügt, weil sich die Justizverwaltung nicht in der Lage sah, genügend Gefängnisgefangene zum Arbeitseinsatz zu stellen. Die so ausgehöhlte Vorgabe wurde in der Praxis nie umgesetzt. Zur Belegung der Emslandlager mit Gefängnis- bzw. Zuchthausgefangenen vgl. KW II, S. 1262–1307. Vereinbarung vom 17. 12. 1936, in: KW I, S. 601. EZ, 23. 5. 1936. Vgl. beispielhaft auch EZ, 14. 10. 1935; EZ, 8. 8. 1936. EZ, 26. 6. 1937. Vgl. Angelegenheiten I–III. Durchsetzung

231 Emsland zu wenige Abteilungen stellen konnte. Daher blieb abzuwarten, ob der Arbeitsdienst überhaupt zu den benannten letzten Vorbereitungsarbeiten in der Lage sein würde. Auch in den Folgemonaten sollte der RAD wiederholt Zusagen über neu zu entsendende Arbeitskräfte brechen. Wichtiger als solche hypothetischen Überlegungen dürfte für die SA-Männer hingegen eine parallele Entscheidung gewesen sein, die ebenfalls im Dezember 1936 abschließend gefällt wurde: die Ausweitung des Einsatzes von Strafgefangenen auf 10.500 Häftlinge, mit der eine Erweiterung der Lager und eine Vergrößerung der Wachtruppe auf 1.500 Mann einhergingen.315 Durch die anstehende Erweiterung ergab sich für die SA-Männer die Aussicht auf eine Vielzahl an Beförderungsstellen und damit eine unmittelbare, greifbare Aufstiegsperspektive, die ihnen zumindest in dieser Situation wichtiger gewesen sein dürfte als potentiell ausbleibende Ehrbekundungen in künftigen Jahren.

Das Primat des Kultivierungsprojekts Nachdem die Rf R Untersuchungen angestellt hatte, wie lange die »Schaffung leistungsfähigen deutschen Bauerntums«316 im Emsland dauern würde, bemängelte sie ebenfalls im Sommer 1936, dass die Kultivierungsarbeiten deutlich langsamer voranschritten, als ursprünglich gedacht war. Hanns Kerrl schrieb daraufhin an Landwirtschaftsminister Darré, er sei »zu der Feststellung gekommen, dass […] bei dem heutigen Einsatz und nach den bisherigen Erfahrungen eine Zeit von 30 Jahren erforderlich sein wird, um die großen Kultivierungsarbeiten der Emsländischen Moore durchzuführen.« Da ihm dies »bei der Beschränktheit des deutschen Lebens- und Ernährungsraumes untragbar« erschien, forderte er eine deutliche Ausweitung des Arbeitseinsatzes von Strafgefangenen und Arbeitsmännern.317 In der nachfolgenden Besprechung kritisierte das Landwirtschaftsministerium RAD und SS, die nur die Hälfte der zugesagten beziehungsweise gar keine Arbeitskräfte stellen würden. Auch die anderen beteiligten Instanzen sahen die Verzögerungen im Kultivierungsprojekt nicht etwa in den utopischen Vorgaben, der mangelnden Planung oder der Ineffektivität der Zwangsarbeit begründet, sondern folgten der Logik des Ausbauarguments und forderten eine Verdoppelung der Arbeitskräfte. Die Justizverwaltung zeigte sich aufgrund der weiterhin steigenden Gefangenenzahlen umgehend bereit, mindestens 4.500 zusätzliche Strafgefangene ins Emsland zu verlegen.318

Der Ausbau der Lager ist wiederum durch Fotos der SA-Männer belegt. Vgl. Archiv AK DIZ Sammlung Gertrud Sieg. 316 Reichsminister Kerrl an RMEL, 25. 6. 1936, in: KW I, S. 582. 317 Beide Zitate: ebd. 318 Vgl. Reichsfinanzministerium, 7. 7. 1936, in: ebd., S. 582–591. 315

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232 In den Folgemonaten wurden verschiedene Größenordnungen und Szenarien erwogen, bis schließlich im Dezember 1936 die Erhöhung der Gefangenenzahl auf 10.500 beschlossen wurde. Die Unterbringung der zusätzlichen Häftlinge geschah durch die Übernahme Esterwegens für 2.000 Strafgefangene und die Erweiterung der bestehenden Lager auf eine Kapazität von je 1.500 Strafgefangenen beziehungsweise 1.000 im Fall von Walchum.319 Das Neuartige an dieser erneuten Lagererweiterung war, dass die grundlegende Motivation dahinter im Vorantreiben des Siedlungsprojekts lag. Während es sowohl bei der Einrichtung der staatlichen Konzentrationslager als auch bei der Übernahme der Lager durch die Justiz um eine sinnvolle Beschäftigung ohnehin vorhandener Häftlinge gegangen war, erlangte nun erstmals das Kultivierungsprojekt Priorität. Zudem wurde beschlossen, die Emslandkultivierung in den »Vierjahresplan« einzubeziehen. Mit dem sogenannten »Emsland-Erlass« wurde Hanns Kerrl durch Hermann Göring beauftragt, »alle Maßnahmen zu treffen, die zu einer beschleunigten Kultivierung des Emslandes und der angrenzenden Gebiete erforderlich sind und insbesondere den Einsatz und die Zusammenarbeit der Arbeitskräfte zwischen den beteiligten Stellen endgültig zu regeln.«320 Kerrl wandte sich umgehend an Regierungspräsident Eggers und ersuchte, »mit größter Beschleunigung mir folgende Einzelpläne im Maßstab 1 : 10.000 vorzulegen«.321 Dies sollten ein Generaleigentumverteilungsplan, ein Generalmeliorationsplan, ein Generalbodennutzungsplan, ein Generalverkehrsplan und ein ständig zu aktualisierender Generalarbeitseinsatzplan sein. Zusätzlich sollte das RMEL einen Generalbesiedlungsplan erarbeiten. Aus diesen Einzelplänen gedachte Kerrl, einen »Generalplan des gesamten Emslandes« zu erstellen.322 Die Einbindung in den Vierjahresplan legitimierte das Lagerprojekt nun auch ökonomisch.323 Im Gegenzug mussten sich die Kultivierungsarbeiten aber stärker an Effizienzkriterien messen lassen. Als Maßnahme für die beschleunigte Kultivierung sah Kerrl »vornehmlich eine Verstärkung von Arbeitskräften bei den Kultivierungsarbeiten«.324 Folglich wurde beispielsweise die Abordnung von etwa 1.300 Strafgefangenen und 75 Wachmännern zur Erntehilfe kritisiert, da diese als Arbeitskräfte in den Mooren fehlten. Dennoch wurden auch im Folgejahr wieder Gefangene zur Erntehilfe abgestellt. Hier zeigte sich, dass sowohl Kommandeur

319 320 321 322 323 324

232

Vgl. ebd., S. 602–650 u. 772. Reichsminister Kerrl, 6. 1. 1937, in: ebd., S. 611. Die »Ems-Zeitung« vermeldete diese Beauftragung schon vorab im Dezember 1936. Vgl. EZ, 23. 12. 1936. Reichsminister Kerrl, 6. 1. 1937, in: KW I, S. 612. Ebd. Vgl. Knoch: Emslandlager, S. 544 f. Reichsminister Kerrl, 24. 3. 1937, in: KW I, S. 648. Durchsetzung

233 Schäfer als auch der Justizverwaltung im Zweifelsfall eher daran gelegen war, durch derartige Maßnahmen kurzfristige Prestigeerfolge zu erzielen.325 Auch bei der Erarbeitung der Generalpläne gab es Schwierigkeiten. So war das benötigte Kartenmaterial im entsprechenden Maßstab noch gar nicht vorhanden, was sich auch bis zum Juli 1937 nicht ändern sollte.326 Die Erstellung eines Generalmeliorationsplans war im Spätsommer nicht einmal ansatzweise abzusehen, da das zuständige Kulturbauamt Überlastung durch die tägliche Anleitung der Kultivierungsarbeiten beklagte. Hieraus resultierten wiederum Spannungen zwischen Bezirksregierung und Rf R. Die Bezirksregierung forderte dafür bei der Rf R 20 Spezialkräfte an, für deren Arbeit sie weitere zwei Jahre veranschlagte.327 Im Sommer 1938 wurde die Planerstellung schließlich eingestellt. Die oft noch im Entwurfsstadium befindlichen Einzelpläne wurden zu einem Gesamtplan zusammengefügt, der in seiner reduzierten Form zunächst kaum weitere Erwähnung fand, dafür aber nach 1945 von besonderer Bedeutung sein sollte.328 Allein diese Beispiele verdeutlichen, dass Hanns Kerrl und die Rf R zwar die Planungshoheit über das Siedlungsprojekt erlangt hatten, diese aber keineswegs mit einer Weisungsbefugnis gegenüber anderen beteiligten Stellen einherging. Um Vorstellungen zur Gestaltung des Kultivierungsprojekts durchsetzen zu können, mussten weiterhin Interessenallianzen aus verschiedenen Parteien gebildet werden. Trotz der Spannungen bei der Planerstellung fand die Rf R in der Bezirksregierung, die praktisch als einzige beteiligte Instanz ein genuines Interesse am Emsland hatte, oftmals einen Verbündeten. Zumindest 1937 galt dies auch noch für das RMEL, das sich von einer beschleunigten Emslandkultivierung langfristige Erfolge im Sinne der Autarkiepolitik des »Vierjahresplans« erhoffte, und die Justizverwaltung, die weiterhin mit einer Überbelegung der regulären Haftanstalten zu kämpfen hatte.329 Die Kritik der Planungsbehörden richtete sich zunächst weniger gegen die Strafgefangenenlager, die ab September 1937 nahezu voll belegt waren,330 als gegen den Reichsarbeitsdienst, der im Zuge der Erweiterung 10.000 Arbeitsmänner für das südliche Emsland zugesagt hatte. Verschiedene Bezirksstellen monierten ebenso wie die Rf R weiterhin die Ineffektivität und Unzuverlässigkeit des RAD, 325

326 327 328 329 330

Vgl. ebd., S. 673 f. und BA Berlin R 2 Nr. 24006. In einem anderen Fall wurde die zuvor übliche Abgabe von Strafgefangenen an die Torfindustrie aufgrund von Einwänden der Rf R zumindest für 1938 gestoppt. Vgl. KW I, S. 691. Vgl. ebd., S. 613 f. u. 652. Vgl. Schreiben vom 2. 9. 1937, in: NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 48 und Regierungspräsident Osnabrück an Rf R, 25. 9. 1937, in: KW I, S. 667. Vgl. Bezirksplaner Hugle, 27. 8. 1941, in: NLA Osnabrück Rep 430 Dez 108 Akz 26 /73 Nr. 412. Vgl. Knoch: Emslandlager, S. 544; KW I, S. 602–604 u. 670–676. Vgl. KW II, S. 1426.

Die Logik des Ausbauarguments

233

234 der im gleichen Monat nur 6.550 Männer im Emsland hatte.331 Während Konstantin Hierl weiterhin betonte, »dass die Arbeit des Arbeitsdienstes vom Ehrenstandpunkt aus bewertet werden müsse«,332 drängten ihn die anderen Parteien, die Kuhlarbeiten den Strafgefangenen zu überlassen. Nur die abschließenden Arbeiten sollte der RAD noch übernehmen, getreu dem Motto »Dem Spaten muss die Ernte folgen.«333 Auch Hierls erneuter Zusage zur Entsendung weiterer Arbeitsmänner wurde mit Skepsis begegnet, da bekannt geworden war, dass in anderen Teilen des Reiches bereits 150 RAD-Lager zu wenig vorhanden waren. Nachdem Bezirksstellen weitere Vertragsbrüche und die Ineffektivität des RAD beklagt hatten, ordnete Hierl im Dezember 1937 schließlich den vollständigen Rückzug des RAD aus den Staatsgebieten des Emslands an.334 Stattdessen sollten nun auch im südlichen Emsland Strafgefangene zum Einsatz kommen. Die Bezirksstellen hatten diese Übertragung der Zuständigkeiten im Vorjahr wiederholt gefordert. Auch bei der Rf R waren diese Überlegungen auf Zustimmung gestoßen. Anfang Januar 1938 einigten sich Vertreter der Reichsstelle mit Justiz- und Landwirtschaftsministerium auf die Entsendung von 9.500 weiteren Strafgefangenen, die in acht neuen Lagern in den Kreisen Meppen, Lingen und Grafschaft Bentheim untergebracht werden sollten. Die zusätzlichen Lager sollten nach dem Abzug des RAD im Herbst 1938 umgehend ihren Betrieb aufnehmen.335 Nach diesen Plänen sollte die Kapazität des Lagerkomplexes also erneut verdoppelt werden. Innerhalb von weniger als zwei Jahren wäre die Gefangenenzahl von 5.500 auf 20.000 Gefangene angewachsen. Für Kommandeur Schäfer hätte dies einen ungeahnten Machtzuwachs bedeutet, zumal die Justizverwaltung die Absicht erklärte, dass entsprechend »die vorhandene Wachtruppe (SA-Standarte) verstärkt werden« sollte.336

4. Doppelte Kultivierung. Repräsentationskultur der ›Moor-SA‹ Unmittelbar nach seiner Ankunft im Emsland begann Kommandeur Schäfer, Maßnahmen zur Repräsentation der Wachmannschaften zu ergreifen und so das öffentliche Leben in der Region mitzugestalten. Bereits wenige Tage nach seinem Amtsantritt fuhren am 16. April 1934 sämtliche abkömmlichen SA-Männer mit Fahrrädern,

331 332 333 334 335 336

234

Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 194 und KW I, S. 653–687. So Hierl in einer gemeinsamen Sitzung der beteiligten Instanzen am 22. 10. 1937. Ebd., S. 674. Ebd., S. 673. Vgl. ebd., S. 677–687. Vgl. ebd., S. 691–718. Reichsfinanzministerium [Kallenbach], 14. 1. 1938, in: ebd., S. 697. Durchsetzung

235

Abb. 15 : Werner Schäfer und SA-Männer nach einem Aufmarsch in Papenburg, Mai 1935.

Kreis- und Kleinbahn »zur Vereidigung nach Papenburg« und weihten anschließend mit dem örtlichen Kriegerverein in Wippingen ein neues Kriegerehrenmal ein.337 Zwar erkannte Schäfer anscheinend relativ schnell, dass derartige Maßnahmen im katholischen Milieu nur bedingt auf Resonanz stoßen würden, und erweiterte das Repertoire öffentlicher Auftritte bald um scheinbar weniger politische Aktionen. Dennoch ließ er die ›Moor-SA‹ weiterhin regelmäßig aufmarschieren und griff damit auf ein bekanntes Mittel aus der ›Kampfzeit‹ zurück: Schon während des Aufstiegs der NSDAP gehörte das wiederholte Aufmarschieren in ländlichen Kleinstädten zur ›Landpropaganda‹ der SA. Damit wollte sie ihr paramilitärisches Gewaltpotential verdeutlichen und gleichzeitig Bestandteil des Lebensalltags werden. Als symbolische Abgrenzung nach außen trugen solche Aufmärsche zudem »zur Identitätskonstruktion der SA-Männer bei.«338 Schäfer zeigte sich bei die-

337 338

EZ, 16. 4. 1934. Reichardt: Faschistische Kampfbünde, S. 515. Vgl. auch ebd., S. 103 f. und Longerich: Bataillone, S. 72–77. Zur Etablierung der NSDAP und ihrer Verbände in ländlichen und kleinstädtischen Milieus vgl. Andrew Stuart Bergerson: Ordinary Germans in Extraordinary Times. The Nazi Revolution in Hildesheim, Bloomington / Indianapolis 2004; Frank

Doppelte Kultivierung

235

236 sen Auftritten betont zugänglich und ließ sich im kameradschaftlichen Kreis ›seiner‹ SA-Männer fotografieren.339 Gleichzeitig kam es bei den Aufmärschen der ›Moor-SA‹ – im Gegensatz zur ›Landpropaganda‹ vor 1933 – allem Anschein nach nicht zu Gewaltausbrüchen gegen die Zivilbevölkerung. Dies hätte dem Verständnis der ›Moor-SA‹ als Teil der Ordnungsmacht entgegengestanden und wäre zudem Schäfers Bestrebungen, die Gegensätze zum katholischen Milieu abzuschleifen, zuwidergelaufen. Doch die fortgesetzten Aufmärsche verdeutlichen auch, dass Schäfer sich nicht einfach bei der emsländischen Bevölkerung anbiedern wollte. Stattdessen vertrat die ›Moor-SA‹ durchaus einen gesellschaftlichen Erneuerungsanspruch  – Schäfer sprach vom »Kampf« gegen die »Drahtzieher« des Milieus, um die Emsländer aus ihrer »geistigen Zwangsjacke« zu befreien.340 Der selbstempfundene Auftrag der ›Moor-SA‹ war es, »in die Moorwüste nicht nur Zivilisation sondern auch Kultur zu tragen«341 und mithilfe vordergründig unverfänglicher Elemente der Repräsentationskultur der lokalen Bevölkerung zumindest einzelne Versatzstücke nationalsozialistischer Ideologie näherzubringen. So sollte eine doppelte Kultivierung der Region – sowohl durch die Erschließung der Moorgebiete als auch in geistig-kultureller Hinsicht – erfolgen. Insofern erfüllte auch die äußere Repräsentation der ›Moor-SA‹ mehrere gleichzeitige Funktionen: Zum einen sollte sie den gestalterischen Anspruch der ›Moor-SA‹ zementieren und das Lagerprojekt nach außen hin legitimieren. Zum anderen war die vielfältige Öffentlichkeitsdarstellung als Beitrag zu einer kulturellen Erneuerung der Region gedacht, die sowohl den SA-Männern ihre Rolle als Protagonisten des Modernisierungsprojekts verdeutlichen als auch die lokale Bevölkerung mit einbeziehen sollte. Letztere war bei derartigen Maßnahmen gleichzeitig Publikum und Adressat. Die verschiedenen Besuche der Lager durch NS-Prominenz sollten nicht nur den Rückhalt der Exponenten des Regimes sichern, sondern gleichzeitig der emsländischen Bevölkerung und den Wachmannschaften selbst die überregionale Aufmerksamkeit verdeutlichen, die das Lagerprojekt erfuhr. Auch die landwirtschaftlichen Betriebe der Lager dienten nicht nur zur Verbesserung der Versorgungssituation und als Prestigeobjekte gegenüber den hochrangigen Besuchern, Bösch: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen 2002, S. 116–32 und Wolfram Pyta: Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996, S. 324–431. 339 Vgl. Archiv AK DIZ Sammlungen Paul Meyer u. Gertrud Sieg. Fotoalben Straatmann u. Bernhard W. sowie EZ, 26. 3. 1936, 15. 11. 1937 u. 29. 11. 1938. 340 BA Berlin OPG Hans Loritz. 341 Geheimbericht: Die SA-Standarte Pionier 10 »Emsland«, in: KW I, S. 884–890, hier: 887.

236

Durchsetzung

237 sondern auch dazu, die vermeintlichen Kultivierungserfolge für die Wachmänner sowie die Zivilbevölkerung greifbar zu machen. Schließlich sind viele Elemente der Freizeitkultur ebenfalls nur schwer vom Aspekt der äußeren Repräsentation zu trennen. Die öffentliche Anerkennung, die über derartige Maßnahmen erlangt werden sollte, strahlte umgekehrt wiederum wieder in die SA-Gemeinschaft hinein.342

Volksfest und Fürsorge. Die Einbindung der ›Moor-SA‹ in das öffentliche kulturelle Leben Nach der Aufstellung der SA-Wachmannschaften hatte die emsländische Presse nur am Rande über die Lager berichtet.343 Auch der Dienstantritt Werner Schäfers wurde erst mit zweiwöchiger Verspätung vermeldet. Am 16. April 1934 druckte die in Papenburg erscheinende »Ems-Zeitung« eine kurze Notiz unter dem Titel »Berufung eines bewährten Führers«. Auf einer der hinteren Seiten, zwischen der Mitteilung, dass die Grundgebühren für Fernsprechteilnehmer gesenkt würden, und dem »Zeitenplan für die Besucher der NS-Volkswohlfahrt«, hieß es: Der Lagerkommandant des Lagers Oranienburg, Sturmbannführer Schäfer, dessen aufsehenerregendes Buch ›Oranienburg‹ gegenwärtig von zahlreichen deutschen Tageszeitungen abgedruckt wird, ist mit der Einrichtung und Uebersiedlung von Strafgefangenen zur Kultivierung der deutschen Moore beauftragt und nach Papenburg versetzt worden.344 Nach Schäfers Ankunft wandelte sich die Außendarstellung der ›Moor-SA‹ jedoch grundlegend. Schon nach wenigen Wochen wurden Fußballspiele zwischen Wachmannschaften und Vereinen aus der Region vereinbart. Die »Ems-Zeitung« rätselte zunächst noch über die »Spielstärke der Ordnungshüter«, unter denen »erstklassige Fußballkräfte vorhanden sein« sollten.345 Den überwiegenden Teil der Spiele verloren die Lagermannschaften, mitunter kam es zu hohen Niederlagen. Nach einem 2:6 der Wachmannschaft von Lager V gegen den TuS Aschendorf berichtete die »Ems-Zeitung«: Zu erwähnen bleibt noch, daß das Spiel in äußerst fairer Form durchgeführt wurde, sodaß der Schiedsrichter nicht einmal einschreiten musste. Auch durch die ziemlich hohe Niederlage ließ sich die Schupomannschaft [d. h. die SA-WachVgl. Reinicke: Aufstieg, S. 144–149. Vgl. KW I, S. 259–264. 344 EZ, 16. 4. 1934. 345 EZ, 5. 5. 1934. 342 343

Doppelte Kultivierung

237

238 männer, D. R.] nicht verleiten, von ihrem eifrigen und sauberen Spiel abzulassen, was hier ausdrücklich anerkannt werden soll. Solche Mannschaften werden auf dem Spielfeld gern wieder gesehen.346 Ob sich der letzte Satz auf die faire Spielweise oder den dankbaren Gegner bezog, sei dahingestellt. Die Praxis der Freundschaftsspiele wurde jedoch fortgesetzt und Fußballspiele sogar regelmäßiger Bestandteil der Ausbildung der SA-Männer.347 Dennoch änderte sich auch in Folgejahren kaum etwas an den einseitigen Ergebnissen. Bei anderen Sportereignissen nahmen SA-Mannschaften ebenfalls teil.348 Auch in anderen Bereichen wurde die Einbindung der ›Moor-SA‹ in das öffentliche kulturelle Leben forciert. Elemente der SA-eigenen Freizeitkultur wie Kameradschaftsabende, Film- und Theatervorführungen wurden auch für die zivile Bevölkerung geöffnet.349 Dadurch entstanden zusätzliche Freizeitangebote, die gerade in den kleineren Ortschaften in der Nähe der Lagerstandorte das Spektrum deutlich erweiterten. Andere Erholungsmöglichkeiten der SA-Männer nutzte die lokale Bevölkerung anscheinend aus eigener Initiative. Über die Parkanlagen des Lagers Aschendorfermoor berichtete die »Ems-Zeitung« im Herbst 1935: »Einen schönen Anblick bieten zur Zeit die Anpflanzungen am Strafgefangenenlager 2. […] An guten Tagen – besonders Sonntags – sieht man daher viele Radfahrer und Spaziergänger, die die neue Siedlungsstraße zum Lager benutzen.«350 Für Esterwegen ist mündlich überliefert, dass sich Wachmänner sonntags mit jungen Frauen aus dem Dorf trafen, um in einer kleinen Parkanlage innerhalb des Lagers zu tanzen.351 Dem Musikzug der Wachmannschaften, der zum Jahreswechsel 1934 /35 aufgestellt worden war, kam im Rahmen solcher kulturellen Aktivitäten eine besondere Bedeutung zu. Den Auftakt bildete ein »Deutscher Abend«, der am 30. Januar 1935 anlässlich des Jahrestags der Machtübertragung im Hotel Hilling veranstaltet wurde. Einleitend dankte Ortsgruppenleiter Gerber Kommandeur Schäfer für die Aufstellung des Musikzugs, bei dem es sich »um lauter alte Kämpfer der Bewe346 347 348 349 350 351

238

EZ, 12. 5. 1934. Vgl. Personalakte Wilhelm U., NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1006. Vgl. beispielsweise EZ, 8. 4. 1935, 23. 8. 1937 (TuS Haren – Lager VI 6:2), 13. 10. 1937 (Rasensport Lathen – Lager VI 4:0), für andere Sportarten EZ, 16. 7. 1936. Vgl. EZ, 13. 7. 1936 u. OTZ, 4. 8. 1937. EZ, 16. 10. 1935. Auskunft durch Kurt Buck von der Gedenkstätte Esterwegen, Gespräch am 27. 7. 2011. Die Parkanlage lag in der südöstlichen Ecke des Lagers und war durch die Kommandanturbaracke und eine künstliche Erhebung, den sogenannten ›Feldherrnhügel‹, vom Rest des Lagers abgeschirmt. Auch nach außen hin war das Lager Esterwegen von einer Mauer umgeben. Somit bestand hier ein geschützter Raum, den weder die Häftlinge noch Außenstehende einsehen konnten. Durchsetzung

239

Abb. 16 : Anzeigenseite der »Ems-Zeitung« vom 2. März 1935. 239

240 gung handelte, die mit dazu beitragen wollen, die demnächstigen Veranstaltungen in und um Papenburg durch ihre musikalischen Darbietungen zu verschönern.«352 Der anwesende EZ-Redakteur zeigte sich vom Programm regelrecht begeistert: Es folgte dann eine auserlesene Vortragsfolge von Märschen, Tänzen, Ouvertüren usw., sowie eine Serie feinsinnig zusammengestellter Stücke deutscher Jazz-Musik. Man lernte unter der sicheren Stabführung des Musikzugführers Bernau ein Orchester kennen, das auf allen Plätzen bestens besetzt ist.353 Da bei der vollbesetzten Veranstaltung mehrheitlich Angehörige von NS-Organisationen anwesend waren, wurde speziell betont, dass der Musikzug auch bei öffentlichen Veranstaltungen aufspielen sollte. Der in der Presse oft auch als »Standartenkapelle« betitelte Musikzug verdrängte in der Folge nicht nur die Musikgruppen anderer NS-Organisationen – wie etwa die »Kapelle des NS-Arbeitsdienstes« oder den »Spielmannszug des Jung-Volks« – bei öffentlichen Aufmärschen in die kleineren Orte der Umgebung, sondern stellte auch für öffentliche Tanzveranstaltungen die Musik. So griffen bereits im März 1935 zum Karneval gleich vier größere Tanzveranstaltungen auf die Standartenkapelle zurück (siehe Abb. 16). Auch in der Folge lieferte sie nicht nur die musikalische Untermalung für SA-Veranstaltungen, sondern verdeutlichte durch ihre fortwährende Präsenz auf Volksfesten und Feiern vielleicht mehr als alle anderen Maßnahmen die ›Kulturleistung‹ der ›Moor-SA‹, die dabei wieder und wieder in der Presse herausgestellt wurde.354 Auf diese Weise ist im Anzeigenteil der Ems-Zeitung eine breite Einbindung der ›Moor-SA‹ in das kulturelle Leben der Region nachzulesen. Neben Ankündigungen für Volksfeste, auf denen der Musikzug spielte, und Hinweisen auf SA-Veranstaltungen inserierten hier zum Beispiel auch Wachmänner Wohnungsgesuche unter Angabe ihrer Dienststellung, was darauf schließen lässt, dass sie sich davon einen Vorteil versprachen.355 Dass die »Ems-Zeitung« bei SA-Veranstaltungen nur selten konkrete Angaben über die Besucherzahl machte, lässt vermuten, dass die überschwängliche Berichterstattung sich in der Realität nicht gänzlich widerspiegelte. Umgekehrt wurde aber nur höchst selten eine ausbleibende Beteiligung der Bevölkerung moniert. Der Bericht über ein öffentliches Preisschießen in Oberlangen im August 1936 steht mit seiner unterschwelligen Kritik weitgehend allein: »Leider verhinderte das anhaltend schlechte Wetter manchen, an dieser Veranstaltung teilzuneh-

EZ, 31. 1. 1935. Ebd. 354 Vgl. EZ, 20. 4. 1935, 3. 3. 1936, 7. 10. 1937 u. 15. 11. 1937. 355 Vgl. EZ, 2. 3. 1935. 352 353

240

Durchsetzung

241 men.«356 In den Fällen, in denen die lokale Presse konkrete Besucherzahlen meldete, sind diese allerdings recht beeindruckend. An einem »landwirtschaftlichen Lehrausflug« der Ortsbauernschaft Rütenbrock zum Lager VI beteiligten sich im Juni 1936 rund 300 Personen.357 Im Vergleich zu ähnlichen Veranstaltungen in anderen regionalen Kontexten erscheint es bemerkenswert, dass die sonst ubiquitäre Beschwörung einer ›Volksgemeinschaft‹ im Rahmen dieses ›Kulturprogramms‹ der ›Moor-SA‹ nahezu gänzlich ausblieb. Nur höchst vereinzelt – und nie mit Bezug auf das Umfeld der Lager – findet sich diese zentrale Propagandavokabel in der regionalen Berichterstattung wieder. Stattdessen wurde auch in den Presseberichten wiederholt auf den Status vieler SA-Männer als ›alte Kämpfer‹ verwiesen.358 Diese Ähnlichkeit mit dem Sprachgebrauch in den Schreiben emsländischer SA-Führer untermauert die naheliegende Vermutung, dass auch die breite Presseberichterstattung durch Werner Schäfer und seinen Führungsstab initiiert und vorangetrieben wurde. Schäfers Strategie, die sich hier widerspiegelt, entsprach weder der bekannten Volksgemeinschaftspropaganda, noch bedeutete sie ein Zurückstecken der ›Moor-SA‹ in ideologischer Hinsicht. Die Presseberichterstattung betonte einerseits den langjährigen Einsatz der SA-Männer für die nationalsozialistische Bewegung und die gegenwärtige Weiterführung ihres ›Kampfes‹ zur Kultivierung des Emslands. Andererseits wurde von der lokalen Bevölkerung aber kein Bekenntnis zur ›Volksgemeinschaft‹ eingefordert. Stattdessen war die Rede vom »neuen Deutschland«, das durch die doppelte Kultivierung entstehen sollte.359 Die Vorzüge, die die Arbeit der ›Moor-SA‹ auch für die Anwohner der Lager haben sollte, wurde diesen fortwährend vor Augen gehalten. Neben den Angeboten zur Freizeitgestaltung untermauerte dies eine ganze Reihe von karitativen Aktionen. Kommandeur Schäfer richtete eine Kindermilchspeisung für bedürftige Kleinkinder in Papenburg ein, für ältere Kinder organisierte die ›Moor-SA‹ eine Schulspeisung. Wie die Zeugenaussagen im Fall Dubbel gezeigt haben, gingen zumindest die Häftlinge davon aus, dass diese Maßnahmen auf Kosten der Gefangenenernährung bewerkstelligt wurden.360 Öffentliche Eintopfessen wurden organisiert, deren Erlöse dem Winterhilfswerk zugute kamen.361 Zumindest ein Teil dieser Spenden wurde wiederum prestigewirksam bei einem

356 357 358 359 360 361

EZ, 5. 8. 1936. EZ, 25. 6. 1936. Vgl. beispielhaft EZ, 14. 10. 1935, 12. 6. 1936, 10. 10. 1936, 29./30. 5. 1937 u. 3. 6. 1938. EZ, 16. 10. 1936, Vgl. EZ, 23. 12. 1935 und Emslandlagersache Sonderheft, Bd. IVa, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221, S. 259 f. Vgl. EZ, 3. 3. 1936.

Doppelte Kultivierung

241

242 weiteren Besuch in Berlin Adolf Hitler persönlich überreicht, wie die »Berliner Börsenzeitung« im Februar 1937 berichtete: Der Führer und Reichskanzler empfing eine Abordnung der Wachmannschaft der Strafgefangenenlager Papenburg (Ems), die auf einsamem Posten, fern von allen größeren Städten, ihren schweren Dienst versieht. Die Abordnung überreichte dem Führer eine kunstvoll geschnitzte Kassette, die auf sieben Tafeln je einen Scheck über 1000 RM, insgesamt 7000 RM, enthielt als Spende für das Winterhilfswerk.362 Wenige Monate später lobte die »Ems-Zeitung« den »Opfergeist unserer Moor-SA«, die »ihren Sozialismus der Tat unter Beweis gestellt« hätte, indem sie über das »Sonderopfer« von 7.000 RM hinaus weitere 9.500 RM für das Winterhilfswerk aufgebracht habe.363 Bereits 1936 hatte Schäfer zudem den kollektiven Eintritt ›seiner‹ SA-Männer in die Deutsche Arbeitsfront verkündet.364 Zum Weihnachtsfest 1935 stellte die ›Moor-SA‹ Geschenke für 550 bedürftige Kinder in Papenburg bereit, die vor der Verteilung in einer »Presseschau« den lokalen Zeitungen präsentiert wurden. Die »Ems-Zeitung« zitierte Werner Schäfer dazu: Wir kennen die Not in Papenburg, wir wissen, wie bitter es ist, wenn zu Weihnachten auch ein kleines Geschenk fehlt. So habe ich denn einen Appell an meine alten SA-Männer in den Strafgefangenenlagern gerichtet, an dieser Aufgabe mitzuhelfen. […] Unendlich viel ist von der SA-Wachmannschaft in den letzten 14 Tagen geleistet worden. Die ärmsten der Armen sind nicht vergessen, sie sollen sich mit uns freuen.365 Der Artikel listete im Folgenden detailliert einzelne Geschenke auf, die die SAMänner angefertigt hatten. Ebenso wurde im Frühjahr ein öffentliches Ostereiersuchen veranstaltet, zu dem sich Wachmannschaften im Kreise von Kindern aus der Umgebung ablichten ließen.366 Allem Ermessen nach führten diese Maßnahmen zumindest zu einer zwischenzeitlichen Akzeptanz und Tolerierung der ›Moor-SA‹ durch die lokale Bevölkerung.

Berliner Börsenzeitung, 12. 2. 1937. Sämtliche Zitate: EZ, 29./30. 5. 1937. 364 Vgl. EZ, 22. 7. 1936. 365 EZ, 23. 12. 1935. 366 Vgl. Archiv AK DIZ Sammlung Paul Meyer.. 362 363

242

Durchsetzung

243

Abb. 17 : Musikzug und angetretene Wachmannschaften bei einem offiziellen Besuch, Lager Neusutrum 1930er Jahre.

Lagerbesuche als Teil der Repräsentationskultur Über die regelmäßigen Besuche des Lagerkomplexes durch Parteigrößen und Vertreter der Justizverwaltung wurde in der lokalen Presse meist in längeren Artikeln berichtet, so etwa über Besuchsreisen der Reichsminister Gürtner und Kerrl, SA-Stabschef Lutze, DAF-Leiter Robert Ley, Staatssekretär Freisler, Gauleiter Röver und der Regierungspräsidenten Eggers und Rodenberg.367 Ähnlich wie bei der Freizeitkultur verstand Werner Schäfer es hier, einzelne Ereignisse in mehreren Funktionen gleichzeitig zu nutzen. Diese Besuche halfen nicht nur, die Position der ›Moor-SA‹ institutionell abzusichern, sondern lieferten den SA-Männern eine wiederholte Anerkennung ihrer Dienste. Bereits in der Anfangszeit der Strafgefangenenlager hatte es solche Besuche gegeben, über die auch in der Presse berichtet worden war. Allerdings befassten sich die 367

Vgl. etwa EZ, 5. 9. 1935, 29. 10. 1935, 9. 6. 1936, 16. 10. 1936, 7. 7. 1937 u. 28. 11. 1938.

Doppelte Kultivierung

243

244 entsprechenden Artikel hauptsächlich mit dem Kultivierungsvorhaben; die Lager wurden höchstens am Rande erwähnt.368 Ab Sommer 1935 – zu einem Zeitpunkt, als bereits die ersten Wirtschaftsgebäude und Parkanlagen errichtet waren – änderte sich die Berichterstattung dahingehend, dass nun detaillierter über die Ausstattung der Lager und die Ansprachen der zu Besuch gekommenen NS-Größen an die Wachmänner berichtet wurde. Dadurch wurden die belobigenden Worte der Besucher für die Wachmänner auch öffentlich bekannt und die Besuche wiederum im Sinne der öffentlichen Repräsentation der ›Moor-SA‹ eingesetzt.369 Deutlich wird dies etwa anlässlich einer Besichtigungsfahrt durch Viktor Lutze, über die die »Ems-Zeitung« am 9. Juni 1936 ausführlich berichtete. Mehrfach wird dort das Flugzeug »JU 52 – Horst Wessel« erwähnt, mit dem der Stabschef angereist war, und so wenig subtil auf eine Modernisierungserscheinung im Kontext der Lager hingewiesen. Im Kern des Artikels stand eine Ansprache, bei der sich Lutze vor dem Rohbau des Emslandhauses an 400 angetretene SA-Männer wandte: der Stabschef [zeichnete] den Unterschied zwischen der Unkultur von früher und der beginnenden Kultur und Kultivierung an derselben Stelle. Lobend erkannte er die Arbeit der alten SA-Kameraden an, die als Wachmannschaften die Aufgabe in treuer SA-Dienstauffassung übernommen haben, mitten in endlosem Moore die Kultivierungsarbeiten zu überwachen.370 Schließlich wurde Lutze auch direkt zitiert: »Bleibt ganze Kerle, die mithelfen am Aufbau, damit wieder ein blühendes, freies Deutschland wird.«371 Gleich mehrfach wurde damit die Leistung, die der ›Moor-SA‹ im Rahmen der Emslandkultivierung zugeschrieben wurde, betont und auf das Opfer hingewiesen, das die SA-Männer durch ihre abgeschiedene Dienststellung zu erbringen hätten. Die partielle Öffnung der Lager als Teil der Repräsentationskultur blieb jedoch nicht allein auf Amtsträger und Journalisten beschränkt. Studenten aus Berlin und Göttingen bereisten auf Exkursionen das Emsland, um sich über das Siedlungsprojekt und die Lager zu informieren.372 Rund 40 Verwaltungsstellenleiter und Mitarbeiter des Amts für Volksgesundheit im Gau Weser-Ems besuchten bei einer Studienfahrt im Oktober 1936 das Lager Esterwegen. Von der Führung durch Lagerleiter Aerts waren die Teilnehmenden anscheinend derart begeistert, dass sie für das FolVgl. EZ, 9. 6. 1934 u. 1. 9. 1934. Auch in Konzentrationslagern gab es vielfältige Besuche, die allem Anschein nach aber nicht im gleichen Ausmaß für die Außendarstellung genutzt wurden. Vgl. Kerstin Schwenke: Öffentlichkeit und Inszenierung. Besuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zwischen 1933 und 1945, Berlin 2021. 370 EZ, 9. 6. 1936. 371 Ebd. 372 Vgl. NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. 368 369

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Durchsetzung

245 gejahr gleich eine Nachfolgeveranstaltung ankündigten, bei der man »dann im Zusammensein mit der Moor-SA echte Kameradschaft erleben und Gelegenheit haben [würde], sich zu orientieren, wie hier gearbeitet wird im Zeichen der Emslandkultivierung.«373 Eine Gruppe von Jungmädel-Untergauführerinnen aus dem Obergau Nordsee, zu dem auch das Emsland gehörte, besuchte im darauffolgenden Sommer Neusustrum und fand sich abends mit Wachmännern im Emslandhaus zusammen. Zu Weihnachtsfeiern wurden niederländische Grenzbeamte und -soldaten eingeladen.374 Nachdem die Wachleute Hitler bei ihrem Besuch im Dezember 1935 darum gebeten hatten, in jedem Lager SA-Urlauber unterbringen zu dürfen, verbrachten jährlich rund 200 auswärtige SA-Männer einen 14-tägigen »Hitlerurlaub« im Emsland.375 Nach dem Eintritt in die DAF öffnete Kommandeur Schäfer die Lager zusätzlich noch für KdF-Urlauber, denen »er selbst Vorträge über die Moorkultivierungsarbeiten« halten wollte. Auch sollte der Musikzug »unentgeltlich während der Anwesenheit der Urlauber konzertieren.«376 Diese Einbindung der Strafgefangenenlager in das nationalsozialistische Urlaubsprogramm ging so weit, dass Postkarten von den Lagern und dem Emslandhaus aufgelegt wurden.377 Auch Teile der lokalen Bevölkerung erhielten Einblick in die Lager. So war etwa das Lager Oberlangen im September 1936 das Ziel fast aller Schulen aus der näheren und weiteren Umgebung. […] Da sahen die Kinder zunächst die herrlichen Park- und Blumenanlagen. […] Nach diesem schönen Eingang ging es zum Sportplatz, der den Neid der Knaben weckte. Solch einen wünschten sie sich auch. Mit besonderem Interesse verfolgten sie das schneidige Exerzieren der gerade übenden Wachmannschaft.378 Auch den Teilnehmern des landwirtschaftlichen Lehrausflugs der Ortsbauernschaft Rütenbrock wurde bei der »Besichtigung der einzigartigen Park- und Gärtnereianlagen, Obst- und Kartoffelfelder« der »Eindruck eines gärtnerischen Musterbetriebes, nicht eines Strafgefangenenlagers« vermittelt.379 Die öffentliche Wirkung dieser Besuche der lokalen Bevölkerung wurde noch dadurch gesteigert, dass

373 374 375 376 377

378 379

EZ, 11. 10. 1937. Vgl. EZ, 27. 12. 1935 u. 28./29. 6. 1937. Vgl. Archiv AK DIZ Fotoalbum 1935, S. 1 sowie EZ, 29./30. 5. 1937 u. 3. 6. 1938. EZ, 22. 7. 1936. Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 75 f. Zum Tourismus im Nationalsozialismus vgl. Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007, S. 120–139 und Hasso Spode: Arbeiterurlaub im Dritten Reich, in: Carola Sachse u. a. (Hg.): Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus, Opladen 1982, S. 275–328. EZ, 11. 9. 1936. EZ, 25. 6. 1936.

Doppelte Kultivierung

245

246 auf den bereits kultivierten Flächen Weidevieh kostenlos grasen konnte und Heu umsonst abgegeben wurde.380

Der Besuch durch Bischof Berning Unter den ›Prominentenbesuchen‹ kam dem Besuch des Osnabrücker Bischofs Wilhelm Berning im Juni 1936 ein besonderer Stellenwert zu. Dieser reiste anlässlich der Einsetzung eines katholischen Pfarrers für die Lager ins Emsland, das zu seiner Diözese gehörte. Berning war zudem nicht nur preußischer Staatsrat, sondern auch selbst gebürtiger Emsländer, sodass er während des Besuchs ein erhebliches Interesse am Siedlungsprojekt zeigte. Am Eingang des Lagers Oberlangen wurden der Bischof und seine Begleiter von Kommandeur Schäfer, Adjutant Daniels und Lagerleiter Schenk in Empfang genommen. Auch ihm wurden die Parkanlagen und Wirtschaftsbetriebe als Kultivierungserfolge präsentiert. Der Bischof und die ihn begleitenden Geistlichen erhielten darüber hinaus auch Einblick in den Häftlingsbereich des Lagers, der ihnen – im Gegensatz zum Lageralltag – als mustergültiger und geordneter Vollzugsbetrieb vorgeführt wurde: Zunächst werden die Baracken innerhalb der Umzäunung besichtigt. Schlafräume und Stuben sind in bester Ordnung, die Fußböden blitzblank und alles an seinem Platze. Vorschriftsmäßig wird überall gemeldet. […] durch eine Kostprobe überzeugt man sich von dem kräftigen Essen, das den Strafgefangenen geboten wird.381 Im Anschluss wurden die Besucher zu sämtlichen Lagern außer Walchum, dem Emslandhaus und mehreren Arbeitsorten im Moor geführt. In Neusustrum bot sich ihnen »dasselbe Bild einer blühenden Oase, das Zeugnis gibt von Schönheitssinn, Liebe und Arbeitsfreudigkeit des Lagerleiters und der ihm unterstellten Wachmannschaft.«382 An einem Wachturm nahe der holländischen Grenze waren Schäfers Ausführungen über das Siedlungsprojekt für Berning von besonderem Interesse, »weil er das Mandat für auslandsdeutsche Siedlungen in Bezug auf Schule und Kirche hat.«383 Am Brualer Schlot, einem Grenzgraben zwischen Ostfriesland und dem Emsland, den Strafgefangene zum Kanal erweitert hatten, zeigte sich Berning angesichts der fortschreitenden Meliorationsmaßnahmen reVgl. EZ, 2. 3. 1935. EZ, 26. 6. 1936. 382 Ebd. 383 Ebd. 380 381

246

Durchsetzung

247 gelrecht begeistert. In Aschendorfermoor hielt er schließlich eine Ansprache an die versammelten katholischen Strafgefangenen, denen er sagte: Christus der Herr hat uns […] durch sein Wort und Beispiel den Weg gezeigt. Er selbst war gehorsam, gehorsam der staatl. Obrigkeit, gehorsam seinem himmlischen Vater. Auch wir sollen den Gehorsam üben durch treue Befolgung der staatl. Gesetze und der ewigen Gottesgesetze.384 Hier wird ein Verständnis des Bischofs deutlich, nach dem er sich an ›gefallene‹ Gesetzesbrecher wandte. Diese wollte er dazu anhalten, sich sowohl in weltlicher als auch in religiöser Hinsicht der Obrigkeit unterzuordnen. Ein etwaiger Gegensatz ergab sich dabei zumindest hier für ihn nicht. Nach dem Abendessen trug sich Berning in das goldene Buch des Lagers ein und lud anschließend die Wachmänner zum Bier ein. An diese hielt er dabei eine ganz andere Ansprache: Herr Kommandeur, meine lieben SA-Männer! Ich […] danke […] Ihnen für all das, was ich auf der langen Fahrt gesehen habe […], da doch früher hier alles öde, wüßt und ohne irgendein Straßennetz war. Ich danke Ihnen, daß Sie mir die Heimat gezeigt haben in der Form, die das dritte Reich daraus gemacht hat. Lange lag das Emsland im Dornröschenschlaf, bis der Prinz kam und es weckte; dieser Prinz ist unser Führer Adolf Hitler.385 Dieses ›Dornröschen-Zitat‹ bot Anlass für mehrere, teils heftige lokale Erinnerungsdebatten, in denen sowohl haltlose Vorwürfe als auch Entlastungsnarrative vorgebracht wurden.386 Im Nachgang einer solchen Auseinandersetzung legte Klemens-August Recker eine eigene Studie zu Bernings Verhalten im Nationalsozialismus vor, in der er ausgehend von dessen bereitwilliger Kooperation mit den neuen Machthabern und seiner Ernennung zum Preußischen Staatsrat im Juli 1933 eine zunehmende Distanzierung des Bischofs ab 1934 beschreibt.387 Kombiniert mit dem hohen Eigeninteresse der Lagerkommandantur an Bernings Besuch, der Verbreitung des EZ-Artikels in weiteren NS-Presseorganen und schließlich auch dem Führerbezug in nationalsozialistischen Märcheninterpretationen kommt Recker zu dem Schluss, Berning habe im Lager lediglich gesagt: »Das Emsland ist aus dem

Manuskript der Rede vom 25. 5. 1936, Diözesanarchiv Osnabrück 03–17–72–31. EZ, 26. 6. 1936. 386 Vgl. Diözesanarchiv Osnabrück 03–17–72–62; Neue Osnabrücker Zeitung 24. 7. 1980, 30. 7. 1980 u. 8. 8. 1980 und Recker: Berning, S. 187. 387 Vgl. ebd., S. 49–181. 384 385

Doppelte Kultivierung

247

248 Dornröschenschlaf erwacht!« Die in der »Ems-Zeitung« abgedruckte Version, in der vom Prinzen Adolf Hitler die Rede ist, könne »nicht weiter Bestand haben.«388 Als Grundlage dieser Einschätzung dient Recker eine »quellenkritische Analyse«, in der er Auslassungen und kleinere Abweichungen von Bernings Redemanuskripten in NS-Zeitungsberichten nachweisen kann.389 Verkürzungen in Zeitungsartikeln sind allerdings kein reines Phänomen der Zensur; sie finden sich ebenso bei Reden von NS-Funktionären.390 Vor allem ist das Hinzufügen eines nicht getätigten Ausspruchs etwas völlig anderes, wofür Recker keinen Beleg anführen kann. Die Fokussierung auf das ›Dornröschen-Zitat‹ ist ohnehin Ausdruck einer retrospektiven Verengung, in der der Hitler-Bezug zum alleinigen Gradmesser von Zustimmung oder Ablehnung überhöht wird. Hinsichtlich der Begeisterung, die der Bischof für die nationalsozialistische Modernisierungspolitik ausdrückte, macht es im Gesamtkontext nur einen marginalen Unterschied, ob er die Metapher von Hitler als Prinz gebrauchte. Hier zeigt sich ein dichotomisches Verständnis von subjektiver Positionierung im Nationalsozialismus, nach dem aus Bernings Distanzierung in kirchenpolitischen Fragen unweigerlich eine generell ablehnende Haltung gegenüber dem NS folgt.391 Der Bandbreite menschlicher Verhaltensmöglichkeiten, die auf unterschiedlichen Ebenen verschiedene Ausformungen von Zustimmung, Nähe, Distanz und Ablehnung zulässt, wird dies nicht gerecht. Tatsächlich boten sich für historische Subjekte in verschiedenen Bereichen nationalsozialistischer Politik ganz unterschiedliche Spielarten von Teilhabe und Aneignung, wie sich in dieser Untersuchung bereits mehrfach gezeigt hat.392 Im Fall Bernings bedeutet dies, dass sich seine Ablehnung vor allem auf die Versuche des Regimes bezog, durch eine anti-kirchliche ›Entkonfessionalisierungspolitik‹ in katholische Lebensbereiche vorzudringen. Im Bereich der Siedlungspolitik hingegen schien es eine größere Schnittmenge zu geben, wie sich anhand

388

389 390 391

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248

Ebd., S. 200 f. Reckers Einschätzung führt seitdem immer wieder dazu, dass die Echtheit dieses Zitates und indirekt auch die Bedeutung von Bernings Besuch in Frage gestellt werden. Vgl. ebd., S. 187–207. Vgl. Hinrichs: Presse. Als deutliches Beispiel vgl. EZ, 16. 10. 1936. So folgt für Recker als logische Konsequenz, dass als Motivation Bernings für seinen Besuch »schon gar nicht […] eine irgendwie geartete NS-Überzeugung oder eine Nähe zum Nationalsozialismus […] ausschlaggebend« gewesen sei (Recker: Berning, S. 204). Die Übertragung einer themenspezifischen ablehnenden Haltung auf weitere Lebensbereiche ist jedoch unzulässig. Vgl. Bade: Mitarbeit, S. 40–43. Vgl. hierzu aufschlussreich auch Hanne Leßau / Janosch Steuwer: »Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?« Zur Unterscheidung von Nationalsozialisten und anderen Deutschen, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 23 (2014), S. 30– 51. Durchsetzung

249 seines Engagements für auslandsdeutsche Siedlungen und den interessierten Nachfragen während seiner Besuchsfahrt zeigen lässt.393 Zudem äußerte Berning mehrfach, dass er sich als gebürtiger Emsländer mit der Region heimatlich verbunden fühlte. Daher ergab sich für Berning mit dem Siedlungsprojekt eine partielle Anschlussfähigkeit zu Zielen und Inhalten nationalsozialistischer Politik. Um es in Reckers eigenen Worten auszudrücken: »Den Bischof muß es mit Freude erfüllt haben, als er die ökonomische Entwicklung des Emslandes zur Kenntnis nehmen konnte. […] Wenn man nunmehr intensiver die Moorkultivierung im Emsland betrieb, so ist die Begeisterung des Bischofs verständlich.«394 So lautete Bernings zentraler Ausspruch, der im Gegensatz zum ›Dornröschen-Zitat‹ auch in der »Ems-Zeitung« hervorgehoben ist: »Hierhin müßten alle die geführt werden, die noch zweifeln an der Aufbauarbeit des dritten Reiches. Was man früher versäumte, das ist heute hier in Angriff genommen worden.«395 Damit sanktionierte der Bischof öffentlich das völkische Modernisierungsprojekt der Strafgefangenenlager und stellte es in einen bewussten Gegensatz zu den Kultivierungsbemühungen der Weimarer Republik. Zu den Mitteln, mit denen das Siedlungsprojekt betrieben wurde und über die Berning aus seiner Diözese unzweifelhaft Berichte erreichten, äußerte sich der Bischof weder hier noch zu einem späteren Zeitpunkt öffentlich. Insbesondere hob Berning bei seinem Besuch die Rolle der ›Moor-SA‹ für diese vermeintlichen Modernisierungsleistungen hervor. Dies geschah bereits dadurch, dass er sich die Lager und Kultivierungsgebiete von SA-Kommandeur Schäfer und nicht von Vertretern der Justizverwaltung zeigen ließ, vor allem aber durch seinen abendlichen Besuch in Aschendorfermoor, bei dem er in kameradschaftlicher Atmosphäre beim Bier mit den SA-Männern unmittelbar nach dem ›Dornröschen-Zitat‹ seinen Dank aussprach: »Ihnen, meine SA-Männer, danke ich für das, was von Ihnen geleistet wird. Für Sie selbst ist es ja eine Freude, zu sehen, wie aus Oedland neue Werte geschaffen werden. […] Ich danke für das, was Sie für das deutsche Volk leisten.«396 Bernings Besuch zog ein breites mediales Echo nach sich und ist für die Akzeptanz der ›Moor-SA‹ durch das katholische Milieu im Emsland kaum zu unterschätzen.397 Neben den Besuchen durch Staats- und Parteigrößen hatte nun ein hoch393

394 395 396 397

Holger Wilken: Rezension zu Klemens-August Recker: Bischof Berning im Dritten Reich, Paderborn 1998, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 84 (1998), S. 241 f. Weitere anschlussfähige Bereiche lassen sich in seinem ausgeprägten Nationalismus, Antikommunismus und Militarismus sowie seiner Ablehnung der Weimarer Republik erkennen. Ebd., S. 206 f. EZ, 26. 6. 1936. EZ, 26. 6. 1936. Dieses reichte von den Osnabrücker »Neuen Volksblättern« über die »Kölnische Volks-

Doppelte Kultivierung

https://doi.org/10.5771/9783835348035

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250 rangiger Vertreter aus den eigenen Reihen seine Befürwortung des Lagerprojekts zum Ausdruck gebracht. Dabei hatte sich Berning die von der ›Moor-SA‹ vorgebrachte Lesart angeeignet, nach der die SA-Männer die eigentlichen Protagonisten der Emslandkultivierung waren. Mit der Einführung katholischer Gottesdienste in den Lagern hatte die ›Moor-SA‹ in einem für sie unproblematischen Bereich Zugeständnisse an die katholische Kirche gemacht. Als Reaktion darauf zeigte Berning nun, dass die Kirche umgekehrt auch bereit war, der ›Moor-SA‹ entgegenzukommen. Damit hatte der Bischof geradezu prototypisch Verhaltensmöglichkeiten aufgezeigt, die sich auch für viele Vertreter des katholischen Milieus boten. Trotz der Ablehnung des Vordringens in katholische Lebensbereiche gab es Schnittmengen, die eine partielle Anschlussfähigkeit ermöglichten. Neben dem Modernisierungsprojekt eröffneten sich für das katholische Milieu auch hinsichtlich des neuen Strafvollzugs, in dem Delinquenten zum Wohle der Allgemeinheit Zwangsarbeit verrichteten, und der Ausgrenzung von Kommunisten Möglichkeiten, einen teilweisen Konsens mit den Repräsentanten des NS-Staats herzustellen.398 Dies zeigte sich auch in der Einbindung der Zivilbevölkerung in die Freizeitkultur der ›Moor-SA‹ und dem mittelfristigen Aussetzen der Konflikte zwischen Wachmännern und Ortsansässigen.

»Ein Band der Kameradschaft und Manneszucht umschlingt alle«. Die öffentliche Selbst-Inszenierung der ›Moor-SA‹

399

Die Repräsentationskultur der ›Moor-SA‹ diente allerdings nicht nur dazu, das Lagerprojekt nach außen hin zu legitimieren und Anschlussmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung zu schaffen. Die anhaltende Belobigung der Wachmannschaften in regionalen Presseartikeln wirkte auch in die Gemeinschaft der SA-Männer selbst hinein und war für sie ein sinnstiftendes Element. Als wiederkehrendes Ritual konnten sich die Wachmänner damit ihrer selbst zugeschriebenen Rolle als Ordnungspioniere und Träger des Siedlungsprojekts vergewissern. In zahlreichen Artikel wurden die SA-Männer unter Schlagzeilen wie »SA schafft neues Bauernland« zu »Pionieren der Ernährungswirtschaft« ernannt.400 Herzeitung« und den »SA-Mann« bis zu einem Bericht in den »Mitteilungen aus der Norddeutschen Provinz«. Vgl. Recker: Berning, S. 187–193. 398 Vgl. Kevin P. Spicer: »Tu ich unrecht, ... ein guter Priester und ein guter Nationalsozialist zu sein?« Zum Verhältnis zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus, in: Manfred Gailus / Armin Nolzen (Hg.): Zerstrittene »Volksgemeinschaft«. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 66–95, hier: 90. 399 EZ, 20. 8. 1937. 400 Ebd. u. Rheinische Landeszeitung, 3. 12. 1941.

250

Durchsetzung

251 vorgehoben wurden die »Leistungen der SA-Pionierstandarte Emsland«, die in »Einsamkeit und Weltabgeschlossenheit« einen »schweren, verantwortungsvollen Dienst« versehe.401 Es hieß, die SA-Männer seien »mit einem starken Idealismus und von unbeugsamem Einsatzwillen für ihre Aufgabe beseelt«, und es sei »stiller Dienst und große Tat«, mit denen sie »das Gesicht einer Provinz gewandelt« hätten.402 Gemeinschaftserlebnisse wie Aufmärsche und Fahnenappelle wurden durch die nachträgliche Berichterstattung nochmals verfestigt – auch für SA-Männer, die aufgrund ihres Wachdienstes selbst nicht hatten teilnehmen können. Anlässlich der Sportplatzeinweihung in Börgermoor ergaben die angetretenen SA-Männer laut Zeitungsbericht »ein herrliches Bild straffster Disziplin, besonders als die angetretenen 1000 in breiter, schnurgerader Front bis dicht an die Rednertribüne heranrückten und die Fahnenabordnungen dort zu beiden Seiten Aufstellung nahmen.«403 Vom Richtfest des Emslandhauses hieß es: »Die Wachtmannschaft präsentierte den Karabiner, schmetternd fiel nach dem dreifachen Sieg-Heil auf den Führer der Musik-Zug der Kommandantur ein und begeistert klang das Horst-Wessel-Lied über das Moor.«404 Auch die Ansprachen, mit denen sich bei solchen Anlässen SA-Führer und andere NS-Funktionäre an die Wachmannschaften richteten, wurden in Ausschnitten wiedergegeben. Oftmals wurde dabei Bezug auf die ›Kampfzeit‹ genommen, wie etwa vom Führer der Osnabrücker SA-Brigade 64, Oberführer Weist: »Ihr habt in den Jahren des Kampfes bewiesen, was es heißt, SA-Mann zu sein. Auch hier steht Ihr wieder in vorderster Front und zeigt, was die SA leisten kann.«405 War hier schon der Begriff des ›Kampfes‹ auf die neuen Verhältnisse umgewidmet worden, stellte Gauleiter Röver bei der Einweihung des Emslandhauses den Aspekt einer doppelten Kultivierung deutlich heraus: Hier im Emslandmoor hat sich der alte Geist des SA-Mannes in die Tat umgesetzt, hier hat der Geist der SA bewiesen, daß er Adolf Hitler verstanden hat […]. Der SA-Mann als politischer Soldat ist von Anfang an nichts anderes gewesen als der Kämpfer, der die Weltanschauung Adolf Hitlers immer wieder aufs neue in das Leben unseres Volkes hineingetragen hat.406

401 402 403 404 405 406

EZ, 15. 5. 1940 u. 9. 6. 1936. Beckmeier: Gau, S. 26 u. EZ, 15. 5. 1940. EZ, 14. 10. 1935. EZ, 23. 5. 1936. EZ, 14. 10. 1935. EZ, 16. 10. 1936. Zum auch für die Wehrmacht adaptierten Leitbild des politischen Soldaten vgl. Jürgen Förster: Geistige Kriegführung in Deutschland 1919 bis 1945, in: Echternkamp (Hg.): Kriegsgesellschaft, S. 469–640, hier: 484–505.

Doppelte Kultivierung

251

252 Der auf den Wachdienst übertragene Begriff des Kampfes diente hier als Topos, um formelhaft eine männlich-soldatische Gemeinschaft zu beschwören. Die langjährige SA-Zugehörigkeit vieler Wachmänner wurde unter Schlagwörtern wie den »alten Kämpfer in den Mooren des Emslandes«, die nun einen »Kampf gegen Moor, Wasser und Heide« führten, thematisiert.407 Oftmals war daran die Betonung der vermeintlichen Entbehrungen gekoppelt, die die Wachmänner auch in ihrer neuen Aufgabe zu erleiden hätten: »Achthundert alte SA-Männer, treue Kämpfer Adolf Hitlers, die noch vor wenigen Jahren die Stempelstellen belagerten, versehen im weiten Moor des Emslandes bei den Strafgefangenen einen schweren, verantwortungsvollen Wachdienst.«408 Auch an anderer Stelle war die Rede vom »schweren Dienst im Moor«, von »dem selbstlosen Einsatz der Moor-SA« und dem »von diesen Moor-SA-Männern richtig verstandenen Opfergeist, der nicht durch Worte, sondern allein durch die Tat bewiesen werden kann.«409 Über den ›schweren Dienst‹, ›Treue‹ und ›Opferbereitschaft‹ wurden der ›Moor-SA‹ Attribute einer soldatisch geprägten, hegemonialen Männlichkeit zugeschrieben. Daran anschließende Begriffsfelder wie ›Kameradschaft‹, ›Einsamkeit‹ und das auch hier immer wieder präsentierte Leitbild der Härte dienten ebenso dazu, das Bild einer männlich-heroischen Gemeinschaft zu zeichnen: »Ein Band der Kameradschaft und Manneszucht umschlingt alle« und »in der Grabenkameradschaft von Sumpf und Moor wird der wahre deutsche Sozialismus geformt und verwirklicht«, hieß es etwa im August 1937.410 Die SA-Männer würden mit »unermüdlicher Zähigkeit« ihre Aufgabe vorantreiben und seien »hart an der Grenze«; es sei »ein schwerer Dienst, den die SA-Männer draußen im Moor zu verrichten haben und es ist ein hartes Los zugleich, draußen abgeschnitten von der Welt seine Pflicht am deutschen Volk erfüllen zu müssen.«411 Gebündelt wurden diese Versatzstücke maskuliner Rhetorik schließlich im Jahr 1940 anlässlich eines Besuchs durch den Gauamtsleiter für Volkswohlfahrt wiedergegeben: Stundenlang sind wir durch die Weite des Emslandes gefahren und sind nun hier draußen bei diesen Männern, die im Ehrenkleid des SA-Mannes harte Mannesarbeit verrichten, Einsamkeit und Abgeschlossenheit ertragen, weil sie eine Aufgabe übernommen haben, die eben Kerle aus altem Schrot und Korn verlangt, die Wind und Wetter nicht fürchten.412

407 408 409 410 411 412

252

EZ, 12. 6. 1936 u. 20. 8. 1937. EZ, 12. 6. 1936. EZ, 23. 5. 1936, 28. 11. 1938 u. 29./30. 5. 1937. Beide Zitate: EZ, 20. 8. 1937. Beckmeier: Gau, S. 26; EZ, 28./29.1937 (hier ist die die deutsch-niederländische Grenze gemeint) u. EZ, 16. 10. 1936. EZ, 6./7. 4. 1940. Durchsetzung

253 Diese Überbetonung der Härte fand ihr Gegenstück in der als kollektiv suggerierten Zuneigung, die den Wachmannschaften für ihr vermeintliches Opfer ausgesprochen wurde. So schrieb die »Ems-Zeitung« stellenweise von »unserer Moor-SA«; Gauleiter Röver sagte: »es wissen alle SA-Männer hier, mit welcher Liebe die Gauleitung am Emslande und seinen SA-Männern hängt.«413 Erträglich wurde die angebliche Härte gegen sich selbst in diesem Narrativ aber nur in der Männergemeinschaft selbst. So attestierte auch Bischof Berning den SA-Männern einen »Geist echter Kameradschaft«, der ihnen »den Dienst leichter« mache.414 Über eine der regelmäßigen Zusammenkünfte der SA-Männer hieß es: »Im anschließenden Kameradschaftsabend zeigte sich dann in herzlicher Fröhlichkeit bei Musik und Sang die wahre Volksgemeinschaft, wie sie nirgend besser zu finden wäre und wie sie der Führer im ganzen deutschen Volk verwirklicht sehen will.«415 Dass sich gerade hier einer der seltenen volksgemeinschaftlichen Bezüge findet, ist sicher kein Zufall. Die Repräsentationskultur beschrieb damit einen weiten Kreis, der sich mit der Inszenierung der ›Moor-SA‹ als männliche Kampfgemeinschaft gewissermaßen schloss. Sie richtete sich nicht nur nach außen, sondern war in mehrfacher Hinsicht auch eine Selbstinszenierung: Sie ging von der Gemeinschaftsinszenierung der ›Moor-SA‹ aus, richtete sich aber auch an die SA-Männer als Teile dieser Gemeinschaft. Schließlich war sie aber auch eine Inszenierung des gemeinschaftlichen Selbst der ›Moor-SA‹, des Kerns ihres kollektiven Selbstverständnisses. Dieses hatte seinen Ausgang im internen Sprachgebrauch der ›Moor-SA‹, wurde aber durch die öffentliche Berichterstattung reproduziert und weiter verstärkt. Damit wurde für die SA-Männern ihre vermeintliche Gemeinschaftsleistung als Pioniere der Emslanderschließung erfahrbar gemacht. Die öffentliche Selbstinszenierung war damit auch eine Selbstbestätigung. Die Anerkennung, die der ›Moor-SA‹ in den Berichten zuteil wurde, spiegelte sich in der lokalen Öffentlichkeit in diesem Ausmaß kaum wieder. Durch die wiederkehrende Belobigung in der Presse entstand jedoch eine imaginierte Öffentlichkeit, in der die ›Leistung‹ der ›Moor-SA‹ ihrem Selbstverständnis entsprechend gewürdigt wurde. Dadurch, dass die Berichte der »Ems-Zeitung« oftmals in anderen Zeitungen – meist aus angrenzenden Regionen – aufgegriffen oder erneut abgedruckt wurden, wurde dieses Bild noch weiter verstärkt.416 Dieses konnte für die SA-Männer tragfähig bleiben, solange es in ihrer lebensweltlichen Erfahrung nur bedingt herausgefordert und nicht vollständig gebrochen wurde. Die Fotoal-

EZ, 29./30. 5. 1937 u. 16. 10. 1936. EZ, 26. 6. 1936. 415 EZ, 12. 6. 1936. 416 So etwa durch die »Ostfriesische Tageszeitung«, die »Neuen Volksblätter«, den »Lingener Volksboten« und das »Osnabrücker Tageblatt«. Vgl. beispielsweise OTZ, 8. 8. 1936, 4. 8. 1937 u. 5. 12. 1941; Neue Volksblätter, 7. 7. 1937 u. 8. 7. 1937. 413 414

Doppelte Kultivierung

253

254 ben und -reihen, die in den Wachmannschaften entstanden, zeigen, dass sich dieser repräsentative Anspruch auch auf individueller Ebene widerspiegelte und weitergetragen wurde.417

5. Wendepunkt für die ›Moor-SA‹ ? Das Dienststrafverfahren gegen Werner Schäfer 1938 Angesichts der öffentlichen Darstellung der ›Moor-SA‹ als Trägerinstanz des Siedlungsprojekts legte Werner Schäfer ein zunehmend selbstherrliches Auftreten an den Tag. Versuche der Einflussnahme seitens der Justizverwaltung wies er teilweise scharf zurück. Unter Berufung auf die ihm zugesicherten bürokratischen Freiheiten ging der Kommandeur insbesondere nach der Lagererweiterung von 1937 eigenmächtig vor, was zu Missstimmung in der Justizverwaltung führte. Als zu Jahresbeginn 1938 die nochmalige Verdoppelung der Lagerkapazität geplant wurde, äußerten verschiedene staatliche Stellen ihre Bedenken hinsichtlich der Bewachungssituation. So sprach ein Mitarbeiter des Finanzministeriums am 7. Januar 1938 gegenüber Gerichtsrat Hecker an, ihm seien »Mitteilungen über Mißstände in den Emsländischen Mooren (Gefangenenmißhandlungen, Unredlichkeiten) zugegangen«. Hecker äußerte daraufhin, »daß man voraussichtlich den jetzigen Lagerleiter, ObRegRat Schäfer, dadurch kaltstellen wollte, daß man ihm einen regulären Strafanstaltsbeamten im Range eines Regierungsdirektors vorsetze.« Das Finanzministerium schlug zudem eine stärkere Einbindung regulärer Vollzugsbeamter vor, für die die Justizverwaltung aber keine personellen Kapazitäten sah. Laut Hecker sollte hingegen »die vorhandene Wachtruppe (SA-Standarte) [also die ›Moor-SA‹, D. R.] verstärkt werden«.418 Es bleibt unklar, ob eine solche De-facto-Degradierung Schäfers oder seine vollständige Entfernung aus dem Justizdienst das eigentliche Ziel der Justizverwaltung war. Nachdem Ministerialdirigent Marx zwischenzeitlich das Einverständnis von SA-Stabschef Lutze eingeholt hatte, wurde am 29. Januar 1938 ein förmliches Dienststrafverfahren gegen den Kommandeur eröffnet. Gleichzeitig wurde Schäfer vom Justizdienst suspendiert und von der Obersten SA-Führung als Standartenführer entlassen.419 Im Dienststrafverfahren wurde ihm vorgeworfen, 1. Staatsgelder in unzulässiger Weise bestimmungswidrig verwendet zu haben, 2. eigenmächtig vom Reichsjustizministerium erlassene Bestimmungen abgeändert zu haben, Vgl. Archiv AK DIZ Fotoarchiv. Sämtliche Zitate: Vermerk 14. 1. 1938, in: KW I, S. 698. 419 Vgl. Aussage Marx, 1. 12. 1949, in: KW III, S. 2491–2494. 417 418

254

Durchsetzung

255 3. die Lager ungenügend überwacht zu haben, sodaß Vorgänge innerhalb der Lager, namentlich Mißhandlungen von Gefangenen, Kostentziehung in erheblichem Umfange usw. nicht alsbald verfolgt und untersucht wurden, 4. gegen die bestehenden Vorschriften über Benutzung von Dienstkraftwagen und Gefangenenarbeit für Beamte usw. verstoßen zu haben. Zu diesen 4 Anschuldigungspunkten [war] im Laufe des Ermittlungsverfahrens als 5. die unberechtigte Entnahme von Geldern aus Kameradschaftskassen hinzugekommen.420 Seitens des RJM mussten also noch nach der Eröffnung des Verfahrens weitere Ermittlungen unternommen werden, wozu unter anderem die Prüfung der Besitzverhältnisse in den Wirtschaftsbetrieben durch den Reichsrechnungshof gehörte. Die Hauptverhandlung fand erst vom 23. Mai bis 3. Juni 1938 vor dem Oberlandesgericht Celle statt. Das Dienststrafverfahren war also keine lang geplante und intensiv vorbereitete Maßnahme, sondern ein Schritt, zu dem sich das Ministerium erst Anfang 1938 angesichts des anstehenden Lagerausbaus entschlossen hatte – auch wenn er auf ein längeres Unbehagen der Justizverwaltung hinweist.

Hintergründe des Verfahrens Die Beweggründe des Justizministeriums für diesen Entmachtungsversuch sind unterschiedlich gedeutet worden. Erich Kosthorst und Bernd Walter sehen die Gefangenenmisshandlungen als »Kern des vom [RJM] in Gang gebrachten Dienststrafverfahrens«.421 Das Celler Urteil lag ihnen allerdings nur in Auszügen vor, die hauptsächlich den entsprechenden Anklagepunkt einer ungenügenden Überwachung der Lager behandelten.422 In ihrer Interpretation folgten sie damit den Aussagen ehemaliger Ministerialbeamter, die nach 1945 ihre eigenen Handlungen zu rechtfertigen versuchten.423 Allerdings war es auch für die NS-Justiz keineswegs üblich, den zentralen VorUrteil Schäfer 1938. KW III, S. 2325. 422 Während das gesamte Urteil 40 Seiten lang ist, lagen Kosthorst / Walter nur 15 davon vor, von denen sich zehn mit diesem Vorwurf befassen. Vgl. ebd., S. 2459–2474 und Urteil Schäfer 1938. 423 Vgl. insbesondere eine Gerichtsaussage von Rudolf Marx, er sei »die Sorgen um die ordnungsgemäße Durchführung des Vollzuges in den Lagern nie losgeworden«. Bei später erfolgten Verbeamtungen von SA-Männern gab er sich überzeugt, dass diese, »wenn bekannt gewesen wäre, daß sie geschlagen haben, nicht in den Justizdienst übernommen worden wären«, was nachweislich falsch ist (Aussage Marx, 1. 12. 1949, in: KW III, 420 421

Wendepunkt für die ›Moor-SA‹

255

256 wurf nur »eingehüllt in unbedeutendere Vorwürfe«424 an hinterer Stelle  – im dritten von ursprünglich vier Anklagepunkten – vorzubringen. Weil das Dienststrafverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand und nur höhere Parteimitglieder und Justizbeamte zugegen waren, wäre ein solches Kaschieren kaum nötig gewesen.425 Deutlich plausibler erscheint daher die Interpretation Sebastian Weitkamps, das Ministerium habe mit dem Verfahren versucht, die Kontrolle über den Lagerkomplex zurückzuerlangen, nachdem Schäfer in den Jahren zuvor weitgehende Autonomie erlangt hatte. Der Justizverwaltung sei dabei »die Amtsführung des Kommandeurs zunehmend ein Dorn im Auge« gewesen.426 Schäfers umtriebiges Machtstreben reichte wie gezeigt von der Herauslösung der Wachtruppe aus anderen Unterstellungsverhältnissen über sein Vorgehen gegen missliebige Verwaltungsbeamte und seinen Versuch, unter Umgehung der ihm vorgesetzten Marx und Crohne direkt bei Staatssekretär Freisler vorzusprechen, bis hin zur Etablierung einer breiten äußeren Repräsentation, in der die ›Ordnungspioniere‹ der ›Moor-SA‹ zu den zentralen Protagonisten des Lagerprojekts stilisiert wurden. Im Ministerium nahm man durchaus wahr, dass Schäfer versuchte, sich auf Kosten der Justizverwaltung zu profilieren. Rudolf Marx meinte im Nachkriegsverfahren gegen Schäfer, dieser habe »stets versucht, jede ihm lästige Kontrolle zu beseitigen.«427 Gleichzeitig legte Schäfer im Zuge seines Machtzuwachses ein zunehmend selbstherrliches und anmaßendes Auftreten an den Tag. Als er einmal mit seinem Dienstwagen einen Papenburger Handwerker überholen wollte, lenkte dieser sein Pferdefuhrwerk nicht schnell genug zur Seite. Schäfer musste durch die Gosse fahren, wobei sein Wagen verschmutzt wurde. Darauf bremste Schäfer das Fuhrwerk aus, drohte dem Fahrer Schläge an, zerrte ihn vom Kutschbock und brachte ihn auf die Polizeiwache. Der Handwerker erstatte daraufhin Anzeige gegen Schäfer, zog diese aber nach einigen Wochen – wohl aufgrund äußeren Drucks – wieder zurück.428 Auch gegenüber der Justizverwaltung zeigte sich Schäfer anmaßend. Ein höherer Verwaltungsbeamter aus Papenburg gab später an, Schäfer habe ihm gegenüber

424 425 426

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256

S. 2492 f.). Als weiteres, in Teilen jedoch glaubwürdigeres Beispiel vgl. Aussage Teigeler 1947, in: ebd., S. 2485–2488. Ebd., S. 2325. Vgl. Aussage Teigeler 1947, in: ebd., S. 2487. Weitkamp: SA, S. 155. Ähnlich argumentiert Knoch, das RJM habe mit dem Verfahren versucht, »die Macht Schäfers zugunsten einer besseren Auslastung der Gefangenenarbeit einzuschränken« (Knoch: Emslandlager, S. 551). Aussage Marx, 1. 12. 1949, in: KW III, S. 2494. Marx erinnerte sich zudem auch 15 Jahre später noch genau an Schäfers Versuch, ihn zu übergehen und direkt mit Freisler zu sprechen. Vgl. NLA Osnabrück Dep 76 b Nr. 769. Durchsetzung

257 gesagt: »Gesetzgeber im Emsland bin ich ganz allein.«429 Rudolf Marx attestierte ihm ein »Gefühl der Überheblichkeit« und »Selbstüberschätzung«.430 Im Fall der im Dienststrafverfahren beanstandeten eigenmächtigen Abänderung von Bestimmungen hatte Verwaltungsleiter Gay Schäfer darauf hingewiesen, diese könne zu Missstimmung im Ministerium führen, worauf Schäfer erwiderte, »das Ministerium solle sich auch provoziert fühlen«.431 Auch nachdem Schäfer die vollständige Kontrolle über die Wachmannschaften in ihrer Doppelstruktur als Justizangestellte und SA-Angehörige erlangt hatte, ging er gegen vermeintliche oder tatsächliche Versuche der Einflussnahme vehement vor. Als im Frühjahr 1936 mit Staatsanwaltschaftsrat Gay erstmalig ein hochrangiger Beamter als Leiter der Zentralverwaltung in Papenburg berufen wurde, kamen in den regulären Vollzugsanstalten Gerüchte auf, Gay solle Schäfer als Kommandeur mittelfristig ablösen. Schäfer sei »als Nichtfachmann seiner Aufgabe nicht gewachsen« und solle künftig nur noch die Wachtruppe leiten. Als diese Gerüchte den Kommandeur erreichten, verlangte er sichtlich erbost bei Marx »die Wiederherstellung [s]eines Ansehens.«432 Dabei verwies er jedoch nicht auf seine vermeintlichen Erfolge oder auch darauf, dass die Justizverwaltung erst wenige Tage zuvor seine Stelle aufgewertet hatte.433 Stattdessen argumentierte er erneut mit seiner SA-Zugehörigkeit: »Allein schon meiner Stellung als höherer SA-Führer bin ich es schuldig, daß gegen solche Gerüchte und ihre Kolporteure rücksichtslos vorgegangen wird.«434 Das Justizministerium sah sich daraufhin genötigt, einen als Urheber der Gerüchte ausgemachten Gerichtsassessor aus dem Strafanstaltsdienst zu entfernen.435 Schäfer wurde in dieser Hinsicht nicht weiter aktiv, wohl auch, weil sich zwischen ihm und Gay bald ein einvernehmliches Verhältnis entwickelte.436 Dennoch zeigte er damit erneut, dass er gegen Einflussversuche vehement vorging und von SA-Seite mit erheblichen Widerständen zu rechnen wäre. Gleichzeitig verdeutlicht dieser Vorgang aber auch, dass es in den regulären Strafanstalten einigen Gegendruck gegen die Stellung der Emslandlager als Prestigeprojekt gab. Das altgediente Gefängnispersonal war anscheinend keineswegs darüber erfreut, dass nun unausgebildete SA-Männer zu Vorbildern des Vollzugsdienstes erklärt wurden. Ein Regierungsrat aus Bernau äußerte sich nach seiner in429 430 431 432 433

434 435 436

Aussage Max Schermer, 13. 3. 1946, in: KW III, S. 2490. Aussage Marx, 1. 12. 1949, in: ebd., S. 2493. Urteil Schäfer 1938. Schreiben 14. 3. 1936, in: PA Schäfer. Am 11. 3. 1936 wurde Schäfer rückwirkend zum Jahresbeginn eine Strafanstaltsoberdirektorenstelle zugewiesen. Die damit einhergehende Beförderung zum Oberregierungsrat erfolgte aber erst 1937. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Schreiben 7. 4. 1936, in: ebd. Vgl. KW III, S. 2576–2578.

Wendepunkt für die ›Moor-SA‹

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258 formatorischen Beschäftigung im Emsland vor verschiedenen Strafanstaltsdirektoren im April 1937 abschätzig über die SA-Wachmannschaften: Als Wachmänner melden sich vielfach nur Leute, die an körperlicher Arbeit keine Freude haben und es so im Leben zu keiner gesicherten Existenz bringen können. Erfahrungstatsache ist jedenfalls, dass gute Kräfte jeweils bald wieder verschwinden, sobald sie für das Leben brauchbares gelernt haben.437 Vor diesem Hintergrund sind auch die Meldungen zu sehen, die von regulärem Gefängnispersonal über die Misshandlung von Gefangenen durch SA-Männer bei der Übergabe von Transporten erstattet wurden. Ohne den beteiligten Justizbeamten eine ernsthafte Entrüstung per se absprechen zu wollen, ist die verstärkte Weitergabe solcher Meldungen im Jahr 1937 auch als strategisches Mittel zu sehen, um dem zunehmenden Prestigecharakter der ›Moor-SA‹ und den damit einhergehenden Überlegungen zu verstärkten informatorischen Abordnungen ins Emsland entgegenzutreten.438 Gleiches gilt für Medizinalrat Woldemar Teigeler, dem bis September 1939 das Gefangenenlazarett im Krankenhaus in Papenburg unterstand. Teigeler, der seit 1919 für die preußische Justizverwaltung arbeitete, war selbst seit Mitte der 1920er Jahre NSDAP-Mitglied und Träger des goldenen Parteiabzeichens. In einzelnen Fällen hatte sich der Mediziner bei Schäfer über Gefangenenmisshandlung beschwert, weshalb sich das Verhältnis der beiden bald abkühlte.439 Nach dem Krieg äußerte Teigeler, der Kommandeur habe auf »die Ausbildung der Wachmannschaften im Wachdienst […] weniger Wert [gelegt] als auf die Herausbildung einer SA-Truppe mit eigener Uniform, soldatischer Bewaffnung und Ausrüstung zu Paradezwecken.« Schäfer habe es vermocht, »alle Machtfaktoren in seiner Hand zu vereinigen […], so daß schon bald die Moor-SA eine viel größere Rolle spielte und in ihrer Eigenschaft als Wachmannschaft völlig zurücktrat.«440 Diese Einschätzung ist zwar in weiten Teilen zutreffend, jedoch verschweigt der langjährige Justizbeamte in dieser Rückschau die eigenen Ansprüche des RJM hinsichtlich der neuartigen Form des Lagervollzugs, die die ›Moor-SA‹ mit ihrem Erziehungsanspruch und ihrer Repräsentationskultur ausfüllte. Im Ministerium selbst ließ man Schäfer auch gerade deshalb lange gewähren. Rudolf Marx stellte noch 1949 heraus, dass der Kommandeur »ein sehr guter Organisator war, es z. B. seiner Initiative zu verdanken war, daß das Emslandhaus für

Vortrag Regierungsrat W., 23. 4. 1937, in: Arbeitsverwaltung für die Vollzugsanstalten. Sammelberichte, BA Berlin, R 3001 Nr. 9867. 438 Vgl. Generalstaatsanwalt Karlsruhe, 5. 1. 1938, in: NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 636. 439 Vgl. PA Schäfer u. KW III, S. 2464. 440 Sämtliche Zitate: Aussage Teigeler 1947, in: ebd., S. 2486. 437

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Durchsetzung

259 die Wachmannschaften errichtet wurde.«441 Gerade die Repräsentationskultur der ›Moor-SA‹ – einschließlich Schäfers kreativer Finanzierungsmaßnahmen – war für das Ministerium nützlich, stellten die SA-Männer damit doch den Prestigecharakter des Lagerprojekts heraus, ohne dass die Justizverwaltung dafür eigene Mittel bereitstellen musste. Insbesondere im Konflikt mit dem RAD bildete das Pionierideal der ›Moor-SA‹ ein Gegengewicht zum ›Ehrendienst‹ der Arbeitsmänner. Ähnliches galt zuvor für das konkurrenzhafte Verhältnis zur SS-Wachmannschaft in Esterwegen. Bis Ende 1937 mochten die Ministerialbeamten in Berlin Schäfers Machtstreben zwar kritisch sehen, auf die damit einhergehende äußere Repräsentation der ›Moor-SA‹ waren sie aber geradezu angewiesen, zumal das Ministerium Vergleichbares nicht selbst hätte initiieren können. Schäfers Suspendierung im Januar 1938 erklärt sich zum einen dadurch, dass nach dem angekündigten Abzug des RAD der legitimatorische Mehrwert, den Schäfer in das Lagerprojekt einbrachte, nicht mehr unmittelbar benötigt wurde. Zum anderen unterlag das Lagerprojekt angesichts des wiederholten Ausbaus zunehmend ökonomischen Effizienzanforderungen. Zwischen dieser geforderten Ökonomisierung der Gefangenenarbeit und Schäfers Amtsführung bestand eine Diskrepanz, der die Ministerialbeamten anscheinend durch einen direkteren Zugriff auf die Lager begegnen wollten.442

Vorfeld der Gerichtsverhandlung Für den Erfolg des Dienststrafverfahrens hielt das RJM ein gemeinsames Vorgehen mit der Obersten SA-Führung für erforderlich, das Stabschef Lutze zunächst auch befürwortete. Schäfer wurde nicht nur als Standartenführer entlassen, sondern es wurde auch ein weiteres Verfahren gegen ihn beim Obersten Rechtsamt der SA eröffnet, bei dem ihm vorgeworfen wurde, unerlaubt Gelder aus den Kameradschaftskassen entnommen zu haben. Allerdings zeigte sich bald, dass Schäfer über ein breites Netz an Unterstützern verfügte – und zwar sowohl im nordwestdeutschen Raum als auch in Berlin. Noch aus seiner Oranienburger Zeit hatte er dorthin viele Verbindungen und inzwischen weitere geknüpft.443 Schäfers Fürsprecher erhielten dabei Zugang zu höchsten Stellen. Rund einen Monat nach der Suspendierung notierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: »Ein paar SA-Männer kommen mit Beschwerden aus dem Emsmoor. Ich suche Ihnen zu helfen so-

Aussage Marx, 1. 12. 1949, in: ebd., S. 2493. Vgl. Kap. III.3 und Knoch: Willkür, S. 44–49. 443 Vgl. beispielsweise Erklärung Dolasse, 28. 3. 1936, in: PA Schäfer. Das SA-Verfahren wird im Urteil des Dienststrafverfahrens erwähnt. Vgl. Urteil Schäfer 1938. 441 442

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260 weit ich kann.«444 Ein Eintrag vom Folgetag zeigt, dass die SA-Männer Goebbels überzeugen konnten: »Die SA im Emsmoor hat nicht so ganz unrecht. Hier hat anscheinend die Justiz wieder mal den Amtsschimmel geritten. Ich fordere von Freisler einen Bericht.«445 Eine Woche später hatte Goebbels diesen Bericht erhalten und beabsichtigte nun, sich persönlich für Schäfer einzusetzen: »Freisler schickt mir Unterlagen zur Absetzung des Lagerkommandanten im Ems-Moor. Die reichen in keiner Weise aus. Ich gehe dagegen an.«446 Ob die Einflussnahme durch Goebbels dazu führte oder ob Schäfers Gewährsleute an anderer Stelle erfolgreich um Unterstützung geworben hatten – das SA-Gerichtsverfahren gegen den suspendierten Kommandeur wurde eingestellt und seine Entlassung als Standartenführer dadurch hinfällig, dass ihn die Oberste SA-Führung am 23. März 1938 zum Oberführer beförderte.447 Auch als Führer der Pionierstandarte 10 wurde Schäfer wieder eingesetzt und blieb somit selbst während des Verfahrens SA-Vorgesetzter der Wachmänner.448 Damit bezog die SA unmissverständlich Stellung und stärkte Schäfer den Rücken. Im Prinzip war das Dienststrafverfahren schon an dieser Stelle gescheitert. Eine alternative Bewachungsmöglichkeit bestand noch immer nicht, sodass die Justizverwaltung weiter auf die ›Moor-SA‹ angewiesen war. Umgekehrt benötigte die SA die Strafgefangenenlager weiterhin zur Versorgungssicherung ihrer Angehörigen. Eine Ablösung der SA-Wachmannschaften war also für beide Seiten im Grunde undenkbar, dennoch hätte diese Option bei einer Entlassung Schäfers im Raum gestanden. Zumindest wäre es zu ernsthaften Zerwürfnissen zwischen den von der OSAF gestützten Wachmannschaften und der Justizverwaltung gekommen. Ein dauerhafter Konflikt zwischen Justiz und SA aufgrund der Personalie Schäfer hätte somit den langfristigen Erfolg des Lagerprojekts in Frage gestellt. Auch wenn der Konflikt nach dem Dienststrafverfahren beigelegt zu sein schien, sollte genau dieser Fall de facto eintreten. Im weiteren Verlauf des Verfahrens setzten sich noch weitere hochrangige SAund Parteiführer für Schäfer ein. Die zehntägige Hauptverhandlung war zwar nicht öffentlich, dennoch wohnten ihr mehrere NS-Funktionäre bei. Gauleiter Röver, SAGruppenführer Böhmker, der Rechtsreferent der OSAF und ein Mitarbeiter des »Stellvertreters des Führers« Rudolf Heß waren ständig anwesend, zwischenzeitlich auch der spätere Reichshauptamtsleiter der NSDAP und damalige Gaustabs-

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Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I, Bd. 5, München 2000, S. 173. Goebbels’ Aufzeichnungen vermitteln den Eindruck, dass sich die beiden selbst höchstens flüchtig kannten. Ebd., S. 174. Ebd., S. 186. Vgl. Urteil Schäfer 1950, S. 2657. Vgl. Schreiben 27. 4. 1938, in: BA Berlin, R 3001 Nr. 23021. Durchsetzung

261 leiter Weser-Ems Heinrich Walkenhorst.449 Carl Röver trat dabei als Wortführer auf und bezeichnete im Gerichtssaal nicht nur den Generalstaatsanwalt als Lügner, sondern auch Rudolf Marx als den eigentlichen Beschuldigten, weil er einen Oberführer der SA zur Anklage gebracht hatte. Bereits vor Prozessbeginn hatte er zudem Medizinalrat Teigeler, einen der Hauptbelastungszeugen, auf offener Straße angeschrieen und gedroht, er wolle ihm und der Justizverwaltung »die Kiefern [sic!] einschlagen und die Zähne rasieren.«450

Anklagepunkte und Verhandlung Der Hintergrund des Machtkampfs zwischen Schäfer und dem Justizministerium wurde in der offiziellen Anklage natürlich nicht offen genannt. Die einzelnen Anklagepunkte lassen leicht den Eindruck entstehen, es habe sich hierbei vorrangig um ein Korruptionsverfahren gehandelt. In vier von fünf Anklagepunkten ging es zumindest in Teilen um unzulässige Vorteilsnahme von Wachmännern; im verbliebenen zweiten Anklagepunkt darum, dass Schäfer die Kontrolle über Finanzmittel von Verwaltungsbeamten auf die Lagerleiter übertragen hatte. Angesichts der realen Verhältnisse in den Lagern bezeichnet Sebastian Weitkamp die Vorwürfe als »grotesk lächerlich« und fragt, warum die Anklage in dieser Form überhaupt erhoben wurde.451 Tatsächlich scheinen diese Vorkommnisse zumindest für Schäfers direkte Vorgesetzte, Marx und Hecker, ein Teil der Problematik von Schäfers Amtsführung gewesen zu sein, die nicht ihren Vorstellungen eines »ordnungsmäßigen« Verwaltungshandelns entsprach.452 So hatte sich das Verhältnis zwischen beiden Parteien auch aufgrund der Revisionen durch Marx und Hecker verschlechtert. Während Schäfer darin eine Einmischung des Ministeriums in seinen Arbeitsbereich sah, bemängelten die Ministerialbeamten die oftmals ungenaue Buchführung der SA-Männer.453 Auch bei der Finanzierung von Freizeitkultur- und Repräsentationsmaßnahmen hatte Schäfer seine dienstlichen Befugnisse denkbar weit ausgelegt. Unter seiner Aufsicht war ein schier undurchschaubares System aus lagereigenen Verpflegungsfonds und der SA gehörenden Kameradschaftskassen entstanden. Dazu gehörten neben den Kassen der einzelnen Lager zum Beispiel eine Kasse des Sturmbanns 449

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Anklage gegen Werner Schäfer 1950, in: KW III, S. 2524. Zur Biographie Walkenhorsts vgl. Michael Rademacher: Die Kreisleiter der NSDAP im Gau Weser-Ems, Marburg 2005, S. 328. Aussage Teigeler 1947, in: KW III, S. 2487. Zu Rövers Ausbrüchen im Gericht vgl. Anklage gegen Werner Schäfer 1950, in: ebd., S. 2524 f. Weitkamp: SA, S. 155. Aussage Marx 1. 12. 1949, in: KW III, S. 2492. Vgl. Urteil Schäfer 1938.

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262 z. b.V., eine Kasse für ein Reit- und Fahrturnier, ein Hanns-Kerrl-Fonds, eine Musikzugkasse, eine Kasse zur Beschaffung eines Schellenbaums und der Kantinenfonds.454 Schäfers kreative und oftmals nur halblegale Maßnahmen zur Geldbeschaffung hießen die Ministerialbeamten sogar willkommen, solange sich diese – wie etwa im Rahmen der Parkanlagen oder bei der Ausgestaltung des Emslandhauses – auf die Ausgestaltung der Wachmannschaftsbereiche bezogen.455 Auch die kleineren Korruptionsfälle einzelner Wachmänner oder die Grauzonen, die im Unterhalt der Wirtschaftsbetriebe oder durch die unentgeltliche Nutzung von Strom, Wasser und Heizung für Freizeitaktivitäten der SA entstanden, störten sie anscheinend nicht.456 Bei den Anklagepunkten gegen Schäfer handelte es sich hingegen um Fälle, bei denen Geldwerte entweder direkt der Justizverwaltung entwendet beziehungsweise vorenthalten wurden oder aber Finanztöpfe ihrem Zugriff entzogen werden sollten. Der erste Anklagepunkt behandelte den sogenannten »Fall Bunde«. Für die dortige Konservenfabrik hatten bereits 1935 Strafgefangene rund 200 t Bohnen bearbeitet. Die Bezahlung von 4.000 RM beabsichtigte Schäfer für die Ausgestaltung der Wachmannschaftsbereiche zu verwenden. Auf Nachfrage erklärte das Ministerium jedoch, das Geld stehe der Staatskasse zu, woraufhin es entsprechend umgebucht wurde.457 Im Folgejahr ließ Hubert Aerts erneute Arbeiten im Lager III in den Baracken durchführen, wofür gesondert Posten gestellt werden mussten. Mit der Fabrik vereinbarte er unter der Hand, dass sie Konserven für 200 RM an die Wachleute lieferte; die Rechnung wurde entsprechend gesenkt. Anschließend beanspruchte Aerts in Rücksprache mit Schäfer 500 RM von den verbliebenen 1.740 RM für die Wachleute aufgrund der angefallenen Mehrarbeit – die er selbst künstlich erzeugt hatte.458 Sowohl der Schriftverkehr als auch die Verbuchung dieser 500 RM gingen ungewöhnliche Wege. Die Zentralverwaltung erhielt darüber nur auszugsweise Kenntnis. Stattdessen befassten sich Hubert Aerts und Hans-Hugo Daniels wiederholt damit, obwohl sie auf dem Dienstweg gar nicht eingebunden waren. Anstatt den Wachleuten aus Brual-Rhede selbst zugute zu kommen, fanden sich die 500 RM ebenso wie die entsprechenden Aktenvorgänge schließlich in einer »Kasse für das Reit- und Fahrturnier« wieder. Eine Einbindung in diesen Vorgang war Schäfer anschließend jedoch nicht nachzuweisen, ebenso wenig der Ausspruch »Es ist schade, daß wir nicht den Staat um den ganzen Betrag beschissen haben«.459

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Vgl. ebd. Vgl. Aussage Marx 1. 12. 1949, in: KW III, S. 2491–2494. Vgl. Ministerialdirigent Crohne, 5. 12. 1938, in: BA Berlin R 2 Nr. 24006. Vgl. Urteil Schäfer 1938. Vgl. ebd. Ebd. Durchsetzung

263 Für das Celler Oberlandesgericht erweckte der Fall Bunde »den Verdacht, daß von einer der Staatskasse und insofern der Allgemeinheit der Volksgenossen zustehenden Forderung ein Betrag bewusst rechtswidrig abgetrennt ist zugunsten einer kleineren Gemeinschaft innerhalb des Volkes, eben der Wachttruppe.«460 Dieser massive Vorwurf stand der Gemeinschaftsinszenierung der ›Moor-SA‹ diametral entgegen. Die Fakten belegten, dass Maßnahmen zur SA-Gemeinschaftsbildung zulasten der ›Volksgemeinschaft‹ gingen. An diesem Punkt hätte die ›Moor-SA‹ tatsächlich insgesamt in Frage gestellt werden können – ein Weg, den bekanntlich auch die Justizverwaltung nicht einschlagen wollte. Auch das Gericht argumentierte nicht weiter in diese Richtung, sondern stellte nur lapidar fest, das Vorgehen der beteiligten SA-Männer sei »in dem gegenwärtigen Verfahren […] nicht zu untersuchen«. Schäfer selbst habe seine Beamtenpflicht zwar verletzt, da er nicht geprüft habe, ob die Forderung über 500 RM zulässig gewesen sei. Da Schäfer in den Verwaltungsvorgang darüber hinaus nicht mehr eingebunden gewesen sei, sah es im »Verhalten des Beschuldigten in diesem Fall Bunde keinen Anlass, eine Pflichtwidrigkeit festzustellen.«461 Eine derartige Argumentation stellte für das Gericht eine willkommene Ausweichmöglichkeit dar, die auch bei der Bewertung der restlichen Anklagepunkte wiederholt genutzt wurde. Dem zweiten Anklagepunkt der eigenmächtigen Abänderung von Bestimmungen lag der Kommandanturbefehl 86 /37 vom 17. September 1937 zugrunde, mit dem Schäfer die Richtlinien des Ministeriums zur Verpflegung der Wachmannschaften geändert hatte. Zuvor waren wiederholt Schwierigkeiten in der Abstimmung von Verpflegungsfonds und Kameradschaftskassen aufgetreten. Zudem hatten sich mehrfach Wachmänner über die Auswahl der Verpflegung beschwert.462 Durch Schäfers Kommandanturbefehl wurde nun für jedes Lager eine siebenköpfige Verpflegungskommission aus Verwaltungskräften und SA-Männern berufen. Problematisch war daran, dass Schäfer in diesem Zug die Beaufsichtigung des Verpflegungsfonds vom Verwaltungsinspektor auf den Lagerleiter übertrug. Verwaltungsleiter Gay wies Schäfer anschließend darauf hin, dass dieser Kommandanturbefehl eine Provokation des Ministeriums darstelle, da er hätte genehmigt werden müssen. Daraufhin fiel Schäfers Ausspruch, das RJM solle sich dadurch auch herausgefordert fühlen. Seinen Befehl relativierte er durch ein Rundschreiben vom 5. Januar 1938, in dem er klarstellte, dass »die unmittelbare Sorge für die ordnungsmässige Ausführung der gesamten Buch- und Kassengeschäfte« weiterhin Aufgabe des Verwaltungsinspektors sei.463 Die Aufsicht über den Verpflegungsfonds beließ er jedoch weiterhin beim Lagerleiter. Ebd. Beide Zitate: ebd. 462 Vgl. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Akz 2000 /008 Nr. 5. 463 Urteil Schäfer 1938. 460 461

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264 Im Verfahren berief sich Schäfer darauf, dass es sich »nur um Richtlinien gehandelt habe, von denen er jedenfalls dann habe abweichen können, wenn sie sich für Papenburg als unpraktisch erwiesen hätten.« Er war zu diesem Zeitpunkt verärgert gewesen, weil Gerichtsrat Hecker Einblick in die Buchführung der Kameradschaftskassen genommen hatte, was Schäfer als Einmischung in SA-Angelegenheiten wahrnahm. Er habe allerdings nicht »seine Machtbefugnisse mit denen des Ministeriums« messen wollen, sondern lediglich auf die »bereits mehrfach gerügten […] Mißstände hinweisen wollen, damit endlich einmal vom Ministerium Abhilfe […] getroffen werden möge.«464 Das Gericht befand, Schäfers »Einlassung ist nicht zu widerlegen« und insgesamt »ist festzustellen, dass er eigenmächtig und ohne hinreichend zwingenden Grund die ministeriellen Bestimmungen abgeändert hat, dass aber eine Provokation im Sinne einer Herausforderung nicht nachgewiesen ist.«465 Bei der Verhandlung des dritten Anklagepunkts konzentrierte sich das Oberlandesgericht auf die Vorwürfe der Gefangenenmisshandlung und ließ das Zusammenspiel mit weiteren Belastungsfaktoren – etwa durch die in der Anklage genannte »Kostentziehung« – außer Acht. Auch bei diesem Komplex verblieb das Gericht nur an der Oberfläche und beschränkte sich auf solche Fälle, die ohnehin bekannt waren – sei es, weil Beamte anderer Haftanstalten sie bei Transporten beobachtet hatten, sie von Gefangenen nach ihrer Rückverlegung in reguläre Gefängnisse gemeldet worden waren oder weil sie in schriftlichen Berichten der Lagerärzte, vor allem Teigler und Kobelt, an das Justizministerium benannt wurden. Dennoch kam das Oberlandesgericht zu der Auffassung, »dass Gefangenenmisshandlungen in erheblichem Umfange und auch schwerer Art vorgekommen sind.«466 Das Gericht eröffnete sich jedoch einen Ausweg, indem es die Aussagekraft der beteiligten Zeugen generell in Zweifel zog, ohne selbst im jeweiligen Einzelfall den Wahrheitsgehalt zu prüfen: Die Strafgefangenen sind oft genug charakterlich wertlos, deshalb nicht sehr wahrheitsliebend, viele neigen zu Übertreibungen, wenn nicht gar zu offenbarer Lüge. Andererseits streiten die Wachmänner häufig jede ›Misshandlung‹ ab, manchmal unter Verkennung dieses Begriffes, und unbeteiligte einwandfreie Zeugen sind regelmäßig nicht vorhanden.467 In dieser Logik stand in der Regel Aussage gegen Aussage, sodass ein Vergehen kaum nachzuweisen war. Im Folgenden trug das Gericht selbst immer wieder EntSämtliche Zitate: ebd. Ebd. 466 Ebd. 467 Ebd. 464 465

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265 lastungsnarrative vor. Berichte von Beamten aus dem Zuchthaus Bruchsal zu Übergriffen von SA-Männern bei der Übergabe von Transporten erklärten die Richter dadurch, dass womöglich »eine gegensätzliche Auffassung von Strafvollzug mitgesprochen hat, vielleicht auch die verschiedene Wesensart des badischen und norddeutschen Charakters.«468 Obwohl mehrere Zeugen angaben, die Gewalt sei vor allem zu Beginn der Lagerhaft aufgetreten, oder davon berichteten, Gefangene der Strafkompanie seien unter einen tropfenden Jaucheschlauch gestellt worden, vermochte das Gericht keine Systematik in den Misshandlungen zu erkennen und behandelte sie als Einzelerscheinungen. Die massiven Gewalteskapaden während der Moorarbeit blieben ohnehin gänzlich unberücksichtigt. Erwähnt wurde hingegen eine Reihe von Selbstverstümmelungen in Esterwegen, die im Sommer 1937 begonnen hatte. Der dortige Lagerarzt Kobelt hatte dem RJM bereits im Dezember 1937 von 21 Fällen berichtet.469 In der Folge traten noch mehrere Wellen von Selbstverstümmelung auf, vermehrt unter ›kriminellen‹ Häftlingen, die hofften, damit dem Zusammenspiel von Gewalt, Zwangsarbeit und weiteren Belastungsfaktoren zu entkommen und als ›moorunfähig‹ in ihre Mutteranstalt zurückverlegt zu werden.470 Karl Schröder, mehrfach Zeuge solcher Selbstverstümmelungen, schreibt, diese seien »nicht der Entschluß eines Augenblicks« gewesen, sondern »immer erst das Summa-Summarum, die Endsumme unter langer Rechnung und meist sogar das Endergebnis einer ganzen Zusammenbruchsinventur.«471 Das Celler Gericht fragte allerdings nicht nach den Hintergründen, die dazu geführt hatten, dass sich Gefangene »einzelne Finger der linken Hand abgehackt« oder sich durch »Werfen vor die Lore und dergleichen verstümmelt« hatten.472 Es Ebd. Daraufhin hatte Schäfer in einem Gegenbericht vom 26. Januar 1938 die »charakterliche und moralische Veranlagung« Kobelts angegriffen (Anklage gegen Werner Schäfer 1950, in: KW III, S. 2541). Es bleibt unklar, ob die Selbstverstümmelungen zum damaligen Zeitpunkt auf Esterwegen beschränkt blieben. Durch die jeweiligen Gewaltregime und zum Teil unterschiedlichen Häftlingsgesellschaften in den einzelnen Lagern – mit bedingt durch die Zusammenlegung spezifischer Häftlingsgruppen (z. B. Homosexuelle 1936 in Neusustrum, politische Strafgefangene 1937 /38 in Aschendorfermoor) – wäre ein vereinzeltes Auftreten in Esterwegen 1937 möglich. Ebenso könnten andere Lagerärzte weitere Selbstverstümmelungen schlicht nicht gemeldet haben. Zur Zusammensetzung der Strafgefangenen vgl. KW II, S. 1773–1900; Carola von Bülow: Die Verfolgung von homosexuellen Männern im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland am Beispiel der Emslandlager, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus, Bremen 1999, S. 62–69 u. Hentschke: Moor, S. 70–104. 470 Auch in den Folgejahren trat dieses Phänomen wiederholt auf. Die höchste Zahl an Selbstverstümmelungen war 1939 zu verzeichnen. Vgl. Knoch: Emslandlager, S. 547–551. 471 Schröder: Station, S. 134. 472 Urteil Schäfer 1938. 468 469

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266 betrachtete allein Schäfers Umgang mit bekannt gewordenen Fällen. Dieser hatte dazu in Esterwegen persönlich mehrere Betroffene befragt, kam aber zu dem Urteil, dass diese »durchweg Psychopathen seien, die sich von der Arbeit drücken wollten«.473 Jegliche Vorwürfe gegen SA-Männer sah er als Kränkung an. Den Gefangenen S., der sich – nachdem er sich bereits mehrere Finger abgeschlagen hatte – schließlich die gesamte linke Hand abhackte, ließ Schäfer entgegen Teigelers Empfehlung nicht zurück ins Gefängnis transportieren, sondern verordnete: 28 Tage Arrest wegen Selbstverstümmelung mit allen Schärfungen. [S.] wird mit der gesunden Hand zweckentsprechend beschäftigt. Kein Pardon diesem asozialen Burschen. Kommt unter keinen Umständen in die Anstalt. Sicherungsverwahrung beantragt.474 Auch hier meinte das Gericht, Schäfer keine Pflichtwidrigkeit nachweisen zu können, »wenn auch seine Massnahmen nicht durchweg als sachlich zweckmässig angesehen werden können.«475 Die Richter warfen Schäfer zwar vor, sich zu bedingungslos vor seine Wachmannschaften gestellt zu haben, kamen dann aber in einer bizarren Argumentation zu dem Schluss, er habe von flächendeckenden Misshandlungen keine Kenntnis gehabt: Schäfer habe zwar in keinem Kommandanturbefehl, aber immer wieder mündlich auf das Misshandlungsverbot hingewiesen und zudem beinahe täglich die Lager besucht. Da ihm dabei nicht von Misshandlungen berichtet wurde, habe er auch keinen Anlass gehabt, diese zu vermuten. Aufgrund der Erfolglosigkeit bisheriger Verfahren gegen Wachmänner habe Schäfer auch mit Recht davon ausgehen können, dass »die Angaben von Strafgefangenen über Misshandlungen übertrieben, zum Teil wohl auch erlogen waren«.476 Zu seinen Untergebenen habe Schäfer ein »übergrosses Vertrauen« gehabt und übersehen, dass »unter den Wachtmännern auch tatsächlich Leute minderwertiEbd. Personalakte S., zit. n. ebd. Die 1933 eingeführte Sicherungsverwahrung diente dazu, Strafgefangene auch nach Ablauf ihrer Strafe unbegrenzt festzuhalten. Sicherungsverwahrte wurden oftmals an Konzentrationslager überstellt, insbesondere ab 1942, als sie der »Vernichtung durch Arbeit« ausgesetzt werden sollten. Vgl. Wolfgang Ayaß: Schwarze und grüne Winkel. Die nationalsozialistische Verfolgung von »Asozialen« und »Kriminellen«. Ein Überblick über die Forschungsgeschichte, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Ausgegrenzt. »Asoziale« und »Kriminelle« im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen 2009, S. 16–30 und Wachsmann: Gefangen, S. 125–137 u. 310–319. 475 Urteil Schäfer 1938. 476 Beide Zitate: ebd. Die logische Diskrepanz zu den eigenen Befunden, dass Wachmänner Misshandlungen oft nicht als solche wahrnahmen und nach ihren Angaben »angenommen werden [muss], dass zum mindesten Ohrfeigen ausgeteilt sind, der Gummiknüppel benutzt wurde und es […] zum mindesten unwahrscheinlich [ist], dass das gezogene Seitengewehr nicht auch benutzt wurde« (ebd.), löste das Gericht nicht auf. 473 474

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267 gen Charakters waren«. Weil er »zu sehr an die Wirkung seiner Worte glaubte«, habe er die mündlichen Hinweise für ausreichend gehalten. Schäfer habe allerdings »von seinem Standpunkt aus gesehen getan, was er tun konnte und musste«, und deshalb auch »keine Pflichtwidrigkeit begangen.«477 Im folgenden vierten Anklagepunkt wurden wiederum Vorwürfe verhandelt, Schäfer habe sich und Untergebenen bei der Benutzung von Dienstwagen und durch die Ausnutzung von Gefangenenarbeit private Vorteile verschafft. Schäfer hatte mit Lagerleiter Maue mehrere Fahrten unternommen, bei denen er gegen die Vorgaben zur Wirtschaftlichkeit verstoßen hatte, und anschließend gemeinsam mit dem Fahrdienstleiter der Lager versucht, Zweck und Ziel der Reisen gegenüber der Zentralverwaltung zu verschleiern. Ähnlich wie bei einer weiteren Fahrt Ende 1936 nach Berlin rechtfertigte Schäfer sich damit, dass er zum damaligen Zeitpunkt – der RAD beabsichtigte, das Lager Esterwegen zu übernehmen – das gesamte Lagerprojekt gefährdet sah und mit verschiedenen Dienststellen und Wirtschaftsgrößen über den Fortbestand der Lager verhandelt habe. In einem weiteren Fall wollte er sich sogar mit einem Unternehmer treffen, um über den Einsatz von Strafgefangenen in dessen Erzlagern im Schwarzwald zu verhandeln. In sämtlichen Fällen sah das Gericht zwar eine Pflichtverletzung Schäfers als erwiesen an, erachtete sie aber als unerheblich.478 Zudem hatte Schäfer im April 1937 zur Renovierung seiner neuen Wohnung Gefangene eingesetzt, die zeitgleich das Kommandanturgebäude ausbessern sollten. Während die Arbeiten im Gang waren, wies ihn Rudolf Marx darauf hin, dass derartige private Arbeiten verboten seien. Laut Verwaltungsleiter Gay, der bei dem Gespräch anwesend war, »handelte es sich dabei nicht um einen ausdrücklichen Hinweis, sondern mehr um eine hingeworfene Bemerkung.« Schäfer ließ die Arbeiten weiterlaufen, bezahlte allerdings die Lohn- und Materialkosten. Trotzdem erteilte Schäfer noch im Juni 1937 die Genehmigung, auch die Wohnung seines Adjutanten Daniels durch Gefangene zu renovieren. In diesem Fall sah das Gericht zwar einen Verstoß, der aber nur gering wiege, da »der Beschuldigte für sich selbst hier keinen Vorteil erstrebt hat.« Bei den Arbeiten an Schäfers eigener Wohnung vermochte das Gericht ihm gar keinen Vorwurf zu machen, da er zum damaligen Zeitpunkt »das Verbot, Gefangene in Privatwohnungen von Beamten zur Arbeit zu verwenden, nicht kannte.«479 Auch andere SA-Männer hatten Strafgefangene zu Renovierungsarbeiten eingesetzt, darunter die Lagerleiter Aerts und Maue, Fahrdienstleiter Lüdtke und Bauleiter Goerke, meist ohne dafür zu zahlen. Hierin wäre leicht ein Indikator für das Ausbreiten einer flächendeckenden Korruption in der ›Moor-SA‹ erkennbar gewesen, bei der SA-Männer im Rahmen ihrer Möglichkeiten – es handelte sich ausSämtliche Zitate: ebd. Vgl. ebd. 479 Sämtliche Zitate: ebd. 477 478

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268 schließlich um SA-Führer vom Oberwachtmeister aufwärts oder Wachleute aus der Kommandantur – Wege zur eigenen Besserstellung suchten. Gemäß der Aufstiegsmentalität der ›Moor-SA‹ hielten die SA-Männer ihr Vorgehen vermutlich sogar für legitim, zumal ihr Kommandeur und sein Adjutant genauso vorgingen. Diese wiederum deckten ihre Untergebenen oder sahen weg, wenn sie ihnen nacheiferten. Wie gezeigt setzte sich dieses System der persönlichen Bereicherung in den unteren Diensträngen fort. In den bekannt gewordenen Fällen wäre zumindest Schäfers Dienstaufsicht zu hinterfragen gewesen. Das Gericht urteilte aber, dass Schäfer kein Vorwurf zu machen sei, da er für die Baumaßnahmen keine Genehmigungen erteilt hatte und die SA-Männer eigenmächtig vorgegangen waren. Insofern hatte das Fehlverhalten seiner Untergebenen auch hier keine Konsequenz für Schäfer.480 Der nachträglich zugefügte fünfte Anklagepunkt, die »unberechtigte Entnahme von Geldern aus Kameradschaftskassen«, behandelte nur kleinere Unstimmigkeiten. Schäfer hatte einen Hauptwachtmeister der Kommandantur beauftragt, darauf zu achten, dass seine Parteibeiträge regelmäßig gezahlt würden. Dieser hatte die Beiträge dazu mehrfach zunächst aus der Kameradschaftskasse der Kommandantur bezahlt, Schäfer die Beträge aber im Anschluss zurückgezahlt. In zwei weiteren Fällen hatte Schäfer Geldstrafen, zu denen Wachleute verurteilt worden waren, aus der Kameradschaftskasse teilweise übernommen. Dies war eine weitere Maßnahme, die Binnenkohäsion der Wachmannschaften zu steigern, während die Anklage argumentierte, er habe »damit den Strafzweck vereitelt.«481 Das Gericht sah jedoch keinen Widerspruch zum eigentlichen Zweck der Kameradschaftskassen und befand, Schäfer habe nur unterstützungsbedürftigen Wachleuten helfen wollen. Insgesamt wollte das Gericht also nur im Fall Bunde, bei der Abänderung der Verpflegungsrichtlinien, bei zwei Fahrten mit dem Dienstwagen und der Genehmigung von Gefangenenarbeit für Hans-Hugo Daniels Pflichtverletzungen durch Schäfer feststellen. Damit waren nur drei der fünf Anklagepunkte betroffen und in keinem dieser Fälle vermochte das Gericht, den Vorwürfen der Anklage in größerem Umfang zu folgen. Insbesondere der dritte Anklagepunkt, der die Gefangenenmisshandlungen beinhaltete, blieb völlig außen vor, da die Richter keine direkte Verantwortlichkeit Schäfers erkennen wollten. Es seien zwar beispielsweise bei der Vertuschung der Privatfahrten »ungünstige Umstände hervorgetreten«, die aber durch die positiv bewertete Persönlichkeit des Kommandeurs und die »immer wieder sich zeigende Fürsorge des Beschuldigten für die Wachtmannschaft« mehr als kompensiert würden. Die nachgewiesenen Pflichtwidrigkeiten seien daher auch »nicht schwer«, sie seien »fahrlässig begangen« worden.482 Vgl. ebd. Ebd. 482 Sämtliche Zitate: ebd. 480 481

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Durchsetzung

269 Die Dienststrafkammer hielt selbst eine Geldstrafe für unangemessen, sondern erteilte Schäfer nur einen Verweis. Allerdings sollte sich Schäfer mit einem Zehntel an den Prozesskosten beteiligen. Die Summe wurde jedoch gleichzeitig auf maximal 200 RM begrenzt, da das Verfahren »ganz außergewöhnlich hohe Kosten verursacht« habe.483

Folgen des Verfahrens Das Verfahren endete dadurch mit einer herben Niederlage für das Justizministerium, die sich durch die öffentliche Stellungnahme von SA und Partei schon vorher abgezeichnet hatte. Der Verweis gegen Schäfer war einerseits die Strafe, mit der sich die SA und der neu ernannte Oberführer abfinden konnten, andererseits ein – wenn auch kaum ausreichendes – Angebot für die Justizverwaltung, das Gesicht zu wahren. Den Umstand, dass Schäfer nicht freigesprochen worden war, versuchte die Justizverwaltung allerdings zu nutzen, um ihren Einfluss in den Lagern doch noch zu vergrößern. Nach dem Urteil blieb der Kommandeur noch mehrere Monate suspendiert und wurde erst zum fünfjährigen Jubiläum der ›Moor-SA‹ am 27. November 1938 wieder eingesetzt.484 Währenddessen wurden ein »Beauftragter des Reichsministers der Justiz für die Strafgefangenenlager im Emsland« als Kontrollinstanz eingesetzt. Aufgrund der unscharf umrissen Kompetenzen blieb dies jedoch eine »halbe Maßnahme«.485 Ähnlich verhielt es sich mit einer vordergründig gravierenderen Umstrukturierung der Lagerbewachung, mit der Justizbeamte die Leitung und die Funktionsstellen innerhalb der Lager übernahmen und die ›Moor-SA‹ nur noch für die Außenbewachung zuständig war.486 Das Verhalten der Justizverwaltung während Schäfers anhaltender Suspendierung zeigt zudem deutlich, dass das Dienststrafverfahren allein machtstrategisch motiviert gewesen war. Neben massiven Gefangenenmisshandlungen waren dort auch schwere Dienstvergehen, vor allem Unterschlagungen, durch Hans-Hugo Daniels, Hubert Aerts und Wilhelm Maue bekannt geworden. Wäre der Justizverwaltung ernsthaft an einer Besserung der Zustände – oder auch nur der Eindämmung der Korruption – gelegen gewesen, hätte sie nun relativ einfach weitere Verfahren einleiten oder SA-Männer entlassen können. Jedoch wurden nur zwei Verfahren wegen Gefangenenmisshandlung eröffnet, bald aber wieder eingestellt.487 Die Maßnahmen der Justiz zielten also nicht darauf ab, das konkrete Fehlverhalten einzel-

Ebd. Vgl. PA Schäfer. 485 Urteil Schäfer 1950, S. 2660. 486 Vgl. Reinicke: Aufstieg, S. 150–153. 487 Vgl. Urteil Schäfer 1938. 483 484

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270 ner Personen abzustellen, sondern darauf, einen besseren Zugriff auf bestimmte Positionen in der Personalstruktur der Lager zu bekommen. Auch nach außen hin nahmen die ›Moor-SA‹ und ihr Kommandeur kaum Schaden. Die emsländische Presse berichtete unbeirrt von den vermeintlichen Großtaten der SA-Männer. Schäfers Wiedereinsetzung erfolgte öffentlichkeitswirksam zum fünfjährigen Jubiläum der ›Moor-SA‹.488 Das Ministerium vermied in der Folge direkte Konfrontationen mit dem Kommandeur.489 Der vorsitzende Richter im Celler Dienststrafverfahren, Kurt Reuthe, wurde im September 1939 zum Präsidenten des Oberlandesgerichts Oldenburg ernannt. Als sich der einflussreiche Leiter der Abteilung für Personalwesen im RJM, Max Nadler, »mit aller Entschiedenheit« dagegen aussprach, da dies wie »die Belohnung für die Führung des Papenburger Prozesses im Sinne des Gauleiters Röver« wirke, ordnete Staatssekretär Freisler an, das Schreiben aus Reuthes Personalakte zu entfernen.490 Der Osnabrücker Staatsanwalt Hahne wiederum, der nach dem Schäfer-Prozess die Verfahren gegen SA-Wachleute anstrengte, wurde von Kreisleiter Münzer öffentlich scharf angegangen, er würde Verbrecher schützen.491 Schäfer und die Wachmannschaften schienen das Dienststrafverfahren also nahezu unbeschadet überstanden zu haben. Dennoch setzte bald darauf ein Bedeutungsverlust der Strafgefangenenlager und damit auch der Niedergang der ›Moor-SA‹ ein. Begleitet von längerfristigen externen Prozessen – der Intensivierung der Kriegsvorbereitungen, dem Ausbau des KZ-Systems, der rückläufigen Zahl der Gefängnisinsassen sowie der zunehmenden Kooperation der Justiz mit den Konzentrationslagern – lag dies vor allem daran, dass das einstige Vorzeigeprojekt in der Justizverwaltung deutlich an Stellenwert eingebüßt hatte und kaum noch gefördert wurde. Die Ursache für diesen verminderten Rückhalt ist vorrangig im gescheiterten Dienststrafverfahren gegen Schäfer zu suchen, anhand dessen sich die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des RJM im eigenen Lagerkomplex gezeigt hatte.

Vgl. EZ, 28. 11. 1938. Vgl. Urteil Schäfer 1950, S. 2657–2661. 490 Schreiben 6. 6. 1939, in: KW III, S. 2473. 491 Vgl. Weitkamp: SA, S. 158. 488 489

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Abb. 18 : Emslandlager 1939 – 1945. 272

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IV. Abstieg (1939 – 1942) Das Dienststrafverfahren gegen Werner Schäfer hatte mit einer eindeutigen Niederlage des Justizministeriums geendet. Dem Kommandeur war nur ein Verweis erteilt worden; er selbst sah sich anschließend als vollständig rehabilitiert an. Nach der Urteilsverkündung veranstaltete die ›Moor-SA‹ regelrechte Siegesfeiern.1 Die Justizverwaltung hatte weiterhin praktisch keine disziplinarischen Zugriffsmöglichkeiten auf die Wachmänner. Dennoch war das Dienststrafverfahren für die ›Moor-SA‹ ein vergifteter Sieg. In der Folge erhielt das Lagerprojekt nur noch wenig Unterstützung durch das RJM. Da auch an vielen regulären Strafanstalten Außenarbeitsstellen für Gefangene eingerichtet wurden und zudem andernorts weitere Strafgefangenenlager entstanden waren, verlor das Straf- und Siedlungsprojekt im Emsland zusehends seinen Prestigecharakter. Der geplante Lagerausbau geriet während der Sudetenkrise im Herbst 1938 ins Stocken; als er im folgenden Frühjahr wieder aufgenommen werden sollte, fühlte sich das Justizministerium nicht mehr an seine vorherigen Zusagen gebunden. Die Erweiterung des Komplexes auf 15 Strafgefangenenlager wurde letztlich nie realisiert, vielmehr die Zahl der Standorte mit Kriegsbeginn sogar auf sechs reduziert. Für die ›Moor-SA‹ bedeutete dies, dass Anspruch und Wirklichkeit zusehends auseinanderklafften. Hatte der Gemeinschaftsentwurf zuvor durch den kontinuierlichen Lagerausbau zumindest mittelfristig individuelle Perspektiven für die SA-Männer hervorgebracht, entstand nun in den Wachmannschaften eine weitläufige Desillusionierung. Damit beschleunigten sich Verfallserscheinungen, die schon zuvor eingesetzt hatten. Hinzu kam, dass im Zweiten Weltkrieg die Kultivierungsarbeiten rapide an Bedeutung verloren, da die Gefangenenarbeit zunehmend für die Kriegswirtschaft genutzt wurde. Auch für die Bevölkerung der umgebenden Orte wurde damit immer stärker sichtbar, dass die versprochenen Erfolge des Siedlungsprojekts kaum eintreten würden. Nach Kriegsbeginn flammten daher auch die Konflikte mit Anwohnern der Lager wieder auf.

1

Vgl. Aussage Teigeler 1947, in: KW III, S. 2485–2488, hier: 2487.

Abstieg

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274 1.

Ins Abseits gelobt. Stagnation des Lagerprojekts und Bedeutungsverlust der ›Moor-SA‹

Die Justizverwaltung veranlasste während des Dienststrafverfahrens gegen Werner Schäfer eine Umstrukturierung des Lagerpersonals. Diese Maßnahmen – die Einrichtung einer Aufsichtsbehörde und die Übernahme der Lagerinnenbereiche durch Justizbeamte – führten zwar nicht direkt zu einem Bedeutungsverlust der ›Moor-SA‹, allerdings änderten sich dadurch die Organisationsstruktur und die Einsatzverwendung der SA-Wachmannschaften nachhaltig. Die zuvor geringe Zahl der Justizbeamten in den Lagern wurde hingegen deutlich gesteigert. Die unterschiedlichen Anstellungsverhältnisse wurden durch die Aufteilung in Außenbewachung und Zuständigkeit im Lagerinnenbereich nun physisch präsent und durch die unterschiedliche Dienstkleidung – blaue Uniformen für die SA-Männer, grüne Uniformen für die Justizbeamten – auch nach außen hin sichtbar.2 Für den anstehenden Neubau der acht südlichen Emslandlager wurden zwar zeitgleich erste Wachmannschaftsteile aufgestellt, jedoch geriet der Lagerausbau noch vor Schäfers Rückkehr ins Stocken. Die Vergrößerung der ›Moor-SA‹ blieb letztlich aus. Durch die Abwertung des Kultivierungsprojekts im Zweiten Weltkrieg und die Einberufung großer Wachmannschaftsteile zum Kriegsdienst verlor die ›Moor-SA‹ schließlich ihre Bedeutung.

›Grüne‹ und ›Blaue‹. Die Umstrukturierung der Wachmannschaften Während Schäfers Suspendierung hatte Wilhelm Schenk die Leitung der SA-Wachmannschaften übernommen. Hans-Hugo Daniels und die meisten anderen Lagerleiter wurden zur ›informatorischen Beschäftigung‹ an reguläre Vollzugsanstalten abgeordnet.3 Unterdessen begann die Justizverwaltung im Frühjahr 1938, die Organisationsstruktur der Lager in dreierlei Hinsicht zu verändern: erstens wurde eine gerichtliche Aufsicht eingerichtet, zweitens die Zahl der Justizbeamten bei der Zentralverwaltung aufgestockt und drittens wurden die Lagerleitung sowie die Funktionsstellen innerhalb des Lagers durch Justizbeamte besetzt. Bereits zum 1. Februar 1938 wurde die direkte Unterstellung der Lager beim RJM

Vgl. Bestandsaufnahme der britischen Militärbehörden zu den Lagern im Emsland, in: KW II, S. 1943–1981, hier: 1954. 3 Vgl. Personalakte Hans-Hugo Daniels, BA Berlin R 3001 Nr. 53886; Gerichtsverfahren gegen August Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 837; Strafsache gegen Maue, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413; SA-Korrespondenz Friedrich Zerbst, BA Berlin SA D 0297 u. NLA Wolfenbüttel 42 A Neu Fb 3 Nr. 388.

2

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Abstieg

275 aufgehoben; die gerichtliche Aufsicht übernahm zunächst der Generalstaatsanwalt in Hamm, Hans Semler.4 Ende Oktober trat Oberstaatsanwalt Thissen die neu geschaffene Stelle des »Beauftragten des Reichsministers der Justiz für die Strafgefangenenlager im Emsland« an und war damit bereits einen Monat vor Schäfers Rückkehr am 27. November im Amt. Bereits im September 1939 schied Thissen jedoch wieder aus dem Dienst aus. Anschließend schickte das RJM nur noch einen Ersten Staatsanwalt als Vertreter des Beauftragten ins Emsland, zunächst Staatsanwalt Schaper, ab April 1940 Staatsanwalt Elborg.5 Der Beauftragte sollte nicht nur den Haftvollzug und die Verwaltung überwachen, sondern war auch direkter Ansprechpartner für Rückfragen des Kommandeurs. Unter dem Vorwand, damit eine »ständige dienstliche Fühlungnahme« gewährleisten zu können, sollte so wohl auch Schäfers umtriebige Kontaktaufnahme mit verschiedenen Stellen in Berlin unterbunden werden, was aber letztlich erfolglos blieb.6 Zudem waren die dienstlichen Kompetenzen des Beauftragten nicht klar abgesteckt: Zwar sollte er den Haftvollzug und die Verwaltung überwachen, die Justizbeamten einschließlich der Vorsteher unterstanden aber weiterhin Werner Schäfer als Kommandeur, dem gegenüber der Beauftragte keine Weisungsbefugnis hatte.7 Spätestens als nur noch ein Vertreter des Beauftragten vor Ort war, ließ Schäfer eine Kontrolle der Lager kaum noch zu. Elborg gab später an, Schäfer habe ihm gesagt: »Sie können von mir als Regierungsdirektor und SA-Führer nicht verlangen, daß ich mir von einem kleinen I. Staatsanwalt in die Lager gucken lasse.«8 Rückendeckung aus dem RJM blieb Elborg anscheinend versagt. So habe ihm Staatssekretär Freisler entgegnet: »Wollen Sie, daß ich gegen Herrn Schäfer noch ein Dienststrafverfahren einleite?«9 Elborg konnte weder eine Revision der Lager vornehmen noch ernsthaft Einblick in die Haftbedingungen bekommen. Der nahezu einzig nachweisbare Effekt dieser »wirkungsarmen« Stelle blieb, dass der direkte Kontakt Schäfers zu Marx und Hecker, der sich nach dem Dienststrafverfahren wohl schwierig gestaltet hätte, dadurch umgangen wurde.10 In der Kommandantur der Strafgefangenenlager wurde im Zuge der Umstruk4

5 6 7

8 9 10

Vgl. Rudolf Marx, 7. 2. 1938, in: KW I, S. 719. Im Frühjahr 1939 ging die gerichtliche Zuständigkeit schließlich an das Oberlandesgericht Celle über. Vgl. NLA Hannover Nds 711 Akz 6 /95 Nr. 638. Vgl. Gruchmann: Justiz, S. 281 und Urteil Schäfer 1950, S. 2660. Ebd. Vgl. auch Weitkamp: SA, S. 157. Dadurch entstanden zum Teil bizarre Doppelstrukturen, beispielsweise wenn Verwaltungsbeamte sowohl von Schäfer als auch von Thissen beurteilt wurden. Vgl. Personalakte Kurt Kramer, BA Berlin R 3001 Nr. 64503 u. Personalakte Max Schermer, NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 60. Urteil Schäfer 1950, S. 2660. Ebd., S. 2661. Knoch: Emslandlager, S. 551.

Ins Abseits gelobt

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276 turierung der Anteil der Justizbeamten deutlich erhöht. Staatsanwaltschaftsrat Gay wurde abgelöst, dafür wurden drei Juristen als Regierungsräte und zwölf Verwaltungsbeamte neu zur Kommandantur versetzt.11 Ein Jurist leitete die Verwaltungsabteilung und war zunächst auch Stellvertreter des Kommandeurs. In der Verwaltung bestanden fünf Unterabteilungen: Hauptgeschäftsstelle, Wirtschaftsverwaltung, Kasse, Arbeitsverwaltung und Besoldungsabteilung. Die beiden anderen Juristen leiteten gemeinsam die Abteilung Strafvollzug, die neben der Verwaltungsabteilung existierte und der die einzelnen Lagervorsteher unterstanden.12 Parallel dazu bestand das SA-Stabsamt, dem die Wachmannschaften unterstellt waren. Nach Schäfers Rückkehr wurde dieses zunächst von Wilhelm Schenk geleitet, ab dem 15. Februar 1939 von Schäfers vormaligem Adjutanten Hans-Hugo Daniels, der nach einjähriger informatorischer Beschäftigung in verschiedenen anderen Strafanstalten zurück ins Emsland kam und auch wieder Stellvertreter des Kommandeurs wurde.13 Zumindest zwei der Juristen in der Kommandantur, Kurt Kramer und Max Schermer, waren selbst langjährige SA-Mitglieder und arbeiteten mit Schäfer bald eng und einvernehmlich zusammen. Beide übernahmen wichtige Funktionen in der ›Moor-SA‹ und unterstützten als Fürsorge- beziehungsweise als Rechtsreferent die SA-Männer.14 Schermer arbeitete später vertretungsweise als Verwaltungsleiter und wurde von Schäfer als »mein engster Mitarbeiter« bezeichnet. Ende 1941 intrigierte er allerdings gegen Schäfer und wurde nach dem Bekanntwerden strafversetzt.15 Kramer, dem Schäfer attestierte, er sei »charakterlich völlig einwandfrei«, habe eine »anständige Gesinnung« und sei »bei allen SA-Männern wie auch meinen Beamten […] beliebt«,16 blieb hingegen bis zu seiner Einberufung im Frühjahr 1943 im Emsland. Als Kramer Ende 1945 versuchte, bei der Nachfolgeanstalt der Strafgefangenenlager wieder tätig zu werden, gab der neue Leiter an, dass Kramer »auch heute noch den Geist der Lager als ordnungsmäßig betrachtet« und

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Vgl. Urteil Rohde, S. 2141. Gay wurde zum Oberregierungsrat befördert und nach Essen versetzt. Vgl. KW III, S. 2577 f. Vgl. KW II, S. 1946; NLA Oldenburg Rep 945 Akz 250 Nr. 228 u. Personalakte Max Schermer, NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 60. Vgl. Personalakte Hans-Hugo Daniels, BA Berlin R 3001 Nr. 53886. Vgl. Personalakte Kurt Kramer, BA Berlin R 3001 Nr. 64503 u. Personalakte Max Schermer, NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 60. Für den dritten Stelleninhaber, Regierungsrat Flöther, sind weder eine eventuelle SA-Zugehörigkeit noch seine Verweildauer im Emsland bekannt (vgl. NLA Hannover Nds 711 Akz 6 /95 Nr. 638). Personalakte Max Schermer, NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 60. Schermer, der neben NSDAP und SA noch vier weiteren NS-Organisationen angehörte, sollte später gegen Schäfer – mit vielfach zutreffenden Einschätzungen – aussagen und sich dabei als unpolitischer Jurist gerieren (vgl. Aussage Schermer, 13. 3. 1946, in: KW III, S. 2488–2490). Personalakte Kurt Kramer, BA Berlin R 3001 Nr. 64503.

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277 zudem »mit einem großen Teil der unter keinen Umständen mehr tragbaren Beamten und Angestellten in […] enger freundschaftlicher Beziehung steht.«17 Die britische Militäradministration verbot schließlich Kramers weitere Beschäftigung. Die Aufstockung der Beamtenstellen in der Kommandantur ist ebenfalls nur bedingt als Versuch zu werten, die dortigen Verwaltungsabläufe zu professionalisieren und ein Gegengewicht zur ›Moor-SA‹ zu schaffen. Fünf der zwölf neuen Stellen wurden an die bisherigen Lagerleiter vergeben, deren Stellen durch die Übergabe der Lagerleitung an die Vorsteher nun obsolet geworden waren. Die ›alten‹ Lagerleiter Linnemann, Maue, Schenk, Schmidt und Zerbst wurden dadurch weiterhin in leitender Position im Lagerkomplex beschäftigt. Den Verlust ihrer bisherigen, herausgehobenen Funktion kompensierten sie durch die Übernahme ins Beamtenverhältnis und damit einhergehend höhere Bezüge und langfristige Absicherung.18 Einzig die Lagerleiter Aerts und Schroer blieben zunächst als Einheitsführer im Wachdienst tätig.19 Zumindest Aerts tat dies freiwillig und lehnte im Mai 1939 die angebotene Übernahme ins Beamtenverhältnis ab. Seine Witwe gab dazu später an: »Er fühlte sich insbesondere der Pionierarbeit im Moor so verpflichtet, dass er auch gern darauf verzichtet hat.«20 Allerdings ging Aerts’ Einsatz für das Pionierideal auch nur so weit, dass er sich zumindest gleichbleibende Bezüge zusichern ließ, denn eigentlich war der Einheitsführer einer Lagerwachmannschaft für gewöhnlich ein Hauptwachtmeister. Die Wachmannschaften waren ausschließlich für die Außenbewachung des Lagers zuständig, wozu neben der Bewachung der Lagergrenze auch die Aufsicht über die Gefangenen während ihrer Zwangsarbeit gehörte. Die Leitung der Lager übernahmen die Vorsteher – Justizbeamte, die in der Regel den Rang eines VerPersonalakte Kurt Kramer II, NLA Oldenburg, Rep 945 Akz 146 Nr. 1. Kramer musste auf Anordnung der britischen Militärregierung den Dienst verlassen, bevor der Generalstaatsanwalt über seinen Verbleib entscheiden konnte. 18 Vgl. Personalakte Hubert Aerts, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 932; Gerichtsverfahren gegen August Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 837; Strafsache gegen Maue, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413; SA-Korrespondenz Friedrich Zerbst, BA Berlin SA D 0297 u. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1250. 19 Karl Schroer war im Januar 1937 Lagerleiter in Brual-Rhede geworden, da Aerts zum Lager Esterwegen wechselte. Schroer war seit 1. Juni 1930 NSDAP-Mitglied und am 1. Oktober 1930 auch der SA beigetreten. Spätestens am 1. April 1934 war er in den Emslandlagern beschäftigt (vgl. Schreiben 21. 1. 1937, in: Angelegenheiten II). Schroer war vom 1. 1. – 8. 12. 1939 Einheitsführer im Lager Börgermoor, wo er sich persönlich an massiven Gefangenenmisshandlungen beteiligte, und wurde anschließend zur Wehrmacht eingezogen (vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1250 u. Urteil Rohde, S. 2152–2154). Darüber hinaus wird er praktisch nicht aktenkundig, abgesehen von einem Verbrechen im April 1943, bei dem Schroers Frau und Sohn, die innerhalb des Lagers Börgermoor wohnten, von einem flüchtigen Strafgefangenen ermordet wurden (vgl. EZ, 3./4. 4. 1943). 20 Schreiben 29. 11. 1940, in: Personalakte Hubert Aerts, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 932. 17

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278 waltungsinspektors hatten. Die Lagervorsteher leiteten zwar nominell die Lager, hatten allerdings keine Dienstgewalt über die Wachmannschaften. Bei Disziplinarbeschwerden konnte der Vorsteher zwar betroffene Häftlinge vernehmen, die beschuldigten Wachleute wurden aber von ihrem Einheitsführer und bei Bedarf vom Kommandeur angehört.21 Die Funktionsstellen in den Lagern wurden ebenfalls von Justizbeamten übernommen und in acht Unterabteilungen gegliedert, nachdem sie zuvor relativ ungeordnet nebeneinander bestanden hatten. Die wichtige Platzmeisterei wurde von zwei Beamten, meist Hauptwachtmeistern, geleitet, denen einige Aufsichtsbeamte untergeordnet waren. Daneben gab es die Arbeitsverwaltung, die Zahlstelle, die Abteilung ›C‹ für Aufnahme, Entlassung und Gefangenenakten, die Besoldungsabteilung, die Wirtschaftsabteilung – der wiederum die Geräteverwaltung, Kammer und Küche unterstellt waren –, sowie den Arrest und das Krankenrevier (siehe Abb. 19).22 Insgesamt existierten ungefähr 20 Stellen für Justizbeamte pro Lager, womit sich für die 1938 bestehenden sieben Lager einschließlich der Kommandantur eine Gesamtzahl von etwa 160 Beamten ergab. Da zum einen nicht genügend Oberwachtmeister an die Lager abgeordnet werden konnten und zum anderen die SA-Männer auch weiterhin beschäftigt werden mussten, war die Umstellung der Innenbewachung erst zum Jahreswechsel 1938 /39 abgeschlossen.23 Unmittelbar nach der Übernahme der Lager durch Justizbeamte besserten sich zumindest in einigen Fällen die Haftbedingungen für die Strafgefangenen. So wurde zum Beispiel in Börgermoor vom dortigen Vorsteher der Lagersport untersagt. In Aschendorfermoor wurden zusätzliche Arbeiten und Belastungen außerhalb der Moorarbeit unterbunden.24 Dadurch, dass im Lager selbst weniger Aufsichtspersonal vorhanden war, kam nun den Funktionshäftlingen ein höheres Gewicht zu, wie etwa Hans Frese berichtet: Ist der Stubenälteste ein guter Mensch, kann man auch Erholung finden. Aber in den meisten Fällen ist er eine Bestie. […] Bei grausiger Kälte treibt er die Leute vor die Baracken und läßt sie dort unnütz stehen. Jeden Morgen sind im

Vgl. KW III, S. 2329. Vgl. KW II, S. 1946 u. NLA Oldenburg, Rep 945 Akz 250 Nr. 228. 23 Vgl. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Akz 2000 /008 Nr. 3 u. KW II, S. 1986. Damit sind die Angaben aus Nachkriegsverfahren, etwa 400 Justizbeamte hätten in den Lagern Dienst getan, deutlich zu hoch gegriffen (vgl. Urteil Rohde, S. 2141). Etwa ein Viertel der Stellen war bei den Lagern selbst angesiedelt, die restlichen waren Abordnungen von anderen Vollzugsanstalten (vgl. NLA Hannover Nds 711 Akz 6 /95 Nr. 638). 24 Vgl. Urteil Rohde, S. 2142 u. Hentschke: Moor, S. 105–111. 21 22

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Abb. 19 : Organisationsstruktur der Strafgefangenenlager ab November 1938.

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280 Waschraum Schemel zu schrubben, die überhaupt nicht schmutzig sind. Seine Freunde haben alles, wir nichts.25 Dass sich durch die Anwesenheit der Justizbeamten die Haftbedingungen auf Dauer gebessert hätten, ist ein empirisch kaum nachweisbares Entlastungsnarrativ der Justiz, das in zahlreichen Nachkriegsprozessen vorgebracht wurde.26 Die Zeugenaussagen der Häftlinge ergeben hier bestenfalls ein gemischtes Bild.27 Denn zum einen stellte sich im Verhältnis zwischen ›Grünen‹ und ›Blauen‹ noch vor Schäfers Rückkehr ein Normalisierungsprozess ein, in dem sich auch langjährige Justizbeamte an Gefangenenmisshandlungen beteiligten. Zum anderen begann die Justizverwaltung etwa zeitgleich, SA-Wachmänner in den regulären Strafvollzug zu übernehmen. Oftmals wurden diese Männer von ihren neuen Haftanstalten umgehend ins Emsland abkommandiert, wo sie dann als Beamte wieder innerhalb des Lagers eingesetzt wurden.28 Die Voraussetzung für diese Übernahme von SA-Männern auf Beamtenstellen im regulären Strafanstaltsdienst war durch zwei Begebenheiten im Jahr 1936 geschaffen worden. So hatte die Justizverwaltung für sämtliche Gefängnisse und Zuchthäuser einen erhöhten Rekrutierungsbedarf festgestellt, wie Ministerialdirigent Marx im Dezember an sämtliche Generalstaatsanwälte schrieb: Der Strafanstaltsaufsichtsdienst leidet […] an einer Überalterung der Beamten. Da er überdies an die körperliche Leistungsfähigkeit der Beamten hohe Anforderungen stellt, erreicht nur ein Bruchteil der Beamten die Altersgrenze.29 Neue Anwärter sollten daher jünger als 45 Jahre alt sein. Bis Anfang 1938 war es allerdings nicht gelungen, dieser Entwicklung wirksam entgegenzutreten, da die Wachtmeisterstellen eigentlich ehemaligen Soldaten als Versorgungsanwärtern vorbehalten waren, diese aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters aber nur selten dafür in Frage kamen.30 Bereits im April 1936 hatte Roland Freisler aber gefordert, altgediente SA-Männer mit NSDAP-Mitgliedern, die vor dem 14. September 1930 beigetreten waren, »bei der Besetzung der freiwerdenden besetzbaren Planstellen des unteren und einfacheren mittleren Dienstes« gleichzustellen.31 Während des Dienststrafver25 26 27 28 29 30 31

Frese: Bremsklötze, S. 59. Vgl. auch Suhr: Emslandlager, S. 142–144. Vgl. beispielhaft KW II, S. 1982–2165. Vgl. etwa Emslandlagersache Sonderheft, Bd. IVa, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1221. Vgl. Reinicke: Erziehung, S. 286 f. Schreiben 3. 12. 1936, in: BA Berlin R 3001 Nr. 9820. Vgl. Reichsinnenministerium, 26. 3. 1938, in: Angelegenheiten III. Freisler, 4. 4. 1936, in: BA Berlin R 3001 Nr. 245600.

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281 fahrens gegen Schäfer verwarf die Justizverwaltung ihre bisherigen Vorbehalte und stellte die Übernahme von SA-Männern in die Beamtenlaufbahn nun unter Verweis auf Freislers Forderung als weitere Versorgungsmaßnahme für ›alte Kämpfer‹ dar, auch wenn der überwiegende Teil der Wachmänner erst nach Herbst 1930 in die SA eingetreten war.32 So wurden zunächst 265 SA-Männer aus dem Emsland auf Oberwachtmeisterstellen an regulären Strafanstalten übernommen. Da die Verbeamtungen auch im Krieg fortgeführt wurden, wuchs die Zahl der übernommenen SA-Männer weiter an.33 Die Maßnahme war für die Justizverwaltung in doppelter Hinsicht positiv: Zum einen konnte der eigene Mangel an Aufsichtskräften zeitnah abgemildert werden, zumal den SA-Männern ihre Dienstzeit im Emsland auf den Vorbereitungsdienst angerechnet wurde. Zum anderen wurde so der Missstimmung in der ›Moor-SA‹ angesichts des Schäfer-Verfahrens und der Umstrukturierung der Lagerbewachung entgegengewirkt. Die Übergabe der Lagerinnenbereiche an Justizbeamte war eine öffentliche Demütigung der ›Moor-SA‹. Die wegfallenden Stellen hätten zwar auch durch den gleichzeitig stattfindenden Lagerausbau kompensiert werden können, die Übernahme auf Oberwachtmeisterstellen bedeutete aber auch hier einen signifikanten Gehaltszuwachs und eine langfristige Absicherung. Nur höchst selten verweigerten SA-Männer die Übernahme in den Probedienst für Oberwachtmeister.34 Ursprünglich mochte damit zudem eine Art Aushöhlung der ›Moor-SA‹ beabsichtigt gewesen sein, da zu erwarten war, dass so viele Wachmänner der ersten und zweiten Kohorte, die schon seit 1933 /34 beziehungsweise 1935 Dienst taten, an andere Strafanstalten wechseln würden. Allerdings entwickelte sich dort bald die Praxis, die neu übernommenen SA-Männer wieder ins Emsland abzuordnen. Unter Verweis auf ihre Kenntnis des Lagerkomplexes diente dies de facto dazu, eigene Beamte vom Dienst im abgeschiedenen Emsland nach Möglichkeit fernzuhalten.35 Anfang der 1940er Jahre ging die Justizverwaltung schließlich dazu über, den Umweg über die ›Mutteranstalten‹ oftmals auszulassen. SA-Wachmänner wurden nach der Übernahme ins Beamtenverhältnis nur Für Wachmänner, die erst nach dem Machtantritt der NSDAP der SA beigetreten waren, galt diese Option jedoch nicht (vgl. Reichsinnenministerium, 26. 3. 1938, in: Angelegenheiten III). 33 Vgl. Neueinstellungen im Oberwachtmeisterdienst, 15. 3. 1938, in: ebd. Bereits im Juli 1938 waren mehr als 100 Stellen für SA-Männer aus dem Emsland vorgesehen, die Beförderung von SA-Männern auf Oberwachtmeisterstellen wurde aber noch mindestens bis 1944 fortgesetzt (vgl. BA Berlin R 3001 Nr. 9821 u. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1246). 34 Vgl. Schreiben 3. 5. 1938, in: Angelegenheiten III. 35 Ins Emsland abgeordnete Beamte versuchten oftmals durch Eingaben, frühzeitig zurück an ihre Mutteranstalten zu gelangen. Dabei machten sie meist gesundheitliche Gründe aufgrund des ›rauen Klimas‹ im Emsland oder die Trennung von ihren Familien geltend (vgl. bspw. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Akz 2000 /008 Nr. 3 u. Personalakte Alfred Bösler, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 926). 32

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282 formal bei einer anderen Haftanstalt angestellt und direkt an die Strafgefangenenlager abgeordnet.36 Die Umstrukturierung von Lagerbewachung und Kommandantur war also weder eine Maßnahme zur Professionalisierung und in der Folge zur Effizienzsteigerung, noch fand dadurch eine effektive Verdrängung von SA-Männern aus dem Aufsichtsdienst statt. Stattdessen befanden sich ab Anfang 1939 sowohl in der Kommandantur als auch im Lagerinnendienst alte SA-Wachmänner, die nun als Justizbeamte tätig waren.37 Hinzu kamen in beiden Bereichen weitere Justizbeamte – wie etwa Max Schermer und Kurt Kramer –, die zwar neu ins Emsland kamen, aber schon länger SA-Mitglieder waren und hier nun Anschluss an die ›Moor-SA‹ fanden.38 Die Aufteilung in ›Grüne‹ und ›Blaue‹ beziehungsweise Beamte und Hilfskräfte war irreführend, weil beiderseits zahlreiche SA-Männer angestellt waren. Das bestimmende Kriterium zur äußeren Abgrenzung der ›Moor-SA‹ war nicht die Art der Anstellung, sondern die Zugehörigkeit zur SA-Pionierstandarte 10.

Zugeständnisse der Justizverwaltung und parallele Entwicklungen im RJM Neben allem Eigeninteresse des Justizministeriums bei der Übernahme von SAMännern in die Beamtenlaufbahn stellte dieser Schritt auch ein Entgegenkommen gegenüber der ›Moor-SA‹ dar – war doch die »Übername in den Staatsdienst« seit langem eine zentrale Forderung der SA-Führer.39 Im Nachklang des Dienststrafverfahrens gegen Schäfer ging die Justizverwaltung auch in anderen Bereichen auf die Wachmannschaften zu, um eine Befriedung der Verhältnisse zu erreichen. Noch vor Beginn der Hauptverhandlung wandte sich Rudolf Marx an Göring und bat, Privatfahrten mit Dienstwagen »in bescheidenem Umfange«  – angedacht waren 400 km im Monat – freizugeben: Die Beschäftigung in Papenburg stellt an die Arbeitskraft und Arbeitsfreudigkeit des Vorstandes […] außerordentliche Anforderungen. Ihre Spannkraft zu Vgl. beispielsweise Personalakte Hans Bathen, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 879. Zum Teil waren die SA-Männer schon zur Wehrmacht eingezogen worden und traten ihre Oberwachtmeisterstelle nie an (vgl. Personalakte Josef Beiler, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 944). 37 Vgl. KW III, S. 2558 und eigene Datenbank. Auf einige dieser Fälle wird im folgenden Kapitel genauer eingegangen. 38 Oberwachtmeister Karl Ecker war etwa seit 1919 im Justizdienst und im Februar 1933 der SA beigetreten. Nachdem seine Abkommandierung im März 1941 endete, stellte die Kommandantur ein Gesuch an seine Mutteranstalt, ihn wieder ins Emsland abzuordnen (vgl. Personalakte Karl Ecker, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 846). 39 Vgl. Lagerleiter Oberlangen, 6. 7. 1935, in: Angelegenheiten III. 36

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283 erhalten und womöglich noch zu steigern, liegt im dringendsten dienstlichen Interesse. Dieses Ziel würde durch eine Lockerung des Verbots der Privatfahrten wesentlich gefördert werden […] zumal die Stadt Papenburg selbst zu wenig geistige Anregungen bietet.40 Als der Rechnungshof auch nach Abschluss des Schäfer-Verfahrens die Verflechtungen zwischen SA- und Justizeinrichtungen monierte und ein Ende der kostenlosen Nutzung von Wirtschaftsgebäuden, Strom, Wasser, Heizung etc. durch die SA forderte, antwortete Ministerialdirektor Crohne im Dezember 1938: Bei den besonderen Verhältnissen in den Emslandlagern und bei der Einheit, die die Wachttruppe der Reichsjustizverwaltung und die SA-Standarte in Wirklichkeit darstellen, bitte ich um Ihr Einverständnis, daß die angegebenen Leistungen der Reichsjustizverwaltung nach wie vor unentgeltlich bewirkt werden dürfen.41 Die Ankündigung der Pionierstandarte, die Verpflegung der Wachmannschaften ab April 1939 selbst übernehmen zu wollen, unterstützten Marx und Thissen gegenüber dem Finanzministerium. Der Beauftragte erklärte: »Ich halte diese Lösung zur Vermeidung von Reibungen für geboten«.42 Die ein Jahr später erlassenen »Richtlinien für die Verpflegungswirtschaft der Wachtruppe« gingen über den Kommandanturbefehl 86 /37, der Schäfer im Dienststrafverfahren noch zur Last gelegt wurde, weit hinaus. Die Justizbeamten sollten zwar weiter an der Gemeinschaftsverpflegung teilnehmen, waren aber in die Erstellung des Speiseplans und die Verwaltungsabläufe nicht weiter involviert. Besonders hervorgehoben wurde, dass »zum Verpflegungsbetrieb […] auch die Feld- und Viehwirtschaft« gehörte.43 Dadurch unterstanden die Wirtschaftsbetriebe – ob sie nun der SA oder der Justiz gehörten – klar der ›Moor-SA‹. Am 27. Januar 1939 verlieh Hitler der SA-Pionierstandarte 10 das Ärmelband »Emsland«. Durch diese »Anerkennung für ihren schweren und verantwortungsvollen Dienst« von höchster Stelle erhielt sie ihre endgültige Bezeichnung.44 Hans-Hugo Daniels wurde am 16. September 1939 zum Regierungsrat befördert und Werner Schäfer am 19. Juli 1940 »zum Regierungsdirektor« ernannt. Zwischen dem Kommandeur und den Einheitsführern der einzelnen Lager war bei inzwischen 1.500 SA-Männern eine Zwischeninstanz nötig geworden: Drei langjährige SA-Führer  – Hubert Aerts, Eberhard Hartmann und aller Wahrschein-

Rudolf Marx, 17. 5. 1938, in: BA Berlin ZA 1673 A 8. Wilhelm Crohne, 5. 12. 1938, in: BA Berlin R 2 Nr. 24006. 42 Beauftragter RJM, 13. 3. 1939, in: KW I, S. 865 f. 43 Ebd., S. 867. 44 EZ, 4./5. 2. 1939. 40 41

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284 lichkeit nach Karl Schroer – waren nun als Wachsturmbannführer für je etwa 500 SA-Männer zuständig.45 Parallel zur öffentlichen Belobigung der ›Moor-SA‹ wandelte sich jedoch der Stellenwert des Lagerprojekts im RJM. Bereits im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges änderte sich der Arbeitseinsatz in den Justizanstalten. Bei der Auswahl der Gefangenen für die Emslandlager wurden bereits ab 1937 ökonomische Effizienzkriterien angelegt. Nur noch ›moorfähige‹ Strafgefangene – für diese Beurteilung waren vor allem Alter und Gesundheitszustand maßgeblich – sollten ins Emsland verlegt werden. Gleichzeitig sollten keine wegen Hoch- oder Landesverrats Verurteilten mehr in die Strafgefangenenlager eingeliefert werden.46 Ab 1938 wurde die tägliche Arbeitszeit von acht bis neun auf zwölf Stunden erhöht und das vorgeschriebene Arbeitspensum beim Kuhlen sukzessive von ursprünglich 10 auf 25 m3 hochgesetzt.47 Parallel dazu hatte Staatssekretär Freisler seit dem Frühjahr 1938 mit mehreren Anweisungen begonnen, den Arbeitseinsatz in sämtlichen Strafanstalten für die Kriegswirtschaft vorzubereiten. Bereits Ende des Jahres wurden reichsweit 95 Prozent der Strafgefangenen zur Arbeit eingesetzt, zunehmend auch außerhalb der Gefängnismauern. Anfang 1939 waren dazu insgesamt 25.000 Gefangene, darunter 6.600 ›Moorfähige‹, eingesetzt.48 Zudem entstanden mehrere andere Gefangenenlager, die mit den Emslandlagern um Häftlingskontingente konkurrierten: Im Lager Rodgau waren zunächst 1.500 Gefangene eingesetzt, 1.000 weitere beim Bau der Ostmarkstraße in Bayern, noch einmal 1.000 im Lager Oberems bei Gütersloh, das schon vor dem Machtantritt bestanden hatte, aber erst Ende der 1930er Jahre ausgebaut wurde, und schließlich 400 Gefangene im anhaltischen Griebo.49 45

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Hartmann gab im Ermittlungsverfahren später an, er habe für »die Lager Walchum und Oberlangen als Wachsturmbannführer« lediglich »für die Ausbildung der Nachwuchskräfte Sorge« getragen, was als wenig überzeugende Entlastungserzählung erscheint (NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 243). Zu Aerts und Schroer vgl. Personalakte Hubert Aerts, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 932. Vgl. KW II, S. 1289. Im Fall der politischen Strafgefangenen, denen generell eine schwächere Physis zugeschrieben wurde, kamen auch sicherheitspolitische Überlegungen hinzu, da sie durch gegenseitige Solidarität das Lagerregime zuvor zum Teil erfolgreich unterlaufen hatten. Vgl. hierzu Knoch: Willkür, S. 42–47. Vgl. Buck: Esterwegen, S. 231. Vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 89–92 u. KW I, S. 823 u. 826. Nikolaus Wachsmann zufolge war die Umstrukturierung der Gefangenenarbeit auch eine Reaktion auf den Ausbau der SS-Wirtschaft in den Konzentrationslagern, in dessen Zuge Polizei und SS erneut Ansprüche auf Justizgefangene angemeldet hatten. Vgl. ebd., S. 822–829; Wachsmann: Gefangen, S. 94 f. u. 102 f.; Heidi Fogel: Das Lager Rollwald. Strafvollzug und Zwangsarbeit 1938 bis 1945, Rodgau 2004 und Karina Isernhinke: Das Strafgefangenenlager Oberems. Das nationalsozialistische Lagersystem im Gebiet des heutigen Kreises Gütersloh, Bielefeld 2015.

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285 Bereits in dieser Phase begannen die mittel- und langfristigen Ziele der Emslandkultivierung hinter kriegswirtschaftlich relevanteren Einsatzverwendungen zurückzustehen. In immer kürzeren Abständen verschärfte sich auch der Zugriff auf verschiedene Häftlingsgruppen. Im Emsland gab es wiederholt Forderungen, den Anteil der Zuchthausgefangenen zu erhöhen. Als Begründung äußerte Direktor Holland von der staatlichen Moorverwaltung im Oktober 1938: Ich stelle hiermit ausdrücklich fest, dass nach unseren jetzt jahrelangen Erfahrungen die Zuchthäusler besser arbeiten und mehr leisten als die Strafgefangenen [d. h. Gefängnisgefangene, D. R.]. Dies ist auch ganz einfach erklärlich; die Zuchthäusler kommen sicher mehr aus den Reihen der Handarbeiter, sind also schwere Arbeit mehr gewöhnt und widerstandsfähiger.50 Neu war zudem die Verlegung von Sicherungsverwahrten ins Emsland. Noch im Juli 1937 war deren Einsatz unter dem Gesichtspunkt der ›Ehrenaufgabe‹ der Moorkultivierung abgelehnt worden. Im März 1939 wurde in Esterwegen eine eigene Abteilung für 1.100 Häftlinge aus dieser Gruppe eingerichtet, bevor sie ab September 1942 unter dem neuen Reichsjustizminister Otto Thierack zur ›Vernichtung durch Arbeit‹ an das KZ Neuengamme überstellt werden sollten.51 Bereits zuvor hatte sich das Verhältnis zwischen Justiz und Konzentrationslagern zu wandeln begonnen. Zum einen versuchte die Justiz, durch hohe Strafen und harte Haftbedingungen ihren Einflussbereich zu sichern. Dazu trug der Lagerkomplex im Emsland maßgeblich bei, jedoch verschärfte sich der Umgang mit den Gefangenen auch in anderen Haftanstalten. Zum anderen verstärkten die Justizbehörden und die für die Einweisung in Konzentrationslager zuständige Polizei Ende der 1930er Jahre ihre Zusammenarbeit – etwa dadurch, dass politische Strafgefangene vor ihrer Entlassung den Polizeibehörden gemeldet und an den Gefängnis- beziehungsweise Lagertoren umgehend in Schutzhaft genommen wurden.52 So war das Verhältnis zwischen Justiz und Polizei »durch Kompromiss, Kooperation und Konflikt gekennzeichnet, wobei in der Vorkriegszeit die ersten beiden Aspekte überwogen.«53 Holland, 3. 10. 1938, in: KW I, S. 796. Vgl. Hans-Peter Klausch: »Vernichtung durch Arbeit«. Strafgefangene der Emslandlager im KZ Neuengamme, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Ausgegrenzt, S. 60–75 und Katharina Möller: Überstellt ins Konzentrationslager Neuengamme. Sicherungsverwahrung im Nationalsozialismus. Entstehung – Praxis – biographische Beispiele, Magisterarbeit Universität Hamburg 2009. 52 Vgl. für die Emslandlager hierzu Kurt Buck: Lageralltag und Zwangsarbeit, in: Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 99–112, hier: 99 und Wilfried Wiedemann: Die Strafgefangenen der Justiz im Emsland 1934–1945, in: ebd., S. 131–141, hier: 135–141. 53 Wachsmann: Gefangen, S. 188. Vgl. auch ebd., S. 167–194. 50 51

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286 Während das Gewaltregime der ›Moor-SA‹ im Nachgang des Schäfer-Verfahrens ungebrochen blieb, passte das Ministerium seine Vorgaben auch im regulären Strafvollzug an die gewaltgeprägte Lagerhaft an. In der Neufassung der Strafvollzugsordnung von 1940 hielt nicht nur die Zuteilung zu einer Strafabteilung als Hausstrafe für Gefangenenlager offiziell Einzug, sondern auch die Gewalt gegen Gefangene wurde denkbar weit legitimiert: »Der Anstaltsbeamte darf einem Gefangenen gegenüber Gewalt anwenden, soweit es zur unmittelbaren Erzwingung eines im Rahmen der Anstaltsgewalt geforderten Verhaltens nach seinem pflichtgemäßen Ermessen geboten ist.«54 Damit waren Gewalt gegen Häftlinge und de facto auch die Prügelstrafe legalisiert worden.55 An anderer Stelle überholte die Justizverwaltung gar die letztlich statisch bleibenden Gewaltpraktiken der ›Moor-SA‹, indem sie restriktive Maßnahmen einführte, die über das Repertoire der Wachmannschaften hinausgingen. Ebenfalls mit der Strafvollzugsordnung von 1940 wurde in sämtlichen Strafanstalten – auch in den Emslandlagern – der Dunkelarrest eingeführt. In den Strafgefangenenlagern wurde diese Maßnahme umgehend auf vier Wochen ausgeweitet, obwohl sie eigentlich zeitweilig unterbrochen werden sollte.56 Gleichzeitig wurden Ermittlungen gegen Wachleute auch nach dem Schäfer-Verfahren oftmals aufgrund von Straffreiheitsgesetzen oder des Eingreifens des Kommandeurs eingestellt. Somit sorgte die Justiz für eine institutionelle Absicherung des Gewaltregimes der ›Moor-SA‹.57 Im Endeffekt sollte es aber nicht das Gewalthandeln der SA-Männer sein, das in den Emslandlagern zu den höchsten Todeszahlen führte – so wichtig dieses zum ›Erlernen‹ und zur Etablierung entgrenzter Gewalt gegen ›Andere‹ in der ersten Hälfte der NS-Herrschaft war  –, sondern der schonungslose Arbeitseinsatz der Gefangenen im Krieg, bei dem die Vernutzung durch Arbeit zwar nicht Ausmaße wie in den Konzentrationslagern erreichen sollte, aber dennoch zu einer Sterberate bisher unbekannten Ausmaßes führte.58

Strafvollzugsordnung vom 22. 7. 1940, § 193, in: KW II, S. 2302. Vgl. Knoch: Willkür, S. 49. 56 Strafvollzugsordnung vom 22. 7. 1940, § 189, in: KW II, S. 2301 u. Darlegungen des Verteidigers [Schäfer-Verfahren 1950], in: KW III, S. 2613–2627, hier: 2616. 57 Vgl. Anklage gegen Werner Schäfer 1950, in: ebd., S. 2505–2550, hier: 2525–2533 u. Reinicke: Erziehung, S. 251 f. 58 Vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 239–275 und Knoch: Willkür, S. 45 f. 54 55

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287 Wendepunkt für die ›Moor-SA‹. Das Scheitern des Neubaus der südlichen Emslandlager Die ›Moor-SA‹ war im Zuge des Schäfer-Verfahrens also öffentlich herabgewürdigt worden, was auch zu Verstimmungen innerhalb der Wachmannschaft führte.59 Organisatorisch gesehen hatte sie diese Veränderungen aber nahezu unbeschadet überstanden: Die SA-Wachmannschaften unterstanden an keiner Stelle Justizbeamten, sondern ausschließlich SA-Führern. Der Wegfall von Stellen – hauptsächlich der Lagerleiter und der Funktionsstellen für Wachtmeister in den Lagern – wurde zumindest teilweise durch die Übernahme ins Beamtenverhältnis kompensiert, die eine zusätzliche Aufstiegsperspektive bot. Hinzu kam die Aussicht auf eine Vielzahl freier Beförderungsstellen in den Wachmannschaften der acht südlichen Lager. Der Ausbau des Lagerkomplexes war nach Schäfers Suspendierung von den verschiedenen involvierten Stellen unbeirrt vorangetrieben worden. Aufgrund der inzwischen rückläufigen Zahl der Strafgefangenen im Reich lehnte das Finanzministerium eine Finanzierung als zusätzlichen Haftraum über den Justizetat jedoch ab. Stattdessen hielten die Vertreter der verschiedenen beteiligten Instanzen bei einer Besprechung fest, dass »die Kultivierung des Emslandes eine Aufgabe des Vierjahresplans nach dem Auftrag des Generalfeldmarschalls Göring« darstelle.60 Somit wurde der Lagerneubau mit dem Kultivierungsarbeiten begründet, und das Finanzministerium stellte zunächst 9,4 Millionen RM aus dem Reichslandeskulturfonds zur Verfügung. Bauherr war das Land Preußen, Eigentümer das RMEL, das die Lager nach ihrer Fertigstellung an die Justizverwaltung übergeben sollte.61 Die neuen Lager mit den Nummern VIII bis XV sollten an den Standorten Wesuwe, Versen, Fullen, Groß Hesepe, Dalum, Wietmarschen, Bathorn und Alexisdorf in den südlichen Emslandkreisen Meppen und Grafschaft Bentheim entstehen. Versen und Dalum waren dabei für 1.500 Strafgefangene geplant, sämtliche anderen Lager für 1.000 Gefangene. Der Bau der Lager begann im April 1938, allerdings verzögerte sich deren Fertigstellung – vor allem aufgrund von Arbeitskräftemangel – mehrfach, und die Kosten stiegen um 1,2 Millionen RM.62 Am 9. August wurde in Fullen mit großem propagandistischen Aufwand ein Richtfest für 268 Gebäude der acht neuen Lager gefeiert. Zu diesem Anlass reisten Justizminister Gürtner und der Preußische Finanzminister Popitz als Chef der Preußischen

Vgl. Knoch: Kampf, S. 59 und Reinicke: Aufstieg, S. 150 f. Niederschrift über die Chefbesprechung in der Rf R, 18. 2. 1938, in: KW I, S. 715. 61 Vgl. ebd., S. 704–730. 62 Vgl. ebd., S. 736 f. u. 754–777. Das Lager Fullen wurde zuvor vom RAD genutzt, erforderte aber weitreichende Umbaumaßnahmen. 59

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288 Hochbauverwaltung ins südliche Emsland und versprachen die Inbetriebnahme der Lager im Oktober des Jahres.63 Jedoch war zu diesem Zeitpunkt schon abzusehen, dass die geplante Fertigstellung im September kaum einzuhalten sein würde. Wenig später scheiterte ein Versuch Hanns Kerrls, die Kultivierungsarbeiten in die »Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung« vom 29. Juni 1938 mit einzubeziehen. Anscheinend hatte der Leiter der Rf R inzwischen Bedenken, dass die Justizverwaltung die zugesagten weiteren 10.000 Strafgefangenen tatsächlich zur Verfügung stellen würde, und war in dieser Sache ohne Rücksprache mit dem RJM an die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung herangetreten. Allerdings wurde der Antrag vermutlich auch deshalb abgelehnt, weil das Ministerium diesen nicht unterstützte.64 In der Tat variierten die Aussagen Gürtners und Freislers zur Zahl neuer Strafgefangener und blieben im Ungefähren.65 Bereits im Januar 1938, als der Lagerausbau beschlossen worden war und es darum ging, 10.500 weitere Gefangene ins Emsland zu verlegen, hatte Gerichtsrat Hecker erklärt, dass sich aufgrund der rückläufigen Gefangenenzahlen »für den Reichsjustizminister erhebliche Schwierigkeiten« ergeben würden, dieser werde aber »alles tun, um diese Zahl zu erreichen.«66 Insofern hatten sich für das RJM nun endgültig die Prioritäten geändert. Die südlichen Emslandlager wurden nicht mehr zur Unterbringung weiterer Gefangener gebraucht. Auch das ursprüngliche Motiv, Häftlinge zur Arbeit einzusetzen, trat allmählich zurück, da auch bei den Gefängnissen die Zahl der Außeneinsätze stieg.67 Entscheidend für das Engagement des Ministeriums waren jetzt zum einen der Modellcharakter der Lager als neue Haftform für Strafgefangene, der angesichts des Ausbaus des KZ-Systems immer geringer wurde, und zum anderen die Einbindung in das Prestigeprojekt einer ›inneren Kolonisierung‹. Nachdem im Juni 1938 der Versuch der Justizverwaltung gescheitert war, durch das Dienststrafverfahren gegen Schäfer mehr Kontrolle über die eigenen Lager zu erhalten, schwand auch der Rückhalt, den das Lagerprojekt durch das Ministerium erfuhr. Dies wurde bereits wenig später deutlich, als während der Sudetenkrise mit einem ›Führerbefehl‹ vom 28. August der Einsatz von zunächst 10.000 StrafgefanVgl. Programm Richtfestfeier, in: ebd., S. 771 und EZ, 10. 8. 1938. Vgl. Präsident Reichsanstalt an Leiter Rf R, 10. 9. 1938, in: ebd., S. 777 f. Aus diesem Antwortschreiben wird nicht ersichtlich, wie Kerrl die Verordnung anwenden wollte, da diese vor allem zur Dienstverpflichtung von Arbeitskräften für Rüstungsvorhaben gedacht war (vgl. Andreas Kranig: Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart 1983, S. 79 f.). 65 Vgl. KW I, S. 717. 66 Protokoll: Verstärkter Einsatz der Strafgefangenen in den Staatsmoorgebieten, 10. 1. 1938, in: ebd., S. 692–697, hier: 694. 67 Vgl. Knoch: Willkür, S. 44 f. 63 64

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289 genen beim Westwallbau angeordnet wurde. Das Justizministerium entschied, beinahe drei Viertel davon (7.200 Gefangene) aus den Emslandlagern zu entnehmen, ebenso auch die zur Unterbringung aller Gefangenen nötigen Baracken. Als Hitler am 10. September seinen Befehl teilweise widerrief und den Einsatz von Strafgefangenen untersagte, waren bereits 2.000 Gefangene aus dem Emsland nach Zweibrücken in der Pfalz gebracht worden. Statt der vorgesehenen 72 waren tatsächlich 102 Baracken abtransportiert worden, die die Wehrmachtsführung auch nach der Rückkehr der Gefangenen für sich beanspruchte.68 Die Emslandlager ergaben somit ein trostloses Bild: In den Lagern I–VI waren insgesamt 35 Baracken für je 110 Gefangene abgebrochen worden. Einzig aus Esterwegen wurden keine Baracken abtransportiert. Zusammengenommen war in den nördlichen Lagern nun Platz für 6.500 Häftlinge – weniger als vor der Lagererweiterung 1937. Tatsächlich waren aber 7.400 Gefangene vor Ort. Erst Ende Oktober sank die Gefangenenzahl aufgrund von Entlassungen unter die offizielle Belegungsgrenze. Im südlichen Emsland war in jedem Lager nur eine einzige Unterkunftsbaracke für 150 Gefangene übrig geblieben. Davon ausgenommen war das für Bauarbeiter genutzte Lager Fullen, wo daher nach ihrer Rückkehr 1.200 Gefangene untergebracht wurden.69 Die Wehrmacht gab die Baracken zwar Ende Oktober 1938 wieder frei, der Rücktransport ins Emsland wurde jedoch erst im Dezember geregelt. Die acht südlichen Lager sollten im April 1939 in Betrieb genommen werden; aufgrund von Rohstoffmangel verzögerten sich die Bauarbeiten jedoch weiter, sodass erst Mitte Juni die ersten Lager vollständig belegungsfähig waren.70 Im Februar 1939 gab die Justizverwaltung allerdings bekannt, dass sie statt der angekündigten 20.000 Strafgefangenen nur 12.000 würde stellen können. Die Rf R und der Regierungspräsident in Osnabrück setzten sich mit Nachdruck für die Beibehaltung der ursprünglichen Pläne ein. Da im Zuge der Kriegsvorbereitungen nun auch andere Stellen vermehrt Strafgefangene anforderten, sah sich die Justizverwaltung aber nur zur Entsendung von maximal 12.600 Strafgefangenen in der Lage.71 In einem Akt der Verzweiflung wandte sich Oberregierungsrat Schmitz von der Rf R im Auftrag Hanns Kerrls am 23. März an die Gestapo und bat um den Einsatz von Schutzhäftlingen im südlichen Emsland. Reinhard Heydrich erklärte einen Monat später, er sei »leider nicht in der Lage […], arbeitsfä-

Vgl. KW I, S. 779–797. Ursprünglich wollte die Wehrmacht die Baracken sogar verbrennen. Bei einem Kriegsbeginn, der in der Sudetenkrise möglich schien, hätten sie sich im Schussfeld befunden. Stattdessen konnte die Justizverwaltung erreichen, dass die Baracken zunächst hinter die mögliche Front gebracht wurden. 69 Vgl. ebd., 783–785. 70 Vgl. ebd., S. 803–809 u. 892–894. 71 Vgl. ebd., S. 820–834. 68

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290 hige Häftlinge aus den Konzentrationslagern zur Verfügung zu stellen«, da sie dort selbst benötigt würden.72 Die Justizverwaltung übernahm schließlich im Sommer 1939 nur drei der neuen Standorte von der Landwirtschaftsverwaltung: Lager IX (Versen), XI (Hesepe) und XIV (Bathorn). Versen wurden mit den Strafgefangenen aus Fullen belegt, damit das dortige Lager fertiggestellt werden konnte. Auch in Bathorn wurden noch einige hundert Strafgefangene eingeliefert; Hesepe blieb bis Kriegsbeginn leer.73 Mitte September 1939 übernahm schließlich die Wehrmacht die acht südlichen Emslandlager und auch das Lager Oberlangen, um sie mit Kriegsgefangenen zu belegen. Die verbliebenen sechs Lager (I–V und VII) waren noch mit 9.000 Strafgefangenen belegbar.74 Für die ›Moor-SA‹ stellte das Ausbleiben des Lagerausbaus den eigentlichen Wendepunkt dar. Hätten im Herbst 1938 noch annähernd genügend Strafgefangene zur Verfügung gestanden, um die südlichen Lager zu belegen, war dies im Sommer des Folgejahres nicht mehr der Fall. Dadurch blieb sowohl der Bedeutungszuwachs durch die Verdoppelung ihrer Größe aus als auch der für die Tragfähigkeit der Gemeinschaftsutopie so wichtige Zuwachs an Beförderungsstellen. Als im März 1939 bekannt wurde, dass nur 12.000 Strafgefangene ins Emsland kommen sollten, forderte Baurat Rheders von der Bezirksregierung in Osnabrück, die Zahl der Wachmänner dennoch auf 2.500 zu erhöhen, da bislang »immer wieder notwendige Massnahmen zurückgestellt und statt dessen die Strafgefangenen ohne Vorteil für die Arbeiten an anderen Stellen massiert eingesetzt werden [mussten], nur weil es an Wachmannschaften fehlte.«75 Diese effizienzorientierte Argumentation hätte im Vorjahr noch ganz der Linie des RJM entsprochen. Inzwischen hatte das Lagerprojekt dort aber derart an Bedeutung verloren, dass das Ministerium auf diesen Vorschlag nicht einmal antwortete.

Bedeutungsverlust der ›Moor-SA‹ im Zweiten Weltkrieg Der Beginn des Zweiten Weltkriegs beschleunigte den Bedeutungsverlust der ›Moor-SA‹ rapide. Da die Tätigkeit in den Wachmannschaften nicht als kriegsChef der Sicherheitspolizei an Leiter Rf R, 27. 4. 1939, in: ebd., S. 835. Vgl. ebd., S. 893–900 u. KW II, S. 1437. Vgl. auch Hubert Titz: Strafgefangene im Lager XIV Bathorn im Jahre 1939, in: Volkshochschule der Stadt Nordhorn (Hg.): Lager, S. 32–39. Laut Titz befand sich bereits ab Ende November 1938 ein Vorkommando in Bathorn. Dies korreliert mit Überlegungen der Justizverwaltung, angesichts der zwischenzeitlichen Überbelegung die einzige in jedem Lager verbliebene Unterkunftsbaracke für 150 Gefangene zu nutzen. 74 Vgl. KW I, S. 902–911 u. KW III, S. 3404. 75 Schreiben vom 20. 3. 1939, in: KW I, S. 831–834, hier: 833. 72 73

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291 wichtig eingestuft worden war und ihre Stellen zudem auch in der Justizverwaltung mit einem ›kw‹-Vermerk als »künftig wegfallend« eingestuft waren, wurden umgehend SA-Männer aus dem Emsland zum Kriegsdienst eingezogen.76 Dienstgrad und Verweildauer in den Emslandlagern spielten dabei offensichtlich keine Rolle. Der ehemalige Lagerleiter August Linnemann war von März 1938 an in verschiedenen Strafanstalten weitergebildet worden und im April 1939 als Verwaltungsinspektor zur Zentralverwaltung in Papenburg zurückgekehrt. Nachdem er dort im sogenannten Aufbaustab für die Aufstellung neuer Wachmannschaften in den südlichen Lagern zuständig gewesen war, wurde er am 16. August 1939 zum Vorsteher des Lagers Brual-Rhede ernannt und leitete erneut ein Strafgefangenenlager. Jedoch wurde Linnemann nach wenigen Tagen, am 24. August, zur Wehrmacht einberufen.77 Auch Schäfers Stellvertreter Hans-Hugo Daniels wurde bereits am 14. Mai 1940 eingezogen, nur wenige Monate nach seiner Beförderung zum Regierungsrat. Sein Nachfolger war Hubert Aerts, der kaum eine Woche später, am 20. Mai, an einem Herzschlag starb. Daniels Nachfolger als Adjutant, Detlev Baumert, der in verschiedenen Lagern Hauptwachtmeister gewesen und von Schäfer im November 1938 in die Kommandantur geholt worden war, wurde schließlich ebenso einberufen wie der Großteil der früheren Lagerleiter.78 Von insgesamt 1.573 Mitgliedern der Pionierstandarte bei Kriegsbeginn waren 1.255 bis Herbst 1941 eingezogen worden. Sie wurden durch Notdienstverpflichtete ersetzt – überwiegend ältere, als wehrunfähig eingestufte Männer aus der Region. Somit waren kaum mehr als 300 Männer aus der ›Moor-SA‹ der Vorkriegszeit im Emsland. Tatsächlich stieg ihre Zahl im Folgejahr noch einmal leicht an, da verwundete SA-Männer – zumindest zwischenzeitlich – als nicht einsatzfähig galten und zu den Strafgefangenenlagern zurückkehrten. Am 16. November 1942 waren 1.215 SA-Männer eingezogen, von denen 140 bereits gefallen waren. Die Zahl der Wachmänner betrug noch 597, inklusive der Notdienstverpflichteten. Für letztere dürfte sich allerdings kaum eine dauerhafte Anschlussfähigkeit zur ›Moor-SA‹ ergeben haben, zumal sich immer deutlicher zeigte, wie unrealistisch die utopischen Verheißungen der SA-Gemeinschaft waren. 1945 waren nur noch etwa 50 SA-Wachmänner in den Strafgefangenenlagern tätig.79 Urteil Schäfer 1950, S. 2659. Vgl. Gerichtsverfahren gegen August Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 1405 Nr. 837. Linnemann wurde als Unteroffizier eingestuft und 1943 zum Leutnant befördert. Nach Einsätzen in Frankreich und der Sowjetunion geriet er in Italien in Gefangenschaft, aus der er am 2. 5. 1946 entlassen wurde. Anschließend stellte er ein Gesuch um Wiedereinstellung in den Strafvollzugsdienst, das aber abgelehnt wurde. 78 Vgl. Personalakte Hans-Hugo Daniels, BA Berlin R 3001 Nr. 53886; Personalakte Hubert Aerts, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 932 u. SA-Korrespondenz Baumert, BA Berlin SA/27. 79 Vgl. Geheimbericht: Die SA-Standarte Pionier 10 »Emsland«, in: KW I, S. 884–890, hier: 76 77

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292 Mit Kriegsbeginn änderte sich auch die Zusammensetzung der Häftlinge. Am 1. November 1939 bestimmte das RJM: »Jeder Strafgefangene der Justiz, der auf Grund wehrmachtgerichtlichen Urteils wehrunwürdig geworden ist, ist sofort dem Strafgefangenenlager Esterwegen im Emsland zu überweisen.«80 Anfangs wurden die wehrmachtsgerichtlich Verurteilten nur dort interniert, jedoch bald auch in die anderen Strafgefangenenlager verbracht. Diese Militärstrafgefangenen, die insbesondere bei hohen Strafen in die Emslandlager kamen, bildeten spätestens ab 1943 die größte Häftlingsgruppe.81 Mit der »Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Krieges begangenen Tat« vom 11. Juni 1940 wurde zudem festgelegt, dass die Haft während des Krieges »in die Strafzeit nicht eingerechnet« werden und die eigentliche Strafe damit erst mit Kriegsende beginnen sollte.82 Diese Strafverschärfung konnte nur über ›Frontbewährung‹, überwiegend in der »Bewährungstruppe 500«, rückgängig gemacht werden.83 Parallel dazu änderte sich auch der Arbeitseinsatz der Gefangenen. Schon in den späten 1930er Jahren waren vermehrt Häftlinge außerhalb des Kultivierungsprojekts – vor allem für Erntearbeiten – eingesetzt worden.84 Durch die Umstellung auf die Kriegswirtschaft und den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel in der Zivilbevölkerung wuchs dieser Anteil beständig. Strafgefangene wurden zunächst vor allem in der Landwirtschaft, später zunehmend in der kriegswichtigen Torfindustrie und den wenigen Rüstungsbetrieben der Region eingesetzt.85 Für die Kultivierungsarbeiten standen damit immer weniger Strafgefangene zur Verfügung. Das Siedlungsprojekt und die Idee einer ›inneren Kolonisierung‹ verloren zudem angesichts der eroberten Gebiete in Mittel- und Osteuropa an Bedeu-

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84 85

885 f.; Personalakte Kurt Kramer II, NLA Oldenburg, Rep 945 Akz 146 Nr. 1 u. Strafsache gegen Hildebrandt, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1457. Reichsjustizminister, 1. 11. 1939, in: KW II, S. 1316. Nahezu die Hälfte aller Häftlinge der Strafgefangenenlager zwischen 1940 und 1945 waren Militärstrafgefangene, umgekehrt war meist mehr als die Hälfte aller wehrmachtsgerichtlich Verurteilten in den Emslandlagern interniert. Schätzungen zu ihrer Gesamtzahl im Emsland bewegen sich zwischen 13.300 (KW II, S. 1804) und 30.000 (Fritz Wüllner: Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden-Baden 21997, S. 653). Vgl. zu diesem Themenkomplex Bührmann-Peters: Strafvollzug und Fietje Ausländer: »Zwölf Jahre Zuchthaus! Abzusitzen nach Kriegsende!« Zur Topographie des Strafgefangenenwesens der deutschen Wehrmacht: in: Norbert Haase / Gerhard Paul (Hg.): Die anderen Soldaten, Frankfurt a. M. 1995, S. 50–65. KW II, S. 1536 f. Vgl. Hans-Peter Klausch: Die Bewährungstruppe 500. Stellung und Funktion der Bewährungstruppe 500 im System von NS-Wehrrecht, NS-Militärjustiz und Wehrmachtstrafvollzug, Bremen 1995. Vgl. KW I, S. 779 f., 896–898. Vgl. Bührmann-Peters: Strafvollzug, S. 198–239 u. Gedenkstätte Esterwegen: Dauerausstellungen, S. 159–162.

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293 tung. Um eine Fokussierung der Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft zu erreichen, verordnete Hitler im Februar 1941 das Ende sämtlicher Moorkultivierungsarbeiten. Als Vorwand dienten dabei umweltpolitische Bedenken, denen zufolge »die völlige Beseitigung der Moore unabsehbare klimatische Folgen haben« würden: Die Neugewinnung von land- und forstwirtschaftlich genutzter Fläche durch Trockenlegung der Moore muss nach Auffassung des Führers demgegenüber zurücktreten, was umso eher in Kauf genommen werden kann, als uns die Erfolge dieses Krieges neues Wald- und Ackerland in reichlichem Masse eingebracht haben.86 Dies bedeutete das Ende des Siedlungsprojekts. In der Folgezeit wurden Gefangene nur noch dafür eingesetzt, bereits kultivierte Flächen zu bestellen und das Wege- und Entwässerungssystem instand zu halten. In Umkehrung der Vorkriegsverhältnisse mussten nun selbst diese Arbeiten legitimiert werden. So schrieb ein Beamter im RMEL: »Der Arbeitseinsatz richtet sich also lediglich nach den Erfordernissen des Krieges.«87 Die endgültige Indienststellung der Zwangsarbeit für kriegswichtige Belange resultierte in einer »gnadenlosen Ausbeutungspolitik an den Strafgefangenen.«88 Diese drückte sich in der dramatischen Zunahme an Todesfällen in den Lagern aus: Waren von 1934 bis 1939 mindestens 105 Häftlinge gestorben, übertraf bereits das Jahr 1941 mit 176 Toten allein diese Zahl. 1942 erreichte die Todesrate ihren Höchststand bei 472, blieb aber auch in den Folgejahren hoch (1943: 304, 1944: 320, 1945: 150).89 Die Änderungen der Haftbedingungen dokumentierte der kathoReichskanzlei an RMEL, 25. 2. 1941, in: KW I, S. 920. RMEL an Rf R, 2. 11. 1942, in: KW I, S. 937 f., hier: 938. 88 Knoch: Willkür, S. 45. 89 Vgl. KW III, S. 3548–3553. Kosthorst / Walter stützen diese Zahlen auf die Sterberegister der lokalen Standesämter und geben insgesamt 1.586 Tote an. Die britischen Militärbehörden, denen heute nicht mehr vorhandene Akten wie das Sterberegister der Lager vorlagen, errechneten leicht abweichende Zahlen: 125 Tote von 1934–1939, insgesamt 1.571 (vgl. Suhr: Emslandlager, S. 130 f.). Die Unterschiede lassen sich nicht ausschließlich als ›Übertragungsfehler‹ bei Jahresübergängen erklären, sodass die Gesamtzahl höher als beide Einzelangaben liegen muss. Hinzu kommen für beide Fälle 195 Strafgefangene, die kurz vor der Befreiung während des Herold-Massakers ermordet wurden oder dem Bombenangriff auf das Lager Aschendorfermoor zum Opfer fielen. Knoch weist allerdings zu Recht darauf hin, dass »diese systematische Verschlechterung der Überlebensbedingungen von Strafgefangenen […] von dezidierten Maßnahmen einer ›Vernichtung durch Arbeit‹ unterschieden werden« muss (Knoch: Willkür, S. 45). Ab September 1942 wurden mehr als 20.000 Strafgefangene an die Polizei übergeben. Mindestens zwei Drittel von ihnen starben in einer systematischen Vernichtungsaktion in den Konzentrationslagern. Vgl. hierzu Nikolaus Wachsmann: »Annihilation through Labor«. The killing of State Prisoners in the Third Reich, in: Journal of Modern History 71 (1999), S. 624–659. 86 87

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294 lische Lagerpfarrer Max Lüning in seinem Tagebuch. Am 17. Januar 1943 notierte er dort: »Wie kann ein Gefangener sagen, die Lagerkost wäre gut, er käme damit aus, wenn er schon nach rund 4 Monaten Lagerleben wegen starker Gewichtsabnahme in der Schonungsbaracke landet?«90 Für die ›Moor-SA‹ bedeutete die Einstellung der Kultivierungsarbeiten nichts anderes als den Verlust ihrer Legitimationsgrundlage. Sowohl als Vorzeigeanstalten im Strafvollzug wie auch als Katalysatoren des Siedlungsprojekts hatten die Lager damit ausgedient. Die SA-Wachmänner, die als ›Ordnungspioniere‹ beide Sphären inhaltlich und propagandistisch verknüpfen konnten, wurden nun endgültig nicht mehr benötigt. Die wenigen Artikel der regionalen Presse über die ›MoorSA‹ in den Folgejahren – etwa zum neun- und zehnjährigen Jubiläum der Wachmannschaften – waren nur noch ein hohler Nachklang.91 Am 25. Mai 1942 wurde schließlich auch Werner Schäfer zur Wehrmacht eingezogen. Da sämtliche höherrangigen SA-Führer, das heißt Daniels, Baumert, Hartmann und die ehemaligen Lagerleiter, bereits einberufen oder an andere Strafanstalten versetzt worden waren, wurden anschließend SA-Männer aus ursprünglich unteren Diensträngen zu kommissarischen Führern der Pionierstandarte ernannt, wobei Schäfer offizieller Standartenführer blieb. Zunächst übernahm diese Funktion Bernhard Sauthoff, der erstmals 1937 als Hauptwachtmeister aktenkundig wurde, aber bereits seit November 1933 im Emsland war. Als Obersturmführer stand Sauthoff ganze fünf SA-Dienstgrade unter Schäfer. Bereits im Februar 1943 wurde auch Sauthoff einberufen.92 Sein Nachfolger wurde Karl Dubbel, der als einfacher Wachmann ebenfalls im November 1933 zu den emsländischen Konzentrationslagern gekommen war. Nach Schäfers Einberufung wurden die kommissarischen Führer der Pionierstandarte nur als Wachsturmbannführer geführt, was auch der dezimierten Zahl des Wachpersonals annähernd entsprach. Dennoch stand dieser Dienstrang noch über den Hauptwachtmeistern, die als SA-Einheitsführer für die einzelnen Lager zuständig waren. Im März 1944 ging Dubbel jedoch zur Polizei, um dort eine Stelle als Oberwachtmeister anzutreten.93 Mit Kurt Garbatschek folgte auf ihn erstmals ein Angehöriger der zweiten Kohorte, der erst im Februar 1935 zur ›Moor-SA‹ gekommen war, als kommissarischer Standartenführer. Garbatschek blieb bis zur Befreiung der Lager im Amt.94 Für die ›Moor-SA‹ war entscheidend, dass diese Männer nur noch die Wachmannschaften leiteten, im Prinzip also Daniels’ Nachfolger im SA-Stabsamt waren.

Tagebuch Lüning, Eintrag vom 17. 1. 1943, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1224. Vgl. EZ, 2. 12. 1942 u. 29./30. 11. 1943. 92 Vgl. BA Berlin R 3001 Nr. 9819; NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1242 u. EZ, 2. 12. 1942. 93 Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 218. 94 Vgl. BA Berlin SA/163 u. ZR 934 A 9. 90 91

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295 Die Leitung der Strafgefangenenlager insgesamt übernahm hingegen ein Verwaltungsbeamter. Den Posten des »verantwortlichen Stellvertreters des Kommandeurs« trat im Mai 1942 Regierungsrat Hans-Georg Hildebrandt an, der erst im Februar 1942 zur Zentralverwaltung in Papenburg gekommen war. Nachdem auch dieser im Januar 1944 zur Wehrmacht einberufen wurde, übernahm der Stellvertreter des Beauftragten des Justizministers, Richard Thiel, in Personalunion auch die Stellvertretung des Kommandeurs.95 Im gleichen Jahr wurden schließlich auch die Wachmannschaften dem jeweiligen Lagervorsteher unterstellt.96 Hatte die SA unter Schäfer selbst mit wenig Personal ihre exponierte Rolle noch für sich reklamieren können – bei Schäfers Einberufung waren weniger als die Hälfte der Wachmänner noch SA-Angehörige –, galt dies anschließend nicht mehr. Die Ära der ›Moor-SA‹ war damit zu Ende.

2. Grenzen der Gemeinschaft. Dissonanzerfahrungen und Auflösungserscheinungen Im Zuge des Schäfer-Verfahrens forderten nur vereinzelt Wachmänner die Autorität der Justizverwaltung heraus, die sich umgekehrt bemühte, die SA-Männer zu beschwichtigen. Auch die Gewaltpraxis in den Lagern änderte sich letztlich nur marginal. Eine größere Herausforderung entstand jedoch dadurch, dass Ende der 1930er Jahre zunehmend deutlich wurde, wie weit die Gemeinschaftsutopie und die lebensweltliche Realität der SA-Männer auseinander lagen. Durch den ausbleibenden Lagerausbau sollte sich das Versprechen eines gemeinschaftlichen Aufstiegs nicht erfüllen. Gleich an mehreren Stellen verdichteten sich für die SA-Männer zudem die Hinweise, nun nicht mehr als die bevorzugten Protagonisten der Emsland-Kultivierung zu gelten. Gleichzeitig entstanden neue Opportunitätsstrukturen für einen Aufstieg jenseits der SA-Gemeinschaft. Der Gemeinschaftsentwurf der ›Moor-SA‹ wurde dadurch grundlegend in Frage gestellt. Tiefer wurzelnde Krisensymptome zeigten sich nun deutlich, und das gemeinschaftliche Gefüge erodierte zusehends – noch bevor die Dezimierung der SA-Wachmannschaften durch die Einberufungen zum Kriegsdienst begann.

Vgl. Strafsache gegen Hildebrandt, NLA Oldenburg Best 140-5 Nr. 1457. Auch Hildebrandt war seit Oktober 1933 SA-Mitglied, erreichte aber nur den Rang eines Scharführers. 96 Vgl. Urteil im Verfahren gegen Punke und Andere, in: KW II, S. 1985–2035, hier: 1987. 95

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296 Die SA während des Schäfer-Verfahrens Die Ausgangssituation nach Schäfers Suspendierung wies gewisse Ähnlichkeiten zu den Verhältnissen im Vorfeld der Ablösung der SS im Herbst 1933 auf. Erneut versuchten Ministerialbeamte Zugang zu den Lagern zu erhalten und sahen sich dabei geschlossenen Wachmannschaften eines NS-Kampfverbandes gegenüber. Umgekehrt muss auf Seiten der SA-Männer eine hohe Unsicherheit darüber bestanden haben, was Schäfers vorläufige Ablösung für ihre eigene Situation bedeutete. Im Gegensatz zu den SS-Wachen der frühen Konzentrationslager widersetzten sich die SA-Wachmannschaften den Änderungen zumindest nicht offen. Dies lag zum einen daran, dass sich für viele SA-Männer in den vorangegangenen Jahren Bindungen sowohl an das Lagerprojekt in Form von Pionierideal und Karriereperspektiven als auch zur Region durch Familiengründung oder -nachzug ergeben hatten, die sie wohl kaum vorschnell aufs Spiel setzen wollten. Zum anderen machte die Justizverwaltung rasch deutlich, dass eine großflächige Entlassung der SA-Wachmannschaften keine Option war, indem sie die Außenbewachung der Lager der SA überließ und eine Vielzahl von SA-Männern auf Lehrgänge an andere Strafanstalten abordnete.97 Den Wachmännern wurde damit verdeutlicht, dass die Umstrukturierung auch neue Opportunitätsstrukturen und Aufstiegsperspektiven mit sich bringen mochte. Dadurch, dass Hans-Hugo Daniels und nahezu sämtliche vormaligen Lagerleiter ebenfalls zur informatorischen Beschäftigung an andere Vollzugsanstalten abgeordnet wurden, war die ›Moor-SA‹ als Ganzes nun gewissermaßen führerlos und ein konzertiertes Vorgehen kaum möglich. Dennoch kam es wiederholt zu Provokationen durch SA-Männer. Im Anschluss an eine Darbietung von KdF-Künstlern im Lager Esterwegen am 15. März 1938 wandte sich Oberwachmann Walter Steinrück an die Versammelten: Wir als SA-Männer halten unserem Standartenführer Schäfer die Treue, mag da kommen was will; denn er ist es gewesen, der uns all die Vorzüge, die wir dann und wann im Lager haben z. B. die Vorführungen der K. D.F. erst geboten hat. Aus diesem Grunde fordere ich Sie alle auf, auf unseren Führer und unseren Standartenführer Schäfer ein dreifaches Heil anzubringen!98 Steinrück, der erst seit Juli 1937 Teil der Wachtruppe war, hatte sich anscheinend innerhalb weniger Monate das Gemeinschaftsideal der ›Moor-SA‹ zu eigen gemacht. In einer zweiten Ansprache äußerte er sich »dem Sinne nach auch dahin […], sie seien SA-Leute, sie gehörten zusammen und würden nicht dulden, dass jemand in Die ersten Abkommandierungen sind auf den 15. 3. 1938 datiert, begannen also sechs Wochen nach Schäfers Suspendierung (vgl. Schreiben 9. 4. 1938, in: Angelegenheiten III). 98 Lagervorsteher Esterwegen, 16. 3. 1938, in: ebd. 97

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297 ihre Angelegenheiten hineinrede.«99 Zwei Tage später wurde er wegen unkameradschaftlichen Verhaltens und mangelnder Disziplin fristlos entlassen, auch weil »der weibliche Arbeitsdienst zugegen war und damit Kenntnis von einem inneren Zwiespalt innerhalb des Lagers nehmen musste.«100 Nachdem Schäfer wenig später von der SA-Führung als Führer der Pionierstandarte wieder eingesetzt worden war, klagte Steinrück gegen seine Entlassung und auf Erstattung des Verdienstausfalls. In letzterem Punkt gab ihm das Arbeitsgericht Lingen recht und sprach ihm 72,27 RM zu.101 Der SA-Mann ging allerdings in Berufung. Im Mai gab die Justizverwaltung schließlich nach und stimmte einem Vergleich zu: Steinrück musste sich entschuldigen und verzichtete auf die Berufung, dafür wurde er von Generalstaatsanwalt Semler, selbst SA-Oberführer, zur Ausbildung im Aufsichtsdienst in dessen Gerichtsbezirk Hamm übernommen.102 Allerdings hätte Steinrücks Berufung kaum Aussicht auf Erfolg gehabt, hatte das Arbeitsgericht doch deutlich gemacht, dass seine Entlassung im Rahmen seines Anstellungsverhältnisses durchaus rechtmäßig war. Seine Wiedereinstellung zeigt, wie sehr die Justizverwaltung bemüht war, offene Konflikte wie im Herbst 1933 zu vermeiden, zumal sich die Machtverhältnisse im Schäfer-Verfahren Mitte Mai bereits deutlich geändert hatten. Auch in anderen Fällen setzte man auf Beschwichtigung. Ein angetrunkener Wachmann, der in einem Papenburger Hotel versucht hatte, einen Staatsanwalt zu schlagen und ihm die Worte »Hüten Sie sich, Sie Lümmel!« hinterhergerufen hatte, musste sich anschließend nur entschuldigen und wurde nicht entlassen.103 Diese betont nachsichtige Haltung gegenüber aufsässigen SA-Männern war Teil einer breiteren Beschwichtigungsstrategie des Justizministeriums gegenüber der ›Moor-SA‹, zu der auch die Übernahme von Wachmännern ins Beamtenverhältnis gehörte. Dennoch kam es im Lager Börgermoor auch zu Tätlichkeiten der Wachmänner gegenüber Justizbeamten. Mitte März musste Vorsteher Hasse »bei Nacht und Nebel das Lager verlassen«, nachdem ihm »nachts die Scheiben mit Pflastersteinen eingeworfen« worden waren.104 Im September 1938, also bereits nach der Gerichtsverhandlung gegen Schäfer, wollte Regierungsrat Hauck von der Zentralverwaltung in Begleitung eines Staatsanwalts dort den Abtransport von Baracken zum Westwall begutachten. Der SA-Mann am Lagereingang nahm erst nach mehrmaliger Aufforderung Haltung an, worauf Hauck ihn schließlich anfuhr: »Sie sind 99 100 101 102

103 104

Urteil Arbeitsgericht Lingen, 13. 4. 1938, in: ebd. Lagervorsteher Esterwegen, 16. 3. 1938, in: ebd. Vgl. Urteil Arbeitsgericht Lingen, 13. 4. 1938, in: ebd. Vgl. Vergleich 18. 5. 1938, in: ebd. Zu Hans Semler vgl. Hans-Eckhard Niermann: Die Durchsetzung politischer und politisierter Strafjustiz im Dritten Reich. Ihre Entwicklung aufgezeigt am Beispiel des OLG-Bezirks Hamm, Düsseldorf 1995, S. 52. Urteil Schäfer 1950, S. 2661. Urteil Rohde, S. 2142.

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298 jetzt ruhig. Ich habe es satt, mich seit 7 Monaten mit den Posten herumzustreiten, ob sie Haltung annehmen wollen oder nicht.«105 Als Hauck das Lager wieder verlassen wollte, wurde er vor der Wache von mehreren SA-Männern aufgehalten. Wachtmeister Leopold Bohn verlangte, »als SA-Führer SA-mäßig« mit ihm zu reden, er könne das Anschreien des Postens nicht dulden. Gleichzeitig bedrängten weitere SA-Männer den Regierungsrat: Während der Auseinandersetzung gingen etwa 6 Wachtmeister, die fast alle eine Hand in der Hosentasche hatten, in drohender Haltung auf mich zu und kamen mir immer näher. Ich mußte jeden Augenblick damit rechnen, tätlich angegriffen zu werden. […] Ich löste mich langsam von den Angreifern. Nun fielen die Angreifer mit Beschimpfungen über mich her: ›Dem gehört mal was, den sollte man nicht ins Lager lassen, das nächste mal fliegen blaue Bohnen, Junge Junge, verlassen Sie das Lager.‹106 Obwohl die SA-Männer hier offen mit dem Gebrauch von Schusswaffen – noch dazu gegenüber einem ranghohen Vorgesetzten – gedroht hatten, mussten sie auch in diesem Fall keine Konsequenzen tragen. Generalstaatsanwalt Semler wies in einer Stellungnahme an den Justizminister darauf hin, dass es speziell in Börgermoor wiederholt zu Schwierigkeiten gekommen sei und Ermittlungen nur wenig Aussicht auf Erfolg hätten, da sich die beteiligten Wachmänner gegenseitig deckten: »Solange die hiesigen Verhältnisse nicht endgültig geklärt sind (entschieden ist, ob Schäfer wieder kommt), ist mit Vorkommnissen ähnlicher Art zu rechnen.«107 Insofern mochte die Gewaltdrohung der SA-Männer tatsächlich zu Schäfers Rückkehr als Kommandeur beigetragen haben. Jedoch dürfen diese  – dienstlich gesehen krassen – Verstöße nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um Einzelfälle handelte.108 Auch in den anderen Lagern war das Verhältnis zwischen SA-Männern und Justizbeamten angespannt. Im Lager Aschendorfermoor täuschten die SA-Männer eine Meuterei der Gefangenen vor, um so die Autorität des herbeieilenden Vorstehers herauszufordern. Gleichzeitig bemerkten die Häftlinge, dass unter den Wachmännern die Angst umging, durch die Justizbeamten könnten die vielen Fälle von Korruption und Unterschlagung – ein Wachtmeister hatte sich eine ganze Wohnungseinrichtung von den Häftlingen an-

NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1231. Ebd. 107 Ebd. 108 Da die bekannten Konflikte und Verstöße in Sammelakten verzeichnet sind (Angelegenheiten III u. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1231), wäre eine größere Zahl weiterer Vorfälle dort dokumentiert. 105 106

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299 fertigen lassen – aufgedeckt werden.109 Weitere gewaltgeladene Konflikte sind allerdings nicht bekannt. Umgekehrt nahmen SA-Männer, die zum Vorbereitungsdienst für Justizbeamte einberufen wurden, ihre Kommandierung in den allermeisten Fällen bereitwillig hin. Eine der wenigen Ausnahmen war der Fürsorgereferent der Pionierstandarte, Wachtmeister Wilhelm Tiemann vom Lager Börgermoor, der den Vorstand bat, seine Abordnung zu revidieren: Ich verstehe nicht, daß man gerade mich – wo ich doch gar nicht die Absicht habe, später einmal Beamter zu werden – zur Anstalt abkommandiert. 1935 bin ich nur als SA-Mann in die Wachmannschaft eingetreten, um somit an den großen Kultivierungsarbeiten der Emslandmoore teilzunehmen.110 Der Leiter der ebenfalls in Börgermoor angesiedelten zentralen Werkstätten, Hauptwachtmeister Heinrich Borgelt, hatte sich hingegen im Februar 1938 zunächst bereit erklärt, in die Sekretärslaufbahn zu wechseln. Zwischenzeitlich hatte er allerdings festgestellt, dass dies für ihn »ein kleineres Nettogehalt wie hier im Moor« mit sich bringen würde. Eine Woche nachdem Schäfer mit seiner Beförderung zum Oberführer durch die SA rehabilitiert worden war, befand Borgelt schließlich, dass »wir als Wachtruppe innerlich so verbunden mit unserer Aufgabe der Kultivierung der Emslandmoore [sind], daß keiner von uns Alten an anderer Stelle dauernde Befriedigung finden würde.« Für seinen Wechsel ins Beamtenverhältnis stellte er einen Forderungskatalog auf, unter anderem die Auszahlung der Treueprämie »als Entschädigung für die der Gesundheit hier drohenden Gefahren«, obwohl er erst viereinhalb Jahre im Dienst war.111 In seiner Argumentation erschien es geradezu generös, dass er sich bereit erklärte, auf die Übernahme in die Beamtenlaufbahn zu verzichten: Ich werde dann auch als Hauptwachtmeister weiterhin mit derselben Einsatzbereitschaft an unserem großen Werke mitarbeiten, werde darum bemüht sein, daß die uns damals gestellte Aufgabe: Kultivierung des Emslandes durch die SA., an dem ja auch das Reichsjustizministerium durch die Gestellung der Strafgefangenen einen gewissen Anteil hat, zu Ende geführt wird.112 Die Justizverwaltung fühlte sich durch Borgelts Schreiben offenbar provoziert, sodass sie – anders als bei Tiemann – seinem Wunsch nach Verbleib in den WachVgl. Hentschke: Moor, S. 105–111. Schreiben 3. 5. 1938, in: Angelegenheiten III. 111 Sämtliche Zitate: Hauptwachtmeister Borgelt, 30. 3. 1930, in: ebd. 112 Ebd. 109 110

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300 mannschaften nicht entsprach. Seinen Dienstantritt am Gerichtsgefängnis Hannover versäumte Borgelt unter fadenscheinigen Gründen und versuchte anschließend, die Justizverwaltung hinzuhalten. Als er im Juli schließlich entlassen werden sollte, intervenierte Werner Schäfer, dessen Position sich nach Abschluss der Celler Gerichtsverhandlung wieder gefestigt hatte. Bis zu Schäfers Wiedereinsetzung als Kommandeur wurde Borgelt freigestellt und dann zum 1. Januar 1939 von diesem als Einheitsführer in Neusustrum eingesetzt.113 Die anderen höheren Führer der ›Moor-SA‹ zeigten sich hingegen deutlich kooperativer. Während Wilhelm Schenk das Kommando über die Wachmannschaften übernahm, ließen sich Hans-Hugo Daniels, die Lagerleiter Maue, Linnemann, Schmidt und Zerbst sowie auch einige Hauptwachtmeister wie zum Beispiel Eberhard Hartmann bereitwillig zur informatorischen Beschäftigung an andere Strafanstalten abordnen.114 Die meisten anderen Hauptwachtmeister blieben allerdings im Emsland, da sie von nun an als Einheitsführer die Wachmannschaften der Lager führten. Damit hatte die Beschwichtigungspolitik des Ministeriums gegenüber der ›Moor-SA‹ zumindest teilweise Erfolg. Dieser lag nicht zuletzt darin begründet, dass die Justizverwaltung geschickt individuelle Aufstiegsmöglichkeiten gegen den Verbleib in der SA-Gemeinschaft ausspielte.

›Grün‹ und ›Blau‹ schlagen. Gewaltverhältnisse in den Emslandlagern nach Schäfers Rückkehr Nachdem Schäfer im November 1938 als Kommandeur der Lager wieder eingesetzt worden war, normalisierte sich das Verhältnis zwischen Wachmannschaften und Justizbeamten allem Anschein nach. Zwar gibt es Hinweise auf weiter anhaltende Spannungen – als etwa die Versetzung eines unbeliebten Lagervorstehers bekannt wurde, sollten »die ›Blauen‹ sich vor Freude oder Genugtuung sinnlos betrunken« haben.115 Vorfälle wie in Börgermoor 1938 traten in der Folgezeit allerdings nicht mehr auf. Zu den anfänglichen Spannungen hatten auch die Versuche einzelner Lagervorsteher beigetragen, die Gewalt der SA einzudämmen, indem sie ritualisierte Gewaltexzesse wie den Lagersport zeitweilig abstellten. Doch bereits vor Schäfers Rückkehr beteiligten sich auch ›Grüne‹ an der Misshandlung von Gefangenen und passten sich »nach und nach den alten Methoden an«.116 Zudem zog sich die

Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1250 u. Angelegenheiten III. Vgl. ebd. 115 Urteil Rohde, S. 2142. 116 Paul Langer: Moorsoldat im Lager Aschendorfermoor, in: Hermann Bogdal: »Was ist wichtig?« Das Leben des Kommunisten Paul Langer, Bremen 1997, S. 68–80, hier: 73. 113 114

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301 Umstellung der Innenbewachung mehrere Monate hin, sodass noch bis Ende 1938 SA-Männer im Innendienst beschäftigt und dort weiterhin insbesondere neue Gefangene deren Gewalteskapaden ausgesetzt waren.117 Im Vergleich zu den SA-Männern mochten sich die langjährigen Justizbeamten insgesamt gesehen weniger stark oder seltener an Gefangenenmisshandlungen beteiligt haben. Waren ›Lagersport‹ und ›Strafexerzieren‹ in einzelnen Lagern zumindest zwischenzeitlich nicht mehr auf der Lagerstraße oder dem Sportplatz geduldet, behielten die Justizbeamten aber Schikanen wie etwa den ›Bettenbau‹ und die nächtliche ›Putz- und Flickstunde‹ bei.118 Zudem blieben die SA-Männer auf den Arbeitsstellen im Moor ohne Kontrolle und konnten ihre Gewaltrituale wie das ›Moordenkmal‹, ›Karre fahren‹ oder den ›Tanz über die Moorgräben‹ weiterhin ungehindert ausüben. Andere Gewaltpraktiken verlagerten die SA-Männer von den Lagern auf die Arbeitsstellen. Die Kommandoführer Bleeker und Köslin bestraften vermeintliche Minderleistung in ihren Arbeitskommandos gleich vor Ort, indem sie die Gefangenen während der Mittagspause dem Strafsport unterzogen. Neben Schlägen und körperlicher Erschöpfung verlor ein Großteil der Gefangenen bei diesen Aktionen das unmittelbar zuvor ausgeteilte Essen.119 Somit setzten SA-Männer hier erneut die Verkettung von Belastungsfaktoren bewusst ein, um die Haftbedingungen weiter zu verschärfen. Schließlich wirkten aber auch altgediente Justizbeamte bei der Misshandlung von Häftlingen gemeinsam mit SA-Männern mit. Im Lager Aschendorfermoor fand bereits Ende 1938 wieder das Strafexerzieren auf dem Sportplatz statt. Ein ehemaliger Häftling gab Anfang 1951 über einen Vorfall Auskunft, bei dem die Gewalt dreier SA-Männer und fünf Justizbeamter die Häftlinge ungemindert traf: Ich entsinne mich noch an den 9. 6. 39, als es besonders schlimm war. An diesem Tag hat wohl jeder etwas vom Gummiknüppel abbekommen. […] Die Beamten schlugen dort, wo sie gerade trafen. […] Bei dem Exerzieren am 9. 6. 39 wurden wohl nach und nach etwa 24 Häftlinge mit der Bahre weggetragen, ohne die Leute, die wir beim Abrücken noch mitschleppen mußten. […] An dem Schlagen hatten sich alle 8 Aufsichtspersonen gleichermaßen beteiligt.120

Vgl. Aussage Friedrich G., 18. 11. 1947, in: Emsland-Sache Zeugenvernehmungsprotokolle, Bd. III, Bl. 1–320, NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218 u. KW II, S. 1994 f. 118 Vgl. Urteil Rohde, S. 2145 f. 119 Vgl. Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342; Aussage Bernhard M., 17. 11. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1218 u. KW II, S. 2001. 120 Aussage 11. 1. 1951, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 388. 117

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302 Die Gewalt in den Lagern, die ohnehin nur stellenweise zurückgegangen war, erreichte also bald wieder das alte Niveau. Im Oktober 1941 mussten etwa 200 neue Gummiknüppel angeschafft werden, da die alten verschlissen waren.121 Der gedankliche Spagat, die gewaltbasierte Lagerordnung und die Effizienzanforderungen der Justizverwaltung in Einklang zu bringen, stellte auch für Vollzugsbeamte nur scheinbar ein Hindernis dar. Justizinspektor Rohde, Vorsteher des Lagers Börgermoor, machte beispielsweise in einer Kommandanturbesprechung im April 1940 den Vorschlag, das »Strafexerzieren einheitlich Sonnabendnachmittags durchzuführen, damit die Gefangenen [sich] nicht am nächsten Tage über Unpässlichkeiten zu beschweren brauchen.«122 Bereits im Vorjahr war von Rohde in Börgermoor ein Strafexerzieren angeordnet worden, das »im Gedächtnis aller betroffenen Häftlinge« blieb, da »an diesem Tage […] mit besonderer Unmenschlichkeit vorgegangen« wurde. Der Kriegsbeginn am 1.  September 1939 diente den Wachmännern und Justizbeamten als Anlass, den Strafgefangenen die Machtverhältnisse nochmals deutlich vor Augen zu führen. Die falsche Zuordnung zweier Arbeitskommandos hatte dazu geführt, dass »etwa 700 bis 800 Gefangene« auf der gleichen Arbeitsstelle erschienen, was als versuchte Meuterei ausgelegt wurde. Auf dem Lagersportplatz wies Rohde die Wachmänner persönlich an, ihre Gummiknüppel zu benutzen: Dann kamen die Kommandos: ›Auf, nieder, robben, laufen und so fort.‹ Alles wurde vielmals etwa ein bis zwei Stunden lang ununterbrochen wiederholt. […] Viele stolperten und blieben liegen. Sie wurden mit Schlägen hoch und weiter getrieben. Etwa 40 bis 50 Häftlinge, die allein nicht mehr laufen konnten, wurden schliesslich von ihren Kameraden ins Lager geschleppt. Die meisten hatten […] grössere Fleischwunden infolge Durchscheuerns […]. Am Ende sah der Sportplatz aus wie ein ›Schlachtfeld‹.123 Wie sehr die mit dieser Gewaltpraxis ausgedrückten Ordnungsvorstellungen der ›Moor-SA‹ auch für regulär ausgebildete Justizvollzugsbeamte anschlussfähig waren, zeigt sich in den Aussagen des ehemaligen Justizhauptwachtmeisters Karl Weise, Jahrgang 1886, der noch zum Jahreswechsel 1959 /60 Formen der Gewaltanwendung einräumte, die deutlich außerhalb seiner dienstlichen Befugnisse standen. Seiner Ansicht nach hatte er nie misshandelt, gab aber zu, Gefangene, die »sich weigerten zu arbeiten oder die Arbeit ohne Begründung hinwarfen oder sich selbst zu Boden warfen, um der Arbeit zu entgehen«, geschlagen zu haben: »Die Schläge mit dem Gummiknüppel traten an die Stelle des sonst üblichen Arrestes. Auch wurden Diebstähle zwischen den Gefangenen ebenfalls mit zwei oder drei GummiknüpVgl. KW III, S. 2450. Ebd., S. 2443. 123 Sämtliche Zitate: Urteil Rohde, S. 2143. 121 122

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303 pelschlägen auf das Gesäss oder die Schulter geahndet.« Bezeichnenderweise war auch er der Meinung, sein Verhalten sei »zwar streng, aber gerecht« gewesen.124 Tatsächlich verstießen die Handlungen des Justizbeamten aber nur in zwei Punkten gegen die geltenden Dienstvorschriften: Schläge als Strafe anstelle des Arrests oder nach Diebstählen waren weder nach der Strafvollzugsordnung von 1940 noch nach den Kommandanturbefehlen Schäfers zulässig.125 Das Schlagen von Gefangenen wegen angeblicher Arbeitsverweigerung war dagegen durch Paragraf 193 der neuen Vollzugsordnung legitimiert worden. Dieser erlaubte Gewalt »zur unmittelbaren Erzwingung eines im Rahmen der Anstaltsgewalt geforderten Verhaltens«, den Gebrauch der Waffe unter anderem, »wenn Gefangene einzeln oder vereint Widerstand« leisteten.126 Für die Emslandlager sicherte die neue Vollzugsordnung Kommandanturbefehle ab, die schon einige Zeit zuvor erlassen worden waren. Den willkommenen Anlass lieferte die Beschwerde eines Ingenieurs vom Wasserwirtschaftsamt Meppen im Januar 1940: Die Arbeitsleistungen sind bereits im Jahre 1938 deutlich gesunken und zwar zu der Zeit, als die Bestrafung der Gefangenen an Ort und Stelle durch die Postenführer eingestellt wurde. M. E. ist eine Strafe nur dann wirksam, wenn sie sofort nach Feststellung der Minderleistung erfolgt.127 Die oben angeführten Beispiele der Kommandoführer Bleeker und Köslin zeigen, dass die physische Bestrafung von Gefangenen keineswegs eingestellt worden war. Schäfer griff diese Forderung aus einer vermeintlich sachverständigen, zivilen Behörde aber bereitwillig auf. Nachdem er sich dieses Mal bei der Justizverwaltung rückversichert hatte, erließ Schäfer zwei Kommandanturbefehle, in denen es hieß, der Gummiknüppel sei »nur ein Mittel zur Brechung des Widerstandes […], der sich jedoch auch in einer passiven Art (Arbeitsverweigerung) ausdrücken kann.«128 Schäfer sollte diese Befehle noch mehrfach präzisieren.129 Diese Definition von ›passivem Widerstand‹, der gewaltsam gebrochen werden durfte, sicherte eine ganze Bandbreite an Misshandlungen ab. Unter dem Vorwurf der Arbeitsverweigerung durften Gefangene nun willkürlich geschlagen werden. Auch das ›Hochprügeln‹ von bereits zusammengebrochenen Häftlingen wurde da124 125 126 127 128

129

Sämtliche Zitate: Vernehmung Karl Weise, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 198. Vgl. Strafvollzugsordnung vom 22. 7. 1940, § 182, in: KW II, S. 2299 u. KW III, S. 2446 f. Strafvollzugsordnung vom 22. 7. 1940, § 193, in: KW II, S. 2302. Schreiben 8. 1. 1940, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 315. KmSGL, 29. 5. 40, in: KW III, S. 2446. Der Wortlaut dieses Befehls ist stellenweise nahezu identisch mit der wenig später erlassenen Vollzugsordnung, was die enge Zusammenarbeit Schäfers mit dem Ministerium in diesem Fall unterstreicht. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1231.

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304 durch legitimiert. Im September 1940 schrieb der Oberstaatsanwalt in Osnabrück an einen Häftling, der Anzeige gegen zwei Wachmänner erstattet hatte, knapp: Habe Verfahren gegen Lübben und Bergmann wegen Mißhandlung eingestellt. Lübben hat am 12. 4. 40 Widerstand mit Gummiknüppel gebrochen, als Sie nicht vom Boden aufstehen wollten und Bergmann hat Ihren Widerstand mit Gummiknüppel gebrochen, als Sie sich weigerten, ins Lager zurückzugehen.130 Trotz der Beteiligung von Justizbeamten an Misshandlungen und der Legitimierung des Schlagens von Gefangenen verweist die – tatsächlich unzutreffende – Einschätzung, die Bestrafung von Gefangenen sei zurückgegangen, jedoch auch darauf, dass sich der Kameradschaftsdruck zur Vertuschung von Gewalttaten infolge des Dienststrafverfahrens nochmals erhöht hatte. Mindestens zwei Wachmänner wurden nach Schäfers Suspendierung zu Haftstrafen verurteilt – einer bereits im Februar 1938 wegen Gefangenenmisshandlung zu vier Monaten Gefängnis, der andere 1939 zu sechs Jahren Zuchthaus wegen Totschlags, da er einen Gefangenen über die Postenkette getrieben und dann erschossen hatte.131 Dieser erhöhte Vertuschungsdruck blieb auch nach Schäfers Rückkehr bestehen, weil sich dieser nun nicht mehr bedingungslos vor die Wachmannschaften stellte. Im Dienstrafverfahren hatte der Kommandeur gemerkt, wie sehr er sich von den Verhaltensweisen seiner Untergebenen abhängig und damit auch angreifbar gemacht hatte. Während des Verfahrens regte er sich bei seinem Fahrer darüber auf, dass Maue und andere SA-Führer ihn nicht entlasteten, indem sie ihre eigene Beteiligung bekannten.132 Anschließend schienen persönliche Loyalitätsbeziehungen für Schäfers Einsatz entscheidend zu sein. Auch jetzt wurden die allermeisten Verfahren wegen Straffreiheitsgesetzen oder der neu erlassenen Vorschriften zur Gewaltanwendung eingestellt. So stellte ein Staatsanwalt ein Verfahren gegen mehrere Wachmänner ein, »da die Schläge beim Strafexerzieren zur Brechung des renitenten Verhaltens erforderlich und zulässig waren.«133 Nach der Beendigung solcher Verfahren widersetzte sich Schäfer des Öfteren dem Druck der Justizverwaltung, die beteiligten Wachmänner zu entlassen, und erteilte – wenn überhaupt – einen Verweis. In anderen Fällen wurden einzelne Wachleute allerdings wegen Gefangenenmisshandlung entlassen oder sogar gerichtlich verurteilt.134

Oberstaatsanwalt Osnabrück, 9. 9. 40, in: ebd. Vgl. KW III, S. 2452 f. 132 Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1219. 133 KW III, S. 2453. 134 Vgl. ebd., S. 2451–2455; Personalakte Stöckel, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 902 u. Personalakte Schneppat, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1165. 130 131

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305 Die Gewalt in den Lagern ging also nach dem Dienststrafverfahren nicht dauerhaft zurück, wie es Justizbeamte in den Nachkriegsverfahren gerne erzählten. Die SA-Männer verlagerten ihre Gewalthandlungen zwar teilweise auf die abgeschiedenen Arbeitsstellen, doch beteiligten sich bald auch ›Grüne‹ an den Misshandlungen und zwar sowohl solche, die selbst der ›Moor-SA‹ entstammten, als auch altgediente Justizbeamte aus anderen Vollzugsanstalten. Im Gegenteil: Durch die neue Strafvollzugsordnung und die darauf abgestimmten Kommandanturbefehle wurde die Gewalt gegen Gefangene sogar rechtlich abgesichert. Dass nun einzelne Wachleute verurteilt oder entlassen wurden, änderte also nichts an den Gewaltverhältnissen. Solche Vorkommnisse weisen vielmehr auf Risse in der SA-Gemeinschaft hin, da weder die kameradschaftliche Vertuschung funktioniert hatte noch eine ausreichende Loyalitätsbeziehung zu Schäfer bestand, um das Verfahren niederzuschlagen.

»Verbitterung der Wachtruppe«. Krisenphänomene der ›Moor-SA‹ Die Unabhängigkeit der Wachmannschaften und die Haftbedingungen in den Strafgefangenenlagern änderten sich demnach nur geringfügig. Dennoch musste die Übernahme der Innenbewachung durch Justizbeamte als symbolischer Akt auf die SA-Wachmänner degradierend wirken, woran auch nachträgliche Belobigungen durch die Justizverwaltung oder die Verleihung des Ärmelbands »Emsland« wenig geändert haben dürften. Insbesondere die Überprüfung des Rechnungshofs bezüglich der Besitzverhältnisse bei den Wirtschaftsbetrieben war von den Wachleuten als ungerecht empfunden worden und hatte »zu einer erheblichen Verbitterung der Wachtruppe« geführt.135 Die Prüfergebnisse mochten objektiv gesehen zwar richtig und rechtens sein, jedoch stellten sie den Kern des Selbstverständnisses der ›Moor-SA‹ als Ordnungspioniere in Frage. Diese Verstimmungen gingen mit tiefer reichenden Krisenphänomenen der ›Moor-SA‹ einher. Die Etablierung äußerer Repräsentationsformen und der Freizeitkultur hatte unter den SA-Männern zu einem Anspruchsdenken geführt, das in den abgeschiedenen Lagern nur schwer zu befriedigen war. Dies zeigte sich beispielsweise 1937 in Esterwegen, wo mit dem Lager von der SS auch der Kantinenpächter übernommen worden war. Bald kam es zu »Klagen über Kantinenangelegenheiten, die dem Lagerleiter Aerts verschiedentlich geäussert wurden«. Hauptwachtmeister Meinshausen beanstandete bei einer Sitzung der Kantinenkommission etwa: »Liebigs Dosenmilch koste in der Kantine –,25 RM, während sie in der Stadt mit 22 Rpf. verkauft wird.« Da nur eine Sorte Kekse erhältlich war, fragte er außerdem: »Weshalb kein Keks anderer Marken, die im Preis gleich, an 135

Stellungnahme der Verteidigung zur Anklageschrift gegen Schäfer 1950, in: KW III, S. 2553.

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306 Güte aber bedeutend besser sind?« Heringe und Rollmöpse seien nur in Dosen erhältlich, »jedoch nicht einzeln, sodass man gezwungen ist, eine Dose zu kaufen.« Wachtmeister Altrogge beschwerte sich, beim Begleichen von Kantinenschulden sei »der Ton des Kantinenwirts so, als wenn er ein Gerichtsvollzieher aus früheren Zeiten wäre.«136 Die Unzufriedenheit über die Kantinenverpflegung beschränkte sich dabei nicht nur auf Esterwegen. Im August 1938 bat Generalstaatsanwalt Semler »um eingehende Prüfung […], ob nicht der Bierpreis in den Lagerkantinen gesenkt werden« könne, und bat um diesbezügliche Verhandlungen mit den Kantinenwirten.137 Ende der 1930er Jahre zeigten sich immer deutlichere Diskrepanzen zwischen den Verheißungen der SA-Gemeinschaft und den Realitäten des Lagerprojekts. Eine zweite Gemeinschaftshalle, das sogenannte ›Hümmlinghaus‹, sollte in der Gemeinde Surwold errichtet werden. Ende 1938 hatte Hitler dafür erneut 40.000 RM zur Verfügung gestellt, doch der Bau wurde nie realisiert.138 Auch der seit langem versprochene Bau von »Führerhäusern« in sämtlichen Lagern wurde wegen Geldmangel 1940 schließlich eingestellt. Diese Häuser wurden erstmals 1937 als »Siedlergehöfte« angekündigt. Seit Anfang 1938 bestanden Planungen, in jedem der 15 Lager zwei Doppelhäuser zu errichten; ein Jahr später begannen Baumaßnahmen für nur noch sieben Häuser in den nördlichen Lagern. Durch Schwierigkeiten in der Zuteilung von Baumaterial verzögerten sich die Arbeiten mehrfach; in Walchum und Neusustrum war allerdings im August 1939 bereits Richtfest gefeiert worden. Im Frühjahr 1940 waren die Häuser der Lager III bis V im Rohbau fertig. In den übrigen Lagern waren die Baumaterialien inzwischen angeliefert, zum Teil standen bereits die Grundmauern. Nachdem im Juni 1940 der Bau für sämtliche Lager aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten eingestellt wurde, blieb das Scheitern dieses Projekts für die SA-Männer damit buchstäblich greifbar.139 Für die einfachen Wachleute war die Unterbringung in den Wachmannschaftsbaracken auf Dauer unbefriedigend, vor allem für solche, die inzwischen eine Familie gegründet hatten. Außerhalb der Lager bestanden jedoch kaum bezahlbare Alternativen. Der Wachmann Martin Clauß hatte überlegt, seine Frau und zwei Kinder ins Emsland nachzuholen, schrieb aber schließlich an seine Eltern: Hier ist so ein Klima was man erst überstehen muß und für die Familie gleich garnicht, denn so eine Feuchtigkeit und so ein regnerisches Wetter ist scheußlich. Nun zur Sache mit der Wohnung wie es bei uns ist sind schlechte Aussich-

Sämtliche Zitate: Revisionsbericht der Kantinenkommission Lager VII, 25. 5. 1937, in: NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Akz 2000 /008 Nr. 5. 137 Vorstand Strafgefangenenlager, 19. 8. 1938, in: ebd. 138 Vgl. NLA Osnabrück Rep 430 Dez 209 Akz 61 /87 Nr. 80 u. KW I, S. 862 f. 139 Vgl. ebd., S. 625 f., 646 f. u. 906–908 und NLA Oldenburg Rep 945 Akz 250 Nr. 315. 136

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307 ten mit Preißwerten Wohnungen, denn hier muß man ein Katholik sein dann kann es klappen aber so nicht und 45 M. gebe ich nicht wieder.140 In diesem Brief lässt sich eher eine generelle Larmoyanz erkennen als die vielfach beschworenen Topoi von Opferbereitschaft und Härte. Und es ist fraglich, ob das ständige Herausstellen des eigenen ›harten‹ Loses durch die SA-Wachmannschaften – das ja vor allem in Kasernierung und monotonem Dienstalltag bestand – jemals eine andere Haltung widergespiegelt hatte. Die ständige Betonung der Opferbereitschaft der Wachmannschaften durch Schäfer und andere SA-Führer mit dem Ziel, ideelle und materielle Zuwendungen zu erhalten, entpuppte sich jedenfalls als Gratwanderung, die letztlich dazu führte, dass sich unter den SA-Männern die Ansicht verbreitete, ihnen stünde mehr zu, als sie bekamen. Als schließlich der Lagerausbau im Herbst 1938 ins Stocken geriet, verfestigte sich für die SA-Männer das Bild, dass sie nun nicht mehr die bevorzugten Protagonisten der Emslandkultivierung waren. Auch den Wachmännern war nicht verborgen geblieben, dass die tatsächlichen Erfolge bei der Moorkultivierung weit hinter den vollmundigen Versprechungen zurückblieben und sich die Hoffnungen auf eigene Siedlerstellen für die meisten von ihnen kaum erfüllen würden. Im März 1937 waren die ersten Siedlerstellen in Aussicht gestellt worden, doch erst im Herbst 1938 wurden erstmals Bewerber für 18 Siedlerstellen unter den SA-Männern gesucht.141 Dies entsprach nicht einmal zehn Prozent der rund 200 Wachmänner, die sich ihre ›Bauernfähigkeit‹ hatten bescheinigen lassen. Nicht nur für die Angehörigen der zweiten und dritten Kohorte, die sich laut RJM ohnehin nicht auf das Siedlungsversprechen verlassen konnten, durfte nun deutlich werden, dass sich der Traum von einer eigenen Siedlerstelle für sie nicht realisieren würde. Dadurch, dass sich nun auch der Bau der südlichen Lager verzögerte und damit neue Beförderungsstellen ausblieben, entstand für die ›Moor-SA‹ ein Legitimierungsproblem, das eine neue Qualität hatte und bislang unbekannte Ausmaße annahm. Trotz der laufenden Umstrukturierung der Bewachungssituation wären durch die acht neuen Lager schätzungsweise 150 bis 200 neue Stellen vom Wachtmeister bis zum Einheitsführer entstanden. Mussten die Wachmannschaften bis dahin gegenüber anderen Stellen ihre Bedeutung für das Lagerprojekt hervorheben, waren es jetzt die SA-Männer selbst, die ihre Rolle darin in Zweifel zogen. Dies galt sowohl für Angehörige der ersten und zweiten Kohorte, die bei bisherigen Beförderungen übergangen worden waren, als auch für nahezu die gesamte ab 1937 eingestellte dritte Kohorte, für die eine Beförderung nun in weite Ferne zu rücken schien. Für den gemeinschaftlichen Kitt der ›Moor-SA‹ war das VerspreBrief vom 20. 10. 1938, in: Archiv AK DIZ Fotoarchiv, Foto Diverse / Wachleute / Bestand Martin Clauß. 141 Vgl. Kap. IV.3 dieser Studie und KW III, S. 780–789. 140

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308 chen eines kollektiven Aufstiegs aber zentral. Die utopischen Erwartungen, die die SA-Männer an das Gemeinschaftsprojekt hatten, wurden somit durch ihre alltagsweltlichen Erfahrungen zusehends enttäuscht, wodurch die Gemeinschaft der ›Moor-SA‹ von innen heraus Risse bekam.142

Aufstieg ohne die Gemeinschaft Aufgrund der wachsenden Unzufriedenheit entstand besonders in den unteren Diensträngen eine hohe Fluktuation.143 Schon zu Beginn des Schäfer-Verfahrens konnten nicht mehr alle freien Stellen neu besetzt werden. Als nach dem ›Anschluss‹ Österreichs im März 1938 rund 60 von dort stammende SA-Männer in ihre Heimat zurückkehrten, sah sich Generalstaatsanwalt Semler genötigt, bei anderen Vollzugsanstalten um die Entsendung von Hilfsaufsehern, die SA-Angehörige waren, zu bitten: in Verbindung mit anderen Ausscheidungen sind zur Zeit rund 93 Stellen in der Wachttruppe unbesetzt. Eine Besetzung diese Etatstellen stösst insofern auf Schwierigkeiten, als nicht mehr genügend Meldungen vorliegen, sodass auch Neueinberufungen diesem Mangel nicht abhelfen können. […] Um diesen augenblicklichen Überstand zu überbrücken, mussten Leute des Musikzuges schon zu Wachtzwecken herangezogen werden.144 Demnach waren also etwa 33 Stellen unbesetzt, die nicht vom Abgang der österreichischen SA-Männer betroffen waren. Diese Abwanderungswelle konnte zunächst kompensiert werden; jedoch setzte bereits im Herbst des gleichen Jahres eine weitere, deutlich stärkere ein, die zeitlich mit dem Abtransport der Baracken zum Westwallbau und damit dem Ausbleiben des Lagerausbaus zusammenfällt. So schrieb Werner Schäfer im März 1939: »Seit einem halben Jahr macht sich bei der Wachttruppe eine starke Abwanderung bemerkbar, die von Woche zu Woche zunimmt.«145 Auch in der Rf R bemerkte man diese Entwicklung: »Die Zahl der

Zur Inkongruenz zwischen Erfahrungsebene und utopischer Ebene von Gemeinschaften, die sich auf Dauer nicht mehr auflösen lässt, vgl. Reinicke / Stern / Zamzow: Suche, S. 217 f. und Benjamin Möckel: Gemeinschaftsimaginationen. Der Zweite Weltkrieg in Tagebüchern jugendlicher Soldaten, in: Steuwer / Graf (Hg.): Selbstreflexionen, S. 124–142. 143 Auch vorher war es phasenweise zu vermehrten Abwanderungen gekommen, die aber jeweils noch kompensiert werden konnten (vgl. etwa KmSGL: Ausscheiden von Wachmannschaften, 3. 6. 1937, in: Angelegenheiten III). 144 Generalstaatsanwalt Hamm an RJM, 29. 3. 1938, in: ebd. 145 KmSGL, 24. 3. 1939, in: KW I, S. 836. 142

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309 Wachmannschaften verringert sich ständig durch Abwanderung zur Industrie.«146 Insbesondere in Rüstungsbetrieben waren inzwischen deutlich besser bezahlte Stellen verfügbar. Die Oberste SA-Führung startete daraufhin großflächige Anwerbungsversuche, um dem Personalmangel zu begegnen. Auch wenn darin der weiterhin erwartete Ausbau der Lager ebenso wie die Übernahme von SA-Männern auf Beamtenstellen zum Teil mit berücksichtigt wurden, zeigen die veranschlagten Zahlen, wie dramatisch das Ausmaß der Abwanderungen inzwischen war: Die Pionierstandarte 10 ›Emsland‹, der die Bewachung der Strafgefangenenlager Papenburg untersteht, benötigt für die nächste Zeit dringend ca. 600 SA-Männer für die Wachmannschaften. Von Seiten dieser Lager wird die Kultivierung des Emslandes durchgeführt und neuer fruchtbarer Boden für die Ernährung des deutschen Volkes erworben. Dieser neue Boden wird SA-Männern, die z.Zt. Wachdienst machen, für Bauernsiedlungen zur Verfügung gestellt.147 Bewusst wurde hier der falsche Eindruck geweckt, dass neue Bauernstellen ausschließlich für SA-Männer vorgesehen waren und auch neu eingestellte Wachmänner dabei berücksichtigt würden. Die Abwanderungen konnten aber erst dadurch wirksam bekämpft werden, dass schließlich der Dienst in den Wachmannschaften zur »Aufgabe von besonderer staatspolitischer Bedeutung« erhoben wurde, worauf Justizverwaltung, Rf R und Lagerleitung schon seit Monaten gedrängt hatten. Gemäß den »Bestimmungen zum Arbeitsplatzwechsel« verfügte das Landesarbeitsamt mit Wirkung vom 28. April 1939, »daß die in den Lagern beschäftigten Wachtmannschaften […] nur mit vorheriger Zustimmung des Arbeitsamtes kündigen oder die Arbeit aufgeben dürfen.«148 Bereits im Vorfeld hatten Rf R und Justizverwaltung das Reichsarbeitsministerium darum gebeten, die zuständigen Arbeitsämter anzuweisen, derartige Anträge abzulehnen. Damit waren Abwanderungen in die Privatwirtschaft nicht mehr möglich, doch nur fünf Monate später sollten die beginnenden Einberufungen zur Wehrmacht die SA-Wachmannschaften noch weitaus stärker dezimieren. Ohnehin bedeutete die Anwendung der »Bestimmungen zum Arbeitsplatzwechsel« auf die ›Moor-SA‹ nicht das Ende der Aufstiegsmöglichkeiten außerhalb der Wachmannschaften für SA-Männer, da die bereits im Vorjahr begonnene Übernahme von Wachmännern in die Beamtenlaufbahn weiterging. Die überwiegende

Protokoll 23. 2. 1939, in: ebd., S. 827. OSAF: Einstellung in die Wachttruppe der Strafgefangenenlager Papenburg, 12. 4. 1939, BA Berlin NS 23 Nr. 436. 148 Präsident Landesarbeitsamt Niedersachsen, 21. 4. 1939, in: KW I, S. 837. Vgl. auch ebd., S. 777 f., 825 u. 827. 146 147

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309

310 10,3%

16,5%

73,2%

1. Kohorte: Einstellung bis April 1934 2. Kohorte: Einstellung Mai 1934 – Juni 1935 3. Kohorte: Einstellung ab Juli 1935

Abb. 20 : Übernahme von SA-Männern in den Vorbereitungsdienst 1938.

Bereitwilligkeit, mit der SA-Männer diesen Aufstiegskanal wahrnahmen, zeigt, wie sehr das Gemeinschaftsprojekt der ›Moor-SA‹ Ende der 1930er Jahre an Bindekraft verloren hatte, zumal anfänglich überhaupt nicht absehbar war, dass ein Teil der SA-Männer als Justizoberwachtmeister zurück ins Emsland kommen würde. Diese Aufstiegsoption wurde jedoch von Angehörigen der ersten Kohorte der ›Moor-SA‹ zunächst kaum genutzt (siehe Abb. 20). Von 97 namentlich bekannten Wachmännern, die 1938 den Vorbereitungsdienst zur Beamtenlaufbahn antraten, gehörten nur 10 zu den im April 1934 vom RJM übernommenen Wachmannschaften. Der deutlich kleineren zweiten Kohorte, die durch den Neubau der Lager II und IV hinzugekommen war, gehörten bereits 16,5 Prozent an. Den absolut überwiegenden Teil bildeten mit mehr als 72 Prozent Angehörige der dritten Kohorte, die oft nur wenig mehr als ein Jahr im Emsland tätig gewesen waren.149 Diese auf den ersten Blick kontraintuitive Verteilung lässt sich relativ leicht erklären. Zunächst stellte die dritte Kohorte nahezu die Hälfte der Wachmannschaften. Ihre Angehörigen waren im Zuge der ersten Lagererweiterung ab Sommer 1935, vor allem aber während des nochmaligen Ausbaus 1937 eingestellt worden. Der zweiten Kohorte, die aus Wachleuten mit Einstellungsdatum von Mai 1934 bis Juni 1935 bestand, gehörten ohnehin nur wenig mehr als 200 Wachleute an; sie war damit nur geringfügig unterrepräsentiert. Allerdings hätten die Wachmänner der ersten Kohorte nach der inneren Hierarchie der ›Moor-SA‹ ein eindeutiges Vorrecht auf den Einstieg in die Beamtenlaufbahn gehabt. Dass sie die149

310

Vgl. BA Berlin R 3001 Nr. 9820 u. 9821. Abstieg

311 ses nicht wahrnahmen, lag zum einen daran, dass sich diese SA-Männer noch am ehesten Hoffnung auf Siedlerstellen machen konnten, zum anderen aber vor allem daran, dass sie zwischen November 1938 und April 1939 Anspruch auf das Entlassungsgeld nach fünfjähriger Dienstzeit bekamen. Daher war für sie – abgesehen von einer möglicherweise höheren Identifikation mit der ›Moor-SA‹ – eine Übernahme in den Beamtendienst auch rein finanziell kaum lukrativ, was mit Abstrichen auch für die zweite Kohorte gilt. Dies zeigte sich für den SA-Mann Johann Schulte, der seit Februar 1934 als Halbzugführer in den Emslandlagern tätig war. Als er nach vier Jahren kein einziges Mal befördert worden war, meldete er sich 1938 trotz seiner längeren Dienstzeit zum Vorbereitungsdienst. Als er ein Jahr später jedoch eine Stelle bei der NSDAP antrat, musste er feststellen, dass die Justizverwaltung seine fünfjährige Dienstzeit als nicht erfüllt ansah, da der Vorbereitungsdienst hierfür nicht mitgezählt wurde.150 Auch die Aufstiegsperspektive einer Beamtenlaufbahn brachte für die ›MoorSA‹ Probleme mit sich, die über die reine Personalnot weit hinausgingen, da sie der Gemeinschaftsutopie der ›Moor-SA‹ diametral entgegenstand. Während die ›Moor-SA‹ eine kollektive Besserstellung im Rahmen der Gemeinschaft verhieß, bedeutete die Übernahme ins Beamtenverhältnis, dass die SA-Männer ihren Aufstieg jenseits der Gemeinschaft vollzogen. Gerade dadurch, dass die verbeamteten SA-Männer zum Teil ins Emsland zurückkehrten, sollten sich Friktionen zwischen den Wachleuten deutlich zeigen. Dies lag zunächst daran, dass diese Aufstiegsperspektive nur für ›alte Kämpfer‹ galt. Oberwachtmeister Werner Eymers hatte seine Stellung bereits seit Ende 1933 inne und war ebenfalls seitdem nicht mehr befördert worden. Als Anfang 1938 die Pläne der Justizverwaltung bekannt wurden, in großem Umfang SA-Männer ins Beamtenverhältnis zu übernehmen, bewarb sich Eymers am 8. März umgehend, auch wenn für ihn damit kein höherer Dienstgrad verbunden gewesen wäre. Die Justizverwaltung befürwortete seine Bewerbung sogar, doch das Innenministerium lehnte den Antrag ab, da sich derartige Verbeamtungen »nur noch zu Gunsten alter Nationalsozialisten rechtfertigen« ließen, Eymers aber erst nach dem Machtantritt in die SA eingetreten war.151 Dieser Fall verweist nicht nur auf Dissonanzerfahrungen von SA-Männern, die nicht zum Kreis der ›alten Kämpfer‹ gehörten, sondern aufgrund der grundsätzlichen Regelung auch auf Probleme für den Gemeinschaftszusammenhalt der ›Moor-SA‹, die sich vor allem für die dritte Kohorte ergaben. Von den 1937 eingestellten Wachleuten waren nur etwa 150 vor dem Machtantritt der NSDAP SA-Männer geworden. Rund die Hälfte davon wechselte 1938 in die Beamtenlaufbahn, weitere sollten im nächsten Jahr folgen. Das heißt, dass die verbliebenen Wachmänner 150 151

Vgl. Personalakte Johann Schulte, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1093. Reichsinnenministerium, 26. 3. 1938, in: Angelegenheiten III.

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312 dieser Kohorte kaum noch auf eigene Erfahrungen in der ›Kampfzeit‹ rekurrieren konnten. Dies war oftmals ihrem jüngeren Alter geschuldet, weshalb sie auch die Abstiegserfahrung der Wirtschaftskrise nicht teilten. Damit war für sie aber auch die Anschlussfähigkeit an das ›Pionierideal‹ der ›Moor-SA‹ weniger stark gegeben. Ihnen gegenüber standen zwei Kohorten mit einer weitgehend homogenen Altersstruktur und Erfahrungsschichtung, die schon mehrere Jahre im Lagerprojekt arbeiteten und einen Großteil der Beförderungsstellen besetzt hielten. Dadurch musste die Verheißung eines kollektiven Aufstiegs für viele der später eingestellten Wachmänner bald unglaubwürdig werden. Hatte der Wachmann Martin Clauß noch Anfang August 1938 geschrieben, er sei »ein Mensch der sich für das Große das von uns der Führer verlangt zu jeder Zeit opfere«,152 klang dies zum Jahresende bereits ganz anders: Liebe Eltern […] bei mir ist [die Geduld] schon lange zu Ende denn wenn Ihr wüstet wie ich den Kanal voll hätte so werdet Ihr es wohl verstehen können, bei uns heist es immer nur opfern denn Ihr seit ja S. A. Männer und dabei ist der Gehalt gar nicht so hoch wie Ihr es vielleicht von mir vermutet. Ich bekomme 64,00 R. M. Grundgehalt und pro Kind 6,25 im Monat und den Tag 1,25 Trennungsgeld so nun könnt Ihr noch die Parteigelder und sonstige Abzüge abrechnen.153

Erosion der Gemeinschaft Frontstellungen und Reibungen innerhalb der Wachmannschaften hatte es auch zuvor gegeben, zum Beispiel zwischen ›alten Kämpfern‹ und SA-Männern, die erst nach der Machtübertragung beigetreten waren. So erzählt der ehemalige Wachmann Walter Erhard im Interview: »Das waren alles alte SA-Leute gegen die ich mich zu wehren hatte. Ich war für die alten SA-Leute war ich ja immer noch ein Neuling.«154 Zur offenen Austragung kamen solche Konflikte allerdings erst, als der Gemeinschaftsentwurf der ›Moor-SA‹ an Tragfähigkeit verlor. Wie bereits angedeutet, zeigten sich derartige Zerwürfnisse unter anderem dann, wenn SA-Männer, die sich für die Beamtenlaufbahn entschieden hatten, durch Abordnung zu den Strafgefangenenlagern zurückkamen. Im Vergleich zu ihrer früheren Anstellung im Emsland waren sie nun langfristig abgesichert und bezogen in aller Regel ein deutlich höheres Gehalt.155 Oberwachtmeister Heinrich Gerken

Brief vom 1. 8. 1938, in: Archiv AK DIZ Fotoarchiv, Foto Diverse / Wachleute / Bestand Martin Clauß. 153 Brief vom 8. 12. 1938, in: ebd. 154 Int WE, S. 20. 155 Vgl. Darlegungen des Verteidigers [Schäfer-Verfahren 1950], in: KW III, S. 2613–2627, hier: 2558. 152

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313 war seit Februar 1934 Wachmann gewesen und hatte im Mai 1938 den Vorbereitungsdienst angetreten, obwohl er nach weiteren neun Monaten Anspruch auf die Treueprämie bekommen hätte und auch auf der Liste siedlungswilliger Wachmänner mit aufgenommen war.156 Nachdem er im Januar 1939 zum verbeamteten Oberwachtmeister ernannt worden war, bemühte er sich aus familiären Gründen um eine Rückversetzung zu den Strafgefangenenlagern. Ein erstes Gesuch zum April 1939 scheiterte jedoch aufgrund von Vorwürfen, die ehemalige Vorgesetzte gegen ihn erhoben hatten. Erst nach einem persönlichen Vorsprechen bei Werner Schäfer schrieb dieser, er habe sich »in vollem Umfange davon […] überzeugen lassen, dass G. zu Unrecht schlecht beurteilt worden ist.«157 Im November gelangte Gerken daher zurück ins Emsland. Bemerkenswert an Gerkens Fall ist, dass die nicht weiter präzisierten Vorwürfe, die seine ehemaligen SA-Führer nun gegen ihn erhoben, vor seinem Weggang zu keinen dienstlichen Konsequenzen geführt hatten. Als Gerken zum Oberwachtmeister auf einer unbefristeten Stelle mit Beamtenzulagen befördert zurückkehrte, waren diese Vorwürfe auf einmal so gravierend, dass sie gegen seine Rückversetzung sprachen. Es liegt nahe, dass in Wirklichkeit persönliche Animositäten und Neid die eigentlichen Gründe waren, die zur Intervention geführt hatten. Differenzen anderer Art zeigten sich im Fall des Oberwachtmeisters Friedrich Behrens, der genau wie Gerken im Februar 1934 zu den Wachmannschaften gekommen war und nach seiner Verbeamtung beim Untersuchungsgefängnis Alt-Moabit im Dezember 1938 ebenfalls einen Antrag auf Rückversetzung ins Emsland stellte. Als sein Antrag scheiterte, zogen seine Frau und der einjährige Sohn im Mai 1939 zu ihm nach Berlin. Vier Wochen später wurde Behrens’ Antrag jedoch stattgegeben, worauf er allein zum neuen Lager Versen ging. In dieser Situation schrieb die Ehefrau an den zuständigen Generalstaatsanwalt, da Behrens anscheinend Beziehungen mit anderen Frauen hatte: 15 Monate hat man allein im Emsland gewohnt, ich habe es gern getan, nur das der Mann etwas weiter kam […]. Auf alles hat man verzichtet, kein Kino, kein Vergnügen […]. Und wie wird man gelohnt?? Andere Frauen nehmen einem das Beste. Seit 15 Monaten habe ich nur 30 RM Haushaltungsgeld bekommen, […] nun bekomme ich überhaupt nichts mehr, Miete will er bezahlen. Das Brot muss ich für meinen Jungen und mich selbst verdienen.158

Vgl. Angelegenheiten II. Schreiben 28. 7. 1939, in: Personalakte Heinrich Gerken, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Akz 12 /98 Nr. 32. 158 Schreiben 11. 6. 1939, in: Personalakte Friedrich Behrens, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 925. 156 157

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314 Allerdings hatte Frau Behrens in ihrem Brief wohl einiges ausgespart. Zwei Monate später bat Kommandeur Schäfer um Behrens’ sofortige Ablösung: Es hat sich herausgestellt, dass durch frühere Bekanntschaften von Wachtruppenangehörigen und der Ehefrau Verhältnisse eingetreten sind, die den Bestand der Ehe gefährden. Ehrenerklärungen und Androhungen mit Zivilklagen haben zwischen Behrens und einem Angehörigen der Wachttruppe Formen angenommen, die es befürchten lassen, dass allgemeine Unruhe und Missstimmung durch Behrens in die Wachttruppe zum Nachteil der Beamtenschaft hineingetragen wird.159 Dass Behrens darauf nach Berlin zurückkehrte und die Ehe im Folgejahr geschieden wurde, ist hier weniger von Interesse, sondern vielmehr, dass mehrere andere SA-Männer ein Verhältnis mit seiner Frau eingegangen waren und damit jeglichen Kameradschaftsidealen zuwider gehandelt hatten. Neid auf Behrens’ Beamtenstellung dürfte hier zwar weniger der Auslöser gewesen sein, doch ohne seinen Weggang wäre es womöglich nicht zu den Affären gekommen. Konflikte entstanden nicht nur mit verbeamteten SA-Männern, sondern auch zwischen denen, die im Angestelltenverhältnis blieben. Mehreren Wachmännern wurde nach Streitigkeiten mit Vorgesetzten oder wegen Wachvergehen gekündigt.160 Andere SA-Männer wurden wegen Korruption entlassen. Die persönliche Bereicherung von Männern der ›Moor-SA‹ war durch die Präsenz der ›Grünen‹ nur stellenweise zurückgegangen, und auch hier ging Werner Schäfer nun vereinzelt gegen SA-Männer vor. Wachtmeister Leopold Bohn, der im »Blaue Bohnen«-Fall den Verwaltungsbeamten konfrontiert hatte, kam im Dezember 1938 seiner fristlosen Entlassung wegen der Unterschlagung von Portogeldern zuvor, indem er selbst kündigte. Anschließend versuchte er, die Treueprämie zugesprochen zu bekommen, was Schäfer aufgrund des anhängigen Gerichtsverfahrens jedoch ablehnte. Nachdem Bohn zu einem ersten Gerichtstermin am 30. Juni 1939 nicht erschienen war, wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Kurz darauf beging er Selbstmord – nach offizieller Lesart aufgrund von »Liebeskummer«.161 Der bereits erwähnte Oberwachtmeister Heinrich Gerken verfasste kurze Zeit nach seiner Rückkehr ins Emsland einen anonymen Schmähbrief gegen einen Jagdaufseher, um in den Besitz von dessen Jagdrevier zu kommen. Von Schäfer damit konfrontiert, stritt er zunächst alles ab, trat aber bei seinen anschließenden Vertu-

Schreiben 21. 8. 1939, in: ebd. Vgl. Personalakten Ewald Bronn und Hermann Schüerr, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 854 u. 1056 sowie Aussage Johann Alhorn, 28. 10. 1945, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 1246. 161 Personalakte Leopold Bohn, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1045. 159 160

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315 schungsversuchen derart ungeschickt auf, dass seine Urheberschaft feststand. Aufgrund des für ihn geltenden Beamtenrechts erhielt er jedoch nur einen Verweis.162 Als andererseits ein Oberwachtmann im Januar 1942 das seit längerem gängige Abzweigen von »Fleischpaketen« durch drei Halbzugführer und andere Wachmänner meldete, wurde er selbst von Schäfer verwarnt, weil er sich »mit Strafgefangenen in Quatschereien eingelassen« hatte.163 Für das Schwinden der gemeinschaftlichen Bindekräfte beim ›harten Kern‹ der Wachmänner aus der ersten und zweiten Einstellungskohorte waren vor allem zwei weitere Entwicklungen verantwortlich, die auch für diese Gruppe den avisierten Aufstieg fraglich erscheinen ließen. Zum einen wurden die ausgelobten 18 Siedlerstellen auch in der Folgezeit nicht realisiert. Zudem zeigte sich im Frühjahr 1940, dass die Bewerber rund 7.500 RM würden selbst aufbringen müssen. Abgesehen von ihrem Anspruch auf das Entlassungsgeld standen den SA-Männern solche Geldbeträge natürlich nicht zur Verfügung. Pläne der OSAF und der Justizverwaltung, den fehlenden Betrag jeweils anteilig beizusteuern, scheiterten letztlich. Als das Kultivierungsprojekt 1941 eingestellt wurde, war keine einzige Siedlerstelle für SA-Männer geschaffen worden.164 Zum anderen sollten sich auch bei der Auszahlung des Entlassungsgelds gravierende Probleme ergeben: Die ersten Wachmänner erhielten Ende November 1938 Anspruch auf die Treueprämie nach fünfjähriger Dienstzeit; in den Folgemonaten kamen weitere dazu. Das Zeitfenster zur Auszahlung des Entlassungsgelds bestand jedoch nur kurz, da mit dem Inkrafttreten der »Bestimmungen zum Arbeitsplatzwechsel« am 28. April 1939 auch altgediente Wachleute nicht mehr kündigen konnten. Dadurch entstand die paradoxe Situation, dass mehr und mehr SA-Männer Anspruch auf das Entlassungsgeld von 1.800 RM hatten, für sie aber keine Möglichkeit bestand, sich dieses auszahlen zu lassen. Einer der wenigen, die rechtzeitig gekündigt hatten, war Oberwachtmeister Konrad Schmidt, der schon im August 1933 als SS-Mann aus Breslau zu den Emslandlagern gekommen war. Schmidt kündigte bereits am 6. November 1938, da er sich als Kantinenwirt selbständig machen wollte. Schmidts finanzielle Verhältnisse waren aber derart desolat, dass ein Teil des Entlassungsgelds gepfändet werden musste. Am 15. August 1939 wurde Schmidt schließlich bei den Strafgefangenenlagern wieder eingestellt.165 Einzelne andere SA-Männer konnten sich Teilbeträge des Ent-

Vgl. Dienststrafverfügung 14. 3. 1940, in: Personalakte Heinrich Gerken, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Akz 12 /98 Nr. 32. Auch andere SA-Männer wurden wegen Jagdvergehen belangt (vgl. Personalakte Karl Brockhoff, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 853). 163 Vermerk 17. 2. 1942, in: Personalakte Klaas Suntken, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 968. 164 Vgl. Kap. IV.3 dieser Arbeit. 165 Vgl. Personalakte Konrad Schmidt, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1094. Ein ande162

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https://doi.org/10.5771/9783835348035

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316 lassungsgelds – zum Beispiel zur Wohnungseinrichtung bei Geburt eines Kindes – auszahlen lassen.166 Eine regelmäßige Auszahlung der Treueprämie fand später nur für Angehörige von gefallenen SA-Männer statt.167 Insofern mochten SA-Männer der ersten und zweiten Kohorte nun bereuen, nicht bereits 1938 in die Beamtenlaufbahn gewechselt zu sein, zumal das De-facto-Kündigungsverbot zeitlich ungefähr mit der Rückkehr der ersten verbeamteten SAOberwachtmeister zusammenfiel. Anschließend versuchten Angehörige der ersten Kohorte vermehrt, zum Vorbereitungsdienst zugelassen zu werden, doch waren die meisten Stellen im vorausgegangenen Jahr bereits besetzt worden. Angesichts dieser beiden parallelen Entwicklungen erodierte der Gemeinschaftsgedanke auch im ›harten Kern‹ der ›Moor-SA‹ zusehends. Der erhoffte Aufstieg innerhalb der Gemeinschaft war in weite Ferne gerückt, die Möglichkeiten zu einem nun auch für sie attraktiven Aufstieg außerhalb dieser nach dem Frühjahr 1939 weitgehend verbaut. In dieser Situation wurde das eigene Fortkommen – hier oftmals wörtlich zu verstehen – zur zentralen Motivation vieler SA-Männer. Halbzugführer Karl Steil etwa trat Ende 1939 zunehmend »als Nörgler und Meckerer« hervor. Über seinen Einheitsführer Bernhard Sauthoff sagte er zu anderen SA-Männern: »Der Olle weiß auch nicht was er will.« Die Gelder der Kameradschaftskassen hätten seiner Auffassung nach entweder dafür eingesetzt werden sollen, den Verpflegungssatz zu senken, oder direkt an die SA-Männer verteilt werden sollen – »dann hätte man wenigstens etwas davon gehabt.«168 Schließlich äußerte er sich im November 1939 einem Kommandoführer gegenüber zum wiederholten Mal abfällig über Werner Schäfer: Das ist ja auch wieder so ein Ding, – der Oberführer [d. h. Schäfer, D. R.] gibt Befehle heraus und spricht von Idealismus und selbst ist er keiner. Er ist Oberregierungsrat und kümmert sich nicht mehr um uns. Die hohen Herren tuen sich gegenseitig nichts mehr. Es haben 40 Einstellungen für den Justizdienst auf der Kommandantur gelegen, die hat er auch unterschlagen!169 Der andere Wachmann meldete diesen Vorfall erst Anfang Februar; Schäfer kündigte Steil darauf zum Monatsende, sodass dieser – im Gegensatz zu einer fristlosen Kündigung – weiterhin Anspruch auf das Entlassungsgeld hatte. Steil war schon

166 167 168 169

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rer Wachmann, Bernhard Ulferts, kündigte auf den Tag genau nach fünf Jahren Dienstzeit (vgl. Personalakte Bernhard Ulferts, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1005). Vgl. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 960 u. 1018. Vgl. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 905, 975, 1002, 1004 u. 1016. Sämtliche Zitate: Wacheinheitsführer Lager II, 5. 2. 1940, in: Personalakte Karl Steil, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 880. Meldung 2. 2. 1940, in: ebd. Abstieg

317 seit November 1933 Angehöriger der Wachmannschaften und bis dato in keiner Weise als Querulant hervorgetreten. Dass sich dies Ende 1939 anscheinend schlagartig änderte, zeigt, wie sehr zu diesem Zeitpunkt die Bindekräfte der ›Moor-SA‹ geschwunden waren. Doch selbst in seiner Äußerung lässt sich noch der Anspruch auf eine Gemeinschaft der SA-Männer erkennen, die weiterhin im Sinne der ›Bewegung‹ und des eigenen »Idealismus« gegen »die hohen Herren« zusammenstehen sollte. Die Zielsetzung hatte sich zu diesem Zeitpunkt aber verschoben: Nun galt es nicht mehr, gemeinsam das Siedlungsprojekt zu gestalten, sondern individuell eine dauerhafte Anstellung im Justizdienst zu erlangen. Der Gedanke des eigenen Fortkommens konnte sich auch auf andere Weise äußern. Heinz Dohmes, seit 1934 der Zahnarzt der Lager, war sich wohl bewusst, dass nach Kriegsbeginn nur schwer Ersatz für ihn zu bekommen wäre. Im Oktober 1941 drohte er mit einem Wechsel zur Polizei, bis im Februar 1942 eine Regierungsmedizinalratsstelle für ihn eingerichtet wurde. Von Gefangenen ließ er sich »künstlerisch wertvolle Gegenstände« anfertigen, und auch in der Öffentlichkeit fiel er auf: »Seine leichte Lebensauffassung liess ihn zeitweilig nicht das richtige Mass im Genuss geistiger Getränke und nicht das Verhalten zum weiblichen Geschlecht finden, das er als Verheirateter seinem Stand schuldig war.«170 Angesichts der drohenden Einberufung zur Wehrmacht wurde schließlich für manche SA-Männer auch der Verbleib im Emsland eine attraktive Aussicht. Wachmann Friedrich Best war erst im Juli 1937 zu den Wachmannschaften gekommen und hatte keinerlei Aufstiegsperspektiven innerhalb der ›Moor-SA‹. Best gehörte »nach dem Urteil seiner Vorgesetzten schon immer zu denjenigen SA-Männern, die nicht über allzuviel Energie und Dienstfreudigkeit verfügten.«171 Als Werner Schäfer auf einer SA-Kundgebung zu Hitlers Geburtstag am 21. April 1940 in Papenburg ausführte, dass es für die im Emsland verbliebenen SA-Männer »keine bessere Entscheidung geben könnte, als wenn wir nun ebenfalls als Soldaten an der vordersten Front dem Führer unter Beweis stellen dürften, wie treu wir zu ihm stehen«,172 äußerte sich Best anderen SA-Männern gegenüber abfällig über diese Ansprache. Diese denunzierten ihn und gaben an, er habe gesagt: Bist du verrückt, willst Du denn Deine Knochen für andere kaputtschießen lassen, wo wir gar nicht ausgebildet sind und sollen dann ab ins Feuer gejagt werden? Wir sind dann die Dummen dabei und die anderen kommen mit der Brust voll Orden wieder!173

Vorstand Strafanstalten Emsland, 14. 7. 1947, in: Personalakte Dohmes, NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 105. 171 KmSGL, 1. 7. 1940, in: Personalakte Friedrich Best, NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1001. 172 Ebd. 173 Scharführer Bröring, 1. 7. 1940, in: ebd. 170

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Abb. 21 : Weihnachtsfeier von SA-Wachmännern im Zweiten Weltkrieg, Lager Aschendorfermoor 1939.

Mit diesen »anderen« meinte Best offenbar Werner Schäfer und die weiteren SA-Führer im Emsland, wie seine Kameraden wiedergaben. Daraufhin wurde er fristlos entlassen. Doch auch die SA-Führer wurden angesichts der Entwicklung des Lagerprojekts zusehends desillusioniert. Die vormaligen Lagerleiter Schenk, Schmidt und Zerbst wechselten 1939 beziehungsweise 1940 als Verwaltungsinspektoren an reguläre Vollzugsanstalten.174 Damit leisteten sie den Abwanderungsabsichten einfacher Wachmänner weiter Vorschub. Wilhelm Schenk, der nach Schäfers Rückkehr das SA-Stabsamt geleitet hatte, musste nach der Rückkehr Hans-Hugo Daniels’ im Februar 1939 auch diesen Posten räumen. Damit war er im Dienstgefüge der ›Moor-SA‹ gewissermaßen überflüssig geworden; seine anschließende Bewerbung auf die Übernahme ins Beamtenverhältnis war daher nur folgerichtig und wenig mehr als eine Formsache. Dennoch verfasste Schenk ein Treueschreiben an Wer174

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Schenk ging an das Strafgefängnis Wolfenbüttel, Zerbst an das Zuchthaus Amberg. Für Schmidt ist der weitere Verbleib über den Wechsel hinaus unbekannt (vgl. Personalakte Schenk, NLA Wolfenbüttel 68 Nds Zg. 16 /1989, Nr. 494 u. SA-Korrespondenz Friedrich Zerbst, BA Berlin SA D 0297). Abstieg

319 ner Schäfer, obwohl dessen Zustimmung dazu wohl nie in Frage stand. Darin versicherte er, sich »nach Ableistung meiner informatorischen Beschäftigung nach hier zurückzumelden«, und versuchte, sein eigenes Handeln mit dem Gemeinschaftsideal der ›Moor-SA‹ in Einklang zu bringen: So wie bisher dem Moor und Ihnen, Oberführer, meine ganze Kraft und Liebe gehörte, so soll es auch in Zukunft sein. Ich will nicht Idealismus in Materialismus umwandeln, ich will nicht Eigennutz vor Gemeinnutz, ich will Ihnen, Oberführer, nicht untreu werden. Ich will für mich selbst nichts, mein Entschluss liegt nur im Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein meiner Familie gegenüber begründet.175 Das Versprechen, ins Emsland zurückzukehren, konnte Schenk leicht geben, da er auf die Entscheidung darüber praktisch keinen Einfluss haben würde. Dass eine Rückkehr unwahrscheinlich war, dürften er und Schäfer beide gewusst haben. Schenks Schreiben zeigt vielmehr, wie der SA-Führer den Wechsel auch sich selbst gegenüber legitimierte. Selbst bei Werner Schäfer wich schließlich die langjährige Identifikation mit dem Lagerprojekt der Ernüchterung. Bereits im Juni 1940 stellte er mit dem Verweis auf seinen Geburtsort Straßburg den Antrag, ins besetzte Elsass versetzt zu werden. Dieser Antrag wurde abgelehnt, da in der dortigen Gefängnisverwaltung keine für ihn geeigneten Stellen vorhanden waren. Das RJM erfuhr nur auf Umwegen von dieser Bewerbung. Trotzdem wurde Schäfer am 19. Juli zum Regierungsdirektor ernannt und im November auch »zur Erfüllung kriegswichtiger behördlicher Aufgaben« vom Wehrdienst freigestellt.176 Nach der Einstellung des Kultivierungsprojekts im Februar 1941 stellte Schäfer allerdings einen zweiten Versetzungsantrag, von dem das RJM erneut nur durch Zufall erfuhr, weil das Innenministerium den betreffenden Vorgang dorthin weiterleitete: Anbei übersende ich Abschrift eines mir vom Chef der Zivilverwaltung im Elsaß zugegangenen Berichts vom 22. 5. 1941 mit der Bitte um Mitteilung, ob eine Verwendungsmöglichkeit für Schäfer im Elsaß innerhalb des dortigen Geschäftsbereichs gegeben ist.177 Mit einer Rückkehr ins Elsass konnte Schäfer kaum die Hoffnung auf größere Gestaltungsspielräume oder weitere Beförderungen verbunden haben. Insofern muss Beide Zitate: Schenk an KmSGL, 6. 2. 1939, in: NLA Wolfenbüttel 42 A Neu Fb 3 Nr. 388. Vermerk 8. 11. 1940, in: Personalakte Schäfer. 177 Innenministerium an RJM, 6. 6. 1941, in: ebd. 175 176

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320 angenommen werden, dass auch Schäfer die Zukunft des Lagerprojekts inzwischen zu unsicher geworden war und er sich darum bemühte, in ein krisensicheres Berufsumfeld zu gelangen. Doch auch dieser Antrag Schäfers wurde abgewiesen und mag dazu beigetragen haben, dass seine ›Uk-Stellung‹ im folgenden Jahr aufgehoben und er tatsächlich von seinem Posten entfernt wurde. Schäfers Beispiel machte allerdings Schule, da auch sein Stellvertreter Karl Dubbel am 10. März 1944 auf eine Oberwachtmeisterstelle bei der Polizei wechselte.178 Dubbel nahm damit eine Zurückstufung um zwei Dienstgrade und entsprechende Gehaltseinbußen in Kauf, um auf eine gesicherte Stelle zu gelangen. Dieser Wechsel offenbart die sinkende Identifikation selbst leitender SA-Führer mit dem Lagerprojekt sowie die Ungewissheit des Dienstes in den Emslandlagern. Hier zeigen sich deutlich die Grenzen der SA-Gemeinschaft hinsichtlich der Bindungen ihr angehörender Wachmänner. Dies bedeutet nichts anderes, als dass sich Direkttäter von ihrem Täterkollektiv ablösten und den spezifischen Gewaltkontext der Strafgefangenenlager verließen. Für das Begreifen von Täterschaft im Nationalsozialismus ist dies insofern bedeutsam, als sich derartige Ablösungsprozesse in anderen Kontexten nicht zeigen beziehungsweise auch nur schwer zeigen können. Für SS-Angehörige stellte das System der Konzentrations- und Vernichtungslager ein dauerhaftes ›Erfolgsmodell‹ dar, das kontinuierlich ausgebaut wurde. Neben Überstellungen zu kämpfenden Einheiten der Waffen-SS ist ein Verlassen des engeren Gewaltkontextes bisher praktisch nur in solchen Fällen bekannt, in denen SS-Führer wegen Korruption oder ›Unfähigkeit‹ strafversetzt wurden.179 Im Angesicht der deutschen Niederlage 1944 /45 war ein freiwilliges Ausscheiden aus den KZ-Wachmannschaften praktisch nur durch den risikobehafteten Fronteinsatz möglich.180 In anderen Kollektivzusammenhängen sind zwar Fälle bekannt, in denen zum Beispiel Reserve-Polizisten ihre Beteiligung an Mordaktionen verweigerten oder in denen Wehrmachtssoldaten allmählich eine innere Ablösung vom System vollzogen – ein Austreten aus Wehrmacht oder Polizei war aber keine valide Möglichkeit.181 Für die Männer der ›Moor-SA‹ war die Situation ohnehin anders gelagert: Sie hatten als langjährige SA-Mitglieder überwiegend einen ausgeprägten ideologischen Hintergrund und identifizierten sich zum Teil hochgradig mit den Zielen Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 218. Vgl. Orth: Konzentrationslager-SS, S. 205–212 und Riedel: Ordnungshüter, S. 273–326. 180 Ähnlich gilt dies für weitere Gruppen, die die KZ-Wachmannschaften im Krieg verstärkten. Vgl. Stefan Hördler: Die KZ-Wachmannschaften in der zweiten Kriegshälfte. Genese und Praxis, in: Benz / Vulesica (Hg.): Bewachung, S. 127–145 und Angelika Benz: Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-Männer im Holocaust, Berlin 2015. 181 Vgl. Browning: Männer, S. 140–144 u. 154–156 und Benjamin Möckel: Der Krieg als Generationserfahrung? Jugendliche und die Gewalterfahrung des Zweiten Weltkriegs in den deutschen Nachkriegsgesellschaften, in: Reinicke u. a. (Hg.): Gemeinschaft, S. 157–179. 178 179

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321 des Straf- und Siedlungsprojekts. Dies resultierte in ihrer kollektiven Aneignung der wahrgenommenen ›Erziehungsaufgabe‹ und einer gemeinsam getragenen Gewaltpraxis gegen die Strafgefangenen. Parallel dazu bestanden aber von Beginn an Motivlagen des persönlichen Fortkommens – zunächst in Form der eigenen Existenzsicherung, mit zunehmender Verweildauer im Emsland aber auch eines darüber hinausgehenden materiellen und sozialen Aufstiegs. Individueller Eigennutz und ideologische Überzeugung standen dadurch in einem andauernden Aushandlungsprozess. Schienen diese anfänglich noch weitgehend deckungsgleich zu sein, taten sich im weiteren Verlauf und Ende der 1930er Jahre deutliche Divergenzen zwischen diesen Aspekten auf. Damit schwand für viele SA-Männer die Opportunität der Gemeinschaftszugehörigkeit, weshalb sie schließlich die ›Moor-SA‹ verließen – auch ohne dass sie ihre ideologische Zustimmung zum Lagerprojekt deshalb aufgeben mussten.

3. Ende der inneren Kolonisierung. Unterordnung des Kultivierungsprojekts unter die Kriegswirtschaft Die gesteigerte Bedeutung, die dem Siedlungsprojekt durch Görings »Emsland-Erlass« und den mehrfachen Lagerausbau zukam, spiegelte sich in einer nochmals intensivierten Presseberichterstattung auch durch Zeitungen außerhalb des Emslands wider. Aufgrund des nun größeren Erfolgsdrucks traten jedoch auch Konflikte zwischen den beteiligten Instanzen zutage. Das Ausbleiben der Übernahme der südlichen Emslandlager durch die Justizverwaltung bedeutete auch für das Kultivierungsprojekt einen herben Rückschlag. Die Realisierung von Siedlerstellen, die den SA-Männern versprochen worden waren, verzögerte sich immer wieder. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Kultivierungsarbeiten schließlich den Erfordernissen der Kriegswirtschaft konsequent untergeordnet, sodass das Siedlungsprojekt zum Erliegen kam.

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»Großbeginn der Emslandkultivierung«. Berichterstattung über den Lagerausbau

Der Ausbau der Strafgefangenenlager seit 1937 wurde erneut von propagandistischen Berichten der regionalen Tagespresse begleitet. Noch bevor die Einbeziehung der Emslandkultivierung in den Vierjahresplan offiziell geworden war, verkündete die »Ems-Zeitung«:

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Neue Volksblätter, 10. 8. 1938.

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322 Wenn der Ministerpräsident Generaloberst Göring […] sagte, daß das gesteckte Ziel bereits in zwei Jahren erreicht werden müsse, und wenn er jetzt Reichsminister Kerrl mit den oben genannten Aufgaben betraut hat, dann darf man die Gewißheit haben, daß in wenigen Jahren das Emsland seinen Dornröschen-Schlaf ausgeträumt haben wird.183 Als das »Osnabrücker Tageblatt« im April 1937 in einem ganzseitigen Artikel über die »Eroberung einer Provinz« berichtete, wurde darauf verwiesen, dass dafür »rund 100.000 Hektar Ödlandflächen an Heide und Moor erschlossen werden müssen«, während die Kultivierung der Pontinischen Sümpfe durch das faschistische Italien »sich nur auf eine Fläche von 75.000 Hektar erstreckt.«184 Auch die »Ems-Zeitung« überschrieb im August des gleichen Jahres einen längeren Artikel mit »SA schafft Bauerndörfer im Emsland – Kultivierungsarbeiten in Deutschlands Pontinischen Sümpfen«. Dabei wurde gleich mehrmals die Zuschreibung der SA-Männer als Pioniere der Emslanderschließung aufgegriffen: Etwa 40 gesunde Bauernfamilien konnten bis heute in dem durch den Pionierdienst der Emsland-SA erschlossenen Neuland auf eigener Scholle angesiedelt werden. Zwei geschlossene Bauerndörfer [grüßen] heute da, wo einst unwirtliches Moor sich erstreckte. Diese neu geschaffene Siedlung ist das Werk der Männer der Pionierstandarte der SA-Gruppe Nordsee.185 Die hier behaupteten Erfolge waren allerdings maßlos übertrieben. Inzwischen waren elf Siedlerstellen in der Siedlung A entstanden, die sich zwischen den Lagern Börgermoor und Aschendorfermoor befand. Ein zweiter Siedlungskern mit neun Höfen entstand südlich des Küstenkanals, womit die Hälfte der behaupteten Siedlerzahl zutreffend war.186 Auch die intensive Beschäftigung von Raumplanern mit dem Emsland war wiederholt Gegenstand von Presseberichten. Die Publikation des Bezirksplaners Richard Hugle über die »Neubildung deutschen Bauerntums im Emsland«, in der er detailliert die Planungen zur Besiedlung der Moorflächen beim Lager Brual-Rhede beschrieb, wurde in einem mehrseitigen Artikel des »Osnabrücker Tageblatts« vorgestellt.187 EZ, 23. 12. 1936. Osnabrücker Tageblatt, 24. 4. 1937. 185 EZ, 20. 8. 1937. 186 Vgl. EZ, 7. 7. 1937 u. Bruno Lievenbrück: Die Besiedlung der rechtsemsischen Moorgebiete, in: Geographische Kommission für Westfalen (Hg.): Westfalen und Niederdeutschland. Festschrift 40 Jahre Geographische Kommission für Westfalen, Band I: Beiträge zur speziellen Landesforschung, Münster 1977, S. 71–97, hier: 91–93. 187 Vgl. Osnabrücker Tageblatt, 15. 12. 1937 und Hugle: Neubildung. 183 184

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323 Über den Neubau der südlichen Emslandlager wurde schließlich anlässlich des Richtfestes der Lagerbauten im August 1938 durch verschiedene Zeitungen berichtet. Der Abzug des RAD und die Rolle der Strafgefangenen wurden hierbei weitgehend ausgespart – in den Osnabrücker »Neuen Volksblättern« hieß es lediglich, dass nun »die Kultivierungsarbeit mit einem Einsatz von 20 000 voll in Betrieb genommen werden« könne.188 Die »Ems-Zeitung« erwähnte zumindest den Einsatz von Strafgefangenen. Trotz der zu diesem Zeitpunkt wirksamen Suspendierung Schäfers wurde den Wachmannschaften hingegen eine zentrale Rolle zugedacht: Plötzlich erscholl vom Ehrensturm und von den Wachtmannschaften her das Kommando ›stillgestanden‹, die Wachtmänner präsentierten das Gewehr, und unter den Klängen des Musikzuges der Kommandantur schritten Reichsjustizminist. Dr. Gürtner und Staats- und Finanzminister Prof. Dr. Popitz die Front ab.189 Zu diesem Anlass waren nach Zeitungsangaben 4.000 bis 5.000 Gäste erschienen, unter ihnen »Ministerpräsident Joel als Vertreter des Gauleiters Röver, Vertreter der beteiligten Ministerien und zuständigen preußischen Verwaltungsbehörden, der Partei, der Gliederungen und der Wehrmacht.«190 Die anschließende Feier folgte dann der bereits mehrfach durch die ›Moor-SA‹ erprobten Choreographie: Nachdem der offizielle Teil des Richtfestes vorbei war, begann in der Gemeinschaftshalle und in den Zelten die Richtfeier in traditioneller Weise. Eine gute Erbsensuppe mundete allen Gästen vorzüglich und sorgte mit dafür, daß anschließend dem kühlen Bier gut zugesprochen wurde. Der Musikzug der Kommandantur gab gute Unterhaltungsmusik, und die Tausende blieben noch viele Stunden in echter Volksgemeinschaft zusammen.191 In der Berichterstattung wurde auch die Gesamtdimension der angestrebten Kultivierung verdeutlicht. Der Redakteur griff dazu erneut das Berning’sche Dornröschenzitat auf und betonte, dass es vor allem die Emsländer selbst seien, die vom Siedlungsprojekt profitieren würden: In 10 Jahren sollen die emsländischen Moore erschlossen sein, eine kurze Spanne Zeit, wenn man dagegen die Jahrhunderte rechnet, wo dieser Boden brach lag. Die 4 bis 5000 Erbhöfe werden für immer ein Zeugnis ablegen, wie das dritte Reich das Emsland aus seinem Dornröschenschlaf erweckt hat zum Nutzen unNeue Volksblätter, 10. 8. 1938. EZ, 10. 8. 1938. 190 Ebd. 191 Ebd. 188 189

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324 serer engeren Heimat und darüber hinaus zum Wohle des gesamten deutschen Volkes.192 Die Übernahme der neuen Lager durch die ›Moor-SA‹ unterblieb zwar ebenso wie die damit verbundene Großaufstellung des Siedlungsprojekts. Die Berichterstattung über die vermeintlichen Kultivierungserfolge und die Bedeutung der ›MoorSA‹ wurde hingegen auch in den folgenden Jahren fortgesetzt.193

Konflikte zwischen den beteiligten Instanzen Die euphorischen Berichte kaschierten jedoch, dass sich bereits kurz nach Beginn des Lagerausbaus hinter den Kulissen die Konflikte zwischen den beteiligten Instanzen verschärft hatten. Die Rf R war zwar offiziell mit der Koordinierung der Kultivierungsarbeiten betraut worden, jedoch ging deren Interesse über die Planungstätigkeit kaum hinaus. Personal, das die Umsetzung dieser Pläne betreut hätte, war nicht vorhanden und wurde auch nicht eingeplant. Eine wirksame Kontrolle über das Siedlungsprojekt konnte die Reichsstelle daher nie erlangen. Bereits im September 1937 reagierte Bezirksplaner Hugle sichtbar gereizt, nachdem sich eine Abordnung der Rf R stärker für zukünftige Prestigezuschreibungen als für die aktuellen Probleme bei der Planerstellung interessiert hatte. Erstaunlich offen schrieb er an Regierungspräsident Eggers: Bezeichnenderweise hat man sich bei dieser ›Besichtigungsreise‹ wieder einmal über den Staatsakt bei der Uebergabe des Emslandes unterhalten und will versuchen, wenn z. B. Walchum-Sustrum im Jahre 1939 z. T. besiedelt werden soll, die Strafgefangenen diskret im Hintergrund zu halten und den Arbeitsdienst vorübergehend aufmarschieren zu lassen, damit die Ehre und der Ruhm gewisser Herren gewahrt bleibt.194 Die vollmundige Ankündigung einer beschleunigten Emslandkultivierung generierte zwar eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Siedlungsprojekt, erhöhte aber gleichzeitig auch den Druck, entsprechende Kultivierungserfolge auch vorweisen

Ebd. Vgl. EZ, 28. 11. 1938, 24. 2. 1939, 12./13. 8. 1939, 6. 12. 1939, 15. 5. 1940 u. 21. 11. 1941. 194 Schreiben 2. 9. 1937, in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 48. Auf ein enges Verhältnis zwischen Eggers und seinem Bezirksplaner deutet hin, dass Hugle seine Detailplanungen zu Brual-Rhede dem im Oktober 1937 verstorbenen Regierungspräsidenten als »Vorkämpfer für die Erschließung des Emslandes« widmete (Hugle: Neubildung, S 2). Eggers wiederum hatte noch das Geleitwort zu dieser Publikation verfasst. 192 193

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325 zu können. In der Planung bestanden weiterhin utopische Annahmen bezüglich der Zahl einsatzfähiger Strafgefangener und ihres Arbeitspensums, das ab 1938 in mehreren Schritten von 10 auf 25 m2 Erdbewegung heraufgesetzt wurde.195 Die beteiligten Instanzen gaben sich der Illusion hin, diese bloße Änderung von Vorgaben würde zu zeitnahen, greifbaren Ergebnissen führen, wie der Besuch der Rf R-Delegation zeigt. Trotz ihrer inzwischen mehrjährigen Erfahrung befasste sich keine der beteiligten Institutionen mit der Frage, wie Planungsannahmen und Arbeitseinsatz übereinstimmen sollten. Darin lag ihr eigentlicher Dilettantismus. Da sich die Planungsannahmen real nicht erfüllen konnten, versuchten die lokalen Behörden nun herauszustellen, dass dies nicht ihr Verschulden war. Die Kulturbauleitung bemängelte im Sommer 1938 mehrfach die Arbeitsleistung der Gefangenen und schlug vor, ein Anreizsystem aus Belohnung und Strafen zu schaffen, wobei hier im Gegensatz zum Januar 1940 noch keine allgemeine Prügelstrafe eingefordert wurde.196 Die Verantwortlichkeit für das Zurückbleiben hinter den angesetzten Tagespensen wurde den Justizbeamten zugeschrieben: »Im allgemeinen kann gesagt werden, daß die Lagerleitung von sich aus nichts oder zu wenig unternimmt, um die Gefangenen zur Arbeit anzuhalten.« Erst wenn die Kulturbauleitung sie dränge, »auf die Gefangenen entsprechend einzuwirken, steigt die Arbeitsleistung vorübergehend für einige Tage um dann sofort wieder abzusinken.«197 Wiederholt beklagten sich Kulturbauleitung und Mooradministration auch darüber, dass Häftlingskontingente entweder nicht vorhanden waren oder anderen Stellen zugeteilt wurden. Bereits im März 1938 beschwerte sich Wirtschaftsdirektor Holland beim Regierungspräsidenten, da »Gefangene dauernd nach Papenburg geschickt wurden, wo sie die Gärten der Angestellten der Zentralverwaltung und der Wachtmeister bearbeiteten.«198 Im Juli 1938 wurden erstmals Häftlinge der Lager in größerem Umfang für privatwirtschaftliche Arbeiten eingesetzt. Aufgrund der Erweiterung des Schießplatzes der Firma Krupp bei Meppen musste das Dorf Wahn mit rund 1.000 Einwohnern umgesiedelt werden. Daher erhielt die Reichsumsiedlungsgesellschaft mbH (Ruges) den Auftrag, die Einwohner in Rastdorf, südöstlich von Esterwegen, neu anzusiedeln. Die Justizverwaltung regelte mit der Ruges vertraglich, dass täglich bis zu 450 Strafgefangene bei einem täglichen Arbeitslohn von je 3 RM für die dort nötigen Kultivierungsarbeiten zur Verfügung gestellt werden sollten. Dieser Vertrag sollte für die spätere Beschäftigung von Strafgefangenen für die Kriegswirtschaft Modellcharakter haben, wurde zunächst jedoch unter der Maßgabe ge-

Vgl. Buck: Esterwegen, S. 231. Vgl. Schreiben 23. 5. 1938, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. 197 Kulturbauleitung Aschendorfermoor, 13. 7. 1938, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. 198 Direktor Moorverwaltung an Regierungspräsident Osnabrück, in: NLA Osnabrück Rep 430 Dez 501 Akz 15 /65 Nr. 43 Bd. 1a. 195 196

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326 schlossen, dass die Häftlingskontingente für Kultivierungsarbeiten davon nicht beeinträchtigt würden.199 Die Kulturbauleitung beschwerte sich jedoch umgehend, dass ihr entgegen der Absprachen täglich rund 100 Gefangene fehlten, und drohte sogar damit, im Gegenzug Häftlinge aus der Produktion von Brenntorf für das Lager herauszuziehen. Baurat Sagemüller bekräftigte diese Drohung im Oktober nochmals, letztlich blieb sie jedoch folgenlos.200 Auch Wirtschaftsdirektor Holland von der staatlichen Moorverwaltung beklagte sich, dass der Vorstand der Strafgefangenenlager ihm durch die Arbeit für die Ruges Gefangenenkontingente vorenthielt. Zur gleichen Zeit beschwerte er sich aber auch über die Kulturbauleitung Börgermoor, die der Moorverwaltung 50 Arbeitskräfte »weggenommen« habe.201 Zum einen zeigen diese Beschwerden der lokalen Behörden, wie der beginnende Einsatz von Strafgefangenen für die Erfordernisse der Kriegswirtschaft – denn nichts anderes bedeuteten die durch die Schießplatzerweiterung notwendig gewordenen Arbeiten – mit den Vorgaben einer beschleunigten Emslandkultivierung in der Praxis kollidierte. Zum anderen weisen die mitlaufenden Beschwerden über den Vorstand der Strafgefangenenlager darauf hin, wie das Kulturbauamt und die staatliche Moorverwaltung das Machtvakuum während Schäfers Suspendierung zu nutzen versuchten, um den eigenen Zugriff auf die Strafgefangenen zu verstärken. Nach seiner Rückkehr verdeutlichte Schäfer seine Machtfülle jedoch umgehend. Zunächst bat er Sagemüller und Holland betont freundlich um ein Treffen: »Ich habe das Bedürfnis nach meiner Wiedereinsetzung mit Ihnen bei passender Gelegenheit über den Einsatz der Strafgefangenen zu sprechen.«202 Kaum einen Monat später stellte er jedoch klar, dass die Zuständigkeit für das Stellen der Arbeitskommandos ausschließlich bei SA-Führern der Wachmannschaften lag: »Ich setze Sie davon in Kenntnis, dass in Zukunft die Anforderung von Strafgefangenen zum Einsatz nur bei den jeweiligen Wacheinheitsführern zu erfolgen hat.« Damit schaltete Schäfer die Einflussnahme sowohl der verbeamteten Lagervorsteher als auch von Kulturbauleitung und Moorverwaltung aus, zumal auch etwaige Beschwerden »direkt mit den Wacheinheitsführern« zu klären seien.203 Wenig später wurde den zivilen Behörden untersagt, angeforderte Arbeitskommandos auf den Arbeitsstellen weiter zu unterteilen. Schäfer forderte zudem, dass sich die Arbeitsanweiser gegenüber den SA-Kommandoführern ausweisen soll-

Vgl. Bührmann-Peters: Ziviler Strafvollzug, S. 212–214 u. Buck: Lageralltag, S. 109. Vgl. Kulturbauleitung Esterwegen, 11. 8. 1938, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288 u. Baurat Sagemüller, 24. 10. 1938, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 315. 201 Direktor Moorverwaltung, 30. 11. 1938, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. 202 KmSGL an Kulturbaurat Meppen, 5. 12. 1938, in: ebd. 203 KmSGL an Kulturbaurat Meppen, 4. 1. 1939, in: ebd.

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327 ten, und beklagte vereinzelt sogar die Schikanierung von Strafgefangenen durch zivile Vorarbeiter.204 Als der Vorsteher des Lagers III berichtete, die Kulturbauleitung Rhederfeld habe »245 Tagewerke der Zollverwaltung zum Ausschachten von neu zu errichtenden Zollhäusern abgegeben«,205 womit diese ihrerseits die Kultivierungsarbeiten unterlaufen hatte, griff Schäfer dies bereitwillig auf und fragte seinerseits süffisant beim Kulturbauamt Meppen nach, »auf Grund welcher höheren Anordnung die Gefangenen zu den vorstehend genannten Arbeiten herangezogen werden sollten.«206 Die Beschwerden von Kulturbauamt und Mooradministration brachen daraufhin nicht ab, sondern sollten sich mit dem zunehmenden Einsatz der Gefangenen für andere Aufgaben noch häufen. Denn bereits im März 1939 arbeiteten weitere Gefangenenkontingente beim Bau des Dortmund-Ems-Seitenkanals, der Herrichtung eines Flugplatzes für die Firma Krupp in Meppen und bei Bauarbeiten der Meppener Kreisbahn.207 Die Rolle der ›Moor-SA‹ wurde hierbei aber nicht mehr hinterfragt. Dafür wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass die dünne Personaldecke der Wachmannschaften dazu führte, dass die Arbeitskommandos enger zusammenstehen mussten und dadurch weniger effizient arbeiten konnten.208 In einer konzentrierten Beschwerdeaktion über den neuen Osnabrücker Regierungspräsidenten Rodenberg wurde schließlich sogar gefordert, die Personalstärke der Wachmannschaften auf 2.500 deutlich zu erhöhen. Rodenberg bemängelte, dass »in der letzten Zeit Gefangene bei Unternehmungen eingesetzt sind, die früher ohne diese gearbeitet haben.« Vor diesem Hintergrund meinte er: [S]o kann ich nicht umhin, für die Erschliessung des Emslandes im Hinblick auf den Vierjahresplan zu fordern, dass der als vielleicht möglich zunächst in Aussicht gestellte Höchstsatz von 12600 Strafgefangenen unter allen Umständen zur Verfügung gestellt […] wird. Dabei gehe ich von der Voraussetzung aus, dass diese an sich viel zu geringe Einsatzstärke binnen kurzem auf das Soll von 20000 Strafgefangene gebracht wird.209 Aufgrund des Bedeutungsverlusts, den das Lagerprojekt für die Justizverwaltung zu dieser Zeit bereits durchlief, fanden diese Forderungen jedoch kein Gehör. Das RJM weigerte sich inzwischen auf Weisung Gürtners grundsätzlich, konkrete Zah-

204 205 206 207 208 209

Vgl. KmSGL an Kulturbaurat Meppen, 21. 4. 1939, 27. 5. 1939 u. 26. 7. 1939, in: ebd. Vorsteher Lager III, 25. 5. 1939, in: ebd. KmSGL an Kulturbauamt Meppen, 30. 5. 1939, in: ebd. KW I, S. 832. Kulturbaurat an KmSGL, 18. 1. 1939 und Kulturbauleitung Neusustrum an Kulturbauamt Meppen, 2. 6. 1939, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. Regierungspräsident Osnabrück an RMEL, 20. 3. 1939, in: KW I, S. 831–834, hier: 831.

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328 len zur künftigen Entsendung von Strafgefangenen ins Emsland zu nennen.210 Wenige Monate später waren die Pläne einer groß angelegten Emslandkultivierung durch Strafgefangene ohnehin hinfällig geworden, da die sieben südlichen Lager und Oberlangen an die Wehrmacht überstellt wurden. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen und Beschwerden über nicht gestellte Häftlingskontingente, die angebliche Bevorzugung anderer Instanzen und die im Arbeitseinsatz unzureichende Bewachungssituation sollten jedoch bis zur Einstellung des Kultivierungsprojekts fortdauern.211

Das Ausbleiben der Siedlerstellen Die zunehmende Diskrepanz zwischen den wiederholten Ankündigungen, das Siedlungsprojekt nun wirklich zügig umzusetzen, einerseits und den Verzögerungen  – und dem letztlichen Ausbleiben  – des Lagerausbaus, nicht gestellten Häftlingskontingenten und Friktionen zwischen den beteiligten Instanzen andererseits erlebten die Wachmänner in ihrem Dienstalltag unmittelbar. Besonders deutlich wurde dies am Ausbleiben der von Beginn an versprochenen Siedlerstellen für SA-Männer, die den symbolischen Kern des Gemeinschaftsversprechens der ›Moor-SA‹ darstellten. Kurz nach der Einbeziehung in den Vierjahresplan wurde im März 1937 beschlossen, insgesamt 23 Siedlerstellen bei Walchum »möglichst schnell fertig zu stellen«, für die erstmals auch 17 Wachmänner berücksichtigt werden sollten. Die SA-Männer sollten schon »vom Frühjahr 1938 ab […] die landwirtschaftlichen Arbeiten selbst ausführen« und im Herbst 1939 ihre Höfe beziehen.212 Ein Jahr später waren diese Stellen noch nicht vorhanden, doch kursierten nun Gerüchte, dass im Zuge der Meppener Schießplatzerweiterung darauf ebenfalls Einwohner aus Wahn angesiedelt werden sollten. Generalstaatsanwalt Semler kritisierte diese angeblichen Pläne, die mitten im Schäfer-Verfahren bekannt wurden, mit Nachdruck: »Dieses Vorhaben würde erneut eine schwere Enttäuschung der Wachttruppe bedeuten. Ich bitte daher, sich dafür einsetzen zu wollen, dass die am 10. März 1937 bindend abgegebenen Versprechungen auch eingehalten werden.«213 Das Landwirtschaftsministerium bekräftigte daraufhin, zu der ursprünglichen Vereinbarung stehen zu wollen.214 Im September 1938 wurden unter den Wachmännern Bewerber für jetzt 18 Neu-

Vgl. ebd., S. 828. Vgl. NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. 212 Beide Zitate: Vermerk zu Besprechungen vom 10. – 12. 3. 1937, in: Angelegenheiten III. 213 Generalstaatsanwalt Hamm an RJM, 21. 4. 1938, in: ebd. 214 Vgl. RMEL, 13. 5. 1938, in: ebd. 210 211

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329 bauernstellen gesucht, jedoch war deren Finanzierung noch völlig unklar.215 Anderthalb Jahre später bestanden die Stellen immer noch nicht; zuletzt hatte sich der Bau der Höfe durch Baustoffmangel verzögert. Zudem errechnete die OSAF, dass bei einem Kaufpreis von 22.500 RM, 7.000 RM Inventarkosten und 1.000 RM veranschlagtem Betriebskapital mindestens 7.250 RM durch jeden Siedler selbst aufzubringen waren. Neben der Treueprämie müssten die Wachmänner noch etwa 6.000 RM Eigenkapital zuschießen, über das sie natürlich nicht verfügten. Die OSAF schlug der Justizverwaltung daher vor, den ausstehenden Betrag jeweils zur Hälfte beizusteuern, da das Ministerium das 1934 gegebene Siedlungsversprechen nicht zurücknehmen wolle und könne. Zudem wies sie darauf hin, »dass die Wehrmacht ihren langgedienten Soldaten, wenn sie einen Erbhof übernehmen sollen, ebenfalls ein wesentlich höheres Entlassungsgeld zahlt.«216 Nach einiger Bedenkzeit stimmte die Justizverwaltung diesem Vorschlag zu; Rudolf Marx wandte sich mit der nahezu gleichen Argumentation an das Finanzministerium. Dieses beschied im Juni 1940 jedoch knapp, dass es einer »Gewährung von Beihilfen der gedachten Art aus Justizmitteln nicht zustimmen« könne, da solche Mittel im Haushalt nicht vorgesehen seien.217 Nachdem die Frage der Finanzierung von SA-Siedlerstellen über sechs Jahre ignoriert worden war, scheiterte sie damit schließlich schon im Ansatz und mit ihr auch das Siedlungsversprechen. Zudem verteuerten sich die Siedlerstellen aufgrund von Materialknappheit immens, 1941 waren allein die Baukosten auf rund 40.000 RM gestiegen.218 Selbst wenn SA und Justiz eine Regelung gefunden hätten, wäre deren Erfolg demnach mehr als fraglich gewesen. Sollten sich einzelne Wachmänner nach diesen Entwicklungen noch immer Hoffnungen auf eine Siedlerstelle gemacht haben, mussten sich diese spätestens mit dem Stopp der Kultivierungsarbeiten im Februar 1941 zerschlagen. Seit der Machtübernahme waren auf den Staatsgebieten damit – zählt man die 75 de facto zuvor entstandenen Stellen in Hilkenbrook nicht mit  – ganze 25 Siedlerstellen entstanden, davon 20 in der Siedlung A. Lediglich fünf Siedlerstellen bei Walchum waren seit 1933 vollständig neu entstanden, und auch diese waren nicht an SA-Männer vergeben worden. Weitere 21 Gehöfte waren bereits errichtet, wurden aber noch von den Erschließungsbehörden als Verwaltungsgebäude genutzt. Inzwischen hatte sich zudem herausgestellt, dass die geplante Stellengröße von 10 bis 15 Hektar für Neusiedler nicht mehr tragfähig war und stattdessen 20 bis 25 Hektar veranschlagt werden mussten. Dass sich damit auch ein zukünftiges »Endergeb-

Vgl. KW I, S. 780–789. OSAF an RJM, 18. 4. 1940, in: ebd., S. 880–882, hier: 881. 217 Schreiben 17. 6. 1940, in: ebd., S. 884. Vgl. auch ebd., S. 879–884. 218 Hugle, 25. 8. 1941, in: NLA Osnabrück Rep 430 Dez 108 Akz 26 /73 Nr. 412. 215 216

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330 nis der emsländischen Neubildung deutschen Bauerntums entsprechend« verringern würde, blieb nur noch eine Randnotiz.219 Abgesehen von einem im Herbst 1941 lancierten ›Geheimbericht‹ über die Pionierstandarte vermochten Schäfer und seine SA-Führer daraufhin nicht weiter aktiv zu werden. Im bekannten Duktus wurde darin die ›Leistung‹ der SA-Männer hervorgehoben, an das Siedlungsversprechen erinnert und schließlich die Frage nach der Zukunft der ›Moor-SA‹ gestellt. Man sei »über die Ausfüllung von Siedlerfragebogen« kaum hinausgekommen: »Offenbar scheitert die Ansiedlung der SA-Männer daran, daß sie kein Eigenkapital besitzen; das Einzige, was sie sich nicht haben schaffen können.« Abschließend wurde noch einmal der »ungebrochene Wille« der SA-Männer zur Erfüllung ihrer Aufgabe betont: »Daran hat auch das Gefühl nichts ändern können, sozusagen – vom persönlichen Standpunkt aus gesehen – auf verlorenem Posten in der Einsamkeit zu stehen. Hier offenbart sich nun der alte SA-Geist, der nicht nach dem eigenen Vorteil fragt.«220 Ungewohnt offen klingt hier die allmähliche Desillusionierung der SA-Männer an, zumal die Frage nach dem eigenen Vorteil der SA-Männer entgegen allen Bekundungen sowohl hier als auch durch die SA-Männer selbst inzwischen offen gestellt wurde. Ende der 1930er Jahre hätte dieser Bericht sicher noch eine gewisse Resonanz entfaltet. Nun allerdings verhallten die Forderungen nach Zugeständnissen für die ›Moor-SA‹, ohne irgendeine nachvollziehbare Reaktion auszulösen. Nicht nur für die Justizverwaltung, sondern auch für die anderen beteiligten Instanzen wie die Rf R, das RMEL und letztlich auch die SA hatten das Siedlungsprojekt und die Strafgefangenenlager inzwischen ihre Bedeutung eingebüßt. Werner Schäfer konnte zu diesem Zeitpunkt keine Beziehungen mehr spielen lassen, keine Seilschaften aktivieren und auch keine Presseberichte initiieren. Der verzweifelte Versuch, über einen geheimen Bericht ohne direkten Adressaten oder konkrete Forderungen die Ansprüche der ›Moor-SA‹ vorzubringen, verdeutlicht vielleicht mehr als alles andere, wie umfassend Einfluss und Hebelkräfte des Kommandeurs weggebrochen waren, der sich nur noch im regionalen Kontext durchsetzen konnte.

Das Ende des Siedlungsprojekts Nach dem deutschen Überfall auf Polen waren die Streitigkeiten um das Vorantreiben des Siedlungsprojekts schlagartig verstummt. Durch die Übernahme der nun fertiggestellten südlichen Emslandlager und Oberlangens durch die Wehrmacht wurden Fakten geschaffen, die das Problem der Überstellung weiterer Strafgefan219 220

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Ebd. Sämtliche Zitate: Geheimbericht: Die SA-Standarte Pionier 10 »Emsland«, in: KW I, S. 884–890, hier: 889. Hervorhebungen im Original. Abstieg

331 gener ins Emsland hinfällig machten. Zudem entstand mit den wehrmachtsgerichtlich Verurteilten eine neue Häftlingsgruppe, die bevorzugt den harten Haftbedingungen der Emslandlager ausgesetzt wurde. Diese Häftlinge wurden nun nicht mehr auf ihre ›Moorfähigkeit‹ geprüft, sondern pauschal als einsatzfähig angesehen. Das Siedlungsprojekt wurde jedoch nicht als ›kriegswichtig‹ eingestuft, weshalb es sukzessive den unmittelbaren Erfordernissen der Kriegsökonomie weichen musste.221 Waren Strafgefangene bereits seit 1936 für Erntearbeiten herangezogen und ab 1938 mit den Arbeiten für die Ruges beziehungsweise ab 1939 für Bauprojekte in weiteren Arbeitsbereichen eingesetzt worden, wurde der Gefangeneneinsatz in der Privatwirtschaft nach Kriegsbeginn nochmals intensiviert. Die Einnahmen der Justizverwaltung dadurch waren von Beginn an nicht unerheblich. Unternehmen zahlten pro Arbeitstag eines Strafgefangenen meistens 3 RM, teilweise auch bis zu 5 RM, sodass bereits 1939 eine Gesamtsumme von rund 530.000 RM zusammenkam; 1940 waren es 675.000 RM. Berücksichtigt man, dass für die nun weggefallenen Lager VI, IX und X im Vorjahr noch Einnahmen von 93.000 RM verzeichnet wurden, bedeutet dies einen weiteren Anstieg um 54 Prozent. Das größte Kontingent an Gefangenen bezog weiterhin die Ruges mit rund 88.000 Gefangenenarbeitstagen für 1940. Ein weiterer großer Posten waren Bauarbeiten verschiedenster Art – vom Kanalbau bis zur Errichtung von landwirtschaftlichen Gebäuden – mit zusammen nahezu 64.000 Arbeitstagen. Weit dahinter folgten Verladearbeiten im Papenburger Hafen mit 8.000 Arbeitstagen, Erntearbeiten bei privaten Landwirten mit 5.600 Arbeitstagen sowie Gießereiarbeiten für die Firma Höveler und Dieckhaus mit 5.200 Gefangenenarbeitstagen.222 Zunächst wurden damit aber nur etwa 10–15 Prozent der arbeitsfähigen Gefangenen außerhalb des Kultivierungsprojekts eingesetzt. Allerdings zeigte sich das Zurücktreten der Kultivierungsarbeiten hinter kriegswirtschaftliche Belange auch darin, dass innerhalb des Siedlungsprojekts die Kultivierung zugunsten einer landwirtschaftlichen Bewirtschaftung bereits erschlossener Flächen verringert wurde. Die kriegswirtschaftliche Verlagerung der Gefangenenarbeit ist dabei anfänglich nicht mit einem direkten Einsatz für Rüstungsbetriebe gleichzusetzen, sondern bedeutete vorerst die Kompensation des Arbeitskräfteausfalls aufgrund der Einberufung emsländischer Männer zum Kriegsdienst.223 Die langfristigen Kultivierungsziele traten damit schon zu Beginn des Krieges hinter die unmittelbaren wirtschaftlichen Erfordernisse zurück. Diese Entwicklung wurde von einem massiven Bedeutungsverlust begleitet, den das Siedlungsprojekt bei nahezu sämtlichen beteiligten Instanzen durchlief. Für die Justizverwaltung Vgl. Bührmann-Peters: Strafvollzug, S. 24 u. 200 f. Vgl. Beauftragter an RJM, 15. 8. 1941, in: KW I, S. 921–932. 223 Vgl. grundlegend Bührmann-Peters: Strafvollzug, S. 198–275. 221 222

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332 war nun die Indienststellung der Gefangenenarbeit für Kriegsbelange von zentralem Interesse – auch um weiteren Forderungen nach einer Abtretung von Strafgefangenen an die SS zu begegnen.224 Die Idee einer ›inneren Kolonisierung‹ wurde durch die eroberten Ostgebiete praktisch bedeutungslos. Sowohl Raumplaner als auch wesentliche Staats- und Parteiinstitutionen befassten sich jetzt mit einer völkischen Siedlungspolitik mit dem Ziel einer Germanisierung Ost- und Mitteleuropas. Auch die Rf R wandte sich als teils selbstlegitimatorische Maßnahme nun vorrangig den besetzten Ostgebieten zu – ihr hatte zwischenzeitlich als kriegsbedingte Rationalisierungsmaßnahme die Auflösung gedroht.225 War das Emsland in den 1930er Jahren als ›grenzenloser‹ Planungsraum erschienen, verblasste dies im Verhältnis zu den eroberten Territorien, die den Planern nun ein Experimentierfeld boten, das von jeglichen rechtlichen und sozialen Hemmnissen entbunden war. Zur Emslandplanung bestanden dabei personelle Verknüpfungen – beispielsweise über Konrad Meyer-Hetling als Leiter der RAG und Herausgeber des Emsland-Doppelheftes der Zeitschrift »Raumforschung und Raumordnung« oder Gerhard Isenberg, der das emsländische Siedlungsprojekt mit seinen statistischen Datenerhebungen untermauert hatte. Isenberg entwickelte das Konzept der Tragfähigkeitsberechnung, das gemeinsam mit Walter Christallers Modell der zentralen Orte zur theoretischen Grundlage der deutschen Ostraumplanung werden sollte.226 Meyer-Hetling wurde 1939 Leiter der Planungsabteilung beim Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums und war von 1940 an maßgeblich an der Ausarbeitung mehrerer Varianten des »Generalplan Ost« beteiligt. Diese bildeten die Basis der Siedlungs- und Germanisierungsplanungen für die eroberten Gebiete in Mittel- und Osteuropa und waren untrennbar mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik verbunden.227 Die Oberste SA-Führung wiederum hatte bereits seit 1937 versucht, weitere Projekte der ›inneren Kolonisierung‹ zu initiieren und 1938 die Stelle eines »BeVgl. Nikolaus Wachsmann: Strafvollzug und Zwangsarbeit im Dritten Reich, in: Helmut Kramer / Karsten Uhl / Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz, Nordhausen 2007, S. 32–47, hier: 39. 225 Vgl. Leendertz, Ordnung, S. 143–186. 226 Vgl. Gerhard Isenberg: Die Tragfähigkeit des deutschen Ostens an landwirtschaftlicher und gewerblicher Bevölkerung, Leipzig 1941. Zum Modell der zentralen Orte vgl. Karl R. Kegler: Deutsche Raumplanung. Das Modell der »Zentralen Orte« zwischen NS-Staat und Bundesrepublik, Paderborn 2015. 227 Vgl. nur ausschnittweise aus der umfassenden Forschungsliteratur: Isabel Heinemann: »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003; Czesław Madajczyk (Hg.): Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan. Dokumente, München 1994; Götz Aly / Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a. M. 1993 und Bruno Wasser: Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940–1944, Basel 1993. 224

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333 auftragten des Stabschefs für Neubauernsiedlungen und Volkstumsfragen« geschaffen. Über diese Stelle versuchte auch die SA im Zweiten Weltkrieg, in den besetzten Gebieten siedlungspolitisch aktiv zu werden. Auch wenn die tatsächlichen Ergebnisse mager ausfielen – statt der avisierten 50.000 SA-Männer wurden wohl nur 422 angesiedelt – und sich die SA auch hier nicht gegen Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums durchsetzen konnte, bedeutete dies trotzdem, dass das Siedlungsprojekt im Emsland auch für diese Instanz seine Bedeutung verlor.228 Ähnliches gilt für das RMEL und das Oberkommando der Wehrmacht (OKW), für die im ›Altreich‹ nun vor allem die unmittelbare Sicherung der Ernährungslage von Interesse war.229 Das Siedlungsprojekt im Emsland war nun nur noch für die regionalen Instanzen von Interesse. Nach Hitlers Befehl, die Moorkultivierung zu stoppen, wurden in kleinerem Umfang bereits entwässerte Flächen weiter kultiviert, bis das Siedlungsprojekt Mitte 1942 endgültig eingestellt wurde. Von den vormals beteiligten Reichsinstanzen sind keine Versuche bekannt, für eine Fortsetzung des Siedlungsprojekts einzutreten.230 Einzig Bezirksplaner Hugle bemühte sich vorsichtig, über die Gauleitung Weser-Ems und die Landesplanungsgemeinschaft Oldenburg-Bremen neuen Rückhalt in »unter den neuen Verhältnissen (Russlandbesetzung) anstehenden Fragen der Moorkultivierung, Siedlung, Torfabbau usw.« zu erhalten.231 Gemeinsam mit der Landesplanungsgemeinschaft dachte er an, die »Hinzuziehung bestimmter ausländischer Arbeitskräfte«, also von Zwangsarbeitern, vorzuschlagen; jedoch blieben dies Überlegungen.232 Wirtschaftsdirektor Holland beantragte nach der Einstellung des Siedlungsprojekts, Strafgefangene zumindest dann noch zur Moorkultivierung einsetzen zu dürfen, wenn periodisch freie Kapazitäten bestünden, wozu es jedoch nicht kam.233 Unterdessen waren die Reibereien zwischen der ›Moor-SA‹ und den lokalen Behörden keineswegs abgeebbt. Einzelne Vorarbeiter weigerten sich, die Anfang

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Vgl. zu den Siedlungsbestrebungen der OSAF Daniel Siemens: ›Sword and plough‹. Settling Nazi Stormtroopers in Eastern Europe, 1936–43, in: Journal of Genocide Research 19 (2017), S. 191–213. Siemens überzieht jedoch seine Argumentation, indem er die Siedlungsbestrebungen der SA im Zweiten Weltkrieg zum Bindeglied zwischen inneren Kolonisationsprojekten des Reichsnährstands in den 1930er Jahren und den Siedlungsprojekten der SS erklärt. Vgl. Joachim Hendel: Zivile Mobilmachung? Die Gründung der Ernährungsämter 1939 und ihr Bedeutungswandel im »totalen Krieg«, in: Oliver Werner (Hg.): Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der Kriegswirtschaft und der Verwaltung des ›Dritten Reiches‹ 1936 bis 1945, Paderborn u. a. 2013, S. 181–195. Vgl. Suhr: Emslandlager, S. 219. Betr. Emslandplanung, Juli 1941, in: NLA Osnabrück Rep 430 Dez 108 Akz 26 /73 Nr. 412. Landesplanungsgemeinschaft Oldenburg-Bremen, 11. 10. 1941, in: ebd. Vgl. Bührmann-Peters: Strafvollzug, S. 201.

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334 1940 angeordnete tägliche Beurteilung der Arbeitsleistung der Gefangenen vorzunehmen; der Wirtschaftsinspektor von Hilkenbrook beschwerte sich wiederum, dass sein Kultivierungsbetrieb »in der Gestellung von Gefangenen und Posten an letzter Stelle« stehe und deshalb oft Arbeitskommandos ausfielen.234 Als 1940 die Todesrate unter den Strafgefangenen zu steigen begann, schrieb Werner Schäfer am 1. Juli an das Wasserwirtschaftsamt: »Ich habe mich nach den Todesfällen der letzten Zeit davon überzeugen müssen, dass die Ernährung der Gefangenen zu der von ihnen geforderten Arbeitsleistung in keinem vernünftigen Verhältnis steht.« Er forderte, die Pausenzeiten um täglich eine halbe Stunde zu verlängern und das Arbeitspensum entsprechend abzusenken: »Wenn beides nicht Hand in Hand vor sich geht, werden meine pflichtgemäßen Bemühungen um die Erhaltung der Arbeitskraft der Gefangenen illusorisch gemacht.«235 Auch im Dezember 1940 setzte sich Schäfer scheinbar für die Strafgefangenen ein, als er sich bei Oberbaurat Sagemüller beschwerte: Es ist mir in letzter Zeit verschiedentlich gemeldet worden, daß Anweisearbeiter die Gefangenen mit einem Stock geschlagen haben. Ich möchte Sie bitten […] darauf hinzuweisen, daß ein derartiges Verhalten strafbar ist. Ich empfehle, sämtlichen Anweisern das Tragen von Stöcken zu verbieten.236 Angesichts der ungebrochen bestehenden Gewaltpraxis der ›Moor-SA‹, die Schäfer weiterhin überwiegend deckte, erscheint diese Beschwerde mehr als zynisch. Schäfer ging es hier nicht darum, die Gefangenen generell vor Misshandlungen zu schützen, sondern sicherzustellen, dass die Gewaltausübung in den Händen der Wachmänner blieb. In den Jahren zuvor war er nie gegen die häufige Beteiligung ziviler Vorarbeiter an Misshandlungen vorgegangen; das Schlagen mit Stöcken schien für ihn allerdings die Vormachtstellung der SA-Männer zu gefährden. Umgekehrt verdeutlicht diese Entwicklung, dass die lokalen Behörden die gewaltsame Überformung des Arbeitseinsatzes nicht nur guthießen, sondern an dieser auch vermehrt selbst teilhaben wollten. Dahingehend hatte Direktor Holland schon im Juli 1939 angeboten, die ›Kneiste‹ zu bewaffnen. Angesichts der fortschreitenden Einberufung von Wachleuten wurden ab 1943 tatsächlich Vorarbeiter, die ›gedient‹ hatten, von der Justizverwaltung bewaffnet.237 Auch bei Schäfers Forderungen, das geforderte Arbeitspensum abzusenken, ging es ihm – neben der »Erhaltung der Arbeitskraft« – wohl vor allem darum, den lo-

Schreiben vom 23. 7. 1940, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. Beide Zitate: KmSGL, 1. 7. 1940, in: ebd. 236 KmSGL, 17. 12. 1940, in: ebd. 237 Vgl. Bührmann-Peters: Strafvollzug, S. 206. 234 235

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335 kalen Behörden seine Machtstellung zu demonstrieren.238 Zumindest sind angesichts der 1941 und 1942 weiter steigenden Todeszahlen unter den Strafgefangenen keinerlei Versuche von ihm dokumentiert, dieser Entwicklung entgegenzutreten. Nach der Einstellung des Kultivierungsprojekts begann die Vormachtstellung der ›Moor-SA‹, die von den lokalen Behörden vorher schweigend anerkannt worden war, jedoch zu bröckeln. Zum achtjährigen Bestehen der SA-Wachmannschaften erschien im November 1941 in der »Ems-Zeitung« der Bericht »Moor-SA schafft neues Bauernland«, in dem ein SA-Führer die Kultivierungsleistungen zum »Verdienst jener 1300 SA-Männer, die hier zu Pionieren der Ernährungswirtschaft geworden sind«, erklärte.239 Der Osnabrücker Regierungspräsident bemängelte darauf die Vereinnahmung des Siedlungsprojekts durch die ›Moor-SA‹, die unter den Zivilarbeitern »eine starke Unruhe hervorgerufen« habe: So sehr ich Verständnis dafür habe, daß Sie bei der angespannten Ersatzlage eine Propaganda für den Eintritt in die ›Moor SA‹ nicht entbehren können, so würde ich es doch dankbar begrüßen, wenn Sie hierbei diejenige Zurückhaltung übten, die mit Rücksicht auf die zahlreichen nicht Ihrer Aufsicht unterstehenden Arbeitskräfte geboten ist.240 Dieser vorsichtigen Bitte wurde bei folgenden Berichten nicht entsprochen, auch weil eine Erwähnung der zivilen Arbeitsanweiser dem Selbstverständnis und der eingespielten Außendarstellung der ›Moor-SA‹ fundamental widersprochen hätte. Nach Schäfers Einberufung im Mai 1942 war die Machtstellung der ›Moor-SA‹ jedoch gebrochen, und der Widerspruch wurde lauter. Wenige Tage nachdem in einem weiteren Artikel der »Ems-Zeitung« zum zehnjährigen Dienstjubiläum der SA-Wachmannschaften bereits im ersten Satz die Rede vom »Gebiet der durch die Moor-SA kultivierten Moore« gewesen war,241 machte Oberbaurat Sagemüller seinem Ärger Luft: Der Bericht ›10 Jahre Wachttruppe im Moor‹ […] ist eine Fortsetzung der zahlreichen, die Tatsachen vollständig auf den Kopf stellenden Zeitungsberichte der SA über die Erschließung der emsländischen Moore, die SA bewacht lediglich Gefangene, um die Arbeitsleistung der Gefangenen, um die Leitung der Arbeiten kümmert sie sich nicht im geringsten.242

Vgl. zu diesem Vorgang auch KW I, S. 911–913. EZ, 21. 11. 1941. 240 Regierungspräsident Osnabrück an KmSGL, 29. 11. 1941, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 288. 241 EZ, 29./30. 11. 1943. 242 KW I, S. 942. 238 239

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Abb. 22 : Artikel zum achtjährigen Bestehen der ›Moor-SA‹, »Ems-Zeitung« vom 21. November 1941.

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337 Einerseits beschrieb Sagemüller hier lediglich die vorgesehene Aufgabenteilung während der Moorarbeit. Andererseits sparte er aber – neben der gewaltsamen Prägung des Arbeitseinsatzes durch die SA-Männer – aus, dass die propagandistische Überbetonung der ›Moor-SA‹ maßgeblich zum Anwachsen des Siedlungsprojekts beigetragen hatte. Gewissermaßen setzte schon hier – zu einem Zeitpunkt, an dem nach der ›Stalingrad-Wende‹ die Desillusionierung über einen erfolgreichen Kriegsverlauf bereits fortgeschritten war – im regionalen Kontext die Ablösung von der explizit völkischen Prägung der Emslanderschließung und damit einhergehend der exponierten Rolle der ›Moor-SA‹ ein.243 Tatsächlich waren die Kultivierungserfolge – vor allem gemessen an den ausgegebenen Zielen – bescheiden. Das Fortschreiten der Arbeiten zu bilanzieren ist schwierig, da in den Verwaltungsakten kaum miteinander vergleichbare Zahlen kursieren. Oftmals wird als propagandistischer Trick die Gesamtsumme der seit 1925 kultivierten Flächen angegeben, bei denen 460 ha in Hilkenbrook und andere vor 1933 erschlossene Flächen noch enthalten sind. An anderen Stellen werden veraltete oder offenkundig unzutreffende Zahlen angegeben.244 Dennoch lässt sich für den Zeitraum 1934 bis Mitte 1941 ein Wert von 2.550 ha kultivierter Fläche ermitteln.245 Da die Kultivierungsarbeiten zu letzterem Zeitpunkt bereits weitgehend eingestellt worden waren, dürfte die Gesamtbilanz kaum höher liegen. Damit waren nicht einmal zehn Prozent der bis 1941 angekauften 26.100 ha Staatsflächen und wenig mehr als fünf Prozent der von Bezirksplaner Hugle veranschlagten 50.000 ha Gesamterschließungsfläche kultiviert worden. Ganze 25 Siedlerstellen

In der Heimatforschung der ersten Nachkriegsjahrzehnte wurden die ›staatlichen‹ Aufwendungen im Rahmen des nationalsozialistischen Siedlungsprojekts lobend hervorgehoben, die gewaltsame Überformung des Lageralltags durch die SA- und SS-Wachmannschaften aber als davon isoliertes, ›von außen‹ hinzugekommenes Phänomen behandelt. Das Ineinandergreifen von Straf- und Siedlungsprojekt und die breite Interessenallianz von Instanzen der lokalen bis zur Reichsebene gerieten so aus dem Blickfeld. Vgl. Herzog: Siedlungsarbeit; Badry: Gefangenenlager; Johann Beerens: Das Moor erwacht, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 15 (1968), S. 136 ff. 244 Letzteres gilt vor allem für einzelne Werte in der Aufstellung des Beauftragten des RJM von 1941. Vgl. die verschiedenen Aufstellungen bei Kosthorst / Walter für 1935, 1938, 1939 und 1941: KW I, 568–578, 740–749, 902 f. u. 921–932. 245 Im Bericht des Beauftragten wird dieser Wert unter »Kuhlarbeiten« angegeben, der durch Angaben von Bezirksplaner Hugle untermauert wird. Ab 1925 ergibt sich damit eine Gesamtzahl von etwas mehr als 3.100 ha, was sich wiederum annähernd mit den Angaben von Borck (3.250 ha) deckt. Vgl. KW I, S. 740–749 u. 921–932; NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 295; Richard Hugle: Moorplanungen, 27. 10. 1941, in: NLA Osnabrück Rep 430 Dez 108 Akz 26 /73 Nr. 412 und Heinz Günther Borck: Die Besiedlung und Kultivierung der Emslandmoore, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 45 (1973), S. 1–31, hier: 16 f. 243

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338 waren durch das Projekt selbst entstanden. Keine einzige davon wurde von einem SA-Wachmann besetzt.246

4. Gewöhnung und Entwöhnung. Öffentliche Gewalt und das Verhältnis zur Zivilbevölkerung im Krieg Die SA-Männer feierten die Rückkehr ihres Kommandeurs Ende November 1938 mit einem Fackelzug. Eine Abordnung von 185 Wachmännern marschierte »unter den Klängen des Musikzuges« zu Schäfers mit Blumen und Girlanden geschmücktem Wohnhaus, dessen Eingang »von zwei Sturmhauptführern mit brennenden Fackeln flankiert« wurde. Schäfer hielt daraufhin eine kurze Ansprache an die SA-Männer: [D]iese Stunde ergreift mich sehr. Von der Treue der Männer getragen zu werden, ist das Schönste, was dem Führer der Männer geboten werden kann. Mein Dank für Eure Treue soll das Verhältnis sein, das früher zwischen Euch und mir bestanden hat.247 Anschließend zogen die SA-Männer zu einem Kameradschaftsabend in der Gastwirtschaft Hilling weiter. Solche Fackelzüge hatte die ›Moor-SA‹ schon oft abgehalten, allerdings dürfte sich die Papenburger Bevölkerung in diesem Fall eher an die Novemberpogrome erinnert haben, die wenige Wochen zuvor auch in Papenburg gegen die jüdische Bevölkerung stattgefunden hatten. Nicht nur dabei fand die Gewalt der SA-Männer zu einem gewissen Grad öffentlich statt und wurde von Teilen der Zivilbevölkerung beobachtet. Das Verhältnis zur nicht-jüdischen Bevölkerung blieb hingegen bis zum Kriegsbeginn weitgehend konfliktfrei. Erst danach flammten die Konflikte zwischen SA-Männern und Ortsansässigen wieder auf.

Gewalt und Gewöhnung Antisemitische Äußerungen waren kein Privileg der SA, sondern wurden auch von Amtsträgern aus dem katholischen Milieu getätigt. Obermeister Schäfer, Leiter der Papenburger Polizei, war bei den frühen Auseinandersetzungen zwischen Emsländern und Wachmännern durch besonnenes Auftreten und Bemühungen zum Ausgleich aufgefallen. Anders verhielt er sich gegenüber Siegmund Mindus, dem Sohn 246 247

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Vgl. KW III, S. 2555 u. Südbeck: Motorisierung, S. 328. Sämtliche Zitate: EZ, 29. 11. 1938. Abstieg

339 eines jüdischen Viehhändlers. Als Mindus im August 1933 denunziert wurde, er habe eine Frau angeblich zu sexuellen Handlungen aufgefordert, äußerte Schäfer in der Bestandsaufnahme deutlich antisemitische Ressentiments: Ungeachtet der jetzigen Zeit glaubt der Genannte noch so gegen die christliche Weiblichkeit verfahren zu können, wie vor dem 30. Januar 1933. Es ist möglich, dass Frau W. Strafantrag wegen Beleidigung gegen M. stellt, damit die Frechheit des Judenjungen nachdrücklichst gesühnt werden kann.248 Mindus wurde sechs Wochen in Schutzhaft genommen und schließlich wegen Beleidigung zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Zwei Jahre später wurde ein Annährungsversuch Mindus’ bei einer verheirateten Frau erneut anonym gemeldet. Dieses Mal trieben ihn SA-Männer der Standarte 229, die zu diesem Zeitpunkt durch Werner Schäfer geführt wurde und sich hauptsächlich aus den Lagerwachmannschaften zusammensetzte, durch die Straßen. Mit einem Schild um den Hals, auf dem seine ›Schandtaten‹ beschrieben waren, musste er mit einer Pauke die Papenburger Bevölkerung ›zusammentrommeln‹.249 Die Polizei begrüßte diese Aktion und nahm Mindus anschließend erneut in Schutzhaft. Die »Ems-Zeitung« verwies auf Mindus’ Vorgeschichte und meinte: Es wirkte daher wie eine Erleichterung, daß die SA jetzt zupackte und damit hoffentlich den Anstoß gab, daß diesem Rasseschänder endlich sein übles Handwerk gelegt wird. Jüdische Burschen dieser Art, die das ihnen in Deutschland gewährte Gastrecht in so gemeiner Weise mißbrauchen, gehören in das Konzentrationslager.250 Wie in unzähligen ähnlichen Fällen im ›Dritten Reich‹ gab es auch hier ein großes ziviles Publikum. Ein Augenzeuge urteilte im Nachhinein vorsichtig: »Die meisten Papenburger haben darüber entrüstet und verständnislos mit dem Kopf

NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 837. Bereits 1932 war Mindus Opfer antisemitischer Hetze geworden, nachdem er im Freien Sex mit einem Dienstmädchen gehabt hatte. Im Januar 1933 wurde er deshalb zu drei Wochen Gefängnis verurteilt (vgl. ebd. u. Rassenschande in Papenburg. Ein Jude schändet eine Deutsche vor aller Öffentlichkeit, Der Stürmer 10 (1932), Nr. 34, S. 1 f.). 249 Das Schild hatte die Aufschrift »Deutsche kauft beim Juden! Wir versuchen inzwischen, so wie ich, Talmud-Jude Siegmund, Eure Frauen zu schänden« (EZ, 3. 8. 1935.). In Wirklichkeit hatte Mindus der Frau nur Blumensträuße geschenkt und sie in ihrer Wohnung besucht (vgl. NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 837 u. Bade: Mitarbeit, S. 103 f. u. 235). 250 EZ, 3. 8. 1935. 248

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340 geschüttelt. Aber eben nicht alle Papenburger.«251 Auch im katholischen Milieu des Emslands kam es zu vielen Denunziationen gegen Juden und ›Sozialisten‹.252 Parallel dazu fand die Ausschaltung der jüdischen Viehhändler aus dem Wirtschaftsleben statt. In ›Stürmer-Kästen‹ hängte die SA Fotos von Bauern aus, die weiterhin Geschäfte mit Juden machten. Ab 1937 durften jüdische Viehhändler nicht mehr gleichzeitig als Schlachter arbeiten.253 Unter diesem Druck beging Siegmund Mindus’ Vater Ruben am 24. Mai 1937 Selbstmord.254 In der Nacht vom 9. zum 10. November wurden die Synagogen in Haren, Lathen und Sögel angezündet, ebenso wie weitere Gebetshäuser im südlichen Emsland.255 In Papenburg verhaftete die SA bis 5:30 Uhr sämtliche jüdischen Männer, die darauf in das KZ Sachsenhausen gebracht werden sollten. Gegen 7:30 Uhr wurden die Synagoge und das dahinter stehende jüdische Schulhaus angezündet. Die Aktion fand also keineswegs nachts statt, sondern begann am frühen Morgen im Zentrum Papenburgs. Die Wohn- und Geschäftshäuser der jüdischen Bevölkerung wurden im Laufe des Tages von SA-Männern geplündert und angezündet; um 16 Uhr schließlich auch das Haus der Familie Mindus zwei Grundstücke neben der Kommandantur der Strafgefangenenlager. Die Papenburger Feuerwehr überwachte die Aktion, damit die Feuer nicht auf andere Häuser übergriffen.256 Der Grundbesitz jüdischer Familien wurde im Anschluss von der öffentlichen Hand unter Wert aufgekauft. Anscheinend galt dies auch für weiteren Besitz, sah doch die Papenburger Polizei eine Gelegenheit, günstig einen neuen Einsatzwagen zu erhalten: Aus der spontanen Volkskundgebung am 10. November 1938 ist unter anderen Werten auch der Personenkraftwagen IS. 76628 der Firma H. J. Hes in Papenburg, Friederikenstrasse No 26, verfügbar geworden. […] Der Wagen […] würde sich gut eignen für die uniformierte Polizei, da 4 Personen bequem darin Platz haben.257 Bereits im August 1938 und damit zwei Monate vor Erlass der entsprechenden 251 252 253

254 255 256 257

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Zit. n. Uwe Eissing: Die jüdische Gemeinde Papenburg-Aschendorf im Spiegel der Zeit. Ein Gedenkbuch, Papenburg 1987, S. 242. Vgl. generell: Wildt: Volksgemeinschaft. Detailliert weist dies Claudia Bade nach. Vgl. Bade: Mitarbeit. Vgl. Werner Teuber: Jüdische Viehhändler in Ostfriesland und im nördlichen Emsland 1871–1942. Eine vergleichende Studie zu einer jüdischen Berufsgruppe in zwei wirtschaftlich und konfessionell unterschiedlichen Regionen, Cloppenburg 1995, S. 215–217. Vgl. NLA Osnabrück Dep 76b Nr. 967. Vgl. Emsländische Landschaft / Emsländischer Heimatbund (Hg.): Auf den Spuren jüdischen Lebens im Emsland, Lingen 2014, S. 10–36. Vgl. Eissing: Gemeinde, S. 117–119. Polizeibehörde Papenburg, 13. 12. 1938, NLA Osnabrück Dep 76 b Nr. 812. Der Landrat unterband im Januar 1939 allerdings den geplanten Ankauf. Abstieg

341 Reichsverordnung hatte Polizeiobermeister Schäfer die Pässe aller jüdischen Bürger Papenburgs eingezogen. Siegmund Mindus und seine Schwestern Hanna und Henriette konnten dennoch nach Chile fliehen, der ältere Bruder Adolf und eine weitere Schwester, Frieda, wurden Anfang 1943 in Auschwitz ermordet.258 Eine direkte und unmittelbare Beteiligung der Zivilbevölkerung an den Gewaltaktionen gegen jüdische Emsländer ist nicht bekannt. Im Kontext dieser Studie ist auch nur bedingt von Interesse, ob die Umgebungsbevölkerung antisemitische Aktionen befürwortete oder ablehnte. Für das Verhältnis zu den Wachmannschaften war entscheidend, dass die SA während der Novemberpogrome oder auch des Prangerlaufs von Siegmund Mindus ihr Gewaltpotential veranschaulichte. Dabei trat sie aber nicht als ›Schlägertrupp‹, sondern als Ordnungsmacht auf, der sich niemand – kein Polizist, kein Honoratior, kein Geistlicher – entgegenstellte.259 In diesem Sinne wandte sich Werner Schäfer während des Fackelzugs zu seiner Wiedereinsetzung auch an die SA-Männer: Wir geloben in dieser Stunde, daß wir nicht früher aufhören wollen, bis alles erreicht ist, was der Führer von uns verlangt. Die Fackeln, die heute Abend lodern, sollen in die Zukunft hineinleuchten und den Weg zeigen, den der ehrliche SA.-Mann geht. Nicht mehr dunkel ist der Weg, sondern lichtvoll, leicht ist er jedoch nicht. Aber uns lockt ja gerade das Schwere und der Kampf, und wir werden ihn siegreich beenden.260 Während seine Ansprache auf den ersten Blick wie eine Aneinanderreihung hohler, inhaltsleerer Phrasen wirkt, verdeutlicht Schäfer darin jedoch den Anspruch, ohne Rücksicht auf etwaige Widerstände den eigenen Weg fortsetzen zu wollen. Ohnehin war die lokale Bevölkerung oft genug Zeuge der Misshandlung von Strafgefangenen durch die SA-Männer: Nach Schäfers Rückkehr wurden weiterhin Häftlinge bei ihrer Ankunft auf den Bahnhöfen geschlagen.261 Auch die abgelegenen Arbeitsstellen waren keineswegs vor jeglichen Einblicken geschützt. Neben Wachmännern und Gefangenen waren hier die zivilen Vorarbeiter anwesend Vgl. Eva Goldschmidt Wyman: Escaping Hitler. A Jewish Haven in Chile, Tuscaloosa 2013, S. 94 und Projekt Stolpersteine in Papenburg und Aschendorf: »Reichskristallnacht« und die Folgen, Online-Ressource unter ‹http://www.stolpersteine-in-papenburg-aschendorf. de/files / Reichskristallnacht.pdf›, letzter Abruf: 20. 7. 2014. 259 Vgl. Inge Marszolek: Verhandlungssache. Die ›Volksgemeinschaft‹ – eine kommunikative Figuration, in: von Reeken / Thießen (Hg.): ›Volksgemeinschaft‹, S. 65–77, hier: 70. Für diese Wirkung ist es letztlich unerheblich, ob die beteiligten SA-Männer den Wachmannschaften angehörten. Dies lässt sich nicht eindeutig nachweisen, ist aufgrund der dünnen Personaldecke der NS-Kampfverbände im Emsland aber anzunehmen. 260 EZ, 29. 11. 1938. 261 Vgl. Frese: Bremsklötze, S. 49. 258

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342 und beteiligten sich zum Teil auch an den Misshandlungen oder schwärzten Häftlinge bei den SA-Männern an.262 Hatten 1935 bereits 100 Männer für die staatliche Moorverwaltung und 150 weitere für die Kulturbauleitung gearbeitet, verzeichnete erstere 1938 500 Gefolgschaftsmänner und das Wasserwirtschaftsamt als Nachfolgebehörde des Kulturbauamts im Folgejahr 715 Angestellte.263 Damit arbeiteten mehr als 1.000 zivile Arbeitskräfte im Siedlungsprojekt, die entsprechend viele soziale Kontakte hatten. Die Lager selbst waren schließlich vielfältig in die Wirtschaftsbeziehungen der Region integriert. Bianca Roitsch begreift sie daher als »partiell durchlässige Räume«, in denen multiple Interaktionen mit der Umgebungsgesellschaft stattfanden.264 Dass lokale Unternehmer, die die Lager belieferten, dabei auch Zeugen von Gewalt gegen Häftlinge wurden, ist mit Sicherheit anzunehmen. Insofern bestand im Emsland ein breites Wissen über die Gewaltpraxis der ›Moor-SA‹; Gefangenenmisshandlungen waren ein ›offenes Geheimnis‹, über das weder allumfassende Kenntnisse vorlagen noch absolute Unkenntnis vorherrschte.265 Auf den Gewöhnungseffekt, der sich bei der emsländischen Bevölkerung hinsichtlich der Gewalt in den Lagern einstellte, lässt ein Vorfall rückschließen, als Strafgefangene 1938 zum Westwallbau in die Nähe von Pirmasens abkommandiert waren. Dabei schlug ein von den Gefangenen ›Mooreule‹ genannter Kommandoführer in der Öffentlichkeit auf Häftlinge ein: Eine Frau schrie aus dem Fenster des ersten Stocks: ›Du Schwein, du verdammtes! Du Saukerl! Schlägst auf Wehrlose! Warte, dich werden wir anzeigen!‹ Mooreule war verblüfft, dann rief er: ›Ihr seid wohl wahnsinnig geworden, das sind doch Verbrecher!‹ Dann riefen aber manche Bürger: ›Du bist der Verbrecher!266 Kurze Zeit später unterbrach ein Häftling einen weiteren Gewaltexzess mit den Worten: »Hören Sie sofort auf, Sie werden zum Mörder. Wir sind hier nicht in Neusustrum!«267 Beide Begebenheiten legen nahe, dass der SA-Mann sein Verhalten als normal empfand und aus dem Emsland gewohnt war, Gefangenenmisshandlungen auch öffentlich durchzuführen. 262

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Vgl. Henze: Hochverräter, S. 57–59 u. 172–177; KmSGL, 17. 12. 1940, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 315 sowie mehrere Aussagen ehemaliger Häftlinge, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 388. Vgl. KW I, S. 570, 746 u. 903. Vgl. Roitsch: Ueberall, S. 87. So treffend der Begriff für das Verhältnis zur Umgebung sein mag, birgt er aber die Gefahr, den Zwangscharakter der Lager zu verdecken. Vgl. Bajohr: Konsens, S. 55–65. Wladimir Lindenberg: Himmel in der Hölle. Wolodja als Arzt in unseliger Zeit, München / Basel 1988, S. 154. Ebd. Abstieg

343 Natürlich bedeutete eine Gewöhnung an öffentliche Gewalt nicht automatisch Zustimmung oder Gleichgültigkeit. Die ›Moor-SA‹ hatte ihr Gewaltpotential wiederholt unter Beweis gestellt, wenn auch nur selten gegen Angehörige der Zivilbevölkerung. Als latente Drohung stand dies jedoch immer im Raum. Gegen einen emsländischen Pfarrer, der sich im Frühjahr 1937 kritisch über die SA äußerte, stellte die SA Gruppe Nordsee umgehend Strafantrag wegen Beleidigung. Als sich die Eröffnung der Verhandlung verzögerte, drohte der SA-Gruppenführer unterschwellig, es bestehe »die Gefahr, daß wieder Selbsthilfehandlungen vorkommen« würden.268

Fortgesetzte Einbindung in das kulturelle Leben Ende der 1930er Jahren war die ›Moor-SA‹ weiterhin fester Bestandteil des kulturellen Lebens im Emsland. Selbst Parteiehrungen wie die Verleihung des »Blutordens« an einen Oberwachmann Ende 1939 wurden in der »Ems-Zeitung« eigens vermeldet.269 Die Lager waren weiter Schauplatz für Unterhaltungsangebote. Um auch in den nordöstlich gelegenen Lagern größere Veranstaltungen abhalten zu können, wurden die Kantinen in Aschendorfermoor und Esterwegen ausgebaut. Im Lager II entstand dadurch »eine geräumige Halle mit Ausmaßen, wie sie kaum ein Saal in der Umgebung aufzuweisen hat.« Zur Einweihung waren neben Vertretern von Staat und Partei auch mehrere »sonstige mit dem Lager in freundschaftlicher oder geschäftlicher Beziehung stehende Volksgenossen« sowie »das Prinzenpaar mit Hofdamen und der Elferrat der Ersten Großen Karnevals-Gesellschaft Emsland aus Papenburg« als Ehrengäste anwesend.270 Durch die zuvor schon begonnene Verbindung mit dem lokalen Karneval drang die ›Moor-SA‹ damit in einen genuin katholischen, aber vermeintlich unpolitischen Bereich des kulturellen Lebens ein.271 Auch die Bespielung der Lager durch KdF-Künstlergruppen und andere, wie den Rennfahrer Rudolf Hasse, hielt an.272 Neu war allerdings, dass auch über solche Veranstaltungen ausführlich berichtet wurde, deren Besuch allein den WachFührer SA-Gruppe Nordsee, 4. 11. 1937, in: KW I, S. 860. Vgl. EZ, 3. 10. 1939. Zuvor wurde beispielsweise auch über die Ankunft der neuen, von Hitler »durch Berühren mit der Blutfahne geweihte[n]« Standarte ausführlich berichtet (EZ, 15. 9. 1937; am Folgetag wurde auch ein Foto der Fahne abgedruckt). 270 Sämtliche Zitate: EZ, 15. 11. 1937; vgl. auch EZ, 21. 2. 1940. 271 Vgl. auch EZ, 3. 2. 1935. Im Gegensatz zu anderen Regionen waren die Versuche einer nationalsozialistischen Vereinnahmung des Karnevals im Emsland eher vorsichtig. Vgl. Carl Dietmar / Marcus Leifeld: Alaaf und Heil Hitler. Karneval im Dritten Reich, München 2010. 272 Vgl. EZ, 18./19. 11. 1939, 6. 12. 1939 u. 27. 2. 1940. 268 269

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344 mannschaften vorbehalten blieb. Die Exklusivität einer Vorführung der »Soldatenbühne I« im Lager Esterwegen begründete die »Ems-Zeitung« damit, dass die SA-Männer ein »hartes Leben« führten, das durch »das strenge Gleichmaß des Dienstes und die karge Freiheit« geprägt sei; gefolgt von dem Appell: »Ist es nicht eine Aufgabe, gerade diesen Männern Freude zu bringen, daß sie wenigstens einen Abend lang ihren Dienst mit seinem Drum und Dran vergessen?«273 Ein möglicher Hintergrund dieser Berichte über reine SA-Freizeitaktionen war, dass so die ›kulturbringende‹ Funktion der ›Moor-SA‹ weiter belegt und gleichzeitig deren herausgehobene Position veranschaulicht werden konnte. Es ist allerdings fraglich, ob die emsländische Bevölkerung dieser Einschätzung folgte und nicht vielmehr der Eindruck entstand, die SA-Männer würden durch dieses Kulturprogramm unberechtigterweise bevorzugt. Gleichzeitig wurde der kulturelle Anspruch der ›Moor-SA‹ ausdifferenziert und verfeinert. Mehrfach hieß es in den Zeitungsberichten, die Veranstaltungen würden gleichermaßen »heitere und ernste Kunst« bieten.274 Auch das Streichkonzert, mit dem der Musikzug die Winterspielzeit 1937 /38 der Kulturgemeinde Papenburg eröffnete, verband diese Aspekte: Der erste Teil des Abends wird wertvolle Klassiker bringen, aus denen besonders die Fantasie aus der Oper ›Tannhäuser‹ von Richard Wagner und die Romanze F-Dur für Violin-Solo von Beethoven herausragt. Der zweite Teil der Konzerts bringt leichte Unterhaltungsmusik.275 Im Februar 1940 wurden an aufeinanderfolgenden Tagen zwei Kammermusikkonzerte im Emslandhaus und im Lager Esterwegen veranstaltet. Sie waren angeblich ein Geschenk, das »SA.-Oberführer Schäfer seinen SA.-Männern und einer stattlichen Reihe musikinteressierter Gäste« gemacht hatte.276 Dieser gesteigerte Anspruch an die eigenen Veranstaltungen verdeutlicht, dass die Ambition der ›Moor-SA‹, das Emsland auch in kultureller Hinsicht zu modernisieren, keineswegs stagnierte. Stattdessen wurde versucht, auch ›klassische‹ und ›gehobene‹ Kultur in das Repertoire eigener Veranstaltungen einzubeziehen. Die zuvor betriebenen Unterhaltungsveranstaltungen wurden dabei beibehalten. Die genauen Zusammenhänge zwischen diesem Kulturprogramm der ›MoorSA‹ und ihrer Akzeptanz durch die Umgebungsbevölkerung lassen sich kaum mehr rekonstruieren. Allerdings lässt sich an Zeitungsmeldungen bei aller propagandistischen Schönfärberei ablesen, dass ein öffentliches Interesse daran bestand. Wenn Sämtliche Zitate: EZ, 19. 12. 1938. EZ, 27. 2. 1940. 275 EZ, 7. 10. 1937. 276 EZ, 15. 2. 1940. 273 274

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345 etwa im August 1938 zum Richtfest der südlichen Emslandlager »4–5000 Teilnehmer« vermeldet wurden,277 mag die Anzahl zwar beschönigt, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen sein. Auch wenn man dabei die Vertreter von Parteigliederungen, NS-Verbänden und staatlichen Stellen berücksichtigt, bleiben immer noch mehrere Tausend Emsländer, die freiwillig zu diesem Anlass erschienen waren.

Aufflammen der Auseinandersetzungen im Zweiten Weltkrieg War das Verhältnis zwischen ziviler Bevölkerung und SA-Männern somit weiterhin durch ein gegenseitiges Arrangieren geprägt und zumindest oberflächlich entspannt geblieben, kam es während des Zweiten Weltkriegs erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen. Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn wurde erstmals nach viereinhalb Jahren wieder ein Zwischenfall aktenkundig. Am 15. Oktober 1939 besuchten die SA-Männer Hoffmann, Nisky und Timmermann aus Lager V mit ihren Frauen und zwei Justizoberwachtmeistern eine Tanzveranstaltung in Haren. Dort trafen sie den Marinesoldaten Timotheus S., der zunächst mit den Frauen tanzte und für die gesamte Runde Likör bestellte. S. geriet jedoch bald mit den SA-Männern aneinander – vermutlich weil er deren Ehefrauen sexuell bedrängt hatte.278 Der Maurergeselle Gerhard D., Angehöriger der DAF-Werkschar, sprang S. daraufhin bei und ging Halbzugführer Hoffmann an: »Was willst Du denn schon mit Deinem Schmand am Kragen, bilde Dir garnichts darauf ein, Du hast hier auch nicht mehr zu sagen wie jeder andere.«279 Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung, in der sich die SA-Männer wohl kaum so nüchtern und bedächtig verhielten, wie ihre Aussagen glauben machen sollten, rief D. den Wachmännern zu: »Euch werden wir noch die blaue Uniform ausziehen, Ihr habt die längste Zeit die Uniform getragen.«280 Als daraufhin die Veranstaltung beendet wurde, ging einer der Wachmänner mit seiner Frau unbemerkt nach Hause. Den anderen folgte eine Gruppe von etwa 15 bis 20 Personen und pöbelte sie an, worauf die SA-Männer, ihre Ehefrauen und die Justizbeamten beschlossen, zur Wohnung der Niskys zu gehen. Dort versuchten S., D. und weitere Personen, die Tür einzudrücken und in den Hausflur zu gelangen; dabei wurde Nisky ein Aschenbecher an den Kopf geworfen. Erst nachNeue Volksblätter, 10. 8. 1938. So sprach Halbzugführer Hoffmann in seiner Aussage mehrfach davon, S. habe den Frauen »in den Rücken gekniffen« und Hoffmanns Frau aufgefordert, mit ihm nach Hause zu gehen. Zudem glaubte S. der Anklage zufolge, »bei der Ehefrau [N.] schlafen zu können« (Meldung Hoffmann, 21. 10. 1939 u. Anklage gegen S. und D., 17. 2. 1940, in: NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 633). 279 Meldung Hoffmann, 21. 10. 1939, in: ebd. 280 Erklärung Hoffmann, 5. 11. 1939, in: ebd. 277 278

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346 dem Hoffmann mehrere Schüsse mit einer Schreckschusspistole abgegeben hatte, zerstreuten sich Angreifer und Schaulustige.281 Dieser Vorfall gibt ein mehrdeutiges Bild über das Verhältnis der SA-Männer zur einheimischen Bevölkerung ab. Einerseits waren wie schon bei Vorfällen in der Frühphase der ›Moor-SA‹ sexuelle Avancen der Auslöser dieser Auseinandersetzung – neu war lediglich, dass es nun um die Frauen der SA-Männer ging. Gerhard D. war als Werkscharmann selbst Mitglied einer uniformierten NS-Gliederung, lehnte den Nationalsozialismus also kaum grundsätzlich ab. Andererseits zeigen seine Anfeindungen aber auch, dass die Rolle der SA-Männer als Pioniere der Emslanderschließung nach dem Scheitern der beschleunigten Emslandkultivierung und der Übernahme der neun südlichsten Lager durch die Wehrmacht nun auch in der lokalen Öffentlichkeit hinterfragt wurde. Dass sich auch die Umstehenden allem Anschein nach eher mit S. solidarisierten, der »in Haren als Raufbold bekannt« war,282 verdeutlicht zudem, dass die SA-Männer weiterhin als Außenstehende galten. Werner Schäfer war sich der Außenseiterrolle seiner Untergebenen bewusst. Als Zeichen der Abschreckung forderte er daher beim Oberstaatsanwalt Osnabrück eine harte Bestrafung von S. und D.: Sollte dieser Überfall ungesühnt bleiben, dann würde das zur Folge haben, daß die der SA heute noch zum Teil unfreundlich gegenüberstehende Bevölkerung des Emslandes in Zukunft sich weiter an meinen Männern zu reiben versuchen wird. Das könnte wieder dazu führen, daß es zu Ausschreitungen größerer und ernsterer Art kommet.283 Die anschließend verhängten Geldstrafen von 150 beziehungsweise 170 RM erschienen dem Kommandeur zu milde, was er bei einem weiteren Vorfall acht Monate später erneut zum Ausdruck brachte.284 Anlass dafür war eine handfeste Schlägerei zwischen dem Wachmann Wilhelm Brinkers und dem Heizer Josef B., an deren Ende B. mit einem Seitengewehr in der Hand über dem Wachmann kniete. Brinkers war am 27. Juni 1940 vom Lager Neusustrum aus mit dem Fahrrad ins etwa 15 km entfernte Haren gefahren. Nachdem er dort in einer Kneipe bereits drei Bier getrunken hatte, kehrte er auf der Rückfahrt in einer weiteren Gaststätte an der Schleuse 68 ein und trank nochmals »ca. 5 Glas Bier«.285 Dort kam er mit zwei anderen Gästen ins Gespräch und geriet mit einem davon, Josef B., beim Verlas-

Vgl. Anklage gegen S. und D., 17. 2. 1940, in: ebd. Meldung Hoffmann, 21. 10. 1939, in: ebd. 283 KmSGL, 19. 11. 1939, in: ebd. 284 KmSGL, 2. 7. 1940, in: ebd. 285 Meldung Brinkers, 28. 6. 1940, in: ebd. 281 282

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Abstieg

347 sen des Lokals in Streit. Brinkers zufolge hatte sich B. abschätzig über Hitler und den Kriegsverlauf geäußert und zudem gesagt, »dass er von seinem Gehalt so viele Abzüge hätte und er wüßte wohl, wo es bliebe.«286 Josef B. jedoch gab an, Brinkers habe sich abfällig über den Katholizismus geäußert. Als er sich dies verbat, habe ihm der Wachmann eine Ohrfeige gegeben. Eine unbeteiligte Zeugin bekräftigte, dass es zumindest stellenweise um das Thema Religion gegangen sei, was Brinkers anders als die Ohrfeige weiter abstritt.287 Der Wachmann gab an, er sei auf seiner weiteren Rückfahrt ins Lager mehrfach von B. auf seinem Motorrad gestoppt worden und habe jeweils mit gezogenem Seitengewehr einen Angriff unterbinden können. Darauf habe B. gesagt: »Das macht ihr blauen Hunde ja immer, wenn ihr euch nicht zu helfen wisst.«288 Schließlich habe ihm B. die Waffe während der Fahrt entrissen, den Weg versperrt und ihn angegriffen. Nachdem er einen ersten Angriff noch heldenhaft mit bloßen Händen abgewehrt habe, sei er im Straßengraben unter B. zum Liegen gekommen. Als er nun seinen Angreifer bat, ihn zu verschonen, da er Frau und vier Kinder habe, sollte dieser gesagt haben: »Ach wat, Schiet! Du Hund mußt jetzt verrecken.«289 Nur ein hinzukommender Oberleutnant vom Kriegsgefangenenlager Oberlangen habe B. davon abhalten können, sein Vorhaben umzusetzen. Für Werner Schäfer war der Vorfall »auf dieser menschenleeren Straße mitten im Moor […] nur zufällig kein vollendeter Mord.« Er verwies auf die Strafsache gegen S. und D. und meinte, es sei nicht mehr weit, bis »jene verhetzten Burschen mir den ersten besten SA-Kameraden töten.« Daher forderte er den Staatsanwalt auf, »mit allen Machtmitteln […] gegen den Beschuldigten vorzugehen, damit diesen Kreaturen ein für alle Mal endgültig die Lust vergeht, solche oder ähnliche Überfälle auf SA-Männer durchzuführen.«290 Die Staatsanwaltschaft schenkte Brinkers’ Schilderungen allerdings wenig Glauben. Zu abenteuerlich war der von ihm beschriebene Tathergang, damit übereinstimmende Abwehrverletzungen fehlten ihm und zudem war er – wie auch der Beschuldigte – betrunken gewesen. Dessen Aussage war nicht nur weitaus plausibler, sondern wurde auch von zwei Augenzeugen gestützt – die Straße war eben nicht menschenleer gewesen. Demnach hatte Brinkers, als ihn das Motorrad überholen wollte, unvermittelt die Straßenseite gewechselt. Als B. ihn darauf zur Rede stellte und anhielt, griff ihn der SA-Mann zuerst mit dem Bajonett, dann mit einer Luftpumpe an, die B. ihm beide abnahm. Daraufhin beobachtete der herannahende

Ebd. Vgl. Oberstaatsanwalt Osnabrück, 9. 9. 1940: in: ebd. 288 Meldung Brinkers, 28. 6. 1940, in: ebd. 289 KmSGL, 2. 7. 1940, in: ebd. 290 Sämtliche Zitate: ebd. 286 287

Gewöhnung und Entwöhnung

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348 Wehrmachtsoffizier, »wie die beiden Männer in den Straßengraben torkelten.«291 Dort erlangte B. bald die Oberhand, schlug dem unter ihm liegenden Brinkers mehrmals heftig ins Gesicht und fragte ihn, ob er genug habe, was dieser bejahte. Der Oberleutnant, der die beiden erreicht hatte, forderte sie nun auf, sich zu trennen und aus dem Graben herauszukommen. Erst dann sah er das Seitengewehr, das B. zwar weiter in der Hand hielt, bei der Schlägerei aber nicht eingesetzt hatte.292 Der Oberstaatsanwalt sah bei Brinkers ein »erhebliches Mitverschulden« an der Schlägerei, dem Beschuldigten hingegen sei ein Tötungsvorsatz nicht nachzuweisen. Unter diesen Voraussetzungen könne »eine Erörterung des Sachverhalts in öffentlicher Gerichtsverhandlung dem Ansehen der Wachtmannschaft nicht förderlich sein.« Gegen »Ausschreitungen der Bevölkerung gegen Wachmänner« werde seine Behörde »tatkräftig« durchgreifen, jedoch seien ihm über den beschriebenen Vorfall aus dem Vorjahr hinaus keine weiteren Angriffe bekannt.293 Auch der Beauftragte des Justizministers ersuchte Schäfer, von einem weiteren Vorgehen abzusehen. Bei dem zu erwartenden Freispruch wäre »für die der Wachttruppe unfreundliche Stellung der Emslandbevölkerung ein neuer Anreiz zur Bestärkung in ihrer Einstellung gegeben.«294 Stattdessen wurde B. zur Kommandantur in Papenburg vorgeladen, musste sich bei Brinkers entschuldigen und der NSV eine freiwillige Geldbuße von 50 RM zahlen. Schäfer, der bereits zuvor zwischen Forderungen nach harter Bestrafung und Entgegenkommen gegenüber der lokalen Bevölkerung changiert hatte, verlangte bei weiteren Zwischenfällen nicht mehr nach einem Eingreifen der Staatsanwaltschaft. Die beiden Vorfälle zeigen jedoch, dass sich das öffentliche Ansehen der Wachmannschaften zu Beginn des Weltkriegs verschlechterte. Waren die Anfeindungen dabei noch vage geblieben – im Subtext schwangen Vorwürfe von Korruption und Anmaßung mit  –, wurden die Ressentiments, die den Wachmannschaften gegenüber bestanden, wenig später deutlich. Am 18.  Juli 1940 wurde die Polizei zum Papenburger Hafen gerufen, weil es zwischen Oberwachmann Ernst Krüger und dem Schiffer Johann B. zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen war. Auslöser war, dass sich Krüger vom neunjährigen Sohn des Schiffers über das Hafenbecken rudern lassen wollte. Als der Vater dies bemerkte, wollte er es aufgrund des starken Windes verbieten. In der nachfolgenden Konfrontation explodierte B. förmlich. Im Beisein der auf dem Schiff arbeitenden Kriegsgefangenen habe er, so Krüger, die Wachmänner »als Kriegsdrücker und Faulenzer bezeichnet, die zu faul zum Arbeiten seien und von ihnen belohnt werden müssten, damit sie leben könnten; sie sollten sich lieber an Oberleutnant B., 28. 6. 1940, in: ebd. Vgl. Oberstaatsanwalt Osnabrück, 9. 9. 1940: in: ebd. 293 Sämtliche Zitate: ebd. 294 Beauftragter des RJM, 20. 9. 1940, in: ebd. 291 292

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Abstieg

349 die Front scheren.«295 Beim Eintreffen der Polizei war B. immer noch aufgebracht und weigerte sich, zu den Polizisten ans Ufer zu kommen: »Schi hebt hier nicht to sengn; ick kom nich dol; ick mut erst min Arbeit fertig hem!«296 Auch als die Polizisten zu seinem Schiff übersetzten, beharrte B. darauf, zunächst die Ladung zu löschen, folgte der Polizei dann aber freiwillig aufs Revier. Dort erklärte der Schiffer, der SA-Mann habe ihn zuerst »in einer sehr unflätigen Weise« beschimpft. Da sei er »sehr aufgeregt« geworden, könne sich aber an seine genauen Worte nicht mehr erinnern.297 Er erklärte sich jedoch sofort bereit, sich zu entschuldigen. Daraufhin sah Oberwachmann Krüger von einer Anzeige ab, wohl auch, weil B. Träger des Frontkämpferehrenkreuzes und selbst 1933–1935 NSDAP-Mitglied gewesen war. Dieser Vorfall zeigt deutlich den Ansehensverlust, den die ›Moor-SA‹ bereits zu Beginn des Krieges erfahren hatte. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre waren derartige Konflikte wohl auch deshalb unterblieben, weil die SA-Männer in der äußeren Repräsentation der Lager als Protagonisten der Emslandkultivierung auftraten und das Siedlungsprojekt propagandistisch überhöht dargestellt wurde. Inzwischen war aber auch für die ortsansässige Bevölkerung ersichtlich geworden, dass die realen Kultivierungserfolge weit hinter dieser Berichterstattung zurücklagen, der Lagerausbau zurückgenommen wurde und die Strafgefangenen nun vermehrt für die Kriegswirtschaft eingesetzt wurden. Somit war das Bild, das die ›Moor-SA‹ von sich entworfen hatte, schon vor der endgültigen Einstellung der Kultivierungsarbeiten nach außen hin nicht mehr tragfähig.298 Die von Johann B. geäußerte Ansicht, die Wachmänner seien »zu faul zum Arbeiten«, gründete wohl auch darin, dass die Wachmänner nun nicht mehr allein bei der abgeschiedenen und ideologisch unterfütterten Bewachung der Arbeitsstellen im Moor eingesetzt wurden, sondern täglich sichtbar wurde, dass die eigentliche Arbeit von den Strafgefangenen verrichtet wurde. Zudem hatte sich Oberwachmann Krüger während des Vorfalls eigenmächtig von seiner Arbeitsstelle entfernt, um Außenstände einzutreiben. Insofern entstand nach außen eine Diskrepanz zwischen der ›Moor-SA‹, die als ideologisch überhöhte Gemeinschaft einen vergleichsweise ruhigen Dienst versah, und den weniger NS-affinen emsländischen Männern, von denen viele im Kriegseinsatz waren. Dieser Vergleich lag natürlich weit jenseits der Sagbarkeitsregeln in der Öffentlichkeit; die

Polizei Papenburg, 19. 7. 1940, in: ebd. Ebd. Auf Hochdeutsch in etwa: »Sie haben hier nichts zu sagen; ich komm’ nicht runter; ich muss erst meine Arbeit fertig haben!« 297 Sämtliche Zitate: Aussage Johann B., 18. 7. 1940, in: ebd. 298 Vgl. Roitsch: Zaungäste, S. 178 f. Bianca Roitsch führt zudem mehrere Gestapo-Akten an, laut denen Anwohner aus Esterwegen die SA-Männer bereits 1938, also während des Schäfer-Verfahrens, als »Nichtstuer« und »Halunken« betitelten. 295 296

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350 Ansicht B.s, die SA-Männer seien »Kriegsdrücker«, dürfte jedoch auch von anderen geteilt worden sein. Als kompensatorische Maßnahme entstanden Zeitungsberichte, in denen darauf hingewiesen wurde, dass auch viele SA-Männer in der Wehrmacht dienten – im Mai 1940 beispielsweise 700 von ihnen. Auch die Auszeichnung von einberufenen Wachmännern mit dem Eisernen Kreuz wurde vermeldet; die Gesamtzahl lag Ende 1942 bei 185.299 Zudem errichteten die SA-Männer in den Parkanlagen der Lager Gedenksteine für Gefallene aus ihren Reihen.300 Bereits in den ersten Monaten des Krieges entstand mit dem »Heidelied« ein »Lied der Moor-SA«, das mehrfach in der »Ems-Zeitung« abgedruckt wurde.301 Vertont von einem bald darauf eingezogenen Wachmann stammte der Text von Werner Schäfer selbst, der darin die Verbindung der Wachmänner zu ihren eingezogenen ›Kameraden‹ thematisierte: Ueberm Moor, da steht der Mond und viele tausend Sterne, Und am Himmel zieht ein Weg zu dir in die Ferne. Ueberm Moor, da steht ein Ruf in der dunklen Nacht Und ich stehe unter ihm auf der stillen Wacht.302 Der Redakteur der »Ems-Zeitung« befand, dass dieses Stück »in Dichtung und Ton den Geist der Moor-SA. symbolisiert.«303 Dies mag – wenn auch unfreiwillig – durchaus zutreffen, da der Text in insgesamt fünf Strophen denkbar wenig Inhalt bietet, dafür umso mehr Bezüge auf kameradschaftliche Verbundenheit und das angeblich schwere Los der SA-Männer. Versatzstücke wie ›Einsamkeit‹, ›stille Wacht‹ und der ›schwere Weg‹ entstammten dem selbstentworfenen Bild der ›Moor-SA‹, das nach außen nun aber kaum noch anschlussfähig war. Das »Heidelied« dürfte also gerade nicht die Akzeptanz der ›Moor-SA‹ gesteigert haben. Dabei verwendete diese zur Repräsentation im Prinzip die gleichen Maßnahmen wie zuvor und griff auf gleichbleibende Stilelemente und Symboliken zurück. Doch während dieses Vorgehen in den 1930er Jahren noch einigen Erfolg aufzuweisen hatte, war es angesichts der realen Entwicklungen des Lagerprojekts nun nicht mehr tragfähig. Die Entwöhnung von ›Moor-SA‹ und Umgebungsbevölkerung zeigt sich auch anhand unterschiedlicher Trauerformeln. Während die Todesanzeige eines gefallenen SA-Mannes vom Februar 1942 diesen als »Inhaber des E. K. I und II und des Infanteriesturmabz., SA-Mann der Pionierstandarte 10«, also der ›Moor-SA‹, auswies, der bei »harten Abwehrkämpfen im Osten sein Leben für Führer, Volk und

Vgl. EZ, 15. 5. 1940, 22. 1. 1942, 4. 5. 1942, 6./7. 6. 1942 u. 27. 11. 1942. Vgl. Reinicke: Moor-SA, S. 149. 301 EZ, 6./7. 4. 1940. 302 EZ, 26. 11. 1940. 303 Ebd.

299

300

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351 Vaterland in treuer Pflichterfüllung hingab«, begann die Traueranzeige eines Gefreiten aus Bokel bei Papenburg mit den Worten »Gott fordert von uns ein schweres Opfer«. Auch hier gab es eine nationalistische, nicht aber völkische Trauerformel, die zudem religiös gerahmt war: »N. starb […] im Osten den Heldentod für sein Vaterland. Um ein andächtiges Gebet für den lieben Gefallenen bitten [die Angehörigen, D. R.].«304 Zu Kriegsbeginn war im Kreis Aschendorf-Hümmling auch von Katholiken in nahezu 50 Prozent der Fälle die Trauerformel »Führer, Volk und Vaterland« verwendet worden. Diese Form der Loyalitätsbekundung wurde aber über die Konfessionsgrenzen hinweg im Verlauf des Kriegs immer weniger genutzt. Parallel nahmen ab 1943 – also nach der Schlacht von Stalingrad – christlich geprägte Trauerformeln insbesondere unter Katholiken deutlich zu. Eine nochmalige Zunahme religiöser Bindungen lässt sich auch anhand der Kommunikantenstatistik ablesen, wobei hier die Trendwende schon ein bis zwei Jahre vorher einsetzte.305 Insofern verringerte sich die Schnittmenge mit der weiterhin ideologisch aufgeladenen Rollenzuschreibung der ›Moor-SA‹ im Laufe des Krieges deutlich. Auch aufgrund weiterhin auftretender Korruptionsfälle konnten die Wachmänner nun als »Kriegsdrücker« und Profiteure wahrgenommen werden.306 Dies war freilich nur eine Seite der Medaille, da sich auch die Zivilbevölkerung bei Kriegsende an den Überresten der Lager bereicherte und dabei Baugeräte und sogar Loren der Kleinbahn entwendete: Aus dem Betrieb des Wasserwirtschafsamtes Meppen und der staatlichen Moorverwaltung ›Emsland‹ in Neusustrum sind während und nach Beendigung der Kampfhandlungen große Mengen an staatseigenen Gegenständen (Gleis, Loren, Schiebkarren, Karrbohlen, Werkstättengeräte, Büromaterial, Bettwäsche, Möbel usw.) von Einwohnern der nächstliegenden Gemeinden entwendet oder von Unbefugten, größtenteils im Tauschwege mit Einwohnern, angekauft worden.307 Gleichzeitig bedeuteten religiöse Rückbesinnung und Beharrungsvermögen keineswegs Resistenz oder Widerständigkeit gegen das Regime. Das Staats- und Autoritätsverständnis des katholischen Milieus ließen es »zu einem ruhigen, willfährigen und komplikationsfreien Teilbereich werden«.308 In der öffentlichen SelbstwahrZit. n. Rinklake: Modernisierung, S. 67. Vgl. ebd. 306 Vgl. Buck: Lageralltag, S. 10. 307 Wasserwirtschaftsamt Meppen, 28. 9. 1945, in: NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 295. 308 Hubert Rinklake: »Ich habe weiter nichts getan, als was von jedem anständigen Staatsbürger verlangt werden muß.« NSDAP-Ortsgruppenleiter und ihre Entnazifizierung im katholischen Emsland, in: Frank Bajohr (Hg.): Norddeutschland im Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 166–184, hier: 176. 304 305

Gewöhnung und Entwöhnung

351

352 nehmung führte die religiöse Absetzbewegung aber dazu, dass die eigene Involviertheit im Nationalsozialismus als widerwillige und notgedrungene Beteiligung gedeutet wurde und sich das katholische Milieu von innen heraus unbelastet sah.309

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Vgl. ebd., S. 169–176. Zur Erinnerung an die Emslandlager vgl. jetzt auch Ann Katrin Düben: Die Emslandlager in den Erinnerungskulturen 1945–2011. Akteure, Deutungen und Formen, Göttingen 2022. Abstieg

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V. Nachklang (1943 – 1970) Mit Werner Schäfers Einberufung zur Wehrmacht im Mai 1942 war die Ära der ›Moor-SA‹ de facto zu Ende. Zunächst waren zwar noch etwa 300 SA-Männer im Wachdienst der Strafgefangenenlager tätig, vereinzelt berichtete auch die lokale Presse noch über die ›Moor-SA‹ – vor allem im Kontext ihrer Dienstjubiläen.1 Höherrangige SA-Führer waren nun jedoch nicht mehr vor Ort. Die alten Lagerleiter waren entweder als Beamte an andere Haftanstalten versetzt oder zum Kriegsdienst einberufen worden. Letzteres galt auch für Schäfers Adjutanten Hans-Hugo Daniels und Detlev Baumert sowie den zum Wachsturmbannführer aufgestiegenen Eberhard Hartmann.2 Schäfers Nachfolge als Führer der Wacheinheiten übernahmen daher mit Sauthoff, Dubbel und Garbatschek SA-Männer, die vormals der mittleren Führungsebene angehört hatten. Die Leitung der Lager ging dafür an Regierungsrat Hildebrandt aus der Zentralverwaltung über. Da sich ein Großteil der Wachmänner nun nicht mehr im Emsland befand, auch keine SA-Führer mehr vor Ort waren, die die Interessen der ›Moor-SA‹ mit entsprechendem Gewicht vertreten konnten, und schließlich auch die meisten verbliebenen SA-Männer in der zweiten Kriegshälfte eingezogen wurden, teilt sich die Nachgeschichte der ›Moor-SA‹ in zwei verschiedene Stränge: einen räumlichen, der die weitere Geschichte von Lagerstandorten und Emslanderschließung umfasst, und einen sozialen, der die weiteren Lebenswege von SA-Männern, die juristische Aufarbeitung und das Nachwirken der SA-Gemeinschaft behandelt.

1.

Die Perpetuierung des Lagers. Fortwährende Nutzung über den Systemwechsel

Ähnlich wie eine Vielzahl anderer Lagerstandorte wurden auch die Emslandlager sowohl vor als auch nach 1945 für unterschiedliche Zwecke genutzt. Dies galt bereits im Zweiten Weltkrieg für die acht Lager im südlichen Emsland und der Grafschaft Bentheim sowie Oberlangen, in denen nach- und nebeneinander polnische, belgische, französische, sowjetische und serbische Kriegsgefangene sowie italienische Militärinternierte inhaftiert wurden. Von den über 100.000 Häftlingen die1 2

Vgl. EZ, 2. 12. 1942 u. 29./30. 11. 1943. Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 243.

Nachklang

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354 ser Lager starben zwischen 16.000 und 28.000, vorwiegend sowjetische Kriegsgefangene.3 Die Lager Versen und Dalum wurden im Winter 1944 /45 als Außenlager des KZ Neuengamme genutzt und wiesen ebenfalls eine hohe Sterberate auf.4 Die sechs nördlichsten Lager wurden hingegen noch bis zu ihrer Befreiung als Strafgefangenenlager genutzt.

Die Strafgefangenenlager in der zweiten Kriegshälfte Die emsländischen Strafgefangenenlager waren im Zweiten Weltkrieg von einer zunehmenden Radikalisierung der Haftbedingungen geprägt. Neben den Militärstrafgefangenen ersetzten ›zivile Kriegstäter‹, die von Zivilgerichten zu Haftstrafen in Verbindung mit Wehrunwürdigkeit oder dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt worden waren, bis 1941 die Strafgefangenen der Vorkriegszeit. Auch für sie galt, dass die Gefangenschaft im Krieg nicht mit in die Strafzeit eingerechnet werden sollte.5 In der Folge wurden beide Gruppen zunächst ausschließlich an die Emslandlager überstellt, um sie bewusst den dortigen harten Haftbedingungen auszusetzen.6 Der Vorsteher des Lagers Esterwegen bekräftigte auf eine gerichtliche Anfrage hin: »Im übrigen fehlt dem Vollzug die eingangs geforderte Härte nicht. Schärfste Ordnung und strenge Disziplin sind Merkmale dieser Verwahrung. Widerstand wird, wenn notwendig, mit den schärfsten Mitteln gebrochen.«7 Für die wehrmachtsgerichtlich Verurteilten wurde zudem ausdrücklich nicht auf 3

4

5 6

7

Vgl. Karl Liedke: Völkerrecht und Massensterben: Die Kriegsgefangenenlager im Emsland und in der Grafschaft Bentheim 1939–1945, in: Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 195– 215; Maria Dierkes: Zustände und Mißstände in den Kriegsgefangenenlagern sowie bei Arbeitseinsätzen am Beispiel des Bathorn-Nebenlagers Stalag VI C, Oberlangen, in: Volkshochschule Nordhorn (Hg.): Lager, S. 104–126 sowie auch im größeren Kontext Rolf Keller: Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941 /42. Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Zwängen, Göttingen 2011. Vgl. Marc Buggeln: Meppen-Versen und Meppen-Dalum. Das System der KZ-Außenlager, in: Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 217–225. Zum Diffundieren des KZ-Systems in die NS-Gesellschaft vgl. ders.: Arbeit und Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen 2009; Stefan Hördler: Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015; Wagner: Produktion und Karola Fings: Sklaven für die »Heimatfront«. Kriegsgesellschaft und Konzentrationslager, in: Echternkamp (Hg.): Kriegsgesellschaft, S. 195–271. Vgl. Bührmann-Peters: Strafvollzug, S. 23–26. Vgl. Ausländer: Moorsoldaten, S. 176 u. KW II, S. 1333. Allerdings reichten die Kapazitäten schon Ende 1940 nicht mehr für sämtliche ›zivilen Kriegstäter‹ aus, die daraufhin auch an Zuchthäuser überstellt wurden. Vgl. ebd., S. 1338–1354. Vorsteher Lager VII, 11. 2. 1941, in: Frese: Blemsklötze, S. 184 f., hier: 185.

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Nachklang

355 ihre ›Moorfähigkeit‹ geachtet. Somit kamen auch Häftlinge mit Amputationen, Gonorrhoe oder offener Tuberkulose in die Emslandlager.8 Gleichzeitig wurden die Strafgefangenen rücksichtslos für die Belange der Kriegswirtschaft ausgenutzt und seit 1942 vermehrt in der Torfindustrie eingesetzt. Ende 1943 errichtete die Bremer Firma Klatte Zweigwerke zur Fertigung von Flugzeugteilen direkt bei den Lagern Esterwegen und Brual-Rhede. Im gleichen Jahr hatten die Gefangenen in Esterwegen bereits 142.000 kg Patronenhülsen für die Frankfurter Metallgesellschaft AG sortieren müssen. Somit erfolgte der Arbeitseinsatz nun auch direkt in der Rüstungsindustrie. Zur gleichen Zeit begann der Einsatz von Strafgefangenen für Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen, und die Arbeit in der s wurde wieder zurückgefahren.9 Bereits im Januar 1944 bemängelte das Gewerbeaufsichtsamt eine »unzureichende Be- und Entlüftung der Arbeitsstelle« der Firma Klatte beim Lager III, aufgrund derer »eine erhebliche Zahl von Lungenerkrankungen zu verzeichnen« war.10 Als »lebende Leichen« erschienen dem Strafgefangenen Paul Groß seine dort arbeitenden Mitgefangenen: »Die Gasluft bei Klatte brachte den Gefangenen in kurzer Zeit dermaßen herunter, dass Krankheiten schwerster Art unausbleiblich waren.«11 Bereits zuvor war die Todesrate unter den Strafgefangenen deutlich gestiegen und hatte schon 1942 ihren Höchststand erreicht. Die Lagerärzte monierten wiederholt die unzureichende Ernährung der Häftlinge und die Entkräftung durch den Arbeitseinsatz. Die Mindestzahl der zwischen 1940 und 1945 gestorbenen Strafgefangenen lag um das 12- bis 14-fache höher als im Zeitraum von 1934–1939.12 Im August 1942 wurde zudem mit etwa 2.000 Strafgefangenen der Emslandlager das Lager »Nord« in Norwegen eingerichtet, weitere rund 3.000 Häftlinge wurden ab Oktober 1943 im Lager »West« am Atlantikwall in Nordfrankreich eingesetzt. In beiden Fällen mussten die Strafgefangenen Befestigungsarbeiten und Straßenbaumaßnahmen für die Organisation Todt durchführen. Insbesondere im Strafgefangenenlager Nord herrschten katastrophale Bedingungen, sodass nahezu die Hälfte der Gefangenen umkam.13 Die Strafgefangenenlager boten somit ein Reservoir an Arbeitskräften, das den jeweiligen Erfordernissen im Kriegs-

8 9 10 11 12 13

Vgl. KmSGL, 7. 8. 1940, in: KW II, S. 1340. Vgl. Bührmann-Peters: Strafvollzug, S. 201–204 u. 228–238 und Buck: Lageralltag, S. 110 f. Zit. n. ebd., S. 110. Zit. n. ebd., S. 111. Vgl. KW III, S. 2369–2373 u. 2382–2385. Vgl. Bührmann-Peters: Strafvollzug, S. 240–253 und Horst Schluckner: Sklaven im Eismeer [1956], in: Fietje Ausländer (Hg.): Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990, S. 14–40.

Die Perpetuierung des Lagers

355

356 verlauf nahezu beliebig angepasst werden konnte – vorrangig im regionalen Kontext, durch die Kommandos »Nord« und »West« jedoch auch darüber hinaus.14 Für die noch nicht eingezogenen SA-Männer bedeutete dies, dass auch ihr Verbleib im Emsland keineswegs gesichert war. Durch weitere Einberufungen und Kommandierungen zu den Lagern in Norwegen und Frankreich sank die Zahl der ursprünglichen Wachmänner bis zum September 1943 auf etwa 80. Dafür wurde der Kantinenpächter in Esterwegen, als er 1942 notdienstverpflichtet wurde, aufgrund seiner langjährigen Militärdienstzeit umgehend zum Einheitsführer in Lager III ernannt.15 Während die Strafgefangenen so auch in besetzten Gebieten eingesetzt wurden, kamen umgekehrt Gruppen ausländischer Häftlinge in die nördlichen Emslandlager. In Neusustrum wurden von Juli 1940 bis Oktober 1941 polnische Strafgefangene inhaftiert, nach der Einführung der Wehrpflicht für Luxemburg und Elsass-Lothringen im August 1942 auch Gefangene aus diesen Regionen, die sich ihrer Zwangsrekrutierung widersetzt hatten. Von den 108 luxemburgischen Gefangenen wurden sieben im Rahmen einer Vergeltungsmaßnahme am 24. August 1944 auf dem Wehrmachtsschießplatz Schepsdorf bei Lingen erschossen, 91 wurden kurz nach ihrer Verlegung ins Zuchthaus Sonnenburg Opfer eines Massakers durch die SS.16 Zwischen Mai 1943 und April 1944 wurden 2.696 »Nacht-und-Nebel«-Gefangene (NN-Gefangene) in die Lager Esterwegen und Börgermoor verbracht. Die überwiegend aus Belgien, zu etwa zehn Prozent auch aus Nordfrankreich und vereinzelt aus den Niederlanden stammenden Gefangenen waren aufgrund des Verdachts, sich an Widerstandsaktionen beteiligt zu haben, bei »Nacht und Nebel« verschleppt worden. Das Sondergericht Essen und der Volksgerichtshof führten gegen sie nahezu 500 Prozesse im Emsland durch. Die Todesurteile gegen 165 der NN-Gefangenen wurden anschließend in zentralen Hinrichtungsstätten vollstreckt. 76 weitere NN-Gefangene kamen im Emsland selbst um, darunter zwölf Mitglieder der Widerstandsgruppe »De Zwarte Hand«, die am 7. August 1943 ebenfalls auf dem Schießplatz Schepsdorf erschossen wurden. Von Februar bis Mai 1944 überstellte man die übrigen NN-Gefangenen an das Zuchthaus Groß Strehlitz in Der Arbeitseinsatz in den Strafgefangenenlagern nahm damit praktisch eine entgegengesetzte Entwicklung zu dem im KZ-System. Dort wurden zuerst Betriebe bei den Lagern (und umgekehrt) angesiedelt; erst in der Spätphase des Krieges entstand ein nahezu flächendeckendes System von Außenkommandos. Vgl. besonders Wagner: Produktion. 15 Vgl. KW III, S. 2093; Vernehmung Johann B., 16. 12. 1948, in: KW I, S. 944 f. u. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1182. 16 Norbert Haase: Von »Ons Jongen«, »Malgré-nous« und anderen. Das Schicksal der ausländischen Zwangsrekrutierten im Zweiten Weltkrieg, in: Ders./Gerhard Paul (Hg.): Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt a. M. 1995, S. 157–173. 14

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Nachklang

357 Schlesien. Die verbliebenen Verfahren wurden Ende September 1944 eingestellt und die Häftlinge in Konzentrationslager deportiert.17

Das Herold-Massaker und die Befreiung der Lager Anfang April 1945 wurden die acht südlichen Emslandlager von alliierten Truppen befreit. Die Häftlinge der KZ-Außenlager Dalum und Versen waren kurz zuvor auf Todesmärsche in Richtung Neuengamme geschickt worden. Auch Strafgefangene der nördlichen Lager waren in zwei großen Evakuierungsmärschen planlos in Richtung Nordosten getrieben worden, nur um schließlich wieder umzukehren. Ein Teil dieser Gefangenen sowie die Häftlinge aus den anderen Lagern wurden schließlich um den 10. April im Lager Aschendorfermoor zusammengelegt. Etwa 3.000 Häftlinge befanden sich in dem für halb so viele Gefangene ausgelegten Lager.18 Zwei Tage später erschien ein »Hauptmann Herold« in Aschendorfermoor. Dabei handelte es sich um den 19-jährigen Gefreiten Willi Herold, der rund zwei Wochen zuvor bei Bentheim von seiner Einheit getrennt worden war und eine Hauptmannsuniform gefunden hatte. Auf seinem Weg Richtung Norden hatte er versprengte Soldaten um sich gesammelt und war zudem an ein Flak-Geschütz gelangt, das die Truppe nun mit sich führte. Herold wollte ursprünglich Gefangene für seine Einheit rekrutieren, begann vor Ort aber umgehend damit, Häftlinge erschießen zu lassen. Nur kurz wurde er vom stellvertretenden Kommandeur Thiel, Lagervorsteher Hansen und Kreisleiter Buscher unterbrochen, die sich erst rückversichern wollten. Nachdem die Gestapo in Emden ihr Einverständnis signalisiert hatte, trat Herold in den folgenden Tagen als Standgericht im Lager auf. Große Gruppen von Häftlingen wurden mit der Flak und Maschinenpistolen erschossen. Entflohene Gefangene wurden von Suchtrupps aus Herolds Einheit aufgespürt, zum Teil aber auch von Polizei, Volkssturm oder Zivilisten beim Lager abgeliefert und anschließend meist einzeln per Genickschuss ermordet. Andere Häftlinge ›begnadigte‹ der falsche Hauptmann; abends betranken er und seine Männer sich in der Kantine des Lagers. Insgesamt 172 Strafgefangene wurden auf Anordnung Herolds ermordet.19 Vgl. Wilfried Wiedemann: Verbrechen der NS-Justiz. Zur Geschichte der »Nacht-und-Nebel«-Gefangenen des Strafgefangenenlagers Esterwegen, in: Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 181–193 u. KW III, S. 2847–3086. 18 Vgl. Knoch: Emslandlager, S. 561 f. 19 Vgl. T. X. H. Pantcheff: Der Henker vom Emsland. Dokumentation einer Barbarei am Ende des Krieges 1945, Leer 21995; Paul Meyer: Willi Herold und das Lager Aschendorfermoor, in: Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 239–247 u. KW III, S. 3172–3200. Das Herold-Massaker und die Morde im Kontext der Evakuierungsmärsche sind keine singulären Ereignisse, sondern im breiteren Kontext einer Vielzahl sogenannter ›Endphasenver17

Die Perpetuierung des Lagers

https://doi.org/10.5771/9783835348035

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358 Bei britischen Fliegerangriffen auf die Flak-Stellung von Herolds Truppe wurde das Lager Aschendorfermoor nahezu vollständig zerstört. Als das Lager am 20. April befreit wurde, hatten sich Herold und seine Männer bereits nach Ostfriesland abgesetzt, wo sie in Leer fünf weitere Morde begingen. In Aurich wurde Herold schließlich enttarnt, von einem Marinegericht jedoch zur ›Frontbewährung‹ freigesprochen. Ende Mai 1945 nahmen ihn britische Soldaten in Wilhelmshaven schließlich fest. Mit fünf von insgesamt 13 weiteren Angeklagten, darunter die SA-Männer Bernhard Meyer, Karl Schütte, Hermann Brandt und Josef Euler, wurde Herold zum Tode verurteilt und am 14. November 1946 in Wolfenbüttel hingerichtet.20 Euler gab bei seiner Aussage unumwunden zu, bereits vor Herolds Eintreffen flüchtige Strafgefangene erschossen zu haben. Er und Halbzugführer Engelbert Widhalm gehörten eigentlich schon zum Volkssturm, jedoch begaben sich die beiden vom 8. April an auf eine mehrtägige Odyssee, bei der sie versuchten, aus dem halb verlassenen Lager Börgermoor Proviant und anschließend Widhalms eigenes Motorrad in Westrhauderfehn abzuholen. Dabei begegneten sie öfters Gefangenentransporten aus Börgermoor und Gruppen geflohener Gefangener. Im Dorf Bockhorst rief eine Frau, bei ihr würde geplündert. Zur selben Zeit sahen wir zwei Gefangene von der rechten Seite der Strasse, ungefähr 10–12 m vor uns vorbei über die Strasse […] laufen. Daraufhin haben Widhalm und ich sofort geschossen und trafen jeweils einen. Der eine war sofort tot, ich bin auf den anderen zu, der nicht sofort tot war und habe ihm den Gnadenschuss gegeben.21 Am nächsten Tag beteiligten sie sich an der Suche nach entflohenen Gefangenen. Zwei davon sahen sie nahe Papenburg auf der anderen Seite des Splittingkanals und riefen ihnen zu, in Richtung Norden zur nächsten Brücke zu gehen. Ein Gefangener versteckte sich daraufhin zwischen den Häusern, der andere wandte sich Richtung Süden. Widhalm, der nur eine Hand hat, […] legte seinen Karabiner auf meine Schulter und schoss. Der Gefangene fiel um, er rollte die Böschung bis kurz vor das brechen‹ zu sehen. Vgl. hierzu Sven Keller: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944 /45, München 2013; Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944 /45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes. Reinbek b. H. 2011 und Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944 /45, Stuttgart 2011; als regionale Dokumentation zudem Jens-Christian Wagner (Hg.): 70 Tage Gewalt, Mord, Befreiung. Das Kriegsende 1945 in Niedersachsen, Göttingen 2015. 20 Vgl. Pantcheff: Henker, S. 127–232. Ein weiteres, siebtes Todesurteil wurde anschließend aufgehoben. 21 NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 110.

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Nachklang

359 Wasser herunter und wir riefen den in der Gegend befindlichen Einwohnern zu, sich um die Beerdigung des Mannes zu kümmern.22 Am nächsten Tag erschoss Euler erneut einen flüchtigen Gefangenen, ohne ihn vorher anzurufen. Im Herold-Verfahren konnten ihm zudem weitere Morde nachgewiesen werden. Engelbert Widhalm wurde erst in einem zweiten Verfahren vor dem Landgericht Oldenburg angeklagt und im November 1949 trotz seiner Anwesenheit bei den Erschießungen in Lager II freigesprochen. Einen Monat später wurde er wegen Gefangenenmisshandlung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis und im Juni 1950 schließlich unter anderem wegen des Mordes an den entflohenen Gefangenen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.23

Weiternutzung der Lager nach dem Krieg Auch nach der Befreiung erfuhren die Lagerstandorte zum Teil noch mehrere Umwidmungen. Während ein Großteil der befreiten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter aus Westeuropa zügig in ihre Heimatländer zurückkehrten, war die Repatriierung für mittel- und osteuropäische Staatsangehörige aufgrund der politischen Umbrüche in ihren Heimatländern oftmals mit großen Unsicherheiten verbunden. Wenige Monate nach Kriegsende waren im Emsland ungefähr 40.000 solcher Displaced Persons (DPs) registriert.24 Bis auf das zerstörte Lager Aschendorfermoor und Börgermoor wurden sämtliche Lager zunächst zur Unterbringung überwiegend polnischer DPs genutzt. Im Lager Groß-Hesepe wurden von Oktober 1945 bis Juli 1948 baltische DPs zusammengeführt, in Alexisdorf und Bathorn bis Ende 1945 beziehungsweise Mai 1948 ukrainische DPs.25 Im nördlichen Emsland wurde von 1945 bis 1948 zudem eine polnisch verwaltete Enklave in der britischen Besatzungszone eingerichtet, unter anderem da polnische Truppen bei der Besetzung der Region mitgekämpft und in den Kriegsgefangenenlagern auch Soldatinnen des Warschauer Aufstands befreit hatten. Haren als Verwaltungssitz dieser Zone wurde zwischenzeitlich geräumt und, in Maczków umbenannt, zum Auffangbecken für viele polnische DPs. Bis zu

Ebd. Vgl. NLA Oldenburg Rep 945 Best 140-4 Nr. 822 u. 824; KW II, S. 2168–2187. 24 Vgl. Reinicke: Continuity, S. 45. 25 Vgl. Andreas Lembeck: Befreit, aber nicht in Freiheit. Displaced Persons im Emsland 1945– 1950, Bremen 1997; zum Rechtsstatus der DPs Wolfgang Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985. 22 23

Die Perpetuierung des Lagers

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360 19.000 polnische Soldaten und 29.000 DPs lebten in der polnischen Besatzungszone, mehr als die Hälfte von ihnen in den befreiten Lagern.26 Börgermoor wurde hingegen zunächst zur Unterbringung von Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten genutzt. Esterwegen wurde ab Juni 1945 Civil Internment Camp No. 9, später No. 101, der britischen Militärregierung. Dort wurden überwiegend mutmaßliche Kriegsverbrecher und nationalsozialistische Funktionsträger interniert. Neben etwa 1.600 ehemaligen KZ-Wachmännern wurden auch Angehörige der Wachmannschaften der Strafgefangenenlager gefangen gehalten, so auch vom 2. April bis 9. Mai 1946 Werner Schäfer und von Mai 1945 bis Mai 1946 der letzte Führer der Pionierstandarte 10, Kurt Garbatschek. Von Juni bis Juli 1947 wurden die verbliebenen 1.500 Internierten nach Hamburg-Fischbek in ein neues »War Criminal Holding Centre« verlegt. Anschließend wurde das Lager für NS-Funktionäre genutzt, die von britischen Spruchgerichten verurteilt worden waren. Von anfänglich 900 Gefangenen waren im Sommer 1950 noch 43 in Haft, 1951 wurde auch dieser Lagerteil aufgelöst.27 Am 13. April 1946 wurden die Strafanstalten Emsland mit Verwaltungssitz in Papenburg eingerichtet, die in den Lagern erneut Strafgefangene unterbringen sollten. Börgermoor wurde im Mai des Jahres als Abteilung eingerichtet und ausgebaut. Auch in Esterwegen wurden ab Sommer 1947 parallel zu den Spruchgerichtsverurteilten wieder Strafgefangene inhaftiert. Neusustrum und Brual-Rhede wurden im April beziehungsweise im Juni 1948 mit Gefangenen belegt, Ende des Jahres auch das Lager Versen. Ab 1949 wurden auch Wesuwe, Groß-Hesepe, Dalum, Wietmarschen und Bathorn wieder als Strafgefangenenlager genutzt. In Walchum wurden hingegen die Baracken abgebaut, um damit beschädigte Lagerbauten an den anderen Standorten zu ersetzen.28 Der neue Leiter der Strafanstalten Emsland, Wilhelm Badry, der zuvor das Jugendgefängnis Johannesburg in Surwold geführt hatte, griff dafür zum Teil auf frühere Beamte der nationalsozialistischen Strafgefangenenlager zurück. Dabei dif-

Vgl. Jan Rydel: Die polnische Besatzung im Emsland 1945–1948, Osnabrück 2003. Vgl. Sebastian Weitkamp: Internierungslager und Spruchgerichtsgefängnis Esterwegen 1945–1951, in: Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 249–254. Aussagen internierter SA-Wachmänner finden sich in NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1246. Zur Internierungspraxis im Nachkriegsdeutschland vgl. Lutz Niethammer: Alliierte Internierungslager in Deutschland nach 1945. Vergleich und offene Fragen, in: Christian Jansen / Lutz Niedhammer/Bernd Weisbrod (Hg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Berlin 1995, S. 469–492. 28 Vgl. NLA Oldenburg Rep 945 Best 140-4 Nr. 1523 u. JVA Lingen: Geschichtliche Entwicklung der JVA Lingen, Online-Ressource unter ‹https://www.jva-lingen.niedersachsen.de/ download/46954/Geschichtliche_Entwicklung_der_JVA_Lingen.pdf›, letzter Abruf: 28. 5. 2018. 26 27

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361 ferenzierte er allerdings nach dem Ruf des betreffenden Beamten. Badry wollte beispielsweise Regierungsrat Kurt Kramer, der eng mit Werner Schäfer zusammengearbeitet hatte, Ende 1945 aus dem Aufbaustab für die neuen Lager wegversetzen lassen. Kramer strebte ihm zufolge »den Aufbau und den Strafvollzug in den Lagern in der bisherigen Form« an und hatte »bereits in den ersten Tagen versucht, in den Besprechungen über Neueinstellungen seine Parteifreunde gegenüber Nichtparteigenossen zu bevorzugen.«29 Wenig später musste Kramer auf Anordnung der britischen Militärregierung den Justizdienst verlassen. Justizoberinspektor Georg Werner, dem ehemaligen Lagervorsteher von Walchum, attestierte Badry hingegen, er habe »in seinem Dienstbereich Gefangenenmißhandlungen weitgehend unterbunden. Das Lager gehörte zu den bestgeleiteten. Es herrschte Ordnung und Disziplin, ohne daß Härten offenbar wurden.«30 Nachdem die Militäradministration auch Werner aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft zwischenzeitlich aus dem Dienst hatte entfernen lassen, setzte sich Badry für dessen Rückkehr ein. Ab Anfang 1948 leitete Werner wieder das Lager Esterwegen. Badry sah auch weiterhin die »Notwendigkeit der Durchführung der Emslandkultivierung« aufgrund des Mangels an »Lebensraum für die vielen Flüchtlinge«, knapper Nahrungsmittel und der bislang investierten Geldmittel. Seiner Ansicht nach konnte die Kultivierung »nur durch Gefangene durchgeführt werden, da sonst die Kosten unerschwinglich hoch würden.«31 Der nun freiwillige Arbeitseinsatz wurde vertraglich zwischen dem weiterhin als Leiter des Wasserwirtschaftsamts tätigen Wilhelm Sagemüller und Badry vereinbart. Bis in die 1950er Jahre arbeiteten durchgehend etwa 800 bis 1.000 Strafgefangene in der Moorkultivierung.32 Zum 10. Oktober 1951 wurden die Strafanstalten Emsland mit der Haftanstalt Lingen offiziell zur Strafanstalt Lingen zusammengelegt. Börgermoor, Esterwegen, Neusustrum, Versen und Groß-Hesepe wurden weiter als Außenstellen genutzt. Letztere besteht bis heute, am Standort Versen wurde 1982 die JVA Meppen errichtet. Die drei nördlichen Lager wurden in den 1950er Jahren aufgelöst; Esterwegen diente von 1953 bis 1959 noch als Durchgangslager für DDR-Flüchtlinge. Auch Brual-Rhede wurde von 1953 bis 1961 als »Flüchtlingsdurchgangslager Rhederfeld« genutzt. Oberlangen diente in den 1950er Jahren als Lager für zukünftige Siedlerfamilien. In Wietmarschen und Alexisdorf wohnten Flüchtlinge

Badry, 3. 12. 1945, in: Personalakte Kurt Kramer II, NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 1. Badry, 8. 1. 1946, in: NLA Oldenburg Rep 945 Akz 250 Nr. 37. 31 NLA Oldenburg Rep 945 Best 140-4 Nr. 1523. 32 Vgl. NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 295 u. Haverkamp: Erschließung, S. 111 f. Eine kritische Einordnung zur Rolle Sagemüllers über das Kriegsende hinaus liefern Christoph Rass / Kathrin Hilgediek: Der Mann im Hintergrund. Wilhelm Sagemüller – ein vergessener Täter?, in: Emsländische Geschichte 22 (2015), S. 278–315.

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Die Perpetuierung des Lagers

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362 und Vertriebene, die Lagerbauten wurden sukzessive durch Wohnhäuser ersetzt. An den anderen Lagerstandorten wurden die Baracken bald nach dem Ende der Nutzung abgerissen oder untergepflügt und das Gelände überwiegend land- und forstwirtschaftlich genutzt.33

Das ›Vermächtnis‹ der ›Moor-SA‹ Waren die Ergebnisse des völkischen Modernisierungsprojekts im Hinblick auf die kultivierten Flächen höchst bescheiden geblieben, sah die Bilanz im Bereich der Infrastruktur anders aus: Mit dem Bau der Nord-Süd-Straße war der Zugang zu den Erschließungsgebieten im Bourtanger Moor überhaupt erst ermöglicht worden. Insgesamt wurden von den Strafgefangenen bis Mitte 1941 516 km Straßen und Wirtschaftswege gebaut und etwa 700 km Feldbahn verlegt.34 Thomas Südbeck sieht darin eine »spürbare Verdichtung des emsländischen Straßen- und Wegenetzes und […] eine erste wichtige Grundlage« für die weitere verkehrliche Erschließung der Region.35 Ähnliches gilt für die Entwässerung der Moorgebiete. Auch die Summe der entwässerten und vorentwässerten Flächen war mit 4.550 ha nicht sonderlich groß, doch waren seit 1934 insgesamt 626 km Vorfluter gegraben worden. Darunter befanden sich mehrere Großprojekte wie der »Brualer Schloot«, der als Hauptvorfluter das Gebiet um Rhede und Brual entwässerte; hinzu kamen 37 km Deiche, 134 Brücken und Durchlässe sowie sechs Schöpfwerke.36 Im Vergleich zur kärglichen Zahl neuer Siedlerstellen war »perspektivisch der Wert der Gefangenenarbeiten im Bereich der infrastrukturellen Erschließungen ungleich größer.«37 Das völkische Modernisierungsprojekt soll damit keineswegs beschönigt werden. Der bewusste, weitgehende Verzicht auf Maschinen, die Kompetenzstreitigkeiten der beteiligten Stellen und die konsequente Unterversorgung und Misshandlung der Strafgefangenen führten dazu, dass die Arbeiten am Siedlungsprojekt höchst ineffizient blieben. Gerade bei den beteiligten Reichsbehörden geriet die Emslanderschließung nie an die Spitze der Agenda, sondern verblieb in den Händen mittlerer Verwaltungsbeamter. So blieb auch die finanzielle Ausstattung des Projekts – gemessen an seinem Umfang – stets defizitär. Die Resultate der nationalsozialistischen Emslanderschließung mit denen der Weimarer Republik gleichzusetzen ist aber ebenso wie die Einschätzung, das völ-

Vgl. Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 305–333. Vgl. Beauftragter an RJM, 15. 8. 1941, in: KW I, S. 921–932. 35 Südbeck: Motorisierung, S. 333. 36 Vgl. Beauftragter an RJM, 15. 8. 1941, in: KW I, S. 921–932. 37 Knoch: Emslandlager, S. 552. 33 34

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Nachklang

363 kische Modernisierungsprojekt habe durch eine ausschließliche Fokussierung auf die Siedlungstätigkeit wenig zur Gesamterschließung der Region beigetragen, nur zum Teil berechtigt.38 Der Idee einer ›inneren Kolonisierung‹ folgend waren die Arbeiten zwischen 1925 und 1942 vorrangig auf die Erschließung landwirtschaftlicher Nutzflächen konzentriert. Während die Dökult vor 1933 nur nahe bestehender Verkehrswege tätig gewesen war, blieben die Kultivierungserfolge nach der Machtübertragung auch deshalb überschaubar, weil die Arbeiten nun auch im Bourtanger Moor westlich der Ems erfolgten.39 In den völlig überzogenen Zielvorstellungen des nationalsozialistischen Siedlungsprojekts waren nur zehn Prozent der Gefangenenarbeit für Infrastrukturmaßnahmen veranschlagt. Ungeachtet dessen waren in den Vorkriegsjahren aber durchgehend mehr Strafgefangene für die damit betraute Kulturbauleitung tätig als für die staatliche Moorverwaltung, die das nachfolgende Kultivieren der Flächen beaufsichtigte.40 An diese Vorarbeiten konnte später allerdings »nahtlos mit dem ›Emslandplan‹ von 1950 angeschlossen werden, denn von den Strafgefangenen angelegte Straßen und Kanäle standen hinreichend bereit.«41 Die Idee einer regionalen Gesamterschließung wiederum war erst in den 1930er Jahren aufgekommen. Ausgehend von den noch wenig konkreten Ideen Adolf Sonnenscheins entwickelten nationalsozialistische Raumplaner gerade anhand des Emslands dahingehende Konzepte, freilich ohne dass eine zentrale Koordinationsstelle entstanden wäre. Planer und Pläne sollten zum zweiten Bindeglied vom völkischen Modernisierungsprojekt zum Emslandplan werden: Bezirksplaner Hugle war noch 1945 auf seine Stelle in Osnabrück zurückgekehrt und beschäftigte sich weiterhin mit der Erschließung des Emslands. Umgehend ließ er den »Verein zur Förderung der Wohlfahrt des Emslandes« – einen Zusammenschluss von Honoratioren und Unternehmern – wieder aufleben.42 Um die Kultivierungsarbeiten voranzutreiben, fasste Hugle neue Personengruppen ins Auge: Es gibt im Lande Niedersachen schätzungsweise 30–40 000 vorwiegend jugendliche Menschen in der Altersstufe von 16–30 Jahren, die keine ordentliche Heimat haben und keiner geregelten Beschäftigung nachgehen, daher durch die

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Vgl. in dieser Richtung vor allem Haverkamp: Erschließung, S. 21 u. 81 f., aber auch Südbeck: Motorisierung, S. 332 f. und Rinklake: Modernisierung, S. 60 f. Bezeichnenderweise lagen auch die meisten nach 1933 entstandenen Siedlerstellen östlich der Ems. Vgl. KW I, S. 570, 746 u. 903. Erst im Jahr 1940 wurden bei der Moorverwaltung (2.800) mehr Gefangene beschäftigt als beim Wasserwirtschaftsamt (2.500). Vgl. ebd., S. 909. Knoch: Emslandlager, S. 552. Vgl. NLA Osnabrück Rep 430 Dez 106 Akz 15 /65 Nr. 486.

Die Perpetuierung des Lagers

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364 Einwirkungen der Strasse, des Schwarzhandels usw. auf die Stufe der Asozialen herabzusinken drohen.43 Gemeinsam mit dem Landesjugendamt und dem Beauftragten des Staatskommissars für das Flüchtlingswesen skizzierte er eine Unterbringung von je 1.000–2.000 Personen in den einzelnen Emslandlagern: »Der geschlossene Einsatz ist schon deshalb erforderlich, weil eine gewisse Überwachung […] gewährleistet sein müsste.«44 Hier zeigt sich, dass Hugle die Abkehr von vorherigen Methoden noch nicht vollständig vollzogen hatte. Doch dachte er bereits die Gründung einer privaten Gesellschaft zur Emslanderschließung an und räumte inzwischen der infrastrukturellen Erschließung eine wichtigere Rolle ein.45 Im Februar 1948 wurde Hugle vom Osnabrücker Regierungspräsidenten Petermann beauftragt, einen neuen Zehnjahresplan zur Emslanderschließung zu erstellen. Neben den verschiedenen Publikationen von sich und anderen NS-Planern konnte Hugle hier vor allem auf die im Auftrag der Rf R 1938 aufgestellten Pläne zurückgreifen, mit denen er einen breiten Fundus an Karten- und Datenmaterial zur Verfügung hatte. Dadurch konnte er innerhalb eines Jahres einen neuen Erschließungsplan vorlegen, bei dem er die alten Pläne zum Teil direkt übernahm. Dies bildete die planerische Grundlage für den am 5. Mai 1950 vom Deutschen Bundestag beschlossenen Emslandplan und die Gründung der Emsland GmbH im Folgejahr. Die regionale Erschließung sollte nun allerdings »unter Abkehr von manchen unzweckmäßigen Methoden nach 1933« umgesetzt werden.46 Für den Emslandplan wurden in der ersten Hälfte der 1950 Jahre etwa 25 Prozent der staatlichen Mittel zur Regionalförderung aufgewendet, von 1955 bis 1960 noch 15 Prozent. Insgesamt erhielt die Emsland GmbH 2,1 Milliarden DM an Zuwendungen. Mit diesem massiven Einsatz finanzieller Mittel und dem Einsatz eigens für das Tiefpflügen entwickelter Dampfpflüge wurde die Kultivierung der Moor- und Ödlandflächen innerhalb von zehn Jahren weitestgehend abgeschlossen. Doch auch hier lag das Hauptaugenmerk noch auf der Gewinnung landwirt-

Richard Hugle: Vermerk Mai 1947, in: Nachlass Hugle, NLA Osnabrück Dep 116 Akz 2001 /059 Nr. 70. 44 Ebd. 45 Vgl. ebd. Ähnlich äußerte sich auch Regierungsrat Herzog vom Kulturamt Meppen. Vgl. NLA Osnabrück Rep 675 Mep Nr. 295. 46 Dezernat Landesplanung Osnabrück, 4. 2. 1950, zit. n. Südbeck: Motorisierung, S. 344 f. Vgl. auch ebd., S. 343–348; Der Regierungspräsident Osnabrück (Hg.): 10-Jahresplan für die Erschließung und Besiedlung des Emslandes, o. O. o. J. [1949] und Richard Hugle: Das Hannoversche Emsland. Ein Raumordnungsplan nach den Grundsätzen der Landesplanung, Hannover 1950.

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Nachklang

365 schaftlicher Nutzflächen. Erst in den 1960er Jahren wurde der notwendige strukturelle Wandel der Region unterstützt.47

2. Nach der Gemeinschaft. Lebenswege von SA-Männern nach der ›Moor-SA‹ Die Männer der ehemaligen ›Moor-SA‹ waren bei Kriegsende weit verstreut. Viele von ihnen waren in Kriegsgefangenschaft geraten, aus der sie zum Teil erst nach mehreren Jahren zurückkehrten.48 Andere waren im Krieg gefallen. Ihre Zahl wurde bereits im November 1942 mit 140 angegeben. Da SA-Männer, die die ›Moor-SA‹ zuvor verlassen hatten, darin nicht mit einbezogen waren und in den letzten zweieinhalb Kriegsjahren weitere Tote hinzukamen, dürften es insgesamt mehrere Hundert gewesen sein. Während eine Gesamtzahl der Gefallenen nicht mehr zu ermitteln ist, lässt sich der Tod einzelner SA-Männer belegen, darunter Schäfers Adjutant Detlev Baumert oder der zur Gewaltclique in Aschendorfermoor gehörende Wachtmeister Willi Wüster.49 Wilhelm Rathey, der als ›Tausendzähler‹ im Lager Aschendorfermoor eine Vielzahl an Gefangenenmisshandlungen begangen hatte, starb im Januar 1946 in einem britischen Kriegsgefangenenlager in Belgien. Es ist davon auszugehen, dass auch in Kriegsgefangenschaft weitere SA-Männer starben.50 Obwohl Rathey bereits im Mai 1939 zur ›Moor-SA‹ gekommen war, sind Misshandlungen durch ihn erst für die Jahre 1943 bis 1945 bekannt, da er zuvor dem Musikzug angehört hatte. Erstaunlicherweise wurde dieser erst im Frühjahr 1943 aufgelöst und die betreffenden SA-Männer in die Wachmannschaften eingegliedert. Damit gehörten die 20 SA-Männer des Musikzugs zu jenen, die am längsten im Emsland blieben. Noch im November 1943 war eine ausreichende Zahl Angehöriger des Musikzugs vor Ort, um zum zehnjährigen Jubiläum der ›Moor-SA‹ aufzuspielen. Zumindest vier von ihnen, Rathey, Musikzugführer Karl Schütte

Vgl. Haverkamp: Erschließung, S. 98–252. Der ehemalige Wachsturmbannführer Eberhard Hartmann etwa war im Mai 1945 von amerikanischen Truppen gefangen genommen und noch im gleichen Monat an die Rote Armee übergeben worden. Erst im Januar 1954 wurde er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 243. 49 Vgl. zur Angabe 1942 Personalakte Kurt Kramer II, NLA Oldenburg, Rep 945 Akz 146 Nr. 1. Baumert starb am 18. 2. 1945 bei Kampfhandlungen im brandenburgischen Guben, Wüster bereits am 28. 1. 1943. Vgl. NLA Oldenburg Rep 945 Best 140-4 Nr. 427 u. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 985. 50 Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 114. 47 48

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366 und die Brüder Heinrich und Matthias R., blieben bis zum Schluss bei den Strafgefangenenlagern.51 Während sich die letzten Wachmänner nach dem Luftangriff auf das Lager Aschendorfermoor absetzten und dort mehrere verwundete Häftlinge zurückließen, waren andere Wachmänner, die das Kommando ›West‹ begleitet hatten, im Herbst 1944 nach Lendringsen im Sauerland verlegt worden, wo die Häftlinge unter dem Decknamen »Eisenkies« eine unterirdische Benzinproduktion aufbauen sollten.52 Nach Kriegsende kehrten wiederum Angehörige der ›Moor-SA‹, die ihre Familien im Emsland hatten, dorthin zurück – so etwa Schäfers vormaliger Adjutant Hans-Hugo Daniels.53 Werner Schäfer selbst war 1942 in Stalingrad eingesetzt worden, kam aber im Oktober 1942 aufgrund einer Malariaerkrankung zurück ins Reichsgebiet. Während seiner Heimaturlaube stattete Schäfer den Wachmannschaften regelmäßig Besuche ab. 1944 wurde er, inzwischen zum Leutnant befördert, in Rumänien, Polen und an der Westfront eingesetzt, wo er im September 1944 schwer verwundet wurde. Bereits im Oktober 1944 meldete er sich freiwillig an die Ostfront und wurde dort im April 1945 erneut schwer verwundet. Zeitweise erblindet, erlebte er das Kriegsende im Lazarett in Lübeck. Auch Schäfer kehrte ins Emsland zurück und wurde am 27. August 1945 in Aschendorf von den britischen Besatzungsbehörden festgenommen.54

Die ›Moor-SA‹ vor Gericht Spätestens im Sommer 1945 begann die britische Militärregierung damit, Ermittlungen zu den Emslandlagern einzuleiten. Ein gesteigertes Interesse der Besatzungsbehörden ergab sich durch das Endphasenverbrechen der Gruppe um Herold und dadurch, dass sich mit den NN-Gefangenen und den KZ-Häftlingen in Versen und Dalum auch Staatsangehörige der Alliierten unter den Opfern befanden.55 Von britischer Seite wurden 1946 /47 insgesamt drei Verfahren mit Bezug zu den Emslandlagern durchgeführt. Den Auftakt bildete das Verfahren gegen Herold und 13 weitere Angeklagte, das vom 13. bis 26. August 1946 vor einem Military Government Court in Oldenburg verhandelt wurde. Bei der Urteilsverkündung am 29. August wurde sieben Mal die Todesstrafe verhängt, sieben Angeklagte wurden

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Vgl. ebd; EZ, 29./30. 11. 1943; Aussage Heinrich R., 7. 2. 1946, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1246 u. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1113. Vgl. KW I, S. 942–945. Vgl. NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 106. Vgl. Weitkamp: SA, S. 159; Urteil Schäfer 1950 u. NLA Osnabrück, Rep. 947 Lin I Nr. 560. Vgl. Pantcheff: Henker, S. 68–70.

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Nachklang

367 freigesprochen. Ein Todesurteil wurde später aufgehoben. Die verbliebenen Todesurteile bezogen sich mit Ausnahme Herolds auf Angehörige des Lagerpersonals. Bis auf den Justizhauptwachtmeisters Karl Hagewald waren alle als SA-Männer zu den Strafgefangenenlagern gekommen und bekleideten als einige der letzten Verbliebenen 1945 hohe Posten in den Wachmannschaften. Bernhard Meyer und Karl Schütte waren Einheitsführer in Börgermoor beziehungsweise Aschendorfermoor, Hermann Brandt und Josef Euler Oberwachtmeister in Esterwegen gewesen. Schütte war ursprünglich Führer des Musikzugs, Euler 1937 als Friseur zur Wachmannschaft im Lager Walchum gekommen.56 Die SA-Männer beriefen sich zum Teil auf Befehlsnotstand. Dies widerlegte jedoch die Zeugenaussage Arnulf Anwanders zum Beginn der Erschießungen am 14. April 1945: Schütte ging zu sämtlichen Wachposten und befahl ihnen zu schießen. Ich konnte mich nicht dazu durchringen … Die ganze Prozedur war ein Unrecht … Sie waren nicht mal verurteilt worden … Deshalb weigerte ich mich, dem Schießbefehl zu gehorchen.57 Anwanders Aussage verdeutlicht, dass es auch in dieser Extremsituation für Beteiligte noch möglich war, eigenen moralischen Maßstäben gemäß zu handeln, zumal die Weigerung keine negativen Konsequenzen für ihn hatte. Für Anwander sind aus seiner vorherigen Dienstzeit bei den Emslandlagern seit April 1937 keine Gewaltakte dokumentiert, was allerdings nicht ausschließt, dass auch er Gefangene schlug.58 Das zweite britische Verfahren bezog sich auf Kriegsverbrechen, die 1943 /44 an den »Nacht-und-Nebel«-Gefangenen in Esterwegen verübt worden waren. Da diese Häftlinge das Lager nicht verlassen konnten, waren hier nur mit der Innenbewachung betraute Justizbeamte angeklagt, zu denen keine vormaligen SA-Wachmänner gehörten. Gleiches galt für die Angeklagten im sogenannten Husum-Verfahren, in dem unter anderem Verbrechen in den KZ-Außenlagern Versen und Dalum verhandelt wurden.59 Ein viertes Verfahren, der ›Emsland Case‹, wurde jedoch nicht mehr durchgeführt. Zur Vorbereitung dieses Verfahrens waren Werner Schäfer, Kurt Garbat-

Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 111 u. 1226; NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1113 u. Nr. 1115 sowie NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 265. 57 Zit. n. Pantcheff: Henker, S. 148. 58 Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1226. 59 Vgl. KW III, S. 2982–3019 und Wolfgang Form / Christian Pöpken: Der Umgang mit den Tätern. Die strafrechtliche Aufarbeitung, in: Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 263– 275. 56

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368 schek und andere ehemalige Wachleute eigens nach Colchester in Essex verlegt worden. Schließlich vereinbarten die britischen Ermittlungsbehörden mit dem Oldenburger Oberstaatsanwalt Carstens aber, dass deutsche Gerichte die weitere Aufarbeitung übernehmen sollten. Die Briten überstellten dazu Vernehmungsprotokolle und Zeugenaussagen zu 82 Angehörigen der Wachmannschaften an die deutschen Behörden.60 Von deutscher Seite wurden daraufhin zwischen 1948 und 1952 zwölf Verfahren gegen Angehörige der ›Moor-SA‹ durchgeführt, zunächst vor dem Landgericht Oldenburg, nach einem Zuständigkeitswechsel Anfang 1950 vor dem Landgericht Osnabrück. Hatten die britischen Militärgerichte noch jeweils Todesstrafen verhängt, verurteilten deutsche Gerichte nur einen SA-Wachmann überhaupt zu einer Zuchthausstrafe: Engelbert Widhalm, der bereits vor der Ankunft von Herolds Truppe Gefangene erschossen hatte, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.61 Auch gegen den nicht zur ›Moor-SA‹ gehörenden Vorsteher des Lagers Börgermoor, Wilhelm Rohde, wurde vom Landgericht Berlin im Februar 1950 eine 15-jährige Zuchthausstrafe verhängt. Im Wiederaufnahmeverfahren wurde er 1959 jedoch freigesprochen.62 Die von den Ermittlungsbehörden aufgenommenen Zeugenaussagen und bei ihnen eingegangenen Berichte ehemaliger Häftlinge dokumentierten die fortwährenden Misshandlungen der Wachmannschaften genau und sind in dieser Arbeit intensiv genutzt worden, um die Gewaltpraxis der ›Moor-SA‹ nachzuzeichnen. Dennoch erwiesen sie sich für den vor Gericht geforderten Nachweis konkreter Einzelhandlungen oft als unzureichend. In einem der ersten Urteile hieß es zu Belastungszeugen, die selbst nicht unmittelbar betroffen waren, sie hätten zunächst nur allgemeine Eindrücke wieder[gegeben], ohne die Vorgänge zu umgrenzen, indem sie etwa sagten, der betreffende Angeklagte habe wiederholt (oft, sehr oft) die Gefangenen mit dem Gummiknüppel geschlagen. Auf die Vorhaltungen des Vorsitzenden gaben die Zeugen dann wohl Einzelheiten [an], ohne jedoch in allen Fällen die Beobachtung nach Zeitpunkt und Anlass umgrenzen zu können.63

Vgl. Oberstaatsanwalt Oldenburg, 29. 3. 1947, in: NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1216. 61 Vgl. KW II, S. 2168–2187. 62 Vgl. Urteil Rohde u. Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 348–355. 63 Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342. Dies gilt in noch stärkerer Ausprägung auch für Überlebende von Konzentrations- und Vernichtungslagern als Belastungszeugen in den entsprechenden Verfahren. Vgl. John Cramer: Belsen Trial 1945. Der Lüneburger Prozess gegen Wachpersonal der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen, Göttingen 2011, S. 158–174. 60

368

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369 So mussten ehemalige Gefangene vor Gericht ihre ursprünglichen Aussagen in Teilen einschränken, beispielsweise, wenn sie im Vorverfahren angegeben hatten, Gefangene seien täglich misshandelt worden, in der Hauptverhandlung aber nicht beeiden wollten, dass es ausnahmslos an jedem Tag zu Misshandlungen gekommen war.64 Dadurch sahen die Richter »eine bisweilen breitere, bisweilen schmalere Randzone in ihrer Aussage, die als unsicher bezeichnet werden« musste.65 Dass diese mangelnde Konkretheit neben der Haftsituation und dem zeitlichen Abstand vor allem der gleichermaßen ubiquitären wie willkürlichen Gewalt der SAMänner geschuldet war, vermochten die Gerichte – selbst wenn sie dies erkannten – strafrechtlich nicht greifbar zu machen, auch wenn die Angeklagten oftmals wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« verurteilt wurden.66 Zudem wurde die Glaubwürdigkeit der Zeugen wiederholt in Zweifel gezogen. Dabei trennten die Gerichte meist pauschal zwischen vermeintlich zuverlässigen politischen und wenig glaubwürdigen ›kriminellen‹ Gefangenen.67 So meinte das Landgericht Oldenburg im Prozess gegen Karl Dubbel und weitere Wachleute: Der Zeuge Fu. ist wegen seiner häufigen Vorstrafen – er ist 15 mal wegen Bettelns und Landstreichens vorbestraft – kein charakterlich einwandfreier Zeuge. Wenn er auch 1935 zum letzten Mal bestraft ist und sich offenbar von seinem früheren arbeitsscheuen Leben abgewendet hat, so muss die Aussage dieses Zeugen mit Rücksicht auf seine Vorstrafen besonders vorsichtig gewertet werden.68 Bereits während der Ermittlungen wurden Querverbindungen zwischen Zeugenaussagen oft nicht hergestellt. Gegen Lagerleiter Hans Giese lief seit Juli 1947 ein Untersuchungsverfahren. Da sich die Staatsanwaltschaft auf den Namen Paul Giese aus einer Häftlingsaussage versteifte und ihn unter diesem nicht ausfindig machen konnte, wurde das Verfahren am 25. Mai 1949 eingestellt. Bereits im Dezember 1948 hatte ein anderer Zeuge aber den richtigen Vornamen Hans und auch Gieses Hannoveraner Adresse von 1934 angegeben. Eine größere Anzahl an Verfahren wurde eingestellt, ohne dass es zum Prozess gekommen war.69 Auf der anderen Seite hinterfragten die Richter Entlastungsnarrative der Beschuldigten oft nur unzureichend. Die ehemaligen Wachmänner deckten sich auch vor Gericht weiterhin gegenseitig, was die Gerichte durchaus erkannten.70 64 65 66 67 68 69 70

Vgl. KW II, S. 2057. Ebd., S. 1993. Vgl. Urteil Kaiser u. a. Vgl. Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342; KW II, S. 2046 f. u. KW III, S. 2670–2673. KW II, S. 2057. Vgl. Ermittlungen Giese I u. II u. KW II, S. 1915–1981. Vgl. Urteil Schäfer 1950. Eine zwischenzeitliche Ausnahme bildeten Aussagen von Wach-

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https://doi.org/10.5771/9783835348035

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370 Da in den meisten Verfahren mehrere Beschuldigte gleichzeitig angeklagt waren, konnten sich deren Einlassungen aber auch für das Gericht verfestigen. So folgten die Oldenburger Richter im Verfahren gegen Harm Bleeker und andere den übereinstimmenden Aussagen der Beschuldigten, dass den Wachmannschaften regelmäßig »Hinweise für die richtige Anwendung […] der Strafvollzugsordnung erteilt worden« seien. Ihre Vorgesetzten hätten »sie ständig dahin belehrt, daß sie auch passiven Widerstand mit Gewalt« brechen durften. Durch eine Gesprächsnotiz vom Februar 1943 zwischen dem stellvertretenden Kommandeur und dem Beauftragten des RJM sah das Gericht als erwiesen an, dass »die Angeklagten der Weisung ihres Kommandeurs entsprechend und im Glauben an ihre Rechtmäßigkeit gehandelt haben«. Somit befanden sich die SA-Männer im – durch § 59 StGB geschützten – »Irrtum über eine nicht dem Strafrecht zugehörige Rechtsnorm«, der bei »ihrem schlichten Bildungsgrad […] auch nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet« war.71 Das Gericht übersah dabei jedoch, dass die Regelung zu aktivem /passivem Widerstand erst 1940 getroffen worden war, obwohl die entsprechenden Dokumente vorlagen.72 Für den Großteil der Anklagevorwürfe, der sich auf die 1930er Jahre bezog, konnte diese Einschränkung also nicht gelten, wurde aber trotzdem angewandt. Im Verfahren gegen Fritz Ostendorf wurde dem Beschuldigten attestiert, »nicht aus einer unmenschlichen Gesinnung heraus« gehandelt zu haben. Das Gericht betrachtete den ehemaligen Wachmann als unbescholtenen Bürger, der »sich sowohl vorher als auch nachher straffrei geführt« habe. Die mehrfach nachgewiesenen Misshandlungen von Gefangenen seien »im wesentlichen auf die damaligen Zeitumstände zurückzuführen« und hätten nicht »auf einer schlechten Charakterveranlagung des Angeklagten« beruht.73 Während die Gerichte also ›kriminellen‹ Häftlingen aufgrund zum Teil lang zurückliegender Verurteilungen pauschal weniger Glauben schenkten, brachten sie den Wachmännern – auch wenn diesen ein fortgesetztes Gewalthandeln nachgewiesen werden konnte  – große Nachsicht entgegen. Vor diesem Hintergrund verhängten die Gerichte in Oldenburg und Osnabrück überwiegend geringe bis mittlere Gefängnisstrafen. Hermann Köslin und Harm männern in britischer Internierungshaft unmittelbar nach Kriegsende, in denen sie oftmals andere SA-Männer beschuldigten. Wilhelm Rathey beschuldigte beispielsweise Hermann Köslin schwerer Misshandlungen. Auch die Morde Engelbert Widhalms waren anscheinend erst durch die Aussage Josef Eulers bekannt geworden. Vgl. Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 110, 114 u. 1246. 71 Sämtliche Zitate: Urteil gegen Harm Bleeker, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 342. 72 Vgl. KW III, S. 2443–2450. 73 Sämtliche Zitate: Urteil vom 8. 9. 1950, in: Verfahren gegen Fritz Ostendorf, NLA Oldenburg Best 140-5 Nr. 1192.

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371 Bleeker wurden zu dreieinhalb Jahren, Wilhelm Maue und Franz Wölfingseder zu drei Jahren Haft verurteilt.74 Die weiteren Strafen waren ausnahmslos kürzer. Der als ›Schinderhannes‹ berüchtigte Heinrich Lange wurde beispielsweise zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Obwohl er nach übereinstimmenden Zeugenaussagen andauernd und ohne Anlass geschlagen hatte, sah das Gericht dies nur in zwei konkreten Fällen als erwiesen an.75 Die Milde der Urteile lag auch darin begründet, dass der nationalsozialistische Strafvollzug – mit Abstrichen im Hinblick auf die politischen Strafgefangenen – weiterhin als Teil einer ordnungsmäßigen Justiz wahrgenommen wurde. So war das Oldenburger Gericht der Auffassung, dass ein »geordneter Strafvollzug […] erfahrungsgemäß ohne straffe Führung nicht möglich« sei, und verwies anschließend auf die immer noch gültige Strafvollzugsordnung von 1940 mit ihren weit auslegbaren Paragrafen 173 und 174 zur Gewaltausübung im Dienst. Ohne jegliche Evidenz behaupteten die Richter, dass kooperatives Verhalten und Einsatz honoriert worden seien: »Hingegen rückten die Häftlinge mit guter Führung in Vertrauensstellungen der Verwaltung auf oder wurden als Soldaten wieder zur Wehrmacht abgestellt.«76 Die ›Moor-SA‹ wurde zwar als eine Art Fremdkörper im Strafvollzug aufgefasst, man ging aber weiter von einer grundsätzlichen Rechtmäßigkeit in dessen Durchführung aus. Werner Schäfer wurde beispielsweise vom Landgericht Osnabrück zugute gehalten, dass sein Kommandanturbefehl zu aktivem/passivem Widerstand keineswegs erfolgt sei, »um durch solche Anweisungen die Mißhandlungen in den Lagern zu ›legalisieren‹.«77 Schäfer wurde im Dezember 1950 wegen schwerer Körperverletzung im Amt in zwei Fällen und weil »er die zahlreichen Übergriffe in den Lagern duldete und billigte« wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.78 In der Revisionsverhandlung im April 1953 ließ das Osnabrücker Gericht den Vorwurf des Verbrechens gegen die Menschlichkeit fallen. Stattdessen wurden nun sämtliche der ursprünglich verhandelten Vorkommnisse als Einzelfälle neu beurteilt. Da nur in zwei Fällen Schäfers Anwesenheit bei den Misshandlungen und damit sein Wissen davon belegt werden konnte, wurde das Urteil auf zweieinhalb Jahre Gefängnis abgemildert. Durch Schäfers vorherige Internierungs- und Untersuchungshaft galt die Strafe als verbüßt.79 74

75 76 77 78 79

Vgl. Verfahren gegen Wilhelm Maue vor dem Landgericht Osnabrück, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413 u. Gerichtsverfahren gegen August Linnemann u. a., NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 837. Vgl. Urteil Kaiser u. a. und Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 348–355. Beide Zitate: KW II, S. 2043. Zu den in der Realität gänzlich anderen Verhältnissen vgl. Ausländer: Vom Wehrmacht- zum Moorsoldaten. KW III, S. 2717. Vgl. Urteil Schäfer 1950 u. Weitkamp: SA, S. 161–164. Vgl. Urteil im Revisionsprozess gegen Werner Schäfer [1953], in: KW III, S. 2745–2769.

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372 Die Abmilderung der ursprünglichen Strafen in Revisionsprozessen war auch in anderen Verfahren gegen SA-Wachmänner gängige Praxis. Die Ahndung der Verbrechen der ›Moor-SA‹ reihte sich damit nahtlos in die juristische Aufarbeitung und Vergangenheitspolitik der jungen Bundesrepublik ein.80 Ab Ende der 1950er Jahre, als für die meisten Vergehen die Verjährungsfrist anstand, kam es zu einer Reihe weiterer Vorermittlungen. Dabei wurden die Ermittlungsbehörden entweder eigeninitiativ tätig – wie etwa im Fall Hans Gieses – oder wurden durch neue Zeugenaussagen dazu gebracht.81 Dabei zeigten die Anzeigeerstatter zum Teil eine erstaunliche Kenntnis der für eine Verurteilung nötigen Beweislast. Der ehemalige Militärstrafgefangene Alwin R. versuchte sich beispielsweise mit einer absurden Behauptung als Augenzeugen darzustellen: »Die Beobachtung der Mißhandlungen durch W. konnte aus dem Grunde von jedem Häftling erfolgen, weil die Wachtmeisterei nur eine Tür hatte und sonst rundherum mit durchsichtigem Glas verkleidet war.«82 Derartige Übertreibungen trugen ähnlich wie die weitere Straffälligkeit verschiedener Zeugen nach 1945 dazu bei, dass die Osnabrücker Staatsanwaltschaft nur wenig Vertrauen in die neuen Aussagen fasste und die Ermittlungen bald einstellte.83 So kam es nach Januar 1952 zu keinen weiteren Gerichtsverhandlungen gegen SA-Wachmänner; ein Prozess gegen einen verbeamteten Sanitätsoberwachtmeister verzögerte sich bis 1954, da die Glaubwürdigkeit eines Hauptbelastungs-

Vgl. Andreas Eichmüller: Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012; Georg Wamhof (Hg.): Das Gericht als Tribunal oder: Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, Göttingen 2009 und Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1997. Zur davon abzugrenzenden Phase intensiver Ermittlungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. Edith Raim: Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949, München 2013. 81 Das Landgericht Oldenburg beschied 1963, dass die eigene Einstellung des Verfahrens gegen Giese 1949 unzulässig gewesen war. Die jetzt zuständige Staatsanwaltschaft Osnabrück ermittelte den korrekten Namen und die Anschrift Gieses, der darauf ebenso vernommen wurde wie Werner Schäfer und weitere ehemalige SA-Männer. Inzwischen waren aber bis auf Mord sämtliche Straftaten verjährt, sodass es nur noch um die Erschießung von Henning und Pappenheim ging. Da unter den ehemaligen Häftlingen weder Augenzeugen der Erschießungen noch eines etwaigen Befehls dazu durch Giese waren, sah die Staatsanwaltschaft dessen Tatbeteiligung als nicht erwiesen an und stellte das Verfahren am 7. 7. 1966 endgültig ein. Weitere Ermittlungen dazu, welche SA-Männer die Gefangenen erschossen hatten oder wie dies vonstatten gegangen war, wurden nicht angestellt. Vgl. Ermittlungen Giese I u. II. 82 NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 198. 83 Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 6 /1983 Nr. 182–189; NLA Osnabrück Akz 2001 /054 Nr. 202–206 u. Nr. 229–230. 80

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373 zeugen angezweifelt wurde.84 Wegen Straftaten der Wachmannschaft im KZ Esterwegen wurden hingegen noch bis mindestens 1959 Strafprozesse geführt. Dies lag zum einen daran, dass mehrere der SS-Männer später an größeren Mordaktionen beteiligt gewesen waren. Dass gegen Wachleute des KZ Esterwegen mindestens 18 Strafprozesse geführt wurden – gegenüber zwölf Verfahren gegen SA-Wachmänner des ungleich größeren und länger bestehenden Komplexes der Strafgefangenenlager –, zeigt zum anderen aber auch, dass Konzentrationslager und die von der Justizverwaltung geführten Haftstätten im Emsland unterschiedlich bewertet wurden.85 Die gerichtliche Verurteilung der Gefangenen und deren oftmals ›krimineller‹ Hintergrund führten dazu, dass das Projekt der Strafgefangenenlager auch über den Systemwechsel hinaus als grundsätzlich rechtmäßig angesehen wurde. Damit verschob sich der Blick auf den Hintergrund der Häftlinge, der zu ihrer Inhaftierung geführt hatte, und weg von ihrer Behandlung in den Lagern.86 Die Frage, wie ›kriminelle‹ Häftlinge Misshandlungen juristisch belastbar hätten anzeigen sollen, stellten sich die Gerichte anscheinend nicht. Die divergierenden Urteilssprüche gegen Direkttäter und SA-Führer schufen zudem einen rechtsfreien Raum: Wachmännern wurde zugute gehalten, sie hätten im Glauben an die Rechtmäßigkeit der Vorgaben und Kommandanturbefehle gehandelt, SA-Führern wie Schäfer oder dem freigesprochenen August Linnemann wurde wiederum geglaubt, von den Misshandlungen ihrer Untergebenen keine Kenntnis gehabt zu haben.87 Besonders drastisch trat die fortgesetzte Ungleichbehandlung von ehemaligen SA-Männern und Strafgefangenen bei der Verhandlung des Karl Dubbel vorgeworfenen Mordes an David W. zutage. Während die Staatsanwaltschaft Dubbels Angaben für »völlig unglaubhaft« hielt,88 sah das Landgericht Oldenburg ihn durch das medizinische Gutachten Woldemar Teigelers und die knappen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen von 1935 als entlastet an – ohne auf die Nachkriegsaussage des Medizinalrats einzugehen, in der dieser inzwischen von Mord sprach.89 Frappierend ist auch, wie unterschiedlich Dubbel und W. charakterisiert wurden. Bereits die Angabe, W. sei wegen »tätlicher Bedrohung eines Postens« in die Strafkom84

85 86 87 88 89

Vgl. Strafsache gegen Theodor Hündchen, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 339 u. Strafsache gegen Franz Marin, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 158. Der Zeuge war gegen eine Verurteilung wegen Meineids erfolgreich in Berufung gegangen. Trotzdem schätzten die Osnabrücker Ermittlungsbehörden seine Glaubwürdigkeit zunächst weiter als fragwürdig ein, da das zuständige Landgericht Torgau die Gerichtsunterlagen nicht an die bundesdeutschen Behörden überstellen wollte. Vgl. Faulenbach / Kaltofen (Hg.): Hölle, S. 348–355. Zum Umgang mit ›kriminellen‹ Häftlingen in der Bundesrepublik vgl. Lieske: Unbequeme Opfer, S. 312–352. Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 837. Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 326. Vgl. KW III, S. 2486.

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374 panie eingewiesen worden, fußte allein auf Aussagen von Wachmännern.90 Eine körperliche Überlegenheit Dubbels wollte das Gericht nicht annehmen: W. wird zwar als kleiner bis mittelgroßer Mann geschildert, der als Häftling sicher nicht im guten Ernährungszustand war, während der Angeklagte groß und kräftig gebaut ist. Das schließt aber nicht aus, dass W. körperlich gewandter war als der Angeklagte. Mindestens ist es sehr zweifelhaft, ob die Körperkräfte des Angeklagten allein ausgereicht hätten, den Angriff des W., der Schlachter von Beruf und mit einer Holzlatte bewaffnet war, abzuwehren.91 W.s beruflicher Hintergrund sollte hier offenbar seine Gefährlichkeit suggerieren. Dass Dubbel ebenfalls gelernter Fleischer war, wurde in dieser Einschätzung ebensowenig erwähnt wie die 26 Fälle von Körperverletzung, die ihm im gleichen Verfahren nachgewiesen worden waren. Da es keine Augenzeugen des Vorfalls gab,92 legte das Gericht seiner Beurteilung die Darstellung Dubbels zugrunde und sah keine Anhaltspunkte dafür, »dass der Angeklagte die Notwehr überschritten« oder fahrlässig gehandelt habe, und sprach ihn deshalb von der Mordanklage frei.93 Die von der Staatsanwaltschaft aufgeworfene Frage, warum fünf angeblich arbeitswillige Gefangene im Arrest verblieben oder dahin zurückgeschickt worden waren und Dubbel mit dem angeblichen Arbeitsverweigerer D. allein in den von außen nicht einsehbaren Schießstand ging, blieb vor Gericht unbeantwortet.

Weitere Karriere im Justizdienst : Das Beispiel Wilhelm Schenk Als 1964 weitere Vorwürfe wegen der Ermordung eines Häftlings bekannt wurden, suchten Polizisten die Strafanstalt Rheinbach auf, um dort mehrere vormalige SAWachmänner zu vernehmen. Diese waren dort keineswegs als Gefangene, sondern als Beamte im Wachdienst tätig. Ein anderer Wachbeamter erinnerte sich, dass seine betreffenden Kollegen 1938 – also während der Verbeamtungswelle zur Zeit des Dienststrafverfahrens – aus dem Emsland gekommen und »von uns scherzUrteil gegen Dubbel u. a., in: KW II, S. 2036–2077, hier: 2053. Das Gericht folgte auch der Charakterisierung W.s durch Werner Schäfer als »aufsässiger, zu Widersetzlichkeiten gegen das Aufsichtspersonal neigender Gefangener« (ebd.). Darin hatte Schäfer aber eine nahezu wortgleiche Beschreibung W.s durch Dubbel übernommen, dessen Entlastungsnarrativ damit als vermeintlich objektive Beurteilung des getöteten Strafgefangenen in die Urteilsfindung mit einfloss (vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1225). 91 Urteil gegen Dubbel u. a., in: KW II, S. 2036–2077, hier: 2054. 92 Die Angabe eines ehemaligen Gefangenen, er habe den Vorfall vom Fenster der Küchenbaracke aus gesehen, wurde nach einer Ortsbegehung als unglaubwürdig eingeschätzt. 93 Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep. 945 Akz 6 /1983 Nr. 326. 90

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375 weise ›Moorsoldaten‹ genannt« worden seien.94 Einer der ehemaligen SA-Männer war dem Anstaltsdirektor zwar weiterhin »als ›alter Kämpfer‹ und mißmutiger Beamter bekannt«, was ihn aber nicht davon abgehalten hatte, den Mann zweimal zu befördern, sodass er inzwischen Verwalter war.95 Zwei weitere SAWachmänner waren inzwischen ebenfalls zum Verwalter beziehungsweise Oberverwalter befördert worden. Auch an anderen Strafanstalten waren um 1960 ehemalige SA-Männer weiterhin im Aufsichtsdienst beschäftigt.96 Der vormalige Verwaltungsleiter der Emslandlager, SA-Mann und Regierungsrat Max Schermer, war spätestens 1960 Staatsanwalt in Oldenburg, 1965 Erster Staatsanwalt und als solcher in die Ermittlungsverfahren zu den Emslandlagern eingebunden.97 Der frühere Lagerleiter Wilhelm Schenk war entgegen seiner Ankündigung nicht ins Emsland zurückgekehrt. Nach drei Monaten informatorischer Beschäftigung in Bremen-Oslebshausen wurde er bereits zum 10. Juli 1939 als kommissarischer Verwaltungsinspektor an das Strafgefängnis Wolfenbüttel versetzt. Nach einigen Monaten konnte er eine feste Stelle übernehmen und wurde am 16. Januar 1940 auf Lebenszeit verbeamtet. Wenig später wurde er zum Wehrdienst einberufen, kehrte nach einem halben Jahr aber wieder zurück, da die Justizverwaltung erfolgreich seine Uk-Stellung beantragt hatte.98 Ab dem 7. August 1942 leitete er ein Außenkommando im zu den Reichswerken Hermann Göring gehörenden Lager 35 in Salzgitter-Heerte. Wegen seiner »Erfahrungen im Lagerdienst« schien er für die »Führung eines Lagers mit 800 ausländischen Strafgefangenen« besonders geeignet.99 Aufgrund der Einberufung anderer Verwaltungsbeamter übernahm er am 10. September 1943 die Leitung des Untersuchungsgefängnisses Braunschweig, wo ihm durchschnittlich etwa 500, im März 1945 schließlich 950 Gefangene unterstanden. Parallel dazu hatte er die Führung der Wolfenbütteler SA-Standarte 46 inne, obwohl er nur Hauptsturmführer war. Bei Kriegsende war er zudem Kreisstabsführer beim Volkssturm in Wolfenbüttel, eigenen Angaben zufolge trug er zur kampflosen Übergabe der Stadt bei.100 Am 4. Oktober 1945 wurde Wilhelm Schenk auf Anordnung der britischen Militärregierung als Verwaltungsinspektor entlassen. Aus der Internierungshaft wurde er im Januar 1948, vorläufig als Minderbelasteter in die Entnazifizierungs-Kategorie III eingeordnet, entlassen. Der Braunschweiger Hauptausschuss stufte ihn im 94 95 96 97 98 99 100

Aussage Ernst B., in: NLA Osanbrück Rep 945 Akz 36 /1995 Nr. 13. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 36 /1995 Nr. 13. Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 54 /1987 Nr. 37. Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 54 /1987 Nr. 4 u. Ermittlungen Giese I. Vgl. NLA Wolfenbüttel 42 a Neu Fb 3 Nr. 387. Regierungsrat L., 22. 11. 1951, in: Personalakte Schenk, NLA Wolfenbüttel 68 Nds Zg 16 /1989 Nr. 494. Vgl. ebd. u. NLA Wolfenbüttel 42 a Neu Fb 3 Nr. 387.

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376 Juni 1949 in die Kategorie IV (Mitläufer) ein: Er habe »den Nationalsozialismus unterstützt, ohne denselben wesentlich gefördert zu haben.«101 Schenk stellte daraufhin am 16. Juli 1949 einen Antrag auf Wiedereinstellung beim Gefängnis in Wolfenbüttel. Der Generalstaatsanwalt in Braunschweig lehnte diesen jedoch ab, da »Schenk ausschließlich oder überwiegend auf Grund seiner Verbindung mit dem Nationalsozialismus in das Beamtenverhältnis berufen worden« sei.102 Dies begründete er damit, dass Schenk ohne Vorbereitungsdienst oder Abschlussprüfung in das Beamtenverhältnis übernommen worden war. Schenk versuchte zunächst, seinen Zivilversorgungsschein für altgediente Soldaten von 1929 geltend zu machen. Er selbst sei keineswegs als Nutznießer des NS-Systems zu betrachten: In meinem Tun und Handeln habe ich immer nur das Gute gesehen und auch bestimmt gewollt und bin auch nicht aus schmutzigen, verbrecherischen, charakterlosen oder gewinnsüchtigen Absichten Nationalsozialist geworden, sondern habe in meinem ganzen Leben immer nur versucht in bescheidener und anständiger Weise meine Pflicht zu tun.103 Sein Wiedereinstellungsantrag wurde am 18. März 1950 schließlich abgelehnt. Darauf entbrannte ein Rechtsstreit, der sich zweieinhalb Jahre hinziehen sollte. Darin legte Schenk mehrere Stellungnahmen ehemaliger Vorgesetzter vor, die auf ein weiterhin gut funktionierendes Netzwerk früherer und gegenwärtiger Beamter in der Justizverwaltung verweisen. Landgerichtsdirektor Brenner aus Hagen, der während Werner Schäfers Suspendierung 1938 die Gesamtleitung der emsländischen Strafgefangenenlager innegehabt hatte, bescheinigte Schenk, er habe sich währenddessen »der Justizverwaltung an führender Stelle zur Verfügung« gestellt.104 Gleichzeitig betonte er eine Loyalität Schenks gegenüber seinem ursprünglichen Vorgesetzten: Während seiner Tätigkeit als Führer der Wachtruppe hat er legal mit der Justizverwaltung zusammengearbeitet, ohne jedoch dem Kommandeur die Treue zu brechen. Von Schäfer wurde er aber immer abgelehnt und als Hauptrenegat verfolgt. Es war für mich schon bald klar, daß Schenk bei einer Wiedereinsetzung Schäfers erledigt sein würde.105

Entnazifizierungs-Entscheidung 2. 6. 1949, in: ebd. Generalstaatsanwalt Braunschweig, 28. 7. 1949, in: ebd. 103 Schreiben, 18. 2. 1950, in: ebd. 104 Landgerichtsdirektor Brenner, 14. 7. 1950, in: NLA Wolfenbüttel 42 a Neu Fb 3 Nr. 390. 105 Ebd. 101 102

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377 Damit versuchte er Schenk, obwohl dieser als SA-Mann zu den Wachmannschaften gekommen war, als Teil der ›unbelasteten‹ Justizverwaltung darzustellen, der von Schäfer regelrecht gemobbt worden sei.106 Neben den zwei ihm von 1940–1945 vorgesetzten Gefängnisdirektoren verwendete sich auch Rudolf Marx für ihn. Der ehemalige Ministerialdirigent schrieb im August 1950, Schenk habe »sich durch jahrelange treue Pflichterfüllung besonders bewährt und vor allem sich das Ideengut des modernen humanen Strafvollzugs zu eigen gemacht«.107 Allein deshalb sei er in das Beamtenverhältnis übernommen worden. Dies entkräftete aber nicht die Argumentation der Staatsanwaltschaft und des inzwischen involvierten niedersächsischen Justizministeriums, dass Schenk nur aufgrund seiner SA-Zugehörigkeit in die Position gekommen war, ohne grundlegende Ausbildung Verwaltungsinspektor zu werden. Im Dezember 1951 trat allerdings das Niedersächsische Gesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes vom Dezember 1951 in Kraft. Dabei handelte es sich »um einen zentralen Bereich der ›Vergangenheitspolitik‹ der Adenauer-Ära«, der die Reintegration von mindestens 430.000 mehr oder weniger stark belasteten Beamten aus der NS-Zeit betraf.108 Nach einer Präzisierung der Ausführungsbestimmungen wurde Schenk im Dezember 1952 rückwirkend zum 1. April 1951 die Zahlung seiner vollen Dienstbezüge bewilligt.109 Am 16. Januar 1953 wurde Wilhelm Schenk als außerplanmäßiger Verwaltungsinspektor an der Strafanstalt Wolfenbüttel wiedereingestellt, zum 25. Mai 1956 übernahm er eine reguläre Inspektorenstelle und wurde erneut auf Lebenszeit verbeamtet.110 Als er sich im August 1959 auf eine Stelle als Verwaltungsoberinspektor bewarb, mochte ihm der Gefängnisleiter jedoch keine Empfehlung aussprechen. Dies geschah nicht etwa wegen politischer Bedenken – sein Vorgesetzter bescheinigte ihm »hervorragende Charaktereigenschaften« –, sondern weil Schenk offensichtlich doch nicht den Erfordernissen seiner Tätigkeit entsprechen konnte: Er ist aber körperlich vorzeitig verbraucht und besitzt nicht mehr die Spannkraft und geistige Wendigkeit, um einen schwierigen Verwaltungsvorgang bis in die letzten notwendigen Einzelheiten zu durchdenken. Auch gelingt es ihm hin 106

107 108

109 110

Hierfür gibt es keine weiteren Hinweise; die in Kapitel IV.2 geschilderten Umstände von Schenks Weggang stellen sich anders dar. Gegen ein Zerwürfnis mit Schäfer spricht auch, dass Schenk noch 1950 in dessen Verfahren als Entlastungszeuge auftrat (vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Nr. 57 u. Personalakte Schenk, NLA Wolfenbüttel 68 Nds Zg 16 /1989 Nr. 494). Rudolf Marx, 15. 8. 1950, in: ebd. Constantin Goschler: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005, S. 176. Vgl. auch Frei: Vergangenheitspolitik, S. 69–100. Vgl. NLA Wolfenbüttel 42 a Neu Fb 3 Nr. 387. Vgl. NLA Wolfenbüttel 42 a Neu Fb 3 Nr. 391.

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378 und wieder nicht, das, was er sagen will, in klarer und gefälliger Form schriftlich darzulegen.111 Zwei Jahre später beantragte Schenk seine vorzeitige Pensionierung. Zum 1. Dezember 1961 ging er in den Ruhestand und lebte anschließend weiter in Wolfenbüttel.112 Schenks Werdegang verdeutlicht als exponiertes Beispiel, dass ehemalige Wachmänner nach 1945 weiter im Justizdienst beschäftigt werden konnten, selbst wenn sie zwischenzeitlich entlassen worden waren. Im Rahmen der Vergangenheitspolitik der frühen Bundesrepublik konnten solche SA-Männer, die zuvor – vor allem als Oberwachtmeister – in das Beamtenverhältnis übernommen worden waren, seit den frühen 1950er Jahren wiedereingestellt werden. Auch ohne einen umfassenden Abgleich mit den Personalakten bundesdeutscher Strafanstalten lässt sich hier eine klare Trennlinie erkennen: SA-Männer, die zumindest zwischenzeitlich an einer ›Mutteranstalt‹ beschäftigt waren und damit vor Ort ihre Beamtenstelle angetreten hatten, wurden – oftmals ohne Unterbrechung – nach 1945 weiterbeschäftigt, wie etwa das Beispiel der in Rheinbach beschäftigten Wachleute zeigt.113 Waren die Wachleute hingegen durchgehend im Emsland beschäftigt und bei ihrer Verbeamtung nur pro forma einer regulären Haftanstalt zugeordnet oder gar während ihres Militärdienstes auf eine Oberwachtmeisterstelle befördert worden, wurden sie nach 1945 als Angestellte einer außerplanmäßigen, inzwischen aufgelösten Haftanstalt betrachtet und nicht wieder angestellt.114 Gleiches galt praktisch ausnahmslos für nicht verbeamtete Wachmänner. Bis mindestens 1949 war ihre Wiedereinstellung bei den Strafanstalten Emsland untersagt. Auch später wurden sie als ›Hilfsaufseher‹ angesehen und hatten als solche keinen Anspruch auf Wiederverwendung. Theoretisch war ihre Anstellung Ende der 1950er Jahre wieder möglich und es sind auch Bewerbungen bekannt, jedoch kein Fall, in dem es tatsächlich zur Anstellung gekommen wäre.115

Rückkehr ins Zivilleben und die Erinnerung an die ›Moor-SA‹ Für diejenigen SA-Männer, die nicht weiter im Justizdienst beschäftigt wurden, lässt sich für die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein einheitliches Regierungsrat S., 1. 9. 1959, in: NLA Wolfenbüttel 42 a Neu Fb 3 Nr. 393. Vgl. Personalakte Schenk, NLA Wolfenbüttel 68 Nds Zg 16 /1989 Nr. 494. 113 Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 36 /1995 Nr. 9. 114 Zur Änderung der Anstellungs- und Abordnungspraxis 1942 /43 vgl. Dienstverhältnisse der Beamten des Lagers VII Esterwegen im Vollzugsdienst (1940–1943), NLA Osnabrück Rep 947 Lin I 2000 /008 Nr. 1. 115 Vgl. NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 106; NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1246; NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 847, 879, 921, 1018 u. 1040. 111 112

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379 Bild erkennen. Ende der 1940er Jahre mussten sie sich in aller Regel einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen. Gemäß der inneren Logik der Vergabe von ›Persilscheinen‹ wurden sie häufig in die Kategorie IV eingestuft und damit als ›Mitläufer‹ angesehen. Leumundszeugnisse lieferten dabei oftmals Pastoren und deren Ehefrauen oder vormalige politisch Verfolgte.116 Selbst wenn SA-Männer ursprünglich höher eingestuft worden waren, folgte später häufig eine Abmilderung. Der ehemalige Lagerleiter Wilhelm Maue war beispielsweise in einem Spruchkammerverfahren in Nürnberg in die Gruppe II als Belasteter eingestuft worden. Die Berufungskammer hielt diese Kategorisierung für ungerechtfertigt und lieferte dafür eine geradezu skandalöse Begründung: Die Lager waren »ihrer Bestimmung nach im Ödland, so daß es ihm [i. e. Maue, D. R.] schon aus diesem Grunde beinahe unmöglich war, […] der NS-Gewaltherrschaft auf irgendeinem Gebiete außerordentliche Unterstützung zu gewähren.«117 Maue sei daher nur als Mitläufer einzustufen und aufgrund der Weihnachtsamnestie freizusprechen. Nur in einem bekannten Fall brachte eine Nachverhandlung ein gegenteil iges Ergebnis hervor. Justizoberwachtmeister Hermann Martens, der seit 1933 den Wachmannschaften angehört hatte, war vom Entnazifizierungshauptausschuss in Aurich im Dezember 1949 in die Kategorie IV eingestuft worden. Der öffentliche Kläger legte jedoch Berufung ein, da zeitnah im nahegelegenen Oldenburg die ersten Urteile gegen ehemalige Wachmänner ergangen waren. Diese hätten »erschreckend deutlich gezeigt, welche unmenschlichen Zustände geherrscht haben.«118 Der Berufungsausschuss ging daher über die Einstufung als Unterstützer hinaus: Der betroffene ist aber Wachmann und später Justizoberwachtmeister nur auf Grund seiner Verbindung zum Nationalsozialismus geworden. […] Er ist somit ohne fachliche Eignung vorwiegend auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Par-

Vgl. beispielhaft NLA Aurich Rep 250 Nr. 1883; NLA Hannover Nds 171 Hannover Nr. 27968; NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 1 u. NLA Wolfenbüttel 42 a Neu Fb 3 Nr. 387. Weitere, kursorisch gesichtete Entnazifizierungsakten im Bestand NLA Osnabrück Rep 980 bestätigen diesen Befund. Zur Entnazifizierung im Umfeld der Emslandlager vgl. Bianca Roitsch: »An der Stätte der Baracken und des Stacheldrahtes ein freundlicher Park«. Diskurse und Praktiken der Marginalisierung im Umfeld ehemaliger NS-Zwangslager nach 1945, in: von Reeken / Thießen: ›Volksgemeinschaft‹, S. 325–340, hier: 329–332. Zur Einordnung im gesellschaftlichen Kontext vgl. Leßau: Entnazifizierungsgeschichten und Cornelia Rauh-Kühne: Die Entnazifizierung und die deutsche Gesellschaft, in: AfS 35 (1995), S. 35–70. 117 Berufungskammer Nürnberg, 5. 4. 1950, in: NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 417. Vgl. zum Kontext Lutz Niethammer: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin (West) / Bonn 1982. 118 Schreiben 23. 12. 1949, in: Entnazifizierungsakte Hermann Martens, NLA Aurich Rep 250 Nr. 50618. 116

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380 tei und SA seit 1931 Justizoberwachtmeister geworden. Er war deshalb […] als Nutznießer zu entlassen und […] in Kat. III einzustufen.119 Auch ohne das Eingreifen der Entnazifizierungsbehörden wie im Fall Martens war das Ende des Krieges für die meisten Wachmänner von weiteren Brüchen, nicht zuletzt in beruflicher Hinsicht, begleitet. Neben der Rückkehr aus einem verlorenen Krieg, der Niederlage eines politischen Systems, für das sie als regionale Exponenten eingestanden waren und das ihnen eine privilegierte Position zugemessen hatte, bedeutete das Kriegsende auch, dass sich ihre Zukunftspläne, die sie an das Lagerprojekt geknüpft und gegen Ende mit zunehmend unterschiedlicher Überzeugung getragen hatten, nun endgültig zerschlugen. Dies bedeutete, dass sie sich beruflich und oftmals auch räumlich neu orientieren mussten. Viele SA-Männer kehrten umgehend in ihre ursprünglichen Heimatregionen zurück. Wilhelm Maue war beispielsweise vor seinem Gerichtsverfahren wieder in die Nähe seines Geburtsorts bei Kaiserslautern gezogen.120 Andere, die im Emsland Familien gegründet hatten, blieben noch einige Zeit in der Region. Schäfers Adjutant Daniels etwa wohnte noch längere Zeit in Papenburg und gab als Beruf Schriftsteller an. Um 1953 zog er ins südliche Emsland nach Freren.121 Werner Schäfer wiederum war noch während seiner Internierung im August 1946 als Zeuge der Verteidigung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aufgetreten, in dem auch die SA als Organisation angeklagt war.122 1948 wurde er nach Oldenburg verlegt und in Untersuchungshaft genommen. Ende März 1949 wurde er wegen Haftunfähigkeit entlassen und ging kurzfristig nach Papenburg zurück, wo er vorübergehend als Fahrer eines Schlachtereibetriebs arbeitete. Schäfers Frau war 1946 während seiner Haft an Krebs erkrankt und verstorben. Im August 1949 heiratete Schäfer erneut. Aus seiner ersten Ehe hatte er einen Sohn, der 1940 geboren worden war.123 Während seines Schwurgerichtsverfahrens war Schäfer von August bis Dezember 1950 erneut in Haft, anschließend kam er aufgrund der eingelegten Berufung wieder frei. Er war zunächst für mehr als ein Jahr arbeitslos; im Februar 1952 wurde Berufungsausschuß Aurich, 18. 2. 1950, in: ebd. Vgl. Verfahren gegen Wilhelm Maue vor dem Landgericht Osnabrück, NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 413. Vgl. auch NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 243; Ermittlungen Giese II u. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1018. 121 Vgl. NLA Oldenburg Rep 945 Akz 146 Nr. 106. 122 Seine Aussage bezog sich weitgehend auf seine Zeit als KZ-Kommandant in Oranienburg. Vgl. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hg.): Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg (14. November 1945 – 1. Oktober 1946), Bd. 21: Verhandlungsniederschriften 12. August 1946 – 26. August 1946, Nürnberg 1947, S. 84–123. 123 Urteil Schäfer 1950, S. 2658. 119 120

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381 er »Abteilungsleiter der Lagerverwaltung« im Schreibwarengroßhandel und verdiente 285 DM pro Monat.124 Für diese Arbeit zog er nach Kemnat (heute Ostfildern) im Raum Stuttgart. 1954 erreichte die Justizbehörden ein anonymes Schreiben, in dem Schäfer diffamiert wurde. Dort hieß es, er würde dem Staat immer noch mindestens 6.000 DM für Prozesskosten schulden, nun aber in München lebend über immense Summen verfügen. So sollte er »die kommunistische Tarnwochenzeitung ›Die Nation‹ mit monatlich mindestens 80.000 DM« finanzieren und »in den letzten drei Monaten persönliche Anschaffungen für sich u. seine Familie in Höhe von allermindestens 25.000 DM gemacht« haben. Er fliege mehrmals im Monat nach Berlin, »wo er mit seinen ostzonalen Geld- u. Auftraggebern zusammenkommt und monatlich 1 – 2 mal hunderttausende DM für die Infiltrationsarbeit der SED nach der Bundesrepublik einschleust.«125 Diese Anschuldigungen stellten sich wohl schnell als haltlos heraus; zumindest folgten keine weiteren Ermittlungen. Selbst Schäfers angeblicher Umzug nach München erscheint zweifelhaft, da er zehn Jahre später in Gültstein (heute Herrenberg) im Kreis Böblingen wohnte – etwa 25 km von Kemnat entfernt.126 Es erscheint naheliegend, dass die anonymen Anschuldigungen als Reaktion auf das milde Urteil im Berufungsverfahren vom Vorjahr entstanden waren. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelte 1967 nochmals gegen Schäfer wegen seiner Tätigkeit in Oranienburg und im Emsland, anscheinend ohne handfeste Ergebnisse. Im Jahr 1973 starb Schäfer in Süddeutschland.127 Karl Dubbel wurde ein halbes Jahr, nachdem er Anfang 1944 zur Polizei gewechselt war, erneut einberufen und geriet im November 1944 in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er im September 1946 entlassen wurde. Aufgrund der ihm vorgeworfenen Gewalttaten wurde er am 15. April 1947 von der britischen Militärverwaltung interniert und im Dezember an deutsche Behörden überstellt. Aus der Untersuchungshaft wurde er am 15. Dezember 1948 entlassen. Das Landgericht Oldenburg verurteilte Dubbel im September 1949 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Körperverletzung in 26 Fällen, davon 15 in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis.128 Nach Anrechnung von Internierungs- und Untersuchungshaft verbüßte Dubbel die verbliebenen sechs Monate dieser Strafe anschließend in der Strafanstalt Münster. Schon zuvor war Dubbel mit seiner Familie in seine ostwest-

Urteil im Revisionsprozess gegen Schäfer [1953], in: ebd., S. 2745–2769, hier: 2747. Beide Zitate: Anonymes Schreiben, 16. 11. 1954, in: NLA Oldenburg Rep 945 Best 140-4 Nr. 348. 126 Vgl. Aussage Werner Schäfer, 31. 7. 1964, in: Ermittlungen Giese II. 127 Vgl. Weitkamp: SA, S. 171. 128 Vgl. Urteil gegen Dubbel u. a., in: KW II, S. 2036–2077. 124 125

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382 fälische Heimat zurückgekehrt, wo er noch Ende der 1950er Jahre als Viehhändler und Schlachter arbeitete.129 Die anschließenden Berufe ehemaliger Wachmänner weisen auf höchst unterschiedlich verlaufende Lebenswege nach 1945 hin. Eberhard Hartmann war nach seiner Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Januar 1954 nach Hilter im Kreis Osnabrück zurückgekehrt, wo er schon von 1919 bis 1933 gelebt hatte. Anschließend führte er auf einem Schützenplatz im benachbarten Dissen eine Gastwirtschaft.130 Andere vormalige SA-Männer arbeiteten als Gärtner, Bäcker, Konditor oder Weber, einer gar als Steiger in einem Essener Bergwerk und griffen dabei vereinzelt ihre vor dem Beitritt zur ›Moor-SA‹ ausgeübten Berufe wieder auf.131 Der Wachmann Bernhard W., gelernter Klempner, war zum Jahresbeginn 1940 aus den Wachmannschaften ausgeschieden, um in Bremen als Rohrschlosser zu arbeiten. Im Juli 1945 wurde er beim Wasserwirtschaftsamt Meppen angestellt und arbeitete als Klempner in der Abteilung in Börgermoor. Im Oktober 1948 wurde er in Bremen von der gleichen Firma als Monteur erneut eingestellt.132 Johann Brünjes, der als Angehöriger der ersten Einstellungskohorte zwischen 1934 und 1943 vom Oberwachmann bis zum Einheitsführer befördert und anschließend zum Kommando West nach Frankreich versetzt worden war, fand nach 1945 wiederum Anstellung bei der staatlichen Mooradministration, bei der er noch 1959 als Schachtmeister arbeitete.133 Einzelne ehemalige Wachmänner konnten ihren Traum von einer eigenen Landwirtschaft verwirklichen. Johann Brünjes arbeitete im Nebenerwerb als Landwirt in seinem Wohnort Rhaude. Ebenfalls im südlichen Ostfriesland hatten Jürgen Sanders und Casjen Meyer – beide ehemalige Halbzugführer – Mitte der 1950er Jahre eigene Siedlerstellen übernommen. Meyer hatte nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft seit 1948 als Gehilfe auf verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben seiner Heimatregion gearbeitet und übernahm 1955 schließlich den Bauernhof seiner Schwiegereltern.134 Ermittlungsakten der späten 1950er Jahre geben Hinweise darauf, dass auch zu diesem Zeitpunkt noch Netzwerke ehemaliger SA-Wachmänner bestanden, die

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Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 218. Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 243. Vgl. NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 109; NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 198; NLA Osnabrück Rep 945 Akz 54 /1987 Nr. 6; Ermittlungen Giese II u. NLA Osnabrück Rep 947 Lin I Nr. 1018. Vgl. Archiv AK DIZ Ordner Wachmannschaften I. Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 191. Vgl. NLA Aurich Rep 54 Nr. 585 u. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 191. Ein weiterer ehemaliger Halbzugführer war 1960 Landwirt im Raum Bielefeld (vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 54 /1987 Nr. 37). Nachklang

383 weiterhin den Kontakt miteinander hielten.135 Auch Walter Erhard, der anschließend als Jugendherbergsleiter und Turnlehrer arbeitete, gibt im Interview an, nach 1945 weiterhin Kontakt zu anderen Wachmännern und auch zu Werner Schäfer gehabt zu haben.136 Die Wachmänner, die im Emsland blieben, wurden allerdings stigmatisiert und von der lokalen Bevölkerung auf Dauer ausgegrenzt. Als die Polizei 1959 versuchte, einen SA-Wachmann ausfindig zu machen, gab ein ehemaliger Justizhauptwachtmeister, der selbst noch länger im Emsland geblieben war, an: »Meiner Meinung nach ist er dort leicht zu finden, denn jeder im Dorf weiß, daß Ahlrich Lüken Kommandoführer von Lager I war.«137 Noch Jahrzehnte nach dem Ende der ›Moor-SA‹ war den Einheimischen bekannt, wer ein ehemaliger ›Blauer‹ war und wo dieser wohnte.138 Auch außerhalb des Emslands kam es dazu, dass ehemalige SA-Wachmänner ausgegrenzt wurden, zum Teil selbst von der eigenen Familie.139

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Vgl. ebd.; NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 191 u. 198 und NLA Osnabrück Rep 945 Akz 54 /1987 Nr. 6. Vgl. Int WE, S. 35. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 191. Diese Tradierung eines ›local knowledge‹ ist mehrfach gegenüber Mitarbeitern des DIZ Emslandlager bekundet worden (Auskunft durch Kurt Buck vom DIZ Emslandlager, Gespräch am 27. 7. 2011). Vgl. NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 224.

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VI. Schlussbetrachtung Die SA-Wachmannschaften der emsländischen Strafgefangenenlager waren ein zentrales Instrument zur Herrschaftssicherung und -ausübung im Nationalsozialismus. Die von ihnen bewachten Lager bildeten bis 1938 den größten zusammenhängenden Komplex von NS-Zwangslagern, mit dem die Justizverwaltung die Mittel einer volksgemeinschaftlichen Generalprävention durch das Gefängniswesen beispielhaft veranschaulichen wollte.1 Durch eine besonders harte Behandlung und den Einsatz zu körperlich fordernder Arbeit in der Moorkultivierung sollten die Häftlinge im Sinne einer ›Volksgemeinschaft‹ erzogen werden. Dieser zusätzlichen Eskalationsstufe eines ohnehin verschärften Strafvollzugs wurden Strafgefangene aus sämtlichen Teilen des Reiches ausgesetzt, weshalb den Emslandlagern eine überregionale Bedeutung zukam. Die Ausgestaltung dieser harten Haftbedingungen überließ die Justizverwaltung den SA-Wachmannschaften, die schon in der vorangegangenen Phase der staatlichen Konzentrationslager die Haftbedingungen gewaltsam überformt hatten und sich bald eigene Ansprüche zur ›Erziehung‹ der Häftlinge zumaßen. Die Strafgefangenenlager waren somit ein Experimentierfeld zum Erproben von Repressions- und Gewaltformen durch Justiz und SA. Die Männer der ›Moor-SA‹ entstammten unteren und mittleren Bevölkerungsschichten, hatten also – abgesehen von ihrem oftmals frühen Bekenntnis zum Nationalsozialismus – einen durchschnittlichen Hintergrund. Sie waren keine ›Vordenker der Vernichtung‹, saßen nicht an den Schaltstellen der Macht, sondern waren in hohem Maße von institutionellen Rahmenbedingungen, kontingenten Entwicklungen und Möglichkeitsstrukturen abhängig.2 Die zwischenzeitliche Machtentfaltung der ›Moor-SA‹ lag in ihrer Doppelstruktur aus SA-Zugehörigkeit und Justizanstellung begründet, die ihr langjähriger Kommandeur Werner Schäfer geZur Rolle der Repression durch die Strafjustiz, die im Vergleich zu den Konzentrationslagern bis einschließlich 1937 eine deutlich größere Zahl auch politischer Gegner erfasste, vgl. Wachsmann: Gefangen, S. 105–165 u. 445. 2 Trotz des schon früh von Christopher Browning erarbeiteten Befunds, dass es sich bei Direkttätern oft um »ganz normale Männer« gehandelt hat, sind in den nachfolgenden Jahren vor allem Studien zu Tat-Eliten und Entscheidungsträgern erschienen. Vgl. beispielhaft Aly / Heim: Vordenker; Orth: Konzentrationslager-SS; Wildt: Generation. Inzwischen stehen jedoch vermehrt auch untere Dienstränge in alltagsgeschichtlicher Perspektive im Fokus. Vgl. neben Dillon: Dachau und Schwartz: Angelegenheiten auch Bastian Hein: Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925–1945, München 2012.

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385 schickt zu nutzen wusste. Als das Projekt ab 1939 für die Justizverwaltung seinen Stellenwert einbüßte, setzte hingegen umgehend ein Abstieg der ›Moor-SA‹ ein. Doch gerade weil die Wachmänner einen ›bodenständigen‹ Hintergrund aufwiesen, waren sie in der Lage, die unterschiedlichen Aspekte des Straf- und Siedlungsprojekts symbolhaft zu verknüpfen. Ausgehend von ihrer Wachfunktion und dem ursprünglich vom Preußischen Innenministerium gegebenen ›Siedlungsversprechen‹ waren sie in das Projekt doppelt eingebunden und entwickelten darüber den Anspruch, als Protagonisten der Emslandkultivierung zu gelten. Über den Selbstentwurf als männliche, militärisch geprägte Gemeinschaft, die den politischen Straßenkampf der Weimarer Zeit nun als »Kampf im Moore« weiterführte,3 konnte die ›Moor-SA‹ diesen Anspruch unterfüttern und legitimieren. Analytisch ist jedoch zwischen dem selbstvertretenen Bild einer Gemeinschaft und den sozialen Prozessen innerhalb derselben zu unterscheiden.

Ideologie, Gewalt und männlicher Habitus Die ›Moor-SA‹ wies gerade in ihrer Anfangsphase eine äußerst homogene Sozialund Altersstruktur auf. Die meisten Wachmänner kamen aus benachbarten Regionen und hatten einen landwirtschaftlichen oder handwerklichen Hintergrund; 87 Prozent von ihnen waren schon vor der Machtübertragung in der SA oder anderen NS-Verbänden aktiv und somit für den Nationalsozialismus eingetreten. Auch nach den mehrmaligen Erweiterungen der Wachmannschaften bis 1937 waren noch mehr als die Hälfte der nun 1.500 Wachmänner ›alte Kämpfer‹. Innerhalb der ›Moor-SA‹ bestand daher eine hohe Affinität zum völkisch aufgeladenen Projekt einer ›inneren Kolonisierung‹ im Emsland, die sich in Form eines ›Pionierideals‹ zeigte, gemäß dem die SA-Männer ihren ›Kampf‹ nun als Pioniere der Emslanderschließung fortsetzten. Zudem waren von den Wachmännern, die bis 1937 zur ›Moor-SA‹ kamen, mehr als drei Viertel zwischen 1907 und 1913 geboren worden. Daraus resultierte eine ähnliche Erfahrungsschichtung, in die sowohl der politische Kampf vor dem Machtantritt als auch das Erleben eines Abstiegs mit beruflichen Unsicherheiten und Phasen von Arbeitslosigkeit im Zuge der Wirtschaftskrise einflossen. Für die SA-Männer bedeutete daher bereits die soziale Absicherung durch ihre Anstellung in den Emslandlagern einen ökonomischen Aufstieg. Über das ›Siedlungsversprechen‹, dass Wachmänner bei der Vergabe neuer Siedlerstellen bevorzugt berücksichtigt werden sollten, und eine ›Treueprämie‹ von 1.500 RM, auf die sie nach fünf Jahren Anspruch erhielten, entwickelte sich eine Gemeinschaftsutopie, nach der die SA-Männer Protagonisten der Emslandkultivierung waren und durch einen kollek3

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386 tiven Aufstieg von ihrem Einsatz für das völkische Modernisierungsprojekt selbst profitieren sollten. Ein zweiter Strang dieses Aufstiegsversprechens der ›Moor-SA‹ entwickelte sich in Form von Beförderungen im Justizdienst. Durch den fortwährenden Ausbau der Lager und wiederholte Eingaben Schäfers zum Stellenausbau wuchs die Zahl der Beförderungsstellen kontinuierlich an, sodass dieser Aufstieg im Gegensatz zu den versprochenen Siedlerstellen für die SA-Männer unmittelbar erfahrbar war. Damit flossen aber neben vorrangig gemeinschaftlich-ideologischen Gründen auch materielle und individuelle Faktoren in die Motivlagen der Wachmänner für den Beitritt zur und den Verbleib in der ›Moor-SA‹ ein. Die Wachmannschaften rekrutierten sich bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ausnahmslos aus Männern, die bereits zuvor der SA oder in einigen Fällen auch der SS angehört hatten. Ein männerbündisches und militärisch geprägtes Umfeld war ihnen dadurch schon vorab bekannt. Ihr geteiltes Selbstbild entsprach dabei dem hegemonialen Modell einer soldatischen Männlichkeit. Dies zeigte sich besonders im Habitus der ›Härte‹, die die Wachmänner zu verkörpern glaubten: zum einen durch die ›Härte‹ ihres eigenen Dienstes in Eintönigkeit und Abgeschiedenheit, die sie angeblich klaglos ertrugen,4 zum anderen durch die harte, gewaltüberformte Behandlung, der sie die Häftlinge unterzogen. Im Umgang mit den Strafgefangenen war ›Härte‹ gleichermaßen Mittel als auch Ziel einer ›Erziehung‹ zu Disziplin und ›Männlichkeit‹. Über das Leitbild einer soldatischen Männlichkeit ließen sich herkömmliche Moralvorstellungen verschieben und dem Primat der ›Härte‹ unterordnen. Diese Männlichkeitskonzepte bildeten daher den legitimatorischen Kern einer entgrenzten Gewalt, der auch jenseits der NS-Ideologie weithin anschlussfähig war. Die Gewalt der SA-Wachmannschaften war daher kein rauschhaftes Massenereignis,5 sondern systematisch angelegt. Sie war auch ein machtstrategisches Mittel, mit dem insbesondere neu eingelieferten Häftlingen die hierarchischen Verhältnisse ›beigebracht‹ werden sollten, was für den Erziehungsanspruch der ›Moor-SA‹ einen ersten, wichtigen Schritt bedeutete.6 Die exzessive, initiierende Gewalt ebbte meist nach einiger Zeit ab, da sie in einem Spannungsverhältnis zu den Effizienzanforderungen der Kultivierungsarbeiten stand. Durch Strafkompanien und ›U. A.-Kolonnen‹ blieb die entgrenzte Gewalt jedoch auch für Häftlinge mit längerer Verweildauer im Emsland als Drohmittel präsent.

Mit dem ständigen Thematisieren des ›Sich-Nicht-Beklagens‹ taten die Wachmänner und ihre SA-Führer das genaue Gegenteil: Sie beklagten sich. Dies ist für die Argumentation nur am Rande von Bedeutung, konterkariert aber das Selbstbild der SA-Männer. 5 Ausnahmen mögen im ›Spießrutenlauf‹ bei der Ankunft neuer Häftlingskontingente oder dem in Börgermoor zum Kriegsbeginn angeordneten Strafexerzieren bestehen. 6 Zu den Verhaltensweisen, die Häftlinge entwickelten, um sich diesem Anspruch zu entziehen, vgl. wiederum Henze: Hochverräter, S. 123–132.

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387 Insofern war die exzessive Gewalt ein zyklisch auftretendes Phänomen, das sich kaskadenartig besonders gegenüber neuen Häftlingskontingenten entlud. In diesem ständigen Auf und Ab blieb die Gewalt der ›Moor-SA‹ jedoch gewissermaßen statisch. Im Gegensatz zu den SS-geführten Konzentrationslagern erfuhren die emsländischen Strafgefangenenlager erst durch den Kriegsbeginn eine Erweiterung der Häftlingsgruppen; in ihnen fand keine »kumulative Radikalisierung« der Gewalt statt, und die Vernutzung der Häftlinge durch den Arbeitseinsatz erreichte erst in der zweiten Kriegshälfte ein mörderisches Ausmaß.7 Auch hierdurch lässt sich erklären, warum sich die Strafgefangenenlager als Lagertyp im Nationalsozialismus letztlich nicht durchsetzten.

Monokratische Gemeinschaftssuggestion Die zwischenzeitliche Durchsetzungskraft, die die ›Moor-SA‹ dennoch bis Ende der 1930er Jahre entwickeln konnte, basierte auf der Suggestion einer homogenen, uniformen und führerzentrierten Männergemeinschaft. Das Bild der ›kampferprobten‹ SA-Männer, die ihr ›hartes‹ Los bereitwillig annahmen und sich unter der charismatischen Führungsfigur des Kommandeurs Schäfer selbstlos für die Erschließung der Region aufopferten, entfaltete eine große Wirkungskraft sowohl für das Kollektiv selbst als auch nach außen hin. Diese geradezu monokratische Gemeinschaftssuggestion enthielt vielfältige Implikationen hinsichtlich der harten Bestrafung von Delinquenten, einer agrarromantisch aufgeladenen ›inneren Kolonisation‹ des Emslands sowie einer Modernisierung des kulturellen, gesellschaftlichen Lebens in der Region. In diesen Bereichen entwickelte die ›Moor-SA‹ jeweils gemeinschaftliche Eigendynamiken, die ihre Involvierung veranschaulichen sollten. Mit einer breit angelegten Repräsentations- und Freizeitkultur, zu der die SA-geführten Wirtschaftsbetriebe und Parkanlagen bei den Lagern sowie eine Vielzahl an teilweise öffentlichen Gemeinschaftsaktivitäten – Kameradschaftsabende, Musikkonzerte und Sportveranstaltungen – gehörten, vermittelten die Wachmannschaften die nationalsozialistische Aufbauarbeit der eigenen Gemeinschaft und machten das Bild der mustergültigen Lager und die zu erwartenden Kultivierungserfolge greifbar. Für die Angehörigen der ›Moor-SA‹ bildete die öffentliche Gemeinschaftsinszenierung eine selbstevidente Bestätigung ihrer bevorzugten Stellung. Diese partielle, symbolhafte Vorwegnahme der Gemeinschaftsutopie in ihrer gegenwärtigen Erfahrungswelt erleichterte SA-Männern die eigene Einschreibung in die Gemein7

Zum Konzept einer kumulativen Radikalisierung im NS vgl. Hans Mommsen: Nationalsozialismus oder Hitlerismus?, in: Michael Bosch (Hg.): Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte, Düsseldorf 1977, S. 62–71.

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388 schaft der ›Moor-SA‹. Die dadurch gesteigerte Anschlussfähigkeit konnte so lange funktionieren, wie die Diskrepanz zwischen den gemeinschaftlichen Verheißungen und der alltäglichen Erfahrungswelt ein kritisches Niveau nicht überschritt. Auch nach außen hin entwickelte sich das Bild der SA-Wachmannschaften als Vorkämpfer der Emslandkultiverung zum dominanten Narrativ. In der Berichterstattung über das Lagerprojekt verdrängte die ›Moor-SA‹ andere Akteure im regionalen Kontext. Die weiteren NS-Organisationen traten in der lokalen Öffentlichkeit hinter der ›Moor-SA‹ zurück, während Vorarbeiter und Ingenieure von der Kulturbauleitung und staatlichen Moorverwaltung im Bereich der Kultivierungsarbeiten zwar offiziell die fachliche Anleitung übernahmen, jedoch nicht über den ideologischen Überbau der Wachmannschaften verfügten. Dem dominanten Narrativ der Wachmannschaften als Protagonisten des Siedlungsprojekts hatten sie daher wenig entgegenzusetzen. Die Justizverwaltung ließ die Wachmannschaften mit diesen Bestrebungen gewähren, da sie als ihre Repräsentanten vor Ort den Doppelcharakter des Straf- und Siedlungsprojekts verkörpern und nach außen legitimieren konnten. In den anhaltenden Konflikten mit der SS und dem RAD war diese ideologische Unterfütterung des Lagerprojekts für das RJM mehr als nützlich. Anschließend versuchte die Justizverwaltung zwar, durch das machtpolitisch motivierte Dienststrafverfahren gegen deren Kommandeur einen stärkeren Zugriff auf die Wachmannschaften zu erhalten. Die selbstentworfene Gemeinschaftssuggestion der ›Moor-SA‹ ließ sich jedoch auch vom RJM nicht mehr durchbrechen – zumindest wenn man das eigene Lagerprojekt nicht gefährden wollte. Hochrangige Parteivertreter wie Joseph Goebbels oder Gauleiter Röver sprachen sich für Schäfer aus, und die OSAF beförderte ihn noch vor Verhandlungsbeginn zum Oberführer. Daher blieb das eigentliche Verfahren für die ›Moor-SA‹ nahezu folgenlos, und Werner Schäfer konnte noch bis zu seiner Einberufung 1942 das dominante Narrativ der kämpferischen ›Moor-SA‹ – wenn auch mit abnehmendem Erfolg – weiterspinnen. Der zwischenzeitliche Erfolg der ›Moor-SA‹ basierte zudem gerade darauf, dass eine Vielzahl von Instanzen mit teils divergierenden Interessen am Kultivierungsprojekt beteiligt war, letztlich aber keine von diesen die Oberhoheit über das Siedlungsprojekt für sich reklamieren konnte. Das Finanzministerium und das RMEL unternahmen nach 1934 zwar keine Versuche mehr, selbst gestalterisch tätig zu werden, bestanden aber ähnlich wie das Reichskriegsministerium (beziehungsweise später das OKW) auf einer Mitsprache bei maßgeblichen Entscheidungen. Auch die Bezirksregierung in Osnabrück musste sich nach der Übernahme der Lager durch die Justizverwaltung mit einem geringeren Einfluss abfinden. Dieser äußerte sich vor allem in der Tätigkeit des Bezirksplaners Hugle, der sich in Konkurrenz zu den Planern der Reichsstelle für Raumordnung sah. Die Rf R wiederum konzentrierte sich auch nach dem »Emsland-Erlass« Görings im Januar 1937 auf die Planerstellung und unternahm keine Versuche, die Kultivierungsarbeiten zent388

https://doi.org/10.5771/9783835348035

Schlussbetrachtung

389 ral zu koordinieren. Neben dem Mangel an eigenem Personal vor Ort lag dies wohl auch daran, dass der ihr vorstehende Reichsminister Hanns Kerrl seinerzeit selbst Werner Schäfer als Kommandeur eingesetzt hatte und auch weiterhin als Unterstützer der SA-Wachmannschaften galt. Die wiederholten Besuche durch Vertreter der beteiligten Instanzen wussten Schäfer und die Lagerleiter zu nutzen, um die Position der ›Moor-SA‹ zu stärken. Indem sie die Lager als mustergültige Einrichtungen eines ›modernen‹ Strafvollzugs präsentierten und die eigenen Errungenschaften wie die SA-geführten Wirtschaftsbetriebe, Sportplätze und Parkanlagen vorzeigten, sicherten sie sich die Unterstützung von Parteigrößen und Regierungsvertretern. Dabei verfolgten Schäfer und die SA-Führer eine Strategie der Maximierung des Minimalen, indem sie die an sich kargen Erfolge in jegliche erdenkliche Richtung funktionalisierten: Die Parkanlagen waren nicht nur zur Freizeitgestaltung gedacht, sondern auch als Prestigeobjekte nach außen. Die Wirtschaftsbetriebe boten den SA-Männern Gelegenheit, selbst im Rahmen der agrarischen Landgewinnung tätig zu werden, verbesserten deren Ernährungssituation, generierten Kapital für Gemeinschaftsaktivitäten und veranschaulichten gleichzeitig die versprochenen Kultivierungserfolge nach außen. Ein Besuch der Stedingsehre war für die Wachmannschaften nicht nur kostenfrei, sondern brachte sogar Einnahmen mit sich, da zum Transport die lagereigenen Lkw angemietet wurden. Als die Wachmannschaften Hitler bei ihrem Besuch Ende 1935 ein Fotoalbum schenkten, revanchierte sich dieser mit dem Emslandhaus, das fortan als repräsentativer Aufmarschort diente. Als Resultat des Besuchsprogramms erhielten die Wachmannschaften Filmapparate und Büchereien und wurden regelmäßig von Schauspielgruppen besucht, was wiederum die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung erweiterte. Schließlich bedeuteten die Besuche durch NS-Prominenz auch eine öffentliche Anerkennung, die – verstärkt durch die mediale Berichterstattung – ebenfalls in die SA-Gemeinschaft zurückstrahlte. Die Umgebungsbevölkerung war von Beginn an ein weiterer Adressat der Repräsentations- und Freizeitkultur. Die ›Moor-SA‹ bediente sich hierbei des gleichen Maßnahmenrepertoires: Besuche von NS-Größen und SA-Aufmärsche verdeutlichten auch der lokalen Bevölkerung den Stellenwert des Siedlungsprojekts – selbst wenn diese die ideologischen Implikationen nicht unbedingt teilte. Vor allem erhielten Besuchergruppen aus dem Emsland selbst Zugang zu den Lagern und bekamen hierbei die vorgeblichen Erfolge der ›Moor-SA‹ präsentiert. Freizeitaktivitäten wie Filmabende und Kameradschaftsabende wurden stellenweise für die Umgebungsbevölkerung geöffnet, und der SA-eigene Musikzug lieferte nicht nur dort, sondern auch auf öffentlichen Feiern das musikalische Rahmenprogramm. Zudem brachte sich die ›Moor-SA‹ durch Sportveranstaltungen und Volksfeste in das kulturelle Leben ein und verdeutlichte durch Aktionen im Bereich von sozialer Fürsorge und Wohlfahrt ihren Nutzen für die Zivilbevölkerung. Schlussbetrachtung

389

390 Über dieses Maßnahmenprogramm konnte die ›Moor-SA‹ auch in der lokalen Öffentlichkeit ihren Anspruch einer ›Kultivierung‹ des Emslands unterstreichen. Die Wachmänner wurden von der Zivilbevölkerung bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zumindest akzeptiert und es entstand eine Vielzahl von Nahbeziehungen, die die Abgeschiedenheit der Dienststellung abmilderten.8 Werner Schäfer versuchte zudem bewusst, die katholische Bevölkerung mit einzubinden und die existierenden politischen Gegensätze auszusparen. So wurde in der Propagandaarbeit der ›Moor-SA‹ kaum auf antisemitische Positionen oder die Idee einer ›Volksgemeinschaft‹ Bezug genommen. In ordnungspolitischen Fragen und vor allem hinsichtlich der räumlichen Erschließungsmaßnahmen bestand hingegen eine deutlich größere Schnittmenge. So wurden in der Berichterstattung immer wieder die Gewinnung neuen Kulturlands und die ›Aufbauarbeit‹ für ein ›neues Deutschland‹ betont, welche die SA-Männer leisten würden – vermeintlich unpolitische Versatzstücke, mit denen sich die lokale Bevölkerung deutlich leichter identifizieren konnte. Als schließlich im Juni 1936 der Osnabrücker Bischof Berning die Lager besuchte, konnte Schäfer auch ihm das Bild der mustergültigen Lager vermitteln und die vorgeblichen Kultivierungserfolge präsentieren. Trotz wachsender Divergenzen in kirchenpolitischen Fragen lobte Berning die »Aufbauarbeit des dritten Reiches«9 und bedankte sich mehrfach bei den SA-Männern, deren Rolle als Protagonisten des Siedlungsprojekts er damit anerkannte. Damit sanktionierte Berning das gesamte Lagerprojekt und zeigte katholischen Emsländern prototypisch ein Verhalten auf, das die Ablehnung der nationalsozialistischen ›Entkonfessionalisierungspolitik‹ und eine Zustimmung zum völkisch geprägten Modernisierungsprojekt im Emsland vereinte.

Polymorphe Binnenstruktur der Gemeinschaft Die innere Struktur der ›Moor-SA‹ war jedoch keineswegs so uniform und monokratisch, wie die Gemeinschaftssuggestion implizierte. Trotz der strengen Hierarchien gab es für die Wachmänner vielfältige Handlungsspielräume. Diese zeigten sich beispielsweise bei der weitverbreiteten Korruption, mit der einzelne SA-Män-

Wie in Kap. II.4 ausgeführt, lassen sich diese anhand von Polizeiakten nachweisen, aber auch anhand der Eheschließungen. Allein 1936 heirateten 105 Wachmänner, was 12 % der Wachmannschaften entspricht. Es ist davon auszugehen, dass die Partnerinnen nicht nur aus ihren Herkunftsregionen, sondern auch aus dem Emsland kamen. Zumindest bei Karl Dubbel ist bekannt, dass er eine Emsländerin heiratete (Vgl. Angelegenheiten II u. Anklage gegen Dubbel u. a., NLA Osnabrück Rep 945 Akz 6 /1983 Nr. 326). 9 EZ, 26. 6. 1936. 8

390

Schlussbetrachtung

391 ner den versprochenen Aufstieg selbst in die Hand nahmen.10 Auch die Häufigkeit und Intensität, mit der sich Wachmänner in die kollektive Gewaltpraxis einbrachten, war offenkundig eine Frage persönlicher Entscheidungen. Ob ein Wachmann Häftlinge schlug, sie zum ›Karre schieben‹ oder Stellen des ›Moordenkmals‹ nötigte oder wie stark er sich an den Misshandlungen beim Lagersport und Strafexerzieren beteiligte, war nicht allein durch gruppendynamische Prozesse und kameradschaftlichen Druck bestimmt, sondern auch durch jeweils eigenes Ermessen und eigene Präferenzen. So gibt es verschiedene Belege für Wachmänner, die zumindest aus eigenem Antrieb nicht gewalttätig wurden: Der von Wilhelm Henze beschriebene nachsichtige Posten, der allein ein Kommando bewachte, der penible ›Schulmeister Peters‹ aus Karl Schröders Erinnerungsbericht oder auch Arnulf Anwander, der sich während des Herold-Massakers weigerte zu schießen – sie entschieden sich zumindest in diesen Situationen dagegen, Gewalt auszuüben. Die Erkenntnisse zu Gruppendynamiken in Täterkollektiven legen nahe, dass sich auch solche Männer irgendwann – einmalig oder wiederholt – am Gewalthandeln beteiligten.11 Insofern geht es hierbei nicht um einen ›moralischen Freispruch‹, sondern um graduelle Abstufungen im Verhalten unterschiedlicher Wachmänner, die für das Verständnis der Gewalt als kollektiver Praxis innerhalb der ›Moor-SA‹ wichtig sind. So war die Ausprägung der Gewalt von bestimmten Personenkonstellationen, also auch funktionalen und sozialen Komponenten, abhängig. Zur Herausbildung regelrechter ›Gewaltcliquen‹ kam es, wenn bestimmte Funktionsstellen wie Oberwachtmeister, Platzmeister oder Kommandoführer durch SA-Männer besetzt waren, die sich nur als Sadisten und Exzesstäter beschreiben lassen.12 Ein zumindest phasenweises und situatives Mitwirken anderer Wachmänner ermöglichte, dass sich ein umfassendes Gewaltregime etablierte, doch die Vorreiterrolle hatten hierbei wiederkehrend die gleichen Gruppierungen innerhalb der Wachmannschaften inne. Der erzieherische Anspruch gegenüber den Häftlingen wurde allerdings durch die ›Moor-SA‹ als Ganzes getragen und legitimierte das Gewalthandeln. Zudem entstand durch die offizielle Beschwerdemöglichkeit der Strafgefangenen ein kameradschaftlicher Druck zur Vertuschung der Misshandlungen, der zum innergemeinschaftlichen Zusammenhalt beitrug. Auch in den Nachkriegsprozessen deckten sich die Wachmänner mit wenigen Ausnahmen gegenseitig. Neben dieser praxeologischen Gruppenbildung gab es zudem bedeutsame so-

Allerdings war diese individuelle Korruption gewissermaßen nur eine logische Fortführung der dubiosen Praktiken zur Geldbeschaffung für Gemeinschaftsaktionen durch die Führer der ›Moor-SA‹. 11 Vgl. Browning: Männer, S. 223 f. und Welzer: Täter. 12 Beispielhaft stehen hierfür die mehrfach angeführten SA-Männer Harm Bleeker, Hermann Kaiser, Hermann Köslin, der ›Schinderhannes‹ Heinrich Lange und Paul Loss. 10

Schlussbetrachtung

391

392 ziostrukturelle und generationelle Trennlinien der Binnendifferenzierung. So entwickelten die ›alten Kämpfer‹, die das Bild der ›Moor-SA‹ nach außen hin bestimmten, auch im Inneren Dominanzansprüche. Die Teilnahme an prestigeträchtigen Aktionen wie Parteitagen, den Hitlerbesuchen oder bestimmten Aufmärschen blieb allein ihnen vorbehalten; die spätere Aufstiegsmöglichkeit durch Übernahme in den regulären Beamtendienst galt ebenfalls nur für diese Männer. Eine damit stellenweise konkurrierende Gruppe waren die siedlerfähigen Wachmänner. Das Siedlungsversprechen und die Adaption des eigenen ›Kampfes‹ auf die Kultivierungsarbeiten im Emsland waren in der Repräsentation der ›Moor-SA‹ zwar eng miteinander verknüpft, soziostrukturell waren ›alte Kämpfer‹ und ›bauernfähige‹ Wachmänner aber keineswegs deckungsgleich. So galt das Siedlungsversprechen nur für SA-Männer, die bis 1934 den Wachmannschaften beigetreten waren – unabhängig von ihrem Eintritt in die SA. Presseberichte und Anwerbungsaufrufe suggerierten allerdings Anderes, wodurch Dissonanzen vorprogrammiert waren. Umgekehrt konnte Oberwachtmeister Eymers, der auf der Siedlerliste stand, 1938 nicht in die Beamtenlaufbahn wechseln, da er erst seit 1933 SA-Mitglied war. Die bedeutsamste Kategorie dieser Binnendifferenzierung, in die die oben genannten Aspekte mit einflossen, war eine generationelle Schichtung der SA-Wachmannschaften.13 Die Wachmannschaften lassen sich klar in mehrere Einstellungskohorten einteilen. Die Primärkohorte der bis April 1934 eingestellten SA-Männer hatte deutlich bessere Aufstiegschancen als Wachmänner, die erst mit dem Lagerausbau 1937 ins Emsland kamen und zur dritten Kohorte zählten – einfach weil die ersten beiden Kohorten bereits vor Ort waren und Beförderungsstellen besetzt hielten.14 Zudem gab es auch erfahrungsgeschichtliche Unterschiede zwischen den Kohorten: Der Anteil der ›alten Kämpfer‹ war in der ersten und auch in der weitgehend anschlussfähigen zweiten Kohorte aufgrund der früheren Geburtsjahrgänge weitaus höher als in der dritten Kohorte. Nur Angehörige der ersten und Teile der zweiten Kohorte waren überhaupt berechtigt, Anspruch auf Siedlerstellen zu erheben. Beide Umstände bedingten eine unterschiedliche Erfahrungsschichtung, die es den Angehörigen der früheren Kohorten einfacher machte, das Pionierideal der ›Moor-SA‹ für sich zu adaptieren. Gleichzeitig ließen sich für diese SA-MänGenerationalität tritt hier nicht in Form einer ›generationellen Gruppe‹ im Sinne Karl Mannheims hervor, sondern im stärker sozialstatistisch geprägten amerikanischen Verständnis von Kohorten, deren definierendes Ereignis im Fall der ›Moor-SA‹ nicht die Geburt, sondern die Einstellung im Wachdienst ist. Dieser zunächst quantitative Zugang ist in dieser Arbeit mit qualitativen Befunden wie der unterschiedlichen Erfahrungsschichtung verknüpft worden. 14 Ähnliche Mechanismen sind in größerem Maßstab aus der Generationengeschichte der DDR bekannt. Vgl. Thomas Ahbe / Rainer Gries: Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama, Erfurt 2007. 13

392

Schlussbetrachtung

393 ner durch die vielfachen Beförderungen innerhalb der Wachmannschaften am ehesten erfahrungsweltliche Bezüge zu der Gemeinschaftsutopie eines kollektiven Aufstiegs herstellen. Umgekehrt waren es 1938 /39 vor allem Angehörige der dritten Kohorte, die den Wechsel in die Beamtenlaufbahn wahrnahmen, da sich ihnen innerhalb der ›MoorSA‹ kaum Aufstiegsoptionen boten. Die langgedienten Wachmänner hätten zwar ein Vorrecht auf diese Stellen gehabt, jedoch bestanden für sie im Emsland mit der bald darauf fälligen Treueprämie und den versprochenen Siedlerstellen konkurrierende Anreize, die ihren Verbleib sicherten. Dadurch, dass die verbeamteten SA-Männer zum Teil ins Emsland zurückkehrten, bildeten sich neue Trennlinien und Verwerfungen, da ihr Aufstieg dem Bedeutungsverlust des Lagerprojekts und den dadurch immer deutlicher enttäuschten Gemeinschaftserwartungen der anderen entgegenstand. Ab Beginn der 1940er Jahre erscheinen die noch im Emsland befindlichen SA-Wachmänner zunehmend als Ansammlung der Zurückgebliebenen. Oft hatten sie inzwischen Anspruch auf das Entlassungsgeld, allerdings keine Möglichkeit mehr, darauf Zugriff zu erhalten, da sie ihr Dienstverhältnis nicht von sich aus kündigen konnten. Die Siedlerstellen entpuppten sich spätestens mit der Einstellung der Kultivierungsarbeiten als bloße Versprechung, sodass sich für die Wachmänner nun deutlich weniger hochtrabende Zukunftspläne ergaben. Während einige hofften, noch möglichst lange im Wachdienst zu bleiben und dadurch nicht zum Kriegsdienst eingezogen zu werden, versuchten andere – wie selbst der zwischenzeitliche Führer des Wachsturmbanns Karl Dubbel –, möglichst in andere, vorgeblich zukunftssicherere Bereiche zu wechseln.

Opportunität der Gemeinschaft Aus der Perspektive der SA-Männer war die Stellung im Wachdienst allerdings schon von Beginn an durch eine andauernde Krisenhaftigkeit geprägt. Übergeordnete Entwicklungen wie der Zuständigkeitswechsel vom Preußischen Innenministerium zur Justizverwaltung, die reichsweite Entmachtung der SA, die entstehende Verfolgungsdominanz von Gestapo und SS und die konfrontativen Kompetenzansprüche des RAD im Rahmen der Emslandkultivierung waren begleitet von internen Unsicherheiten hinsichtlich der Dauerhaftigkeit der Stellen, der versicherungsrechtlichen Absicherung und der Handhabung der Dienstaufsicht – Aspekte, die im Dienststrafverfahren gegen Werner Schäfer 1938 noch einmal kulminierten. Die ideologisch motivierte Teilhabe am völkischen Modernisierungsprojekt allein reichte für die Wachmänner nicht aus, um diese Unsicherheitsfaktoren zu kompensieren. Anhaltende Bindekräfte konnte die SA-Gemeinschaft nur darüber entwickeln, dass sie zusätzlich mit dem Versprechen aufgeladen war, dass ihre Schlussbetrachtung

393

394 Mitglieder durch einen ökonomischen und sozialen Aufstieg auch selbst von ihrem Einsatz profitieren würden. Um dauerhaft anschlussfähig zu bleiben, musste dieser Aufstieg wie auch die Gemeinschaft selbst für die SA-Männer in ihrer Alltagswelt zumindest ansatzweise erfahrbar werden. Dadurch unterscheidet sich die ›Moor-SA‹ aber von traditionellen Gemeinschaftsformen. Sie war nicht ›ursprünglich gewachsen‹; der Eintritt und bis 1939 auch die Zugehörigkeit basierten auf freien Entscheidungen. Sie war zunächst eine ›community of choice‹, also eine posttraditionale Gemeinschaftsform, und wurde erst durch das gemeinschaftliche Handeln im Emsland zu einer ›community of region‹, bei der der nach außen vertretene Anspruch mit traditionalen Bezügen aufgeladen war.15 Für das Zugehörigkeitsgefühl der SA-Männer zu dieser Gemeinschaft waren damit aber auch zweckrationale und ökonomische Überlegungen, also Opportunitätskriterien, von Bedeutung. Die Triebkraft der Gemeinschaft war somit eine Mischung aus ideologischer Überzeugung und kollektiviertem Eigennutz.16 Das Versprechen eines gemeinschaftlichen Aufstiegs sollte und musste jedoch eine Utopie bleiben. Auch wenn zahlreiche Beförderungsstellen geschaffen wurden: Der Aufstieg innerhalb der ›Moor-SA‹ war immer individueller Natur. Beispiele wie die Karriere Karl Dubbels, die ihn vom einfachen Wachmann bis an die Spitze der ›Moor-SA‹ führte, mochten zwar die vorhandene Aufstiegsdynamik verdeutlichen, doch bei jeder ausgesprochenen Beförderung blieben andere, übergangene SA-Männer auf ihrer Stelle ›kleben‹, wodurch zwangsläufig Dissonanzerfahrungen entstanden. Die Wachmannschaften waren daher von Beginn an durch eine anhaltende Fluktuation geprägt. Nach der anfänglichen Existenzsicherung durch den Eintritt in den Wachdienst verließen immer wieder SA-Männer die Wachmannschaften, sobald sich ihnen anderswo bessere Perspektiven boten. Schon 1935 kam es so zu vermehrten Abwanderungen. Durch die Ausgestaltung der ›Moor-SA‹ als Freizeitgemeinschaft versuchten Werner Schäfer und die Lagerleiter solchen Verstimmungen präventiv zu begegnen. Die vielfachen Kameradschaftsabende, Aufmärsche, Festveranstaltungen und explizit auch das Betreiben der lagereigenen Landwirtschaft sollten den SA-Männern – wie auch der Öffentlichkeit – ihre ›kulturbringende‹ Funktion als Pioniere der Emslanderschließung erfahrbar machen. Parallel war diese ›Bespielung‹ der Wachmänner aber immer auch zur inneren Vergemeinschaftung, also der Evokation eines Zusammengehörigkeitsgefühls, und auch schlicht zur Beschäftigung und Unterhaltung der Wachleute gedacht. Diese Kombination aus Gemeinschaftsritualen und einer halbwegs realistischen Aufstiegsperspektive führte dazu, dass sich

15 16

Zu dieser Unterscheidung vgl. erneut Brint: Gemeinschaft, S. 10–13. Vgl. Hitzler / Honer / Pfadenhauer: Einleitung und Knoch: Zerstörung.

394

Schlussbetrachtung

395 insbesondere aus Angehörigen der ersten und zweiten Einstellungskohorte ein ›harter Kern‹ der ›Moor-SA‹ herausbildete. Als das Lagerprojekt im Nachklang des Dienststrafverfahrens gegen Schäfer jedoch seinen Stellenwert für die Justizverwaltung verlor und der ausbleibende Lagerausbau den Abstieg der ›Moor-SA‹ einläutete, traten parallel Zerfallserscheinungen der SA-Gemeinschaft deutlich zutage, die im sich weiteren Verlauf noch verstärken sollten. Es ist bezeichnend, dass die großen Abwanderungswellen der Jahre 1938 und 1939, die nicht mehr umgehend kompensiert werden konnten, dann eintraten, als die dritte Einstellungskohorte entstanden war, für deren Angehörige innerhalb der Wachmannschaften kaum realistische Aufstiegsperspektiven bestanden. Für das Aufstiegsversprechen der ›Moor-SA‹ kommt es geradezu einer Ironie der Geschichte gleich, dass es letztlich überwiegend Angehörige der dritten Einstellungskohorte waren, die durch ihren Wechsel in die Beamtenlaufbahn 1938 am langfristigsten von ihrer Zugehörigkeit zur Pionierstandarte profitieren sollten. Auch unter den SA-Männern, die schon länger der ›Moor-SA‹ angehört hatten, entschlossen sich vor allem solche zu einem Wechsel in die Beamtenlaufbahn, die zuvor nicht oder nur selten befördert worden waren. Insofern waren es oftmals gerade die ›Verlierer‹ des innergemeinschaftlichen Aufstiegs, deren Aufstieg außerhalb des Kollektivs das nationalsozialistische Lagerprojekt überdauerte, während für den ›harten Kern‹ 1938 /39 noch stärkere Bindekräfte bestanden, sich die Hoffnungen auf einen dauerhaften Aufstieg in Form von Siedlerstellen oder gesicherten Führungspositionen aber letztlich nicht erfüllen sollten. Im Zweiten Weltkrieg beschleunigte sich der Abstieg der ›Moor-SA‹ nochmals. Die südlichen Lagerstandorte und auch das Lager Oberlangen gingen an das OKW über, ein Großteil der SA-Männer wurde zum Wehrdienst eingezogen und das Siedlungsprojekt verlor seine Unterstützer, bis schließlich die Kultivierungsarbeiten gänzlich eingestellt wurden. Die Konflikte mit der Zivilbevölkerung flammten wieder auf, und auch bei den lokalen Behörden regte sich Unmut über die Darstellung der SA-Männer als Protagonisten des Siedlungsprojekts. Unter ihrem Kommandeur Werner Schäfer konnte die ›Moor-SA‹ bis 1942 auch mit geringerem Personal zumindest den Anschein einer Gemeinschaft aufrechterhalten und ihre privilegierte Stellung in der Region behaupten. Mit der Einberufung des Kommandeurs im Mai 1942 endete jedoch die SA-Führung der Lager und damit auch die Ära der ›Moor-SA‹. Die Diskrepanz zwischen Gemeinschaftsutopie und den sozialen Realitäten, die sich schon 1938 /39 deutlich abgezeichnet hatte, zeigte sich den verbliebenen SA-Männern nun offenkundig: Ein Aufstieg durch Beförderungen innerhalb der Wachmannschaften war aufgrund der drohenden Einberufung nur eine kurzfristige, fragile Perspektive. Wachmänner, die Anspruch auf die Treueprämie hatten, konnten auf diese nicht zugreifen, da sie ihren Arbeitsplatz nicht mehr wechseln Schlussbetrachtung

395

396 durften. Die lange versprochenen Siedlerstellen waren für die SA-Männer nicht finanzierbar und blieben letztlich vollständig aus. Innerhalb der Wachmannschaften zeigten sich teils heftige Zerwürfnisse, und auch gegenüber dem Kommandeur kam es zu vorher unbekannten Anfeindungen. Auch die zum ›harten Kern‹ gehörenden Wachmänner nahmen schließlich sich ihnen bietende Möglichkeiten zum Verlassen der SA-Gemeinschaft wahr. Hatten Hubert Aerts und Hauptwachtmeister Heinrich Borgelt 1938 /39 einen Wechsel ins Beamtenverhältnis aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem Lagerprojekt noch abgelehnt,17 schieden Lagerleiter Schenk und Karl Dubbel aus den Wachmannschaften aus, als sich ihnen entsprechende Perspektiven boten. Selbst Werner Schäfer versuchte seit Sommer 1940 mehrfach, an reguläre Strafanstalten im Elsass versetzt zu werden. Damit zeigt sich, dass die Zugehörigkeit zur ›Moor-SA‹ nicht nur eine Frage der ideologischen Überzeugung war, sondern immer auch – selbst für ihre Führer – der individuellen Opportunität. Die ›Moor-SA‹ war eine ideologisierte Zweckgemeinschaft, mittels derer Individuen versuchten, im nationalsozialistischen Deutschland ihre Interessen in einem gemeinschaftlich geprägten Kollektiv durchzusetzen. Die Gemeinschaft befand sich dabei in einem konsequenten Aushandlungsprozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Wachmänner zeigten zwar eine hohe Affinität zum völkisch aufgeladenen Straf- und Siedlungsprojekt, verließen die Gemeinschaft jedoch auch wieder, wenn sich ihnen anderweitig bessere Chancen oder alternative Aufstiegskanäle boten, insbesondere dann, als sich die gemeinschaftlichen Versprechungen als bloße Verheißung entpuppten. Die Zugehörigkeit zu einem Täterkollektiv, das massive Gewalt gegen Gefangene ausübte, hatte allem Anschein nach kaum Einfluss auf den Verbleib der Wachmänner und stand einer Rückkehr in zivile Berufe nicht im Weg. Dies ist nach den bisherigen Befunden zu Tätergruppen zwar wenig verwunderlich, ist so aber innerhalb des Nationalsozialismus noch nicht beobachtet worden. Auch für die Umgebungsgesellschaft war das Verhältnis zum Lagerprojekt und den Wachmannschaften als dessen Repräsentanten von Opportunitätsstrukturen geprägt. Für die Zivilbevölkerung boten sich zahlreiche Möglichkeiten, mit den Lagern Geschäftsbeziehungen aufzubauen oder an Freizeitaktivitäten mit Beteiligung der ›Moor-SA‹ teilzunehmen. Für das katholische Milieu schloss eine Ablehnung der nationalsozialistischen Kirchenpolitik eine Zustimmung in ordnungspolitischen und raumplanerischen Bereichen keineswegs aus. Gerade die potentielle Mehrdeutigkeit des Straf- und Siedlungsprojekts ließ dessen Ziele weit über die Kernklientel des Nationalsozialismus hinaus anschlussfähig werden. In der jahrzehntelang verweigerten Auseinandersetzung mit den Emslandlagern konnte das 17

Zumindest im Fall Borgelts lag dies aber wohl auch daran, dass ein solcher Wechsel mit einer Verringerung der Bezüge einhergegangen wäre.

396

Schlussbetrachtung

397 Lagerprojekt wiederum als eine Installation ›von außen‹ gedeutet und die unmenschliche Behandlung der Strafgefangenen unter dem Verweis, es habe sich um ›gewöhnliche Kriminelle‹ gehandelt, relativiert werden – insbesondere Letzteres auch im überregionalen Rahmen. Die Geschichte der ›Moor-SA‹ ist somit weit mehr als ›bloße Tätergeschichte‹. Sie weist unmittelbar in die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus hinein und zeigt, wie sich für historische Subjekte Möglichkeiten zur Teilhabe, zum Einbringen, zu partieller Zustimmung oder Ablehnung und zum Nutzen ökonomischer oder sozialer Opportunitätsstrukturen boten; insbesondere aber auch, wie sich über die Zugehörigkeit zu einer ideologisch aufgeladenen Gemeinschaft dazu Gelegenheiten boten. Damit hat sich gezeigt, dass sich ›Gemeinschaft‹ sehr wohl als analytische Kategorie gewinnbringend nutzen lässt – wenn man sie ernst nimmt. Das Postulat einer essentialisiert aufgefassten ›Volksgemeinschaft‹ tut dies nicht, und auch die Idee, ›Volksgemeinschaft‹ mehr als zehn Jahre nach Beginn der Debatte »als heuristischen Begriff, als einen Impuls- und Suchbegriff« zu verwenden, verweigert sich im Endeffekt diesem Problem.18 Die in neueren Arbeiten durchscheinende Suche nach den ›Durchschnittsdeutschen‹ verharrt ebenso in Fragen von individueller Zustimmung oder der Betrachtung einzelner Biographieverläufe.19 Auch die Männer der ›Moor-SA‹ waren in vielerlei Hinsicht durchschnittliche Deutsche. Ihre Bedeutung für die Geschichte der nationalsozialistischen Gesellschaft erschließt sich jedoch nicht allein über eine ›top-down‹- oder ›bottom-up‹-Sichtweise, sondern über die Interdependenz dieser Perspektiven: die situative Nutzbarmachung von Kollektiven durch historische Subjekte und die Indienststellung von Individuen durch Kollektive. Auch wenn dieser Ansatz in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht mehr als schwierig erscheint, ist er für eine Erklärung der NS-Gesellschaft unverzichtbar.

18 19

Latzel / Mailänder / Maubach: Geschlechterbeziehungen, S. 11. Vgl. Dietmar Süß: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich, München 2017 und Konrad Jarausch: Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter, Darmstadt 2018.

Schlussbetrachtung

397

398

Tabellen und Abbildungen Tab. I: Monatliche Nettodienstbezüge der Wachmannschaften. BA Berlin R 3001 Nr. 10071

S. 83

Tab. II: Etat für die Wachmannschaft eines Konzentrationslagers mit 1.000 Häftlingen. NLA Osnabrück Rep 430 Dez 101 Akz 2004/033 Nr. 27.

S. 103

Tab. III: Angaben der ›Moor-SA‹ zu den Kultivierungsarbeiten im Dezember 1935. Archiv AK DIZ Emslandlager, Fotoarchiv, Fotoalbum 1935.

S. 221

Abb. 1: Emslandlager 1933–1938. Copyright: Bruno Brückner/AK DIZ Emsland lager.

S. 12

Abb. 2: Porträtfoto Werner Schäfers mit Widmung für einen SA-Wachmann, ca. 1936 (Widmung nach 1938). Archiv AK DIZ Emslandlager, Sammlung Paul Meyer.

S. 71

Abb. 3: Das Lager Walchum während der Bauphase 1935. Archiv AK DIZ Emslandlager, Fotoarchiv.

S. 78

Abb. 4: »Die Zeit der Ausbildung«. SA-Wachmänner auf dem Exerzierplatz des Lagers Oberlangen, 1934. Archiv AK DIZ Emslandlager, Sammlung Paul Meyer.

S. 89

Abb. 5: Altersstruktur der Wachmannschaften im Juni 1935. Datengrundlage: Eigene Datenbank.

S. 97

Abb.6: »Vergatterung vor Aufziehen der Wache durch Hwm. Zerbst«, Lager Brual-Rhede 1934/35. Privatbesitz Getrud Sieg.

S. 104

Abb. 7: »Durchbruch durch die moorbildende Ortssteinschicht«. Strafgefangene bei der Zwangsarbeit im Moor, 1935. Library of Congress (Washington, D. C.), Prints and Photographs Division, LC-USZ62-139126 LOT 11390.

S. 134

Abb. 8: Wachmannschaftsbereich im Lager Esterwegen, um 1938. AK DIZ Emslandlager, Sammlung Bruns.

S. 137

Abb. 9: »Villa Kampfpause«. Freizeithaus in einer Parkanlage, vermutlich beim Lager Börgermoor 1935. Library of Congress (Washington, D. C.), Prints and Photographs Division, LC-DIG-ds-11972 LOT 11390.

S. 183

398

Tabellen und Abbildungen

399 Abb. 10: »Gemeinschaftsraum mit Kolonialecke im Lager 5 – Neu Sustrum«, Ansichtskarte 1942. Ansichtskartensammlung Bruns, Werlte.

S. 185

Abb. 11: SA-Wachmänner zur Audienz bei Adolf Hitler, Dezember 1935. Privatbesitz Oliver F.

S. 186

Abb. 12: Innenansicht des Emslandhauses, undatierte Ansichtskarte. Ansichtskartensammlung Bruns, Werlte.

S. 188

Abb. 13: »Marsch zur Arbeit«. Arbeitskommando und SA-Männer im Moor, ca. 1935–1939. Archiv AK DIZ Emslandlager, Sammlung Eiken.

S. 193

Abb. 14: SA-Männer aus dem Lager Aschendorfermoor beim Schwimmbadbesuch, undatiert. Archiv der Gedenkstätte Esterwegen, Fotoarchiv, Album Alfons Dietrichsdorf.

S. 199

Abb. 15: Werner Schäfer und SA-Männer nach einem Aufmarsch in Papenburg, Mai 1935. Privatbesitz Getrud Sieg.

S. 235

Abb. 16: Anzeigenseite der »Ems-Zeitung« vom 2. März 1935.

S. 239

Abb. 17: Musikzug und angetretene Wachmannschaften bei einem offiziellen Besuch, Lager Neusutrum 1930er Jahre. Archiv der Gedenkstätte Esterwegen, Fotoarchiv, Sammlung Harm Johannink.

S. 243

Abb. 18: Emslandlager 1939–1945. Copyright: Bruno Brückner/AK DIZ Emslandlager.

S. 272

Abb. 19: Organisationsstruktur der Strafgefangenenlager ab November 1938. Datengrundlage: KW II, S. 1946 und NLA Oldenburg Rep 946 Best 140-5 Nr. 1216.

S. 279

Abb. 20: Übernahme von SA-Männern in den Vorbereitungsdienst 1938. Datengrundlage: BA Berlin R 3001 Nr. 9820 u. 9821.

S. 310

Abb. 21: Weihnachtsfeier von SA-Wachmännern im Zweiten Weltkrieg, Lager Aschendorfermoor 1939. Archiv der Gedenkstätte Esterwegen, Fotoarchiv, Album Alfons Dietrichsdorf.

S. 318

Abb. 22: Artikel zum achtjährigen Bestehen der >Moor-SA