Die Macht der Vorhersage: Smarter leben durch bessere Prognosen [1. Aufl.] 978-3-658-24837-6;978-3-658-24838-3

Jede Entscheidung erfordert eine Prognose! Mal erfolgt sie bewusst, mal unbewusst, mal selbstbestimmt und oft genug wird

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German Pages VIII, 343 [347] Year 2019

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Die Macht der Vorhersage: Smarter leben durch bessere Prognosen [1. Aufl.]
 978-3-658-24837-6;978-3-658-24838-3

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Eine erste Prognose: Wird Ihnen dieses Buch etwas nutzen? (Jörg B. Kühnapfel)....Pages 1-4
Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir mit ihr umzugehen pflegen (Jörg B. Kühnapfel)....Pages 5-33
Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht? (Jörg B. Kühnapfel)....Pages 35-177
Einige ganz besondere Prognosefallen (Jörg B. Kühnapfel)....Pages 179-227
Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern (Jörg B. Kühnapfel)....Pages 229-339
Was können wir tun? Was müssen wir tun? (Jörg B. Kühnapfel)....Pages 341-343

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Jörg B. Kühnapfel

Die Macht der Vorhersage

Smarter leben durch bessere Prognosen

Die Macht der Vorhersage

Jörg B. Kühnapfel

Die Macht der Vorhersage Smarter leben durch bessere Prognosen

Jörg B. Kühnapfel Fachbereich II, Hochschule Ludwigshafen Ludwigshafen, Deutschland

ISBN 978-3-658-24837-6 ISBN 978-3-658-24838-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-24838-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Titelbild: Wojciech Kusiak – stock.adobe.com Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Wie entscheiden Sie? – Statt eines Vorworts

Während der Arbeit an diesem Buch ging ich meinem Umfeld ziemlich auf die Nerven. Jeden, dem ich ein paar Minuten Aufmerksamkeit abringen konnte, fragte ich das Gleiche: „Beschreibe mal, wie Du eine wichtige Entscheidung triffst!“ Die Reaktion folgte einem Standard: Erst kam eine Rückfrage: „Ja wie, welche Entscheidung meinst Du denn?“ oder so ähnlich. Aber das war nur, um Zeit zu gewinnen. Haken dran. Dem folgte, für mich nützlicher, das Nachdenken über den Entscheidungsprozess. Das Spannende war hierbei, dass es für die meisten das erste Mal zu sein schien, dass sie darüber nachdachten. Kaum jemand konnte mir spontan sagen, wie er wichtige Entscheidungen trifft. Als lauwarmen Ersatz bekam ich kurze Vorträge à la „Man muss gründlich nachdenken“ oder „Ich folge meinem Herzen“ zu hören – oder Facetten von Entscheidungsmustern: „Ich beratschlage mich immer mit meinem Mann“ oder „immer erst eine Nacht darüber schlafen!“. Was niemand (und ich betone: niemand!) beschrieb, war, wie die eigenen Entscheidungsprozesse beginnen. Und das ist universell, denn alle Entscheidungsprozesse beginnen gleich. Immer! Sie beginnen mit der Frage, was erreicht oder vermieden werden soll. Das muss so sein, denn ohne eine Antwort auf diese Frage wäre keine sinnvolle Entscheidung denkbar. Prüfen Sie es nach! Und um auf diese grundsätzliche Frage eine Antwort zu geben, bedarf es zweier Dinge: Eines Ziels und einer Prognose: Was will ich erreichen? Wie soll die Zukunft durch die Entscheidung gestaltet werden?

V

VI     Wie entscheiden Sie? – Statt eines Vorworts

Warum hat niemand auf diese beiden grundlegenden Aspekte hingewiesen? Weil sie selbstverständlich sind? Ich weiß es nicht. Aber ich verspreche Ihnen: In dem Augenblick, in dem Sie Ihre Ziele und die Prognosen, die den Entscheidungen vorangehen, bewusst betrachten und sich Gedanken darüber machen, wohin Sie wollen und was die anstehende Entscheidung für diesen Weg bedeutet, werden Ihre Entscheidungen smarter. Sie werden weniger Zeit und Geld verschwenden und mehr erreichen. Lassen Sie sich darauf ein. Folgen Sie mir auf eine Reise in die Zukunft, dafür brauchen wir keine Glaskugel, keinen Schamanen, kein Horoskop – wir brauchen nur unseren Verstand. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende, gewinnbringende Lektüre. Wiesbaden im Frühjahr 2019

Ihr Jörg B. Kühnapfel

Inhaltsverzeichnis

1 Eine erste Prognose: Wird Ihnen dieses Buch etwas nutzen? 1 2 Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir mit ihr umzugehen pflegen 5 2.1 Wie sicher ist die Zukunft? 7 2.2 Was leisten (Alltags-)Prognosen? 21 2.3 Wie beeinflusst die Zukunft unsere Gegenwart? 28 Literatur 32 3 Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht? 35 3.1 Was brauchen wir für eine Vorhersage? 37 3.2 „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ 49 3.3 Die Mysterien der individuellen Entscheidung – warum wir öfter falsch liegen, als wir wahrhaben wollen 60 3.3.1 Selbstüberschätzung und Überoptimismus als Mutter aller Verzerrungen 61 3.3.2 Die selbsterfüllende und die selbstzerstörende Prophezeiung 69 3.3.3 Heuristiken und heuristische Verzerrungen 71 3.3.4 Wahrnehmungsverzerrungen 77 3.3.5 Voreilige Mustererkennung 87 3.3.6 Der Umgang mit Risiken und Wagnissen 91 3.4 Prognosen als Bindeglied zwischen Entscheidung und Zukunft 98 VII

VIII     Inhaltsverzeichnis

3.5 Wie entsteht eine gute Prognose? 109 3.5.1 Nutzen und Grenzen der Intuition 109 3.5.2 Qualitätssicherung für bewusste Prognosen 121 3.5.3 Prognostiziert der Algorithmus besser? 125 3.5.4 Prognosemodelle 135 3.5.5 Hilfen zur Verbesserung von Prognosen 162 3.6 Ein Zwischenergebnis: Wie mächtig sind Alltagsprognosen? 171 Literatur 173 4 Einige ganz besondere Prognosefallen 179 4.1 Die Fallen der Statistik 179 4.2 Die Macht der Experten 195 4.2.1 Der Einfluss menschlicher Experten auf unsere Prognosen 197 4.2.2 Nudging: Der gemachte gute Wille 210 4.2.3 Bestimmen Algorithmen unser Leben? 212 4.3 Die Macht der Herde 219 Literatur 226 5 Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern 229 5.1 Lebensziele und ihre Bedeutung für Alltagsprognosen 229 5.2 Der gemachte Konsumwille 232 5.2.1 Werbung und Konsum 234 5.2.2 „Private Investitionsgüter“ 244 5.2.3 Ernährung 253 5.3 Prognosen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung 256 5.3.1 Partnerwahl 257 5.3.2 Erziehung 268 5.3.3 Wie werde und bleibe ich glücklich? 274 5.3.4 Religion und Glaube 284 5.3.5 Ärzte und andere Heiler 288 5.3.6 Glücksbringer, Aberglaube und die Faszination der Wahrsagerei 301 5.4 Vom Irrtum des rationalen Umgangs mit dem Rationalen 310 5.4.1 Die Wahl des richtigen Jobs 313 5.4.2 Altersvorsorge 319 Literatur 337 6 Was können wir tun? Was müssen wir tun? 341

1 Eine erste Prognose: Wird Ihnen dieses Buch etwas nutzen?

Sie entscheiden. Permanent. Die „kleinen“ der Entscheidungen fallen Ihnen gar nicht mehr auf, sie passieren automatisch. Unser Gehirn ermöglicht „Standardroutinen“, auf Erfahrungen basierende situative Handlungsmuster. Gut so, denn das lässt uns mentale Kapazität für die wichtigen, „großen“ Entscheidungen, jene, die unser zukünftiges Leben bestimmen. Leider funktioniert dieses System nicht gut. Erstens gibt es keinen Indikator, der uns sagt, wann wir uns mit einer Entscheidung bewusst befassen und sie nicht einem Automatismus überlassen sollten. So tun wir Dinge, weil wir sie immer tun, auch wenn wir es besser machen könnten. Zweitens gibt es Entscheidungen, die wichtig sind, die wir aber anderen überlassen; sei es aus Faulheit, weil wir vertrauen oder weil es andere auch so machen. Auch in diesen Fällen sind unsere Entscheidungen nicht immer besonders klug. Drittens können wir nicht einmal uns selbst trauen. Wir sind permanent getriggert von Interessen anderer, von Werbung, von Vermutungen, Behauptungen und Losungen, die unsere Entscheidungen beeinflussen. Wir glauben fest, bewusst entschieden zu haben und klug zu handeln, verteidigen unser Vorgehen und rechtfertigen uns vor uns selbst und vor anderen, ohne zu realisieren oder zu akzeptieren, wie viel besser eine Alternative gewesen wäre. Die Ursache solcher suboptimaler Entscheidungen sind fehlerhafte Prognosen. Jeder Entscheidung, absolut jeder, geht eine Prognose voran. Bei wichtigen Entscheidungen ist uns das bewusst. Wir denken dann über unsere Möglichkeiten nach, über Alternativen, über Reaktionen anderer und vor allem über die Handlungsfolgen. Bei den automatisierten Standardroutinen denken wir nicht mehr nach, was aber nicht heißt, dass wir keine © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. B. Kühnapfel, Die Macht der Vorhersage, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24838-3_1

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Prognosen anstellen. Nur laufen diese implizit, unbewusst. Wenn es klingelt, stehe ich auf und gehe an die Türe, um aufzumachen. Das läuft automatisch ab, ich verschwende keinen Gedanken an die Prognose, welche Handlung nach dem Klingeln welche Folgen hätte. Aber was ist, wenn ich den Gerichtsvollzieher erwarte? Dann überlege ich mir ganz genau, ob ich aufmache oder nicht. Ich wäge die Folgen der Entscheidungsalternativen ab und handele entsprechend den Prognoseergebnissen. Dieses Buch wird Sie dahin führen, bessere Prognosen für Entscheidungen Ihres Alltags zu treffen. „Alltag“ bedeutet aber nicht nur die Routine, den Trott, das Alltägliche. Zum Alltag zähle ich großzügig alle Entscheidungen, die in Ihrem Privatleben anfallen und die wiederum Ihren Alltag bestimmen werden, also auch die Wahl Ihres Partners, den Kauf eines Hauses oder den Wechsel des Arbeitgebers.

Kommen wir zurück zur Überschrift, die das ist, was wir eine Prognosefrage nennen: Wird Ihnen dieses Buch nutzen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auf ein paar Begriffsbedeutungen einigen. „Kosten“ und „Nutzen“ sind beispielsweise zwei Schlüsselwörter, die umgangssprachlich und wissenschaftlich nicht die gleiche Bedeutung haben. Bringen wir uns auf den gleichen Stand: Ein Buch zu kaufen und zu lesen, verursacht Kosten und es erbringt einen Nutzen. Die Kosten bestehen aus dem Buchpreis und den Beschaffungsaufwendungen, vor allem aber aus der Zeit, die Sie zum Lesen benötigen. In all den vielen Stunden hätten Sie auch etwas anderes machen können. Dieses „andere“, was immer es auch ist, verursacht ebenso irgendwelche Kosten und erbringt einen Nutzen. In beiden Fällen entsteht ein Nettonutzen, wenn vom Nutzen einer Handlung ihre Kosten abgezogen werden. Es geht also um einen Vergleich: der Nettonutzen des Buchlesens mit dem Nettonutzen der Alternative. Und die Entscheidung, dieses Buch zu lesen, ist gut, wenn der Nettonutzen größer ist als der Nettonutzen der Alternative. Um nun zu entscheiden, ob Sie dieses Buch weiterlesen sollten, müssen Sie eine Menge wissen: Sie müssen die Kosten und den Nutzen aller Handlungen kennen, die Sie in der Zeit erledigen könnten, die Sie sonst schmökernd auf dem Sofa verbracht hätten. Aber geht das? Sie wissen doch noch nicht einmal, ob dieses Buch gut ist. Den Nutzen dieses Buches können Sie erst ermessen, wenn Sie es gelesen haben. Dann aber sind die Kosten in Form von Zeit bereits angefallen. Ein Dilemma, wie es uns ­ständig

1  Eine erste Prognose: Wird Ihnen dieses Buch etwas nutzen?     3

begegnet. Und es wird noch verzwickter: Das Buch hilft Ihnen, dieses Dilemma zu knacken. Das behaupte ich als Autor. Aber stimmt das? Können Sie mir vertrauen? Oder verschwende ich Ihre Zeit? Die Idee der Prognose Es ist natürlich unmöglich, Kosten und Nutzen einer Handlung vorab mit Sicherheit zu „messen“. Bei den Kosten gelingt das vermeintlich leichter: Was täten wir lieber, als jetzt zu lesen? Aber in Wirklichkeit vergleichen wir nur die akuten Kosten mit dem akuten Nutzen. Wichtiger wäre aber, den jeweiligen Handlungsfolgenutzen zu betrachten. Und das setzt voraus, die Folgen einer Handlung abschätzen zu müssen. Der Blick in die Zukunft. Das gelingt nur sehr vage. Erstens müssten wir dazu wissen, welche Handlungsfolge eintrifft, und weil es „immer auch anders kommen kann“, mit welcher Eintrittswahrscheinlichkeit. Dieser Begriff wird uns das ganze Buch hindurch begleiten und in Abschn. 2.1 ausführlicher diskutiert, weil er so wichtig ist. Zweitens müssten wir wissen, wie die Umwelt später aussieht, wo wir dann stehen. Aber das können wir nicht mit Bestimmtheit wissen. Wir können nur vermuten, annehmen, vielleicht auch hoffen. Und genau das tun wir permanent. Bei jeder Entscheidung. Jeder! Es gibt keine Entscheidungen, denen nicht eine Prognose zugrunde lag. Wir prognostizieren den vermuteten Nutzen, der aus dem zu Entscheidenden resultiert, und die zukünftige Umwelt, in der sich dieser Nutzen realisieren wird. Nutzen und Zukunft. Wenn Sie ein Abonnement einer Fachzeitschrift kaufen, dann kostet Sie das Geld und Sie werden zukünftige Kosten – den Abonnementpreis und den Zeitaufwand des Lesens – abschätzen. Einen akuten Nutzen bringt der Kaufakt nicht, vorausgesetzt, Sie sind kein pathologischer Abo-Käufer. Der Nutzen realisiert sich erst in der Zukunft, z. B. jeden Monat, wenn das jeweils neue Exemplar der Zeitschrift eintrifft. Sie haben vor dem Abo-Kauf eine Reihe von Prognosen angestellt, bewusste wie unbewusste. Die unbewussten Prognosen waren möglicherweise Unterstellungen, z. B., dass Sie nicht sterben, dass der Verlag nicht pleitegeht, dass Sie nicht das Interesse an dem Thema der Fachzeitschrift verlieren oder dass Sie Zeit haben werden, sie auch zu lesen. Sie haben aber auch eine bewusste Prognose angestellt, vielleicht, ohne sie als solche zu erkennen: Ihre Prognosefrage lautete: „Lohnt es sich, 60 € für das Abo auszugeben?“ Nicht anders verhält es sich, wenn Sie eine Geldanlage tätigen, einen Partner wählen, einen Arzt um Rat fragen oder sich über eine neue Waschmaschine informieren: Sie werden prognostizieren und dann eine Entscheidung treffen. Und Ihre Entscheidung wird umso besser, je besser diese

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Prognose ist. Ihr Leben wird smarter, Sie werden Ihre Zeit für Sinnvolleres einsetzen, Sie werden weniger Fehler machen, Sie werden Geld sparen. Und damit haben Sie die Antwort auf die Frage, die die Kapitelüberschrift ­aufwirft. Wie das Buch aufgebaut ist Der Sinn einer Prognose ist es, eine bessere Entscheidung zu treffen. Diese Logik bestimmt auch den Aufbau dieses Buches: Zunächst wird untersucht, was grundsätzlich benötigt wird, um eine gute Entscheidung zu treffen (Kap. 2). Hierzu bedarf es einiger abstrakt erscheinender, aber höchst spannender Aspekte: • Was können wir wissen, was dürfen wir nur vermuten? • Können wir unserem Bild von der Zukunft trauen? Wie wahrscheinlich ist es, dass eintrifft, was wir annehmen? • Wie viele mögliche Zukünfte gibt es? Könnte alles auch ganz anders kommen? Wenn wir das verstanden haben, können wir konkreter werden und uns anschauen, wie eine Prognose zustande kommt (Kap. 3). • • • • •

Was beeinflusst die Prognose? Wie sehr dürfen wir uns selbst und anderen trauen? Welchen Nutzen hat die methodenbasierte Prognose? Können Formeln besser die Zukunft voraussagen als unsere Intuition? Wie „funktioniert“ Prognostik überhaupt?

Von besonderer Bedeutung sind hier drei „Einflüsterer“, denen wir kritisch gegenüber stehen sollten: Wir selbst, unsere individuellen Ratgeber, auch dann, wenn wir sie als Experten ansehen, und die „Mehrheit“, die Herde, der wir uns anschließen. Danach greife ich Alltagsthemen heraus, um zu zeigen, wie hier Prognosen, die unsere Entscheidungen determinieren, zustande kommen bzw. zustande kommen sollten. Spätestens mit diesem Kap. 5 wird sich zeigen, ob sich Ihr Aufwand, dieses Buch zu lesen, wirklich gelohnt hat.

2 Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir mit ihr umzugehen pflegen

Es ist verwunderlich, wie wenig wir uns im Alltag mit den Unvollkommenheiten von Vorhersagen beschäftigen. Ohne Vorhersagen wären wir schlichtweg nicht handlungsfähig. Stellen wir uns einen Menschen vor, der nicht in der Lage wäre, sich über den flüchtigen Moment, den wir Gegenwart oder das „Jetzt“ nennen, hinaus die Zukunft vorzustellen. Was er morgen kocht, weiß er nicht und darum auch nicht, was er heute einkaufen soll. Wann er losfahren soll, um zur Arbeit zu kommen, kann er nicht abschätzen. Also fährt er los, wenn die Arbeitszeit beginnt, und kommt zu spät. Ob er sich Samstagabend mit Freunden treffen möchte, kann er nicht sagen, also wird er keine Verabredungen mehr treffen. Aber so ganz hilflos ist dieser Mensch doch nicht: Er kennt ja seine Vergangenheit. Diese könnte er fortschreiben, was letztlich zu Wiederholungen führt. Wenn er bisher für jeden Tag einen festen Kochplan hatte, braucht er nur die Einkaufszettel zu sammeln und zu ordnen, um zu wissen, was er einkaufen soll. Wenn er bisher jeden Morgen um 07.00 Uhr losgefahren ist, um pünktlich zur Arbeit zu kommen, so braucht er dies nur zu wiederholen. Wenn er sich bisher jeden Samstagabend mit Freunden in der Bar getroffen hat, so braucht er auch das nur zu wiederholen. Das funktioniert möglicherweise, aber nur, solange sich die Umwelt nicht verändert. Kommt ein Feiertag dazwischen oder treffen sich die Freunde in einer anderen Bar, ist die Technik der Fortschreibung von Vergangenem an ihrem Ende. Diese Metapher zeigt uns etwas Wichtiges auf: Je stabiler die Umwelt, desto weniger Entscheidungen müssen getroffen ­werden und desto geringer ist der Bedarf an Prognosen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. B. Kühnapfel, Die Macht der Vorhersage, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24838-3_2

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„Stabile Umwelt“ und „sichere Zukunft“ sind in diesem Kontext Synonyme. Es ist das Gleiche. Ist es eine gute Idee, für das persönliche Lebensumfeld eine möglichst stabile Umwelt anzustreben? Ja, zweifellos. Eine sichere Zukunft vereinfacht das Leben, hilft, Fehler zu vermeiden und sich auf das zu konzentrieren, was den höchsten Nettonutzen verspricht. Routinen bedeuten Ergebnissicherheit. Sie führen zu einer Vereinfachung und jede Vereinfachung gibt uns ein besseres „Gefühl“ für die Zukunft.

Die Maxime unzähliger Lebensberatungsbücher lautet daher: Gestalte Dein Leben so einfach wie möglich! Darum laufen auch viele Prinzipien des Managements, Geldanlagestrategien oder Gesundheitstipps genau darauf hinaus: Vereinfachung! Doch gibt es Menschen, die an einer solchen Vereinfachung nicht interessiert sind: Es sind all jene, die unsere Entscheidungen zu ihren Gunsten beeinflussen möchten. Dazu müssen sie uns aber erst einmal dazu bringen, die Routine aufzugeben. Aber wenn wir Regelmäßigkeit als Mittel der Vereinfachung für uns entdeckt haben, also unsere Vergangenheit fortschreiben und wiederholen, so ist das für all jene ungünstig, die erst durch eine Veränderung dieser Regelmäßigkeit profitieren. Deutlich wird dies an einem Beispiel aus der Welt der Konsumgüterwerbung: Wenn Sie schon seit Jahren Persil kaufen, so wird der Anbieter eines Konkurrenzproduktes darauf aus sein, diese Regelmäßigkeit beim Einkauf zu unterbrechen. Hierzu serviert er Ihnen eine Prognose: „Mit Ariel wird die Wäsche noch sauberer!“ Wenn Sie nun diese Prognose internalisieren („Mit Ariel wird meine Wäsche noch sauberer!“), könnte es zu einer neuen, für den Anbieter von Ariel günstigen Entscheidung kommen. Voraussetzung ist, dass Sie der oktroyierten Prognose trauen und die bisherige Routine Ihres Waschmitteleinkaufs aufgeben. Dieses Beispiel setzt voraus, dass es eine Vergangenheit gibt, die fortgeschrieben werden kann. „Persil war bisher eine gute Wahl“. Doch wenn Entscheidungen in Situationen anstehen, für die keine Erfahrungen zur Verfügung stehen, so ist eine neue, erstmalige Prognose erforderlich. Jetzt wird es komplizierter: Es ist eine Entscheidung zu treffen, die per se die Umwelt destabilisiert. Die Zukunft wird zurecht als unsicherer empfunden. Als Reaktion darauf prognostizieren wir bewusst, um zu versuchen, uns ein Bild von der wahrscheinlichen Zukunft zu machen.

2  Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir …     7

Wie sicher wir uns einer bestimmten angenommenen Zukunft sein dürfen, klären wir gleich zu Beginn (Abschn. 2.1). Anschließend werden wir uns damit beschäftigen, wie leistungsfähig (Alltags-) Prognosen sind, aber auch, welche Aussagegrenzen sie haben (Abschn. 2.2). Mit dem geschärften Blick für die Unsicherheit der Zukunft und die Möglichkeiten der Vorhersage widmen wir uns der Wechselbeziehung zwischen Gegenwart und Zukunft (Abschn. 2.3 und Kap. 3).

2.1 Wie sicher ist die Zukunft? Jede Zukunft ist immer nur eine wahrscheinliche Zukunft. Wir stellen sie uns vor, wir nehmen sie an, wir erhoffen sie und wir vertrauen auf das Bild, das wir uns von ihr machen. Intuitiv ahnen wir, dass es auch ganz anders kommen könnte. Ökonomen sprechen hier von Eintrittswahrscheinlichkeiten möglicher Zukünfte. Wenn Sie heiraten, dann erwarten Sie in der Regel eine lebenslange Partnerschaft. Aber die Statistiken zeigen, dass sich ungefähr 50 % der Paare wieder trennen. Die Hälfte der Personen lag also daneben. Doch trotz dieser geringen Fifty-fifty-Chance auf eine dauerhafte Lebensgemeinschaft treffen wir noch viel weitreichendere Entscheidungen und kaufen z. B. zusammen ein Haus, dass sich einer alleine nicht leisten könnte. Eine ökonomisch kritische Entscheidung. Die Erwartungen auf Basis eines akuten Gefühls der Zuneigung („Schatz, ich liebe dich und werde immer an deiner Seite sein.“), und die Hoffnung, zu den 50 % zu gehören, deren Ehe halten wird, überstrahlt jede Vernunft. Aber sicher sein können wir uns nicht. Die Zukunft nimmt keine Rücksicht auf unsere Erwartungen.

Wir können nun versuchen, die Gewissheit, mit der eine Zukunft stattfinden wird, zu systematisieren. Das ist nützlich, um die Eintrittswahrscheinlichkeit von Prognosen beschreiben zu können. In Tab. 2.1 wird hierfür ein Modell vorgeschlagen, das ich zunächst beschreiben möchte (angelehnt an Kühnapfel 2015, S. 251 ff.). Die Kriterien, die ich hervorhebe und die eine Zukunft „sicher“ machen, sind erstens Regeln, zweitens gestaltende Einflussfaktoren, drittens die Verfügbarkeit von Informationen für alle Akteure und viertens deren Motivation. Wichtig ist, dass dies eine individuelle Sichtweise widerspiegelt, also den Grad der Unsicherheit der Zukunft aus persönlicher Perspektive. Schauen wir uns das genauer an:

8     J. B. Kühnapfel Tab. 2.1  Parameter einer zunehmend unsicheren Zukunft Sichere Zukunft

1. Grad

Unsichere Zukunft ... 2. Grad 3. Grad

4. Grad

Regeln Einflussfaktoren Informationssymmetrie Entscheidungsmotive

Die sichere Zukunft Die Regeln, nach denen die Zukunft „funktioniert“, sind Ihnen bekannt. Alle Einflussfaktoren sind Ihnen bekannt. Die benötigten Informationen stehen allen zur Verfügung. Es gibt auch keine unvorhergesehenen Entscheidungen, weil die Handlungsmotive aller Akteure, sofern es welche gibt, offen liegen. Beispiele für eine sichere Zukunft finden sich allerdings nur sehr wenige. So sind zum Beispiel Prognosen über die Gestirne am Himmel sicher. Die unsichere Zukunft 1. Grades Die Regeln sind Ihnen wiederum bekannt. Es gibt keine unvorhersehbaren Einflussfaktoren. Jeder besitzt zu jedem Augenblick die gleichen Informationen über die Umwelt. Neu ist, dass mindestens ein Akteur Entscheidungen treffen kann, die Sie vorab nicht antizipiert hatten, weil Sie seine Motivation nicht kannten. Mühle, Dame oder Schach sind Beispiele für solche Systeme. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass alle möglichen Zukünfte von Computern berechnet werden können. Bei einem Schachspiel sind das schätzungsweise 2 × 1043 mögliche Stellungen, eine nicht mehr vorstellbare Anzahl. Schon, wenn beide Spieler jeweils zweimal gezogen haben, könnten 72.084 verschiedene Stellungen auf dem Spielbrett stehen (Klein 2011). Die Entscheidungen anderer Akteure machen die Zukunft unsicher. Die unsichere Zukunft 2. Grades Die Regeln und die Einflussfaktoren auf die Zukunft sind Ihnen bekannt, die Entscheidungsmotive der anderen Akteure sind es nicht. Neu ist hier, dass darüber hinaus unterschiedliches Wissen über die Umwelt angenommen wird. Der eine weiß mehr als der andere. So kennt z. B. bei einem Skatspiel jede Partei alle Regeln, aber nur ihre eigenen Karten und muss darauf aufbauend eine für sie optimale Spielstrategie entwickeln. Aus

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dem Spielverlauf wird nun jede Partei Schlüsse über die Informationen ziehen, die die jeweils andere Partei besitzt. Doch das sind Vermutungen, und Überraschungen sind Teil des Spiels. Manchmal werden diese Überraschungen auch provoziert, dann nennen wir sie „Bluffs“. Dass es gute und schlechte Skatspieler gibt, zeigt, dass der Umgang mit der unsicheren Zukunft zweiten Grades insoweit erlernt werden kann, dass gegenüber den übrigen Akteuren Handlungsvorteile erarbeitet werden können. Die unsichere Zukunft 3. Grades Sie kennen nun auch die Einflussfaktoren nicht, die Ihnen beim 2. Grad noch bekannt waren. Keine Informationen, keine Kenntnis, kein Wissen darüber, was die Umwelt der Zukunft determiniert, nur noch die Regeln scheinen sicher und vorhersagbar. Der Aktienmarkt ist hier ein gutes Beispiel. Sie kennen weder die Einflussfaktoren, die einen Kurs bestimmen, noch dürfen Sie annehmen, dass alle Akteure über die gleichen Informationen verfügen, noch kennen Sie deren Motive. Nur die Regeln, die sind fixiert. Die unsichere Zukunft 4. Grades An dieser Stelle geben wir schlussendlich auch die Annahme auf, dass die Regeln feststünden. Regelmäßigkeiten, auch wenn sie sich bewährt und wir uns an sie gewöhnt haben, entfallen. Handlungsmotive erscheinen willkürlich; die Verteilung von Informationen ebenso. Wir können nicht einmal absehen, welche Faktoren Einfluss auf diese Zukunft haben werden. Was wir erleben, scheinen „Zufälle“ zu sein, wir sprechen auch von „Glück“ und „Pech“. Die Zukunft erscheint uns willkürlich, chaotisch. Unsere Gesundheit erscheint uns zuweilen wie eine unsichere Zukunft 4. Grades. Wir treiben Sport, ernähren uns gesund und erleiden trotzdem einen Herzinfarkt. Warum nur? Wir haben uns an alle Regeln gehalten, uns über die Einflussfaktoren auf ein stabiles Herz-Kreislauf-System informiert, hatten alle erforderlichen Informationen, und eine Eigenmotivation unserer Herzkranzgefäße dürfte es auch keine geben. Und dennoch der Infarkt! An dieser Stelle wiederhole ich mich und betone noch einmal, dass der Unsicherheitsgrad immer eine individuelle Sichtweise widerspiegelt. Was Sie als chaotisch (unsichere Zukunft 4. Grades) empfinden, wird von einem anderen Akteur möglicherweise als weniger zufällig empfunden werden. Ein Beispiel: Sie haben gerade erst das Skatspielen erlernt. Sie haben Mühe, die Regeln im Kopf zu behalten. Wie das nächste Spiel ausgeht, ist für Sie eine unsichere Zukunft 3. Grades, denn Sie wissen nichts außer den Regeln. Aber Ihre beiden Mitspieler sind erfahren. Sie kennen die Einflussfaktoren

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auf den Sieg, wissen also, worauf es ankommt. Für sie ist die Zukunft weniger unsicher, vielleicht 2. Grad, und wenn es ganz gewiefte Spieler sind, die bereits durch das Reizen und die ersten Karten auf dem Tisch ziemlich genau wissen, wie die Blätter verteilt sind, werden diese „Experten“ von einer unsicheren Zukunft 1. Grades sprechen. Genau das macht Expertise aus: Die Zukunftsunsicherheit wird reduziert. Für das betreffende Prognosethema wird ein Experte, je nach Stufe, Ihnen voraushaben, die Regeln, die Einflussfaktoren, die Informationen oder die Entscheidungsmotive der Mitakteure zu kennen oder zumindest teilweise besser zu kennen. Für Experten ist die Zukunft weniger unsicher. Das Paradebeispiel der Alltagsprognostik: Die Wettervorhersage Ein sehr schönes, obgleich nicht leicht einzusortierendes Beispiel ist die Wettervorhersage. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen: Unsere Wetterfrösche sind in den letzten Jahren sehr gut geworden. Doch ist das Wetter ein unglaublich komplexes System. Es folgt selbstverständlich dem Regelwerk der Naturgesetze. Auch sind die Einflussfaktoren hinreichend bekannt und die Informationen ließen sich sammeln. Eigene Entscheidungsmotive des Wetters sind wohl ausgeschlossen. Also liegt eine sichere Zukunft vor? Ja, zumindest sind die Voraussetzungen erfüllt, dass wir sehr präzise Wetterprognosen erstellen könnten. Dass dies nicht so ist, hat einen anderen Grund: Unser Wissen ist unvollständig. Die Komplexität des Wetters ist unvorstellbar groß, weil es so unglaublich viele Einflussfaktoren gibt. Selbst unsere Superrechner müssen den datenerzeugenden Prozess (Modelle), stark vereinfachen, um sie berechnen zu können. Sie beschränken sich auf wenige Einflussfaktoren, von denen angenommen wird, dass es die wichtigsten seien. Es werden „repräsentative Datenkollektive“ ausgesucht und man hofft, dass diese das Gesamtbild einigermaßen treffsicher widerspiegeln. Aber die Regeln scheinen instabil interdependent, sodass sie für uns wie nicht-lineare Prozesse – wie Chaos – aussehen. Sie erscheinen selbst den Profis wie zufällige Phänomene. Wie gehen wir damit um? Ambivalent: Einerseits akzeptieren wir ungenaue Vorhersagen und finden uns mit Eintrittswahrscheinlichkeiten (z. B. für Regen) und Wertekorridore (für Temperatur) ab. Andererseits wollen wir unsere Prognosen räumlich und zeitlich immer genauer. „Morgen Vormittag in Süddeutschland“ ist uns zu vage, wir erwarten eine Vorhersage für Reutlingen, 11 bis 13 Uhr. Und kommt der Regen erst um 14.30 Uhr, schimpfen wir auf die Wetterfrösche. Ökonomen nennen dies einen ­„Trade-off“: Wir tauschen mehr Präzision gegen eine geringere ­Eintrittswahrscheinlichkeit.

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Am Rande: Tatsächlich ist die Wettervorhersage in den letzten Jahren besser geworden. Die Trefferquote der morgigen Temperatur (in einem 5 Grad-Korridor) ist von ca. 77 % in 1990 auf immerhin 92 % in 2014 gestiegen. Aber dass die Trefferquote für morgigen Regen von 77 % in 1992 auf lediglich 82 % in 2014 gestiegen ist, zeigt, wie unfassbar komplex Wetter ist (DWD, kein Datum). Es ist per definitionem ein Beispiel für eine sichere Zukunft, doch die Komplexität ist so hoch, dass die Wettervorhersage derzeit noch chaotisch erscheint, sich also je nach Prognoseanspruch wie eine unsichere Zukunft 4. Grades verhält. Und unsere eigene Zukunft? Die ist definitiv unsicher, und zwar in höchstem Maße. Vierter Grad! Chaos! Nichts ist gewiss. Allenfalls für Ausschnitte unserer Zukunft können wir niedrigere Unsicherheitsgrade annehmen, z. B. hinsichtlich unseres Einkommens, wenn wir Beamte auf Lebenszeit sind (so wie ich), wenn es um sehr kurzfristige Ausblicke geht oder sich eine Konstellation in der Zukunft isolieren lässt. So ist beispielsweise die Zukunft eines lebenslänglich zu Einzelhaft Verurteilten weitaus weniger komplex, weil die meisten Einflussfaktoren, die das Leben eines freien Menschen beeinflussen würden, keine Rolle spielen. Da wir keine Computer sind, sondern mit fehleranfälligen, unscharfen Gedankenmustern funktionieren, wird immer ein gewisses Maß an Zufall unser Leben bestimmen. Wir machen ständig kleinere und größere Fehler im Sinne von suboptimalen Entscheidungen. Und wenn nun, wie im Alltag selbstverständlich, weitere Menschen (Akteure) hinzukommen, die auf unser Leben einwirken und auch diese unscharf denken und unvollkommen handeln, wird klar, wie zufällig die Zukunft ist. Aufzugeben ist aber keine Lösung. Das hieße, vor der Komplexität des Seins zu kapitulieren und zu hoffen, dass andere unser Leben gestalten. Kinder dürfen das, Schwerkranke müssen das. Wenn wir aber weder Kind sind noch schwer krank, haben wir unsere Entscheidungen selbst zu treffen, ob wir das wollen oder nicht. Keine Zukunft ist sicher: Die Eintrittswahrscheinlichkeit Jede mögliche Zukunft ist eine wahrscheinliche Zukunft. Aber wie wahrscheinlich? Diese Frage ist wichtig. Sehr wichtig sogar, denn sie bestimmt die Belastbarkeit einer Entscheidung. Wenn wir uns sicher sein können, dass etwas passieren wird, können wir alles auf eine Karte setzen. Wenn wir z. B. wissen, dass wir den gutbezahlten Job in Leipzig bekommen, bis zur Rente behalten und uns dort heimisch fühlen werden, dann können wir dort ein Haus kaufen. Wissen wir es nicht, sollten wir vorsichtiger agieren und uns erst einmal eine Wohnung mieten.

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Wenn ein Paar sicher sein kann, dass es im Oktober ein Kind bekommen wird, dann kann es planen und sich einrichten: Das Kinderzimmer wird ausgestattet, das Berufsleben umorganisiert und die Terminpläne der zukünftigen Großeltern werden in Beschlag genommen. Das Ereignis der Geburt scheint sehr sicher zu sein und tatsächlich lässt sich das auch statistisch begründen: In Deutschland liegt die Totgeburten-Rate bei 0,36 % (2016, Destatis). Also hat das Ereignis eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 99,64 %, wenn wir vorläufig das Risiko einer Fehlgeburt während der Schwangerschaft ausklammern (wir werden es an späterer Stelle wieder berücksichtigen). Mit diesem Ergebnis lässt sich gut planen. Tatsächlich aber sind noch ein paar weitere Aspekte zu berücksichtigen: 1. Frühgeburt: Es kann sein, dass das Kind früher kommt, als geplant. Die Frühgeburtenquote liegt bei ca. 10 %, und hier sei es einmal egal, wie viel früher die Geburt stattfindet. Auch lassen wir außer Acht, dass die Quote mit dem Alter der Mutter korreliert. Also lautet das Zwischenergebnis: Das Kind wird mit hoher Sicherheit (99,64 %) bis Oktober geboren, mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 % früher. Auch damit lässt es sich gut planen. Die Eltern werden sich einen „Plan B“ ausdenken, die Tasche für das Krankenhaus schon Wochen vor dem Termin fertig packen und parat haben, das Kinderzimmer wird frühzeitig fertig, Urlaube werden in den Wochen vor dem geplanten Geburtstermin keine mehr unternommen. Alle Planungen berücksichtigen nun schon die Prämisse einer möglichen Terminverschiebung, denn auch wenn 10 % nicht sonderlich wahrscheinlich sein mögen, ist das Ereignis, das in einem von zehn Fällen eintritt – die Frühgeburt –, von wesentlicher Bedeutung für alle anderen Aspekte der Lebensorganisation. Am Rande: Der Verzicht auf den Urlaub kurz vor der Geburt oder der Verzicht auf die Nutzung des Raums, der frühzeitig als Kinderzimmer eingerichtet wird, entsprechen ökonomisch betrachtet den Kosten einer Versicherung. 2. Behinderung des Kindes: Eine Panne im Kreißsaal, ein niedriger ApgarScore, die Intensivstation, und zurück bleibt ein behindertes Kind. Auch wenn sich eine Behinderung nicht immer und unmittelbar auf die erste Lebensphase auswirken mag, denn in dieser sind alle Säuglinge gleichermaßen unbeholfen, so verändert sie das Leben der Eltern dennoch nachhaltig: Die Einrichtung des Kinderzimmers muss gegebenenfalls verändert werden und mindestens ein Elternteil dauerhaft zu Hause zu bleiben, kann

2  Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir …     13

also nicht wieder ins Arbeitsleben zurückkehren. Tatsächlich aber hat das für alle Beteiligten lebensverändernde Ereignis einer Behinderung des Kindes keine Auswirkungen auf die ursprüngliche Planung. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Behinderung erst mit der Geburt auftritt, also im Vorfeld im Rahmen der Schwangerschaftsuntersuchungen nicht erkannt wurde, liegt bei 2 % (wobei ich diese Zahl nicht hinreichend verifizieren konnte, was für das Verständnis dieses Beispiels aber nicht relevant ist). Nun weiß das Paar: Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind „wie geplant und erhofft“ gesund im Oktober oder früher zur Welt kommt, liegt bei 97,65 %. Immer noch eine sehr sichere Sache. 3. Müttersterblichkeit: Dieses Ereignis wäre disruptiv. So gut wie alle Planungen wären obsolet. Aber in Deutschland liegt das Risiko, bei der Geburt oder in den ersten 42 Tagen danach aufgrund von Ursachen, die im Zusammenhang mit der Schwangerschaft oder der Geburt stehen, zu sterben, bei 0,00003 %, also in einem für die Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit irrelevanten Bereich. Eine Berücksichtigung ist nicht erforderlich. Das Ergebnis ist klar: Ist eine Schwangerschaft erst einmal stabil, lässt sich eine Eintrittswahrscheinlichkeit einer Zukunft – Geburt im Oktober – berechnen. Sie spiegelt den Grad der Belastbarkeit von Entscheidungen wider. Es ist für die Lebensgestaltung unkritisch, Geld für die Kinderzimmer- und Babyausstattung auszugeben, weil das Ereignis als „höchstwahrscheinlich“ angenommen werden darf. Aber Beispiele dieser Art sind nicht leicht zu finden. Zumeist wird die Eintrittswahrscheinlichkeit viel schwerer zu ermitteln sein, weil, siehe Tab. 2.1, • • • •

Regeln der Umwelt, Faktoren, die die Zukunft beeinflussen, Informationen über die zukünftige Umwelt bzw. deren Verteilung und Entscheidungsmotive der Mitakteure

fehlen oder nur unvollständig bekannt sind. Ein zweites Beispiel mag dies verdeutlichen: Sie bewerben sich in einem neuen Unternehmen. Dort werden Sie eine vermeintlich spannendere Aufgabe übernehmen und etwas mehr verdienen. Leider müssen Sie einen längeren Anfahrtsweg in Kauf nehmen. Sie kennen auch keinen Ihrer neuen Kollegen. Die zwei Bewerbungsgespräche mit Ihrer neuen Chefin verliefen

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korrekt und informativ, aber aus Ihrer Sicht äußerst sachlich, fast schon „zu“ nüchtern. Nun erhalten Sie das Jobangebot, und die anstehende Entscheidung ist, den zugesendeten Arbeitsvertrag zu unterschreiben, bei Ihrem bisherigen Unternehmen zu kündigen und ins kalte Wasser zu springen. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Mit welcher Wahrscheinlichkeit werden Sie in Ihrem neuen Job zufriedener sein als in Ihrem alten?

Da der mögliche neue nicht Ihr erster Job ist, kennen Sie sich mit der Komplexität eines neuen Arbeitsumfelds etwas aus. Naiv sind Sie nicht. Sie haben Erfahrung. Doch bei näherem Nachdenken kommen Sie darauf, dass Sie nicht alle Aspekte, die für die Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit, im neuen Job zufriedener zu sein als im alten, beurteilen können. Also fahnden Sie nach Faktoren, die Ihre Einschätzung bestimmen, und stoßen auf drei Faktorkategorien: • Bewusste, rationale Faktoren: In dieser Kategorie finden sich Faktoren, die uns bewusst sind und die sich mehr oder weniger gut quantifizieren lassen. Hier fänden sich auch die Faktoren, die die Eintrittswahrscheinlichkeit einer „planmäßigen“ Geburt im ersten Beispiel bestimmten, hier sind es z. B. das Mehrgehalt oder die Mehrkosten der Fahrten zum Arbeitsplatz (Zeitaufwand und Fahrtkosten). • Bewusste, nicht-rationale Faktoren: Diese Kategorie umfasst Faktoren, die Ihnen bewusst sind, die Sie aber nicht quantitativ bewerten können. Sie wissen z. B. nicht, welche Aufstiegschancen Ihnen das neue Unternehmen bieten wird. Sie wissen auch nicht, welche strategischen Pläne es hat. Vor allem aber wissen Sie nicht, wie Ihre neuen Kollegen Sie aufnehmen werden, welchen Platz Sie also in der sozialen Gruppe, die bereits existiert und zu der Sie hinzustoßen, einnehmen werden. Je nach Ausprägung dieser Faktoren verändert sich weder Ihr neues Gehalt noch der Aufwand des Pendelns, aber es beeinflusst zweifellos die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich im neuen Job wohlfühlen werden. Das Diffuse der bewusst wahrgenommenen, aber dennoch nicht-rationalen Faktoren bietet keine Möglichkeit der nüchternen Betrachtung, aber umso mehr Raum für Hoffnung und Furcht; sehr unbefriedigende Maßstäbe für eine Prognose. • Unbewusste, nicht-rationale Faktoren: Faktoren dieser Kategorie werden nicht bewusst wahrgenommen und verschließen sich erst recht, vielleicht auch gerade deshalb, einer Quantifizierung. Diese Faktoren sind

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jene, die das „Bauchgefühl“ ausmachen. Bleiben wir beim Job-Beispiel: Vielleicht schwingt das nüchterne Verhalten Ihrer neuen Chefin noch nach, vielleicht hat Sie der kalte, steril wirkende Eingangsbereich aus Sichtbeton des potenziellen neuen Arbeitgebers irritiert, aber ohne, dass Sie es „auf den Punkt bringen“ können, haben Sie „kein gutes Gefühl“, wenn Sie an den neuen Job denken. Möglicherweise kommt Ihnenimmer wieder die Herzlichkeit Ihres jetzigen Kollegenkreises in den Sinn, wenn Sie an einen Wechsel denken. Wir rechnen diese Kategorie von Faktoren unserer „Intuition“ zu. Sie hat Auswirkungen auf unsere Prognose, doch können wir weder die Faktoren selbst noch ihren Bedeutungsanteil messen. Das Ergebnis ist eine Bauchentscheidung. Nach einem ähnlichen Muster könnten wir uns die Regeln, die Informationssymmetrie oder die Entscheidungsmotive der Mitakteure anschauen. Haben wir über sie Informationen und können sie sachlich einschätzen, macht dies die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Zukunft kalkulierbarer. Kennen wir aber z. B. die Motivation der anderen Akteure nicht, bleibt die Unsicherheit. Die Unmöglichkeit der Berechnung einer Eintrittswahrscheinlichkeit Eintrittswahrscheinlichkeiten lassen sich nur selten berechnen, und wenn, handelt es sich um statistische Werte in einer Welt, die wir als „sichere Zukunft“ bezeichnen. So ist die (Eintritts-)Wahrscheinlichkeit, dass die Münze beim nächsten Wurf auf der Zahlseite landet, 50 %. Das ist gut zu wissen, denn es bedeutet, das Risiko zu kennen, unser ganzes Geld auf „Zahl“ zu setzen. Aber solche Prognosen sind die Ausnahme. Bei Alltagsprognosen haben wir es fast immer mit anderen Menschen und ihren Motiven zu tun, mit unbekannten Faktoren, unscharfen Regeln, oder wir kennen uns nicht gut genug aus. Die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Zukunft und damit einer Prognose wird dann nicht mehr berechenbar sein. Vermutlich wird Sie das Ergebnis enttäuschen. Wenn nicht bestimmt werden kann, wie sicher eine Zukunft ist, wie viel darf dann mit einer Entscheidung riskiert werden? Aber es gibt hierfür keine Lösung! Wenn nicht-rationale Einflussfaktoren im Spiel sind, und das sind sie im Falle der Alltagsprognosen fast immer, bleibt die Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit vage. Dennoch möchte ich Ihnen zwei Gedankenexperimente vorschlagen, die Ihnen bei der Einschätzung helfen werden. 1. Sicherheit der Zukunft: Gehen Sie im Sinne der Tab. 2.1 die Ingredienzen einer sicheren Zukunft durch. Wenn Sie feststellen, dass Sie sich einer

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hochgradig unsicheren Zukunft gegenübersehen, gehen Sie von einer niedrigen Eintrittswahrscheinlichkeit einer von Ihnen angenommenen bzw. erhofften Zukunft aus. Riskieren Sie nicht mehr, als Sie bei einem Fehlschlag zu verlieren verschmerzen könnten. 2. Vergleich mehrerer Zukunftsszenarien: Gibt es für ein Prognosethema mehrere mögliche Zukunftsszenarien (wie im Job-Beispiel), so ordnen Sie diese nach der gefühlten Wahrscheinlichkeit. Gibt es die Szenarien A, B und C und A steht für „neuer Job besser als alter“, C für „alter Job besser als neuer“ und B für „gleich gut“, können Sie die Eintrittswahrscheinlichkeiten der Szenarien vielleicht in eine Rangfolge bringen. Welchen Aussagewert hat eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit? Sie planen eine Gartenparty. Dazu müssen Sie Getränke und Grillfleisch einkaufen, Tischgarnituren mieten und Geschirr in der Nachbarschaft leihen. Eine wichtige Frage für die Planung wird sein: Wie viele Gäste kommen? Eine Möglichkeit, diese Zahl recht sicher bestimmen zu können, sind persönliche Einladungen mit der Bitte um rechtzeitige Zusage. In diesem Fall wird die Eintrittswahrscheinlichkeit, z. B. 30 Gäste begrüßen zu dürfen, sehr hoch sein. Abb. 2.1 zeigt dies. Sie werden bei Ihrem Einkauf vermutlich von einer 100 %igen Gewissheit ausgehen, dass 28 bis 32 Gäste kommen und Sie legen mit dieser 70%

Eintriswahrscheinlichkeit

60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 0-3

3-7 8-12 13-17 18-22 23-27 28-32 33-37 38-42 43-47 48-52 53-57 >57

Anzahl Gäste Abb. 2.1  Verteilung der Wahrscheinlichkeit von Gästezahlen, Szenario 1

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Annahme die Menge der zu beschaffenden Dinge fest. Aber was ist, wenn Sie eine offene Einladung ausgesprochen haben? Sie haben Mails und WhatsApp-Nachrichten verschickt, angeboten, Freunde und Bekannte mitzubringen, in der näheren Umgebung Einladungen an die Laternenpfähle geklebt und die Kinder gebeten, in ihrer Schule und im Schwimmverein für Ihre Gartenparty zu werben. Kurz: Sie haben überhaupt keine Ahnung, wie viele Gäste kommen werden. Abb. 2.2 zeigt eine ganz andere unterstellte Wahrscheinlichkeitsverteilung. Was nun? Wenn Sie sich auf zu viele Gäste vorbereiten, haben Sie zu hohe Kosten, und halb leere Bänke sehen auch nicht gut aus. Wenn Sie die Anzahl unterschätzen, bleiben Ihre Gäste hungrig, müssen stehen und sind unzufrieden. Eine schier ausweglose Situation. Allerdings wäre es ein Fehler, nun der Prognose die Schuld zu geben. Eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit des Mittelwertes der einzuplanenden Gästeanzahl von nur 18 % bedeutet keineswegs, schlampig prognostiziert zu haben. Paradoxerweise ist gerade ein solches Ergebnis äußerst hilfreich, denn es zeigt, wie volatil die Zukunft ist: Je geringer die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Prognose, desto unsicherer ist die Zukunft.

20%

Eintriswahrscheinlichkeit

18% 16% 14% 12% 10% 8% 6% 4% 2% 0%

0-10 11-15 15-20 21-25 26-30 31-35 36-40 41-45 46-50 51-55 56-60 61-70 >70

Anzahl Gäste Abb. 2.2  Verteilung der Wahrscheinlichkeit von Gästezahlen, Szenario 2

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Sie ist unsicher, weil entweder • die Wirkungsrichtung der Einflussfaktoren, die Verteilung von Informationen, die Handlungsmotive der Mitakteure oder die Regeln unklar sind, • die Faktorausprägungen so sind, dass eine zu prognostizierende Handlungsfolge unwahrscheinlich ist, oder aber weil • eine zu präzise Prognose verlangt wurde, also die Erwartungen überzogen waren. Sie wissen nicht, wie sich Ihre Akteure verhalten. Vielleicht spielt auch das Wetter eine Rolle, ob in der Nähe noch eine andere Party ist oder ob im TV zeitgleich das Endspiel der Fußballeuropameisterschaft gezeigt wird. Sie werden das Problem nur lösen, wenn Sie entweder flexibel auf die Gästezahl reagieren können, quasi mit einer „Echtzeitanpassung“ der Kapazitäten, oder aber, und das liegt auf der Hand, wenn Sie um Voranmeldung bitten. Dann läge die Gästeanzahl mit höherer Wahrscheinlichkeit in einem bestimmten Korridor. Halten wir fest: Eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit gibt an, dass die Zukunft weniger sicher ist. Sie lässt sich erhöhen, wenn wir mehr Variabilität in der Zukunft erlauben. So liegt im zweiten Szenario die Wahrscheinlichkeit, dass zwischen 36 und 40 Gäste kommen, bei ca. 18 %, aber wenn es Ihnen reicht, zu wissen, dass zwischen 31 und 45 Gäste kommen werden, haben Sie schon eine 50 %ige Wahrscheinlichkeit. Je präziser (spezifischer) wir uns eine Zukunft vorstellen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir damit richtigliegen werden.

Hüten wir uns also vor allzu präzisen Träumen. Lassen wir bei unseren Entscheidungen und Handlungen Raum dafür, dass es anders kommt als erwartet. Wenn wir alles auf eine Karte setzen müssen (neuer Job oder beim alten bleiben), sollten wir die Zukunft hinreichend sicher einschätzen ­können. Ferne Zukunft, nahe Zukunft Wird die Schwangerschaft festgestellt, sagen wir, nachdem die Periode 3 Wochen ausblieb, steht der Termin beim Gynäkologen an. Bestätigt er den meist freudigen Befund, errechnet er auch einen Geburtstermin. Allerdings gibt es ein nicht unerhebliches Risiko, dass während der Schwangerschaft eine

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Fehlgeburt stattfindet, ein Ereignis, das wir oben ausklammerten und – wie versprochen – nun berücksichtigen: Es liegt, je nach Literaturquelle, bei ca. 20 % aller eindeutig festgestellten Schwangerschaften (Druet 2016). Allerdings treten die meisten Fehlgeburten in den ersten acht Wochen auf, und je länger eine Schwangerschaft besteht, desto geringer wird das Risiko. Dieses Beispiel ist prototypisch: Je näher die Zukunft, für die ein Ereignis prognostiziert wird, rückt, desto höher wird deren Eintrittswahrscheinlichkeit.

Der Blick in eine ferne Zukunft ist unscharf. Zu viele Ereignisse können auf dem Weg dorthin passieren und die vorgestellte Umwelt beeinflussen. Auch kann sich die eigene Präferenzstruktur verändern. Die Buchung einer Single-Kreuzfahrt in die Karibik, die in einem Jahr beginnt, kann gänzlich nutzlos werden, wenn bis dahin ein neuer Partner an die Türe geklopft hat. Der imaginierte Nutzen der Reise, die Chance auf Zweisamkeit beliebiger Intimität, wäre grundsätzlich noch gegeben, aber erstens ist dieses Bedürfnis durch den neuen Partner befriedigt und zweitens würde es die neue Partnerschaft gefährden, wenn die Single-Reise, vielleicht mit einem lapidaren Verweis auf die hohen Kosten der bereits bezahlten Reise (auch bei Seereisen heißen diese „versunkene Kosten“), dennoch angetreten werden würde. Je näher der Zeitpunkt der prognostizierten Zukunft rückt, desto sicherer wird sie und somit auch die Erkenntnis, ob die Prognose richtig oder falsch war. Was ist Zufall? Es wird Zeit, sich mit dem Begriff des Zufalls zu beschäftigen. Zufall raubt uns regelmäßig den Glauben an eine vorhersehbare Zukunft. Die Welt erscheint unberechenbar, es fehlt Kausalität. Zufälle sind ein anderes Wort für „unsichere Zukunft 4. Grades“ (Tab. 2.1), denn es fehlen Regeln und Kenntnisse über Motive anderer. Wir wissen nicht, wie Informationen verteilt sind und vermuten Einflussparameter, die uns unbekannt sind. Wichtig ist, uns hier noch einmal daran zu erinnern, dass es um die individuelle Einschätzung der Zukunft geht. Was wir als Zufall erleben, könnte für einen anderen eine recht sicher vorhersehbare Abfolge von Ereignissen sein. Dazu zwei Beispiele: Am kommenden Samstag sechs richtige im Lotto zu haben, scheint eine Frage des Zufalls zu sein; jedenfalls empfinden wir es so. Wir können

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berechnen, dass die Chance bei ca. eins zu 14 Mio. liegt. Füllen wir vier Kästchen mit unterschiedlichen Zahlenkombinationen aus, werden wir statistisch betrachtet innerhalb von ca. 67.308 Jahren einen Sechser landen. Aber garantiert ist das auch nicht. Vor allem aber wissen wir nicht, wann innerhalb dieses Intervalls wir gewinnen werden. Sollten wir tatsächlich gewinnen, erleben wir es als „Zufall“.1 Das Lottospiel erfüllt – es mag überraschen – dennoch alle Kriterien einer „sicheren Zukunft“, wie auch das Wetter ein paar Seiten zuvor: Die Regeln und alle Einflussparameter sind bekannt und gelten für alle und immer. Es gibt keine asymmetrischen Informationen, denn jede beliebige Kombination aus sechs Zahlen hat immer die exakt gleiche Gewinnchance, und Handlungsmotive anderer Spieler sind irrelevant. Eine sichere Zukunft und trotzdem „Kamerad Zufall“? Ja, so empfinden wir es, wenn wir trotz einer marginalen Chance den Lottogewinn einstreichen dürfen, aber wir empfinden den wahrscheinlichen Fall, nicht zu gewinnen, nicht als Zufall. Daraus lässt sich schließen: Ein Zufall ist etwas Unerwartetes.

Diese Definition findet sich in etwas abgewandelter Form auch im Duden. Andere Quellen hingegen konstatieren, das Fehlen einer Ursachenkausalität sei das wesentliche Merkmal von Zufall. Das halte ich für falsch. Dazu das zweite Beispiel: Ihre kleine Clique von ehemaligen Schülern trifft sich jährlich und lässt die alten Zeiten Revue passieren. Natürlich reden Sie auch über die ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler. Am Wochenende darauf fahren Sie ins Einkaufszentrum, parken unkonzentriert ein und rammen ein Auto. Aus diesem steigt eine Frau aus und siehe da: Es ist eine der Klassenkameradinnen, die Sie zuletzt vor 30 Jahren gesehen und über die Sie neulich erst in ihrer Clique gesprochen hatten. Ist das Zufall? Klar, so nennen wir das. Wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, erstens genau das Auto dieser ehemaligen Klassenkameradin zu rammen und zweitens auch noch unmittelbar nach ihrem Cliquentreffen?

1Laut

einer Umfrage des Allensbach-Instituts spielen 7,7 Mio. Deutsche regelmäßig Lotto, über 21 Mio. gelegentlich. Seit Jahren gibt es im Durchschnitt 110 Lottomillionäre pro Jahr. Diese Anzahl reicht für eine veritable Verfügbarkeitsheuristik aus (siehe Abschn. 3.3.2). Dennoch ist das Fazit ernüchternd: Lotto ist vermutlich das am wenigsten lukrative kommerzielle Glücksspiel überhaupt.

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Theoretisch wäre das Ereignis prognostizierbar gewesen. Letztlich basieren alle Handlungen der Vergangenheit, die zur Gegenwart (hier: das Rammen) führen, auf Kausalketten. Ihre Klassenkameradin ist in das Einkaufszentrum gefahren, um ein Geschenk für ihre Nichte zu kaufen. Sie parkte auf Deck 3, weil nur dort noch freie Parkplätze waren und darum sind auch Sie dort hingefahren usw. Ja, denkbar ist es, die Kausalketten so nachzubilden, dass sie beim ersten Zusammentreffen in der Schule ihren Anfang nehmen. Aber weil die Entscheidungen aller am System Beteiligten und deren Motive unmöglich nachzubilden sind, sprechen wir von einem chaotischen System und im Ergebnis von einem Zufall. Wie beim Wetter. Aber dennoch ist es lediglich eine Frage der Komplexität der Kausalkette. So empfinden wir es als Zufall, wenn wir die Zusammenhänge nicht verstehen und es zu einem unerwarteten Ergebnis kommt. Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeitenverteilung? Im Kontext des Lottogewinns gibt es noch eine nette Geschichte, mit der ich dieses Kapitel abschließen möchte: Mein Vater spielte sein Leben lang Lotto. Als ich BWL studierte, belehrte ich ihn eifrig über die Gewinnchancen und dass es viel besser sei, das Geld wöchentlich zu sparen. Aber er war anderer Meinung: Die Wahrscheinlichkeit, am kommenden Samstag sechs Richtige zu haben, beträgt genau 50 %! Entweder ich habe sie, oder ich habe sie nicht.

Natürlich war es ihm klar: Er ersetzte „Wahrscheinlichkeit“ mit „Möglichkeit“, und der Sechser entsprach 50 % der von ihm betrachteten Möglichkeiten. Er hatte übrigens nie mehr als vier Richtige.

2.2 Was leisten (Alltags-)Prognosen? Jede Entscheidung erfordert eine Prognose.

Prognosen helfen, eine wahrscheinliche Zukunft zu beschreiben. Sie helfen, • die Folgen unserer Entscheidungen in der als wahrscheinlich angenommenen Zukunft einzuordnen oder • abzuschätzen, wie eine Zukunft als Folge einer Entscheidung sein wird.

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Diese Fälle sind unterschiedlich: Im ersten Fall wird die Zukunft als gegeben und von uns unbeeinflussbar angenommen und betrachtet, wie wir infolge einer Entscheidung in dieser Zukunft dastehen werden. Ein Beispiel ist die Prognose des Ertrags einer Geldanlage: Aktien kaufen oder in einen Schiffsfonds investieren? Die Welt ändert sich nicht, nur, weil wir dieses oder jenes tun. Die Zukunft ist unbeeindruckt von unserer Entscheidung. Zu prognostizieren ist hier, wie diese Zukunft aussieht, in diesem Falle, wie sich die Finanzmärkte entwickeln werden. Im zweiten Fall wird unsere Entscheidung und die damit verbundene Handlung als Konstante gesetzt und die Zukunft ist variabel. Die Frage, wie sich das Leben nach der Trennung vom Partner entwickelt, wäre eine solche Prognose, die gleich mehrere Fragen umfasst: Wird mir die Trennung leichtfallen, werde ich einen neuen Partner finden und meine Freunde behalten oder wird das große Elend kommen, werde ich die Trennung bereuen und in Depressionen verfallen? Wie auch immer: Ob Geld angelegt oder eine Partnerschaft entschieden wird: Ohne Prognose wird es keine Entscheidung geben. Obgleich das möglich wäre. Es lassen sich Fälle konstruieren, in denen trotz einer Entscheidung auf eine eigene Prognose verzichtet wird. Tatsächlich haben beide Fälle im Alltag eine nicht zu unterschätzende Bedeutung: 1. Randomisieren: Wir lassen eine Münze entscheiden. Kopf oder Zahl? Eine Münze prognostiziert nicht – sie fällt auf eine Seite. Und wir, die wir die Münze werfen, haben mir dem Ausgang Entscheidung nichts zu tun. Wir führen nur die durch eine Münze per Zufall entschiedene Handlung aus. Das kann zuweilen befreiend sein, vor allem bei vollkommen unbekanntem Nettonutzen der Alternativen und somit vollkommener Indifferenz. Und zuweilen ist der Münzwurf sogar eine bessere Entscheidungsmethode, als würden wir uns selbst Gedanken machen und zu einer vermeintlich bewussten Entscheidung gelangen. Aber dazu kommen wir später. 2. Fremdentscheidung: Wir können eine andere Person bitten, zu entscheiden, was wir tun sollen. Das kann sinnvoll sein, wenn wir erwarten dürfen, dass die befragte Person die Zukunft besser kennt und die Folgen der Entscheidung besser abschätzen kann als wir selbst. Unser Arzt zum Beispiel oder der Banker. Aber es gibt eine wichtige Voraussetzung: Die befragte Person darf keine Eigeninteressen verfolgen. Sie darf keinen Nutzen aus der zu treffenden Entscheidung ziehen, ja nicht einmal abwägen, ob sie in der Zukunft für eine falsche Empfehlung in Regress genommen

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werden könnte. Und das ist in nur sehr, sehr wenigen Fällen gegeben. Der Banker verdient mit seinen Empfehlungen Geld, der Arzt rät meist zur aufwendigeren Diagnose und Therapie, um sich später kein Versäumnis vorwerfen zu lassen. Somit ist die Fremdentscheidung, die auf den ersten Blick wie ein Zufallswurf mit intelligenter, besser informierter Münze aussieht, eine Unterwerfung unter die Präferenzen eines anderen. Von der unbewussten zur bewussten Prognose Abgesehen von diesen zwei Fällen, in denen die Entscheidung aus der Hand gegeben wird, stehen wir aber selbst vor der Aufgabe, zu prognostizieren. Ständig. Bewusst oder unbewusst fertigen wir Alltagsprognosen an, um eine Entscheidung zu treffen. Wir kaufen Blumenkohl ein, weil wir prognostizieren, dass wir am nächsten Tag einen Auflauf kochen werden. Wir setzen uns aufs Sofa und fangen ein neues Buch an zu lesen, weil wir prognostizieren, dass uns das Buch gefallen oder anderweitig nützlich sein wird, zumindest so nützlich, dass die Zeit gut investiert ist. Wenn wir losfahren, um das Kind von der Schule abzuholen, prognostizieren wir Fahrtzeit, Unfallrisiko, Pannenwahrscheinlichkeit und überlegen, ob die Lehrerin pünktlich Schluss machen wird. Solcherlei Prognosen laufen als Automatismen im „Hinterkopf“ ab, denn die wesentlichen Faktoren, welche die Zukunft beeinflussen, sind uns bekannt, vermutlich dadurch, dass wir Erfahrungswissen angesammelt haben. Es handelt sich um Muster. Wir sind schon Dutzende Male zur Schule gefahren und wissen, dass wir 20 min Fahrtzeit benötigen, selten mehr, und einen Unfall oder eine Panne hatten wir auch noch nie. Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Kind pünktlich ins Auto einsteigt und nicht warten muss, ist hoch. Vielleicht kam es im letzten Jahr nur fünfmal vor, dass dem nicht so war, und wir erwarten, dass es heute klappt. Und das dürfen wir auch: Fünfmal bei 185 Schultagen pro Jahr ergibt eine Eintrittswahrscheinlichkeit für das planmäßige Abholen des Kindes von 97,3 %. Wir sprechen hier auch von „antizipatorischen Erwartungen“ und stützen uns dabei auf mehr oder minder fundierte Kenntnisse über bislang (meistens oder immer wieder) bestätigte Regelmäßigkeiten des Vorgehens anderer Akteure in vergleichbaren Situationen (Ritsert 2009, S. 76). Erwartungen sind nichts anderes als die Folge von Erfahrungen mit ähnlichen Situationen. Wir brauchen sie, um Sicherheit über die Zukunft zu bekommen (Antizipationsbedürfnis).

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Zurück zur schwierigen Frage der Partnerwahl: Ist er es? Ist sie es? Wird es eine lebenslange, glückliche, erfüllende und fruchtbare Partnerschaft werden? Die Auswirkungen einer Fehlentscheidung sind groß: emotionales Leiden, Ausgaben für einen wieder einzurichtenden zweiten Haushalt, der Kampf um die Verteilung gemeinsam angeschaffter Dinge. Und das Fehlschlagsrisiko ist hoch! Die Trennungsquoten, die verheiratete wie auch nicht verheiratete Paare inkludieren, liegen bei weit über 50 % (später mehr dazu). Es wäre also dringend geboten, für diese ganz und gar nicht alltägliche Entscheidung (formale Bindung an den Partner) eine verlässliche Prognose zu erstellen. Alltagsprognosen sind bewusste oder unbewusste Annahmen über eine Zukunft oder Abschätzungen der zukünftigen Wirkung eigener Handlungen, die Aspekte der persönlichen Lebensgestaltung betreffen. Stets werden dabei Vermutungen über die Eintrittswahrscheinlichkeit einer möglichen Zukunft angestellt.

Prognostik unterscheidet sich hier grundlegend von „Verstehen“ als Quelle der Erkenntnis. Zukunft kann nicht verstanden werden, nur vermutet. Was zu verstehen wäre, sind die Einflüsse, die Variablen, die Zukunft determinieren. Aber da wir nicht alle davon kennen (darum gibt es ja Zufälle), gibt es auch ein Verstehen von Aggregation und Reduktion inklusive Lücken des Wissens. Wir müssen hier vereinfachen und die Entstehung von Zukunft auf lächerlich wenige Einflussparameter zurückführen, was immer nur „wahrscheinlich“ gelingt. Um hier besser zu werden, wenden wir Methoden an, die uns die komplexe Zukunft zu vereinfachen helfen: Intuition Hier will ich nicht dem Abschn. 3.3 vorgreifen. Dennoch sei bereits hier angemerkt, dass Intuition die Fähigkeit ist, die Einschätzung eines Sachverhalts vornehmen zu können, ohne die relevanten Parameter bewusst abzuwägen. Intuition basiert auf Erfahrung, sie füllt Lücken, sie aggregiert. Damit ist die Intuition ein Mittel der Vereinfachung. Sie birgt eine große Gefahr: Wir sind als Menschen empfänglich für Verzerrungen unserer Wahrnehmung und Einschränkungen unserer Urteilsfähigkeit. Solche Verzerrungen und Einschränkungen können von uns selbst kommen oder durch andere oktroyiert werden, dann sprechen wir auch von Manipulation.

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Am Rande: Interessanterweise ist der Begriff Intuition ausschließlich positiv besetzt. Wenn wir rückblickend richtiggelegen haben, sprechen wir gerne von Intuition. Aber was war es dann, wenn wir danebenlagen, unsere Prognose also schlecht war? Dann verwenden wir andere Begriffe, wir „haben einen Fehler gemacht“ oder „etwas falsch eingeschätzt“, aber nur sehr widerwillig würden wir zugeben, dass unsere Intuition versagt hat. Bedingungen definieren Der Zukunftsforscher Matthias Horx rät: Für die wissenschaftliche Prognoseforschung müssen wir grundsätzlich feststellen, dass finite Prognosen, also Prognosen eines Endergebnisses oder eines Events, nur in den seltensten Fällen möglich sind. Wichtig ist es deshalb, die Prognostik zu konditionalisieren, das heißt die Bedingungen deutlich und klar zu machen, unter welchen prozessualen Voraussetzungen eine Prognose eintrifft. Beziehungsweise den Grad der Probabilität [= Eintrittswahrscheinlichkeit, Anm. des Verf.] zu verdeutlichen, dem eine Aussage über die Zukunft unterliegt (Kelber & Horx).

Auch diese Methode ist geeignet, die Komplexität der Zukunft zu reduzieren. Wir finden so viele „Wenn … dann …“-Aussagen, bis wir uns wohlfühlen. Das Problem ist hierbei, dass jeder Ausschluss eines zukünftigen Szenarios, also jede weitere Konditionalisierung, die eine, tatsächlich eintreffende Zukunft immer unwahrscheinlicher macht. So mag es ja noch sinnvoll sein, auszuschließen, dass wir auf dem Weg zur Schule einen Unfall haben, um zu prognostizieren, ob wir unser Kind pünktlich abholen werden. Aber ist es auch sinnvoll, auszuschließen, dass es einen Verkehrsstau gibt? „Ich wäre pünktlich gewesen, wenn all die anderen Autos nicht unterwegs gewesen wären.“ Aber das war zu erwarten, es hätte sogar eine Annahme eines wahrscheinlichen Ergebnisses sein können. Wann also ist die Konditionalisierung sinnvoll, wann nicht? Ausschluss „Schwarzer Schwäne“ Erlaubt ist in jedem Falle, extrem unwahrscheinliche, aber disruptive Ereignisse aus der Prognose auszuschließen. Diese von Nassim Taleb so bezeichneten „Schwarzen Schwäne“ nutzen uns nichts bei der Prognose: Natürlich ist es denkbar, dass auf dem Weg zur Schule ein Meteor alles Leben in der Stadt auslöscht. Aber erstens ist das Ereignis äußerst unwahrscheinlich und zweitens wäre dann das Prognosethema „Kind abholen“ sowieso hinfällig. Ein Schwarzer Schwan ist ein „Game Changer“, den wir getrost ausklammern dürfen, denn sein Eintreffen verlangt eine grundsätzliche Neuordnung der Zukunft (Taleb 2008).

26     J. B. Kühnapfel Schwarze Schwäne werden für eine Prognose ignoriert.

Was bleibt, ist die Einsicht, dass die Festlegung von Voraussetzungen für eine zu prognostizierende Zukunft oft erforderlich ist, um der Komplexität Herr zu werden. Der Preis dafür ist, dass diese Zukunft immer unwahrscheinlicher wird, je mehr Voraussetzungen festgelegt werden. Wie so oft gibt es auch hier kein eindeutiges Maß für eine sinnvolle Konditionalisierung, nur die Faustregel: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich.“ Instrumente zur Absicherung der individuell relevanten Zukunft Zukunft „abzusichern“, geht natürlich nicht. Das liegt nicht in unserer Hand. Auch können wir unsere eigene Position in der Zukunft nicht absichern. Die Zwischenüberschrift verspricht zu viel. Was gelingen kann, ist, die individuelle Zukunft etwas sicherer zu machen, vielleicht gerade um so viel, dass eine Entscheidung möglich wird. Welche Instrumente stehen dafür zur Verfügung? • Eremitentum: Die Reduzierung sozialer Interaktionen führt zu einer Erhöhung der Sicherheit der Zukunft. Unkalkulierbare Motive und darauf basierende Aktivitäten anderer entfallen. Eingriffe in das persönliche Lebensumfeld werden auf das gewünschte Maß reduziert. Doch selten ist die Eremitage freiwillig gewählt, oft steht sie in einem spirituellen Kontext. Diese Lebensform ist uns fremd, Berichte von Eremiten erscheinen uns wie Storys aus einer anderen Welt (siehe z. B. Diehr 2015). • Langfristige Verträge: Unter „Verträge“ sind hier bindende Vereinbarungen gemeint, deren vorzeitige Auflösung nicht möglich ist oder aber dem Hinterbliebenen eine Kompensation des durch die Aufkündigung verursachten Schadens einbringt. Bei Arbeits-, Miet- oder Pachtverträgen ist das eindeutig. Solange der Vertrag läuft, kann von einer durch den Vertrag geregelten stabilen Situation und somit Zukunftssicherheit ausgegangen werden. Selbst wenn der Vertrag gekündigt wird, ermöglicht die Kompensation ein Auffangen der entstehenden Verluste. Aber genau hier ist die Crux: Die Kündigung mancher Verträge, vor allem jener, die nicht formal aufgeschrieben werden, verursachen nichtmonetäre, oft emotionale Schäden: Eine Beziehung oder die Erziehung von Kindern sind solche Verträge, die langfristig wirken und somit relative Zukunftssicherheit geben sollen.

2  Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir …     27

• Vermeidung von Entwicklung und Veränderung: Das „Einfrieren“ eines Entwicklungsstatus sichert. Dem Wesen nach handelt es sich um die Fortschreibung des Konzepts langfristiger Verträge. Ein Beispiel: Statt den Arbeitsplatz zu wechseln, bleiben wir beim alten und akzeptieren die Suboptimalitätskosten (die in der Betriebswirtschaftslehre auch „Holdup-Costs“ genannt werden). Ein solches Verhaltensmuster ist typisch für uns Menschen. Es ist gut erforscht und wird als „Status-quo-Verzerrung“ bezeichnet (Kahneman et al. 1991): Wir neigen im Zweifel dazu, beim Bekannten zu bleiben. Das gibt uns Sicherheit und verhindert eine Verschlechterung der Situation. • Inkrementeller Fortschritt anstelle von radikalen Veränderungen: Die konsequente Erhaltung des Status quo mag eine Verschlechterung der Situation verhindern, aber leider auch die Verbesserung. Um sich dennoch zu entwickeln, aber gleichzeitig die Zukunft im gewünschten Rahmen berechenbar zu erhalten, gibt es das Konzept des „inkrementellen Fortschritts“. Ursprünglich aus der Welt der Errichtung komplexer Systeme kommend, empfiehlt es die Entwicklung in kleinen Schritten, um jeweils die Auswirkungen von Veränderungen beobachten zu können. Selbst, wenn eine größere Veränderung geboten erscheint, wird empfohlen, diese in Teilschritte zu zerlegen, um zu verhindern, dass wegen der Komplexität außer Acht gelassene Teilsysteme in ungewünschter Form beeinflusst werden; Schrittchen für Schrittchen, große Veränderungen auslassend. Korrekturen sind dann „billiger“. Genau das ist das Grundprinzip von Demokratien! Regierungen bewirken moderate Veränderungen, die immer wieder vom Volk überprüft werden (Wahlen). Demokratische Verfassungen schließen Radikalität aus, verlangen Iterationen und wirken zuweilen unglaublich langsam. Gut so (mehr zum Konzept: Weizsäcker 2014 und ursprünglich Popper 1945/1947)! Bei Betrachtung aus der Vogelperspektive werden wir feststellen, dass jeder von uns alle vier Instrumente einsetzt, intuitiv und automatisch. Für bestimmte Lebensbereiche kann es sinnvoll sein, Zukunftssicherheit um den Preis der Flexibilität zu erhalten. Wir verzichten dann auf Spontaneität, erhalten aber relative Klarheit, wie es „in Zukunft sein wird“. Wir sind Eremiten, wenn wir unserem Hobby nachgehen und angeln, wir heiraten und gehen damit einen Bindungsvertrag ein, wir lehnen ein Jobangebot ab, weil wir nicht umziehen und unser Lebensumfeld (Infrastruktur, Nachbarn, Wohnung) erhalten wollen und machen eben kein Weltumsegelungs-Sabbatical, weil wir nicht wissen, wie ein solches Abenteuer ausgeht.

28     J. B. Kühnapfel

Natürlich, zuweilen brechen wir auch aus: Der sprichwörtliche Mann, der nur mal eben Zigaretten holen wollte und nie wiederkam, kündigte einseitig seinen Beziehungsvertrag, wagte einen radikalen Schritt und zwang sich zu einem Neuanfang. Aber das sind Ausnahmen. Grundsätzlich nutzen wir die vier beschriebenen Instrumente, um unsere Alltagsprognosen zu verbessern, weil die Zukunft dann sicherer scheint.

2.3 Wie beeinflusst die Zukunft unsere Gegenwart? Um Prognosen zu verstehen, reicht es nicht aus, in einer temporalen Einbahnstraße zu denken. Das Muster „Gegenwart  → Prognose → Entscheidung → Zukunft“ ist unvollständig. Was fehlt und was betrachtet werden muss, ist die Rückkopplung der Zukunft auf die Gegenwart! Zukunft beeinflusst Gegenwart, weil wir sie antizipieren und bewerten.

Zwei unterschiedliche Sichten auf diese Rückkopplung sind möglich: Das Zukunftsbild bestimmt die Entscheidung Wir prognostizieren eine Zukunft und treffen eine Entscheidung, deren Folge zu dieser Zukunft passt. In diesem Falle determiniert die „erwartete“, zuweilen auch „erhoffte“ Zukunft die Entscheidung, die dann eine „Best fit“-Entscheidung auf Basis gegenwärtiger Annahmen darstellt. Die Zukunft wird für die Entscheidung als exogen vorgegeben unterstellt, die Entscheidungen als endogen mit dem Ziel der Anpassung der individuellen Situation an diese Zukunft. Unsere persönlichen Präferenzen, Ziele und Erwartungen determinieren unser Zukunftsbild. Hätten wir uns eine andere Zukunft vorgestellt, wäre auch die Entscheidung eine andere gewesen. Dabei ist uns aber selbstverständlich bewusst, dass diese Zukunft nicht die einzig mögliche ist. Aber im Portfolio aller realistischen möglichen Zukünfte scheint uns die ausgewählte im Augenblick der Entscheidung die wahrscheinlichste. Wir setzen auf sie. Zuweilen ist es aber gar nicht erforderlich, sich präzise auf eine Zukunft festzulegen, z. B., wenn es gelingt, eine Handlung zu entscheiden, die eine große Bandbreite möglicher Zukünfte abdeckt. Die Entscheidung wird dann als sicher empfunden, weil eine gewisse Variabilität der Zukunft mög-

2  Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir …     29

lich wird. Der Ressourceneinsatz, der mit der Entscheidung verbunden ist, erscheint risikoärmer. Handelt es sich jedoch um eine Entscheidung, die nur für eine recht präzise beschriebene (= spezifische) Zukunft günstig ist, erscheint sie uns risikoreich. Dann setzen wir „alles auf eine Karte“. Ein Beispiel ist Roulette: Sie können Ihre Jetons auf die 19 setzen oder auf Rot. Sie wissen, dass es 37 mögliche Zukünfte gibt. Im ersten Fall, der 19, entscheiden Sie, alle Ressourcen auf eine spezifische Zukunft zu setzen, die mit der Chance von ca. 2,7 % eintreffen wird. Im zweiten Fall setzen Sie auf Rot, auf eine unspezifischere Zukunft, und ihre Gewinnchance steigt auf ca. 48,65 %.2 An diesem Beispiel lässt sich auch gut aufzeigen, dass Spezifität und Gewinnchance oftmals korrelieren, es aber einen Preis hat, viel zu riskieren: Je spezifischer die Zukunft ist, auf die wir setzen, desto geringer ist die Chance, dass wir richtigliegen, aber desto höher ist der Rückfluss der eingesetzten Ressourcen, wenn unsere Prognose zutrifft.

Auf die 19 zu setzten bedeutet, eine geringere Gewinnchance zu haben als auf Rot zu setzen (2,7 % zu 48,65 %), aber der Gewinn ist bei gleichem Ressourceneinsatz höher, nämlich das 35-Fache statt dem Einfachen des Einsatzes. Der hier beschriebene Zusammenhang zwischen der Spezifität einer erwarteten Zukunft und der Sicherheit einer Entscheidung wirkt aber auch umgekehrt: Die Entscheidung bestimmt das Zukunftsbild Jetzt determiniert die Entscheidung die Zukunft, die möglich erscheint. Im Sinne der Absicherung der individuellen Zukunft ist nun eine Entscheidung zu finden, die den Möglichkeitenraum der Zukunft einengt und sie damit berechenbarer, sicherer macht. Wenn Sie die Kreuzfahrt im Mittelmeer buchen, scheiden alle Zukünfte aus, in denen Sie zu dieser Zeit woanders, z. B. in der Karibik oder im Gefängnis, sein werden. Auch hier ist somit Spezifität von Bedeutung, nun aber jene der Entscheidung:

2Und

wenn Sie jetzt glauben, Sie hätten mich bei einem Rechenfehler erwischt, haben Sie vermutlich die grüne Null vergessen. Es gibt 37 Zahlen auf dem Roulette-Drehteller.

30     J. B. Kühnapfel Je spezifischer eine Entscheidung ausfällt, desto kleiner ist der Möglichkeitenraum der Zukunft.

Im Unterschied zum ersten Fall, in dem die Zukunft die Entscheidung determiniert, ist nun erforderlich, dass der Entscheider daran „glaubt“, die Zukunft gestalten zu können. Das ist keineswegs selbstverständlich: Nur allzu oft treffen Menschen keine Entscheidung, weil sie davon ausgehen, dass ihr „Schicksal“ vorbestimmt sei, von den Eltern, von den Lehrern, vom Chef, von Gott oder von den Verpflichtungen, die eine Familie mit sich bringt. Darum ist eine interessante Frage, wie eine Entscheidung zustande kommt, welche Motive bzw. „Intentionen“ sie bestimmen. Dieses Feld ist gut erforscht und wird beispielsweise durch die „Theorie des überlegten Handelns“ (Ajzen und Fishbein 1980) und in deren Erweiterung, der „Theorie des geplanten Handelns“ (Ajzen 1991), beschrieben. Zentrale Frage vor allem der erweiterten Theorie, ist, inwieweit man das Verhalten einer Person gegenüber einem Einstellungsobjekt vorhersagen kann, wenn deren Einstellung zu diesem Objekt bekannt ist. Wichtigstes Element für eine mögliche zuverlässige Vorhersage ist die Intention der Person, also deren Ausrichtung auf ein Ziel hin. Und diese Intention ist wiederum abhängig von drei Faktoren (siehe Abb. 2.3),

Einstellungen gegenüber Verhalten

Subjekve Norm

Intenon

Wahrgenommene Verhaltenskontrolle Abb. 2.3  Modell des geplanten Verhaltens nach Ajzen

Verhalten

2  Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir …     31

• der endogenen Sicht, also der Einstellung gegenüber dem eigenen ­Verhalten, • der exogenen Sicht in Form sozialer Normen, etwa der Erwartungen des engeren sozialen Umfelds und damit dessen Einstellungen („subjektive Norm“) sowie • der Vermutung, wie komplex es wird, ein geplantes Verhalten auch umzusetzen, wie viele Ressourcen es also verbrauchen wird. Es ist also keineswegs der simple Mechanismus, der es zunächst zu sein scheint, nämlich dass eine Entscheidung getroffen und dann als Konsequenz das Eintreffen einer bestimmten Zukunft – oder eines Korridors möglicher Zukünfte – passiert. Die Einstellung gegenüber dem eigenen Verhalten, die subjektiv empfundenen Normen, die das soziale Umfeld setzt, und die an sich selbst gerichtet Frage, „Schaffe ich das?“ bestimmen die Entscheidung. Bleiben wir bei einem unserer Beispiele: Ihr Jobwechsel ist auf ganzer Linie gescheitert, und Sie sind nun arbeitslos. Aber Sie entscheiden, erst einmal Urlaub in der Karibik zu machen. Ohne Familie, ganz alleine, „um den Kopf frei zu bekommen“. In dieser Phrase steckt schon Ihr Zukunftsbild, also Ihre Prognose: Alte Türen schließen, Mut fassen für einen Neuanfang. Das klingt super, aber die Entscheidung wird von Ihnen selbst reflektiert. Spiegeln wir unser Beispiel an den Aspekten der „wahrgenommenen Verhaltenskontrolle“, wie Ajzen sie definiert: 1. Die Einstellung gegenüber dem eigenem Verhalten: Luft schnappen, Gedanken sortieren, Möglichkeiten gedanklich ausloten. Solche Glaubenssätze erzählen Sie sich selbst, um Ihre Entscheidung vor sich selbst und ggf. vor anderen zu vertreten. Sie sehen den Nutzen und halten die Reise alleine in die Karibik für wichtig und richtig. 2. Subjektive Normen des sozialen Umfelds: Ihre Familie wird Ihnen den Vogel zeigen. Sie werden arbeitslos und fahren erst einmal in die Karibik? Sie zehren die finanziellen Reserven auf und vergnügen sich alleine im türkisblauen Wasser der Lagunen von Punta Cana, anstatt Bewerbungen zu verschicken? Wenn Sie die Normen Ihres sozialen Umfelds berücksichtigen, erscheint Ihnen die Idee vermutlich nicht mehr so gut. 3. Komplexität und Ressourcen: Zu verreisen ist einfach, aber Sie müssen einen beträchtlichen Umfang an Ressourcen einsetzen. Es ist das Geld, das Sie dann nicht mehr für die Überbrückung der arbeitslosen Zeit zur Verfügung haben (also die Opportunitätskosten der Reise), aber es ist auch die Zeit, die Sie für die Suche nach einem neuen Job verlieren ­werden.

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Alle drei Aspekte wirken. Sie bestimmen die Intention Ihres Verhaltens (Abb. 2.3), wie Ajzen es ausdrückte. Sie bestimmen durch Ihre Entscheidung die Zukunft. Die Lösung wird – wie so oft im Leben – ein Kompromiss sein, und wenn das „Kopf-frei-Bekommen“ tatsächlich Ihre Intention war, reichen vielleicht auch ein paar Tage Wandern in der Eifel. Das wird Ihnen Ihre Familie sicherlich gönnen. Wissen Sie nun, wozu Vorhersagen da sind? Bleiben wir kritisch, auch diesem Buch gegenüber. Ob es sich lohnt, weiter zu lesen, zeigt sich spätestens jetzt, am Ende des zweiten Kapitels. Es war bewusst ein Rundflug und sollte Schlaglichter auf vielerlei Aspekte werfen. Wir haben uns mit der Unsicherheit von Zukunft beschäftigt und herausgearbeitet, was diese verursacht (Regeln, Einflussfaktoren, Informationen und Motive anderer), mit Möglichkeiten, sie sicherer zu machen (­ Routinen, Verträge, Eremitentum, inkrementelles Vorgehen usw.), haben uns mit Zufall und Chaos beschäftigt und mit dem Einfluss der vermuteten Zukunft auf die Gegenwart. Vor allem aber haben wir klargestellt, dass ohne Prognosen keine Entscheidungen möglich sind. Ein solcher Rundflug ist erforderlich, reicht aber noch nicht aus, um ein guter Alltagsprognostiker zu werden. Dazu müssen wir landen und uns mit den Details beschäftigen. Das machen wir nun im nächsten Kapitel. Also habe ich geschwindelt: Eine belastbare Prognose darüber, ob sich das Weiterlesen lohnt, ist doch noch nicht möglich. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel.

Literatur Ajzen, I., 1991. The theory of planned behavior. Organizational Behavior and Human Decision Processes, Dezember, S. 179–211. Ajzen, I. & Fishbein, M., 1980. Understanding attitudes and predicting social behaviour. London: Prentice Hall. Diehr, A., 2015. Einsam und nicht allein. Portrait einer Eremitin. FAZ, 17.05., URL: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/eremitentum-in-deutschland-einsam-und-nicht-allein-13594474.html, zuletzt geprüft am 25.01.2018. Druet, A., 2016. Die Gründe für eine Fehlgeburt bleiben oft unbekannt. Focus, 17. Juli. URL: https://www.focus.de/gesundheit/experten/schwangerschaft-die-gruende-fuer-eine-fehlgeburt-bleiben-oft-unbekannt_id_5729769.html, zuletzt eingesehen am 21.1.2018. DWD, kein Datum Stimmt die Wettervorhersage immer oder liegen wir auch manchmal daneben. URL: www.dwd.de/DE/wetter/schon_gewusst/qualitaetvorhersage/ qualitaetvorhersage_node.html, zuletzt geprüft am 15.02.2018.

2  Wozu sind Vorhersagen da? Die unsichere Zukunft und wie wir …     33

Kahneman, D., Knetsch, J. L. & Thaler, R. H., 1991. Anomalies: The Endowment Effect, Loss Aversion, and Status Quo Bias. The Journal of Economic Perspectives, Ausgabe 1, S. 193–206. Klein, S., 2011. Wie berechenbar ist das Schachspiel? Eine kurze Betrachtung im Hinblick auf die finitistische Erkenntnistheorie von Dr. Alfred Gierer. URL: www. sfbux.de/wp-content/uploads/artikel/berechenbarkeit.pdf, zuletzt geprüft am 17.09.2018. Kühnapfel, J. B., 2015. Vertriebsprognosen. Mehtoden für die Praxis. Wiesbaden: Springer Gabler. Popper, K. R., 1945/47. The open Society and its Enemys – Volumen I: The Spell of Plato. London: Routledge & Sons. Ritsert, J., 2009. Schlüsselprobleme der Gesellschaftstheorie: Individuum und Gesellschaft – Soziale Ungleichheit – Modernisierung. Berlin: Springer. Taleb, N. N., 2008. Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. München: Hanser. Weizsäcker, C. C. v., 2014. Die normative Ko-Evolution von Marktwirtschaft und Demokratie. ORDO, Band 65, S. 13–43.

3 Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?

Im vorangegangenen Kapitel haben wir uns mit Entscheidungen und Zukunft beschäftigt. Der Brückenschlag gelingt durch die Prognose, sie ist der Schlüssel zu „guten“ Entscheidungen. Aber wie funktioniert sie, vor allem im Falle von Alltagsentscheidungen, wenn der Aufwand einer komplexen Vorhersagemethodik nicht lohnt? Worauf ist zu achten, um die eigene Zukunft, soweit es eben geht, abzusichern oder zumindest zu verstehen, wie groß die Unsicherheit ist? Welche Fehler können dabei gemacht werden? Diese Fragen versuche ich, in diesem Kapitel zu beantworten. Es wird uns in die Welt der Prognostik entführen. Der Schwerpunkt liegt nicht auf jenen Prognosemodellen und -methoden, die Unternehmen nutzen (siehe hierzu beispielsweise Kühnapfel 2015), sondern ich werde Ihnen einige im Alltag gut nutzbare Modelle darstellen. Aber darüber hinaus ist es wichtig zu verstehen, was eine gute von einer schlechten Vorhersage (= Prognose) unterscheidet, denn hier gibt es viele Überraschungen: In der Alltagsprognostik ist es nicht immer klar, ob wir für eine Entscheidung tatsächlich über eine Vorhersage und damit ein Zukunftsbild nachgedacht oder ob wir stattdessen eine Hoffnung formuliert oder Ängste ausgedrückt haben. Ein Beispiel: Sie haben ihr Kind durch die erfolgreiche, pünktliche Geburt bekommen und stillen nach ein paar Monaten ab. Wie füttern sie nun ihr Baby? Bei der Prognose, die Sie – vermutlich informell – für eine Einkaufsentscheidung erstellen, werden Sie Informationen benötigen. Sie werden, gemeinsam mit ihrem Partner, Zeitschriften lesen, Empfehlungen von Kinderärzten im Web studieren und sich bestenfalls auch einmal eine © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. B. Kühnapfel, Die Macht der Vorhersage, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24838-3_3

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wissenschaftliche Untersuchung antun. Sie werden Entwicklungsziele für Ihr Baby festlegen, Ihr Budget und Ihre Einkaufsmöglichkeiten abschätzen, vielleicht testen, ob und was Ihr Baby am liebsten mag und am besten verträgt und so zu einer Entscheidung kommen. Das ist zu theoretisch? Das macht doch keiner? Oh doch, das machen die meisten so. Nicht immer systematisch, selten vollumfänglich, aber die Entscheidung ist doch wichtig! Sie tragen Verantwortung! Ihre Hoffnungen spielen dabei eine große Rolle. Ihnen ist natürlich klar, dass gute Nahrung der Entwicklung des Wurms helfen kann. Aber schon schleicht sich die Angst ins Bewusstsein. Was ist, wenn Sie das Falsche füttern? Fehler können sich später rächen. Gerade wenn es Ihr erstes Kind ist, haben sie keine Erfahrung. Klar, andere bombardieren Sie geradezu ungefragt mit Ratschlägen, Ihre Mütter, die Schwester, die schon drei Kinder hat, Ihre Nachbarn. Alle wissen, was Sie tun sollen – aber die Ratschläge unterscheiden oder widersprechen sich. Was nun? Wer hilft Ihnen, Ihre Ängste aus dem Weg zu räumen? Nun, einer drängt sich immer in den Vordergrund: die Werbung! Egal, welches Produkt als Milchfolgenahrung beworben wird, immer wird es mit der Kernbotschaft „Hiermit machen sie keine Fehler“ angepriesen. Und das nicht verdeckt, sondern ganz offen. Es kann ach so viel falsch gemacht werden, aber „wir“ begleiten Dich und sind für Dich da. Folgerichtig investieren die Anbieter auch in „Angstauffangstationen“, seien es Beratungs-Blogs im Web oder Service-Telefone. Doch eines sollte klar sein: „Kaufe unser Produkt und dein Baby wird proper“ ist keine Prognose. Es ist eine Werbeaussage, denn das primäre Ziel des Anbieters sind nicht gesunde Babys, sondern Umsätze. Und wenn für mehr Umsätze mehr Zucker beigemischt werden muss, dann ist das eben so (fairerweise sei angemerkt, dass die Zeit der überzuckerten Babynahrung wohl vorbei ist). Die Werbung ist prädestiniert dafür, Hoffnungen und Ängste zu adressieren und es wie eine Prognose à la „Kauf mich und dein Leben wird schöner“ aussehen zu lassen. Aber es ist eben nicht nur die Werbung, die diesen Mechanismus kennt. Wir nutzen ihn auch selber. Wir erzählen uns Geschichten, die unsere Hoffnungen bedienen. Wir selektieren Argumente und Informationen, um unsere Meinung zu bestätigen, ignorieren wider besseres Wissen Signale, weil sie uns nicht passen, nennen es Zufall, wenn wir scheitern, aber schreiben es unseren eigenen Fähigkeiten zu, wenn es gelingt. Damit wir eine unbeeinflusste Prognose erstellen und smartere Entscheidungen treffen können, ist es also wichtig, genau hinzuschauen. Und dabei hilft Ihnen dieses Kapitel. Machen wir uns an die Arbeit!

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     37

3.1 Was brauchen wir für eine Vorhersage? Jede Prognose besteht aus drei Zutaten: dem Modell, den Einflussfaktoren und den Inputdaten. Zum Modell gehört das anzuwendende Verfahren, das oftmals nichts anderes ist als ein Algorithmus. Die Einflussfaktoren beschreiben die Kräfte, die wirken, damit die Zukunft entsteht. Die Inputdaten sind Vergangenheitswerte, also Erfahrungen. Idealerweise wählen wir für eine Prognose ein Modell bewusst aus, und zwar nach den zwei Kriterien „Prognosegenauigkeit“ und „Aufwand“. In einem gewissen Maße korrelieren diese Kriterien miteinander: Je mehr Aufwand wir tätigen, desto genauer wird die Prognose. Aber der Grenznutzen der Genauigkeit nimmt – wenig überraschend – ab. Dann führt mehr Aufwand kaum noch zu genaueren Prognosen. Nutzen wir eines unserer Beispiele: Die Entscheidung der jungen Mutter, die bestmögliche Babynahrung zu wählen, könnte ohne irgendwelches Wissen spontan im Supermarkt erfolgen. Dann wäre der Aufwand der Informationsbeschaffung sehr gering und würde sich auf das Betrachten von Produktverpackungen und Preisvergleiche beschränken. Ein systematisches Vorgehen ist dabei nicht zu erkennen. Es wäre der „Bauch“, der, angesprochen vom schicken Produktdesign oder einem Sonderangebot, entscheidet. Vermutlich aber wird sich die Mutter vorher informiert haben. Sie hat mindestens im Web, z. B. in Blogs, gestöbert, die aber mit von Anbietern bezahlten Bloggerinnen durchsetzt sind und deren Informationen deswegen nicht wesentlich verlässlicher sind als die Werbung. Oder die Mutter hat mehr getan, Fachbeiträge gelesen, sich mit ihrem Kinderarzt beraten und Erfahrungen anderer Mütter ihres Umfelds eingeholt. Sie hat also mehr Aufwand getrieben und wird voraussichtlich eine bessere Entscheidung treffen, die selbstverständlich die gleiche sein könnte wie die spontane, aber dann ein größeres Maß an Sicherheit bietet und damit auch weniger Angst, doch einen Fehler gemacht zu haben. Doch die Mutter kann es auch übertreiben: Jetzt noch medizinische Fachzeitschriften oder auf Google Scholar recherchierte Studien zu lesen, würde zwar den Informationsstand verbessern, aber um den Preis eines Aufwands, der überproportional wächst und, ich unterstelle es hier, die Prognosequalität nicht wesentlich verbessert. Selbst dann, wenn die Mutter sich – theoretisch – so weit informiert, dass sie selbst als Expertin für Babynahrung gelten könnte, würde sich die Prognose nicht immer weiter verbessern: Sie kennt zwar alle publizierten Erfahrungen (Vergangenheitsdaten) und

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auch alle relevanten Einflussfaktoren, aber sie weiß nicht, wie Letztere in ihrem eigenen Fall wirken. Vielleicht ist das Baby allergisch, was vorher unbekannt war, oder es hat Präferenzen und mag Spinat lieber als Hirsebrei. Dann sind schlagartig alle Prognosen, die zu einem vermeintlich optimalen Ernährungsplan führten, hinfällig und die Entscheidungsfindung startet von vorne. Die Präferenzen des Babys stellen also ebenfalls Einflussfaktoren dar, deren Stärke sich aber unmöglich ermitteln lässt. Aber: Für die Frage, ab wann es sich nicht weiter lohnt, Aufwand mit der Prognose zu treiben, gibt es keine klare Antwort, kein Rezept.

Arten von Prognosemodellen Bleiben wir beim Modell: Wir kennen als grundsätzliche Modelltypen die qualitativen, die quantitativen sowie Mischmodelle. Abb. 3.1 stellt diese dar und benennt Beispiele, die nachfolgend erläutert werden: Quantitative Modelle stützen sich auf mathematisch verarbeitbare Daten. In der Regel handelt es sich um Vergangenheitsdaten, die den Vorteil bieten, dass sie bekannt sind. Diese Daten werden nun nach einem bestimmten Algorithmus fortgeschrieben. Zeigten diese Daten beispielsweise einen Trend, so wird dieser extrapoliert und damit unterstellt, dass sich der Trend der Vergangenheit in der Zukunft fortsetzt. Diese Annahme gilt immer dann als akzeptabel, wenn es keinen erkennbaren Grund gibt, warum sich die Umweltbedingungen in der Zukunft in der Art ändern sollten, dass der Trend gebrochen werden wird. So sinkt die Anzahl Kirchensteuerzahler in Deutschland seit mehreren Jahren. Selbst die Quote, mit der die Anzahl von Jahr zu Jahr abnimmt, ist

Quantave Prognosemodelle • Trendextrapolaon • Rollierender Forecast • „Naiver“ Forecast

Mischmodelle • Nutzwertanalysen • Szenariotechnik • Analogiemethode

Abb. 3.1  Arten von Prognosemodellen

Qualitave Prognosemodelle • Delphi-Befragung • Experteninterviews • Esmaon Groups

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     39

recht konstant. Es lässt sich nun mühelos eine Formel für die zukünftige Entwicklung der Kirchensteuerzahler konstruieren. Es könnte sogar berücksichtigt werden, dass der Trend nicht linear ist, sondern sich asymptotisch einer Mindestmenge treuer Kirchensteuerzahler annähern wird. Die Prognose mithilfe eines quantitativen Modells ist einfach. Wir benötigen nur einen Algorithmus und einige wenige Daten. Tatsächlich benötigen wir aber noch etwas: eine Annahme über die Stabilität der Umwelt in der Zukunft. Die Trendextrapolation setzt voraus, dass kein Ereignis zu erwarten ist, dass diesen Trend bricht, z. B. ein Schwarzer Schwan (siehe Abschn. 2.2). Sollte z. B. im zweiten Jahr nach der Prognose ein Wunder geschehen, eine Heiligenerscheinung live auf n-tv zu sehen sein oder grauenerregende Aliens in einem Ufo landen, würde dieses Ereignis vermutlich massenhaft Menschen zurück in den Schoß der Mutter Kirche führen. Der Trend wäre gebrochen, unsere quantitative Prognose unter der Annahme einer stabilen Umwelt ginge fehl. Quantitative Modelle nutzen wir im Alltag z. B. bei Geldanlagen oder der Aufnahme von Krediten für den Kauf einer Waschmaschine oder eines Reiheneckhauses. Wir schauen uns für diese beispielhaften Fälle 1. unsere bisherige Einnahmen- und Ausgabensituation (Vergangenheit) an, 2. die aktuelle Situation (Gegenwart), etwa unseren Gehaltszettel, die Brisanz des Bedarfs oder alternative Verwendungsmöglichkeiten des Geldes (neues Auto statt Reiheneckhaus usw.), 3. prospektieren unsere Einnahmen- und Ausgabensituation (Zukunft) und 4. die Entwicklung der Umweltbedingungen, etwa die Volatilität der Finanzmärkte, der Zinsen, die Risiken der langfristigen Bindung (Kreditraten, Zugriff auf Anlagen), die Immobilienpreisentwicklung usw. Auch dieses Beispiel zeigt, dass quantitative Modelle nicht ohne Annahmen auskommen, hier jene über die Entwicklung der Finanzmärkte usw. Wir unterstellen ein Szenario. Selbstverständlich ist es auch möglich und erlaubt, mehrere verschiedene Szenarien anzunehmen und für jedes eine eigene Prognose zu erstellen. Diese können unterschiedliche Eintrittswahrscheinlichkeiten haben. Üblich ist dies beispielsweise in Unternehmen, die den Erfolg eines neu eingeführten Produkts abschätzen wollen: Sie entwerfen Absatzprognosen für unterschiedliche Marktakzeptanzszenarien. Das „mittlere“ Szenario stellt in der Regel das für am wahrscheinlichsten gehaltene dar, aber das pessimistischere und das optimistischere Szenario zeigen auf, wie stark die Absatzzahlen vom mittleren abweichen könnten und damit ist das Risiko

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der Markteinführung gut beschrieben: Ist die Spreizung der Absatzzahlen in den extremen Szenarien sehr groß, wird von einem großen Einführungsrisiko ausgegangen. Quantitative Modelle benötigen also Annahmen. Was sie zuweilen darüber hinaus noch benötigen, sind qualitative Aspekte, die sich nicht in Form einer Variable in den Algorithmus einbinden lassen. In der obigen Aufzählung sind beispielsweise unter Punkt 4 die „Risiken der langfristigen Bindung“ an eine Kapitalmaßnahme genannt. Darunter fallen • Opportunitätskosten, wenn sich während der Laufzeit herausstellt, dass eine andere Maßnahme besser gewesen wäre, sowie • das „Gefühl“, gebunden zu sein. Während sich die Opportunitätskosten vielleicht noch quantifizieren lassen, ist das bei dem „Gefühl“ nicht mehr möglich. Es handelt sich um einen qualitativen Aspekt. In beiden Fällen würde ein Prognostiker einen Risikoaufschlag kalkulieren, um diese qualitativen Aspekte in dem Algorithmus berücksichtigen zu können. Natürlich ist das nur eine Hilfslösung, und wenn zu viele qualitative Aspekte zu berücksichtigen sind, dürfte es ein besseres Vorgehen sein, von den quantitativen zu den qualitativen Modellen zu wechseln. Die qualitativen Modelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie keinen Algorithmus benötigen. So kann die Frage nach der besten Babynahrung nicht mit einer Formel beantwortet werden, denn das Ziel des Fütterns ist ja ein „sich gut entwickelndes Baby“. In keinem Fall wird das Ziel durch eine Zahl auszudrücken sein, allenfalls durch Surrogate, z. B. den Notendurchschnitt in der Grundschule oder durch einen Sozialverträglichkeits-Score, der im Kindergarten ermittelt wird. Aber auch dann lässt sich für die Prognose zur Wahl der richtigen Babykost keine Formel konstruieren. Qualitative Modelle basieren zumeist auf einer Bewertung der Argumente, die für oder gegen jeweils zur Disposition stehende Entscheidungsvarianten sprechen. Damit aber erstens diese Argumente und zweitens deren Gewichtung nicht zufällig sind, werden Methoden angewendet, die zu einer Objektivierung der Prognose führen. Es soll vermieden werden, dass eine Prognose aufgestellt wird, nur, weil man eine Meinung vertritt (Hoffnung/ Angst) oder diese in einer Gruppe am vehementesten vertreten wird (Dominanz, Autorität). So kommen wir als Letztes zu den Mischmodellen: Bei diesen wird quantifiziert, was quantifiziert werden kann, und der Schritt zur vollständigen Prognose wird qualitativ erledigt. Ob mit einem Lottogewinn

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     41

ein Reiheneckhaus oder ein exklusives Auto gekauft wird, ist eine Frage der individuellen Präferenzen, vielleicht noch eine der akuten Bedürfnisse. Hier werden Argumente die Daten ersetzen. Aber was ist, wenn die Entscheidung zu zweit getroffen wird? Vielleicht sind die Präferenzen unterschiedlich, und dann wird die Entscheidung zu einer Frage der Durchsetzungsfähigkeit. Die Beurteilung, welche Auswirkungen die Entscheidung auf die Zukunft hat, und hier sprechen wir wieder von der Prognose, ist dann abhängig von der Fähigkeit, ein konsistentes und glaubwürdiges Bild zu zeichnen; Rhetorik, Fantasie und die Fähigkeit, Hoffnungen und Ängste zu adressieren, also zu manipulieren, sind entscheidend. Um das zu vermeiden, gibt es Methoden! Um das zu vermeiden, lesen Sie dieses Buch. Ein schönes Beispiel für ein Mischmodell ist der Apgar-Score, den ich in Abschn. 2.1 am Rande bereits erwähnte: Der amerikanischen Ärztin Virginia Apgar fiel auf, dass die Entscheidung, ob ein Neugeborenes unmittelbar einer klinischen Behandlung bedarf, mehr oder weniger willkürlich durch den Gynäkologen getroffen wurde. Die Folge waren zahlreiche Irrtümer mit zum Teil fatalen Folgen. Sie entwarf daraufhin ein Verfahren, um unter den stressigen Bedingungen im Kreißsaal eine sichere Prognose über die Behandlungsbedürftigkeit des Neugeborenen erstellen zu können. Die Anforderungen an die Prognose waren also: schnell, wenig Aufwand, zuverlässig. Sie entwickelte ein Verfahren, ein Prognose-Mischmodell, bei dem unmittelbar nach der Geburt sowie nach einigen Minuten die im Kreißsaal Anwesenden fünf Parameter beurteilen: Für die Atmung, die Herztätigkeit, die Hautfarbe, den Muskeltonus und die Reflexe des Babys darf jeder 0, 1 oder 2 Punkte vergeben. 2 stehen für „alles in Ordnung“, 1 für einen kritischen oder unklaren Zustand und 0 für ein akutes Problem. Ist die Summe der vergebenen Punkte 9 oder sogar 10, das Maximum, ist alles in Ordnung. Sind es nur 7 oder 8 Punkte, sind weitere Maßnahmen einzuleiten, die prozedural festgelegt sind. Bei 6 oder weniger Punkten sind Notfallmaßnahmen erforderlich (Apgar 1953). Dieses Verfahren ist heute Standard in Kreißsälen und führte zu einem signifikanten Rückgang der Säuglingssterblichkeit. Qualitative Urteile werden so in Variablen gewandelt, die in einem Algorithmus verarbeitet werden können. Nachdem wir uns dem Prognosemodell und seinen grundsätzlichen Arten genähert haben, steht die Betrachtung der Einflussfaktoren auf die zu prognostizierende Zukunft an. Wenn sich ermitteln lässt, was sie bestimmt, treibt, triggert oder wie auch immer Sie es bezeichnen wollen, wissen Sie auch, welche Daten Sie sammeln müssen, um in die Zukunft schauen zu können.

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Identifikation der relevanten Einflussfaktoren Eine gute Möglichkeit, Einflussfaktoren auf die Zukunft zu isolieren, ist, in die Vergangenheit zu schauen. Wenn es sich um eine stabile Umwelt handelt, werden die Treiber zurückliegender Veränderungen auch die Treiber zukünftiger Veränderungen sein. Also sollten wir zu verstehen versuchen, warum sich Daten verändert haben. Je stärker Vergangenheitsdaten schwanken, desto wichtiger ist es für eine Extrapolation, die Einflussfaktoren auf diese Schwankungen zu ermitteln.

In jedem Falle ist es eine nützliche Übung, sich über diese Faktoren Gedanken zu machen. Nehmen wir das oben schon gestresste Beispiel des Jobwechsels. Die Prognose ist: „Der neue Job macht Sie zufriedener“. Bisher waren Sie unzufrieden. Aber erst wenn Sie sich überlegen, was Sie im alten Job unzufrieden gemacht hat, können Sie prüfen und die dafür erforderlichen Informationen beschaffen, ob der neue Job andere Bedingungen bietet. War Ihr Problem bisher, dass der Chef autoritär auftrat und Ihnen keine Spielräume ließ, können Sie im Bewerbungsgespräch, das u. a. dazu dient, Informationen über die Zukunft zu erhalten, diese Einflussfaktoren hinterfragen. Also ist die Ermittlung der Einflussfaktoren bei beiden Typen von Prognosemodellen hilfreich, wenn nicht gar erforderlich, den quantitativen wie den qualitativen. Vielleicht ist es durch die Missachtung dieses Prinzips zu erklären, warum sich so mancher wieder und wieder den „falschen“ Partner aussucht, die falschen Anschaffungen tätigt, den falschen Urlaub bucht und seine Kinder mit Anforderungen drangsaliert, die keinem Beteiligten gefallen: Es wird nie hinterfragt, welches die „wahren“ Treiber sind. Vergangenheitsdaten Zwei Arten von Daten werden in Prognosemodellen verarbeitet: Vergangenheitsdaten und Zukunftsdaten. Erstere sind meist bekannt oder sollten zumindest gut geschätzt werden können, Letztere sind immer Vermutungen. Übrigens: Gegenwartsdaten gibt es nicht. Der flüchtige Augenblick des Jetzt produziert keine Daten. Sind solche bekannt, ist der Augenblick schon vorüber. Es gibt allerdings einige Anforderungen an Vergangenheitsdaten, damit wir sie für unsere Prognosen verwenden können:

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     43

• Inhaltliche Vergleichbarkeit: Ein Beispiel: Umsätze von DAX-notierten Konzernen der letzten Jahre zu recherchieren und dann ihren Trend fortschreiben zu wollen, funktioniert selten. Denn Konzerne neigen dazu, häufig andere Unternehmen zu kaufen und zu verkaufen und damit werden auch deren Umsätze in den Gewinn-und-Verlust-Rechnungen berücksichtigt oder auch nicht. Der Grund für Umsatzrückgänge kann dann nicht nur ein zurückgehender Markterfolg sein, sondern auch der Verkauf eines Tochterunternehmens, dessen Umsätze nun nicht mehr in der Gewinn- und Verlustrechnung gezeigt werden. Was kann ein Marktanalyst also tun? Er wird sich Daten suchen, die auch über die Jahre inhaltlich vergleichbar sind, beispielsweise die Entwicklung der Umsatzrendite (Gewinn geteilt durch Umsatz). Nun ist es egal, ob Tochterunternehmen hinzukamen oder wegfielen, eine Beurteilung der langfristigen Erfolgsentwicklung ist möglich. • Methodische Vergleichbarkeit: Wie wird Umsatz gemessen? Hierzu gibt es mehr als eine Möglichkeit, aber, um es vorwegzunehmen, es gibt Rechnungslegungsvorschriften, die recht genau vorschreiben, wie der Umsatz ermittelt wird. Die Methodik wird hier per Gesetz bzw. Anwendungsverordnung festgeschrieben. Der Umsatz von Siemens wird auf die gleiche Art ermittelt wie der Umsatz von BMW. Aber was ist, wenn die methodische Vergleichbarkeit nicht mehr gewährleistet ist? Ein Beispiel? 96 % aller Pädagogik-Studierenden schließen ihr Studium mit der Note „gut“ oder „sehr gut“ ab. Das schaffen aber nur 57 % der Studierenden der Wirtschaftswissenschaften (Abb. 3.2; Wissenschaftsrat 2012, S. 55). Heißt das, dass Pädagogen schlauer sind als Wirtschaftswissenschaftler? Nein. Die Methodik der Notenvergabe ist unterschiedlich, also sind die Daten (Noten) nicht vergleichbar. • Ausreißer: Als Drittes sind sogenannte Ausreißer zu berücksichtigen. Solche Ausreißer würden eine Fortschreibung der Daten in die Zukunft stören (ausführlich siehe Kühnapfel 2015, S. 113 ff.). Es gibt viele Arten von Ausreißern und genauso viele Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen. Grundsätzlich ist das Verfahren aber, dass versucht wird, den Ausreißer mit einem Wert zu ersetzen, der gemessen worden wäre, wenn das Ereignis, das den Ausreißer bewirkte, nicht aufgetreten wäre. Näherungsweise reicht oft schon, den Mittelwert der zwei zeitlich benachbarten Werte anzunehmen. So könnte z. B. der Fehler vermieden werden, eine außergewöhnlich hohe Gehaltsprämie, die im Mai letzten Jahres anfiel, in die Abschätzung des zukünftigen Einkommens und damit die Fähigkeit, Kreditraten zu schultern, einzubeziehen.

44     J. B. Kühnapfel Machinenbau 4%

48%

Biologie

15%

Chemie

14%

Physik

56%

15% 52%

5%

VWL

BWL

57%

29%

Informak WiWi

69% 61%

52%

9%

55%

7%

Sozialwissenscha

68%

21%

Pädagogik

72%

24%

Psychologie

58%

37%

Interdisziplinäre Studien

70%

24%

0%

10%

20%

30%

40%

sehr gut

50%

60%

70%

80%

90% 100%

gut

Abb. 3.2  Anteil der Noten „sehr gut“ und „gut“ in ausgewählten Bachelor-Studiengängen an Universitäten

Zukunftsdaten Verlassen wir die Vergangenheit und wenden wir uns den Daten zu, die zukünftige Entwicklungen und Ereignisse repräsentieren. Es sind stets Vermutungen mit jeweils spezifischen Eintrittswahrscheinlichkeiten. Wenn z. B. prognostiziert werden soll, welche Kreditraten akzeptabel sind, müssen Daten über die zukünftigen Einnahmen (Gehälter, Erbschaften, Lottogewinne usw.) und zukünftigen Ausgaben (Urlaube, Lebensführung, Anschaffungen usw.) vermutet werden. Eine Prognose in der Prognose, oder anders: Die eigentliche Prognose sind diese Zukunftsdaten, der Rest, der für die Bewertung der Tragfähigkeit von Kreditraten erforderlich ist, ist ein Algorithmus. Die Kernfrage ist, wie realistisch die Schätzungen (im Sinne der „Vermutungen“) sind. Auf welchen Annahmen beruhen sie? Günstigstenfalls liegen, siehe oben, Vergangenheitswerte vor, die extrapoliert werden. Aber mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese Daten in der Zukunft ein? • Für eine Beamtin ist das gegeben, zumindest auf der Einnahmenseite. Nahezu garantiertes Einkommen mit einer geringen jährlichen Steigerungsrate, für die ebenfalls Erfahrungswerte vorliegen. Die Eintrittswahrscheinlichkeit ist hoch, aber nicht 100 %, weil Tod, Frühpensionierung oder Entlassung aufgrund Straffälligkeit bzw. im Nachgang eines Disziplinarverfahrens zu Verdienstausfällen führen würden. Die Ausgaben sind ebenfalls gut abschätzbar, sofern eine gewisse Disziplin

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     45

vorliegt und Reserven für außergewöhnliche Ausgaben (Beerdigungskosten, Renovierung, Ersatz des zu Schrott gefahrenen Wagens) gebildet werden. • Für eine freiberuflich Tätige sieht das anders aus: Eine Grafikdesignerin ist auf Aufträge von Werbeagenturen angewiesen, die wiederum Aufträge von werbenden Unternehmen brauchen. Freiberufliche Grafikdesigner sind Lückenfüller. Ist die Auftragslage gut, braucht man sie, ist sie schlecht, kommen erst die eigenen, festangestellten Mitarbeiter dran. Die Einnahmen sind volatil und die Auftragslage der vergangenen Jahre fortzuschreiben, bietet keine sicherere Datenlage für die Zukunft. Die Eintrittswahrscheinlichkeit der extrapolierten Monatseinkünfte ist niedrig. In der Wirtschaft gibt es dieses Problem in vielfältiger Erscheinungsform, z. B. bei der Erstellung eines Jahresabschlusses. Viele schlaue Experten haben sich mit der Frage beschäftigt, wie zu einem Stichtag später erwartete Einnahmen und Ausgaben aus schwebenden Geschäften bewertet werden sollen, um sie in der Bilanz zu zeigen, und haben daraus verbindliche Regeln entwickelt. Eine wichtige, die bei der Ermittlung der Höhe der Werte angewendet wird, ist das „Imparitätsprinzip“. Das heißt schlicht „Ungleichbehandlung“ von erhofften Einnahmen und drohenden Ausgaben: Während Erstere nicht berücksichtigt werden, müssen Letztere angesetzt werden. In beiden Fällen lässt man also die größere Vorsicht walten. Das ist ein gutes Prinzip und sollte grundsätzlich (es kann allerdings auch Ausnahmen geben) bei jeder Schätzung von Zukunftsdaten angewendet werden: Die Hoffnung wird untertrieben, die Angst wird übertrieben. Puffer auf beiden Seiten.

Natürlich kann dieser doppelte Puffer dazu führen, dass wir allzu pessimistisch in die Zukunft schauen. Dann könnten wir uns das Haus und die damit verbundenen Kreditraten niemals leisten. Aber es ist als Ausgangspunkt unserer Schätzung von Zukunftsdaten der einzig richtige Ansatz. Eine begründete Nachjustierung kann dann immer noch erfolgen, aber der Aufwand dieser Korrekturen führt dazu, dass wir sie bewusst vornehmen. Euphorie ist ein schlechter Prädiktor. Qualitätscheck Was noch für eine gute Vorhersage gebraucht wird, ist eine wie auch immer geartete Form der Qualitätssicherung. Diese ist vor allem dann von

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Bedeutung, wenn Prognosen in ähnlichen Konstellationen häufiger erstellt werden sollen, es also die Möglichkeit gibt, aus Fehlern zu lernen und besser zu werden. In rational-intellektuell geprägten Umgebungen, also z. B. in Unternehmen, werden sogar Prozeduren entwickelt, um insbesondere quantitative Prognosen zyklisch zu verbessern. Den Ausgangspunkt stellt die Messung der Prognosequalität dar, und damit ist in der Regel die Messung der quantitativen Abweichung von Istwerten und ursprünglichen Prognosewerten gemeint. Werden Abweichungen festgestellt, wird das Modell nachgetrimmt. Solche Messmethoden sind hinreichend beschrieben (Kühnapfel 2015) und werden teilweise sogar im Rahmen von Forecast-Software-Anwendungen genutzt. Sie sind geeignet, um ständig wiederkehrende quantitative Prognosen zu optimieren, etwa Umsatz- oder Absatzprognosen, aber sie scheitern bei qualitativen Prognosen, wenn eine wahrscheinliche Zukunft antizipiert oder die qualitativen Auswirkungen einer Entscheidung abgeschätzt werden sollen. Wie kann bei solchen Anforderungen die Qualitätsprüfung aussehen? Wie kann, noch bevor die Zukunft zur Gegenwart wird (denn dann wäre es zu spät), überprüft werden, ob die aufgestellte Prognose eine gute Qualität hat, sprich, ob davon ausgegangen werden darf, dass ihre Eintrittswahrscheinlichkeit bestmöglich abgeschätzt wurde. Der probate Weg, sich mit der Qualität einer Prognose zu befassen, führt über die Zerlegung in ihre eingangs beschriebenen Bestandteile Modell, Inputdaten und Einflussfaktoren. • Qualitätscheck Modelleignung: Ist das Modell geeignet, eine Prognose mit hinreichender Genauigkeit und Verlässlichkeit zur Verfügung zu stellen? Liefert es Hinweise für die Beurteilung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Prognoseergebnisses? Wünschenswert wäre ein eindeutiger Entscheidungsbaum, der je nach Art der Prognosefrage zum bestgeeigneten Modell führt. Den gibt es nicht. Am ehesten helfen hier Erfahrungen weiter, die eigenen oder die von „guten“ Ratgebern. Gibt es keine, vielleicht, weil das Prognosethema zu spezifisch, neu oder zu intim ist, helfen einige wenige Kontrollfragen weiter. Wird nur eine mit „Nein“ beantwortet, sollte das Modell verworfen werden. 1. Hat sich das Modell bewährt? Konnte es für ähnliche Prognosefragen brauchbare Ergebnisse, also hinreichend verlässliche Prognosen, liefern? 2. Hilft es, zwischen „Hoffnung“ und „meinungsoffenem Wissen“ zu unterscheiden? Gute Modelle zeigen auf, was wir nicht wissen, und ermöglichen auch die realistische Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Prognose.

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     47

3. Werden Erfahrungen (also die Vergangenheit) berücksichtigt, wenn dies das Prognoseszenario grundsätzlich erlaubt? 4. Werden vorliegende quantitative Vergangenheitsdaten in einem Algorithmus verarbeitet, wenn anzunehmen ist, dass sich die Umwelt in der abzuschätzenden Zukunft nicht grundsätzlich ändert? 5. Ist das Modell hinsichtlich einer sich verändernden Umwelt robust? Das ist es immer dann, wenn sich die Prognosen bzw. deren Eintrittswahrscheinlichkeiten verändern, sobald sich die erwartete zukünftige Umwelt verändert. 6. Kann das Modell beschrieben werden? Die einfachste Form einer Beschreibung wäre ein Algorithmus, eine Formel. Aber auch wenn dies nicht möglich ist, sollte das Prognosemodell nachvollziehbar skizziert werden können, damit es für eine wiederholte Anwendung angepasst werden kann. 7. Was Fachexperten von einem Modell noch fordern würden, wäre, dass es „elegant“ ist. Was genau das bedeutet, ist so unklar, wie einen Hengst als „imposant“ zu bezeichnen. Es ist die Summe vieler Aspekte, die im Auge des fachkundigen Betrachters etwas attraktiv erscheinen lassen. Ignorieren Sie diesen Aspekt, ich habe ihn nur mit aufgenommen, weil ich mich nicht einer Unterlassung schuldig machen wollte. • Qualitätscheck Inputdaten: Kann ich die Daten prüfen oder prüfen lassen? Wie viel würde ich darauf wetten, dass die Daten stimmen? Muss ich mit Szenarien arbeiten? Ist die mögliche Abweichung der Daten gleichgerichtet oder kompensieren sich die Fehler? Kann ich überhaupt einschätzen, welche Fehler möglich sind? Wie die Qualität von Daten, oder allgemeiner: Informationen, beurteilt werden kann, wurde von Forschung und Praxis recht gut und aus verschiedenen Perspektiven beschrieben. Üblicherweise werden die folgenden Kriterien zur Überprüfung der Qualität von Daten herangezogen. – Relevanz: Die Daten müssen Antworten für die Fragestellung liefern. – Validität: Die Daten müssen wahr sein. – Konsistenz und Redundanzfreiheit: Ein Datensatz darf keine Widersprüche aufweisen (in sich selbst und zu anderen Datensätzen). – Reliabilität: Die Erhebung der Daten muss in verlässlicher Form erfolgt sein. – Verlässlichkeit der Quelle: Hat derjenige, der die Daten bereitstellt, ein Partikularinteresse, das die Unverfälschtheit der Daten anzweifeln lässt? – Vollständigkeit, soweit möglich.

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– Problemgerechte Selektion der Daten. – Genauigkeit, jedenfalls so genau wie sinnvoll. – Aktualität, im benötigten Rahmen. – Einheitlichkeit: Die Daten müssen, z. B. bei Zeitreihen, die gleichen Sachverhalte widerspiegeln. – Eindeutigkeit: Interpretationsspielräume müssen beseitigt sein. Solche Kataloge sind sperrig und schießen für die meisten Alltagsprognosen über das Ziel hinaus. Doch geht es um komplexe, folgenreiche Entscheidungen, empfehle ich Ihnen, sich die Zeit zu nehmen, die Datenqualität anhand dieser Liste zu überprüfen. Ein Beispiel: Bei der Wahl des Finanzierungsmodells für das schicke neue Auto liefert der Verkäufer eine Vergleichsrechnung und stellt die jeweiligen Ausgaben für den Wagen gegenüber. Da er allerdings an den unterschiedlichen Finanzierungsformen unterschiedlich viel verdient, sollten Sie seine Vertrauenswürdigkeit anzweifeln. Unterstellen Sie ihm zu Ihrer eigenen Sicherheit eine Selektion der Inputdaten, wenn nicht gar ein Reliabilitätsproblem: Hat der Verkäufer z. B. einen sinnvollen Zinssatz bei der Diskontierung der zukünftigen Auszahlungen berücksichtigt? Sie wissen nicht, was das ist? Gut für den Verkäufer! • Check der Relevanz der Einflussfaktoren: Kann ich sicher sein, dass ich die Faktoren kenne, die die Zukunft beeinflussen und die somit von dem Modell berücksichtigt werden müssen? Kenne ich den jeweiligen Einfluss eines jeden Faktors? Gibt es wechselseitige Abhängigkeiten? Wie sensibel reagieren die Einflussfaktoren auf mögliche Veränderungen der Inputdaten? Kenne ich mögliche Störfaktoren, die meine Prognose über den Haufen werfen? Beim Lottospiel z. B. kann die Chance auf einen Sechser am nächsten Samstag nur beeinflusst werden, wenn weitere Kästchen ausgefüllt werden, was die Kosten des Spiels steigen lässt. Der wichtigste Faktor aber, die zufällige Auswahl einiger mit Zahlen bedruckter Bällchen, kann nicht beeinflusst werden. Fassen wir zusammen: Was brauchen wir für eine Vorhersage? Das Wichtigste ist ein Modell, quantitativ, qualitativ oder etwas von beidem, damit wir sicher sein können, systematisch an die Prognose heranzugehen. Systematisch ist gut, alles andere wäre raten. Um ein Modell zu füttern, benötigen wir Daten, Daten über die Vergangenheit, Daten über die Zukunft, die natürlich immer nur Hypothesen sein können, und ein Gefühl für die Einflussfaktoren, welche die Zukunft bestimmen. Mit diesen Zutaten lässt sich prognostizieren.

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Bevor wir nun tiefer in diese Materie einsteigen, möchte ich einen Streifzug auf einem eher philosophischen Terrain unternehmen. Wenn Sie sich sicher sind, mit Begriffen wie Wissen, Wahrheit oder Wirklichkeit gut umgehen zu können, überspringen Sie das Abschn. 3.2. Aber ich empfehle, diese 30 min zu investieren. Es lohnt sich, nicht nur für das Verständnis der Materie Alltagsprognostik.

3.2 „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ Jede Entscheidung ruft nach einer Prognose. Eine solche Vorhersage wird dann selten, vielleicht nie, losgelöst von unserem „Wissen“ über die Vergangenheit, über unsere Umwelt, über das Verhalten anderer oder über uns selbst erstellt. Hinzu kommen unsere Vermutungen über die Zukunft. Dieses „Wissen“ bildet ein Fundament, einen Sockel, die Gründung unserer Sicht auf die Welt. Und daran rütteln wir nun, denn dieses Wissen ist nichts als eine subjektiv geprägte Annahme. Wir wissen nichts, wir unterstellen nur. Wir treffen Annahmen und tun so, als sei dies Wissen. Mit diesem Wissen ecken wir nur allzu häufig an. Erst verteidigen wir es noch, aber irgendwann stellen wir fest, dass es auch eine alternative Sicht gibt, und wir revidieren und korrigieren unser Wissen. Umgekehrt ist aber auch möglich, dass andere uns bzw. das, was wir zu wissen glauben, bestätigen, uns beipflichten. Dies dient uns dann als Rechtfertigung, fester an unserem Wissen festzuhalten. Wenn ausreichend viele konsensual die gleichen Annahmen treffen, werden aus dem vermeintlichen Wissen Fakten. Es entsteht Wahrheit.

Nachfolgend und zur Verdeutlichung habe ich einige solcher „Wahrheiten“ zusammengetragen, die entstanden sind, weil viele innerhalb einer sozialen Gemeinschaft das Gleiche annahmen: • „Die Frau brachte die Sünde in die Welt.“ • „Die Juden sind schuld an der Pest.“ • „Flüchtlinge sind Sozialschmarotzer.“ • „Langzeitarbeitslose liegen auf Kosten der Gemeinschaft auf der faulen Haut und schauen RTL II.“ • „Früher war alles besser.“

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• „Politiker machen sich selbst die Taschen voll.“ • „Der einzige Weg in eine lichte Zukunft der Menschheit ist der Weg über den Sozialismus zum Kommunismus.“ Ja, schmunzeln Sie nur. Auch Sie schleppen solche „Wahrheiten“ mit sich herum, aber Sie belächeln diese nicht, denn es sind ja Ihre Wahrheiten. Auch müssten Sie diese erst einmal als Fehleinschätzungen der Realität erkennen, was ein schwieriger Prozess sein kann. Manchmal sind solcherlei Glaubenssätze sogar nützlich, helfen sie doch, den eigenen Mikrokosmos aufzuräumen. Glaubenssätze reduzieren die Komplexität und helfen, sich auf Wesentliches zu konzentrieren. Zuweilen ist das unkritisch, denn ob z. B. die Erde eine Scheibe oder eine Kugel ist, dürfte für die Bewältigung des Alltags kaum eine Rolle spielen. Schwierig wird es aber dann, wenn a) die „Wahrheit“ fehlerhaft ist, aber als Grundlage für eine entscheidungsrelevante Prognose dient, oder b) die eigene „Wahrheit“ von jener anderer abweicht und es zu Reibungsverlusten bei der sozialen Interaktion kommt. Zwei Beispiele verdeutlichen dies; zunächst eines zu a): Als im Mittelalter in mehreren Wellen die Pest wütete, wurden Erklärungsmuster für die Ursachen gesucht. Je nach Landstrich wurden unterschiedliche gefunden, in den frühen Städten waren beispielsweise die Juden der Grund, vor allem, wenn sie aufgrund ihrer marktbeherrschenden Stellung im Kreditwesen lästig wurden. Interessanterweise wurde das konsensuale „Die Juden tragen die Schuld an der Pest“ selten hinterfragt, denn auch wenn noch das Warum beantwortet werden konnte (weil sie den Heiland töteten), blieb das Wie meist offen. Die Folge waren Judenpogrome, nicht die ersten, nicht die letzten. Unsinn wird zur Wahrheit, wenn ausreichend viele daran glauben. Ein zweites Beispiel, jetzt zu b): Ein junger Mann, der einzige Sohn seiner überfürsorglichen Helikoptermutter, wächst im festen Glauben auf, etwas ganz Besonderes zu sein, ohne unterscheiden zu lernen, für wen er etwas ganz Besonderes ist. In der Schule klappt das noch, im Studium setzt die Isolierung ein, aber im Berufsleben, in dem Integration und Kooperation elementare Anforderungen sind, scheitert er. Niemand hält ihn für besonders, allenfalls für arrogant und egozentrisch. Die Wahrheit des jungen Mannes, in seiner prägenden Phase ausgebildet, kollidiert bei der Integration in die Erwachsenenwelt in Form einer Dissonanz zwischen seinem

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Eigen- und dem Fremdbild. Eine Prognose der eigenen Karriere ist ihm schlichtweg unmöglich, weil er nicht einschätzen kann, wie andere auf ihn reagieren werden. Er hat nicht gelernt, die Wechselwirkungen zwischen ihm und der Arbeitswelt vorherzusagen. Sie glauben, Letzteres sei ein Beispiel aus der psychologischen Pathologie? Falsch! Wir alle, auch Sie, sind ein Stück weit dieser junge Mann oder ersatzweise diese junge Frau und wir alle mussten erst lernen, was dieses Muttersöhnchen vielleicht zu spät erkannt hat. Wir können uns auf die Wahrheiten, oder besser: unser Wissen, nicht verlassen. Wissen ist nicht objektiv, es ist immer eine subjektiv geprägte Interpretation.

Dieser Lehrsatz stammt aus der Welt des „Konstruktivismus“: Wir konstruieren uns unsere Wirklichkeit. Überzeugungen werden zu Fakten, Vermutungen zu Wissen. Erleichtert wird uns dies, wenn wir uns im Einklang mit unserer Umwelt, z. B. unserer sozialen Gruppe, befinden und alle die gleiche Konstruktion von Wirklichkeit mittragen. Gerne werden als Beispiele hierfür radikale Gruppen, Banden, Hooligans oder Geheimbünde zitiert: Ihre Mitglieder glauben an eine von ihnen konstruierte Wirklichkeit, die in den Augen Außenstehender zuweilen lächerlich wirkt. Aber solche Beispiele lenken ab, denn die wesentliche Erkenntnis ist, dass wir alle Elemente sozialer, wenn auch weniger radikaler Gruppen sind und wir alle uns unsere Wirklichkeit konstruieren. Selbst unsere christliche Kirche – gerne auch jede andere Religion – ist eine solche Konstruktion. Jungfrauengeburt, Wunder, Auferstehung, Fegefeuer, Himmel und Hölle, alles sind Konstruktionen, nicht beweisbar, aber als Glaubensgrundsätze manifestiert. Die Gruppenmitglieder haben keine Zweifel an ihrer Richtigkeit und wenn, ignorieren sie diese bei Entscheidungen, vielleicht weil sie sich auf die Gruppen verlassen (siehe hierzu auch das Abschn. 4.3) oder eine Ächtung durch diese befürchten. „Echtes Wissen ist gerechtfertigter wahrer Glaube“ (Musgrave 1993, S. 3). Und besser als der im März 2018 verstorbene Physiker Stephen Hawking kann ich es nicht formulieren: „Der größte Feind von Wissen ist nicht Unwissenheit, sondern die Illusion, wissend zu sein.“

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Nach all diesen Erläuterungen und Beispielen dürften sich drei Aspekte aufdrängen: 1. Individuelle Wahrheiten können gefährlich sein. 2. Wissen ist keines. Alles, was wir als Objektivität anerkennen, ist nur eine vorherrschende Meinung. 3. Wir brauchen für eine gute Alltagsprognose ein Gespür für belastbare Realität. Wie gehen wir damit um? „Default Option“: Alles anzweifeln! All das, was wir im Alltag „Wissen“ nennen, ist durchwebt von „Vermutungen“. Es ist kein Wissen, und darum ist grundsätzlich anzunehmen, dass es auch falsch sein könnte. Dies verlangt Selbsterziehung, und die Methode hat sogar einen Namen: „Fallibilismus“ (bei Interesse ausführlich hierzu: Albert 1987, S. 39). Übertragen auf unser Thema der Alltagsprognosen heißt das, unsere Glaubenssätze, Wahrheiten und „Standardeinstellungen“ immer wieder in Zweifel zu ziehen. Zuweilen heißt das auch, aus Verhaltensmustern auszubrechen, z. B. dem habituellen (gewohnheitsmäßigen) Einkaufsverhalten. Sie kaufen immer Persil? Weil es am besten wäscht? Zweifeln Sie es vor dem nächsten Einkauf an und schauen Sie bei Stiftung Warentest nach! Ist Persil wirklich die beste Wahl für Sie? Natürlich dürfen Sie nach kurzer Überlegung zu dem Schluss kommen, dass der Aufwand nicht lohnt und Sie auch weiterhin kaufen, was Sie immer kaufen. Dann aber ist unsere Entscheidung bewusst getroffen. Der Preis, den wir dann akzeptieren, ist, dass wir möglicherweise auf ein besseres Waschmittel verzichten. Und tatsächlich verzichten wir bei der täglichen Lebensführung ständig auf Optimalität und geben uns mit dem zufrieden, was sich bewährt hat und dabei zufriedenstellt. Dagegen ist definitiv nichts einzuwenden, solange wir offenbleiben und spätestens dann, wenn uns Informationen zur Verfügung stehen, die unsere Gewohnheit als selbstschädigend entlarven, bereit sind, Entscheidungen zu revidieren. Alles andere wäre Starrsinn. Aber verlassen wir das Gebiet der habituellen Entscheidungen, die auf Gewohnheit, Faulheit oder Desinteresse basieren und wenden uns einem Cluster von Entscheidungen zu, bei dem das Nichtzweifeln fahrlässig, wenn nicht gar gefährlich ist: Es sind all jene Entscheidungen, die folgenreich für unsere zukünftige Lebensführung sind. Prognosen für diese müssen immer bewusst erfolgen, und es kann nicht zu viel Arbeit sein, sich in

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diesen Lebenssituationen mit Modellen, Inputdaten und Einflussfaktoren zu beschäftigen. Die Fallgrube heißt „Allgemeinwissen“. Einflussfaktoren oder Inputdaten werden angenommen, weil sie gemeinhin als Einflussfaktoren oder Inputdaten vorausgesetzt werden. Dieser Konsens über Realität ist brandgefährlich, weil ja nirgendwo steht, welches Allgemeinwissen als verlässlich vorausgesetzt werden darf und was angezweifelt werden muss. So gilt der Kauf einer Immobilie als gute Tugend – „das weiß doch jeder“. Sie wollen ein Haus kaufen? Gemeinsam mit Ihrem Mann? Auf Pump? Zweifeln Sie daran, dass Ihr Mann treu ist, daran, dass Sie auch in fünf Jahren noch einen Job haben, zweifeln Sie an den Versprechungen der Bank und daran, dass sich die Immobilienpreise auch zukünftig so entwickeln, wie in den letzten Jahren. Wenn bei all diesen Zweifeln die Investition immer noch eine gute Idee ist, kaufen Sie. „Allgemeinwissen“ ist der harmlos ausschauende kleine Bruder von Glaubenssätzen. Normalerweise ist es unkritisch. Steht aber eine wichtige Entscheidung an und wird für diese eine Prognose erstellt, sollten wir alles hinterfragen, was wir als Erkenntnisgrundlage voraussetzen. Dann kann es sich als eine gute Idee erweisen, auf das Eigenheim vorerst zu verzichten oder als Beamter freiwillig in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Ist der Blick zurück ein Fehler? Wann immer wir uns mit Prognosen beschäftigen, schauen wir in den Karteikasten unserer Erfahrungen nach Wiederholungen, die Verlass in den „formlosen Fluß des Erlebens“ bringen (Watzlawick 2010, S. 93). Das macht ein Verkäufer, wenn er eine Vertriebsprognose erstellt, der Demoskop, wenn er die Wahlergebnisse vorhersagt, und das macht der Anleger, der einen Aktienfonds auswählt. Eine Fortschreibung der Vergangenheit in die Zukunft erscheint uns als der beste Weg, eine Prognose zu erstellen. Das ist zunächst einmal auch eine gute Idee: Der französische Mathematiker Pierre-Simo Laplace vermutete sogar, dass sich jede Zukunft errechnen ließe, wenn der Ausgangszustand (die Gegenwart) bekannt sei und alles bekannten Regeln und Gesetzen unterliege. Allerdings hat er drei Bedingungen vorausgesetzt: 1. Naturgesetzlichkeit von Ursache und Wirkung 2. Wunder sind ausgeschlossen 3. Ausnahmen sind ausgeschlossen

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Damit aber ist seine Idee des wissenschaftlichen Determinismus für fast alle Alltagsprognosen unbrauchbar, denn sobald menschliches Verhalten den Ausgang einer Sache beeinflusst, ist Naturgesetzlichkeit nicht mehr gegeben; nicht einmal Rationalität als schwächere Form darf vorausgesetzt werden. Tatsächlich gibt es keine Regeln, in welchem Maße sich die Vergangenheit in unseren Prognosen niederschlagen darf. Doch, eine: Der Erkenntnistheoretiker Karl Popper nahm eine Extremposition ein und verteufelte die Vorstellung, vergangene Wirkungszusammenhänge auf die Zukunft übertragen zu können. So verführerisch es sei, Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten (er nannte sie im Englischen „Pattern“) zu finden, so sehr verkenne dies, dass die Zukunft frei gestaltbar sei (siehe ausführlich hierzu: Popper 1965, 1973). Sein Schüler Alan Musgrave warnte hingegen davor, „Erfahrungstatsachen“ beiseite zu schieben, nur weil sie gegen vorgefasste Meinungen oder Ideen verstießen (Musgrave 1993, S. 76). Vorwissen entfalte dann die Wirkung eines Filters. Vergangenheit wirkt auf die Einschätzung der Zukunft, weil wir neben den Erlebnissen auch deren Bewertung erlernt haben.

Wir spielen Lotto wider besseres Wissen, weil auch unsere Eltern Lotto gespielt haben. Am Samstagabend der Maschine zuzuschauen, wie sie nacheinander Kugeln herausfischt, nach jeder einzelnen auf den Tippschein zu starren und sich anschließend vielleicht über drei Richtige zu freuen, ist Teil unserer Erinnerung, Teil unserer Tradition und schlägt statistische Erkenntnisse. Traditionen sind wichtig für die Gestaltung unseres Alltags. Sie geben Halt, sie verankern, sie erlauben Vertrauen in Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Sie haben auch einen ökonomischen Nutzen: Das Leben ist viel kostengünstiger, wenn das Wort des Metzgers („Ja, es ist Bio!“) etwas gilt, wenn wir dem Automechaniker, dem Arzt, dem Anwalt oder dem Chef trauen und die Prognose des Bankers („Dieser Fonds ist genau das Richtige für Ihre Altersvorsorge“) belastbar ist wie ein Stahlgerüst. Wir lernen, selbst oder durch andere, und das Erlernte wird Teil unserer Annahme über die Zukunft. Zusammenfassend hier ein paar Argumente, die für Tradition als Erkenntnisquelle sprechen: • Prognosesicherheit, insbesondere bei qualitativen Inputdaten • Integration in das soziale Umfeld • Reduktion der Kosten der Produktion eigenen Wissens

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• Fehlentscheidungen lassen sich mit dem Verweis auf Tradition leichter (selbst) rechtfertigen • Möglichkeit der Delegation von Entscheidungen, da andere über das (mindestens) gleiche Wissen verfügen und die gleichen (bewährten) Entscheidungsprozeduren beherrschen Der letzte Aspekt ist übrigens ausgesprochen interessant, bitte lesen Sie ihn noch einmal! Denken Sie an die Eheanbahnung durch die Eltern, noch heute in vielen Teilen der Welt gängig. Werden die Traditionen von allen Beteiligten akzeptiert (Modell), stehen die Einflussfaktoren des erfolgreichen Zusammenlebens fest und herrscht Offenheit über die Vorzüge und Nachteile der potenziellen Ehepartner (Inputdaten), kommt eine Hochzeit zustande. Die Ehepartner delegieren das Suchen an ihre Eltern, wenn auch nicht immer freiwillig. Fassen wir zusammen: Vergangenheit ist ein wichtiger Input für die Prognose, wenn sich die Umwelt nicht wesentlich verändert. Insbesondere bei quantitativ messbaren Trends kann eine Extrapolation sinnvoll sein, denn sie ist eine sehr günstige Möglichkeit zu prognostizieren. Die Gefahr besteht darin, Annahmen über bisher gültige Ursache-Wirkungs-Beziehungen als „Wissen“ zu nutzen und nicht zu hinterfragen. Darum reicht das Fortschreiben der Vergangenheit nie aus, um eine belastbare Prognose für eine Entscheidung zu erstellen. Immer sind Kontrollfragen zu stellen: • • • •

War die Vergangenheit eine Ausnahme? Sind die Interpretationen der Muster der Vergangenheit korrekt? Was ist in der Zukunft anders als in der Gegenwart und sind die Unterschiede wichtig für die Prognose?

Nur wenn hinreichend klar ist, dass auch zukünftig alles so laufen wird wie bisher, darf „naiv“ fortgeschrieben werden. In jedem Falle aber gilt: Was immer Sie tun, tun Sie es bewusst! Der Fehler der Induktion Eine Induktion ist, vereinfacht, der Schluss von einem einzelnen Erlebnis auf eine generelle Gesetzmäßigkeit. Die Induktion ist ein sprachliches Instrument, um einen generellen Ursache-Wirkungs-Mechanismus zu suggerieren. Versuchen wir es: In diesem Supermarkt wurde ich neulich von der Kassiererin unfreundlich behandelt. Da kann man nicht einkaufen, ohne abfällig behandelt zu werden.

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Das Erlebnis bezieht sich auf einen Einzelfall, den eine einzelne Person erlebt hat. Aber der Schluss ist die Verallgemeinerung (man, immer). Vielleicht war dieser Satz etwas plump. Also verfeinern wir ihn: In diesem Supermarkt wird man unfreundlich bedient. Ich habe das erst neulich erlebt, als ich an der Kasse unfreundlich behandelt wurde.

Die Gesetzmäßigkeit wird als Behauptung in den Raum gestellt. Es folgt das schon bekannte singuläre Beispiel, das hier aber wie ein Beweis wirkt. Jetzt hat die Induktion eine überzeugende Strahlkraft. Wir sind bereit, der Schlussfolgerung zu glauben. Tatsächlich ist diese nicht mehr als eine Hypothese, und das Einzelbeispiel hat kaum Relevanz: Ein durchschnittlicher Supermarkt in Deutschland hat täglich ca. 1500 Besucher. Es dürfte sehr wahrscheinlich sein, dass sich einige davon unfreundlich behandelt fühlen. Vermutlich können wir alle eine Geschichte dieser Art erzählen, die wir einmal selbst erlebt haben. Insofern ist das Beispiel eines der Kategorie „Selbstverständlichkeit“. Aber als Induktion entfaltet es Wirkung: Es impliziert die Prognose, in Supermarkt A schlecht bedient zu werden und die Empfehlung, in Supermarkt B einzukaufen! Aber ist die Anzahl der Unzufriedenen in Supermarkt A höher als in Supermarkt B? Woher will ich das wissen? Ich weiß nur, dass ich in Supermarkt A unfreundlich bedient wurde, und das weiß ich, weil ich dort einkaufen war. Aber ich war es nicht in Supermarkt B. Dort aber hätte mir das Gleiche passieren können. Das Einzelbeispiel und der Schluss auf eine Gesetzmäßigkeit nutzen für die Entscheidung, wo ich zukünftig einkaufen werde, wenig. Dies gilt sogar dann, wenn andere Kunden weitere Geschichten über eine unfreundliche Behandlung in Supermarkt A erzählen. Erst dann, wenn ich eine große Anzahl von Kunden befragt und einen Vergleich der Urteile über verschiedene Supermärkte zur Verfügung habe, kann ich der Einschätzung vorläufig trauen (womit wir z. B. bei Web-Vergleichsportalen wären, die später noch eine Rolle spielen werden). Darum merken wir uns als eine erste Regel: Werden Gesetzmäßigkeiten durch Beispiele nicht nur illustriert, sondern begründet, ist Vorsicht geboten!

Leider ist selbst dann, wenn wir eine Erfahrung immer und immer wieder machen, nicht sicher, dass eine Regelmäßigkeit vorliegt – die revolvierende Induktion. Hierzu ein grausames Beispiel, das auf den Philosophen

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Bertrand Russell zurückgeht: Der Bauer füttert jeden Tag seine Schweine. Am Montag, am Dienstag, am Mittwoch und so fort. Woche für Woche. Der Bauer ist aus Sicht der Schweine ein echt prima Kerl, denn er sorgt für das Fressen. Ein Schweineleben lang. Das Schwein hat niemals eine andere Erfahrung gemacht als diese und ist sich darum sicher, dass diese Erfahrung (tägliches Füttern als täglicher Einzelfall) fortgeschrieben und als sichere Datengrundlage für eine Prognose (revolvierende Induktion) verwendet werden darf. Doch dann, eines Tages, kommt der Bauer mit dem Strick und kurze Zeit später … Sie wissen schon. Hätte das arme Schwein sich doch nicht auf seine Erfahrungen verlassen. Nun, das Beispiel mutet extrem an, aber denken Sie z. B. an die Menschen, die 30 Jahre lang im Stahlkonzern zur Schicht gingen und dann die Kündigung erhielten. Wenn deren langjähriges Beschäftigungsverhältnis Prognosegrundlage für langfristig bindende Entscheidungen war, z. B. für den Kauf eines Hauses, stehen sie vor einem Problem. Die zweite Regel lautet folglich: Dass sich Ereignisse wiederholen, garantiert nicht, dass dies auch in Zukunft so sein wird.

Und gleich die dritte Regel: Einer Ereigniswiederholung dürfen wir erst dann trauen, wenn wir den Grund für die Wiederholung kennen und aus diesem ableiten können, dass die Wiederholung vernünftig ist.

Würde das Schwein beispielsweise erkennen können, dass es als Muttersau vorgesehen ist, dann dürfte es mit größerer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es jeden Tag vom Bauern gefüttert wird, jedenfalls so lange es wirft. In letzter Konsequenz dürfen wir niemals induktiv schließen, wenn wir sichere Daten für eine Prognose haben möchten. Dieser Skeptizismus ist allerdings unpraktisch, denn so bekämen wir selten eine Entscheidungsgrundlage. Selbst die Sau müsste ständig zweifeln, morgen noch zu leben und in ständiger Furcht leben. Wir unterstellen revolvierende Induktion, wenn wir einkaufen in der Gewissheit, morgen noch zu leben, wenn wir einen Arbeitsvertrag abschließen, weil wir davon ausgehen, dass der Arbeitgeber morgen nicht Insolvenz anmeldet und wenn wir ein Haus kaufen im Glauben an unser jahrzehntelanges Einkommen.

58     J. B. Kühnapfel Induktives Schließen ist eine Lebensnotwendigkeit und wir leben mit dieser „Unschärfe“.

In gewissem Sinne müssen wir also unvernünftig sein. Alan Musgrave drückte es schöner aus: „Die Vernunft mag uns zum Skeptizismus führen – aber die menschliche Natur führt uns wieder heraus“ (Musgrave 1993, S. 157). Wann dürfen wir wissen? Würden wir tatsächlich alles anzweifeln, wären Prognosen kaum möglich. Entscheidungen, selbst die banalsten, wären mühsam. Also müssen wir annehmen. Die Annahme ersetzt das Wissen, aber mit dem Unterschied, dass wir ihr – bewusst oder unbewusst – eine Wahrscheinlichkeit zuordnen. Ein simples Beispiel zur Illustration: Die Prognose „Hans wird mir beim Radwechsel helfen“ besteht bei näherem Hinsehen aus einer Reihe von Hypothesen: 1. „Hans weiß, wie ein Radwechsel funktioniert, weil ich ihn das schon habe machen sehen“ (Induktion). 2. „Hans ist bereit, die Zeit aufzuwenden, mir zu helfen“ (Vermutung). 3. „Hans hat Zeit“ (Annahme). 4. „Hans hat die Möglichkeiten, dies zu tun, ist also z. B. nicht an der Hand verletzt“ (Nebenbedingung). Hier haben wir wieder einen Strauß von Vermutungen über Ereignisse oder Gegebenheiten, die allesamt zutreffen müssen. Wir können ihnen jeweils Eintrittswahrscheinlichkeiten zuordnen und eine Gesamtwahrscheinlichkeit ausrechen, mit der Hans uns helfen wird. Das schauen wir uns noch in Abschn. 3.3.4 in Tab. 3.1 an. Klar ist: Etwas Zukünftiges kann niemals „wahr“ oder gar „real“ sein, denn es war ja noch nicht. Wir können aber Annahmen treffen, wenn wir uns bewusst sind, dass diese Annahmen Eintrittswahrscheinlichkeiten haben.

Besondere Vorsicht ist bei Annahmen über die Zukunft geboten, die von anderen Personen stammen. Der Konstruktivist Paul Watzlawick schrieb, dass jede Kommunikation eine Anweisung sei, wie die Welt zu sehen ist (Watzlawick 2010, S. 93 ff.). Wenn morgen also Ihr Nachbar über den

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unfreundlichen Supermarkt schimpft, muss das keineswegs der Wirklichkeit entsprechen und sein Rat, dort nicht mehr einzukaufen, ist wenig wert. Vielleicht ist es eine Induktion, in jedem Falle ist es seine persönliche Interpretation dessen, was er zu wissen glaubt. Es ist zu überprüfen. In der Prüfung liegt der Schlüssel zu einer besseren Entscheidung. Wissen können wir nie, und Annahme und Vermutung heißt immer auch, das Gegenteil für möglich zu halten. Die entscheidende Frage: Was dürfen wir für unsere Prognosen als sicheres Wissen unterstellen, was müssen wir infrage stellen? Es ist eine Zwickmühle: Einerseits sollen wir uns nicht auf Beobachtungen und Erfahrungen, die natürlich immer nur einen Wirklichkeitsausschnitt betreffen, verlassen, andererseits brauchen wir einen Ausgangspunkt und eine Annahme über die mögliche Zukunft, um eine Prognose erstellen und dann entscheiden zu können. Wir haben gelernt, dass alles, wirklich alles anzuzweifeln ist, aber wir ahnen auch, dass das ausgesprochen unpraktisch ist, denn es macht jede noch so banale Entscheidung aufwendig. Unschärfen sind also unausweichlich, und es dürfte auf der Hand liegen, dass wir umso weniger Unschärfe akzeptieren dürfen, je folgenreicher eine Entscheidung ist. Erinnern wir uns: Ziel ist es, eine möglichst fundierte Entscheidung zu treffen, um unsere knappen Ressourcen nicht zu verschwenden und smarter zu leben. Dafür benötigen wir eine möglichst präzise Prognose. Eine solche Prognose liefert einen Erwartungswert, oder Erwartungswertkorridor, und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit. Letztere ist ein Maß für die Berechenbarkeit einer Zukunft: Je unsicherer diese ist, desto geringer ist die Eintrittswahrscheinlichkeit. Und: Je besser wir die Gegenwart verstehen und über die Vergangenheit informiert sind (Inputdaten und Einflussfaktoren des Geschehens), desto besser können wir vorhersagen. Die Empiristen bringen Entspannung in unser Dilemma: Sie „erlauben“ Erfahrung und Vernunft als Quellen von Wissen (Musgrave 1993, S. 31). Aber immer heben sie den warnenden Zeigefinger, und das in diesem Kapitel Ausgeführte hat hoffentlich Ihren Sinn für die Unvollkommenheit unserer Erfahrungen geschärft. Wir wissen nichts, wir vermuten nur, mal mehr, mal weniger fundiert. Und das alles zahlt in den Faktor Eintrittswahrscheinlichkeit ein. Der Schlüssel ist, dass wir uns dies bei jeder Prognose bewusst machen. Dann können wir auch ermessen, wie viel Risiko unsere Entscheidung mit sich bringt.

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3.3 Die Mysterien der individuellen Entscheidung – warum wir öfter falsch liegen, als wir wahrhaben wollen Schon in Kap. 2 haben wir uns damit beschäftigt, wie wir als Individuen unsere Zukunft begreifen und zu gestalten versuchen. Diesen Blick auf das, was wir als unsere Zukunft ansehen, haben wir in den Abschn. 3.1 und 3.2 geschärft und angefangen, das Abstraktum „Zukunft“ mit dem „Ich“ zu verbinden. Jetzt gehen wir in die Tiefe, und ich verspreche, dass es spannend wird. Vor allem geht es darum, zu zeigen, dass wir nicht nur die Zukunft als stets unsichere Vorstellung und unsere Umwelt als von anderer Leute Meinung geprägtes Konstrukt ansehen müssen, sondern dass wir – oh Schock! – uns selber nicht trauen dürfen. Die folgenden Abschn. 3.3.1 bis 3.3.5 dienen einzig dem Zweck, ein paar Zacken aus unserer Krone zu brechen. Allerdings möchte ich es nicht bei der Selbstkasteiung belassen, sondern aufzeigen, wie wir unsere Alltagsprognosen und damit auch unsere Alltagsentscheidungen besser machen können. Das Abschn. 3.3.6 rundet das Paket ab und fragt danach, keineswegs ketzerisch, ob nicht ein Computer unsere Alltagsentscheidungen übernehmen sollte. Die meisten Darstellungen habe ich dem Forschungsgebiet der Verhaltensökonomie entnommen. Immerhin vier Wirtschaftsnobelpreisträger haben auf diesem Gebiet ihre Meriten verdient (Gary Becker, Vernon Smith, Daniel Kahneman und Richard Thaler). In ihren und unzähligen weiteren Arbeiten wird versucht, das menschliche Entscheidungsverhalten in seiner ganzen Komplexität zu erklären, denn Menschen entscheiden eben nicht nur rational, wie es die „Erwartungstheorie“ im Lichte der Nutzenmaximierung unterstellt, sondern auch irrational. Irrationalität ist aber keineswegs mit „dumm“ gleichzusetzen. Irrationalität kann hocheffizient sein, zwar nicht mathematisch fundiert, aber nützlich, bewährt und erfolgreich. Leider ist das „Big Picture“, das die Verhaltensökonomie liefert, noch immer eine Art Collage mehr oder minder in Zusammenhang stehender Befunde über verzerrte Wahrnehmungen und vorschnelle Entscheidungen. Ein in sich stimmiges Theoriegebäude ist noch nicht entworfen worden. Die Fragmente stellen sich wie aneinandergereihte Aha-Effekte dar, können aber auch von jedem halbwegs geschulten Verkäufer als Anleitung zur Manipulation genutzt werden. Nun, zumindest können wir eines tun: Wir können uns diese Collage anschauen, die wichtigsten Fragmente lernen und uns so gegen all die wappnen, die sie gegen uns verwenden wollen. Doch zuweilen sind wir das selbst. Dann wird es schwierig.

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3.3.1 Selbstüberschätzung und Überoptimismus als Mutter aller Verzerrungen Lassen Sie mich mit der Türe ins Haus fallen, denn die Forschungsergebnisse sind eindeutig: Wir sind schlecht darin, unsere eigenen Handlungen vorauszusagen.

Vor allem liegt das daran, dass Menschen, die ihr eigenes zukünftiges Verhalten voraussagen sollen, zu viel Gewicht auf die aktuellen Absichten bzw. Vorhaben legen. Wenn wir etwas unbedingt wollen, halten wir es für viel zu wahrscheinlich, dass wir es auch bekommen oder tun. Hierfür werden drei Gründe genannt (Poon et al. 2014): 1. Selbst-Vorhersagen unterschätzen mögliche Widerstände. 2. Hindernisse werden „diskontiert“. Je weiter sie in der Zukunft liegen, desto unwichtiger nehmen wir sie. Ihre Stärke findet in zu geringem Maße Eingang in die Prognose. 3. Auch wenn Menschen die Effekte aus 1. und 2. bekannt sind, erfolgt keine realistischere Einschätzung. Wir lernen nicht! Forschungsarbeiten zeigen unisono, dass Menschen bei Selbst-Prognosen nicht die Informationen berücksichtigen, die sie haben oder die sie bräuchten, sondern sich mehr auf ihre Eingebungen und die Stärke ihrer Intention verlassen. So überstrahlt die Stärke des Wunschs, das superschicke Auto kaufen zu wollen, die Frage, ob die Raten für den Kredit in drei Jahren auch noch bezahlt werden können. Wir lassen zu, dass unsere nüchterne Einschätzung der Zukunft von unseren Trieben (Wünschen, Ängsten) verzerrt wird.

Diese Verzerrung geht oftmals so weit, dass für die Prognose relevante Aspekte einen Filter passieren und aussortiert werden, weil sie unbequem sind. Umgangssprachlich nennen wir das „selektive Wahrnehmung“, aber es bleibt ein Selbstbetrug, den wir im Nachhinein virtuos verteidigen; jedenfalls dann, wenn sich unsere Entscheidung als falsch herausstellte. Das ist dann eine „selbstwertdienliche Verzeihung“, und in der Regel

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sind ­angeblich irgendwelche äußere Umstände schuld. Das Problem ist, die Wiederholung sei gestattet: Wir lernen nicht aus unseren Fehlern! Selbstüberschätzung Bei Selbstüberschätzung denken wir unweigerlich an einen selbstverliebten Snob, der sich selbst für den Größten hält. Dieses Stereotyp repräsentiert auch die erste Form der Selbstüberschätzung: Wir neigen dazu, unsere eigenen Fähigkeiten zu überschätzen.

Wir überschätzen sowohl unsere Fähigkeiten, zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden, wie auch ihre Passgenauigkeit: Welche Fähigkeiten werden zukünftig benötigt? Und hier sind wir gerne optimistisch, und zwar umso mehr, je abstrakter die Zukunft ist, die wir uns vorstellen. Unsicherheit führt hier nicht etwa zu Demut, sondern zu Übermut. Es schließt sich nahtlos die zweite Form der Selbstüberschätzung an: Wir neigen dazu, unseren Einfluss auf die Zukunft zu überschätzen.

Für eine Prognose benötigen wir ein Modell, Kenntnis der Einflussfaktoren sowie Inputdaten. Eine wichtige Einschätzung ist jeweils, in welchem Maße wir selbst diese Faktoren beeinflussen können, oder – die gleiche Frage aus etwas anderer Sicht gestellt – welchen Aufwand es uns kosten wird, um einen Faktor zu beeinflussen. So haben wir unseren Todeszeitpunkt nicht in der Hand, egal, wie viel Sport wir treiben und wie asketisch wir leben. Wir haben etwas mehr Einfluss auf die Gestaltung des Arbeitsumfelds im neuen Job, noch mehr vielleicht auf die Entwicklung unserer Kinder, aber schon hier verfängt die Selbstüberschätzung, denn tatsächlich spielen – je nach Lebensalter – Einflussfaktoren eine große Rolle, die Eltern nicht in der Hand haben. Überoptimismus Motivationsgurus werden in Überoptimismus kein Problem sehen: „Gehe optimistisch an die Sache heran und deine Erfolgsaussichten werden größer sein, als wärest du realistisch gewesen“. Solche Sprüche mögen tatsächlich anspornen und vielleicht führen sie zu besseren Ergebnissen. Tatsächlich ist die Willenskraft ein starker Treiber:

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Je stärker die Absicht, etwas erreichen zu wollen, desto wahrscheinlicher ist, dass es auch passiert (Ajzen 1991).

Aber es gibt Grenzen: Ein 50-Jähriger wird keine Goldmedaille mehr im 100-Meter-Sprint gewinnen. Seine diesbezügliche Prognose „Ich schaffe das!“ würde einige wesentliche biologische Fakten ignorieren und all die Zeit, die er nun verwendet, um zu trainieren, wird vergebens sein. Der Nutzen einer realistischen Einschätzung der Zukunft ist klar: ressourcenoptimale Entscheidungen, nützliche Prioritäten, verlässliche Urteile über Handlungsoptionen. Die gute Nachricht ist, dass das Phänomen des Überoptimismus (engl.: „desirability bias“) recht gut erforscht ist (siehe z. B. Amor und Taylor 1998; Krizan und Windschitl 2007). So lassen sich die Aspekte, in denen sich Überoptimismus ausdrückt, differenzieren: • Wir unterschätzen die Zeit, die es braucht, um eine Aufgabe zu lösen (Buehler et al. 2010), • wir unterschätzen zukünftige Einnahmen (Peetz und Buehler 2009), • wir überschätzen zukünftige Einsparungen (Koehler et al. 2011) und • wir unterschätzen die Hindernisse, die uns im Weg sind. Menschen machen optimistische Vorhersagen, weil sie sich ein plausibles, günstig erscheinendes Bild der Zukunft vorstellen wollen und daran glauben. Sie verwechseln Vorstellung und Prognose und idealisieren, schematisieren, übersimplifizieren und berücksichtigen nicht die vielen, vielen alternativen Optionen (Buehler et al. 2010; Kahneman und Lovallo 1993). Nun fällt es uns aber recht leicht, uns eine „schöne“ Zukunft vorzustellen, wenn wir alles Störende ausklammern. Die Folge sind unvollständige Prognosen: Wenn wir uns etwas einfach vorstellen können, tun wir so, als sei das Gewünschte das Ergebnis einer Prognose.

Die Vorstellung, im superschicken Cabrio durch die Stadt zu fahren und von anderen dafür bewundert zu werden, ersetzt die prognostische Analyse, ob der Kauf dieses Wagens sinnvoll ist oder nicht. Und wenn sich zu dieser Vorstellung noch der unbedingte Willen (Gier) gesellt, das Auto fahren zu wollen, ist alle Objektivität hinfällig. Die Stärke der Absicht macht eine

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­ rognose optimistischer. Sie ist damit kein verlässlicher Prädiktor, sondern P verfälscht (Ajzen und Fishbein 1974). Menschen neigen dazu, zu verkennen, inwieweit sie die zukünftige Entwicklung unter eigener Kontrolle haben. Ferner überschätzen sie ihre Absicht, ein Ziel zu erreichen, nur weil sie es jetzt gerade wollen. Ihre Selbst-Prognose übergewichtet die Stärke ihres Wollens und unterschätzt Faktoren, die die Umsetzung der Vorhaben beeinflussen (Koehler und Poon 2006). Ziele und Wünsche der Gegenwart übersteuern Selbst-Vorhersagen (Helzer und Dunning 2012). Die Willensstärke wird zum Prädiktor. Wenn wir etwas unbedingt wollen, tun wir so, als sei es eine Prognose.

Doch sind Prognosen, die durch Gier oder die Einfachheit der Vorstellungen verzerrt wurden, fragile Vorhersagen. Solche Selbst-Prognosen scheitern schnell, wenn sich nach der Entscheidung einer Handlung Ernüchterung durch Erkenntnis einstellt, z. B. durch Folgendes (Poon et al. 2014, S. 209): • Unvorhergesehene Schwierigkeiten einer Aufgabe (Hindernisse) • Fehlende, aber erforderliche Ressourcen, die als „nicht erforderlich“, „nicht so wichtig“ oder „wird schon gut gehen“ abgetan werden • Unterbrechungen, vorhersehbare und nicht vorhersehbare • Überschätzung der Triebkraft der gegenwärtigen Intention • Konkurrierende andere Wünsche und Vorhaben Ein Beispiel: Sie träumen davon, sich einen Oldtimer anzuschaffen, vielleicht einen Citroen DS Pallas, weil er für Sie, als Sie noch jung waren, der Inbegriff von extraordinärem Luxus und Individualität war. Ihre implizite Prognose ist, dass wenn Sie sich diesen Oldtimer leisten, Sie all die Gefühle Ihrer Jugend erleben werden. Sie stellen sich lässig am Steuer vor (einfache Vorstellung) und gieren nach dem Wagen. Sie wollen ihn unbedingt. Und Sie erleben die Ernüchterung, wenn Sie ihn besitzen: Reparaturanfällig, der TÜV nörgelt, Sie haben kaum Zeit, sich um den Citroen zu kümmern und ärgern sich auch ein wenig über die Kosten, denn für das, was Sie monatlich aufwenden müssen, hätten Sie sich auch ein opulentes modernes Fahrzeug leisten können. Das war viel auf einmal, und ich habe bewusst immer wieder Quellen wissenschaftlicher Forschung angegeben, weil ich mir darüber bewusst bin, dass Sie mir nicht anstandslos glauben, denn wir alle sähen uns gerne in

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besserem Licht. Niemand sieht seine Unvollkommenheiten gerne ein. Aber bleiben wir nüchtern. Warum glauben 93 % der amerikanischen Führerscheinbesitzer, besser als der Median aller Autofahrer zu fahren (Svenson 1981)? Auch Kahneman bezeichnet „Überheblichkeit“ in seinem dringend empfohlenen Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ als die bedeutendste der kognitiven Verzerrungen (Kahneman 2016). Die Selbstüberschätzung gibt den anderen kognitiven Verzerrungen „Zähne“, denn der übermäßige Glaube an uns selbst und unser Urteil macht uns anfällig für Voreingenommenheit und Ignoranz unserer Fehler. Selbstvertrauen ist gut, zu viel davon ist schlecht. Vermutlich gibt es einen Korridor, die „Goldilocks-Vertrauenszone“, in der individuelle Überzeugungen und die Realität zusammentreffen, irgendwo zwischen den gefährlichen Klippen der Selbstüberschätzung und dem Treibsand der Unterwürfigkeit. Aber dieser Korridor ist schwer zu finden. „Es ist außergewöhnlich selten, in der eigenen Zuversicht gut kalibriert zu sein“ (Moore 2018).

Sie brauchen noch mehr Input, um an sich selbst zu zweifeln? Van den Steen hat viel über den „rationalen Überoptimismus“ geforscht (Van den Steen 2004): Er kommt zu dem Schluss, dass • sich mehr als 50 % der Bevölkerung für bessere Entscheider halten als der Median, • Entscheider Erfolg viel zu häufig ihren eigenen Attributen zuschreiben und viel zu wenig dem „Glück“, • aber exogene Faktoren verantwortlich für ihren Misserfolg halten, spezifische oder unspezifische („Pech“). • Entscheider überschätzen die Genauigkeit ihrer Schätzungen, • ihren Einfluss auf die Ergebnisse und • überschätzen Erfolgschancen, unterschätzen aber Misserfolgsrisiken. Wie können wir diesem, bei dem subjektive Wahrnehmung und objektive Wirklichkeit gleichgesetzt werden, entgehen? Wie löschen wir diesen blinden Fleck der eigenen Voreingenommenheit? Es ist das Bewusstsein, dass wir nicht wissen, was wir glauben zu wissen, sondern es nur annehmen. Wenn wir „Wissen“ und „Wahrheit“ aus unserem Bewusstsein streichen und stattdessen durch „Vermutung“ und „Annahme“ ersetzen, gehen wir auch bewusst mit Überoptimismus um. Es ist eine ständige Prüfschleife, ein

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s­tändiges sich selbst Hinterfragen, das sich gerade bei Prognosen für folgenreiche Entscheidungen lohnt. Inkompetenz Inkompetenz ist nicht zwingend mit Selbstüberschätzung verbunden. Aber es scheint mir eine Art verwandtschaftliche Beziehung zwischen diesen beiden Persönlichkeitsmerkmalen zu geben. Als Inkompetenz verstehe ich hier ignorantes Nichtwissen. Ignorant, weil mit Inkompetenz die Weigerung einhergeht, das Nichtwissen zu akzeptieren und abzustellen. Die Forschungsergebnisse bezüglich des Einflusses von Inkompetenz auf Vorhersagen sind für unsere Zwecke äußerst interessant (Krueger und Dunning 1999). Die wenig überraschende Erkenntnis ist: Die eigene Inkompetenz nicht zu erkennen, führt zu schlechteren Prognosen.

Die Ursachen sind vielfältig, aber abgesehen von pathologischen Fällen gestörter Realitätswahrnehmung ist es in der Regel das Unvermögen, Wirklichkeit von Vermutung zu unterscheiden. Sie haben das Abschn. 3.2 gelesen und werden hier in Zukunft in weniger Fallen tappen. Das Problem verschärft sich aber noch: Inkompetenz führt nicht nur zu schlechteren Prognoseleistungen, sie führt auch dazu, dass die Menschen nicht erkennen (können oder wollen), dass sie darin schlechter sind als andere. Sie werden den gleichen Fehler immer wieder machen! Dafür nennen Krueger und Dunning Gründe: • Wir haben nicht gelernt, negatives Feedback konstruktiv zu internalisieren. • Auch wenn negatives Feedback akzeptiert wird, heißt das noch nicht, dass auch die Ursache verstanden wurde. Aber nur dann wäre ein Lerneffekt möglich. • Manche Informationen, die helfen würden, die Selbsteinschätzung zu verbessern, werden nicht als solche erkannt. Sie werden dann beispielsweise als „Zufälle“ oder außerordentliche, aber unbeeinflussbare und einmalige Ereignisse abgetan. • Inkompetente tun sich schwer, aus dem Vergleich ihres Verhaltens mit dem der sozialen Gruppe sinnvolle Schlüsse zu ziehen und zu lernen. Was genau das Lernen stört, ist unklar, aber der Zusammenhang zwischen Inkompetenz und Unfähigkeit zur Reflexion mit dem Umfeld ist ­signifikant.

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Gerade der letzte Punkt ist von Bedeutung. Wir alle sind auf bestimmten Gebieten inkompetent, und nur allzu oft ist uns das nicht bewusst. Mangelhafte Prognoseergebnisse, spätestens aber die Folgen schlechter Entscheidungen lassen dann eine Autokorrektur anlaufen. Aber schon vorab kann die Beobachtung der sozialen Gruppe helfen, die Tragfähigkeit von Annahmen über die Zukunft und die Qualität der Zutaten einer Prognose (Modell, Inputdaten und Einflussfaktoren) zu überprüfen. Wenn alle um Sie herum Lotto für rausgeschmissenes Geld halten, Sie aber spielen wollen, sollte Ihnen die Abweichung Ihres geplanten Verhaltens von dem der Gruppe auffallen. Das heißt nicht, dass Sie nicht spielen dürfen; es heißt aber, dass Sie Ihre Entscheidung vor dem Hintergrund Ihres Nonkonformismus überprüfen und bewusst fällen. Nonkonformismus zu erkennen hilft, das Risiko einer Entscheidung zu bewerten. Anders zu sein, anders zu entscheiden als andere ist ja nichts per se Schlechtes: Ein Start-up-Unternehmer ist immer ein Nonkonformist, ein Forscher kann einer sein, ein mutiger Anleger, der in Blechspielzeug oder tibetanische Blumenvasen investiert, ist ebenfalls einer. Die Andersartigkeit birgt die Chance auf außergewöhnlichen Erfolg. Aber Inkompetente sind Nonkonformisten aus Dummheit. Sie können keine Regeln und Muster aus dem Verhalten anderer ableiten, sie lernen schlechter, wie gute Entscheidungen getroffen und präzisere Vorhersagen erstellt werden. Am Rande: Krueger und Dunning haben auch nachweisen können, dass Überkompetente ihre Fähigkeiten systematisch unterschätzen. Auch das ist eine Verschwendung, aber irgendwie klingt diese Verzerrung sympathischer, oder? Selbstkenntnis verbessert Prognosen für Alltagsentscheidungen Der oben bereits genannte Forscher Dunning wies nicht nur nach, dass Selbstüberschätzung zu schlechteren, sondern auch, dass Selbstkenntnis zu besseren Prognosen führt (Epley und Dunning, 2006 sowie von Osberg und Shrauger 1986, S. 1053). Das ist nicht das Gleiche, auch wenn es so scheint. Er fand noch mehr heraus: Er maß die Qualität von Verhaltensvorhersagen und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Andere können das eigene Verhalten besser vorhersagen als man selbst.

Die Bedingungen, unter denen das so ist, sind erstaunlich leicht zu erfüllen: So ist nicht einmal eine intime Bekanntschaft mit demjenigen erforderlich, der das eigene Verhalten vorhersagen soll. Es reicht aus, wenn dieser

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das soziale Umfeld und die grundsätzlichen soziodemografischen Merkmale kennt, also Alter, Bildung, Interessen, Lebensführung usw. Ein Nachbar z. B. wäre so jemand. Und was bedeutet diese Erkenntnis? Es bedeutet, dass man in Lebenssituationen, in denen Entscheidungen zu treffen sind, deren Umsetzung von persönlichem Verhalten abhängig ist, mehr zuverlässige Berater in seinem Umfeld findet, als man glaubt. Meinen Cousin oder einen Freund zu fragen, ob diese es für wahrscheinlich halten, dass ich auch nach einer Saison noch Spaß an dem edlen Cabrio habe, hilft mehr, als meinem Trieb nachzugeben und meine Prognose durch Gier verzerren zu lassen. Umgekehrt funktioniert es übrigens auch: Sie können das Verhalten anderer in Ihrem sozialen Umfeld besser vorhersagen, als die meisten dieser Personen selbst. Der sich aus diesen Forschungsergebnissen ergebende Rat wäre also: Wenn das eigene Verhalten zu prognostizieren ist, sollten Personen des sozialen Umfelds um ihre Einschätzung gebeten werden: „Wie werde ich mich unter diesen oder jenen Umständen verhalten?“

Das ist aber keine Aufforderung, die Entscheidung zu delegieren! Schließlich sind ausschließlich wir selbst für unsere Entscheidungen verantwortlich, nicht die anderen. Aber eine Fremdeinschätzung hilft! Sie ist ein Baustein der Prognose. Aber der wichtigste bleibt natürlich unsere eigene Einschätzung. Dazu ist hilfreich, sich mehr mit sich selbst zu beschäftigen. Je mehr Informationen wir über uns selbst haben, desto besser wird die Prognose unseres zukünftigen Verhaltens.

Welche Informationen benötigen wir über uns? Es sind solche Informationen, die uns helfen einzuschätzen, ob die Folgen einer Entscheidung unser Leben besser oder schlechter machen. Mehr Zufriedenheit mit sich und seinem Leben ist ein Primärziel, und ich werde in Abschn. 5.3.3, in dem es um Glücksmanagement geht, noch ausführlich darauf eingehen. Dieses Ziel zu erreichen, gelingt aber nur, wenn uns bewusst ist, was uns zufrieden macht. Das ist der Ausgangspunkt unserer Präferenzstruktur. Wenn wir sie im Blick haben, können wir für alle Lebensbereiche ableiten, welche Kompromisse zu welchen Kosten akzeptabel sind. Fehlt diese Selbstkenntnis, wissen Menschen

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also nicht, was sie wollen, sind ihre Entscheidungen viel anfälliger für Einlassungen Dritter, für Herdenverhalten und für M ­ anipulationen. Bleiben wir also realistisch. Versuchen wir, unsere Selbstüberschätzung und unseren Überoptimismus im Zaum zu halten, indem wir uns von Freunden beraten lassen und uns Mühe geben, uns selbst besser kennenzulernen.

3.3.2 Die selbsterfüllende und die selbstzerstörende Prophezeiung An dieser Stelle sollen zwei Mechanismen angesprochen werden, die nichts anderes sind als eine voreilige Mustererkennung und das Ignorieren des dritten Ratschlags zur Versachlichung von Prognoseproblemen: die selbsterfüllende und die selbstzerstörende Prophezeiung. Es ist nicht leicht, dieses Thema richtig einzuordnen: Selbsterfüllende Prophezeiungen sind keine Prognosen. Es sind vielmehr Triebkräfte, die als Folge einer Prognose auftreten. Der Wirkungsmechanismus geht aber noch einen Schritt weiter: Der Wunsch, dass eine bestimmte Zukunft eintrifft, also Hoffnung, erzeugt eine Prognose. Fangen wir vorne an: Erwartungen entspringen dem Wunsch nach Zukunftssicherheit. Wir nennen das auch „Antizipationsbedürfnis“ (Ludwig 1991, S. 38 ff.). Unsere Erwartungen geben uns Halt. Sie sind wie Leitplanken auf einer breiten Straße: Wir können ein wenig schlingern, aber die grobe Richtung ist bekannt. Auf alles muss man nicht mehr vorbereitet sein. Erwartungen werden nicht „erfunden“: Sie entwickeln sich aus Erfahrungen mit ähnlichen Situationen, unabhängig davon, ob es sich um eigene Erfahrungen oder solche aus zweiter Hand handelt. Dabei werden Erfahrungslücken durch „plausible Fantasie“ ersetzt, was in der Selbstwahrnehmung keineswegs klar sein muss. Überhaupt gehen wir mit der Prüfung der Anwendbarkeit von Erfahrungsmustern recht freizügig um, etwas, was uns in Abschn. 3.3.5, in dem es um voreilige Mustererkennung geht, noch begegnen wird. Auf diesen Erwartungen fußt nun die selbsterfüllende Prophezeiung oder ihre hässliche Schwester, die selbstzerstörende Prophezeiung. Der Altvater der Erkenntnistheorie, Karl Popper, hielt diese beiden Mechanismen für eine ganz wesentliche Ursache fehlerhafter Prognosen. Er schreibt sinngemäß (Popper 1957):

70     J. B. Kühnapfel Wir trachten danach, unser Handeln an unseren Prognosen auszurichten.

Erwartungen sind keinesfalls Prognosen, auch wenn sie sich zuweilen so anfühlen. Allerdings entwickelt sie eine Eigendynamik: Erwartungen werden treibender Einflussfaktor auf Handlungen bzw. auf Vermeidung. Sehr schön lässt sich dies in dem Drama „Andorra“ von Max Frisch nachvollziehen, in dem ein Vater seinen unehelichen Sohn Andrin aus Scham als jüdisches Pflegekind ausgibt. Die Dorfbewohner hegen die altbekannten Vorurteile gegen einen Juden, aber selbst, als sie die Wahrheit erfahren, halten sie an ihnen fest und glauben in Andris Verhalten „jüdisches Gebaren“ zu erkennen. Die Erwartungen bestimmen die Mustererkennung und werden zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Aber was ist nun eine selbsterfüllende Prophezeiung genau? Ludwig schreibt (Ludwig 1991, S. 51): „Eine sich selbst erfüllende Voraussage ist eine Voraussage, die ihre eigene Erfüllung selbst bedingt.“ Ohne die Prognose hätte es das Ergebnis nicht gegeben.

Die Strukturmerkmale einer selbsterfüllenden Prophezeiung sind: 1. Die Stärke des Einflusses der Voraussage auf das Ereignis 2. Die Art des Ereignisses (Situation, Sachverhalt, Person, Zustand) 3. Der zeitliche Abstand zwischen Voraussage und Ereignis Als Voraussetzungen einer selbsterfüllenden Prophezeiung lassen sich finden: • Erfüllbarkeit der Voraussage • Objektive Kontrollierbarkeit des Ereignisses • Ein messbarer zeitlicher Abstand und damit die Abfolge, also erst die Voraussage, dann das Ergebnis • Die Involviertheit des Voraussagenden; er muss am Ereignis interessiert sein Nun habe ich ständig von der selbsterfüllenden, aber kaum von der selbstzerstörenden Prophezeiung geschrieben. Der Mechanismus ist exakt der gleiche, nur ist hier die Erwartung das Scheitern. Denn wie sangen die

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Deutschrocker „Grobschnitt“ 1979? „Du schaffst das nicht, du kannst das nicht, lass das sein!“ Gerade in Situationen, in denen wir unsicher sind und unsere Ängste dominieren, wirkt eine solche bewusst destruktive Vorhersage wie ein Schwert, das uns den Mut abschneidet.

3.3.3 Heuristiken und heuristische Verzerrungen Sie kennen bereits ein Hauptproblem wichtiger Alltagsentscheidungen: Wir nehmen uns zu wenig Zeit für die Prognose. Nicht immer ist dies ein lässliches Versäumnis; oft ist es die Folge einer bewussten oder unbewussten Abwägung, welchen Aufwand eine Prognose kosten und welches Risiko eine suboptimale Entscheidung mit sich bringen würde. Denken Sie an das Waschmittelbeispiel aus Abschn. 3.2: Es wäre sehr mühsam, jedes Mal darüber nachzudenken, ob Persil, dass Sie immer kaufen, auch beim nächsten Einkauf die richtige Wahl ist. Wir vertrauen auf unsere Erfahrung und sparen uns den Aufwand. Hier kommen Heuristiken ins Spiel: Heuristiken sind Faustregeln, die uns helfen, unbewusst und schnell Entscheidungen zu treffen, wenn wir zu wenige Informationen haben oder die Zeit drängt.

Es sind nützliche mentale „Shortcuts“, die unser Gehirn leistet. Sie helfen uns, Alltagsentscheidungen schnell und unkompliziert zu treffen. Wir ersparen uns das Nachgrübeln, das Abwägen, das Einschätzen und lassen Platz für die wirklich wichtigen Aufgaben, die „großen“ Entscheidungen. Natürlich bringen solche Abkürzungen Unschärfen mit sich. Doch bei den kleinen Entscheidungen des Alltags fallen diese nicht ins Gewicht. Die Folgen von Fehlern wirken sich nicht groß aus und beim nächsten Mal machen wir es eben besser. Anders ist es zu beurteilen, wenn Entscheidungen anstehen, die weitreichende Folgen haben. Schon bei der Anschaffung eines langlebigen technischen Produkts, etwa dem Kauf einer Waschmaschine oder eines Fernsehers, aber erst recht bei Entscheidungen, die den weiteren Lebensweg bestimmen (Partnerwahl, Altersvorsorge, Erziehung, Schulwahl usw.), wären Abkürzungen fatal. Ohne eine bewusste Prognose wären die Entscheidungen zwar kostengünstig, aber spontan. Die Wissenschaft spricht hier auch von einem „Effort-Accuracy Trade-Off“: Wir ersetzen Anstrengung (und damit

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genauere Prognosen und damit vermeintlich bessere Entscheidungen) mit Ungenauigkeit (also weniger Aufwand und schnellere Entscheidung). Leider ist es nicht so, dass wir, vor eine wichtige Wahl gestellt, uns zwischen einer bewussten Entscheidung und einer Heuristik entscheiden könnten. Nein, Heuristiken sind bei unseren Kognitionsprozessen immer die erste Wahl. Es ist ein Automatismus: Unser Gehirn geht stets den bequemsten Weg und wird auch bei hochkomplexen, weitreichenden Entscheidungen eine Heuristik vorschlagen. Faule und dumme Menschen werden sich damit begnügen.

Heuristiken sind bei aller Nützlichkeit aber keine genialen Entscheidungsabkürzungsmechanismen. Es sind Prozesse, die unbewusst ablaufen und von Triggern beeinflusst werden, die wir nicht steuern können. Hieraus entstehen heuristische Verzerrungen. Darum gilt: Ist eine anstehende Entscheidung folgenreich, so muss auch die zugrunde liegende Prognose sorgfältig erstellt werden. Nur das bewusste Nachdenken über Modell, Inputdaten und Einflussfaktoren sichert eine Prognose so gut es eben geht ab – Unsicherheiten bleiben dann noch genug übrig, denn die Zukunft ist immer ungewiss. Die Entscheidung sollte dann die Prognose berücksichtigen und bewusst erfolgen. Mit dem Problem der heuristischen Verzerrungen haben sich Daniel Kahneman und Amos Tversky und mit und nach Ihnen viele Verhaltensforscher wie Gerd Gigerenzer oder Ulrich Fehr beschäftigt (Kahneman und Tversky 1974; Kahneman 2016; Gigerenzer 2014). Aus diesen und vielen weiteren Quellen habe ich nachfolgend ein „Best of“ der wichtigsten Fehlerquellen bei der Anwendung von Heuristiken zusammengestellt. Dies sollte Sie davon überzeugen, für wichtige Entscheidungen nicht auf sorgfältige, bewusste Prognosen zu verzichten. Vielleicht vermitteln Ihnen die Darstellungen auch ein Gefühl dafür, welchen Preis Sie bezahlen, wenn Sie wichtige Prognosen und Entscheidungen durch Faustregeln ersetzen. Repräsentativität Wir halten Ereignisse für umso wahrscheinlicher, je mehr sie Situationen gleichen, die uns bekannt vorkommen. Sie können die Begriffe „Ereignisse“ und „Situationen“ auch durch „Umweltbedingungen“, „Erlebnisse“ oder „Zustände“ ersetzen. Das Prinzip ist: Je vertrauter uns etwas ist, desto mehr fühlen wir uns damit verbunden und das gilt eben auch für Ereignisse.

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Um diesen Effekt zu demonstrieren, wird in Verhaltensstudien eine vertraute Situation erzeugt oder beschrieben und dann eine Entscheidung abverlangt. Es lässt sich dann regelmäßig zeigen, dass die Entscheidung stark von der Bekanntheit dieser Situation beeinflusst wird, aber nicht von rationalen Überlegungen (Kahneman und Tversky 1974; Kahneman und Frederick 2001). Ein Beispiel, und ich bitte Sie, sich in die zwei Situationen, die ich Ihnen jetzt schildere, hineinzuversetzen: 1. Sie, 62 Jahre alt, sitzen in einem Behandlungszimmer der Berliner Charité und warten auf den Arzt, einen Internisten. Dieser kommt. Ein Herr, Ende 50, schlank, strenges Gesicht, Brille, eine Akte unter dem Arm. Er spricht mit Ihnen in knappen, präzisen Sätzen und führt anschließend einige Untersuchungen durch, für die er komplex aussehende Geräte mit Monitoren und angeschlossenen Druckern verwendet. Anschließend teilt er Ihnen mit, dass er keine konkreten Anhaltspunkte für eine negative Diagnose finden könne, schlägt aber eine Darmspiegelung vor, „um sicher zu gehen“. 2. Sie, 62 Jahre, sitzen in einem Behandlungszimmer einer Landarztpraxis. Der Arzt kommt. Ein Herr, Ende 50, freundliches Auftreten. Er plaudert mit Ihnen über das Wetter, während er mit gekreuzten Fingern Ihren Brustraum abklopft, auf den Bauch drückt usw. Er betont schließlich, keinen Befund zu haben, schlägt aber dennoch eine Darmspiegelung vor, „um sicher zu gehen“. Da Sie sicher wissen, worauf ich hinaus will, wäre nun die Frage wenig sinnvoll, auf wessen Rat hin Sie sich bereitwilliger der unangenehmen Prozedur unterwerfen würden: Es ist wahrscheinlicher, dass Sie der Empfehlung des anscheinend professionelleren Arztes folgen, obwohl die medizinische Notwendigkeit in beiden Fällen exakt die gleiche ist und in keinem der Fälle ein Anfangsverdacht die Darmspiegelung dringend erforderlich gemacht hätte. Doch der erste Arzt und das Ambiente repräsentieren das, was Sie sich unter einem „Halbgott in Weiß“ vorstellen. Sein Rat wird als Anordnung verstanden und nicht hinterfragt. Er wirkt verbindlicher, autoritärer. Wichtig ist hier auch der Grad der Repräsentativität. Je mehr, um bei obigem Beispiel zu bleiben, der Arzt unserem stereotypischen Bild entspricht (für die älteren Leser: Prof. Dr. Brinkmann und für die jüngeren Leser: Dr. House), desto repräsentativer ist er, desto eher glauben wir seiner Prognose und desto eher folgen wir seinen Empfehlungen. Der Grad der Repräsentativität bestimmt die gefühlte Sicherheit der heuristischen Beurteilung (siehe hierzu auch Kahneman und Tversky 1973).

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Die Repräsentativität einer Situation bestimmt unsere Entscheidung. Darum hat auch der Banker einen Anzug an, tritt der Versicherungsvertreter devot und der Handy-Verkäufer technikversiert auf. Repräsentativität und Überzeugungskraft korrelieren. Sie ersetzen dann (teilweise) die Prognose.

Wie immer bei Heuristiken kann dies sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil sein. Der Vorteil ist die Einsparung von Zeit und Anstrengung, der Nachteil ist die mindere Akkuratesse. Verfügbarkeit Auch bei dieser Art von Heuristik ist das Erfahrungswissen wichtig (Schwarz et al. 1991; Kahneman und Tversky 1974). Doch anstelle der Repräsentativität bestimmt die Verfügbarkeit von Beispielen, für wie wahrscheinlich wir ein Ereignis halten. Wir schätzen einen Zusammenhang als umso wahrscheinlicher ein, je leichter uns Beispiele dafür einfallen.

Auch hierfür gibt es zahlreiche immer wieder angeführte Beispiele, etwa die Frage, welches Wetter „früher“ an Weihnachten war. Das Ergebnis mag erstaunen: Es lag auch nicht häufiger Schnee als heutzutage. Aber wir haben so unzählig viele Beispiele im Hinterkopf, dass wir weiße Weihnachten in unserer Kindheit für den Normalfall halten. Woher diese Beispiele kommen? Aus dem Fernseher zum Beispiel, aus den Texten unserer Weihnachtslieder und aus den Geschichten, die wir uns erzählen. Sie entstammen aber nicht den Wetteraufzeichnungen unserer Vergangenheit, die haben wir nämlich nicht zur Verfügung. Auch die Aktualität des Beispiels, das wir dann verfügbar haben, ist wichtig. Im Sommer werden Sie die Wahrscheinlichkeit weißer Weihnachten geringer einschätzen als in den ersten drei Dezemberwochen, weil Sie im Sommer keine Weihnachtsfilme zu sehen bekommen. Es liegen keine aktuellen Beispiele vor. Wir ziehen unsere Schlüsse also eher aus aktuell verfügbaren Informationen, ohne nach der statistischen Wahrscheinlichkeit zu fragen Am Rande der Beleg, falls Sie neugierig sind: Die Wahrscheinlichkeit weißer Weihnacht, also eine Schneedecke von mindestens einem Zentimeter an

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den Feiertagen, beträgt in Düsseldorf und Frankfurt 10 %, in Berlin 20 % und in München immerhin 40 %. Aber das hat sich in den letzten 200 Jahren nicht wesentlich verändert (Deutscher Wetterdienst). Zwei Gefahren gibt es bei der Verfügbarkeitsheuristik: Die erste ist die Gefahr der Manipulation. Die Beispiele, an die wir uns erinnern und die analog für ein Ereignis stehen, müssen nicht von uns kommen. Wie die vielen Beispiele weißer Weihnacht in unzähligen Fernsehfilmen können sie uns auch erzählt werden und es reicht aus, wenn wir uns diffus und unkonkret an sie erinnern. Prüfen Sie es nach: Vermutlich stimmen Sie mir zu, dass weiße Weihnacht oft im Fernseher gezeigt und thematisiert wird. Aber wie viele Filme fallen Ihnen jetzt ein? Vermutlich nur wenige, wenn überhaupt. Die unspezifische Erinnerung reicht aus, um Verzerrungen durch eine Verfügbarkeitsheuristik zu ermöglichen. Diesen Effekt macht sich auch die Werbung zunutze: Die sogenannte Testimonial-gestützte Werbung serviert uns Beispiele für Erfolgsgeschichten: „Produkt verwendet … glücklich/erfolgreich/schön geworden“. Der alles überstrahlende Espressotrinker, die trotz Menstruation herumhüpfende Schönheit oder der Siegertyp, um den sich die Frauen prügeln, weil er das neue Deo mit Zimt-Maracuja-Frikadellen-Duft benutzt. Solche Beispiele memorieren wir nicht konkret, aber solange im Unterbewusstsein beim Betrachten eines Produktes ein Erfolgsbeispiel verfügbar ist, steigt die Kaufwahrscheinlichkeit, und zwar umso mehr, je leichter das Beispiel erinnert werden kann. Ein anderes, ebenso einleuchtendes Beispiel: Vor kurzem diskutierte ich mit meinen Studentinnen und Studenten das Thema „IT-Start-ups“. Einig waren sich alle, dass eine Gründung eines solchen Unternehmens im Silicon Valley die Erfolgschancen signifikant erhöhe, wie an Beispielen wie Google, Amazon, Oracle, Facebook, ebay, Intel, Dell, Cisco oder Apple leicht zu sehen sei. Aber nur, weil uns leicht Beispiele erfolgreicher Silicon Valley-Unternehmen einfallen, heißt das noch nicht, dass dies auch so stimmt. Tatsächlich ist sowohl die Anzahl als auch der Anteil der gescheiterten Start-ups im Silicon Valley größer als in den meisten anderen Wirtschaftsregionen der Welt. Es steht dort aber vergleichsweise viel Kapital zur Verfügung, die Gründung ist leicht und die Selektion findet später statt als in anderen Regionen, in denen Kapital erst nach sorgfältiger Prüfung bereitgestellt wird. Es werden mehr Fehlversuche finanziert. Ergo: Die regionale Häufung von Spitzenunternehmen der IT-Branche führt zu einem verzerrten Urteil über die Gründungschancen.

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Anker Die Ankerheuristik verdeutlicht den Prozess des Trade-offs zwischen „Genauigkeit“ und „geringem Aufwand“ sehr schön (Schweitzer und Cachon 2000): Wir orientieren uns bei Erwartungen und Einschätzungen an Ankern. Diese geben uns vermeintliche Sicherheit, wenn wir keine Ahnung haben und die Analyse überspringen wollen, aus Faulheit oder aus Ignoranz. Ein Beispiel: Gutes Toilettenpapier, das den Allerwertesten schont und hygienisch sauber macht, darf ruhig einen Euro je Rolle kosten! So viel, ein Euro, sollte uns die WC-Hygiene wert sein. Mit dem einen Euro je Rolle ersparen wir uns unangenehme Eingriffe, etwa eine Behandlung von Hämorrhoiden.

Wenn Sie nun zufälligerweise morgen ein Marktforscher nach dem durchschnittlichen Preis einer Rolle WC-Papier fragt, werden Sie einen höheren Schätzpreis abgeben, als hätten Sie den Absatz nicht gelesen oder wäre ein geringerer Preis genannt worden. Der eine Euro hat sich wie in Anker in Ihr Unterbewusstsein gegraben. Der Ankerreiz hat Ihre Einschätzung manipuliert. Interessant ist, dass das Ergebnis das Gleiche wäre, wenn Sie den Ladenpreis von WC-Papier kennen! Auch wenn Sie wissen, dass gutes WC-Papier vielleicht 50 Cent je Rolle kostet, hätten Sie dem Marktforscher einen höheren Preis genannt, weil sich der eine Euro in Ihrem Unterbewusstsein verankert hat. Und ich setze noch einen drauf: Sogar dann, wenn ich Ihnen den Ankereffekt vor der Befragung erklärt hätte, hätten Sie einen höheren Preis geschätzt und Ihren Verzerrungsfehler als nicht ausreichend korrigiert! Jetzt wissen Sie also, wie Sie Ihr Auto verkaufen müssen: Nennen Sie einen zu hohen Angebotspreis! Der Interessent wird diesen nicht bezahlen und einen niedrigeren Preis vorschlagen, aber am Ende wird er zu einem höheren Verhandlungspreis bereit sein, als hätten Sie einen niedrigeren Einstiegspreis vorgeschlagen. Übertragen wir dies nun auf die Prognosen für Alltagsentscheidungen: Wenn wir eine zukünftige Situation einschätzen wollen, von der wir annehmen, dass sie aufgrund unserer Entscheidung entstehen wird, lassen wir uns von Ankerreizen leiten. Solche Ankerreize empfangen wir ständig, durch die Werbung, durch Bekannte, durch alles, was wir themenbezogen aufnehmen. Die Kontrollfrage bei der Abschätzung von Werten ist somit stets, ob ein Ankerreiz unsere Schätzung beeinflusst haben könnte.

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Wiedererkennung (Rekognition) Wenn zwei oder mehrere Szenarien zur Wahl stehen, werden wir uns für jenes entscheiden, das uns vertraut ist. Vertraut ist es uns, wenn wir es z. B. aus der eigenen Erfahrung wiedererkennen oder es uns durch andere nahegebracht wurde. Ein Beispiel: Welche Stadt hat mehr Einwohner? Chongqing oder Hongkong? Wenn Sie nicht im Kontext dieses Kapitels eine Falle wittern würden, wäre Ihre Wahl vermutlich Hongkong, weil Sie diese Stadt kennen. Aber Chongqing hat 13,3 Mio. Einwohner, Hongkong nur 7,3 Mio. Die Wiedererkennungs- oder Rekognitionsheuristik ist durchaus mit einer anderen Heuristik verwandt, für die es keinen so schicken Namen gibt: Die Faustregel „Risikovermeidung“. Ob es die Wahl des nächsten Urlaubsortes, der Besuch eines Restaurants oder die Wahl eines Fernsehprogramms ist: Im Zweifel entscheiden wir uns für das, was wir (wiederer)kennen, um Fehler zu vermeiden. Hier sind wir wieder bei Persil und der Mechanismus der Status-quo-Bias ist Ihnen bereits vertraut: Wir neigen dazu, das zu tun, was wir immer tun, weil wir die Folgen kennen. Wir vermeiden Risiken, gewinnen Gewissheit, sparen Entscheidungskosten und akzeptieren dafür einen Preis, nämlich jenen, auf einen möglichen höheren Nutzen zu verzichten. Das Fazit: Sind Heuristiken gut oder schlecht? Mir ist die Antwort auf diese Frage so wichtig, dass ich sie ein drittes Mal gebe: Sowohl als auch! Heuristiken sind Verfahren zur Erleichterung und Beschleunigung von Entscheidungen. Sie helfen, Aufwand zu sparen, weil sie ein analytisches sich Erarbeiten von Ergebnissen abkürzen. Das ist gut, wenn die Entscheidung auch einmal daneben liegen darf. Das ist schlecht, wenn die Folgen teuer sind. Bei komplexen Prognosen und Entscheidungen haben Heuristiken nichts zu suchen.

3.3.4 Wahrnehmungsverzerrungen Bisher haben wir uns recht diffus mit dem Problem der trügerischen Wahrnehmung von Wirklichkeit befasst. Dies werden wir nun sortieren, denn Wahrnehmungen bestimmen unser Bewusstsein (und umgekehrt!), beeinflussen unsere Prognosen und damit die Qualität von Entscheidungen. Akzeptiert werden darf das, wenn wir uns dieser Unschärfe bewusst sind, etwa wenn wir eine Urteils- bzw. Entscheidungsheuristik zulassen, um Zeit zu sparen. Kritisch ist es aber, wenn unsere Einschätzung von Modellen, Inputdaten und Einflussfaktoren scheinbar bewusst erfolgt und wir auf sie

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vertrauen, aber tatsächlich eine verzerrte Sicht auf diese Ingredienzien einer Prognose haben: Wahrnehmungsverzerrungen, englisch: „biases“, sorgen für ungenaue Prognosen, ohne dass wir uns dieser Fehlerquelle bewusst sind.

Oft gehen wir davon aus, eine recht klare Sicht auf die Dinge zu haben. Wir sind überzeugt von unserer Objektivität und uns sicher, nicht manipuliert worden zu sein. Darum will ich versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass dem viel zu oft nicht so ist. Auch ist es eine der schwierigsten Aufgaben, festzustellen, ob und wenn ja in welcher Form unsere Alltagsprognosen und damit unsere Alltagsentscheidungen beeinflusst werden, von anderen oder in unbeabsichtigter Weise von uns selbst. Wenn wir uns dieser Mechanismen bewusst sind, können wir klügere Entscheidungen treffen. Zumindest im Umfeld unternehmerischer Entscheidungen wurde dies oft genug belegt: Wird versucht, bewusst die Effekte von Wahrnehmungsverzerrungen in Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen, erhöhen sich die Umsätze um bis zu 7 % (McKinsey Quartlery 2010). Im privaten Umfeld werden Sie zwar nicht von Umsätzen sprechen, aber der positive Effekt stellt sich auch dort ein. Sie treffen bessere Entscheidungen, wenn Sie sich der Verzerrungen bewusst sind. Darum werde ich den einzelnen Varianten von Wahrnehmungsverzerrungen einen Namen geben und ihre Wirkungen beschreiben. Viel ausführlicher ist dies im bereits zitierten Werk des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman (Kahneman 2016) nachzulesen, aber der folgende Abriss ist für unsere Zwecke ausreichend. Narrative Kohärenz und die Illusion der kognitiven Leichtigkeit Viele Wahrnehmungsverzerrungen setzen bei Argumentationsketten an. Je schlüssiger diese uns erscheinen, desto eher glauben wir ihnen. Wir nennen dies auch „narrative Kohärenz“. Wir messen die Glaubwürdigkeit einer Geschichte stärker an einem nachvollziehbaren semantischen Aufbau als an der Vollständigkeit der Informationen. Eine gut erzählte Geschichte ist glaubwürdig. Deswegen legt Werbung auch so viel Wert darauf. Ob sie wahr ist, spielt eine geringe Rolle. Wir akzeptieren eher leicht zu verdauende Storys, die objektive Sachmängel haben, als komplexe Argumentationsketten, die nur schwierig zu verstehen sind. Vielleicht schneiden deswegen in Talkshows intelligente, kompetente Wissenschaftler gegen versierte Politiker schlecht ab: Sie wollen genau sein, aber ihnen zu folgen, macht viel Arbeit und verlangt Konzentration, während die lockere Einlassung des forschen Politikers blöd, aber leicht verdaulich ist.

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Je leichter eine Argumentation (Story) vermeintlich verstanden wird, desto eher glauben wir ihr. Umgekehrt: Komplexe Argumentationen wirken auf uns weniger glaubhaft.

Wir werden diesem Aspekt noch einmal begegnen: Am Ende des Abschn. 5.3.6, in dem Verschwörungstheorien behandelt werden, spielt die narrative Kohärenz eine entscheidende Rolle. Was macht die narrative Kohärenz so machtvoll? Es ist die Sicherheit, die wir empfinden, wenn wir einer Argumentation intellektuell gewachsen sind. Der entscheidende Einflussfaktor, der für eine hohe Kohärenz sorgt, ist ein für den Adressaten stimmiger Aufbau der Kausalkette. Was dabei „stimmig“ ist, bestimmen sein Vorwissen sowie seine intellektuellen Möglichkeiten. Ziel ist ein schwereloses Folgenkönnen der Story, eine kognitive Leichtigkeit, die die Illusion von Wahrheit erzeugt (Kahneman 1973 und weiterführend die Beiträge zur „positiven Psychologie“, z. B. Csikszentmihalyi und Nakamura 2010). Wir glauben einer Aussage eher, je „leichter“ und „unbeschwerter“ sie zu verstehen ist.

Um diese Unbeschwertheit zu erreichen, gibt es zahlreiche Stilmittel. Tab. 3.1 beschreibt einige davon. Tab. 3.1  Mittel zur Erzeugung kognitiver Leichtigkeit

Stilmittel zur Erzeugung von Beispiele kognitiver Leichtigkeit Semantische Vertrautheit Einfaches Verständnis der Inhalte Wiedererkennen von Argumenten und Zwischenergebnissen Provozieren von Bestätigungen von Teilen der Kette Analogien zu Erlebnissen und Meinungen von Vorbildern Vermeidung ungeübter Gedankengänge Wiederholung Meinungsbestätigung

Satzbau, Satzlänge, Nebensätze Wortwahl, Fremdwörter, Phrasen, bildhafte Sprache „Wie eben dargestellt …“ „Sie sehen doch auch, dass …“, „Es ist klar, dass …“ „Schon Helmut Schmidt war ein starker Raucher, also …“ Komplizierte Formulierungen, Fremdwörter, mehrstrangiger Aufbau von Argumentationsketten Oft genug wiederholt, wird auch das seltsamste Argument „wahr“ Bestätigt das Argument unsere eigenen Ansichten, glauben wir ihm eher

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Dabei haben wir grundsätzlich die Tendenz, für wahr zu halten, was uns erzählt wird. Wir sind gutgläubig, auch wenn wir uns selbst gerne als Skeptiker sehen. Dieser Hang wird verstärkt, wenn wir jemandem zuhören, den wir als Experten akzeptieren, weil wir ihn wertschätzen, er einen höheren hierarchischen Rang hat oder er als besonderes kompetent angekündigt wurde. Denken Sie an den Arzt aus dem letzten Kapitel! Narrative Verzerrungen sind allgegenwärtig. Sie bewirken, dass unsere möglichst objektive Sicht verschoben wird, nicht selten in manipulativer Weise. Schützen können wir uns nur durch Achtsamkeit beim Zuhören. Stellen Sie bei Argumentationsketten zwei Fragen: „Woher wissen Sie das?“ und „Könnte es auch anders sein?“ Die erste Frage richtet sich an den Erzähler, sofern wir ihm eine Frage stellen können. Aber auch wenn Sie einen Prospekt für eine fondsgebundene Altersvorsorge durchlesen, sollten Sie bei allen prognostischen Aussagen, etwa dem erwarteten Renditeverlauf, genau diese Frage stellen: „Woher wissen die das?“ Sie werden feststellen, dass zuweilen keine Antwort auf diese Frage gegeben wird, und schon haben Sie eine mögliche Fallgrube gefunden. Die zweite Frage „Könnte es auch anders sein?“ richten Sie an sich selbst. Wir nennen das „kontrafaktisches Denken“ und es erzieht uns dazu, die andere Seite der Medaille zu sehen. Der verantwortungsvolle, einfühlsame, rücksichtsvolle Lover ist DER perfekte Mann, mit dem Sie durchs Leben gehen wollen? Gut, aber: „Könnte es auch anders sein?“ Wie wird er sich entwickeln? Und warum ist seine Hochzeit mit Ihnen seine vierte? Trägt er eine Maske? Priming Umfangreiche ernährungswissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass besonders intelligente Menschen gerne Nussschokolade essen. Das ist nicht erstaunlich, denn das darin enthaltene Lecithin wirkt wie ein Booster für das Gehirn. Das Priming wirkt als Basiseffekt bei unterschiedlichen Arten von Wahrnehmungsverzerrungen. Die Wirkung ist, dass wir uns bei der Verarbeitung von Argumenten davon leiten lassen, was wir unmittelbar davor gehört oder erlebt haben.

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Dabei wirkt Priming (Endel und Schacter 1990; Neely 1977, 1991) auf eine subtile Art: Wenn ich Sie jetzt fragen würde, ob Sie gerne Nussschokolade essen, würden Sie dies mit größerer Wahrscheinlichkeit bejahen, als wenn ich den einleitenden Absatz nicht geschrieben hätte. Ich habe Sie „ge-primt“. Was sich festgesetzt hat, ist: „Schokolade = Nüsse = schlau“. Was immer Sie in naher Zukunft über Nüsse oder Schokolade lesen oder hören werden, bringen Sie mit Schläue in Verbindung. Wenn Sie lesen würden, dass Albert Einstein gerne Nussschokolade aß, wenn er an komplexen physikalischen Formeln arbeitete, werden Sie davon überzeugt sein, dass diese Geschichte stimmt. Aber ich habe sie erfunden. Priming findet sich als Manipulationsinstrument wenig überraschend vor allem im Werbefernsehen: Eine positive und erstrebenswerte Situation wird gezeigt, möglichst positiv besetzte Signale werden gesendet (Glück, Freude, Freundschaft, Lachen) und als Ursache dafür ein Produkt präsentiert. Sie sind ein glücklicher, schlanker Mensch, weil Sie „Du Darfst“-Produkte essen, Sie sind eine gute Hausfrau, weil Sie Jacobs-Kaffee ausschenken, Sie sind eine begehrenswerte Frau, weil Sie Dove-Lotion benutzen. Erst kommt das Priming, dann das Produkt, das Sie mit dem positiven Einstiegssignal verknüpfen. Der Rest ergibt sich an der Supermarktkasse. Doch auch immer dann, wenn ein Verkaufsgespräch zwischen Personen stattfindet und hier Prognosen eine Rolle spielen, kommt Priming ins Spiel. Ob der Arzt eine privat zu bezahlende, prophylaktische Behandlung empfiehlt, der Versicherungsmakler eine Zusatzversicherung oder der Banker einen Fonds, immer wird der Wert des Produkts durch seine Wirkung in der Zukunft gerechtfertigt (Gesundheit, Absicherung oder Kapitaleinkommen). Es sind Versprechen, die der Patient bzw. Kunde umso leichter glaubt, je positiver die Zukunft dank der zu verkaufenden Leistung dargestellt wird. Das Priming funktioniert über die Darstellung des Zukunftserfolgs (Gier), aber auch durch die Schilderung einer unerfreulichen Zukunft, wenn auf die Behandlung, Versicherung oder den Fonds verzichtet wird (Angst). Framing „Das neue Medikament zeigt bei 50 % der Patienten eine positive Wirkung.“ Zweifellos ist das eine gute Nachricht. Die Chance, dass es dem Patienten durch die Einnahme der Pillen besser geht, ist gefühlt recht hoch. Lassen wir einen zweiten Satz wirken: „Das neue Medikament ist bei 50 % der Patienten wirkungslos.“ Das ist schlecht. Gefühlt. Natürlich sagen die beiden Sätze exakt das Gleiche aus. Die Sachinformation unterscheidet sich nicht. Aber trotzdem wirken die Sätze sehr unterschiedlich auf uns.

82     J. B. Kühnapfel Wir sind, möchten also das Verlieren vermeiden. Unser Urteil wird somit u. a. davon bestimmt, ob ein Ergebnis als Verlust oder Gewinn dargestellt wird.

Als Framing-Effekt (deutsch etwa: Einrahmungseffekt) wird somit das Phänomen bezeichnet, dass unterschiedliche Formulierungen einer Botschaft – bei gleichem Inhalt – das Verhalten des Empfängers unterschiedlich beeinflussen (Tversky und Kahneman 1981). Schützen können wir uns davor wenig, denn in der Regel bemerken wir nicht, dass eine Aussage zielorientiert sprachlich eingerahmt wurde. Doch wenn sie uns verdächtig vorkommt, hilft obige zweite Kontrollfrage: „Könnte es auch anders sein?“ Sie trifft den Kern nicht exakt, bringt uns aber zuverlässig zum Nachdenken. Halo-Effekt Es ist aber nicht nur wichtig, wie wir etwas sagen, sondern auch, wer es sagt (Beckwith und Lehmann 1975; Nisbett und Wilson 1977). Die Glaubwürdigkeit einer Aussage (Argumentation, Prognose) steigt mit der unterstellten Expertise desjenigen, der sie trifft. „Expertise“ ist hier mit „Halo“, also „Glorienschein“, gleichgesetzt. Und wer hat so einen? Der Vorgesetzte, der teuer gekleidete Berater, der streng auftretende Arzt, der Lehrer. Hierarchie, Alter, Autorität, Charisma, aber eben auch „verliehene“ Expertise sorgen dafür, dass wir genauer zuhören und glauben. Dabei ist es nicht erforderlich, dass die Person ein Experte ist, es kommt darauf an, dass wir sie als solchen wahrnehmen. Wir erkennen in einer Person einen Experten bzw. eine Autorität, z. B., weil wir aus Erfahrungswissen dessen Kleidung, Habitus oder Einführung damit verbinden. Aus diesem Erfahrungswissen entsteht die Erwartung, dass die Person auch ein Experte ist. Wir werden nun dem, was sie sagt oder schreibt, eine wesentlich höhere Glaubwürdigkeit beimessen. Darum kann es für einen Bankberater lohnend sein, einen Fachmann hinzuzuholen, wenn ein Verkaufsgespräch ins Stocken geraten ist. Aber ist er wirklich ein Experte? Oder ist es nur der Verkäufer aus dem Nachbarbüro? Die oben vorgeschlagene Kontrollfrage „Woher wissen Sie das?“ tut auch hier ihren Dienst. Bestätigungsverzerrung In Abschn. 3.3.1 haben wir gelesen, dass wir uns gerne selbst überschätzen und nur allzu oft unserem Optimismus und dem Zufall überlassen. In diese Kategorie von Selbsttäuschungen gehört auch die Bestätigungsverzerrung (Nickerson 1998).

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Wir halten eher für wahr, was unsere Meinung bestärkt.

Neben der Überbewertung von bestätigenden Argumenten wirkt dieser Effekt zudem wie ein Filter: Wir beachten alles Bestätigende, das Widerlegende nicht. Wenn wir uns bei einer Alltagsprognose auf ein Zukunftsszenario festgelegt haben, z. B., weil dieses den Kauf des schicken Cabrios rechtfertigt, selektieren wir Pro-Argumente. Diese Selektion geschieht automatisch und greift so weit, dass wir uns an die Kontra-Argumente nicht erinnern können. Unsere Eigenkritikfähigkeit ist dahin und die Bestätigungsverzerrung hat das Ruder übernommen. Erst ein Berater (Freundin, Partner, Eltern) wird uns wachrütteln können, aber dafür erst einmal unseren Widerstand brechen müssen. Kampflos geben wir unsere Position nicht auf. Selbstwertdienliche Verzeihung Eine nahtlose Fortsetzung der Bestätigungsverzerrung ist die „selbstwertdienliche Verzeihung“ (Babcock und Loewenstein 1997) oder auch „selbstwertdienliche Verzerrung“. Hinter diesem etwas sperrigen Begriff versteckt sich übertriebener Selbstschutz: Eine sich im Nachhinein als schlecht erweisende Entscheidung wird verteidigt („Da konnte ich nichts für!“), das Übersehen von Einflussfaktoren wird anderen in die Schuhe geschoben („Davon hat er aber nichts gesagt!“) und Unwissenheit als gottgegeben hingenommen („So etwas kann man ja nicht wissen!“). Besonders auffällig sind selbstwertdienliche Verzeihungen zur Rechtfertigung opulenter Ausgaben. Aus einem protzigen Motor wird „Sicherheit beim Überholen“, aus dem Armani-Anzug wird eine bessere Chance bei der Bewerbung und der 60-Zoll-Fernseher lässt die tollen Details in Tierdokumentationen erkennen. Vor allem dann, wenn die Entscheidungsfolgen vollkommen unklar sind, weil man trotz der Tragweite der Entscheidung eine schlampige Prognose erstellt und aus dem Bauch heraus entschieden hat, neigen wir dazu, uns selbst die Absolution zu erteilen. Dann ist es für Kontrollfragen zu spät, und wir suchen erst im Nachhinein gute Gründe für unser Handeln. Austausch der Fragestellung Der unstrukturierte Blick in die Zukunft überfordert uns. Wenn Sie Verantwortung für die Entwicklung Ihres Kindes tragen und eine weiterführende Schule für es auswählen müssen, steht die Frage nach den Zielen

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im Raum. Na klar, das Kind soll studieren, muss also Abitur machen (auch wenn das keine Voraussetzung mehr für ein Studium ist), möglichst mit einer guten Note. Davon ausgehend können Sie Nebenbedingungen formulieren (Erreichbarkeit der Schule, Kosten, Zugangsvoraussetzungen usw.). Je mehr Sie über das gewünschte Ergebnis nachdenken, desto mehr Faktoren werden Ihnen einfallen, die die Zielerreichung beeinflussen, etwa die Lehrer, die Mitschüler, das Zusatzlehrangebot oder die Vorlieben Ihres Kindes, die sich erst noch zeigen. Eine Priorisierung oder Gewichtung dieser Einflussfaktoren erscheint Ihnen unmöglich. Sie kennen auch die Wechselwirkungen nicht. In einer solchen komplexen Situation spielt Ihnen Ihr assoziativ arbeitendes Gehirn gerne einen Streich: Sie tauschen die Frage aus! Aus In welche Schule schicke ich mein Kind, damit es das Abitur mit einer guten Note schafft?

wird In welcher Schule wird sich mein Kind am wohlsten fühlen?

Diese Frage ist im Grunde genommen genauso schwierig, aber die Einflussfaktoren sind leichter zu erfassen und zu bewerten: Gehen auch andere Kinder aus der Grundschule in diese Schule, vielleicht sogar Freunde? Waren Sie selbst auf dieser Schule und haben schöne Erinnerungen an diese Zeit? Ist die Schule in der Nähe, sodass Sie jederzeit eingreifen können, wenn „etwas ist“? Nur: Die neue Prognosefrage ist für das formalisierte Ziel (Abitur mit guter Note) irrelevant. Einen solchen Austausch der Fragestellung können Sie aber verhindern, indem Sie sich die Fragestellung respektive die Entscheidung, für die eine Prognose erstellt werden soll, aufschreiben. Der Effekt ist, dass Sie sich die Problemstellung vor Augen führen, ganz wörtlich. Ein Ausweichen ist dann schwerer, wenn nicht unmöglich. Später werde ich Ihnen ein Prognoseverfahren für komplexe Probleme dieser Art vorstellen, die Nutzwertanalyse (Abschn. 3.5.4). Sie verhindert, dass Sie solche Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen, was ganz sicher fahrlässig wäre. Auch wäre eine induktive Entscheidung der falsche Weg, die Sie vorschnell treffen würden, wenn Sie z. B. der Erzählung Ihres Nachbarn vertrauen, der eine Cousine hat, deren Nachbarssohn unzufrieden mit der Schule A ist und doch viel lieber auf Schule B gegangen wäre.

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Rückschaufehler Gerne wird der Rückschaufehler oder auch die „Hindsight-Bias“ (ChristensenSzalanski 1991) missverstanden. Es geht nicht darum, uns bei einem Prognosefehler zu erwischen, den wir in der Vergangenheit gemacht haben, sondern darum, dass wir die Situation, in der wir zum damaligen Zeitpunkt waren, falsch bewerten. „Wenn der Ausgang eines Ereignisses bekannt ist, wird angenommen, dass dieses besser vorausgesagt werden konnte, als es zum Prognosezeitpunkt tatsächlich möglich war“ (Kühnapfel 2017, S. 407).

All die Unklarheiten, unser damaliges Wissen, unsere früheren Vermutungen, die Wahrnehmungsverzerrungen, denen wir unterlagen, die Rahmenbedingungen, unser Umfeld, alles das ist nur noch eine diffuse Erinnerung, doch glauben wir zu wissen, was damals schon „auf der Hand lag“. Wir trauen unserem vergangenen Ich viel zu viel zu. Ist das kritisch? Die Vergangenheit ist vorbei, das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Warum sollte der Rückschaufehler unsere heutigen Prognosen für die Zukunft verschlechtern? Der Schlüssel liegt in der Selbstüberschätzung. Rückblickend halten wir uns für clever, sehen natürlich unseren möglichen Prognosefehler, und aus beidem, der Selbstüberhöhung und dem vermeintlichen Lernerfolg leiten wir Sicherheit für die aktuelle Prognose ab. Hierin liegt auch die Ursache dafür, warum selbst Fachleute ihre eigenen Vorhersagefehler ständig wiederholen, z. B. diagnostizierende Ärzte (Meehl 1986) oder Börsenmakler. Auch überschätzen wir unsere Einflussmöglichkeiten auf die Zukunft, die der damaligen Prognose folgte, etwas, was bereits in Abschn. 3.3.1 zu lesen war. Veränderungsaversion Die Veränderungsaversion ist auch unter dem Begriff „Status-quo-Bias“ bekannt und gut erforscht (Samuelson und Zeckhauser 1988). Im Zweifel halten wir an einer bekannten Situation, einer Meinung oder einem Zustand fest, wenn eine Veränderung keine klaren Vorteile verspricht.

Das ist ökonomisch vernünftig. Ungewissheit wird wie Kosten empfunden und wenn diese höher erscheinen als der vermeintliche Nutzen einer Veränderung, bleiben wir beim Bekannten, Sicheren. Zuweilen aber ist etwas

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Mut gefragt. Ohne eine Veränderung bleiben wir immer beim Alten, das sich bewährt hat, werden aber nicht herausfinden, ob etwas Neues nicht noch besser wäre. Sehr schön lässt sich das an so manchem Urlaubsort erleben: So prahlen die zufällig am Tisch sitzenden Mitreisenden damit, schon zum 16. Mal in Cala Ratjada zu sein oder bereits die neunte AIDA-Kreuzfahrt zu machen. Diese zur Schau gestellte Kontinuität soll Expertise beweisen: „Schaut, wir kennen uns aus, wir sind erfahren.“ Tatsächlich aber ist die Bandbreite an Erfahrungen schmal, und vielleicht wäre es an einem anderen Ort oder auf einem anderen Schiff schöner. Eine Prognose solcher veränderungsaversen Personen nutzt Ihnen nichts. Hyperbolische Diskontierung Wenn Sie eine aktienfondsbasierte Altersvorsorge abschließen, kennen Sie die Kosten. Sie überweisen Ihrer Versicherungsgesellschaft einen monatlichen Betrag und wissen sehr gut, worauf Sie in diesem und im nächsten Monat verzichten müssen, um später einmal eine Zusatzrente zu bekommen. Doch ist es für Sie schwerer, sich vorzustellen, welche Annehmlichkeiten Sie sich in 25 Jahren monatlich mehr leisten können, als sich vorzustellen, auf was Sie in den nächsten Monaten verzichten müssen, um die Raten zu bezahlen. Sie gewichten den naheliegenden Verzicht viel höher als den in ferner Zukunft liegenden Gewinn. Langfristig erwarteter Nutzen wird überproportional unterbewertet (Loewenstein und Prelec 1992).

Dieser Effekt spielt keineswegs nur beim Vermögensaufbau oder der Vermögensvorsorge eine Rolle. Auch bei der Gesundheitsvorsorge begegnet er uns ständig: Heute das Rauchen aufgeben und den Entzug durchmachen, nur, um möglicherweise länger zu leben? Mit dem Yoga anfangen und auf die geliebte Vorabendserie, die zeitgleich im Fernsehen läuft, verzichten, nur um im Alter einmal gelenkig oder was auch immer zu sein? Die Abendschule besuchen und Spanisch lernen, nur weil es sich möglicherweise bei einer späteren Job-Bewerbung als nützlich herausstellen könnte? Der unsichere Nutzen in der Zukunft hat gegen die sicheren Kosten der Gegenwart kaum eine Chance, selbst dann nicht, wenn unter Einberechnung der Eintrittswahrscheinlichkeit des späteren Nutzens die Bilanz positiv ausfiele.

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3.3.5 Voreilige Mustererkennung Sie angeln. Sie sitzen am Wasser, halten eine teure Ausrüstung in der Hand und einen Köder ins Wasser, den Sie nach allen Regeln der Kunst ausgesucht und präpariert haben. Dabei haben Sie auf die Wassertemperatur, das Wetter, die Lichtverhältnisse und natürlich auf die vermeintlichen Vorlieben Ihres Zielfisches geachtet. Wären Sie ein guter Angler, hätten also Ahnung von den Einflussfaktoren auf den Fangerfolg, müssten Sie jetzt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen Fisch fangen, auf jeden Fall mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als ein Laie. Das jedenfalls erzählen die diversen Angelzeitschriften seit Jahrzehnten. Ich wundere mich, wieso die Seen und Flüsse nicht schon längst leer gefischt sind. Was stimmt hier nicht? Angler tappen gerne in die Falle der voreiligen Mustererkennung. Wenn sie einmal erfolgreich sind, merken sie sich die Konstellation der beobachtbaren Parameter (Wetter, Wasser, Ausrüstung, Tageszeit usw.). Vielleicht merken sie sich fünf oder gar zehn Parameter (= Einflussfaktoren); manche machen sich sogar Notizen. Und da diese Parameterkonstellation erfolgreich war, unterstellen sie ein Muster, also die Wiederholbarkeit des Fangerfolgs bei gleichen Parametern. Ein recht naives Verhalten, denn wesentliche Fragen bleiben unbeantwortet: 1. Sind die erfassten Parameter wichtige Einflussfaktoren auf den Fangerfolg? 2. Gibt es Einflussfaktoren, die nicht erfasst wurden? 3. Werden zu viele oder zu wenige Einflussfaktoren erfasst? 4. Gibt es ein Ranking der Bedeutung der Einflussfaktoren? Die Hersteller von Angelausrüstungen haben zumindest die vierte Frage klar beantwortet: Der wichtigste Erfolgsfaktor ist immer der Köder/die Rolle/die Rute/der Klappstuhl der Marke Cormoran/AbuGarcia/D.A.M. usw. Leider wissen die Fische nichts von Marketing. Eine voreilige Mustererkennung basiert immer auf dem gleichen Mechanismus: Wir erleben einen Erfolg, z. B. das Eintreffen einer Vorhersage, und unterstellen, dass wir die Einflussfaktoren auf diesen Erfolg kennen würden und korrekt eingeschätzt hatten. Für zukünftige Ereignisse wird dies als Muster gespeichert.

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„Ich weiß dieses und vermute jenes, also wird Folgendes passieren!“ Natürlich funktioniert dies auch in negativer Richtung: Passiert ein Unglück, werden zuvor beobachtete Muster als Ursache oder Indikatoren für das Ereignis abgespeichert. Nach diesem Prinzip funktionieren auch Vorboten, die der Kategorie Aberglaube zuzurechnen sind, und die schwarze Katze, die über die Straße läuft, das umgekippte Salzfass oder der zerbrochene Spiegel werden zu Prognosen für drohendes Unheil. Verstärkt wird die Wirkung der voreiligen Mustererkennung, wenn das Muster ein zweites Mal funktioniert. Dann wird aus dem Muster in der Wahrnehmung ein Gesetz. Doch ab wann darf unterstellt werden, dass ein solches Muster prognostische Relevanz besitzt und die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses über Zufallsschwankungen hinaus beeinflusst? Wie oft muss ein Muster zu einer prognostizierten Wirkung führen, damit es als „Regel“ gelten darf? Hierzu bedarf es einer gewissen Anzahl von Versuchen, wobei die Anzahl fallspezifisch ist. Ferner bedarf es der Gegenprobe, in unserem Anglerbeispiel des Einsatzes anderer Köder usw., um zeigen zu können, dass die zu testende Variante erfolgreicher ist und nicht etwa die Fische aus unbekannten Gründen Heißhunger hatten und sowieso gebissen hätten. Muster sind erst dann Muster, wenn ihr Auftreten mit statistischer Signifikanz zu vorhergesagten Ergebnissen führt.

Ein zweiter Wirkungsverstärker zeigt sich, wenn eine zweite Person das Muster, das die erste wie die Fahne der Erkenntnis in die Höhe streckt, bestätigt. „Genau so ist es!“ könnte aber genauso gut eine Anbiederung sein, und selbst die Koinzidenz der Erfahrung zweier Menschen ist noch lange keine belastbare Grundlage für eine Prognose. Der dritte Wirkungsverstärker ist die „Geschichte“ selbst: Je kognitiv einfacher sie verstanden werden kann, desto eher wird ihr geglaubt und ein allgemeingültiges Muster unterstellt, das zu einer Handlungsrichtlinie wird. Diese narrative Kohärenz und kognitive Leichtigkeit wird oft mit Begründungen erzeugt. Bleiben wir bei unserem Beispiel: „Fische beißen bei dunklem, kaltem Wetter auf hellere Köder, weil sie als poikilotherme (wechselwarme) Tiere dann aktiver und aggressiver sind.“ Ein solcher Satz ist voller Annahmen und Unterstellungen, die allesamt unbewiesen sind, ja nicht einmal durch Beobachtungen gestützt werden. Nicht einmal die Schlussfolgerung (heller Köder) ist begründet. Aber der Satz klingt schlüssig. Das eingestreute Fremdwort erzeugt Glaubhaftigkeit, drückt es doch Expertise

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aus. Es wird eine leicht nachvollziehbare Argumentation präsentiert. So muss es sein! Ein weiterer, interessanter Aspekt ist die Selbstselektion: Es ist der Aufwand, den ein Angler investiert. Insbesondere jene Angler, die leidenschaftlich ihrem Hobby frönen, haben ein ganzes Portfolio an Standardmustern parat, die sie durch tatsächliche Erfolge bestätigt sehen. Doch sind diese Erfolge eher eine Folge des Zeiteinsatzes und nicht der Leistungsfähigkeit ihrer Muster. Sie sind schlichtweg häufiger am Wasser, aber ihre Fangmethoden sind relativ zum Zeiteinsatz nicht unbedingt erfolgreicher als andere. Hinzu kommt, dass angenommen werden darf, dass wenn ein Angler oft fischt, er fähiger sein wird als einer, der dies nur selten tut. Er holt auch unzulänglich gehakte Fische an Land und erkennt zaghafte Bisse, die einem Laien nicht auffallen würden. Ein solch enthusiastischer Angler wird von seinen konstruierten Mustern überzeugt sein. Je nachdem, wie sehr seine Persönlichkeit auf die Darstellung seiner Expertise als Angler ausgerichtet ist, wird er seine Muster verteidigen. Dieser Mechanismus läuft als Automatismus ab, also unbewusst (Pronin und Kugler 2007). Der Angler wird sich weniger anfällig für Wahrnehmungsverzerrungen jeglicher Art sehen als andere, sein Handeln und Vorgehen für logischer, rationaler und nachvollziehbarer halten, und ihm erscheinen seine Schlüsse als nachvollziehbare Konsequenz kohärenter Kausalketten. Es ist die Illusion der objektiven Selbstbeobachtung. „Es ist doch klar, dass …“ oder „Offensichtlich ist …“ sind typischen Einleitungen seiner Glaubenssätze. Geht es einmal schief und seine Muster versagen, macht er gerne äußere Umstände dafür verantwortlich – die selbstwertdienliche Verzeihung (siehe Abschn. 3.3.4) greift! Nun, auch wenn Sie nicht angeln, sind auch Sie ein Musterkonstrukteur. Tatsächlich erleichtern uns Muster den Alltag und sind nützlich. Wir sind ständig auf der Suche nach solchen Mustern. Sie helfen uns, eine zukunftsgerichtete Entscheidung zu treffen – eine Aufgabe, die eigentlich einer bewussten Prognose zukommt. Muster ersetzen zuweilen die Prognose.

Erkennen wir Parameterkonstellationen aus der Vergangenheit wieder, gehen wir davon aus, dass der Ausgang der Situation der gleiche sein wird. Im Falle von Alltagsprognosen für Alltagsentscheidungen ist es nützlich, ein möglichst umfangreiches Portfolio an Mustern in der kognitiven Bibliothek zu haben.

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Wir nennen dies Erfahrung. Muster beschleunigen Entscheidungsprozesse, weil wir die Komplexität der Wirkungen der Einflussfaktoren usw. nicht neu durchdenken müssen. Und wie schon bei den beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen bzw. Heuristiken ist es akzeptabel, die Kosten möglicher Fehlentscheidungen im Alltag gegen den Nutzen der Zeitersparnis aufzuwiegen. Aber dieses Kapitel trägt ja die Überschrift „Voreilige“ Mustererkennung. Mir geht es dabei nicht darum, dass ein Muster falsch erkannt wird. Voreilig ist im Sinne der Überschrift eine Mustererkennung immer dann, wenn die anstehende Entscheidung derart folgenreich ist, dass die Kosten einer möglichen Fehlentscheidung den Aufwand einer bewussten, die Muster infrage stellenden Prognose rechtfertigen. Voreilig bedeutet also, dass bei solchen Entscheidungen der aufwendige Weg (bewusste Prognose) dem bequemen Weg (Muster) vorzuziehen ist. Andernfalls drohen Schleifen: Der Mann sucht sich dann immer wieder eine Frau gleichen Typs, obwohl er mit seiner Beziehung regelmäßig scheitert. Die Bürokauffrau nimmt immer die gleiche Art von Jobs an, obwohl es sie nie länger als zwei Jahre bei einem Arbeitgeber hält. Und die Familie gerät zuverlässig in jedem gemeinsamen Urlaub in Streit. Wie also kann bei anstehenden Entscheidungen und den dafür erforderlichen Prognosen eine voreilige Mustererkennung vermieden werden? Der Schlüssel liegt – wie so oft – in der Bewusstmachung des Prognoseprozesses und damit dem Versuch der Versachlichung. Eine solche Versachlichung gelingt, wenn die folgenden vier Ratschläge berücksichtigt werden: 1. Spontaneität vermeiden: Jede Selbstverständlichkeit ist ein Hinterfragen wert. Das Prognosemodell, die Einflussfaktoren und die Inputdaten sind bewusst zu prüfen. 2. Algorithmen statt Annahmen: Daten sind besser als Vermutungen. Auch die Intuition ist nur ein schwacher Quell des Wissens, worauf ich später noch näher eingehe. Wenn wir belastbare Fakten haben, also empirische Daten, die statistisch signifikant sind, besitzen wir vorläufiges Wissen, mit dem wir arbeiten können. 3. Selbstzweifel und Selbstehrlichkeit: So schwer es fällt, die selbst konstruierten Muster zu verwerfen, so wichtig ist es doch. Manchmal helfen Berater (Freunde, Partner, Kolleginnen) dabei, manchmal gelingt das besser im stillen Kämmerlein. Sind die Daten valide? Vermute ich die Muster oder habe ich sie geprüft? Merke ich mir den Erfolg, vergesse aber den Misserfolg? 4. Eintrittswahrscheinlichkeiten berücksichtigen: Es ist nicht nur Statistik, es ist eine Gedankenübung: Vergegenwärtigen Sie sich immer, dass

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jedes Ergebnis eines Musters immer nur ein wahrscheinliches Ergebnis ist. Sobald Sie bereit sind, das Schwarz-Weiß-Denken aufzugeben und sich Gedanken über die prozentuale Eintrittswahrscheinlichkeit machen, sind Sie auf dem richtigen Weg; denn dann halten Sie ein Scheitern Ihres Musters für möglich.

3.3.6 Der Umgang mit Risiken und Wagnissen Ein ganz besonderes Mysterium individueller Entscheidungen ist unser Umgang mit Risiken. Schon seit der Antike setzen sich Philosophen, Verhaltensforscher, Psychologen, Organisationswissenschaftler oder Biologen mit der Frage auseinander, warum und unter welchen Umständen wir Risiken eingehen. Welche Mechanismen treiben und bremsen Risikobereitschaft? Wie kalkulierend bzw. nüchtern gehen wir damit um? Warum ist es hier wichtig, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen? Jede Entscheidung, und sei sie noch so alltäglich, verändert die Zukunft. Diese kennen wir nicht, wir versuchen sie aber durch Prognosen einzuschätzen. Genau genommen versuchen wir, uns die Folgen unserer Entscheidungen in der Zukunft auszumalen. Aber sicher wissen wir es nie. Es bleibt immer ein Risiko übrig, das Risiko, dass unsere Entscheidungen falsch sind, nicht zu der gewünschten Zukunft führen und die investierten Ressourcen verschwendet sind. Es gibt keine Entscheidung ohne Risiken. Diese Unausweichlichkeit ist einleuchtend. Doch es wird noch komplizierter: Stehen mehrere Entscheidungsoptionen zur Wahl, bergen diese in der Regel unterschiedliche Chancen und unterschiedliche Risiken. Je größer die Chance, desto größer die Risiken. Wie bei einem Würfelspiel: Sie haben die Chance, bei einem Einsatz von 10 € einen Gewinn von 20 € zu erzielen, wenn Sie eine gerade Zahl würfeln, oder einen von 60 €, wenn Sie eine Sechs würfeln. Wofür entscheiden Sie sich? Wenn Sie Wahrscheinlichkeitsrechnung beherrschen, wird Ihnen aufgefallen sein, dass der sogenannte Erwartungswert stets der gleiche ist, sogar dann, wenn Sie auf das Spiel verzichten: 1. Sie würfeln nicht und behalten mit Sicherheit Ihre 10 €. 2. Sie entscheiden sich für das Spiel, eine gerade Zahl zu würfeln. Die Chance auf einen Gewinn von 20 € beträgt 50 %, aber mit einer Chance von ebenfalls 50 % gehen Sie leer aus. Der Erwartungswert beträgt 10 €. 3. Sie entscheiden sich für das Spiel, eine Sechs zu würfeln. Die Chance auf einen Gewinn von 60 € beträgt 16,7 %. Der Erwartungswert beträgt wiederum 10 €.

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Mathematisch ist es also egal, was Sie tun. Aber in der Praxis ist es das natürlich nicht: Spielen Sie nicht, haben Sie die 10 € sicher (nennen wir es trotzdem „Spiel 1“). Sie können keinen Fehler machen. Wenn Ihnen die 10 € sehr wichtig sind, weil Sie sonst nichts haben und ohne das Geld hungrig ins Bett gehen müssten, werden Sie sich für diese Option entscheiden. Aber nicht, wenn Sie gierig sind bzw. Ihnen die 10 € nicht viel bedeuten. Dann werden Sie spielen und je nach Ihrer Persönlichkeit mehr oder weniger riskieren, also Spiel 2 oder Spiel 3 versuchen. Ihnen ist klar, dass Sie dann niemals mit Ihrem Einsatz von 10 € den Tisch verlassen; Sie werden – je nach Ausgang – mehr oder weniger besitzen. Entweder … oder. Vielleicht werden noch weitere Faktoren eine Rolle spielen: Macht das Spiel Spaß? Werden Sie von der jungen schönen Frau am anderen Tischende für Ihren Wagemut bewundert? Wollen Sie insgeheim verlieren, um den Gleichmut des Verlustes mit einem Schulterzucken zu demonstrieren und damit der Frau signalisieren, dass Sie noch viel mehr Geld besitzen? Oder spielen Sie alleine, anonym im Internet und Sie lieben den Nervenkitzel? Die Forscher Tversky und Kahneman, die hier bereits häufiger zitiert wurden, publizierten bereits in den 70er Jahren eine Theorie, die sie „Erwartungsnutzentheorie“ (engl.: „Prospect Theory“) nannten. Sie zeigten, dass Menschen nicht wie Computer die Wahrscheinlichkeit des Ausgangs eines Spiels berechnen, sondern sich entsprechend ihren Risikopräferenzen anders verhalten: Nicht die kalkulierte Gewinnchance ist entscheidend, sondern das zu vermeidende Risiko! Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, den Einsatz von 10 € zu verlieren? 0 % (Spiel 1), 50 % (Spiel 2) oder gar 83,3 % (Spiel 3)? Noch ein Beispiel: Sie würfeln schon wieder. Nun haben Sie die Wahl zwischen zwei Spielen: 1. Sie gewinnen sicher 90 €. 2. Sie gewinnen mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 % 1000 €. Die meisten Menschen werden sich für Spiel 1 entscheiden und den sicheren Gewinn einstreichen, auch, wenn er geringer ist als der Erwartungswert von Spiel 2 (100 €). Menschen, so das Ergebnis vieler Forschungen, verhalten sich risikoscheu. Das heißt nicht, dass Menschen grundsätzlich Risiken aus dem Weg gingen, also immer Spiel 1 wählen würden. Nein, sie gehen bewusst Risiken ein, aber im Zweifel wollen sie lieber nicht verlieren. Oder aber sie bevorzugen einen möglichst sicheren Gewinn, auch wenn dieser kleiner ausfällt, als es

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die mathematische Berechnung der statistischen Wahrscheinlichkeiten anderer Optionen nahelegen würde. Lieber den Spatzen in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Geht es allerdings nicht um erwartete Gewinne, sondern um Verluste, werden die gleichen Menschen auf einmal risikofreudig. Dann bevorzugen sie einen unsicheren, hohen Verlust gegenüber einem sicheren, aber geringeren Verlust. Das ist fatal! Dadurch verkaufen sie Aktien mit fallenden Kursen zu spät in der vagen Hoffnung, dass der Kurs noch einmal ins Positive dreht, und sie trennen sich zu spät von ihrem Partner, auch hier in der Hoffnung, dass er doch noch ein lieber, treuer, aufmerksamer Mensch wird. Menschen entscheiden sich für die sichere Alternative, auch, wenn die nur wahrscheinliche Option einen höheren Erwartungswert verspricht. Dies bezeichnen wir auch als Sicherheitseffekt.

Drehen wir die Darstellung um: Sie spielen wieder. Folgende Ergebnisse sind möglich: 1. Sie verlieren sicher 700 € (Erwartungswerte: −700 €). 2. Sie verlieren mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 % 1000 €, aber mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 % verlieren Sie nichts (Erwartungswert: −750 €). Die meisten wählen hier Variante 2 in der Hoffnung, den Verlust vermeiden zu können. Dieser Hang zur Verlust- oder Fehlervermeidung ist gefährlich: Anlageentscheidungen auf dem Finanzsektor, Immobilienmakler, Ärzte, Verschwörungstheoretiker, Anbieter spiritueller Dienste usw., sie alle beeinflussen unsere Entscheidung, indem sie sich die Risikoscheu als Verzerrungsmechanismus einer nüchternen Prognose zunutze machen. Die Crux ist im Alltag aber, dass es nur ein Spiel gibt. Eines! Gäbe es z. B. 100 Spiele, würden sich wohl alle, sofern sie rechnen können, für die Spiele mit dem höheren Erwartungswerte entscheiden. Ich hoffe, es nicht erläutern zu müssen. Aber hier gibt es eben nur ein Spiel, und darum wählen die meisten den sicheren Gewinn bzw. den höheren Verlust. Eine Verstärkung erfährt diese asymmetrische Einschätzung von Risiken durch zwei weitere Effekte:

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Der erste ist der Besitztumseffekt (englisch: „Endowment effect“): Menschen schätzen den objektiven Wert von Dingen höher ein, wenn sie sich in ihrem Besitz befinden.

Der Verlust ist schmerzhafter, als ein Zugewinn Freude bringen würde (Thaler 1980; Kahneman et al. 1991). Der zweite Effekt betrifft die Berücksichtigung versunkener Kosten (engl.: „Sunk cost fallacy“): Wir neigen dazu, bereits angefallene Kosten in die Bemessung des zukünftigen Nutzens einzubeziehen.

Hierzu ein Beispiel: Sie machen eine Ausbildung. Diese soll drei Jahre dauern. Anschließend verdienen Sie 30 T€ p. a. Nach zwei Jahren wird Ihnen angeboten, eine andere Ausbildung zu beginnen, die wiederum drei Jahre dauern wird, nach deren Abschluss Sie aber mehr verdienen werden, sagen wir einmal, 35 T€. Wir unterstellen, dass der Spaß an der Arbeit der gleiche sein wird. Die meisten Menschen werden bei der Entscheidung die bereits investierten zwei Jahre berücksichtigen. Sie wissen, dass Sie nur noch ein Jahr brauchen, um endlich Geld zu verdienen. Noch einmal von vorne anfangen? Lieber nicht. Dabei wäre es wirtschaftlich sinnvoll. Rechnen Sie nach! Inklusive der bei einem Wechsel insgesamt fünf einkommensfreien Ausbildungsjahre wird Ihr kumuliertes Lebenseinkommen ab dem 18. Erwerbsjahr höher sein, als wären Sie bei der ersten Ausbildung geblieben. Gleichermaßen verhält es sich beim Gebrauchtwagen. Nach einer größeren Reparatur bleiben Menschen ihrem alten Auto länger treu, auch, wenn sich eine Neuanschaffung rechnen würde. Wie kann Risiko gemessen werden? Ein Risiko lässt sich, zumindest theoretisch, berechnen: Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit × Schadenshöhe

An ein Risiko können wir also ein „Preisschild“ hängen, was z. B. die Versicherungswirtschaft auch tut. Das Risiko, beim Falschparken ein Knöllchen

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zu erhalten, wäre demnach ein Produkt aus der Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden und der Höhe der Strafe. Wenn Sie öfter falsch parken, werden Sie vielleicht eine Wahrscheinlichkeit von 10 % messen und das Ticket kostet jedes Mal 15 €. 1,50 € ist somit der kalkulatorische Preis (= Erwartungswert) jedes Falschparkens, jedenfalls dann, wenn Sie es oft genug machen. Wenn das öffentliche Parkhaus um die Ecke 5 € kosten würde, wären Sie als lediglich nach ökonomischen Maßstäben handelnder Mensch besser beraten, falsch zu parken. Dieser einfache, aber plausible Ansatz hat drei Schwächen: 1. Die Parameter in der Rechnung müssen bekannt sein. 2. Die Formel funktioniert nur bei ausreichend häufiger Wiederholung. Wenn Sie lediglich ein einziges Mal falsch parken, kommen als Kosten nur 0 € und 15 € infrage. Als Verluste scheuender Mensch werden Sie dann vermutlich ins Parkhaus fahren, um das Ticket und damit die 15 € nicht zu riskieren. Und die meisten Entscheidungen, die weitreichend genug sind, um für sie Prognosen zu erstellen, werden nur einmal getroffen. 3. Die Schadenshöhe ist nicht immer eine fixe Zahl, sondern es gibt verschiedene Szenarien mit unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten. Denken Sie z. B. an die Entwicklung der Aktienkurse. Die Schadenshöhe ist fast nie der Totalverlust, sondern ein Abschlag auf den Einkaufspreis. Aber wie hoch ist er? Wie wahrscheinlich ist welcher Abschlag? Eine Lösung bietet uns die Forschung hier nicht. Lediglich eine Verkomplizierung mit der Frage: Kennen wir überhaupt alle Risiken einer Entscheidung? Vielleicht haben wir das Falschparken riskiert, weil uns der Erwartungswert von 1,50 € akzeptabel erschien, aber die Schadenshöhe war gar nicht 15 €, sondern, weil wir in einer Feuerwehrzufahrt parkten, 300 €. Abschleppen ist teuer. Kannten wir dieses Risiko? Wir hätten es kennen können, denn Feuerwehreinfahrten sind markiert. Aber wir hatten die Schilder übersehen. Wir kannten das Risiko nicht. Doch wie sollen wir unbekannte Einflussfaktoren berücksichtigen? Betriebswirte kalkulieren bei solchen Problemstellungen „Risikozuschläge“ in ihren Investitionsrechnungen. Diese verschlechtern die Erwartungswerte, was allerdings dazu führen kann, dass Investitionen nicht getätigt werden, weil deren Renditen wegen der Zuschläge die Sollvorgabe nicht erreichen. Der Preis für unbekannte Risiken. Solche Risikozuschläge sind auch im Privatleben angebracht.

96     J. B. Kühnapfel Immer dann, wenn unbekannte Risiken zu vermuten sind, ist für diese ein Risikozuschlag einzukalkulieren.

Natürlich verlassen wir hier das Feld der Mathematik. Ich meine auch nicht, dass Sie bei der Entscheidung für eine Therapie, eine neue Partnerin oder einen neuen Job mit einem Taschenrechner Risikozuschläge berechnen sollen. Das geht nicht. Ich empfehle, dass Sie qualitativ in Ihren Überlegungen berücksichtigen, dass Sie nicht alle Risiken kennen können und darum einen Mehrnutzen erwarten. Entscheiden Sie nicht „auf Kante“. Lassen Sie Platz für eine Störung, an die Sie nicht gedacht hatten. Gegen die Auswirkungen einiger dieser Störungen lässt sich etwas unternehmen: Kaufen Sie eine Versicherung! Die Kosten sind dann ungefähr so hoch wie der zu kalkulierende Risikozuschlag. Oder umgekehrt: Ein Maß für den Risikozuschlag sind die Kosten einer Versicherung. Leider gibt es solche Versicherungen nur für ganz wenige lebenspraktische Entscheidungen. Für den Eingang ins Paradies, für das persönliche Glück, den richtigen Partner, die Gesundheit oder den richtigen Job gibt es jedenfalls keine. Aber wenn Ihnen der Autohändler für einen Zusatzpreis eine zeitliche befristete Rücknahmegarantie anbietet, ist das eine Überlegung wert. Wir haben diese Art von Zuschlägen als Teil des Imparitätsprinzips bereits kennen gelernt. Fassen wir zusammen: Risiken lassen sich berechnen. Die Prognosen haben eine kalkulierbare Eintrittswahrscheinlichkeit. Aber wenn unbekannte Risiken zu berücksichtigen sind, treten wir ein in die Welt der Ungewissheit, in der Kalkulationen immer schwieriger oder gar sinnlos werden, etwa bei einer unsicheren Zukunft 4. Grades. Es ist die Welt der Heuristiken und der Intuition, die Welt der Bauchentscheidungen. Hier sind Risikozuschläge angebracht. Vom Risiko zum Wagnis Umgangssprachlich liegen diese Begriffe dicht beieinander, aber wir sollten für die Zwecke unseres Themas exakt sein: Wagnisse sind bewusst eingegangene Risiken. Dies setzt eine Entscheidung und eine Handlung voraus.

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Es gibt keine Wagnisse ohne Risiken. Es gibt natürlich Risiken, die keine eigene Handlung voraussetzen, etwa von einem herabstürzenden Meteoriten erschlagen zu werden. Aber bei einem Gewitter übers Feld zu spazieren, ist ein Wagnis, denn es setzt die Entscheidung voraus, spazieren zu gehen und sich dem Risiko eines Blitzschlags auszusetzen. Welche Wagnisse wir einzugehen bereit sind, ist eine recht komplexe Frage, die von sehr vielen Parametern beeinflusst wird: Welche Kosten entstehen, wenn sich das Risiko realisiert, welche Eintrittswahrscheinlichkeit hat es, gibt es eine Versicherung dagegen, kann das Wagnis bei einem Scheitern wiederholt werden usw. Auch das soziale Umfeld spielt hier eine Rolle: Ist Scheitern eine Option, riskieren wir mehr, führt Scheitern zur Isolierung, weniger. Deutlich wird dies am Beispiel des Start-up-Unternehmers, der eine mutige Geschäftsidee umsetzt, seine gut gehende Karriere in einem Konzern an den Nagel hängt, seine Ersparnisse investiert und seine junge Familie vernachlässigt, indem er 80 h die Woche arbeitet. Das Risiko ist das Scheitern, das Wagnis die Gründung. Bei der Prognose wird der Gründer die Kosten des Scheiterns antizipieren (Risikoaufschlag). So berechnet er die Kosten des Risikos. Es wird nun einen großen Unterschied ausmachen, welcher Fehlerkultur er ausgesetzt ist. Erwartet er Anerkennung für seinen Mut, bestenfalls mit der Hoffnung, von seinem Umfeld emotional und finanziell aufgefangen zu werden, wenn etwas schief geht, wird er die Risikokosten geringer ansetzen und höher, wenn er bereits im Anfang das hämische Grinsen der „Ich hab´s ja immer gewusst“-Neider vor Augen hat. Das Wagnis muss dann mehr Erfolg versprechen, z. B. sicherer sein, bevor der Start-up-Unternehmer es eingeht. Analog hätte ich auch ein Beispiel aus jedem x-beliebigen Unternehmen zitieren können: Wenn die Fehlerkultur positiv ist, werden die Erfolgsucher mehr und mutigere Ideen äußern und vielleicht auch umsetzen. Ist die Fehlerkultur negativ und lässt ein gescheitertes Wagnis nichts als Bloßstellung und Ächtung befürchten, werden sich die Mitarbeiter fehlervermeidend verhalten. Eine Folge der Fehlervermeidungskultur ist der Wunsch, sich schon bei der Prognose bestmöglich abzusichern. Ausführlich wird zusammengetragen, was eine gewünschte Entscheidung rechtfertigt. Aber das ist keine Prognose. Die Anhäufung von Argumenten ersetzt keine Vorhersage. Ein wahres Beispiel: Eine wohlhabende Bekannte von mir kaufte ihrem studierenden Sohn einen neuen VW Golf. Ich brauchte nur die Augenbrauen zu lupfen, und schon sprudelten ihre Argumente, warum es ein Neuwagen und dann ein Golf sein musste: Von „der Wagen ist bei einem Unfall sicher“ über „die

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Folgekosten sind geringer“ bis hin zu „der macht was bei seinen Kommilitoninnen her“. Die Sinnhaftigkeit dieser Argumente brauchen wir nicht zu diskutieren. Ausdruck einer negativen Fehlerkultur ist in jedem Falle, dass nachträglich begründet wird, was Einflussfaktor der Prognose hätte sein sollen, aber sicherlich nicht war.

3.4 Prognosen als Bindeglied zwischen Entscheidung und Zukunft Bevor wir uns im nächsten Kapitel Prognosemodelle anschauen, ist es erforderlich, sich mit einigen beschreibenden Charakteristika zu beschäftigen, um das Wesen von Prognosen zu verstehen. Leider ist mir eine Systematisierung nicht gelungen, also ist es eine Art Auflistung, die aber interessante und zum Teil überraschende Antworten auf noch nicht gestellte Fragen liefert. Fangen wir an: Spezifität der Entscheidung und Spezifität der Zukunft In einem ersten Schritt lohnt es sich zu untersuchen, welchen Zusammenhang es zwischen der Spezifität der Zukunft und der Spezifität der Entscheidung gibt. Dass es besser ist, eine Entscheidung zu treffen, die ein möglichst breites Spektrum möglicher Zukünfte abdeckt, also eine geringe Spezifität aufweist, wissen wir bereits. Auch das Bild, das wir uns von der Zukunft machen, kann mehr oder weniger spezifisch sein. Sich vorzustellen, sechs Richtige im Lotto zu bekommen, erzeugt ein sehr spezifisches Bild, dass entsprechend detailreich ist bis hin zum Ablauf der Siegesfeier: jubeln, Champagner trinken, Job kündigen, Mann rausschmeißen, Kreuzfahrt buchen usw. Sich allerdings die Zukunft vorzustellen, nachdem eine Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, führt zu einem recht unspezifischen Bild, weil der Krankheitsverlauf, die Therapie und die Möglichkeiten der Lebensführung nur vage vorstellbar sind. Nun können wir die Spezifität der Entscheidung mit der Spezifität des Zukunftsbildes in Beziehung setzen (Abb. 3.3). Das Ergebnis sind Prognosearten, wie sie nachfolgend beschrieben werden. • Prognosen vom Typ „Kindererziehung“: Sowohl die Zukunft als auch die Entscheidung sind offen. Wir sprechen von jeweils niedriger Spezifität. Es kann kaum ein belastbarerer Zusammenhang zwischen einer Entscheidung und einer bestimmten Zukunft hergestellt werden. Muster sind

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Hohe Spezifität der Zukun

Vorsorgetermin beim Arzt

Einkaufsliste erstellen

Niedrige Spezifität der Zukun

Grundmuster der Kindererziehung

Berufswahl

Niedrige Spezifität der Entscheidung

Hohe Spezifität der Entscheidung

Abb. 3.3  Beispiele für Prognosen in Abhängigkeit von Spezifitäten

nicht erkennbar. Exakte Kausalitäten, etwa die Abhängigkeit des „späteren Einkommens des Kindes“ von der „Anzahl Ohrfeigen pro Woche“, sind augenscheinlich absurd. Jede Prognose in diesem Quadranten ist hoch unsicher, weist also eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit auf. Lediglich Tendenzen sind abschätzbar und selbst diese nur als Ergebnis komplexer Datenerhebungen. Darum sind Prognosen für solcherlei Entscheidungs-/Zukunftskonstellationen auch anfällig für narrative Verzerrungen oder Verfügbarkeitsheuristiken. • Prognosen vom Typ „Vorsorgetermin“: Wie bei der Prognose des Erziehungserfolgs ist auch hier die Spezifität der Entscheidung gering, denn es gibt keine konkrete Erwartung an den Termin. Das Ergebnis (die Zukunft) hingegen ist sehr spezifisch. Es gibt eine Diagnose und damit einen Befund oder nicht. Das Beispiel gibt auch recht gut wieder, wie sich diese Konstellation von spezifischer Zukunft und unspezifischer Entscheidung anfühlt: fremdbestimmt! Wie bei einem Lottospiel: Welche sechs Zahlen Sie ankreuzen, ist vollkommen egal, denn jede Zahlenkombination hat die gleiche Siegchance. Ihre Entscheidung ist unspezifisch. Aber das Ergebnis (die Zukunft) ist es nicht. Doch Sie haben das nicht in der Hand! Sie bekommen ein Ergebnis, eine Diagnose, und werden damit leben müssen. • Prognosen vom Typ „Einkaufsliste erstellen“: Sie wissen genau, was Sie kochen wollen, Sie kennen den gegenwärtigen Inhalt ihres Kühlschranks,

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Sie wissen, welche Produkte Sie im Supermarkt an der Ecke kaufen können. Viel Varianz ist da nicht drin, außer, dass vielleicht einzelne Waren ausverkauft sind oder Sie sich spontan umentscheiden. In dieser Welt ist es leicht, sich zurecht zu finden. Diese Zukunft erscheint alles andere als komplex. • Prognosen vom Typ „Berufswahl“: Alles oder nichts! Die Entscheidung ist bindend, eine Fehlentscheidung teuer. Nachdem die eigenen Fähigkeiten, die Entwicklungschancen im Beruf, die regionale Verfügbarkeit und die Verdienstchancen ins Kalkül gezogen wurden, folgte die Entscheidung für einen Beruf. Eine Umkehr, also der Abbruch der Ausbildung und ein Neuanfang, kostet Zeit und letztlich auch Geld. Doch so spezifisch die Entscheidung (für eine Berufsauswahl) ist, so unspezifisch ist die Zukunft: Reichen die eigenen Fähigkeiten aus? Macht der Beruf auch später noch Freude? Wie sind die zukünftigen Arbeitsmarktaussichten? Es erscheint nachgerade unfair: Die Entscheidung bindet, aber die Zukunft hält sich alle Optionen offen. Bei diesen Arten von Prognosen unterstelle ich regelmäßig, dass die Handlungen, die den Entscheidungen folgen, beeinflussbar sind. Es ist wenig sinnvoll, andere Annahmen zu treffen, denn eine Prognose „Berufswahl“ wäre nur sinnvoll, wenn eine Entscheidung auch möglich ist. Wäre der Entscheider z. B. des Lesens und Schreibens unkundig, fehlten elementare Voraussetzungen, um z. B. den gewünschten und prognostizierten Beruf „Arzt“ zu erlernen. Die Entscheidung hat dann sogar eine niedrige Spezifität im negativen Sinne. Es geht schlichtweg nicht. Wer prognostiziert für wen? Der zweite Aspekt, den zu betrachten sich lohnt, ist der Unterschied zwischen Selbst- und Fremdprognose. Eine Selbstprognose erstellen Sie selbst. Sie nutzen Informationen, die Ihnen zur Verfügung stehen, antizipieren das, was Sie nicht wissen und kommen so zu einer Vorhersage, die Sie benötigen, um eine Entscheidung zu treffen. Eine Fremdprognose erstellt hingegen jemand anders für Sie, wobei es zunächst nicht wichtig ist, ob Sie danach gefragt haben (einen Arzt) oder nicht (Werbung). Das zweite Kriterium, das eine Rolle spielt, ist der Personenkreis, den die Prognose betrifft. Für wessen Zukunft wird eine Vorhersage erstellt? Grundsätzlich kann zwischen Prognosen für die eigene Zukunft und Prognosen für die Zukunft einer mehr oder minder bestimmten Gruppe unterschieden werden. Ich nenne letztere die „abstrakte“ Zukunft, denn obgleich sie nicht

Fremdprognose

Fremderstellte Individualprognose

Fremderstellte Generalprognose

Selbstprognose

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Selbsterstellte Individualprognose

Selbsterstelle Generalprognose

Prognose betri die eigene Zukun

Prognose betri eine abstrakte Zukun

Abb. 3.4  Arten von lebensbeeinflussenden Vorhersagen

uns selbst als Person thematisiert, sind wir doch von ihr betroffen. Abb. 3.4 gibt die Prognosearten wieder. Fremderstellte Individualprognose: Wie immer bei einer Prognose wird auch hier versucht, eine Brücke von gegenwärtiger Entscheidung zu daraus resultierender Zukunft zu schlagen. Dieser Brückenschlag betrifft hier die eigene Zukunft: „Wenn …, dann wirst du …“. Solche Prognosen entfalten alleine schon durch ihre suggestive Wirkung eine hohe gestalterische Kraft und sind in der Lage, Entscheidungen zu beeinflussen, um die prognostizierte Zukunft zu erreichen oder zu vermeiden. Diese Wirkung ist aber abhängig davon, wer prognostiziert: Je mehr Fachkompetenz wir dieser Person zugestehen, desto stärker wirkt die Prognose auf unsere Entscheidungsfindung ein („Halo-Effekt“). Einem Arzt, dem Chef oder dem engen Freund trauen wir zu, auf seinem jeweiligen Gebiet gute Prognosen über uns erstellen zu können. Neben der Zukunftskompetenz des Prognoseerstellers spielt als zweiter Faktor die zerstörerische oder gestalterische Kraft des Prognosegegenstands eine Rolle. So hat der Satz des Arztes Wenn Sie sich nicht sofort den Knoten entfernen lassen, kann sich ein bösartiger Tumor entwickeln

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eine Impulskraft, der sich nur die Mutigsten (oder Dümmsten) entziehen können, während Wenn Sie nicht mit dem Rauchen aufhören, werden Sie drei Jahre kürzer leben

eine viel geringere Kraft entfaltet, ebenso wie wenn die erste Vorhersage ein guter Freund getroffen hätte, der keine medizinische Expertise besitzt. Der Einfluss einer fremderstellten Prognose auf unsere Entscheidungen erhöht sich, je größer und konkreter die Auswirkungen auf unsere Zukunft sind, wenn die Prognose eintrifft.

Allerdings ist diese Korrelation keineswegs unendlich. Wenn Sie nicht sofort diesen Talisman kaufen, werden Sie das nächste Osterfest nicht mehr erleben

erscheint uns dann doch abstrus, selbst dann, wenn wir diese Prognose von einem Experten erhalten, z. B. einem anerkannten – also für Touristen sehr teuren – Voodoo-Priester in einem Bergdorf Haitis. Ein fixes Maß, ab wann wir der Prognose nicht mehr trauen, gibt es aber nicht. Fremderstellte Generalprognose: „Wenn …, dann wird …“. Der Klassiker. Täglich werden wir mit Dutzenden, gar Hunderten solcher Prognosen konfrontiert. Wir lesen sie in den Zeitungen, Zeitschriften, bei Facebook, sehen sie im Fernsehen, hören sie im Radio oder werden – auf welchem medialen Wege auch immer – durch die Werbung mit ihnen belästigt. Die Könige solcher in der Regel unspezifischen Prognosen sind meines Erachtens die Politiker. Zu Wahlzeiten, im Sommerloch, bei empfundener Nichtbeachtung, also eigentlich immer, neigen sie dazu, Wirkungszusammenhänge wie Selbstverständlichkeiten zu postulieren, stets verbunden mit einer Forderung und dem Versprechen, „es“ selbst zu durchschauen und viel besser zu machen als die jeweils anderen. Die Glaubwürdigkeit fremderstellter Generalprognosen ist ebenfalls von der Kompetenz des Prognostizierenden abhängig. So wird man einer Konjunkturprognose eines Wirtschaftsforschungsinstituts eher glauben, als hätte sie die Wahrsagerin Ronja auf der Kirmes erstellt. Doch kommt ein weiterer wichtiger Faktor hinzu: die subjektiv empfundene Glaubwürdigkeit der Argumentation. Je kohärenter, glaubwürdiger und nachvollziehbarer eine

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Geschichte klingt, desto glaubwürdiger ist sie. Dies kennen wir bereits als die „Illusion der kognitiven Leichtigkeit“. Natürlich ist diese abhängig von den intellektuellen Fähigkeiten und dem Vorwissen des Adressaten. Anders ist kaum zu begründen, warum jede noch so dämliche Verschwörungstheorie, die im Web kolportiert wird, ihre Anhänger findet. Selbsterstellte Individualprognose: „Wenn …, dann werde ich …“. Prognosen dieser Art sind selbstverständlicher Teil der alltäglichen Lebensführung. Sie sind Ausdruck möglicher, bedingter Handlungen. Leicht kann man sie mit „Vorsätzen“ verwechseln. Im neuen Jahr werde ich 5 k abnehmen

ist ein solcher Vorsatz. Die Bedingung ist das temporale Ereignis 1. Januar als Starttermin für die Diät, die Handlungsfolge das Abnehmen. Eine solche Prognose impliziert eine Entscheidung. Wenn selbsterstellte Individualprognosen keine Vorsätze sind, sind es oftmals Unterstellungen, also Annahmen: Ich möchte Tischler werden, denn mit Holz zu arbeiten macht mir Spaß.

Diese Prognose drückt aus, dass eine Berufswahl begründet ist, weil die Ausübung des Berufes Spaß mache. Natürlich ist diese Vorhersage alleine schon wegen des zeitlichen Prognosehorizonts schwierig. Zudem kommt eine Reihe von Faktoren hinzu, die den Spaß an einem Beruf ausmachen, aber zum Zeitpunkt der Prognose nicht abzusehen waren (Verdienst, Branchenkonjunktur, Chef, Kollegen, konkrete Aufgaben usw.), also zunächst unbekannte Einflussfaktoren. Raum für Risikozuschläge. Neben Vorsätzen und Annahmen, die wie Prognosen klingen, aber letztlich keine sind, gibt es selbstverständlich noch „echte“ selbsterstellte Individualprognosen. Diese weisen in jeder Hinsicht eine hohe Spezifität auf und dienen dazu, die persönlichen Ressourcen so einzusetzen, dass der größtmögliche Lebensnutzen entsteht, was auch immer das sein mag. Es geht um die Absicherung der Zukunft (siehe oben). Leider sind wir nicht sehr gut darin, unser eigenes Verhalten zu prognostizieren. Bei Selbstprognosen sind wir • überoptimistisch, • halten gegenwärtige Absichten für wichtiger, als sie sind und • unterschätzen Widerstände bei der Umsetzung unserer Vorhaben.

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Selbsterstellte Generalprognose: „Wenn …, dann wird …“. Prognosen dieser Art betreffen eine unspezifische Zukunft und mit ihnen erklären wir uns die Welt. Zuweilen sind es nicht mehr als Diskussionsbeiträge und dann sind es Meinungen, die wir hören oder wiedergeben. Die vielen Flüchtlinge machen unsere Kultur kaputt.

Auch dieser Satz kleidet sich in das Mäntelchen, das wir Prognose nennen, ist aber letztlich nur eine Selbstauskunft („Ich bin gegen die Aufnahme von Flüchtlingen.“) und hat keine prognostische Relevanz. Was wird prognostiziert? Der Prognosegegenstand In Abschn. 2.2 haben wir bereits zwischen zwei grundsätzlichen Arten von Prognosen unterschieden: Bei der ersten Art geht es um eine gegebene, als fix und unbeeinflussbar angenommene Zukunft und die Frage, welche Folgen eine bestimmte Entscheidung in dieser Zukunft haben wird. Bei der zweiten Art haben wir eine Entscheidung bzw. die daraus resultierende Handlung angenommen und betrachtet, wie sich die Zukunft verändert. Ein wesentlicher Unterschied besteht in der Frage, ob es möglich ist, mit einer Entscheidung die Zukunft zu beeinflussen. Oft ist das eine Frage ihrer Granularität, ich habe sie „Spezifität“ genannt. Eine zukünftige Umwelt mag von unserer Handlung grundsätzlich unbeeindruckt sein, aber schauen wir auf die Details, stellen wir fest, dass ein kleiner Ausschnitt der Zukunft sehr wohl von unseren Entscheidungen beeinflusst wird. Neben dieser sicherlich etwas abstrakten Betrachtung zielt die Frage, was prognostiziert wird, noch auf den konkreten Prognosegegenstand ab. Dieser Begriff hat sich in der Prognostik durchgesetzt, obwohl es sich selten um einen „Gegenstand“ im üblichen Sinne handelt. Gemeint ist vielmehr jede Art von zukünftigem Zustand, der uns interessiert. Es kann sich um den Vermögensstatus genauso handeln wie um die Wachstumshöhe eines Baums oder den Status einer Liebesbeziehung. Manche dieser Zustände können wir messen, dann handelt es sich um quantitative Prognosegegenstände wie z. B. die Wuchshöhe, manche können wir nur abstrakt beschreiben, etwa die Liebe, und dann sprechen wir von qualitativen Prognosegegenständen. Ferner ist noch zu unterscheiden, ob eine Prognose zu einem Zeitpunkt oder für einen Zeitraum angegeben werden soll. Und so kommen wir wieder zu unserer beliebten 4-Felder-Darstellung in Abb. 3.5, um Beispiele zu benennen. Der Vorteil quantitativer Prognosen ist, dass ihre Qualität bzw. Präzision, also der Deckungsgrad von Prognose und tatsächlichem Ergebnis, recht

Zeitraum

• Umsatz in 2021 • Haushaltsneoeinkommen im nächsten Jahr • Durchschnisverbrauch des neuen Autos

• • • •

Zeitpunkt

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• • • •

Loogewinn am 12.3.2021 Ergebnis Fußballspiel Note des Deutschaufsatzes Umlaufvermögen am 31.12.20

• Gibt es das Paradies? • Ergebnis der Brustvergrößerung • Schaen, den der gepflanzte Baum zu Sommerbeginn 2020 spendet

Quantave Prognosegegenstände

Qualitave Prognosegegenstände

Verlauf der Ehe Erhaltungsaufwand Eigenheim Krankheitsverlauf Zufriedenheit im neuen Job

Abb. 3.5  Arten von Prognosen

leicht gemessen werden kann. Diese Messbarkeit ermöglicht, die Prognosemethode so zu optimieren, dass bei einem zweiten Versuch präzisere Vorhersagen möglich werden. Hierzu wird das Ausgangsmodell variiert, bis das nun schon bekannte Ergebnis getroffen wird. Wird die Wachstumsgeschwindigkeit eines Baums prognostiziert und dafür ein Wert vorhergesagt, etwa 70 cm pro Jahr, aber nach drei Jahren ist der Baum bereits 2,40 m hoch, kann der Wert auf 80 cm pro Jahr korrigiert werden. Die nächste Wachstumsprognose wird dann, vergleichbare Bedingungen vorausgesetzt, präziser sein. Im Falle qualitativer Prognosen ist dies ungleich schwerer. Den „Verlauf der Ehe“ zu prognostizieren, verlangt, die Beziehungsqualität zu beschreiben. Es werden Begriffe wie „harmonisch“, „kritisch“ oder „wechselhaft“ bemüht, die nicht messbar sind und die jeder anders interpretiert. Zählbares, etwa die Anzahl Kinder oder Jahre bis zur Trennung, spielt möglicherweise auch eine Rolle, aber nur in Kombination mit den Qualitätsfaktoren. Doch das Kernproblem bleibt: Was ist „harmonisch“? Ist es das liebevolle aufeinander Eingehen, das wir aus den ersten Wochen einer Romanze kennen, oder das rücksichtsvolle sich nicht Belästigen, dass eher bei langjährigen Partnern zu beobachten ist? Lässt sich Harmonie in Anzahl Streitigkeiten je Monat messen, oder kann die Abwesenheit von Streit auch

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die Abwesenheit von Interesse aneinander bedeuten, was landläufig sicherlich nicht mit „Harmonie“ assoziiert wird? Hieraus leitet sich eine bemerkenswerte Erkenntnis ab, die so nur für Alltagsprognosen, aber nicht für Vorhersagen im unternehmerischen Umfeld gilt: Je leichter das Ergebnis einer Prognose gemessen werden kann, desto verlässlicher ist sie als Grundlage einer Entscheidung.

Die Chance, am kommenden Samstag mindestens meinen Spieleinsatz beim Lotto zu gewinnen, kann ich ausrechnen, und eine Entscheidung fällt mir auf dieser Grundlage leicht. Aber die Chance, eine glückliche Partnerschaft zu führen, kann ich nicht in Prozent ausdrücken, weil mir fehlt, was ich für eine Prognose benötige: ein Modell, die Einflussfaktoren und Daten. Also ist eine Prognose als verlässliche Entscheidungsgrundlage von geringerem Nutzen. Wir haben uns diesem Zusammenhang an vorheriger Stelle schon einmal gewidmet, als wir von Eintrittswahrscheinlichkeiten einer Prognose lasen. Qualitative Prognosegegenstände wie die Beziehungsqualität einer Partnerschaft bedeuten zumeist, dass wir die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Prognose nicht hinreichend gut bestimmen können. Wir wissen trotz Prognosen nicht so recht, woran wir sind. Bei quantitativen Prognosegegenständen ist das leichter möglich, auch wenn das Ergebnis wie bei Lottoergebnisprognosen sein kann, dass die Gewinnchance minimal ist. Wir wissen, woran wir sind. An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit nicht bedeutet, dass die Prognose nichts taugt! Sie ist ein Maß für die Volatilität der Zukunft und damit für das Risiko einer Entscheidung. Dieses zu erkennen, ist von elementarer Bedeutung! Denn es ist ein Unterschied, ob eine Prognose nach allen Regeln der Kunst erstellte wurde, dabei aber kein klares Ergebnis herauskommt, oder ob wir oberflächlich waren. Im ersten Fall ist das Prognoseergebnis zwar nicht hinreichend belastbar, aber wir sind uns des Entscheidungsrisikos bewusst. Der zweite Fall jedoch führt zu einem Folgefehler: Ist die Prognose für die Entscheidung nicht hinreichend belastbar und trauen wir unserer eigenen Sorgfalt nicht, neigen wir dazu, sie durch eine Scheinprognose zu ersetzen, um uns sicherer zu fühlen.

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Wir greifen auf schwache Prädiktoren zurück, die uns eine indirekte Schlussfolgerung auf Zukünftiges ermöglichen sollen. Das ist zunächst nichts Falsches. Sehr oft können wir eine Primärentwicklung nicht beobachten und nutzen dann Sekundärdaten, die eine Kausalbeziehung oder zumindest eine Korrelation repräsentieren. Aber es ist gefährlich, wenn wir beim zufälligen Auftreten zweier Eigenschaften einen Zusammenhang zwischen ihnen vermuten (siehe hierzu Abschn. 4.1). Ein Beispiel: Ob wir mit der „neuen“ Frau intellektuelle Gespräche führen können, lässt sich anhand eines kurzen Profils auf einer Internet-Dating-Website nicht überprüfen. Also achten wir auf Abschlusszeugnisse, das Abitur, das Studium usw. und unterstellen, dass eine höhere Ausbildung gute Gespräche ermöglicht. Der Prädiktor ist die „Ausbildung“ für den qualitativen Prognosegegenstand „Gesprächsqualität“. Die verbleibenden Unsicherheiten liegen auf der Hand, und die Qualität der Prognose lässt sich erst mit einem Test verbessern, z. B. einem „Probegespräch“. Doch auch dann verbleiben Fragezeichen, denn in der Anfangsphase einer Beziehung sind die meisten Menschen aufmerksam, engagiert und wollen ein positives Bild von sich vermitteln, aber nach einiger Zeit lässt das nach. Der Prognosegegenstand „Gesprächsqualität“ ist somit abhängig vom Prognosehorizont, dem nächsten wichtigen Charakteristikum. Wie weit schaut eine Prognose in die Zukunft? Der Prognosehorizont bestimmt die mögliche Genauigkeit einer Prognose, jedenfalls meistens. Den Umsatz im kommenden Jahr vorherzusagen, ist leichter und genauer möglich, als jenen in fünf Jahren. Die Zukunft im nächsten Jahr, und damit die Umweltbedingungen, sind sicherer abzuschätzen. Der Verlauf der Partnerschaft im nächsten Monat dürfte, sofern keine disruptiven Ereignisse eintreten (Fremdgehen, Unfall o. Ä.), recht sicher vorhersagbar sein, aber wie läuft es in zwei Jahren? Je langfristiger eine Prognose, desto unsicherer ist sie.

Ausnahmen sind einige quantitative Prognosegegenstände, z.  B. die Gewinnchance im Roulette. Diese ist nächste Woche die gleiche wie in hundert Jahren, sofern die Spielregeln die gleichen sind. Es ist nichts anderes als mit Ihrem Navigationssystem: Je näher Sie dem Ziel kommen, desto genauer kann es die Ankunftszeit vorhersagen.

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Sind unbewusste Prognosen bewussten überlegen? Die wenigsten Prognosen für Alltagsentscheidungen werden bewusst erstellt. Was wir kochen, wie wir uns anziehen, wie wir unseren Abend gestalten oder wann wir morgens aufstehen, sind Entscheidungen, die mehr oder weniger automatisiert ablaufen. Die Handlungsfolgen, also die Zukunft, imaginieren wir dabei nicht bewusst. Es sind Alltagsentscheidungen in ihrem ursprünglichen Sinne, die auf Gewohnheit und Erfahrung basieren. Damit ist jedoch auch Variabilität ausgeschlossen. Erst die Neubewertung einer Entscheidung anhand einer Prognose, die auf neuen Daten basiert und/oder neue Handlungsziele berücksichtigt, würde Veränderungen im Alltag ermöglichen. Eine Neubewertung erfordert aber Aufwand. Die Ausgangssituation muss ebenso bewertet werden wie die Faktoren, die den Ressourceneinsatz beeinflussen. Und natürlich muss das mögliche Ergebnis bewertet werden. Dieser Aufwand lohnt nicht immer. Automatisierte, sogenannte „habituelle“ Entscheidungen sparen Zeit und Energie. Sie führen zu den immer gleichen Ergebnissen, solange sich die Umwelt nicht verändert. So kann es zeitsparend sein, immer die gleichen gelben Cordhosen mit Schlag anzuziehen, und das Ergebnis, das einmal prognostiziert wurde, ist immer das gleiche: Der Träger sieht modisch aus. Aber eben nur so lange, bis sich die Umwelt verändert und gelbe Cord-Schlaghosen außer Mode kommen. Dann ist das Ergebnis ein anderes, und aus dem modisch auftretenden Herrn wird ein Alt-Hippie. Eine neue Prognose ist erforderlich, um zu bewerten, was passiert, wenn weiterhin gelbe Cord-Schlaghosen getragen werden. Ist die Zukunft stabil und sicher, sparen habituelle Entscheidungen Aufwand. Ändern sich die Umweltbedingungen, ist eine neue, bewusste Prognose ratsam, um die Entscheidung zu überdenken.

Jede habituelle Entscheidung setzt eine unbewusste Prognose voraus, jede bewusste Entscheidung verlangt nach einer bewussten Prognose. Die Frage aber ist, ob eine bewusste Entscheidung einer unbewussten überlegen ist. Tatsächlich galt es lange als selbstverständlich, dass ein bewusster Entscheidungsprozess mit der Abwägung der Vor- und Nachteile dieser oder jener Lösung die besten Ergebnisse bringt. Erst die „Unbewusste Gedanken-Theorie“ setzte dem entgegen, dass sich auch komplexe Probleme besser lösen ließen, wenn unbewusst eine Lösung gefunden würde. Bewusste Gedankengänge seien eher für einfachere Probleme zu gebrauchen (Dijksterhuis et al. 2006). Diese verlockende Aussicht wurde in den letzten Jahren aber durch zahlreiche überprüfende Studien

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zunichtegemacht (Huizenga et al. 2012). Nein, wichtige, komplexe Entscheidungen verlangen bewusste Prognosen.

3.5 Wie entsteht eine gute Prognose? Wann immer wir eine Entscheidung treffen, basiert diese auf einer Prognose. Sie ist uns vielleicht nicht immer bewusst, aber ohne eine Vorhersage ist eine Entscheidung nicht möglich. Sogar dann, wenn die Entscheidung an einen Münzwurf delegiert wird, passiert dies, weil wir zuvor festgestellt haben, dass eine bewusste, eigene Entscheidung nicht der richtige Weg ist; das schauen wir uns in Abschn. 3.5.5 noch genauer an. Wenn die Entscheidung nun so gut wie möglich ausfallen soll, also den größtmöglichen Nutzen bei gegebenem Einsatz von Ressourcen (Zeit, Geld, Aufmerksamkeit usw.) bringt oder bei gegebenem Nutzen den geringstmöglichen Ressourceneinsatz erfordert, muss auch die Prognose so gut wie möglich die durch die Entscheidung entstehende Zukunft vorhersagen. Nie wissen wir alles, die Zukunft ist immer unsicher, also wird die Prognose nie sicher sein. Darum hat sie auch eine Eintrittswahrscheinlichkeit, die immer niedriger als 100 % ist. Ist sie hoch, dürfte sich die angenommene Zukunft recht sicher einstellen, ist sie niedrig, zeigt das, in welchem Ausmaß die Zukunft unsicher (volatil) ist. Und das ist sie nicht, weil wir schlecht prognostizieren, sondern weil zu viele Einflussfaktoren mitmischen, die uns nicht bekannt sind oder die von uns nicht bewertet werden können. Aber was wir tun können, ist, eine angemessene Sorgfalt bei der Prognose walten zu lassen: Je wichtiger die Entscheidung ist, desto sorgfältiger gehen wir vor. Wichtig ist eine Entscheidung, wenn sie für uns folgenreich, bindend und nur mit hohem Aufwand reversibel ist. Tauchen wir nun also ein in die Welt der Prognosetechniken. Wir werden uns in angemessener Weise mit einigen wenigen Modellen bzw. Methoden beschäftigen, und ich empfehle Ihnen umfangreichere Literatur, wenn Sie tiefer einsteigen möchten (z. B. Kühnapfel 2015). Überraschenderweise steigen wir aber mit einer Prognosetechnik ein, die so gar nicht durchdacht, nachvollziehbar und methodisch fundiert daherkommt: die Intuition.

3.5.1 Nutzen und Grenzen der Intuition Die Intuition ist ein seltsames Ding: Mal wird sie verteufelt, denn sie sei unzuverlässig, mal wird sie als der „Nachrichtenkanal des Göttlichen“ gepriesen. Hat eine „intuitive Entscheidung“ zum Erfolg geführt, lässt man

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sich für sein Gespür feiern, war es ein Reinfall, verschweigt man besser, wie die Entscheidung zustande kam. Aber was taugt diese Intuition nun im Kontext der Alltagsprognosen? Üblicherweise trenne ich in diesem Buch die Prognose von der Entscheidung. Erst kommt eine Prognose, dann die Entscheidung. Keine Entscheidung ohne Prognose. So auch hier: Es gibt die intuitive Prognose und es gibt die intuitive Entscheidung. Es ist möglich, dass einer intuitiven Prognose überhaupt keine Entscheidung folgt, nämlich immer dann, wenn man seiner eigenen Intuition nicht traut und die Entscheidung vertagt, bis mehr Informationen vorliegen. Beispielsweise könnte ein Außenstehender um Rat gefragt oder zunächst recherchiert werden. Es ist aber auch möglich, dass einer bewussten Prognose eine intuitive Entscheidung folgt. Das ist sogar recht häufig der Fall, vor allem dann, wenn die bewusste Prognose zu einer Entscheidungsindifferenz führt. Ein Beispiel: Eine Patientin erhält mit einer Krebsdiagnose eine Therapieempfehlung. Sie recherchiert sorgfältig, wägt die statistischen Überlebenswahrscheinlichkeiten ab, berücksichtigt die Belastungen der Therapie und holt sich eine zweite und dritte ärztliche Meinung ein. Am Ende bleibt die Prognose der Entscheidungsfolgen unklar, die Komplexität ist zu hoch, die Zukunft bleibt unsicher. Und so entscheidet sie intuitiv, so, wie ihr Bauch es ihr rät. Obwohl also intuitive Prognose und intuitive Entscheidung zwei Prozessschritte sind, werfe ich sie nun wieder in einen Topf und schreibe nur noch von „Intuition“ als Kombination dieser zwei Schritte. Warum? Weil Sie es im Entscheidungsprozess nicht schaffen, zwischen diesen zwei Phasen zu trennen. Erst im Nachhinein ist das möglich. Denn das Unwillkürliche ist das Wesen der Intuition. Die Intuition wird hier als spontane, nicht bewusst herbeigeführte Eingebung verstanden. Es ist eine unbewusste Intelligenz.

Es handelt sich um „gefühltes Wissen“, dass 1. schnell ins Bewusstsein dringt, 2. nicht begründbar ist und 3. „mächtig“ genug ist, dass wir ihm trauen und folgen. Was Intuition nicht ist, ist Willkür, bei der es auch einen starken Handlungstrieb (Punkt 3) gibt, der aber begründet werden kann (Punkt 2), denn

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Willkür setzt Absichtlichkeit voraus. Intuition ist auch keine „göttliche“ Eingebung, als die sie oft verkauft wird, um ihr Legitimation zu verleihen. Welche Arten von Intuition gibt es? Wir haben im bisherigen Verlauf dieses Kapitels gesehen, dass es mit der Selbstobjektivität so eine Sache ist: Wir gehen zu leichtfertig mit unseren eigenen Vermutungen, Ansichten und Einstellungen um. Unsere eigenen Glaubenssätze verdrängen Sachlichkeit, was im Falle der Alltagsprognose zu Verzerrungen und schlechten Entscheidungen führen kann. Bei der Intuition modellieren wir ohne bewusstes Nachdenken eine Zukunft und treffen darauf basierend eine Entscheidung.

Es lassen sich im wissenschaftlichen Kontext – aber auch umgangssprachlich – verschiedene Arten von Intuition unterscheiden, wobei die Abgrenzung der Begriffe unscharf ist. 1. Unbewusste Intuition: Am leichtesten können wir sie uns als ständig im Hintergrund mitlaufendes mentales System vorstellen. Es kommt beispielsweise bei Heuristiken zum Einsatz, also Daumen- oder Faustregeln. Die unbewusste Intuition ersetzt Prognosen. Sie unterliegt der Gefahr der Verzerrungen, so, wie ich sie für Heuristiken beschrieben habe. 2. Eingebung: Es ist ein sich plötzlich einschaltender Gedanke, die berühmte Idee unter der Dusche oder beim Rasenmähen. Tatsächlich handelt es sich, soweit wir wissen, um eine Neuverschaltung neuronaler Sphären. Ein Impuls führt zur Fortsetzung, Übertragung oder Neuanwendung eines bereits gespeicherten Gedankens, Bildes oder einer Erfahrung. Ein Synonym für diesen Impuls ist „Inspiration“. Newtons Apfel ist ein schönes Beispiel dafür, sofern die Legende wahr ist. 3. Instinkt: Von der Eingebung zu trennen ist der Begriff des Instinkts. Hierbei handelt es sich um eine angeborene Verhaltensweise, um einen Naturtrieb. Der Begriff ist in einigen Zusammenhängen durchaus positiv besetzt, etwa wenn jemandem ein „unternehmerischer Instinkt“ zugesprochen wird. Gemeint ist dabei jedoch regelmäßig Intuition. Den Unterschied macht das erforderliche Erfahrungswissen aus, das Intuition erst ermöglicht, bei Instinkten aber nicht erforderlich ist. Letztlich spielen Instinkte für Alltagsprognosen keine Rolle. Instinkte schließen bewusste Prognosen sogar aus, denn ihre Aufgabe ist es, einen äußeren Reiz direkt

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in einen Handlungsimpuls zu überführen. Eine Abschätzung von Handlungsfolgen, die Betrachtung von Alternativen oder die Abwägung von Kosten und Nutzen findet nicht statt. 4. Vorahnung: Vorahnungen sind prophetischer Natur. Es ist eine Melange aus diffusem Erfahrungswissen, voreiliger Mustererkennung, Ängsten, Hoffnungen und nicht bewusster Absichten. Eine Vorahnung braucht einen Anlass. Der Angler blickt auf den See und „weiß“: „Heute fange ich den Riesenhecht!“ Die Mutter schaut ihrer Tochter nach und „weiß“: „Heute baut sie einen Unfall!“ 5. Unbestimmtes Wissen: Scheinbar nahe an der „Vorahnung“, ist das unbestimmte Wissen ein Zwischenschritt von der Intuition zur versachlichten Erkenntnis. Wir sind uns sicher, etwas zu wissen und eben nicht nur zu ahnen, können aber die Quelle dieses Wissens nicht mehr nennen: „Ich bin mir ganz sicher!“ oder „Ich weiß es ganz genau!“ sind typische Indikatorsätze. Aber auch wenn wir uns noch so sicher sind, können wir in solchen Situationen nicht ausschließen, dass lediglich eine uns bekannte Parameterkonstellation – ein Muster – erkannt wird, das aber nicht auf den konkreten Prognosefall übertragen werden kann. Wir „wissen“ von der Konstellation, „kennen“ den Rahmen, aber nicht den Inhalt. Unsere Selbstsicherheit führt uns in die Irre. Dürfen wir einer Intuition trauen? 1950. Monaco. Formel 1. Juan Manuel Fangio, ein Weltklasserennfahrer der Nachkriegszeit, fährt aus einem Tunnel heraus auf eine Kurve zu. Wie schon einige Mal zuvor in diesem Rennen. Doch dieses eine Mal gibt er nicht Vollgas. Dieses eine Mal bremst er ab. Er spürte „intuitiv“, dass etwas nicht stimmt. Und so ist es auch: Ohne dass er es sehen konnte, stehen hinter der Kurve einige Rennwagen ineinander verkeilt. Mitten auf der Straße. Die Intuition rettet ihm möglicherweise das Leben. Fangio erzählte nach dem Rennen, dass er lange darüber nachgedacht habe, was ihn dazu bewog, zu bremsen, anstatt Gas zu geben. War es eine göttliche Eingebung? Hat ihm das Universum ein Stoppsignal geschickt? Die Lösung brachte die Analyse von Filmaufnahmen: Von der Stelle vor der Kurve aus konnte Fangio Zuschauer auf einer Tribüne sehen. Diese schauten ihn an, wenn er kam, Runde um Runde. Aber in der einen, entscheidenden Runde nicht. Da schauten die Zuschauer zum Unfall und nicht zu ihm. Fangio hat das während des Rennens nicht bewusst analysiert. Aber was er hatte, war Erfahrung: Viele Runden lang hat sich ein „Standardbild“ dieses Streckenabschnitts verfestigt und auf einmal nahm sein Unterbewusstsein, viel schneller als das Bewusstsein es jemals tun könnte, die Abweichung war.

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Der Schlüssel zur Intuition war: die Erfahrung! Diese Erfahrung hatten ihm nachfolgende Rennfahrer nicht, denn diese waren für die Zuschauer weitaus weniger interessant als der Weltstar Fangio. Ihnen schauten die Zuschauer nicht entgegen, sodass sich kein Standardbild verfestigen konnte. In der Unfallrunde war für diese Fahrer alles „wie gewohnt“. Erfahrungswissen ist der wichtigste Faktor für entscheidungsrelevante, nützliche Intuition.

Die Erfahrung mit der relevanten Umweltsituation ist der wichtigste Faktor zur Bewertung einer Intuition. Doch das reicht nicht: Denken Sie bitte noch einmal an Tab. 2.1, in der ich die Grade unsicherer Zukunft beschrieb. Die Kriterien waren Regeln, Einflussfaktoren, Informationssymmetrie und Entscheidungsmotive. Je weniger von diesen Kriterien feststehen, desto unsicherer ist eine Zukunft und desto weniger nutzt die Erfahrung. In einer unsicheren Zukunft 4. Grades zum Beispiel ist Erfahrungswissen irrelevant, weil sämtliche Parameter zum Prognosezeitpunkt erratisch zu sein scheinen. Muster gibt es nicht. Berechenbarkeit gibt es nicht. Eintrittswahrscheinlichkeiten wären geraten. Also kommt ein zweiter Faktor hinzu: Neben dem Erfahrungswissen ist eine stabile Umwelt und damit eine relativ sichere Zukunft der zweite Faktor für entscheidungsrelevante, nützliche Intuition.

Diese beiden Faktoren, Erfahrung und stabile Umwelt, sind übrigens auch die Voraussetzungen für Expertise. Der Nobelpreisträger Herbert Simon hat sich ausgiebig mit der Frage beschäftigt, wann ein Experte als solcher bezeichnet werden darf (Simon 1987; Simon und Gobet 1996) und dabei gezeigt, wie eng Expertise und Intuition miteinander verknüpft sind. Machen wir einen Perspektivwechsel: Sie sitzen beim Arzt und er verkündet Ihnen eine wenig angenehme Diagnose. Aber eine eindeutige Therapieempfehlung hat er nicht. Vielmehr spricht er davon, dass er intuitiv in Ihrer Situation die Therapie A empfehlen würde. Diskutieren Sie nicht, sondern stellen Sie ihm zwei Fragen: Erstens: Wie oft hat er schon Patienten mit ähnlicher Diagnose behandelt? Und zweitens: Hat sich in den letzten Monaten oder Jahren die medizinische Praxis wesentlich verändert? Fragen Sie nach seiner Erfahrung und der Stabilität der hier relevanten Umwelt!

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Wann ist Intuition hilfreich? Bauchentscheidungen basieren auf intuitiven Prognosen. Wir entscheiden und sind von der Richtigkeit unserer Entscheidung überzeugt, ohne sie erklären bzw. stichhaltig begründen zu können. Zuweilen täuschen uns Intuitionen, so, wie die Schweine aus dem Beispiel in Abschn. 3.2 auch ihrer Intuition und dem Bauern trauten, bis der Schlachttag kam. Doch haben intuitive Entscheidungen eine wichtige und berechtigte Funktion: Ist die Umwelt komplex und nicht berechenbar, nutzen auch keine mathematisch fundierten Prognosen. Dann hilft nur eine intuitive Prognose bzw. Bauchentscheidung.

Erinnern wir uns an das, was wir zuvor herausgearbeitet haben: Eine für Entscheidungen belastbare Intuition setzt Erfahrungswissen und eine stabile Umwelt voraus. Das Dilemma ist nun aber, dass wir vor Entscheidungssituationen gestellt werden, in denen es eben kein Erfahrungswissen gibt, die Umwelt bzw. Zukunft möglicherweise stabil, aber komplex ist und wir kein systematisches Prognosemodell anwenden können. Um hier entscheiden zu können, müssen wir auf unsere Intuition zurückgreifen. Ihre Belastbarkeit ist dann nicht zufriedenstellend, aber sie ist alternativlos. Was wir dann zumindest wissen, ist, dass die Entscheidung auf wackeligen Füßen steht und es ist dann eine gute Idee, einen Plan B auszuarbeiten, den wir nutzen können, wenn sich die Entscheidung als falsch herausstellt. Intuition bei komplexer Umwelt und mangelndem Erfahrungswissen ist kein guter Ratgeber für eine Entscheidung, aber zuweilen der einzige. Wir nutzen sie im Bewusstsein ihrer situativen Unvollkommenheit.

Das ist die Welt der Heuristiken. Hier helfen einfache Modelle sehr viel weiter als komplexe. Intuition und mit ihr intuitive Prognosen und Bauchentscheidungen sind also nichts Schlechtes, sie sind zuweilen das richtige Mittel. Wichtig ist, das berechenbare vom unberechenbaren Prognoseproblem zu unterscheiden. Hier ein paar willkürlich ausgewählte Beispiele: • Im „Eifer des Gefechts“ ungeschützten Sex zu haben und intuitiv zu „wissen“, das nichts passieren wird, ist dämlich, denn die Chance, ein Kind zu zeugen, ist recht einfach auszurechnen … noch ausreichend Blut im Gehirn vorausgesetzt. Rechnen Sie!

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• Angst vor einem Flugzeugabsturz zu haben, nur weil man schlecht geträumt hat, und stattdessen das Auto zu nehmen, ist auch ein Fehler. Die Autofahrt ist in jedem Falle gefährlicher als der Flug, Traum hin oder her. Rechnen! • Steht der Jobwechsel an? Sie werden kein Erfahrungswissen mit Jobwechseln haben, und auch die Umwelt ist hochgradig unsicher. Was Sie allerdings haben, ist Erfahrung mit dem Arbeitsumfeld und wann Sie es als angenehm empfinden. Einige Aspekte können Sie schon im Vorfeld einer Entscheidung herausfinden und intuitiv im prognostischen Sinne nutzen, etwa die Gestaltung der Arbeitsplätze und das Auftreten der neuen Chefin. Stimmen die kalkulierbaren Parameter (Gehalt, Wechselbedingungen, Arbeitsort), lassen Sie Ihren Bauch sprechen! • Die Entscheidung zwischen zwei Urlaubszielen, bei denen alle recherchierbaren Einflussfaktoren auf den Urlaubsspaß zu einer gleichen Wertigkeit führen (es ist also egal), darf ebenso intuitiv getroffen werden. Noch so ausführliches Kalkulieren hilft da nicht weiter, weil die situativen Unwägbarkeiten zu einer Komplexität der Umwelt führen, die sich einer Metrik entzieht. Außerdem gibt es Erfahrungswissen, etwa mit Menschen bestimmter Nationalitäten. • Steht als nächste „Stufe“ Ihrer Beziehung die Hochzeit an? Sollen Sie oder sollen Sie nicht? Sie wissen, dass die Scheidungsquote, je nach Alter, Herkunft, Bildung usw., zwischen 40 und 50 % liegt. Aber ist „er“ der Richtige? Trauen Sie Ihrer Intuition, denn das statistische Trennungsrisiko ist unvermeidlich und für den Einfluss individueller Faktoren gibt es keine Formel. Es gibt kein Beziehungsrezept! Doch in Kenntnis der schwachen Grundlage Ihrer Entscheidung sollten Sie für den Scheidungsfall vorsorgen. • Sie wollen ein Haus kaufen? Auch hier werden Sie vermutlich kein Experte sein (Erfahrung plus stabile Umwelt) und das wenige Erfahrungswissen, dass Sie besitzen, etwa die Erinnerung an den Stolz der Eltern auf deren eigenes Haus, ist eher eine Verzerrung im Stile einer Verfügbarkeitsheuristik. Aber: Eine ökonomisch fundierte Prognose der Sinnhaftigkeit eines eigenen Hauses ist leicht! Rechnen Sie, und wenn Sie keine Investitionsrechnung beherrschen, fragen Sie einen Fachmann. Natürlich keinen Banker! Am Rande: Intuition kommt bei Frauen und Männern in gleichem Maße vor. Aber Frauen stehen tendenziell eher dazu als Männer. Letztere neigen dazu, erst dann, wenn sich eine Entscheidung als richtig herausgestellt hat, zuzugeben, dass sie auf einer intuitiven Prognose basierte oder eine Bauchentscheidung war. Entpuppt sie sich als falsch, wird im Nachhinein nach

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rationalen Gründen gesucht, die seinerzeit für die getroffene Entscheidung sprachen, oder es werden unbeeinflussbare, externe Ursachen für das Ergebnis verantwortlich gemacht. Wirkungsverzerrer bei Intuition Es gibt zahlreiche Mechanismen, die Intuition ad hoc verfälschen und uns eine größere Belastbarkeit der intuitiven Prognose respektive intuitiven Entscheidung vorgaukeln. Der Intuition wird dann mehr vertraut. Schauen wir uns diese Mechanismen an: • Banalisieren der Zukunft: Der Effekt ist jener, der oben als „Illusion der kognitiven Leichtigkeit“ beschrieben wird: Wenn wir uns eine mögliche Zukunft leicht vorstellen können, z. B., weil wir sie bis zur Banalität vereinfachen, trauen wir der Intuition eher. Je einfacher die Vorstellung gelingt, desto sicherer sind wir uns. • Romantisieren der Zukunft: Steht eine Entscheidung an, trübt der Wunsch nach Harmonie und Glück in der Zukunft unsere Prognose. „Im neuen Job kann ich meine Fähigkeiten voll einsetzen.“ „Mit einer neuen Frau, die ich auf Parship kennenlernen werde, werde ich nicht mehr einsam sein.“ „Mit dem Diätkonzept von Weight Watchers werde ich schlank und rank.“ Es ist leicht, sich in eine idealisierte Zukunft hineinzuversetzen. Intuitiv antizipieren wir die erhofften Gefühle. Die davon ausgehende subjektive Wärme ersetzt dann die Prognose und wir unterschreiben den Vertrag. • Allmacht der Natur: Ein Argument muss stimmen, weil es auf etwas Natürliches verweist. So wird die Prognose, wer nach einer Trennung die Kinder nehmen soll, mit dem Satz „Die Kinder gehören zur Mutter, das ist von Natur aus so!“ beantwortet. Andere Beispiele: „Den Polen liegt das Stehlen im Blut.“ „Man kann Kinder ungebildeter Eltern nicht zu Professoren machen – die Natur irrt sich nicht.“ Durch das Bemühen der vermeintlichen Autorität „Natur“ wird so eine ideologisch und statistisch nicht haltbare Aussage geadelt. Gleichwohl haben solche Aussagen eine Wurzel: die Tradition. Und so ist der Verweis auf natur- oder gottgegebene Kausalbeziehungen oft nichts anderes als das Bekenntnis zu Verstocktheit, die dann eine intuitive Prognose bestimmt: „Die neuen Nachbarn, Polen, werden uns die Wohnung leer räumen. Lasst uns mehr Schlösser an die Türe schrauben.“ Oder: „Bafög für Arbeiterkinder sind verschwendete Gelder.“ • Tradition: Bleiben wir noch kurz bei der Tradition: Wir haben sie in Abschn. 3.2, als es um Wahrheit und Wirklichkeit ging, bereits kennengelernt, dort als Fessel. Tradition ist aber auch ein Anker. Für Prognosen

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gilt: Traditionen bieten bewährte Handlungs- und Bewertungsmuster und erlauben rasche heuristische Entscheidungen. Doch wenn sich die Umwelt verändert oder aber die Entscheidungssituation gänzlich neu ist, bieten Traditionen Sicherheit allenfalls noch auf einer abstrakten Metaebene, nicht aber für die konkrete Situation. Die Gefahr: Die abstrakte Ebene beeinflusst die Intuition; ein Ebenentransfer, der die Prognose und damit auch die Entscheidung dominiert. „Weil etwas lange etabliert ist, beinahe ewig so gemacht wird, also tradiert ist, muss es stimmen.“ Wir sprechen hier von „Musterbewährung“: „Seit vielen Jahrhunderten gibt es eine klare Rollenteilung zwischen Mann und Frau. Die Aufgabenteilung ist richtig, weil sie sich bewährt hat und der Natur der Sache entspricht“. So wird eine vermeintliche Musterbewährung als Prämisse für eine Handlungsvorgabe. Verweis auf Autoritäten: Je angesehener eine angebliche Autorität ist, desto mehr Beweiskraft haben ihre Aussagen und desto dominanter ist sie für die Beeinflussung einer intuitiven Prognose. „Die Integration von Flüchtlingen kostet den Steuerzahler Milliarden, wie Hans-Werner Sinn vom IFO-Institut für Wirtschaftsforschung klarstellt.“ „Pyrotechnik ist bei Fußballturnieren zu Recht verboten, weil es der DFB nicht ohne Grund verbieten würde.“ Und: „Der heilige Paulus schreibt: ‚Eure Weiber lasset schweigen unter der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern Untertan sein, wie auch das Gesetz sagt.‘ (Erster Brief an die Korinther 14:34)“. Hier wirkt der in Abschn. 3.3.4 beschriebene Halo-Effekt, um den wir uns aber auch noch in Abschn. 4.2.1, wenn es um die Macht der Experten geht, kümmern werden. Verweis auf Technik: Je technischer das Entscheidungsumfeld ist, desto eher vertrauen wir intuitiv auf die Handlungsempfehlung. Schön zu sehen ist das bei Finanzanlageempfehlungen: Vor allem kleine Sparkassen im ländlichen Raum setzen bei Beratungsgesprächen komplex erscheinende Analysesoftware ein. Das macht Eindruck, und das Ergebnis erscheint intuitiv vertrauenerweckender, selbst dann, wenn sich der Kunde bewusst sein muss, dass er am Ende sowieso nur hauseigene Finanzprodukte angeboten bekommt. Verweis auf Beliebtheit: Weil viele es sagen, muss es stimmen. Das werden wir uns noch in Abschn. 4.3 anschauen, wenn es um die Macht der Herde geht. „Homöopathie wirkt, weil sie so vielen Menschen geholfen hat.“ „Es muss ein Leben nach dem Tod geben, weil 78 % der Europäer daran glauben.“ Klingt doch schlüssig, oder? Beweislastumkehr: Eine Behauptung ist wahr, wenn das Gegenteil nicht bewiesen werden kann. „Flüchtlinge sind kriminell“ ist eine solche

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Behauptung, die gerne mit ein paar Beispielen unterfüttert wird. Wie soll aber bewiesen werden, dass Flüchtlinge nicht kriminell sind, wenn selbst die offiziellen Kriminalitätsstatistiken unvollständig sind? „Homöopathie wirkt, weil nicht beweisbar ist, dass sie nicht wirkt.“ Intuitiv wird diese scharfsinnige Unterscheidung zwischen dem behaupteten Fakt und dem, was für dessen Beweis zu wissen wäre, nicht unterschieden. Der Beweis (oder eben Nichtbeweis) des gegenteiligen Fakts reicht für die Beurteilung aus. In ein Haus neben einem Flüchtlingsheim zu ziehen, kommt dann nicht infrage. • Verallgemeinerung von Beispielen: Diesen Mechanismus haben wir uns schon angeschaut und ich nannte ihn in Abschn. 3.2 „Fehler der Induktion“. Einzelfälle werden zu einer verallgemeinernden Regel. Vermutlich können wir mangels objektiver Selbstbeobachtung diese Wirkungsverzerrer bei uns selbst kaum ausmachen. Sie verstecken sich wie ein Häschen in seiner Sasse. Doch wir sollten in der Lage und willens sein, insbesondere bei Entscheidungen großer Tragweite, unsere Intuition auf den Prüfstand zu stellen. Das gelingt durch eine Fremdeinschätzung, also einen Ratgeber. Es reicht oft schon ein Freund oder eine Bekannte, der wir das Entscheidungsproblem und unseren Umgang damit erläutern. Und wenn der Ratgeber nicht nur seine eigene Meinung vertritt oder eigene Interessen verfolgt, wird er Fragen stellen, die uns weiterhelfen. Intuitive Nirwana-Prognosen Es gibt zwei Spezialfälle intuitiver Prognosen, die eine starke Impulskraft haben und bei denen die Filter „Erfahrungswissen“ und „stabile Umwelt“ nicht so recht funktionieren. Der erste Spezialfall ist die „intuitive Nirwana-Prognose“. Harold Demsetz hat den „Nirwana-Approach“ beschrieben, um anzuprangern, dass nur allzu gerne eine reale mit einer idealen Situation verglichen wird, wenn Handlungsbedarf aufgezeigt werden soll (Demsetz 1969). Kommt Ihnen das bekannt vor? Es ist ein beliebtes Stilmittel der Politik. Die Verkehrssituation in Castrop-Rauxel, die Betreuungsspanne in der Kita, die Geburtenrate inländischer Frauen, das Verhalten der „anderen“ Verkehrsteilnehmer – nichts, was sich nicht mit einem Ideal vergleichen ließe. Bei der intuitiven Nirwana-Prognose prognostizieren und verzerren wir unsere Prognose intuitiv mit Wünschen bzgl. einer erhofften Zukunft. Wir „hoffen uns etwas herbei“.

Zur Verdeutlichung beschreibt Demsetz drei logische Fehler:

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1. „The grass is always greener fallacy“ Im Deutschen kennen wir den Spruch: „Die Kirschen in Nachbars Garten schmecken immer süßer.“ Übertragen auf unsere Alltagsprognostik ist das eine Annahme bzw. ein Inputdatum. Bedeutung bekommt dieser Irrtum, wenn er Datenlücken ersetzt. So entstehen Prognosen der Art • „der andere Job ist besser“, • „der andere Arzt ist kompetenter“, • „mit der anderen Frau werde ich ein glücklicheres Leben führen“, obwohl die Daten, die für eine halbwegs sichere Vorhersage erforderlich wären, nicht verfügbar sind. Das Unbekannte verunsichert nicht, hier verführt es. 2. „The fallacy of the free lunch“ Der Irrtum hier ist die Annahme, dass Sie irgendetwas auf dieser Welt geschenkt bekämen. Das meine ich keineswegs defätistisch. Ihr Chef lädt Sie zum Abendessen ein? Kostenloses Essen und zwei Stunden die Chance, sich zu präsentieren? Fein, aber wie sehen das Ihre neidischen Kollegen? Welches Ziel verfolgt Ihr Chef, wenn er zwei Stunden seiner Zeit in Sie investiert? In Ihrer Prognose nur den Nutzen der Einladung zu berücksichtigen („Vielleicht springt eine Beförderung für mich heraus“), wäre unvollständig. Die zweite Seite der Medaille wird auch eine Rolle spielen, auch wenn sie weniger offensichtlich ist. Sogar der Lotteriegewinn hat eine Kehrseite. Kommen Sie darauf, welche? 3. „The people could be different fallacy“ Ein sehr scharfsinniger Irrtum. Menschen sind, wie sie sind. Die Annahme in einer Prognose, dass sie anders sein könnten, führt zu einer Verfälschung der Umwelt- oder Zukunftsparameter. Wenn die Hälfte der Männer ihre Frauen betrügen, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Mann oder Freund es auch tut, bei 50 %. Alles andere zu vermuten, nur weil er so lieb und fürsorglich ist, wäre naiv. Wollen Sie also tatsächlich ohne Absicherung für den Trennungsfall für die Schulden seiner Geschäftsgründung bürgen? Nein, das wollen Sie nicht. Was heißt das nun? Die wichtigste Erkenntnis ist, dass wir unserer Intuition Zügel anlegen müssen. Jede Prognose impliziert eine Annahme über die Zukunft, die durch unsere Entscheidung entsteht. Aber wenn diese Zukunft den Hauch von „Idealem“ verspricht, ist Vorsicht geboten. Unbewusstes Einbeziehen versunkener Kosten Der zweite Spezialfall einer intuitiven Prognose betrifft das Phänomen der versunkenen Kosten (englisch: „Sunk costs“). Es handelt sich um tatsächliche

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oder kalkulatorische Kosten, die in der Vergangenheit in Erwartung einer angestrebten Zukunft entstanden sind. Versunkene Kosten können selbst bei einem Abbruch der Aktion nicht rückgängig gemacht werden. Sie sind irreversibel.

Versunkene Kosten können in der Gegenwart und in der Zukunft nicht mehr beeinflusst werden. Sie sind entstanden, egal, was weiterhin passieren wird. Ob Sie sich für Option A oder Option B entscheiden, es ist für diese Kosten egal. Aber warum sollten Sie sie dann in einer Prognose berücksichtigen? Ja, wir hängen emotional an diesen Kosten. Wir haben schon so viel „investiert“, dass wir nur unter Schmerzen bereit wären, einen Weg zu gehen, für den diese Kosten überflüssig waren. Dann müssten wir zugeben, dass wir uns geirrt hatten. Wir müssten akzeptieren, bereits Fehler gemacht zu haben. Ein Beispiel: Sie besitzen einen gut gepflegten Gebrauchtwagen. Sie haben alle Inspektionen machen und ihn regelmäßig bei Mr. Wash innen und außen reinigen lassen. Sie sind immer sehr pfleglich mit ihm umgegangen, haben auf Beschleunigungsorgien auf der Autobahn und auf so manche Fahrt verzichtet, weil Sie keine unnötigen Kilometer auf das Tachometer bringen wollten. Das alles sind Kosten bzw. Verzichtskosten, die den empfundenen Wert Ihres Autos erhöhen. Aber prüfen Sie selbst: Wenn Sie vor der Entscheidung stehen, morgen ein neues Auto zu kaufen, welche Bedeutung haben diese Kosten? In einer sinnvollen Prognose wären die zukünftigen Kosten und der zukünftige Nutzen eines neuen Wagens mit den zukünftigen Kosten und dem zukünftigen Nutzen des alten zu bilanzieren. Natürlich spielt eine Rolle, wie gepflegt der alte Wagen ist, aber eben nur hinsichtlich zu erwartender Reparaturen in der Zukunft. All die Entbehrungen der Vergangenheit sind irrelevant. Die vergangenen Kosten oder Verzichte sind „versunkene“ Kosten, die in der Prognose nicht zu berücksichtigen sind. Sie erhöhen lediglich die emotionale Bindung an den Altwagen. Ja, das ist ein Punkt, der auch bei einer Prognose eine Rolle spielen darf, dann aber bewusst im Sinne von „ich hänge an ihm“. Schwierig ist, dies in Geld auszudrücken, aber dazu kommen wir später noch.

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3.5.2 Qualitätssicherung für bewusste Prognosen Wenn Intuition eine „unbewusste Intelligenz“ ist, die zu einer intuitiven Prognose führt, wäre das Gegenteil der intuitiven wohl die bewusste Prognose. Darunter ist eine willentlich und in der Absicht, eine Entscheidung zu treffen, erstellte Prognose zu verstehen. Aber nicht erforderlich ist hier der formulierte Gedanke: „Oh, jetzt erstelle ich eine Prognose.“ Je alltäglicher die Entscheidung ist, desto eher wird die bewusste Prognose automatisiert erstellt und als solche nicht wahrgenommen. Wenn Sie beispielsweise eine Reise buchen und sitzen im Reisebüro, wird der Verkäufer Ihnen eine Reihe von Fragen stellen, die nichts anderes sind als der Versuch, die Einflussparameter zu ermitteln, unter welchen Umständen Sie den Urlaub als „schön“ bezeichnen würden. Das Klima, das Umfeld, der zumutbare Grad an Neuem oder das Budget, das Sie auszugeben bereit sind, wären solche Faktoren. Die Reisebürokauffrau erfragt die Einflussparameter und hilft Ihnen somit, eine bewusste Prognose zu erstellen. Ihre Fragen führen Sie mit Ihrer ersten Prognose zu der Entscheidung, ein Urlaubsziel auszuwählen. Die Prognose findet in diesem Beispiel zweifelsohne bewusst statt. Die Nutzung eines Experten für Reisen hat für Sie den Vorteil, in Ihrer Prognose unterstützt zu werden. Da die Reiseverkäuferin aber eigene Interessen vertritt, gibt es gleich mehrere Fallen: Modell Eine Prognosemethode gibt es in diesem Beispiel nicht. Zumindest gibt es keine, auf deren Ergebnisse Sie sich verlassen sollten. Denn anstatt eine wie auch immer geartete Kombination von Einflussfaktoren und Inputdaten zu einem Modell zu verbinden, das für Ihre subjektiven Vorlieben ein verlässliches Ergebnis liefern könnte, werden Ihnen Sehnsuchtsbilder präsentiert, auf die Sie abfahren: die warme Luft am einsamen Sandstrand, der Sonnenuntergang, den Sie mit Ihrer Liebsten erleben werden, und die kurzberockten Schönheiten, die im Klang des Hula-Hula Ihren Augen einen festlichen Schmaus bereiten. Sich die Zukunft golden auszumalen, ist Überoptimismus unter Ausblendung von geschätzten 80 % der anzutreffenden Realität. Es mag ein erfolgreiches Vorgehen sein, aber es ist kein Modell. Einflussfaktoren Die Reisebürokauffrau hat den Vorteil der Auswahl der Einflussfaktoren. Sie wird Sie mit Faktoren konfrontieren, die für ihr Ziel, Ihnen eine passende, aber auch gewinnbringende Reise zu verkaufen, relevant sind.

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Diese Auswahl ist interessengetrieben. Fair wäre, Ihnen zu Beginn des Verkaufsgesprächs eine Checkliste mit allen sinnvollen Faktoren vorzulegen und Sie zu bitten, diese mit einer einfachen Skala zu bewerten. Ein Fragebogen. In diesem könnten auch Faktoren abgefragt werden, die weniger romantisch sind, etwa der erwartete Hygienestandard, die Kriminalitätsrate hinter dem Zaun, der das Hotelresort umschließt, oder die Toleranz gegenüber saufenden Mittouristen. Aber zweifelsohne würde dieses Vorgehen den zielgerichteten Aufbau eines Verkaufsgesprächs stören. Doch das andere Extrem, die Auswahl der Faktoren, die für Ihre Prognose („Wann wird der Urlaub schön?“) relevant sind, ausschließlich Ihnen zu überlassen, wäre ebenso wenig sinnvoll. Sie würden vermutlich weniger Geld ausgeben. Inputdaten Im Gespräch sind Sie auf die Informationen angewiesen, die Ihnen die Reisebürokauffrau gibt. Sie hat Erfahrung, kennt die Berichte vieler Kunden und hat diverse Ort selbst besucht. Aber Sie wissen nicht, welche. Typisch ist, dass sie Ihnen Orte empfehlen wird, die sie kennt und gut fand. Dies schützt sie vor Beratungsfehlern und gibt Ihnen die Sicherheit, keinen Reinfall zu erleben. Aber da die Verkäuferin selbst nur einen winzigen Ausschnitt ihres Angebots kennen kann, entgehen Ihnen vielleicht wesentlich attraktivere Urlaubsziele und -varianten. Die Inputdaten, die Ihnen die Reisebürokauffrau zur Verfügung stellt, sind selektiert, nicht umfassend und durch ihre persönliche Erfahrung gefiltert. Dabei hilft auch das Internet nicht weiter. Zwar können Sie auf Tripadvisor die Empfehlungen der Verkäuferin prüfen, aber Sie können nicht nach Zielen suchen, über die Sie nichts wissen. Sie brauchen also noch mehr Inputdaten, z. B. Erzählungen von Freunden, Reisezeitschriften, Google Earth usw. Fremdeinfluss erkennen und ausschließen Das heißt schlicht: Bevor Sie in ein Reisebüro gehen, sollten Sie sich erst einmal Gedanken darüber gemacht haben, was für Sie einen schönen Urlaub ausmacht (Einflussfaktoren). Oder aber Sie gehen in ein Reisebüro, lassen sich beraten, entscheiden aber nicht gleich, sondern nutzen das Gespräch als Inspiration. Wann immer nun eine bewusste Prognose erstellt wird, Sie sich also Gedanken über eine mögliche Zukunft machen, die durch Ihre Entscheidung wahrscheinlich passieren wird, sind zwei Kontrollfragen obligatorisch.

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Diesen Aufwand sollten Sie investieren, denn das ist der Kern des Nutzens einer bewussten Prognose. Die erste lautet: Ist Fremdeinfluss bei einer der drei Ingredienzien einer Prognose (Modell, Einflussfaktoren, Inputdaten) zu erkennen, fragen Sie: Cui bono?

Welche Interessen hat der Beeinflusser? Kann er einen Nutzen daraus ziehen, Sie in einer bestimmten Richtung zu beeinflussen, indem er Sie zu einer bestimmten Prognose verführt? Bei einer Verkäuferin ist das klar: Sie möchte einen Abschluss erzielen. Bei einem Arzt ist das schwieriger zu erkennen, denn sein Interesse wird nicht sein, etwas von Ihnen zu bekommen, sondern etwas nicht zu bekommen: eine Klage wegen Unterlassung. Kommen wir zur zweiten Frage: Ist kein Fremdeinfluss festzustellen, fragen Sie sich: Welche Verzerrungen können durch die eigene Wahrnehmung oder durch das eigene Urteilsvermögen entstehen?

Auch hier ist zunächst zu hinterfragen, welches Prognosemodell Sie wählen … und warum. Vor allem aber ist wichtig, sich vor Augen zu führen, woher die Liste der prognose- und zukunftsrelevanten Einflussfaktoren sowie die Inputdaten stammen, mit denen Sie arbeiten. Warum diese und nicht andere? Haben Sie etwas „vergessen“ oder unterschlagen, weil es Ihnen zu kompliziert, zu einfach oder zu langweilig vorkommt? Sind Sie der Falle der Induktion aufgesessen, haben also wiedergekäut, was Ihnen Ihre Nachbarn erzählt haben (Verfügbarkeitsheuristik)? Und vor allem: Was wissen Sie nicht? Welche Unbekannten müssen Sie erdulden? Wie sehr beeinflussen diese die Eintrittswahrscheinlichkeit Ihrer Prognose? Als sinnvoll hat sich herausgestellt, immer dann, wenn der Aufwand gerechtfertigt ist, eine Art Checkliste durchzugehen, um Beeinflussungen zu erkennen. Diese Checkliste findet sich in Tab. 3.2 und ist nichts anderes als eine Liste all jener Themen, die wir in den Kapiteln zuvor erarbeitet haben. Die Kontrollfragen haben den Zweck, unser Augenmerk und das Bewusstsein auf die jeweilige mögliche Verzerrung zu lenken. Diese eliminieren kann eine solche Frage natürlich nicht, doch das Erkennen ist der Schlüssel zur Besserung.

124     J. B. Kühnapfel Tab. 3.2  Checkliste zur Überprüfung von unbewussten Einflüssen auf eine Prognose Kognitive Verzerrung Selbstüberschätzung

Überoptimismus Inkompetenz Selbsterfüllende und selbstzerstörende Prophezeiung

Kontrollfrage(n) Würde ein unbeteiligter Dritter meine Handlungsabsichten und ihre Folgen ebenso einschätzen wie ich selbst? Welchen Einfluss auf die Zukunft würde dieser Dritte mir zubilligen? Ist meine Einschätzung der Zukunft realistisch? Würde ich sie auch so sehen, wenn es nicht um mich, sondern um eine andere Person ginge? Weiß ich, was ich für eine Prognose weiß und welche Lücken ich habe? Kann ich Wissen von Vermutung und Hoffnung unterscheiden? Enthält meine Prognose eine Portion Hoffnung oder Angst? Wie präsent ist mein Bild von der Zukunft?

Heuristische Verzerrungen Welche Voraussetzungen unterstelle ich für die

Repräsentativitätsheuristik Prognose? Gibt es ähnliche Situationen, die ich Verfügbarkeitsheuristik Ankerheuristik

auf das vorliegende Prognoseproblem anwende? Haben wir Beispiele im Sinn, wenn wir Zusammenhänge als „Gesetzmäßigkeiten“ oder als „hochwahrscheinlich“ voraussetzen? Woher stammen die Inputdaten?

Wahrnehmungsverzerrungen

Narrative Kohärenz und Illusion der kognitiven Leichtigkeit

Gleicht unsere Prognose einer „fluffigen“ Erzählung? Könnte diese Erzählung nicht auch ganz anders verlaufen?

Priming

Mit wem habe ich das Prognose- oder Entscheidungsproblem besprochen? Hat mich jemand darauf angesprochen, und sei es im Werbefernsehen?

Framing Halo Bestätigungsverzerrung Selbstwertdienliche Verzeihung Austausch der Fragestellung Rückschaufehler

Status-Quo-Bias Hyperbolische Diskontierung Voreilige Mustererkennung

Einschätzung von Risiken und Wagnissen

Gefallen mir (intuitiv) die Inputdaten für meine Prognose? Habe ich mir die Mühe gemacht, mein Prognoseproblem aufzuschreiben? Kann ich mich in die Ausgangslage für eine frühere Prognose versetzen? Wie viel wusste ich damals? Was kostet und was nutzt eine Veränderung? Was kostet und was nutzt die Beibehaltung des bekannten Status? Welche Risiken birgt eine Veränderung? Wann werden Kosten und Nutzen eintreten? Ist mir ein möglicher zeitlicher Versatz bewusst? Warum weiß ich etwas? Oder glaube ich es nur, weil es eine gute Geschichte ist? Lässt sich die Geschichte als Algorithmus darstellen? Kann ich die möglichen Chancen und die möglichen Risiken messen und bewerten, z. B. in Geld oder Zeit?

Ja/ Nein

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3.5.3 Prognostiziert der Algorithmus besser? „Folge deinem Herzen!“, oder etwas weniger esoterisch: „Höre auf das, was dein Bauch dir sagt!“. Wer kennt diese gut gemeinten Ratschläge nicht? Sie kommen immer dann, wenn eine schwierige Entscheidung ansteht, für die es keine berechenbare, klare Empfehlung gibt. Der Jobwechsel ist hierfür ein gutes Beispiel: Vieles spricht dafür, vieles dagegen, aber letztendlich sind zu viele Determinanten unbekannt, oder, in unserer Terminologie ausgedrückt, die Einflussfaktoren sind klar, aber die Inputdaten fehlen. Also soll ein anderes Körperorgan als das Gehirn die Entscheidung treffen? Nein, natürlich sind weder der Verdauungssack noch der Pumpmuskel gemeint. Die Intuition soll´s richten. Der „Bauchmensch“ ist also jemand, der früher und stärker seiner Intuition vertraut als der „Kopfmensch“. Und damit begeht er möglicherweise einen großen Fehler! Aber der Reihe nach. Was ist ein Algorithmus? Umgangssprachlich verstehen wir darunter eine Formel, so eine, wie wir sie aus dem Mathematikunterricht kennen. Aber das ist nur ein Spezialfall eines Algorithmus, ein komfortabler sogar. Eine Formel ist (meist) eine Gleichung, die aus Variablen, Konstanten und mathematischen Verknüpfungen besteht. Eine Zeitreihe kann z. B. in Form einer solchen Gleichung ausgedrückt werden. Wenn wir Daten aus der Vergangenheit haben, etwa die Aktienkurse der letzten Monate, können wir die Beziehung zwischen Aktienkurs und Zeitpunkt mathematisch ausdrücken und eine Trendlinie konstruieren. Diese Trendlinie lässt sich nun in die Zukunft fortschreiben, indem wir rechnen oder zeichnen, und – Heureka – haben wir eine Prognose für den Verlauf des Aktienkurses in den nächsten Wochen. Ein Algorithmus kann aber auch etwas anderes sein, nämlich die Beschreibung eines Sachverhalts in einer formalen Sprache. Diese Sprache ist die Sprache der Mathematik. Ein Beispiel: Sie stehen vor dem Problem, für Ihr Kind eine weiterführende Schule auswählen zu müssen. Drei Schulen stehen zur Wahl, jede hat Vor- und Nachteile; keine ist auf den ersten Blick perfekt. Und nun? Eine Formel oder Gleichung zu bilden, ist nicht möglich. Aber Ihrer Intuition sollten Sie auch nicht vertrauen, wenn Sie keine Erfahrung mit den Schulen haben. Und schon gar nicht sollten sie Geschichten für prognoserelevant halten, die Sie von zwei oder drei Nachbarinnen gehört haben. Hier kommt eine allgemeinere Form des Algorithmus ins Spiel und hier zeigt sich auch der große Nutzen eines Algorithmus für die Alltagsprognose: die Formalisierung!

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Das geeignete Entscheidungsverfahren in diesem Schulwahlbeispiel ist die Nutzwertanalyse (englisch: „Scoring“, siehe Kühnapfel 2017, S. 74 ff.). Sie überlegen zunächst, welche Kriterien bei der Wahl einer Schule zu beachten sind: Klassengröße, Zusatzangebot, Entfernung zur Wohnung, Zustand der Toiletten usw. Vielleicht kommen Sie auf 10, 20 oder mehr Kriterien. Anschließend gewichten Sie diese Kriterien, denn nicht alle sind gleich bedeutend für die Frage, welche Schule die richtige für Ihr Kind ist. In einem dritten Schritt bewerten Sie für jede einzelne der infrage kommenden Schulen, inwiefern ein jedes Kriterium erfüllt wird, etwa mit 0 Punkten für „überhaupt nicht erfüllt“ bis zu 10 Punkten für „perfekt erfüllt“. Nun, viertens, multiplizieren Sie pro Kriterium und Schulalternative die Bewertung mit dem Gewicht, das Sie dem Kriterium gegeben haben. Zum Schluss addieren Sie je Schule die Ergebnisse und erhalten so den jeweiligen Nutzwert. Schule A hat den Wert 76,4, Schule B 89,2 und Schule C 63,1. Also ist Schule B die beste Wahl für Ihr Kind. Was ist hier passiert? Sie sind wie bei einem Kochrezept einer Anleitung gefolgt. Diese Anleitung ist ein erprobtes, formalisiertes Verfahren, und Sie können davon ausgehen, dass es getestet ist. Wenn Sie den Rahmen des formalisierten Vorgehens verlassen, hier bei unserer Nutzwertanalyse wie auch beim Kochrezept, ist das Ergebnis ungewiss. Also halten Sie sich an die Regeln! Die Nutzwertanalyse hat Sie an die Hand genommen und Schritt für Schritt durch den Dschungel einer zunächst unüberschaubaren Entscheidung geführt: Was ist für die Schulwahl von Bedeutung? Was ist besonders wichtig? Wie bewerten Sie die Schulen, nicht insgesamt, sondern für den gerade wichtigen Aspekt? Und wenn Sie diesen nicht bewerten können? Wenn Sie keine Inputdaten haben? Dann hat Ihnen die Nutzwertanalyse als formaler Algorithmus aufgezeigt, dass Sie Wissenslücken haben und sich darum kümmern müssen, diese zu füllen. Ihre Intuition hätte das überspielt! Nun kennen wir neben der Gleichung (Formel) eine zweite Gruppe von Algorithmen: Vorgehensanleitungen, die als Prognosemodell helfen, Einflussfaktoren und Inputdaten formal korrekt zu verknüpfen. Subjektivität, Schätzungen und Vermutungen gehören mit diesen Modellen keineswegs auf den Müllhaufen. Sie benötigen sie immer noch. Aber Sie wissen nun, in welchem Maße Sie schätzen und können somit ein Gefühl für die Eintrittswahrscheinlichkeit entwickeln. Wenn Sie z. B., um beim Schulauswahlproblem zu bleiben, von den vier wichtigsten Kriterien drei nicht für alle Schulen beurteilen können, sollte Ihnen klar sein, dass das Risiko einer Fehlentscheidung hoch ist. Oder: Die Eintrittswahrscheinlichkeit der Prognose, welche Schule die beste für Ihr Kind wäre, ist gering.

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Algorithmen sind immer besser, weil sie ein präziseres Bild von dem vermitteln, was wir wissen und was nicht. Die formalisierte Verknüpfung von Einflussfaktoren und Inputdaten zwingt darüber nachzudenken, was für eine Prognose wichtig ist und was wir wissen.

Der „Bauch“ hat keine Chance, sich einzumischen und uns mit Geschichten zu verwirren oder unsere Wahrnehmung zu verzerren. Algorithmen sind in der Regel präziser als Bauchentscheidungen. „In der Regel“ heißt, dass Sie immer dann, wenn Sie vor der Wahl stehen, formal oder intuitiv vorzugehen, den formalen Weg nehmen sollten. Die wissenschaftliche Forschung hat unzählige Beispiele hervorgebracht, die dies bestätigen. Ich möchte Sie ungern langweilen, aber hier drei meiner Lieblingsbeispiele in aller Kürze: Auswahl von Basketballspielern in der NBA Bei der Suche nach Spielertalenten, die einen Vertrag bei einer Profimannschaft bekommen sollen, verließen sich die Teams früher auf Scouts, die die Spieler beobachteten. Die meisten Teams stellten das Verfahren um, als sich herausstellte, dass ein Algorithmus, in den Kriterien wie die gemessene Antrittsschnelligkeit oder die Sprungkraft einfließen und der – wie die Schulen oben – zu einem Score führt, präziser den zukünftigen Erfolgsbeitrag eines Spielers vorauszusagen vermag. Dröges Messen, Zählen und Wiegen schlägt die Erfahrung von Talentscouts (Lewis 2017, S. 15 ff.). Entwicklung des Preises von Bordeaux-Weinen Statt den vermutlichen Weinpreis auf Basis einer Qualitätsbeurteilung der Großhändler und der Sommeliers zu taxieren, entwickelte Ashenfelter einen einfachen Algorithmus, der die Preisentwicklung anhand einiger weniger Daten (Wetter usw.) prognostizierte. Seine Formel prognostizierte deutlich präziser als es Profis taten (Ashenfelter 1995)! Verlauf von Krankheiten Meehl beschrieb auf Basis zahlreicher Forschungsarbeiten bereits 1954, dass Algorithmen den Verlauf von Krankheiten präziser prognostizieren als die behandelnden Ärzte (Meehl 1954; 1986). Wie durch Ashenfelter beim Weinpreis konnten auch hier einige wenige wichtige Einflussfaktoren (Kriterien) selektiert werden, die in eine Formel eingingen. Das funktioniert auch bei der Auswertung von Röntgenaufnahmen: Computer erkennen z. B.

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Tumore besser als erfahrene Ärzte. Sogar bei den Therapievorschlägen sind Algorithmen besser. Diese Liste ließe sich fortsetzen: Die Abschätzung von Aktienkursen, von Renditen bei Investitionen, von Fußballspielergebnissen oder die Erfolgschance von Paaren: Stets sind Algorithmen präziser in ihrer Prognose als die Menschen, sogar als „Experten“. Aber es gibt auch Gegenbeispiele. Es gibt schlechte Algorithmen, unvollständige oder fehlerhafte formale Anleitungen, so, wie es auch schlechte Rezepte gibt. Vor allem sind Algorithmen dann ungeeignet, wenn sie es nicht schaffen, alle relevanten Faktoren, die die Zukunft beeinflussen, zu berücksichtigen. Der Erfolg eines guten Algorithmus liegt in der Auswahl der Einflussfaktoren.

Denken Sie an das Schulauswahlproblem: Wenn Sie Ihren Kriterienkatalog schlampig zusammengestellt haben und als Einflussfaktoren z. B. die Oberweite der Musiklehrerin, weil Sie darauf stehen, oder die Anzahl Treppenstufen in den ersten Stock, weil Sie ungern Treppen steigen, ausgewählt und hoch gewichtet haben, wird Ihr Score, also das Ergebnis Ihres Algorithmus, vermutlich wenig nützlich für die Entscheidung sein, welche Schule die beste für Ihr Kind ist. Ebenso ist es bei der Weinpreisentwicklung, den NBA-Spielern oder der Krebsdiagnose: Immer ist die Kunst, aus einer gewaltigen Anzahl möglicher Kriterien jene zu selektieren und diese dann zu gewichten, die als Einflussfaktoren tatsächlich maßgeblich für die jeweilige Prognose sind. Das lässt sich testen: Mit Vergangenheitsdaten für eine Prognose eines Ereignisses, das schon bekannt ist. Dies machen Prognose-Forscher. Sie analysieren viele ähnlich gelagerte Prognoseaufgaben der Vergangenheit und vergleichen die Ergebnisse simulierter Prognosen mit den realen Daten. Sie können ihre Prognosen verändern, justieren, kalibrieren, und zwar so lange, bis die Prognoseergebnisse mit den realen Werten übereinstimmen. Sie können Kriterien hinzunehmen, gewichten und neu gewichten, Kriterien ausschließen und immer wieder testen, testen, testen, so lange, bis sie ein Modell finden, dass mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit eine ordentliche Prognose ermöglicht. Und dieses ausgetestete und erprobte Modell ist nun das Modell für alle in die Zukunft gerichteten Prognosen. Das können Sie nicht. Wenn Sie heute eine Prognose für eine anstehende Entscheidung erstellen, können Sie keine Modellvarianten testen, Kriterien und deren Gewichtung justieren oder versuchen, Kriterien wegzulassen, um das Modell zu vereinfachen.

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Sie haben genau einen Versuch. Hilfreich wäre allenfalls, wenn es verfügbare „Standardmodelle“ gäbe, also wenn andere für das anstehende Prognoseproblem Algorithmen entwickelt hätten, so, wie Vorwerks angestellte Köche Rezepte wieder und wieder testen und dann ein befriedigendes Ergebnis den Kunden per Web auf ihren Thermomix übertragen. Also taugen Algorithmen doch nichts für Alltagsprognosen? Doch, aber eben nur jene, die keine Optimierung auf Basis von Big-Data-Analysen benötigen. Die oben beschriebene Nutzwertanalyse zur Auswahl einer Schule z. B. funktioniert prächtig, auch wenn zu bemängeln wäre, dass die Kriterienauswahl, die Kriteriengewichtung und in einigen Fällen vielleicht auch die Bewertung je Schule subjektiv erfolgt. Algorithmen sind auch dann der reinen Intuition vorzuziehen, wenn Teile der Formalanleitung oder Inputdaten intuitiven bzw. subjektiven Charakter haben. Je mehr formale Anleitung eine Prognose enthält, desto besser.

Zuweilen wird explizit verlangt, so formal wie möglich vorzugehen. Unternehmen müssen in ihren Einstellungsverfahren so formal wie möglich vorgehen. Ihnen wird per Gesetz verboten, bestimmte Kriterien für die Auswahl eines Kandidaten zu verwenden, um Diskriminierung zu vermeiden. Der Grund für diese gesetzliche Bestimmung ist, dass Unternehmen, genau genommen die für die Einstellung von Personal Verantwortlichen, früher lieber Männer als Frauen, ungern junge Frauen („drohende“ Schwangerschaft), Schwarze, Behinderte oder Ausländer einstellten – und vermutlich auch heute noch einstellen würden, wenn es nicht ausdrücklich verboten wäre, solche Kriterien bei der Bewertung der Geeignetheit eines Kandidaten, was nichts anderes ist als eine Prognose, anzusetzen. Doch auch jenseits dieser nicht anzusetzenden Kriterien bleibt die Personalauswahl ein teilformaler Prozess: Es werden Formalqualifikationen abgehakt, aber es wird auch rein subjektiv in einem Bewerbungsgespräch geprüft, „ob man zusammenpasst“. In vielen Unternehmen erhalten Bewerber dann einen Score, also einen Wert, der sich aus vielen einzelnen Kriterien zusammensetzt. Wieder sind wir bei der Nutzwertanalyse angelangt. Die Aversion gegen Algorithmen Gegen den Grundsatz, bei Prognosen so formal wie möglich vorzugehen, weil das Subjektive, Intuitive noch früh genug kommt, wäre eigentlich nichts einzuwenden. Aber die Realität sieht anders aus:

130     J. B. Kühnapfel Menschen sträuben sich – intuitiv – gegen algorithmenbasierte Prognosen. Sie suchen lieber nach einer guten Geschichte, die dann die Prognose ersetzt.

Denken Sie noch einmal an die Nutzwertanalyse, die Sie gemacht haben, um zu entscheiden, auf welche Schule Ihr Kind gehen soll. Obwohl Sie sehr sorgfältig vorgegangen sind, bewusst Kriterien ausgewählt und deren Gewichtung und Bewertung vorgenommen haben, würden Sie sich vermutlich dennoch mit Ihrer Entscheidung wohler fühlen, wenn zwei, drei Eltern anderer Kinder eine schöne Geschichte zur erwählten Schule erzählen könnten. Stellen Sie sich vor, Sie berichten bei einem Elternabend der vierten Klasse von Ihrer algorithmenbasierten Prognose, wie Sie vorgegangen sind und zu welchem Ergebnis Sie kamen (Schule B), aber an Ihrem Tisch sitzen zwei Elternpaare, die Ihnen von Schule A vorschwärmen, auf der deren ältere Kinder sind. Sie wären binnen weniger Sätze verunsichert, und zwar umso schneller und gründlicher, je besser die Geschichten vorgetragen werden. Eine klassische narrative Verzerrung, denn den Geschichten der Eltern sollten Sie nicht trauen. Selbstverständlich werden sie Schule A loben, denn sie rechtfertigen damit ihre frühere Entscheidung. Es handelt sich um eine klassische selbstwertdienliche Verzeihung. Außerdem wissen diese Eltern nichts über die Schulen B und C, und wenn, dann nur aus Erzählungen anderer. Selbst wenn deren Begeisterung für Schule A gerechtfertigt wäre, könnte es also sein, dass die anderen Schulen noch besser sind. Was also sind die Storys der Tischnachbarn wert? Nichts! Es sind Meinungen von Leuten, die keine brauchbaren Erfahrungswerte besitzen. Und dennoch hören wir genau hin und lassen uns verunsichern, obwohl unsere Analyse gründlich und konzentriert war. Im Alltag schlagen Geschichten Berechnungen. Die narrative Verzerrung ist stärker als der Glaube an formale Anleitungen. Aber warum? Der schon oft zitierte Nobelpreisträger Daniel Kahneman zuckt nach einem langen Forscherleben noch immer mit den Schultern und kommt zu dem einfachen Schluss, Menschen bräuchten eine Geschichte, um sich mit einer Entscheidung wohlzufühlen. Wie viele Menschen sind im Glauben an Himmel, Hölle, Hexen oder den „wahren“ Gott, der das Morden will („Gott will es“ war eine der Parolen der Kreuzzüge) ermordet worden? Und auch wenn diese Beispiele für unsere Betrachtungen der Alltagsprognosen wohl zu weit gehen, bleibt als Schlussfolgerung stehen: Die Faktoren, die das Vertrauen in unsere Prognose verstärken, sind auch die Faktoren, die die Prognose am stärksten verzerren.

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Algorithmen aber erzählen keine Geschichte. Die Vorteile von Algorithmen gegenüber Geschichten: Warum sollten Sie sich überwinden, formale Modelle für Prognosen zu nutzen, wenn die Entscheidung weitreichend genug ist, sodass sich der Aufwand lohnt? Hier ein „Best-of“ der Argumente: • Chance, auch weniger offensichtliche Einflussfaktoren zu entdecken: Das Nachdenken bietet die Möglichkeit, ein Prognoseproblem von mehreren Seiten zu betrachten und so auch Aspekte einzubeziehen, die unbequem oder weniger offensichtlich sind. In Abschn. 3.5.5 stelle ich Ihnen z. B. die Denkhüte von de Bono vor, eine klassische Anleitung, Probleme vielschichtig zu betrachten. • Umgang mit Wahrscheinlichkeiten: Menschen sind schlechte intuitive Statistiker. Wir halten die Gefahr von Terroranschlägen für so groß wie nie, obwohl sie in unseren Breiten viel geringer ist als noch vor wenigen Jahrzehnten. Wir haben Angst vor einem Flugzeugabsturz, dabei ist die Autofahrt zum Flughafen wesentlich gefährlicher. Wir fürchten uns vor einer tödlich verlaufenden Krebserkrankung und übersehen, dass die Wahrscheinlichkeit für uns Männer, mit (nicht an!) einem Krebs zu sterben, weit über 80 % beträgt. Algorithmen nehmen uns an die Hand und zwingen uns dazu, Wahrscheinlichkeiten bewusst zu betrachten. Geschichten tun es nicht. Hier reicht schon die Wirkung einer simplen Verfügbarkeitsheuristik, um unsere Einschätzung der Zukunft zu verzerren. Heute lesen Sie den Zeitungsartikel über den Absturz eines Inlandsfluges in Aserbaidschan, und schon graust Ihnen vor Ihrem morgigen Flug nach Mallorca. • Unterscheidung von Kausalität und Korrelation: Hier muss ich Abschn. 4.1 vorgreifen: Wir sehen, dass Ereignisse gleichzeitig auftreten und unterstellen eine Abhängigkeit der Ereignisse, also eine Kausalität. Schuhgröße und Einkommen, um ein Beispiel zu nennen. Je größer die Schuhe, desto höher ist das Einkommen. Das stimmt tatsächlich, messen Sie nach! Aber ist das eine kausale Beziehung? Werden Sie mehr verdienen, wenn Ihre Füße wachsen? Verdient jemand weniger, nur weil er kleinere Füße hat? Nein, das ist natürlich absurd, aber dennoch ist der Zusammenhang statistisch nachweisbar. Ein Algorithmus kann Ihnen helfen, den statistischen Zusammenhang zwischen Schuhgröße und Einkommen zu erkennen, aber eine gut erzählte Geschichte macht eine Unwahrheit daraus. Die Lösung: Männer verdienen bei gleichen Beschäftigungsverhältnissen wie Frauen etwas mehr, und wesentlich mehr

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Männer sind gut verdienende Führungskräfte als Frauen. Und schon haben wir die Ursache gefunden. Es ist nicht die Schuhgröße, es ist das Geschlecht, und Männer haben größere Füße. • Bunker gegen Meinungsbombardement: Wenn eine Geschichte häufig und von vielen erzählt wird, glauben wir ihr eher. Kennen Sie solche Storys? Die Tarantel in der Yucca-Palme? Oder die Nichtexistenz der Stadt Bielefeld? Die Massenvernichtungswaffen des Saddam Hussein? Die Geschichte vom kollabierenden Gesundheitssystem in Deutschland? Die Finanzierung kirchlicher Sozialeinrichtungen durch die Kirchensteuer? Ich gebe zu, dass die Beispiele ziemlich weit weg von unserer Thematik sind, aber sie „funktionieren“, oder? • Fehler in der Interpretation von Mustern: Eine besondere Form der Missinterpretation von Zusammenhängen sind solche, die in eine Richtung funktionieren, aber nicht in der Gegenrichtung: 50 % der Personen, die der Vermögenselite zugerechnet werden, sind charakterlich „kantige“ Personen. Das ist zweifellos statistisch signifikant. Aber kantig zu sein, ist kein Indikator für die Chance, reich zu werden. Reiche sind kantig, aber Kantige sind nicht reich (Dettmer 2017). Auch hier hilft uns das bewusste, angeleitete Vorgehen, nicht in die Falle zu tappen, die eine gute Geschichte darstellt. • Mutmaßungen verkleiden sich als Beweise: Im Abschn. 3.2 (Wahrheit und Wirklichkeit) habe ich einige solcher Mutmaßungen angeführt, die durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung wie Wahrheiten erscheinen. „Die BASF ist ein sicherer Arbeitgeber“, „Arganöl ist ein Wundermittel“ oder „Die im Sternzeichen des Löwen Geborenen sollten nächste Woche rücksichtsvoller sein“ sind solche Mutmaßungen, die sich selbst bestätigen, wenn sie eintreffen, aber vergessen werden, wenn nicht. Auch hier lässt uns die Nutzung einer formalen Anleitung die implizierte Wirkungsbeziehung hinterfragen. Nun, diese Aufzählung ist natürlich unvollständig. Ich könnte all die in Abschn. 3.3 aufgelisteten Wahrnehmungsverzerrungen als Fürsprecher algorithmenbasierter Prognosen anführen, aber das würde Sie vermutlich langweilen, was ja auch eine Prognose ist. Wann sind Algorithmen der falsche Weg? Es gibt aber einen guten, triftigen Grund, der gegen Algorithmen spricht: der Aufwand! Intuition ist schnell, und wir haben schon festgestellt, dass eine intuitive Prognose die bessere Wahl ist, wenn nur

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• wenige Daten vorliegen, • viele Handlungsoptionen vorhanden sind und • die Zukunft hochgradig unsicher ist. Aber auch wenn die Tragweite der anstehenden Entscheidung, für die eine Prognose erstellt wird, beschränkt ist, also eine Alltagsentscheidung im klassischen Sinne, wäre ein Algorithmus oft übertrieben. Es gibt aber noch eine recht spezielle Form von Prognosen, bei denen Algorithmen den Blick auf die Zukunft nicht erhellen, sondern vernebeln. Dazu ein interessantes Beispiel, auch wenn es über unser Thema hinaus geht: Die Prognosefrage ist: Mit welcher Wahrscheinlichkeit werden Sie einen Kernkraftunfall erleben?

Nach der Deutschen Risikostudie liegt die Gefahr eines Unfalls bei einem Reaktor bei 2 ∗ 10−5. Sie glauben, das sei ein verschwindend geringes Risiko? Dann hat die Mathematik als Nebelmaschine funktioniert. Rechnen Sie nach: Weltweit waren im Dezember 2017 448 Kernreaktoren am Netz (laut Internationaler Atomenergieorganisation IAEA). Die Gesamteintrittswahrscheinlichkeit eines Unfalls eines der 448 Reaktoren beträgt also 0,9 ‰. Auch das klingt noch unbedeutend. Aber das Ergebnis bedeutet auch, dass ein heute geborenes Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 72 % im Laufe seines Lebens einen Atomkraftunfall erleben wird. Und hier sind nur technische Gründe berücksichtigt. Wenn Sie die Gefahr von Kriegen und Terrorakten hinzurechnen, ist es fast sicher, dass das Kind seine Katastrophe erleben wird, so wie wir Älteren z. B. Sellafield, Three Mile Island, Tschernobyl oder Fukushima erlebt haben. Das Ergebnis dieser Betrachtung ist: Algorithmen können zu Prognoseergebnissen führen, die ein verzerrendes Bild der Zukunft liefern, weil wir die abstrakten, mathematisch ermittelten Daten missinterpretieren.

Ein zweites Beispiel, das ungleich besser in unser Thema passt, stammt von Gerd Gigerenzer: Sie lassen eine Mammografie anfertigen. Das Ergebnis ist, dass die Bilder darauf hindeuten, dass Sie wahrscheinlich Brustkrebs haben. Aber Sie sollten sich erst einmal keine Sorgen machen, denn tatsächlich ist bei diesem positiven Befund die Wahrscheinlichkeit, dass Sie tatsächlich

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erkrankt sich, nicht einmal 10 %. Warum ist das so? Wir wissen, dass die Tests mit einer Sicherheit von 90 % Krebs anzeigen können, eine Fehlalarmquote von 9 % haben und erfahrungsgemäß ca. 1 % aller Probandinnen Krebs haben. Wenn sich 1000 Frauen testen lassen, fallen die Befunde also wie folgt aus: • 10 Frauen haben Krebs. Von diesen werden 9 positiv getestet, bei einer wird der Krebs nicht erkannt. • Von den 990 übrigen Frauen werden 89 falsch positiv getestet. • Insgesamt gibt es also 98 positiv getestete Frauen, von denen aber nur 9 Krebs haben. • 9 von 98 heißt, die Wahrscheinlichkeit, bei einem positiven Test auch tatsächlich Krebs zu haben, beträgt knapp 10 %! Grämen Sie sich nun nicht: Nur 21 % befragter Gynäkologen kannten die richtige Antwort (Gigerenzer 2014, S. 214 ff.). Meiner Meinung nach sagt das etwas über die Ausbildung unserer Ärzte aus. Ähnliche Verzerrungen kennen wir auch von der Interpretation von PSA-Tests (Prostatakrebs) oder der Beurteilung der Notwendigkeit, gefäßstabilisierende Stents zu setzen. Und zuletzt noch ein drittes Beispiel, das ebenfalls zeigen soll, dass wir unserer Wahrnehmung mathematischer Ergebnisse nicht vorbehaltlos trauen sollten. Sie buchen eine Reise nach Mallorca. Dort wollen Sie sich mit vielen alten Klassenkameraden treffen, die aus allen Teilen Europas anreisen. Sie verabreden sich für 17.00 Uhr in einem Hotel, aber weil Sie wenig Zeit haben, reisen Sie am gleichen Tage an. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, pünktlich um 17.00 Uhr im Ferienhotel zu sein? Tab. 3.3 zeigt die Problemstellung für unsere Pünktlichkeitsprognose: Die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass alles wie geplant passt, stammt von Ihnen. Und im Ergebnis mag man denken, dass die Gesamtwahrscheinlichkeit für eine pünktliche Ankunft bei mindestens 90 % liegen sollte. Aber das stimmt nicht, denn Wahrscheinlichkeiten bei Prozessen werden multipliziert: Gesamtwahrscheinlichkeit = 0, 9 ∗ 0, 95 ∗ 0, 9 ∗ 0, 9 = 0, 693

Sie kommen also nur mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 70 % pünktlich an, oder, wenn Sie vereinfachend das gleiche Anreiseszenario für alle ehemaligen Klassenkameraden unterstellen, werden von den 30 Geladenen 9 zu spät kommen. Buchen Sie also das anstehende Event mit ausreichend Puffer!

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     135 Tab. 3.3  Kettenwahrscheinlichkeiten am Beispiel einer Reise Reiseschritt 10.00 Uhr per Bus zum Bahnhof, Ankunft dort 10.43 Uhr 10.51 S-Bahn zum Flughafen, Ankunft dort 11.30 12.45 Abflug, Landung in Palma de Mallorca 14.55 15.30 Abfahrt ShuttleBus, 16.55 Uhr Ankunft im Hotel

Mögliche Risiken Verschlafen, Bus verpasst, Bus defekt, Innenstadtstau, Verletzung beim Aussteigen aus dem Bus, nur 8 Minuten Puffer In den falschen Zug gestiegen, Defekt, Personenunfall, Verspätung Absturz, Defekt, Verzögerung bei Abflug, Gepäck fehlt oder kommt spät aufs Band In den falschen Bus gestiegen, Bus fährt ungeplante Umweg für andere Gäste, Defekt, Unfall, Verfahren, Raubüberfall

Wahrscheinlichkeit, dass alles klappt 90 %

95 % 90 %

90 %

3.5.4 Prognosemodelle Nach diesem umfassenden Plädoyer für die angeleitete, formale und bewusste Prognose (Algorithmen), ergänzt um einige Warnungen hinsichtlich der möglichen Vernebelung der Ergebnisse durch allzu komplexe Mathematik, kommen wir endlich zu der Frage, wann welches Prognosemodell anzuwenden ist. Bei Fragestellungen wie diesen suchen Wissenschaftler reflexartig nach Kriterien. Was determiniert die Sinnhaftigkeit eines bestimmten Prognosemodells? Diese Kriterien haben wir schon kennengelernt: • Schnelligkeit • Aufwand • Grad der Sicherheit der vermuteten Zukunft • Einflussfaktoren (Kenntnis, Anzahl, Messbarkeit) • Inputdaten (Verfügbarkeit, Verlässlichkeit, Quelle) • Eigene Fähigkeiten Diese sechs Kriterien bestimmen, welches Modell angewendet werden sollte. Aber zunächst sollten wir uns einen Katalog mit Prognosemodellen erarbeiten, damit wir auch etwas auszuwählen haben:

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Welche Prognosemodelle stehen zur Verfügung? In der Welt der Prognosen für Unternehmen, und hier geht es beispielsweise um die Vorhersage von Umsätzen, Auftragseingängen, Finanzdatenentwicklungen, Investitionsvorhaben oder Marktentwicklungen, kennen wir je nach Zählweise 20 bis 40 verschiedene Prognosemodelle. Unterschieden wird dabei wie beschrieben in quantitative und qualitative Modelle, also solche, in denen mathematisch beschreibbare Inputdaten vorliegen und solche, bei denen Experten Abschätzungen auf Basis verschiedener Informationen vornehmen (Kühnapfel 2015, S. 144). Im unternehmerischen Umfeld wird für ein Prognoseproblem aber nicht etwa nur eine Prognose erstellt, sondern mehrere. Da jede einzelne Methode ihre Unschärfen in der Verarbeitung von Vergangenheitsdaten, der Berücksichtigung von Einflussfaktoren und der Einbeziehung von Annahmen über die Zukunft hat, zeigt sich, dass es sinnvoll ist, Methoden zu kombinieren. Üblicherweise wird vorgeschlagen, dass ein Unternehmen fünf Prognosemodelle durchexerzieren sollte und der Mittelwert der Ergebnisse das präziseste Ergebnis bringt (West 1994). Das beste Ergebnis einer Prognose ergibt sich, wenn die Ergebnisse unterschiedlicher Methoden kombiniert werden.

Das klingt auf den ersten Blick etwas unwissenschaftlich, aber die Vorhersage der Zukunft ist eben keine exakte Wissenschaft. Die Idee ist, durch eine gewisse Spreizung der Prognosetechniken auch eine Kompensation von möglicherweise ungünstigen Modellen zu erreichen, wobei erst in der Zukunft und dann rückblickend entschieden werden könnte, ob ein Modell gute oder weniger gute Ergebnisse lieferte. Auch ist die Verwendung mehrerer Modelle ein gutes Mittel, um die Streuung der Prognosewerte zu untersuchen: Liegen die Werte aller Modelle nahe beieinander, kann von einer hohen Eintrittswahrscheinlichkeit ausgegangen werden, auch wenn diese nicht präzise errechnet werden kann. Aber streuen die Ergebnisse wie die Einschusslöcher eines besoffenen Schützen auf der Zielscheibe, deutet das auf eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit des Durchschnittswertes hin. Dieses Vorgehen ist im Falle von Prognosen für Entscheidungen im privaten Umfeld kaum sinnvoll. Es bedeutet viel zu viel Aufwand und es verlangt auch zu viel Fachwissen über Prognosemethoden. Dennoch schien es mir wichtig, zu betonen, wie Profis ihre Prognoseergebnisse absichern – indem sie mehrere Methoden anwenden und die Ergebnisse kombinieren.

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Sie sind aber kein Profi, jedenfalls vermute ich das, und darum sollten Sie sich darauf konzentrieren, eine kleine Anzahl brauchbarer Prognosemodelle zu beherrschen und dann das jeweils bestgeeignete anzuwenden. Ich gehe auch davon aus, dass die Methoden von hinreichend gebildeten Menschen durchgeführt werden. Dumme Menschen brauche ich ebenso wenig zu berücksichtigen wie Fachexperten, denn beide Gruppen hätten dieses Buch nicht bis hierhin gelesen. Also schauen wir uns sieben Arten von Prognosemodellen an, die wir für unsere Zwecke verwenden können: 1. Intuitive Prognose 2. Prognose auf Basis der Beratung mit anderen 3. Prognose auf Basis der Empfehlung eines Experten 4. Analogiemethode 5. Fortschreibung von Vergangenheitsdaten 6. Naive Prognose 7. Nutzwertanalyse/Scoring Ad 1: Die intuitive Prognose Die Intuition haben wir in Abschn. 3.5.1 ausführlich genug behandelt. Es ist die unbewusste Intelligenz, die uns auf Basis von Erfahrung schnell eine Entscheidung vorschlägt. Dann nennen wir sie „Bauchentscheidung“. Diese ist von der intuitiven Prognose zu unterscheiden, die wir vorfinden, wenn wir schnell und aus dem Bauch heraus wissen, was zu tun wäre, aber noch nicht entscheiden. Das führt zu folgender Empfehlung: Gönnen Sie sich immer eine intuitive Prognose, aber seien Sie mit der Entscheidung vorsichtig!

Eine intuitive Prognose bietet sich an, wenn die Zukunft hochgradig unsicher ist und es wenige Informationen über die Einflussfaktoren oder wenige Inputdaten gibt. Meist ist das bei komplexen Situationen so, etwa der Partnerwahl, dem Jobwechsel oder bei Verschwörungstheorien. Für viele gehören aber schon Entscheidungen zur Vermögensvorsorge zu dieser Kategorie hochkomplexer Fragestellungen, und sie neigen dann zu einer Bauchentscheidung, die vom Vertrauen zum Finanzberater – der ja ein Finanzprodukteverkäufer ist – getragen wird. Das führt mich zu einer Warnung:

138     J. B. Kühnapfel Oft erscheinen Prognose- und Entscheidungssituationen komplex, weil wir zu träge sind, uns mit ihnen ausführlich zu befassen. Dann tendieren wir zu einer intuitiven Prognose, obwohl eine bewusste Prognose anzuraten gewesen wäre.

Wir sind also oftmals schlichtweg zu faul oder fühlen uns überfordert und hoffen dann naiv, dass uns der Bauch den Weg weist. Im Falle der Vermögensvorsorge, der Erziehung, aber auch bei ärztlichen Empfehlungen oder bei einem Jobwechsel ist diese Abkürzung problematisch, denn die Entscheidungen haben eine große Tragweite; zuweilen sind sie ohne erhebliche Kosten nicht umkehrbar. Wann also ist eine intuitive Prognose legitim? Sie ist in drei Fällen ratsam: 1. Prognosen für unwichtige Entscheidungen: Wenn eine Prognose schnell gehen muss und die Entscheidung keine schwerwiegenden Folgen hat. Beim Einkauf von Waschmitteln oder Unterhosen würde ich z. B. meinem Bauch vertrauen, bei dem Kauf eines Anzugs für eine Hochzeit besser nicht. 2. Es liegen eigene Erfahrungen vor: wenn die Zukunft auch mit ausreichender Fachkenntnis unsicher ist (mindestens 3. Grad), aber eigene Erfahrungen mit früheren, ähnlichen Entscheidungen vorliegen. Ohne diese Erfahrungen ist mein Bauch nicht besser als eine geworfene Münze, denn Intuition muss sich auf etwas berufen. Und wenn ich keine eigenen Erfahrungen habe, ist die Gefahr groß, dass ich suggerierte Pseudo-Erfahrungen verarbeite, und sei es nur den mit strahlendem Jauchzen vorgetragenen Anwendungsbericht eines Prominenten in der Werbung. 3. Es ist keine Einschätzung der Zukunft möglich: Wenn auch nach hinreichender Prüfung feststeht, dass die Zukunft unsicher ist, die Einflussfaktoren unklar und keine Inputdaten verfügbar sind. Am besten alle drei Aspekte auf einmal. Dann ist jede Form intuitiver Prognose akzeptabel, wenn auch unnötig. Die Entscheidung ist dann beliebig, allenfalls Intuitions-Tendenzen können eine bestimmte Richtung vorgeben. Aber ich betone noch einmal: Vermeiden Sie Trägheit. Wenn Sie bei der Wahl eines Studiengangs indifferent sind und diesen dritten Fall als Legitimation einer intuitiven Entscheidung heranziehen wollen, haben Sie sich schlichtweg nicht genug über das spätere Berufsbild informiert. Sie waren faul!

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Wie gehen Sie bei einer intuitiven Prognose vor? Die Prognose selbst kommt automatisch, das ist ja ihr Wesen. Aber mein Rat ist, sich immer zu fragen, warum Ihnen Ihr Bauch dieses und nicht jenes empfiehlt. Die Kontrollfragen sind „Wie folgenreich ist die Entscheidung?“ und „Habe ich eigene Erfahrungen mit ähnlichen Entscheidungssituationen?“ Ad 2: Die Prognose auf Basis der Beratung mit anderen Im unternehmerischen Umfeld nennen wir Gruppen, die qualitative Prognosen erarbeiten, „Estimation Groups“. Es handelt sich um erfahrene Personen, die ein Prognoseproblem aus unterschiedlicher Perspektive betrachten, Daten zusammentragen, Meinungen äußern und gegeneinander abwägen und nicht zuletzt Vermutungen über die Zukunft anstellen. Die Zusammenarbeit in der Gruppe schützt vor den typischen Fallen, also Meinung statt Wissen, Korrelation statt Kausalität oder Intuition, wo Arbeit erforderlich wäre. Im Privaten, Alltäglichen ist das soziale Umfeld die Estimation Group. Prognosefragen werden mit anderen diskutiert. Wichtig ist, die Fragestellung klar zu artikulieren. Wenn Sie das nicht tun, passiert Ihnen das Gleiche wie mir, als ich mir einen Thermomix anschaffen wollte: Der Preis von weit über 1000 € stand fest, die Prognosefrage war, ob ich das Gerät auch nutzen werde, es mir also dazu verhilft, ordentliches Essen zu kochen. Also habe ich in meinem Umfeld etliche Menschen gefragt, „ob es sinnvoll für mich sei, einen Thermomix zu kaufen“. Was ich bekam, waren spontane Antworten à la „Der ist viel zu teuer“, „Meine Nachbarin hat eine Cousine und die findet ihn klasse“ oder „Ich koche selbst, den brauche ich nicht“. Genau ein Einziger, bezeichnenderweise selber Professor, stellte die entscheidende Gegenfrage: „Was erhoffst du dir von diesem Gerät?“ Was mir passiert ist, ist typisch: Ich habe Meinungen eingesammelt, allesamt ohne jeglichen Wert für meine Prognose bzw. meine Entscheidung, weil ich den Befragten keine präzise Prognosefrage gestellt habe und diese nicht willens waren, mein Prognoseproblem und damit verbunden meine Erwartungen zu hinterfragen. Eine Prognose auf Basis der Beratung mit anderen braucht Spielregeln. Die wichtigsten sind: • Formalisieren Sie das Beratungsgespräch. Machen Sie Ihr Prognoseproblem deutlich und sorgen Sie dafür, dass Ihre Berater sich auf dieses konzentrieren. Party-Smalltalk ist kein Ersatz dafür. • Machen Sie die Fragestellung klar. Achten Sie darauf, dass Sie über die Prognose diskutieren, nicht über die Entscheidung. Statt „Soll ich mir

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einen Thermomix kaufen?“ also „Wird dieses Gerät mir helfen, gut zu kochen?“. Das ist wichtig, denn es gilt zu vermeiden, dass Ihre Berater unbewusst deren eigene Präferenzordnung einbringen. • Bitten Sie die Gesprächspartner, selbst darauf zu achten, was nur eine Vermutung ist und was sie wissen. Hinterfragen Sie die Datengrundlage Ihrer Gegenüber: Trauen Sie sich, „Woher weißt du das?“ zu fragen. • Hüten Sie sich vor den üblichen kognitiven Verzerrungen, etwa der Kraft einer gut vorgetragenen Geschichte. Nur, weil jemand munter parlieren kann, ist sein Argument nicht wahrer. • Stellen Sie Fragen! Wenn Sie die Runde dazu benutzen wollen, eine intuitiv vorgefasste Entscheidung bestätigen zu lassen, damit Sie sich besser fühlen, bringt Sie das nicht weiter. Fragen, fragen, fragen! • Eine zentrale Frage sollte sein: Welche Eintrittswahrscheinlichkeit hat die Prognose? Natürlich kann diese kein Gesprächspartner berechnen, aber Erfahrungen zeigen, dass die intuitive Äußerung einer Prozentzahl recht brauchbar ist, vorausgesetzt, der „Berater“ vertritt nicht eine selbst präferierte Handlungsempfehlung, z. B., weil er seine persönlichen Entscheidungen durch Ihre bestätigt haben möchte. Im Ergebnis werden Sie oft genug keine eindeutige Konsensprognose erhalten. Aber sicherlich sammeln Sie Einflussfaktoren und vielleicht sogar Inputdaten und Ihre Prognose wird besser, was bedeutet, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit höher wird. Ich selbst nutze solche Runden sehr gerne, und selbst dann, wenn „nichts dabei herauskommt“, habe ich den Nutzen, bestätigt zu bekommen, dass ich selbst schon an alles Wichtige gedacht habe. Wohl dem, der Freunde hat. Ad 3: Die Prognose auf Basis der Empfehlung eines Experten Ob Sie die Knieoperation machen lassen, entscheiden Sie. Aber Sie brauchen dazu eine Prognose der Heilungschancen, der Kosten, der zu erwartenden Risiken oder der Schmerzen und auch der vermutlichen Rekonvaleszenz. Hier verhalten wir uns oft wie Prognosekonsumenten: Wir erwarten, dass der Arzt als Experte uns sagt, was passiert, und wir nur noch die dann ohnehin schon feststehende Entscheidung bestätigen. „Das Knie tut weh, das soll aufhören und die Krankenkasse bezahlt. Risiken gibt es immer, aber es wird schon gut gehen.“ Diese Haltung hat eine Ursache: Sie glauben, es eh nicht beurteilen zu können und vermuten, dass der Arzt Ahnung von seinem Job hat. Experten suchen wir uns, wenn wir hoffen, dass diese uns aufgrund ihres Erfahrungswissens oder ihres Zugangs zu Informationen, die wir

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nicht haben, bei der Prognose unterstützen können. Wir erinnern uns: Ein Experte ist jemand, der etwas schon jahrelang in einer stabilen Umwelt tut. So auch der Orthopäde. Aber sollte nächste Woche eine neue Kniebehandlungstechnik „erfunden“ und in den Markt eingeführt werden, ist unser Arzt dafür noch kein Experte, denn er hat nur eine eingeschränkte Erfahrung für herkömmliche Therapieformen und die Umwelt ist eine andere als zuvor. Aber ich möchte noch eine dritte Bedingung einführen: Ein Experte hat langjährige Erfahrung in einer stabilen Umwelt und ist frei von Eigeninteressen.

Letztere Bedingung ist beim Orthopäden nicht gegeben. Er möchte mit der Behandlung Geld verdienen, oder er möchte einen Behandlungsfehler vermeiden und überweist uns an einen Chirurgen. Aber warum sollte der Arzt eine unkonventionelle Behandlungsmethode vorschlagen, etwa tägliche Heilerdewickel? An ihnen verdient er kein Geld, und wenn es fehlschlägt, könnte ihm der Vorwurf gemacht werden, nicht früh genug zu einer Operation geraten zu haben. Darum ist die erste Kontrollfrage, wenn wir einen Experten zurate ziehen: Hat dieser Experte ein Eigeninteresse? Will er mit einer bestimmten Aussage etwas erreichen oder sich vor etwas schützen? Damit schließen wir aus dem Kreis der Experten alle Verkäufer aus. Der Banker, der Finanzberater, der Versicherungsmakler, der Arzt, der Radsportfachmann im Fachhandel, der Headhunter, ja sogar der Pfarrer, alle verkaufen Sie eine Leistung. Ihre Expertisen sind nur eingeschränkt nützlich, wenn überhaupt. Darum entbinden Sie deren Ratschläge niemals von eigenverantwortlichem Nachdenken, Sammeln und Prüfen von Informationen. Die zweite Kontrollfrage ist jene nach der Eintrittswahrscheinlichkeit seiner Vorhersage. Ein Experte sollte hier auf Daten zurückgreifen können, also nicht wie ein privater „Berater“ eine intuitive Vermutung äußern. Natürlich ist das nicht in jedem Falle möglich, wenn Ihr Prognoseproblem beispielsweise zu spezifisch ist. Aber selbst dann sollte ein Experte Ihnen Daten zu ähnlichen Fällen zitieren können. Misstrauen Sie also Experten, wenn sie keine Informationen über – hier – Fallzahlen besitzen, denn wie der Statistiker W. Edwards Deming sagte: Without data you´re just another guy with an opinion.

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Kommen wir nun ohne Umschweife zu einer wichtigen Empfehlung: Welchen Experten darf getraut werden? Am nützlichsten erweisen sich meist solche Experten, für deren Rat Sie bezahlen müssen.

Für viele komplexe und folgenreiche Prognosefragen bzw. Entscheidungen gibt es Fachleute, die Sie gegen Honorar konsultieren können. Das schützt zwar nicht vor Inkompetenz des Experten, die Sie vermutlich nicht erkennen können, und auch nicht davor, dass Experten zuweilen dazu neigen, schlau wirken zu wollen und auch dann Ratschläge erteilen, wenn Sie selbst nur raten, aber erfahrungsgemäß ist es eine gute Idee, sich den objektiven Rat eines Experten mit Geld zu kaufen. Bei mehr oder weniger anonymen Beratern aus dem Web sollten Sie selbstverständlich vorsichtig sein. Gerade in der Finanz- und Rechtsberatung haben sich einige Portale etablieren können. Die Qualität des Beraters, den Sie im Chat erwischen, schwankt erfahrungsgemäß erheblich, wenn dessen Neutralität nicht schon dadurch zweifelhaft ist, dass er Zusatzdienste verkaufen möchte. Ein solches finanzielles Interesse haben auch die augenscheinlich „neutralen“ oder „objektiven“ Vergleichsportale wie Verivox oder Check24. Sie kassieren Vermittlungsprovision, denn es sind Handelsvertreter, die Angebotsvergleiche wie Testergebnisse aussehen lassen. Besser, viel besser ist die Stiftung Warentest, denn diese wird im Wesentlichen von Steuergeldern getragen. Ihr dürfen Sie vertrauen, wenn Sie eine Anschaffung vorhaben, sei es eine Waschmaschine oder einen Rentenfonds. Der Testbericht kostet lediglich ein paar Euro. Im Falle Ihrer Knieschmerzen empfiehlt es sich, einen zweiten Arzt zu konsultieren, ihm aber von Beginn an deutlich zu sagen, dass er Sie beraten soll, er sie aber nicht behandeln wird. Sein Verdienst ist auf die Beratungsleistung beschränkt, ein Risiko trägt er nicht. Seine Empfehlung, Heilerdewickel zu machen, wird er, so ist zu hoffen, mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit eines zu definierenden Behandlungserfolgs ergänzen. Ihm wäre dann zu trauen. Sein Rat ist etwas wert. Ebenso können Sie sich auf Experten in Ihrem sozialen Umfeld stützen. Aber bitte suchen Sie sich jemanden, dem Sie im Zweifel auch Geld für seinen Rat bezahlen würden. Ansonsten fragen Sie z. B. einen Nachbarn um Rat, der auch schon einmal ein Knieproblem hatte, aber ist er ein Experte?

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Wohl kaum. Auch ist die Cousine, die in der örtlichen Sparkasse arbeitet, keine Expertin für Finanzprodukte, sogar dann nicht, wenn sie diese verkauft. Sie hat eine recht eingeschränkte Sicht auf den Markt und hat, mehr als der Orthopäde, Angst vor einer Falschprognose. Stellen Sie sich vor, Ihre Cousine rät Ihnen zu Zertifikat A oder Schiffsfonds B und die Kurse dieser Produkte schmelzen dahin wie Vanilleeis im Sommer. Beim nächsten Familientreffen müsste sie am Katzentisch sitzen. Ein kleiner Tipp: Wenn eine Bekannte als Expertin konsultiert wird, können Sie ihre Redlichkeit und die Ernsthaftigkeit ihrer Prognose leicht prüfen: Stellt die Expertin Rückfragen?

Es ist kaum anzunehmen, dass sie Ihre Präferenzen, Pläne, Ressourcen oder Vorlieben kennt. Das muss sie aber, um die individuellen Einflussfaktoren auf die Zukunft zu ermitteln. Also muss sie Fragen stellen. Ich habe es noch nie anders erlebt. Sollte die Expertin keine Rückfragen stellen und gleich eine Prognose oder gar eine Empfehlung aus der Hüfte schießen, misstrauen Sie dieser! Prognosen von Experten sind bei erforderlichem Fachwissen sehr nützlich, wenn der Experte einer ist. Die oben genannten drei Bedingungen sind Voraussetzung dafür. Bezahlte Fachleute (selbst bezahlt oder ohne Eigeninteressen von Dritten gestiftet) sind eine recht sichere Wahl. Experten aus dem eigenen Umfeld eignen sich mit den genannten Einschränkungen auch, sofern diese bereit sind, sich über Rückfragen ein vollständiges Bild Ihrer Situation zu machen. Ad 4: Die Analogiemethode Das vierte Prognosemodell ist die Analogiemethode. Hier werden vergleichbare, aber zeitlich vorlaufende Ereignisse betrachtet und ein ähnlicher Verlauf des zu prognostizierenden Ereignisses unterstellt. Wenn Sie z. B. vor dem Kauf eines Autos stehen und interessieren sich für einen Dacia, werden Sie sich fragen, ob der preisgünstige Wagen hohe Reparatur- und Erhaltungsausgaben verursacht. Die Prognose ist einfach: Sie fragen andere Dacia-Fahrer. Möglichst viele natürlich, denn bei nur wenigen wäre die Gefahr zu groß, dass Sie statistische Ausreißer erwischen. Diese anderen Fahrer haben Erfahrungswerte, und Sie können, da es sich bei einem Auto um ein stets gleich produziertes und einigermaßen ähnlich genutztes

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Massengut handelt, davon ausgehen, dass deren bisherige Erfahrungen – also vorlaufende Daten – repräsentativ für das stehen, was Sie mit Ihrem Auto erleben werden. Voraussetzung für die Gültigkeit der Analogie ist, dass die Umweltbedingungen der Situationen vergleichbar sind. Beispielsweise sollten die befragten erfahrenen Dacia-Fahrer nicht an Ralleys teilnehmen, eine passende Kilometerleistung unter ähnlichen Nutzungsbedingungen haben und Wartungsintervalle einhalten, vorausgesetzt, Sie selbst sind ein „durchschnittlicher“ Fahrer. In diesem Beispiel einen analogen Verlauf zu unterstellen, ist möglich, weil die Ähnlichkeit der externen Umweltbedingungen (Gleichheit des Autos und Verkehrs), aber auch die Ähnlichkeit der internen Ausgestaltung des Prognoseobjektes (Fahrweise usw.) dies zulassen. Schwieriger wird es, wenn die externe oder die interne „Ebene“ nicht vergleichbar sind. Die Dauer, wie lange Sie bei Ihrem neuen Arbeitgeber unter Vertrag sein werden, um beispielsweise zu entscheiden, ob es sich lohnt, am neuen Arbeitsort ein Haus zu kaufen, können Sie nicht aus den durchschnittlichen Vertragsdauern anderer Arbeitnehmer früherer Jahrzehnte ableiten. Diese Analogie ist nicht gültig, weil sich über alle Arbeitsverhältnisse hinweg die durchschnittliche Vertragsdauer in Deutschland verkürzt hat. Die Gepflogenheiten der Arbeitsmärkte haben sich verändert. Auch können Sie den Verlauf einer MS-Erkrankung Ihrer Schwiegermutter nicht auf Basis durchschnittlicher Krankheitsverläufe anderer Erkrankter abschätzen, nicht einmal solcher, deren Patienteneckdaten wie Geschlecht, Alter usw. mit denen Ihrer Schwiegermutter übereinstimmen, weil MS-Krankheiten stets unterschiedlich und selbst für Fachmediziner mehr oder minder erratisch verlaufen. Streuungen machen eine Analogiemethode wenig aussagekräftig. Wie funktioniert eine Prognose auf Basis einer Analogiemethode? Sie suchen einen in der Vergangenheit liegenden Ereignisverlauf, der Ihrem Prognoseproblem ähnelt. Auf der internen wie auf der externen Ebene muss die Vergleichbarkeit gegeben sein. Lässt sich das Referenzereignis „nur so ungefähr“ mit Ihrem Prognoseproblem vergleichen, ist die Eintrittswahrscheinlichkeit Ihrer Vorhersage geringer und eine mögliche Entscheidung auf Basis der Prognose damit risikoreicher. Wie immer empfehle ich, Ihr Vorgehen mit Ihrem Umfeld zu beraten. Eine Reflexion durch Außenstehende hilft weiter, sofern, und hier wiederhole ich mich, diese privaten „Berater“ keine Eigeninteressen verfolgen (etwa weil sie keinen Dacia mögen). Deutlich dürfte geworden sein, dass die Analogiemethode nur selten präzise Ergebnisse liefern kann. Der Grund ist vor allem, dass wir zwar Daten sammeln und oft sogar die Entwicklung des Referenzereignisses

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     145

quantitativ beschreiben können (Aktienkursverläufe, monetärer Nutzen eines Eigenheimes, Kosten des Autos usw.), aber die Aufgabe überspringen, die Einflussfaktoren der vergangenen und damit auch der zukünftigen Entwicklung zu ergründen. Genau darum ist es ja so wichtig, dass die externe Ebene vergleichbar ist: Wenn wir nicht wissen, warum sich etwas auf eine bestimmte Art und Weise entwickelt, müssen wir darauf achten, dass die Rahmenbedingungen die gleichen sind. Wenn Sie also nicht wissen, warum der Marmorkuchen Ihrer Großmutter so gut schmeckt, halten Sie sich streng an ihr Rezept, wenn Sie ihn nachbacken wollen. Ad 5: Die Fortschreibung von Vergangenheitsdaten Nachdem wir uns vier Prognosemodelle angeschaut haben, die auf eher qualitativen Einschätzungen aufbauen, kommen nun etwas Mathematik und Statistik ins Spiel. Das erste Modell ist die „Trendextrapolation“. Dieses lässt sich nur einsetzen, wenn Daten aus der Vergangenheit vorliegen, die in die Zukunft fortgeschrieben werden können. Auch hier muss die Zukunft die gleichen Rahmenbedingungen bieten, wie sie in der Vergangenheit vorlagen, und ja, eine Trendextrapolation ist in gewissem Sinne auch eine Analogiemethode, denn wir unterstellen, dass die zukünftige Entwicklung analog zur vergangenen Entwicklung verlaufen wird. Der Unterschied ist, dass es keine Referenzentwicklung gibt, sondern das Ereignis, für das der Datenverlauf der Vergangenheit in die Zukunft extrapoliert werden soll, auf sich selbst referenziert. Im Forecast-Buch „Kühnapfel 2015“, sind die Techniken der Trendextrapolationen ab Seite 173 ausführlich beschrieben. Die Spanne reicht von einfacher Fortschreibung bis zu komplexen Extrapolationen, und den Unterschied machen meist die Streuungen der Daten der Vergangenheit. Sind die Datenverläufe einfach zu erkennen und weisen sie eine antizipierbare Streuung wie in Abb. 3.6 auf, ist die Fortschreibung der Daten bzw. des Durchschnittswertes der Daten in die Zukunft einfach und gelingt auf einem Stück Papier mit einem Lineal. Der „Proband“, der jedes Jahr sein durchschnittliches Gewicht gemessen hat, weiß, dass sein Trend eine unerfreuliche Entwicklung nimmt. Er ist nun 60 Jahre alt und kann davon ausgehen, dass er ohne Veränderung seiner Lebensverhältnisse mit 70 ein Körpergewicht zwischen 87 und 92 kg haben wird. Die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Prognose erscheint recht hoch, auch wenn ein Restrisiko bleibt, dass er durch die urplötzliche Motivation, am Berlinmarathon teilzunehmen oder eine Krebserkrankung stark an Gewicht verliert oder er zum Vorsitzenden des örtlichen Weingenießerclubs gewählt und es Reiner Calmund nachmachen und an Gewicht tüchtig zulegen wird.

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Gewicht

90

85

80

75

70 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Alter Abb. 3.6  Extrapolation des Körpergewichts

Schwieriger wird die Trendextrapolation, wenn die Streuung der Vergangenheitsdaten hoch ist: Sie sammeln mit Leidenschaft Modellautos und lassen jährlich den Wert der Sammlung schätzen. Sie möchten nun den zukünftigen Wert der Sammlung vorhersagen, um zu entscheiden, wann ein günstiger Zeitpunkt zum Verkauf ist. Vielleicht wollen sie die Sammlung auch als Sachanlage nutzen und brauchen den Verkaufswert, um abschätzen zu können, ob Sie für die Zukunft ausreichend vorgesorgt haben. In Abb. 3.7 ist dargestellt, welchen Betrag Ihnen andere Enthusiasten in den vergangenen Jahren für Ihre Sammlung geboten haben. Und nun? Entdecken Sie einen Trend? Nein, vermutlich nicht. Die Streuung der Daten ist zu groß. Sie können nicht einmal mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich die zukünftig gebotenen Werte in dem Korridor zwischen dem bisher niedrigsten und dem bisher höchsten Angebot bewegen werden. Es ist keine Trendextrapolation möglich. Das Prognosemodell versagt hier, so, wie auch die anderen Modelle versagen werden. Zu zufällig sind die Angebote anderer Sammler. Dennoch erweist es sich als nützlich für Sie, sich all die Jahre die Mühe gemacht zu haben, Ihre Sammlung anderen anzubieten: Sie wissen um die Volatilität des Marktes und Sie könnten sich einen Preis überlegen, ab dem Sie verkaufen, vielleicht 12.000 €, denn dieser Wert erscheint mit Blick auf die letzten Jahre recht hoch.

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     147 16 14

Wert in Tsd. €

12 10 8 6 4

2

2030

2029

2028

2026

2027

2025

2024

2023

2022

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2020

2018

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2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2009

2010

2008

2007

2006

2005

0

Jahr Abb. 3.7  Wertentwicklung Modellautosammlung als Beispiel stark streuender Vergangenheitswerte

Mit dem Diagramm in Abb. 3.7 lässt sich aber noch ein weiterer Effekt zeigen: Mathematiker und Excel-Spezialisten könnten aus den stark streuenden Vergangenheitsdaten einen Zukunftstrend errechnen. Dafür stehen algebraische Methoden zur Verfügung, z. B. die exponenzielle Glättung. Mit dieser ließe sich sogar bestimmen, ob jüngere Vergangenheitswerte höher gewichtet werden als Werte, die älter sind. Das Ergebnis wäre ein geglätteter Datenverlauf wie in Abb. 3.8, der eine Fortschreibung leichter erscheinen lässt. Aber das ist gefährlich: Mit ein wenig Statistik wird hier der Anschein von höherer Eintrittswahrscheinlichkeit eines Angebots innerhalb eines Korridors erweckt. Der Schein trügt aber. Die durchgezogene Linie zeigt die Glättung mit dem Alpha-Faktor 0,2, die gestrichelte die mit einem Faktor von 0,7. Je höher der Faktor, desto stärker werden die aktuellen Werte gewichtet, aber desto ausgeprägter ist auch das, was die Statistiker selbsterklärend das „Rauschen“ nennen. Der Faktor 0,2 gewichtet alle Werte tendenziell gleich, das Rauschen wird unterdrückt, und die Verlockung ist groß, einen Trendverlauf erkennen zu wollen, nämlich ein Sinken des Wertes auf 5000 bis 7500 € im Jahr 2030. Sich darauf zu verlassen, wäre aber ein Fehler, denn nur weil wir ein wenig mit Formeln gespielt haben, verringert sich nicht die Zufälligkeit der Angebote.

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Wert in Tsd. €

12 10 8 6 4 2

2030

2029

2028

2027

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2025

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2022

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2018

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2017

2016

2015

2014

2013

2011

2012

2009

2010

2008

2007

2006

2005

0

Jahr Abb. 3.8  Glättung der Wertentwicklung der Modellautosammlung mit Extrapolation eines Wertekorridors

Die Bearbeitung von Vergangenheitsdaten mithilfe statistischer Methoden hilft, Trends zu erkennen, kann aber auch zu einer fehlerhaften Fortschreibung der Daten führen.

Das Problem ist: Es gibt keine eindeutige Lösung für dieses Problem, das Fachleute „Overfitting“ oder „Underfitting“ nennen (Gilliland 2010)! Selbst unter geschulten Prognostikern gibt es keinen Konsens für Regeln, wie Vergangenheitsdaten behandelt werden dürfen. Hierzu noch ein anderes Beispiel: Sie werfen eine Münze, sagen wir, 1000-mal. Vermutlich wird die Münze ungefähr gleich häufig auf Kopf wie auf Zahl fallen, sagen wir, 511:489. Die Wahrscheinlichkeit, dass beim 1001. Wurf „Kopf“ kommt, liegt demnach, naiv betrachtet, bei 51,1 % (tatsächlich sind es 50 %, denn die vergangenen Ergebnisse spielen beim nächsten Wurf keine Rolle). Wenn Sie die Münze aber nur 20-mal werfen, ist es wahrscheinlicher, dass die Ergebnisse nicht so schön gleichverteilt sind, wie beim ersten Versuch, vielleicht 8-mal Kopf und 12-mal Zahl. Die Wahrscheinlichkeit, dass beim nächsten Wurf Kopf 8 = 40% berechnen. Die geringere kommt, wird der Naive nun mit W = 20

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     149

Anzahl von Daten (Vergangenheitswerten) verursachte also eine prozentual größere Abweichung vom Erwartungswert von 50 %. Aber was ist nun, wenn Sie die Münze nur zwei Mal werfen? Die ex-ante-Wahrscheinlichkeit, dass Sie zwei Mal Kopf oder zwei Mal Zahl werfen, beträgt jeweils 25 %, denn nach zwei Würfen können nur vier verschiedene Ergebnisse auftreten (K–Z, Z–K, Z–Z und K–K). In 50 % der Fälle haben Sie also ein Ergebnis, das nicht dem „logischen“ Erwartungswert entspricht. Sie wären in die „Overfitting-Falle“ getappt. Die Qualität einer Extrapolation ist auch vom Umfang zur Verfügung stehender Vergangenheitsdaten abhängig.

Schauen wir uns eine zweite Falle an: die Ausreißer. Ein Algorithmus erkennt Ausreißer nicht. Er behandelt sie wie alle anderen Daten. In den Jahren 2007, 2015 und 2016 haben Ihnen Modellautosammler einen jeweils außergewöhnlichen Preis geboten. Wir erkennen diese Ausreißer und wissen, dass sie eher zufällig waren. Aber statistisch bedeuten sie eine überdurchschnittliche Beeinflussung der Trendextrapolation. Wie sähe der Trend denn aus, wenn in 2007, 2015 und 2016 z. B. der Durchschnittswert der jeweils vor- und nachfolgenden Jahre geboten worden wäre? Abb. 3.9 zeigt das Ergebnis. Wie zu erwarten ist der Trendwertekorridor schmaler, denn die Extremwerte aus der Vergangenheit sind eliminiert worden. Aber die Neigung des Korridors hat sich ebenfalls verändert, und nun ist der zu erwartende Wert der Sammlung im Jahre 2030 zwischen 6000 und knapp 8000 €. Na gut, sonderlich plakativ ist der Unterschied zu obigem Ergebnis (5000 bis 7500 €) nicht, aber Sie verstehen sicherlich das Prinzip. Ohne, dass sich die Realitäten verändert haben, erhalten wir durch Veränderung der Formeln andere Ergebnisse. Und es sind methodisch einwandfreie, gut zu begründende Veränderungen, keine Tricks. Nun habe ich mehrere Seiten gebraucht, um einige ganz typische Fallen der Technik der mathematischen Trendextrapolation zu erläutern, und der Eindruck wird entstanden sein, dass ich Sie vor diesem Prognosemodell warnen möchte. Aber das Gegenteil ist der Fall: Wann immer Vergangenheitsdaten vorliegen und die Umweltbedingungen stabil sind, ist eine Fortschreibung der Werte als Prognosemodell nützlich.

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Wert in Tsd. €

12 10 8 6 4 2

2030

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2011

2009

2010

2008

2007

2006

2005

0

Jahr Abb. 3.9  Glättung der Wertentwicklung der Modellautosammlung ohne Ausreißer

Bleiben Sie dabei einfach, hüten Sie sich vor allzu komplexen statistischen Algorithmen, wenn Sie kein Experte auf diesem Gebiet sind. Stellen Sie stets die Kontrollfrage, ob in der Zukunft ein Störereignis auftreten könnte, dass die Umweltbedingungen derart ändert, dass die Entwicklung der Vergangenheit unterbrochen werden könnte. Und nutzen Sie die Trendextrapolation als ein Prognosemodell unter anderen, so, wie eingangs dieses Kapitels beschrieben, wenn das möglich ist. Ob Sie dann mit einem Lineal, einem Taschenrechner oder Excel extrapolieren, ist eine Frage der Anzahl der Daten, der Zeit, die Sie investieren wollen, des akzeptierten Fehlers und natürlich auch Ihrer Kenntnisse. Ad 6: Die naive Prognose Die naive Prognose ist ein Sonderfall der Extrapolation (ausführlich: Kühnapfel 2015, S. 166 ff.). Das Grundprinzip ist denkbar einfach: Der Prognosewert der kommenden Periode entspricht dem Istwert der gerade abgelaufenen.

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     151

Sie schauen auf die jüngste Vergangenheit und erwarten, dass die direkt vor Ihnen liegende Zukunft genauso sein wird. Wenn Sie im letzten Jahr 45.000 € verdient haben, erwarten Sie diese auch im nächsten Jahr und im übernächsten Jahr. Und tatsächlich ist diese naive Fortschreibung von Daten auch eine Art „Standardeinstellung“ unserer Zukunftssicht: Konstanz! Zudem ist die naive Prognose ausgesprochen schnell und verursacht keine Kosten, denn wir treiben keinen Aufwand, um äußere Einflüsse, Trends oder mögliche Schwankungen zu berücksichtigen. Sinnvoll ist die naive Prognose immer dann, wenn sich die Umwelt bisher als stabil erwiesen hat und auch keine Turbulenzen zu erwarten sind. Hier ein paar Anwendungsbeispiele: • Entwicklung der Beziehungsqualität einer Partnerschaft: Wenn Ihre Partnerin immer weniger Interesse an Ihnen zeigt, wird sich – ohne trendunterbrechendes Ereignis – diese Entwicklung auch in Zukunft fortsetzen. • Heilungsverlauf einer Krankheit: Spontanheilungen sind populär, aber äußerst selten. Somit kann im Rahmen der zu erwartenden Schwankungen ein kontinuierlicher Heilungsverlauf unterstellt werden, leider auch eine kontinuierliche Verschlechterung des Gesundheitszustands bei chronischen Erkrankungen. • Körpergewicht: Unser Körper verändert sich mit zunehmendem Alter. Aus Muskeln wird Fett, wir werden immer fülliger, je älter wir werden. Die Gewichtszunahme von z. B. 0,5 k im letzten Quartal wird sich fortsetzen, sofern die Umwelt stabil ist, also keine Gegenmaßnahme ergriffen wird. • Glücksempfinden: Wenn uns das Leben im letzten Jahr gefiel, weil wir umgesetzt haben, was uns zufrieden machte, so dürfen wir das auch für die nächste Periode hoffen, wenn wir weiterhin achtsam mit uns und unseren Möglichkeiten umgehen. So wie es gestern war, so wird es morgen. In den meisten Lebensbereichen gilt diese Regel und sie wird erst außer Kraft gesetzt, wenn Impulse kommen, die den Trend stören. Diese Impulse können extrinsischen (Lottogewinn, Krankheitsdiagnose, Geburt eines Kindes, neuer Lebenspartner) oder intrinsischen Ursprungs sein. Bei Letzterem ist eine Entscheidung gefragt: Die naive Prognose wird zu dem Entschluss geführt haben, dass die Trendfortsetzung unterbrochen werden soll. So wie es gestern war, so soll es morgen eben nicht mehr sein. Ein neuer Job, der Beginn einer Nulldiät oder das berühmte spontane Verlassen der Familie („Schatz, ich gehe nur schnell

152     J. B. Kühnapfel

Zigaretten holen …“) wären solche disruptiven Ereignisse, die die Umweltkontinuität zerstören. Allerdings reicht hier die naive Prognose alleine für eine vernünftige Entscheidung nicht aus. So lässt sich zwar mit ziemlicher Sicherheit, also hoher Eintrittswahrscheinlichkeit, voraussagen, dass das Verlassen der Partnerin den ehemals stabilen Trend der schleichenden Entwöhnung unterbrechen wird, aber was kommt dann? Wie entwickelt sich das eigene Leben weiter? Die naive Prognose erlaubt lediglich die Erkenntnis, dass der stabile Trend verlassen wird, aber nicht mehr. Somit ist die naive Prognose auch ein Instrument, um zu prüfen, ob ein als stabil eingeschätzter Trend gewünscht ist oder nicht. Sie ist aber noch mehr: In vielen Lebensbereichen erwarten wir Veränderungen, indem wir Impulse setzen. Die naive Prognose dient dann weniger als Forecast-Instrument und mehr als Prüfung: Welcher Impuls bricht den Trend? Wie stark muss der Impuls sein, um den Trend zu brechen? So reicht das Anmelden im Fitnessstudio nicht aus, um schlanker und sportlicher zu werden. Nicht einmal der Kauf teurer Laufschuhe reicht aus. Erst der regelmäßige Besuch im Studio und das Joggen selbst helfen. Den faulen Sohn an einer Privatschule anzumelden nutzt nichts, erst die Veränderung seines Lernverhaltens bringt einen Trendbruch. Mit „Impulse“ sind also keineswegs die Initialaktivitäten gemeint, sondern das, was danach kommt und wozu z. B. die Anmeldung im Fitnessstudio die Voraussetzungen schuf. Variationen der naiven Prognose Gelegentlich ist eine Variation des Basismodells der naiven Prognose erforderlich und sinnvoll. Hierfür haben sich folgende Spielarten bewährt: 1. Der Prognosewert ist der Istwert der Vorperiode unter Berücksichtigung der letzten Veränderung. Es wird unterstellt, dass eine Trendveränderung stattgefunden hat und die Veränderung der Vor- zur Vorvorperiode der neue Trend ist. Wenn Sie stets sanft zugenommen, aber im letzten Monat sogar 0,5 k abgenommen haben, unterstellten Sie, dass Sie auch im nächsten Monat 0,5 k abnehmen werden, sofern Sie Ihren Sport- bzw. Diätplan beibehalten. Ohne diesen wäre das Abnehmen im letzten Monat wohl lediglich eine natürliche Schwankung gewesen. 2. Der Prognosewert ist der Istwert der Vorperiode unter Berücksichtigung des Durchschnitts der letzten Veränderungen. Dies ist lediglich eine Art Glättung von Ausschlägen des Trends. Den schleichenden Verfall Ihrer

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     153

Beziehungsqualität haben Sie erfolgreich gestoppt und zu einem moderat positiven Trend gedreht, aber der Ausschlag im Vormonat, der durch den exorbitant teuren Ring, den Sie Ihrer Frau zum Geburtstag geschenkt haben, zustande kam, lässt sich nicht als Trend naiv fortschreiben, denn erstens ist Ihr Budget limitiert, zweitens hat Ihre Frau nicht jeden Monat Geburtstag und drittens würde sie sich recht schnell an das monatliche Geschenk gewöhnen und der Überraschungseffekt seinen Wert verlieren. 3. Der Prognosewert ist der Istwert der Vorperiode unter Berücksichtigung des mittel- bzw. langfristigen Trends. Auch dies ist eine Form der Glättung, die ich hier der Vollständigkeit halber erwähne, die sich aber leicht und selbstverständlich erschließt. 4. Der Prognosewert ist der Istwert der gleichen Periode der letzten Saison. Dieses Modell ist eine Variation, die saisonale Schwankungen berücksichtigt. Sie können beispielsweise Ihren allgemeinen Gesundheitszustand naiv fortschreiben und werden damit außer in ein oder zwei Perioden, in denen Sie ein grippaler Effekt erwischt, richtigliegen. Das wissen wir. Darum erlauben wir uns auch eine Urlaubsbuchung auf Monate voraus. Aber als Heuschnupfenpatient wissen Sie auch, dass Ihr Gesundheitszustand im April ein anderer als im Januar sein wird. Die naive Prognose wäre hier unvollständig, wenn Sie sich nicht daran erinnern würden, wie Sie sich während der Pollenflugsaison letztes Jahr fühlten. Wann verwenden wir eine naive Prognose? Die naive Prognose entspricht unserem Standardmodell der Lebensführung. Wir gehen von Stabilität und Trendkonstanz aus, so lange, bis wir einen Störimpuls setzen oder erwarten. Kommt dieser unerwartet und wird der Trend unterbrochen, ist keine naive Prognose mehr möglich. Es tritt eine temporäre Phase der Unsicherheit ein, so lange, bis wir einen neuen Trend erkannt haben. Insofern verwenden wir die naive Prognose intuitiv immer, unser auf die Zukunft gerichtetes System ist mit ihr als Standardalgorithmus ausgestattet. Vermutlich tut das jedes Tier auch. Konstanz ist die Basis unseres Seins. Jede Veränderung bedeutet Anpassungskosten und Anpassungsrisiken. Im Zweifel, also wenn der Veränderungsnutzen unklar ist, vermeiden wir dies. In Abschn. 3.3.4 habe ich das als Veränderungsaversion bzw. Status-quo-Bias beschrieben. Ad 7: Die Nutzwertanalyse Im vorherigen Kapitel haben Sie die Nutzwertanalyse am Beispiel der Wahl einer weiterführenden Schule kennengelernt. Sie ist als Methode immer

154     J. B. Kühnapfel

dann sinnvoll, wenn mindestens einer der folgenden Umstände gegeben ist (Kühnapfel 2014): • Die Anzahl der Einflussfaktoren auf die Zukunft – hier „Kriterien“ oder „Bewertungskriterien“ genannt – ist hoch. • Die Bewertungskriterien sind sowohl quantitativer als auch qualitativer Natur. • Es ist zunächst nicht möglich, eine eindeutige Rangfolge der Bewertungskriterien festzulegen. • Es sind mehrere Personen mit ihren jeweiligen Meinungen und Vorerfahrungen am Entscheidungsprozess beteiligt. • Eine Entscheidung auf Basis von Erfahrungen (Routineentscheidungen) ist nicht möglich bzw. nicht sinnvoll. Aus diesem Katalog leitet sich auch schon das typische Revier ab, in dem Nutzwertanalysen heimisch sind: Nutzwertanalysen (englisch: „Scoring“) sind immer dann nützliche Prognoseverfahren, wenn ein komplexes, vielschichtiges Prognoseproblem vorliegt, bei dem viele Einflussfaktoren zu berücksichtigen sind.

Der Vorteil des Verfahrens ist die Strukturierung des Prognoseproblems. Es zwingt zu systematischem Vorgehen. Weil das Gesamtproblem in Teilschritte zerlegt wird, spielen kognitive Verzerrungen wie z. B. vorgefasste Meinungen eine geringere Rolle. Es ist wie die Beurteilung der Qualität von Pauschalreisen durch einen möglichst objektiven Tester: Kritisch wäre, alleine den Gesamteindruck zu bewerten. Das Ergebnis wäre unbrauchbar, denn es ist anzunehmen, dass es nur weniger Erlebnisse bräuchte, um das Ergebnis zu verzerren. Wenn den Tester ein schlecht gelaunter Kellner nervt oder eine karibische Schönheit (natürlich auf Kosten des Hauses) anmacht, wird sein Urteil verfälscht werden. Auch das Gespräch mit anderen Gästen wäre gefährlich: Trifft er auf „Fans“, die die Destination loben, wirkt die Ankerheuristik. Der richtige Weg ist – und so werden Tests dieser Art auch aufgebaut –, die Einflussfaktoren zu isolieren und als Bewertungskriterien singulär zu betrachten: Hotel, Strand, Essen, Bar, Struktur der Gäste, Ausflugsmöglichkeiten, Preiswürdigkeit usw., und jedes dieser Kriterien besteht noch aus Unterkriterien. Der Tester bewertet also nicht die Pauschalreise als Ganzes, sondern vielleicht 20, 30 oder 100 einzelne Kriterien, die

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     155

jedes für sich einen Einfluss auf das Urteil haben. Die Fragmentierung der Bewertung, das Zerlegen in kleine Häppchen, reduziert die Angriffsfläche für Verzerrungen. Das Ergebnis der Nutzwertanalyse ist somit eine auf prognostischen Detailurteilen basierende Entscheidungsempfehlung, die mittels eines Scores, eines Punktwertes, ausgedrückt wird. Der Score setzt sich aus Werturteilen über die einzelnen Kriterien bzw. Einflussfaktoren zusammen. Jedes Urteil muss also in einen Wert transformiert werden, wofür es Skalen braucht. Schulnoten sind eine solche Skala, und auch hier wird die Leistung z. B. einer Schülerin in einem Wert, einer Zahl, ausgedrückt. Das Vorgehen bei der Nutzwertanalyse ist in Tab. 3.4 beschrieben. Schnell wird klar, wie aufwendig und durchaus kompliziert das Verfahren ist. Aber es ist das einzige, dass es erlaubt, die Folgen von Entscheidungen mit weitreichenden Folgen detailliert zu betrachten. Ob sich der Aufwand lohnt, ist vom Risiko bzw. der Tragweite einer Entscheidung und der Vielzahl von Einflussfaktoren auf das Ergebnis abhängig. Die Frage, ob ich mir eine Immobilie zulege, welches Auto ich kaufe oder welchen Studiengang ich belege, würde ich jedenfalls nie ohne eine Nutzwertanalyse entscheiden. Schritt 1: Organisation des Umfelds zur Durchführung der Nutzwertanalyse Das Verfahren erlaubt, dass sich mehrere Personen daran beteiligen, etwa die Familie oder der Bekanntenkreis. Nicht alle müssen von den Entscheidungsfolgen betroffen sein. Zuweilen kann es sogar von Vorteil sein, Teilnehmer einzubeziehen, die recht nüchtern an die Problemstellung herangehen können, weil ihnen das Ergebnis egal ist. In jedem Falle benötigen Sie eine Umgebung, die konzentriertes Arbeiten erlaubt (Tisch auf der Terrasse, aber Tab. 3.4  Vorgehen bei der Nutzwertanalyse #

Arbeitsschritt

1

Organisation des Umfelds zur Durchführung der Nutzwertanalyse

2

Benennung des Prognose- und Entscheidungsproblems

3

Auswahl der Entscheidungsalternativen

4

Sammlung von Entscheidungskriterien

5

Gewichtung der Entscheidungskriterien

6

Bewertung der Entscheidungskriterien

7

Nutzwertberechnung

8

Sensibilitätsanalyse

9

Entscheidung

156     J. B. Kühnapfel

nicht Tisch in der Diskothek) und Menschen, die sich auf das Verfahren einlassen und vielleicht eine Stunde Zeit. Das Beispiel, an dem ich das Verfahren vorstellen möchte, sei der Kauf eines Autos, den die Familie gemeinsam entscheiden möchte. Vater, Mutter und der 16-jährige Sohn setzen sich zusammen. Schritt 2: Benennung des Prognose- und Entscheidungsproblems Sie können die Nutzwertanalyse einsetzen, um zwei oder mehrere Alternativen zu bewerten. Das können auch unterschiedliche Handlungen sein, z. B. „Haus kaufen“ oder „Haus nicht kaufen und weiter zur Miete wohnen“. Das Ziel in unserem Beispiel sei, für die Familie ein bezahlbares Auto zu kaufen. Die Prognosefrage lautet also: Welches Auto ist für die Familie das am besten geeignete?

Schritt 3: Auswahl der Entscheidungsalternativen Mit der Nutzwertanalyse lässt sich eine überschaubare Menge an Alternativen vergleichen bzw. eine Rangfolge der Präferenzen finden. Die Anzahl der Alternativen sollte allerdings überschaubar bleiben. Mehr als fünf zu vergleichen, artet aus, besser ist eine Anzahl von drei. So auch in unserem Beispiel: Nach langer Diskussion ist auch dem Sohn endlich klar, dass es kein Lamborghini wird. Der Vater versteht, dass ein Cabrio untauglich ist, und die Idee der Mutter, einen SUV zu kaufen, kommt auch schlecht an. Man einigt sich auf drei Entscheidungsoptionen: VW Golf, Renault Mégane und Ford Focus. Schritt 4: Sammlung von Entscheidungskriterien Die Kriterien sind nichts anderes als die Einflussfaktoren, die benötigt werden, um zu beurteilen, ob eine Entscheidungsalternative zu einer gewünschten Zukunft führt. Üblich ist bei Prognosen und Entscheidungen im privaten Umfeld ein Set von 10 bis 20 Kriterien, selten sind es mehr. Erleichternd für die Folgeschritte ist es, wenn es eine Möglichkeit gibt, zu messen, ob und in welchem Umfang eine Entscheidungsoption (hier ein Autotyp) ein Kriterium erfüllt (Verbrauch, Anschaffungspreis, Kofferraumvolumen). Andernfalls müssen die Kriterien subjektiv geschätzt werden (Design, Image), was aber auch akzeptabel ist, wenn eine Bewertungsskala für die Einschätzung gefunden wird. Für die Antwort auf die Prognosefrage, welches Auto am besten geeignet ist, trägt die Familie folgende Kriterien zusammen:

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     157

1. Kaufpreis 2. Unterhaltskosten inkl. Verbrauch 3. Umwelt (Schadstoffausstoß) 4. Platzangebot im Innenraum 5. WAF (der „Woman Attractivness Factor“, eine Einlassung des pubertierenden Sohns) 6. Fahrleistungen 7. Design und Komfort 8. Image 9. Bestell- und Lieferzeit 10. Vernetzung mit Smartphone Die Kriterien sind sehr unterschiedlicher Natur. Mal spielen Sie nur für die Beschaffung eine Rolle (Lieferzeiten, Kaufpreis), mal begleiten sie als Einflussfaktor die Gesamtlebensdauer (z. B. Unterhaltskosten, Image, Fahrleistungen). Einige Faktoren sind ähnlich (WAF und Image), mal mess- und objektiv vergleichbar (Fahrleistungen), mal nur subjektiv zu bewerten (Design und Komfort). Genau diese Mixtur ist typisch für eine Nutzwertanalyse. Schritt 5: Gewichtung der Entscheidungskriterien Die Kriterien werden unterschiedlich wichtig sein. Um dies abzubilden, wird eine Gewichtung der Kriterien vorgenommen. Die Summe der Gewichte ergibt 100 %, was gleichzeitig bedeutet, dass angenommen wird, dass die gefundenen Kriterien bzw. Einflussfaktoren die Zukunft zu 100 % determinieren und es keinen weiteren Einflussfaktor mehr gibt. Das ist eine theoretische Annahme, denn vermutlich kann für keine Situation ein vollständiges Set von Einflussfaktoren benannt werden. Das macht aber nichts, die Verzerrungen des Ergebnisses sind nicht relevant, solange nichts Wichtiges vergessen wird. Die Gewichtung der Kriterien könnte nun nach freier Einschätzung erfolgen, indem die 100 % Summengewicht auf die Kriterien verteilt werden. Dieses Verfahren wird jedoch schnell unübersichtlich, vor allem, wenn Sie später kleinere Korrekturen der jeweiligen Gewichte vornehmen wollen. Besser ist es, jedem Kriterium eine Bedeutungszahl auf einer Skala, z. B. von 1 bis 5, zuzuordnen. Wichtige Aspekte erhalten eine 5, unwichtige eine 1. Die Summe dieser Werte bildet dann die 100 % und das prozentuale Gewicht eines jeden Kriteriums lässt sich durch die Division des zugeteilten Wertes durch den Summenwert berechnen. Als Näherungslösung reicht dieses Verfahren aus. Für anspruchsvollere Prognosen und Entscheidungen gibt es diffizilere Methoden, vor allem die Kategorisierung und die

158     J. B. Kühnapfel

­ aarvergleichsmethode, die Sie bitte am angegebenen Ort nachlesen, falls P Sie tiefer in die Materie einsteigen wollen. Was macht unsere Familie in unserem Beispiel? Sie einigt sich auf die einfache Skala von 1 bis 5 zur Gewichtung der Kriterien. Allerdings sind die Meinungen über die Gewichte unterschiedlich. Der Sohn besteht darauf, dass der WAF hoch gewichtet wird, was der Mutter gar nicht passt. Umgekehrt ist das von ihr geforderte Platzangebot den beiden Männern nicht so wichtig. Die Lösung: ein Konsens, herbeigeführt durch die Durchschnittswertbildung, wie sie Tab. 3.5 zeigt. Schritt 6: Bewertung der Entscheidungskriterien Nun wird bewertet, inwieweit eine Entscheidungsoption die jeweiligen Kriterien erfüllt. Auch hierfür wird eine Skala benötigt, z. B. 0 bis 10 Punkte, wobei die 10 für jene Option vergeben wird, die ein Kriterium vollständig erfüllt. In der Praxis ist dies der schwierigste Schritt, denn viele Kriterien lassen sich nur subjektiv beurteilen, und selbst dann, wenn Sie Daten haben, ist schwierig zu entscheiden, ob Sie z. B. sieben oder acht Punkte vergeben. Tatsächlich gibt es kein Patentrezept, auch wenn bei geschäftsmäßiger Anwendung der Nutzwertanalyse Hilfsmethoden zur Objektivierung der Bewertung eingesetzt werden können. Für unsere Zwecke reicht es aber aus, eine Bewertung „nach Gefühl“ durchzuführen. Um die Spreizung nicht zu groß werden zu lassen, bietet sich an, statt einer Skala von 0 bis 10 eine von 0 bis 5 zu verwenden. Zuweilen wird eine Minimalabstufung vorgeschlagen: 0 für „Kriterium nicht erfüllt“, 1 für „bedingt erfüllt“ und eine 2 für „erfüllt“. Auch das ist möglich, aber mir gefällt die geringe Spreizung nicht, weil sie zu nahe beieinanderliegenden Ergebnissen führen kann.

Tab. 3.5 Konsensuale Gewichtung der Kriterien

Kriterium Kaufpreis Unterhalt Umwelt Platz WAF Fahrleistungen Design/Komfort Image Lieferzeit Vernetzung

Vater 5 5 2 3 2 4 3 5 2 1

Mutter 4 5 5 5 1 1 3 4 2 2

Sohn 1 1 1 2 5 5 4 5 1 5

Ø 3,33 3,67 2,67 3,33 2,67 3,33 3,33 4,67 1,67 2,67

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     159

Nehmen mehrere Personen an der Nutzwertanalyse teil, bricht an dieser Stelle üblicherweise ein Streit aus, weil unterschiedlich bewertet wird. Dies können wir vermeiden, indem jeder eine eigene Bewertung vornimmt und erst im Schritt 9 die Einzelergebnisse verglichen werden. Dann kann ein Durchschnittswert gebildet oder eine konsensuale Entscheidung (Ausdiskutieren) angestrebt werden. Auch ist eine Gewichtung der Stimmrechtsanteile möglich, wenn z. B. die Teilnehmer unterschiedlich an den Kosten oder dem Risiko einer Entscheidung beteiligt sind, so, wie es auch bei unserem Auto-Beispiel der Fall ist, denn der Sohn wird Nutznießer des Autos, aber nichts zu den Kosten beitragen. Aber so weit sind wir noch nicht. Zunächst geht es um die Bewertung der Kriterien. Die Familie einigt sich auf eine Schulnotenskala von 1 bis 6, wobei die 1 eigentlich „Kriterium sehr gut erfüllt“ bedeuten müsste. Da aber rechnerisch ein niedriger nominaler Wert zu einem geringen Nutzwert führt, werden die Noten umgedreht, so, wie in der Schweiz: Die 1 ist die schlechteste Note, die 6 die beste. Wiederum macht jeder die Bewertung für sich, lediglich die objektiv messbaren Kriterien werden gemeinsam bewertet, wobei dort das beste Auto jeweils eine 6, also die beste Note, bekommt und die anderen je nach „gefühltem“ Abstand eine schlechtere. Tab. 3.6 zeigt das Ergebnis. Bei den meisten Kriterien war sich die Familie einig. Lediglich bei dreien gab es unterschiedliche Bewertungen, und hier ist jeweils der Durchschnittswert anzusetzen.

Tab. 3.6  Berechnung der Nutzerwerte V=Vater M=Mutter S=Sohn

Kriterium Kaufpreis Unterhalt Umwelt Platz WAF

VW Golf Gewicht

3,33 3,67 2,67 3,33

2,67

Fahrleistungen

3,33

Design/Komfort

3,33

Image

4,67

Bestellzeiten Vernetzung

1,67 2,67

V M 2 4 6 6 6 4 5,33 5 4 5 4,33 6 6 5,67 1 5

S

6 4 5

Ford Renault Focus Mégane V M S V M S 4 6 6 4 6 5 5 5 4 3 2 3 1 2 3 2 6 3 3 3 2 1 6 2 2,67 3 4 4 4 2 3 1 4 2 2 6 5 6

160     J. B. Kühnapfel Tab. 3.7  Nutzwerte der Fahrzeugalternativen VW Golf Kriterium

Ford Focus

Renault Mégane

Kaufpreis Unterhalt Umwelt Platz WAF Fahrleistungen

3,33 3,67 2,67 3,33 2,67 3,33

2 4 6 6 5,33 5

4 6 6 5 3 6

6 4 5 5 2 3

VW Golf 6,67 14,67 16,00 20,00 14,22 16,67

Design/ Komfort Image Bestellzeiten

3,33

4,33

2,67

3

14,44

8,89

10,00

4,67 1,67

5,67 1

4 2

3 6

26,44 1,67

18,67 3,33

9,33 10,00

Vernetzung

2,67

5

5

6

13,33

13,33

16,00

144,11

140,22

125,33

Nutzwert

Gewicht

Bewertung Ford Focus 13,33 22,00 16,00 16,67 8,00 20,00

Renault Mégane 20,00 14,67 13,33 16,67 5,33 10,00

Schritt 7: Nutzwertberechnung Die jeweiligen Bewertungen der Kriterien je Entscheidungsoption werden nun mit dem zugehörigen Bedeutungsgewicht multipliziert und die Punktwerte addiert. Das Ergebnis ist ein Punktwert, ein Score, je Option. Das Ergebnis für unser Beispiel zeigt Tab. 3.7: Schritt 8: Sensitivitätsanalyse Wenn sich der Aufwand zu lohnen scheint, bietet es sich an, die Robustheit der Ergebnisse zu überprüfen. Dies machen wir mittels einer Sensitivitätsanalyse, die am angegebenen Ort beschrieben wird. Für unsere Zwecke ist sie meist überflüssig. Schritt 9: Entscheidung Die Option mit dem höchsten Punktwert ist die beste. Sie ist zu entscheiden, denn die Einflussfaktoren im Kontext der Prognosefrage werden am besten „bedient“. Der VW Golf ist im hiesigen Beispiel das Auto der Wahl, allerdings nur knapp vor dem Ford Focus. Eine (fast) philosophische Schlussbetrachtung Eine Prognose kann durchaus auch als eine Wette verstanden werden. Wir erwarten eine bestimmte Entwicklung und wetten darauf mit unserem Einsatz, der Kosten-Nutzen-Bilanz unserer Entscheidung. Aber gegen wen wetten wir? Gelegentlich haben wir einen realen Gegenspieler, etwa bei einem Münzwurfspiel. Wir wetten, dass wir bei 10 Würfen 5-mal Kopf

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     161

erhalten, unser Gegenspieler wettet auf 6-mal Kopf. Tatsächlich aber wetten beide gegen den Zufall. Der eine erwartet die statistische Gleichverteilung der Ergebnisse, der andere eine Abweichung davon. Was wie eine Wette zwischen Menschen aussieht, ist eine Wette zweier Menschen gegen den Zufall, und wer gegen diesen gewinnt, erhält den Einsatz, den beide setzen. Es ist ein Spiel gegen die Naturgesetze. Das Besondere ist, dass es bei dieser Kategorie von Spielen keine widerstreitenden Interessen gibt. Allem Naturgesetzlichen, also z. B. dem Wetter, dem Vulkan oder der Lottokugeltrommel, ist es vollkommen egal, welche Einsätze auf bestimmte Ergebnisse gesetzt werden. Ähnlich ist es bei einer Wette gegen anonyme Märkte, etwa, wenn Sie ein paar Aktien von BASF kaufen. Dieser Aktienkauf beeinflusst nicht den Aktienkurs. Auch kennen Sie den Verkäufer Ihrer Aktien nicht. Sie kaufen, weil Sie eine Kurssteigerung erwarten, er verkauft, weil er (neben anderen möglichen Gründen) einen Kursverlust erwartet. Aber tatsächlich wetten Sie nicht gegeneinander, sondern Sie und der Verkäufer wetten gegen einen anonymen Aktienmarkt und Sie beide hoffen, klüger als dieser Markt zu sein. Der Markt scherrt sich ebenso wenig um Sie wie das Wetter. Ändern tut sich das erst, wenn Sie gegen das Verhalten einer anderen Partei wetten, z. B. gegen einen anderen Menschen. Er oder Sie, wer gewinnt beim Armdrücken, beim Schachspiel oder beim Bieterwettstreit auf ebay? Der Gegenspieler ist bekannt, Sie versuchen, seine Handlungsziele zu erahnen und abzuschätzen, was er an Ressourcen einsetzen wird oder welche Restriktionen er hat. Die Prognose ist hier schwieriger, denn während die Naturgesetze noch berechenbar sind und damit die Kalkulation von Eintrittswahrscheinlichkeiten erlauben und anonyme Märkte sich weitestgehend immer gleichartig, wenn auch durchaus irrational, verhalten, sind die Aktionen und Reaktionen des Gegenspielers schwierig einzuschätzen und unterliegen Motiven, die wir nicht kennen. Die Zukunft ist unsicher. 4. Grad. Es gibt aber noch eine weitere Art von Wette: die Wette gegen sich selbst. Wir prognostizieren unser Verhalten in der Zukunft. Das scheint auf den ersten Blick die leichteste Übung zu sein, denn wir haben dieses ja selbst in der Hand. Aber Effekte wie die hyperbolische Diskontierung, bei der wir die langfristige Wirkung heutigen Einsatzes unterschätzen, zeigen, dass wir nicht gut sind, unsere Entwicklung korrekt abzuschätzen. Macht uns der gewählte Beruf auch später noch Spaß? Bleiben wir treu? Schaffen wir den Studienabschluss? Halten wir das Yoga-Programm durch, bis sich ein Effekt einstellt? Und wie ist das, wenn wir auf unsere Gesundheit wetten? Das machen wir, wenn wir eine Rentenversicherung abschließen oder ein Haus kaufen. Wir hoffen und setzen für unsere Prognose voraus, dass wir gesund bleiben,

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zumindest erwerbsfähig, um uns die Beiträge oder Zins und Tilgung leisten zu können. Unser Gegenspieler sind wir selbst. Aber wir haben ein positives Ergebnis nur teilweise in der eigenen Hand. Wir wissen nicht einmal, zu welchem Anteil wir Einfluss auf ein gesundes Altern haben. Bringt der Sport oder der Verzicht auf Schweinshaxen gesunde Lebensjahre? Wer kennt nicht den Ausdauersportler, der mit 45 an einem Herzinfarkt starb, oder den 97-jährigen Raucher? Solche Beispiele sind eine Verfügbarkeitsheuristik und vernebeln den Blick auf sich durch Aktivitäten verändernde Wahrscheinlichkeiten, dienen aber als Rechtfertigung für sich selbst schädigendes Verhalten. Wir haben die Wette gegen uns selbst, gegen die Krankheit, zu einem unbekannten Grad selbst in der Hand, aber der Rest ist das, was wir „Zufall“ nennen, weil wir die Zusammenhänge nicht verstehen. Was nutzen diese Überlegungen? Wenn wir eine Prognose erstellen, wetten wir auf eine Zukunft. Wenn wir unseren Gegenspieler kennen, können wir auch unsere Chance kennen, durch Aktions-Reaktions-Muster unsere Chancen zu verbessern. Ist der Gegenspieler frei von Handlungsmotiven (Lotto, Wetter usw.), können wir auf mathematische Zusammenhänge und berechenbare Eintrittswahrscheinlichkeiten hoffen. Ist der Gegenspieler aber ebenso egoistisch wie wir (Arzt, Chef, Partner usw.), befinden wir uns in einer dynamischen Situation, in der sich Regeln, Daten und das Set an Einflussfaktoren ändern können.

3.5.5 Hilfen zur Verbesserung von Prognosen Es gibt eine Reihe von Tricks und Kniffen, um bessere Prognosen zu erstellen und durch diese bessere Entscheidungen zu treffen. Einige davon lohnt es, hier vorzustellen, andere sind eher etwas für Entscheidungen im Umfeld von Unternehmen. Check der Zutaten einer Prognose Eine Prognose besteht aus drei Zutaten: dem Modell, den Einflussfaktoren und den Inputdaten. Die Auswahl des Prognosemodells kann jederzeit überprüft werden, idealerweise werden mehrere gleichzeitig angewendet. Wichtiger ist aber, dass die wesentlichen Einflussfaktoren erkannt und erfasst werden. Wenn Prognosen immer wieder fehlgehen oder aber die Eintrittswahrscheinlichkeit sehr hoch zu sein scheint, deutet das entweder auf eine unsichere, volatile Zukunft hin oder darauf, dass trotz einer nur moderat unsicheren Zukunft die Einflussfaktoren nicht bekannt sind.

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     163

Ihre Tochter schreibt schlechte Noten? Der übliche Reaktionsimpuls wäre die Nachhilfe, also der vermehrte Einsatz von Zeit und Geld. Aber werden sich dadurch die Noten ändern? Es lohnt sich, einige Minuten darüber nachzudenken. Wurden die richtigen Einflussfaktoren erkannt? Der Lehrer, die Sitznachbarn, der Stoff selbst, die Pubertät oder die kognitiven Fähigkeiten Ihrer Tochter können ebenso Einfluss haben. Und ist der Geldeinsatz überhaupt notwendig? Vielleicht korreliert die Schulnote mit dem Zeiteinsatz, aber Ihre Tochter hat bisher, statt zu lernen, lieber Musik gehört oder WhatsApp-Nachrichten geschrieben. Ebenso wichtig ist die Überprüfung der dritten Zutat einer Prognose: der Inputdaten. Woher wissen wir, was wir zu wissen glauben?

Hat es Ihnen jemand erzählt, der Eigeninteressen verfolgt (Anwalt, Arzt, Partner)? Haben Sie sich auf Google, dem „Magier des Wissens“ unserer Zeit, verlassen und in Ihrer ganzen Naivität darauf vertraut, dass die angezeigte Trefferliste auch die vertrauenswürdigsten, informativsten Quellen ganz oben anzeigt (siehe hierzu auch Spehr 2017)? Haben Sie Wissen mit Vermutung und Vermutung mit Meinung verwechselt? Sind Sie heuristischen und narrativen Verzerrungen aufgesessen? Klammern Sie sich an Beispiele? Dann seien Sie vorsichtig! Es ist ehrlicher, sich einzugestehen, zu wenige Informationen zu haben und dann eine Münze zu werfen, als der Illusion des Wissens zu erliegen und zu glauben, eine belastbare Entscheidung treffen zu können.

Ein ganz persönliches Beispiel: Mein alter Mercedes geht seinem wohlverdienten Lebensende entgegen und ein neues Auto muss her. Im Frühjahr 2018 stand ich also vor der Frage, welches Auto ich kaufen sollte. Ein paar Anforderungen (Platzangebot, Budget usw.) waren klar, aber ehrlicherweise muss ich – als Mann! – eingestehen, dass ich weder Ahnung von Autos noch klare Präferenzen habe. Ich hatte mit einer Nutzwertanalyse begonnen und festgestellt, dass mir die Inputdaten fehlten und ich zu faul war, sie zu recherchieren. Bei den meisten Kriterien war mir egal, ob Wagen A besser ist als Wagen B usw., denn mir kam und kommt es so vor, als seien die Fahrzeuge einer Kategorie der verschiedenen Anbieter, hier der „Mittelklasse“, im

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Kern kaum noch zu unterscheiden. Und auf Erzählungen von Autobesitzern gebe ich eh nichts, denn wer verteidigt seine Einkaufsentscheidung nicht (selbstwertdienliche Verzeihung, kognitive Dissonanz)? Nun, ich habe die analytische Prognose eingestellt in der Erkenntnis, dass mir die Daten fehlen und mir das Ergebnis egal sein wird. Also habe ich ein Auto bei dem Autohändler bestellt, der bei mir um die Ecke ist. Meine Entscheidung ist somit nahe am Münzwurf, und sollte ich hinterher unzufrieden sein, ist es eben so. Für Interessierte: Es ging hier um einen BMW 3er, Mercedes C-Klasse, Audi A4 oder Volvo V60, jeweils als Kombi. Was um alles in der Welt unterscheidet diese Fahrzeuge, außer dem Design und der Anordnung der Knöpfe? Eben. Meinungsoffenes Schlussfolgern, kontrafaktisches und kontraintuitives Denken Viele Prognosen scheitern bereits im Vorfeld, weil die Inputdaten selektiv gesammelt werden. Die Hoffnung auf ein bestimmtes Ergebnis steuert die Wahrnehmung und lässt uns den Fokus auf Datenquellen richten, die unsere Meinung bestärken. Ich bin Professor an einer Hochschule, und zu meinem Job gehört es, Abschlussarbeiten von Studierenden zu betreuen. Ein obligatorischer Zwischenschritt, den Studierende machen müssen, ist die Erstellung eines sogenannten Exposés, einer vielleicht zweiseitigen Darstellung, was untersucht werden soll und wie dies geschehen wird (Forschungsfrage und Methodik). Doch in der Mehrzahl der Fälle ist hier bereits zu erkennen, welches Ergebnis in der Untersuchung erzielt werden soll. Die Meinung des Studierenden ist offensichtlich, und die Methodik hat das Ziel, diese zu untermauern. Es fehlt an Distanz, um andere Erkenntnisse als die erwarteten zuzulassen. Korrekt wäre es, meinungsoffen an ein Problem heranzugehen und kein Wunschergebnis zu haben. Der Philosoph und Naturwissenschaftler Francis Bacon hat zur Vermeidung meinungsgesteuerter Analysen zwei Gegenmittel formuliert (Musgrave 1993, S. 52): 1. Befreie den Geist von allen Vorurteilen und reinige ihn von vorgefassten Meinungen. Sei wie die Kinder! 2. Vermeide vorschnelle Spekulation! Aber ist es möglich, vorurteilsfrei eine Sache zu betrachten? Und wie offen sind Kinder wirklich? Darum empfehle ich eine andere Übung, die sich leichter bewerkstelligen lässt:

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     165

Überprüfe jede Schlussfolgerung durch kontrafaktisches bzw. kontraintuitives Denken!

Das eignet sich auch sehr gut als Partyspiel und lockert jede Diskussion auf. Je klarer und selbstverständlicher eine Schlussfolgerung erscheint, desto überraschender und anregender ist die kontrafaktische Rückfrage: Die Wahl Trumps/der AfD war eine Katastrophe für die Weltpolitik/für Deutschland? • Warum war die Wahl ein Segen? Die deutschen Automobilkonzerne verschlafen die E-Mobility-Welle? • Warum ist die Strategie der Konzerne goldrichtig? Der Peter ist kein Mann für dich, der wird dich enttäuschen! • Warum ist Peter der ideale Partner? Die Haltung der katholischen Kirche zu Ehe, Sex und Partnerschaft ist von gestern! • Warum ist die Haltung der Kirche sogar fortschrittlich? Der Zweck der Übung ist es, eine vorgefasste Meinung zu entlarven und andere Sichtweisen zuzulassen. Werden vermeintlich offensichtliche Schlussfolgerungen kolportiert, wird also mit tatsächlichen oder behaupteten Fakten oder Intuition als Quelle des „Wissens“ operiert, ist das kontrafaktische bzw. kontraintuitive Denken das Mittel der Wahl, indem das Gegenteil behauptet wird. Oft reicht es schon, die spiegelbildliche Position auszuformulieren, sie sich „auf der Zunge zergehen zu lassen“, um zu erkennen, dass auch an dieser Sichtweise „etwas dran ist“. Es ist zweifellos eine Form der Autosuggestion, also der Selbstbeeinflussung, aber sie führt hinter die selbst definierten Horizonte. Eine Verfeinerung beschreibe ich weiter unten (Denkhüte nach de Bono). Zum Abschluss dieses Abschnitts noch eine fast schon legendäre Geschichte, die kontrafaktisches Denken demonstriert: „Die Royal Air Force versuchte im Zweiten Weltkrieg, ihren Verlust an Bombern zu reduzieren, indem sie untersuchte, an welchen Stellen ihre zurückgekehrten Flugzeuge Einschusslöcher aufwiesen. Diese Stellen sollten gepanzert werden. Der Mathematiker Abraham Wald schlug jedoch vor, die Flugzeuge an jenen Stellen, die nicht getroffen wurden, zu panzern. Warum das? Er

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ging davon aus, dass Flugzeuge durch Treffer abgeschossen wurden, die an Stellen einschlugen, an denen bei den zurückgekehrten Maschinen keine Einschusslöcher gefunden werden konnten. Diese Stellen seien, so Wald, die empfindlichen, und würden die Bomber dort getroffen, würden sie abstürzen, denn sonst wären sie ja zurückgekehrt“ (Kühnapfel 2017). Checklisten für die Prognose In zahlreichen Bereichen sind Checklisten ein probates Mittel, um Arbeitsfehler auszuschließen. Sie kommen entweder zum Einsatz, wenn zu befürchten ist, dass Routine dazu führt, Arbeits- oder Kontrollschritte auszulassen, oder aber, wenn eine komplexe Arbeitsanleitung in der richtigen Form und die einzelnen Schritte in der richtigen Reihenfolge durchzuführen sind. Piloten arbeiten mit Checklisten, und Sie haben eine Checkliste für Ihren Urlaub erstellt, um sicherzustellen, alles Wichtige einzupacken oder die Post abbestellt zu haben. Sie verwenden Checklisten zum Kochen (Rezepte), Ihre Einkaufsliste ist eine Checkliste, für Ihre Hochzeit und Papas 75-jährigen Geburtstag machen Sie eine und für die Planung Ihres Renteneintritts gibt es auch Checklisten. Warum also machen wir nicht auch eine Checkliste für eine gute Prognose? Die Idee kommt von dem schon häufiger zitierten Nobelpreisträger Daniel Kahneman (Kahneman et al. 2011). Da er Unternehmen im Sinn hatte als er seine Fragen formulierte, habe ich mir erlaubt, den Wortlaut auf unsere Zecke anzupassen. Und etwas erweitert habe ich seine Liste auch: • Gibt es irgendeinen Grund, zu vermuten, dass es Verzerrungen durch Motivationen oder Eigeninteresse der die Entscheidung vorschlagenden Personen gibt? • Empfehlen die Leute die Entscheidung, weil sie sich in sie verliebt haben? • Gab es unter den Personen, mit denen Sie gesprochen haben, abweichende Meinungen? • Könnte die Einschätzung der zu entscheidenden Situation durch hervorstechende Analogien beeinflusst sein? • Wurden glaubwürdige Alternativen berücksichtigt? • Wenn die Entscheidung in einem Jahr wieder gemacht werden sollte, welche Informationen würden Sie sich dann zu haben wünschen? • Wissen Sie, woher die Daten kommen? • Könnte ein Teilnehmer die Gruppe dominieren? • Waren die Personen an früheren Entscheidungen beteiligt (Historie, Rechtfertigung)? • Ist die Einschätzung der Zukunft überoptimistisch?

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     167

• Wenn eine pessimistische Einschätzung vorgenommen wird, ist diese pessimistisch genug? • Sind die die Entscheidung vorschlagenden Personen übervorsichtig? Greift die Verlustaversion oder die Angst, für eine Fehlentscheidung in die Verantwortung genommen zu werden? • Haben sich Ihre Berater Zeit für Ihr Problem genommen? • Könnten auch die Gegenteile der Prämissen der Vorhersage gelten? Natürlich können Sie diese Liste fortsetzen, z. B., um alle möglichen Verzerrungen, die wir uns bisher erarbeitet haben, zu überprüfen. Kontrolle der Prognose – die Pro-Mortem-Methode Gary Klein propagiert eine Methode, die er zur Vorabüberprüfung von Projekten einsetzt und die das Instrumentarium des kontrafaktischen Denkens nutzt (Klein 2004, 2007). Ziel ist es, sich mit der möglichen und angestrebten Zukunft auseinanderzusetzen (was grundsätzlich eine gute Idee ist, denn nicht umsonst gilt der Spruch: „Gott bestraft seine Kinder, indem er ihre Wünsche erfüllt.“). Wenn Sie, am besten unterstützt von Ihrem Umfeld oder guten Freunden, eine Prognose entworfen haben, sollten Sie sich gedanklich in die Zukunft versetzen, je nach Prognosethema vielleicht sechs Monate (Urlaub) oder drei Jahre (neuer Job), und annehmen, dass das „Projekt“ gescheitert ist: Der Urlaub war ein Reinfall, der neue Job entpuppte sich als frustrierende Sackgasse. Nun nehmen Sie sich Zeit, die Gründe aufzuschreiben, die Sie sich vorstellen können, um zu erklären, was schiefgelaufen sein könnte. Der Kern ist eine destruktive Betrachtung, die Überoptimismus verhindert. Nehmen wir an, Sie planen, sich selbstständig zu machen. Das Produkt scheint zu passen, Sie haben sogar schon erste Kunden und Ihr Umfeld ist euphorisch. Was soll jetzt noch schiefgehen? In so einer Situation ist die Pro-Mortem-Methode ideal: Sie spulen gedanklich zwei Jahre vor und überlegen sich Gründe, die zu einem angenommenen Scheitern geführt haben. Eine Krankheit hat Sie monatelang außer Gefecht gesetzt, Ihre zwei wichtigsten Kunden haben Ihnen gekündigt und Sie haben vergessen, rechtzeitig in die Akquisition neuer zu investieren, ein potenter Wettbewerber hat in Ihrem Revier gewildert oder Sie haben die Abführung der Umsatzsteuer vergessen und sind nun nicht liquide, um die Forderung des Finanzamts zu bedienen. Der Nutzen dieser Methode liegt auf der Hand: Es entsteht eine Checkliste gefährlicher Ereignisse, vor denen Sie sich schützen sollten.

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Denkhüte von de Bono Edward de Bono hat uns eine Kreativitätstechnik geschenkt, die sich wunderbar zur Vorbereitung von Prognosen eignet (de Bono 2016). Sie hilft uns sicherzustellen, dass wir die anstehende Entscheidung von allen Seiten betrachtet und gut durchdacht haben. Er nutzt dabei das Bild der Denkhüte, und jeder Hut repräsentiert eine Sichtweise. Die Hüte werden gedanklich nacheinander aufgesetzt. Das Prognoseproblem wird nun ausschließlich aus der Perspektive, die der jeweilige Hut vorgibt, betrachtet und die Ergebnisse werden, sofern möglich und sich der Aufwand lohnt, aufgeschrieben. • Der weiße Hut steht für das analytische Denken und die Konzentration auf die Fakten, sofern Sie sicherstellen können, dass es sich um Fakten und nicht um Vermutungen handelt. Es ist die objektive Sicht. Was spielt bei der anstehenden Entscheidung eine Rolle, welche Aspekte beeinflussen das Ergebnis der Entscheidung, also die Sie betreffende Zukunft? • Der rote Hut repräsentiert das emotionale Denken, also die Gefühle, Meinungen, Vorurteile. Es geht um Subjektivität, in der Sie nun ungeniert baden dürfen. Welche Hoffnungen und Ängste verbinden Sie mit der Entscheidung? Gibt es diffuse Einflussfaktoren, die Sie nicht greifen können, die aber Ihre Entscheidung beeinflussen? • Mit dem schwarzen Hut auf dem Kopf denken Sie kritisch. Sie sehen die Probleme, die Risiken, die Kritik anderer, wenn Sie sich so oder anders entscheiden. Es wirkt wie eine destruktive Haltung, was es auch ist, aber im Vordergrund steht, bewusst alle negativen Aspekte herauszuarbeiten. Grenzen Sie aber diese Sichtweise von jener des roten Hutes ab: Es geht um eine möglichst klare, objektive Sicht auf die Probleme, die emotionalen Bedenken äußern Sie, wenn Sie den roten Hut aufhaben. • Der gelbe Hut: Jetzt sind Sie Optimist! Sie glauben an den perfekten Ausgang. Das „Best-Case-Szenario“ ist gerade gut genug. Sie konzentrieren sich, wiederum möglichst objektiv, auf den Nutzen Ihrer Entscheidung. Welche Veränderungen zum Besseren können Sie dann feststellen? • Der grüne Hut steht für die Kreativität. Es geht um neue Ideen. Sie suchen nach alternativen Entscheidungen und Lösungen, letztlich also nach alternativen Zukünften. Begrenzen Sie sich nicht! Denken Sie kontraintuitiv, verrückt, grenzüberschreitend! Vermeiden Sie eine Bewertung Ihrer Ideen, fantasieren Sie. Natürlich werden die meisten Auswüchse Ihrer Fantasie nutzlos sein, aber sie beflügeln die Kreativität, und vielleicht fallen Ihnen bisher unbeachtete Aspekte ein.

3  Wie „geht“ Prognose und wie geht sie nicht?     169

• Der blaue Hut ordnet oder „dirigiert“. Mit ihm auf dem Kopf sortieren Sie alle gesammelten Aspekte, z. B. mit einer Nutzwertanalyse. Der blaue Hut kommt zum Schluss, wenn alle anderen Hüte getragen wurden und so das Prognoseproblem von allen Seiten durchdacht ist. Zu erkennen ist, dass die sechs Denkhüte von de Bono ein hervorragendes Instrument sind, ein Prognose- und Entscheidungsproblem gründlich zu durchdenken. Das geht auch alleine im stillen Kämmerlein, und die Visualisierung mittels der verschiedenfarbigen Hüte leitet uns an, Blickwinkel einzunehmen. Selbstverständlich ist es eine Frage der Angemessenheit, ob sich der Aufwand lohnt. Bei weitreichenden und nichtquantitativen Prognosen ist es aber lohnend, etwa bei der Frage der Studienplatzwahl, der Annahme eines Jobs im Ausland oder wenn Sie Ihr Lebenskonzept infrage stellen. Münzwurf zum Hervorholen von versteckten Wünschen Sie können sich nicht entscheiden. Prognosen sind unentschieden, die Einflussfaktoren Legion und Inputdaten Mangelware. Es gibt keine belastbare Grundlage für die Abschätzung der Handlungsfolgen, die Eintrittswahrscheinlichkeit ist ebenso unklar wie der Ort des Nibelungenschatzes, Sie scheuen die Entscheidung, weil Sie die Einflussnahme einer höheren Gewalt befürchten, es ist Ihnen egal oder Sie fürchten die emotionalen Kosten einer selbst, bewusst und eigenverantwortlich getroffenen Entscheidung. Hierzu ein reales Beispiel: Die zehnjährige Tochter einer Bekannten sollte sich entscheiden, auf welche weiterführende Schule sie geht. Vater und Mutter plädierten für unterschiedliche Schulen und lieferten ihrer Tochter gute Gründe für ihren eigenen Vorschlag und Argumente, die gegen den Vorschlag des jeweils anderen Elternteils sprechen. Als Scheidungskind liebt sie beide Elternteile. Sie war hin- und hergerissen, und im Vordergrund stand für sie nun nicht mehr die Prognosefrage, welche Schule für sie die bestgeeignete sei, sondern: Soll sie den Vater oder die Mutter enttäuschen? Ich riet ihr zu einem einfachen Trick: Wirf eine Münze und spüre nach, ob dir das Ergebnis gefällt oder nicht. Sie warf die Münze, und das Ergebnis passte ihr nicht. Damit war die Entscheidung klar, und mit ein bisschen Unterstützung ertrug sie die emotionalen Kosten, einen Elternteil zu enttäuschen. Sie hat den Weg zu einer eigenen Meinung gefunden. Hut ab! Uns Erwachsenen geht es oft nicht anders: Wir wollen uns nicht entscheiden. Mit dem Münzwurf delegieren wir die Entscheidung an den Zufall und wir fühlen uns nicht mehr verantwortlich für – beispielsweise – die

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emotionalen Kosten der Entscheidung (wissenschaftlich untersucht haben das Dwenger et al. 2012). Der Münzwurf ersetzt die Entscheidung und kommt dann zum Einsatz, wenn die Prognose durch die oben genannten Szenarien blockiert ist. Wir werfen die Münze und „wissen“, ob uns die Entscheidung gefällt oder nicht. Ein Mittel zur Überprüfung von Indifferenz. Die Analyse vergangener Fehler Steht eine Prognose für eine Entscheidung an, die Sie schon einmal getroffen und bei der Sie bereits einen Fehler gemacht haben? Dann sollten Sie sich nicht auf die intuitive Verarbeitung dieser Fehler verlassen, sondern sie formal in die neuerliche Prognose einbeziehen. Typische Beispiele hierfür sind eine gescheiterte Ehe, der desaströse Job, den Sie zuletzt angenommen oder der Schiffsfonds, den Sie erworben haben und wie an einem Eisberg zerschellen und untergehen sahen. In solchen Fällen ist es wichtig, nüchtern und bewusst die bisherigen Fehler zu analysieren. Das ist keineswegs selbstverständlich. Der natürliche Mechanismus ist, den vergangenen Fehler abzuhaken und mit der Attitüde „Zurück auf Los, jetzt mache ich alles anders!“ die gleichen Fehler noch einmal zu machen. Als wichtig für bessere Entscheidungen hat sich aber gezeigt, Fehler rational zu analysieren (DiMenichi et al. 2018) und die Ergebnisse zu notieren: • • • •

Was habe ich falsch gemacht? Warum habe ich diese Fehler begangen? Was hätte ich damals tun müssen, um diese Fehler nicht zu begehen? Was muss ich heute tun, um die Fehler zukünftig zu vermeiden?

Das Abdunkeln des Zimmers Dieser Ratschlag scheint so gar nicht in meine Liste zu passen. Aber Studienergebnisse sind derart eindeutig, dass es mir wichtig erscheint, ihn mit aufzunehmen: Sie prognostizieren bewusster und entscheiden damit besser, wenn Sie dies bei gedämpftem Licht tun. Emotionen werden einen geringeren Einfluss haben. An sonnigen Tagen oder in hellen Umgebungen sind Menschen optimistischer, z. B. in Bezug auf die Börsenkurse, sie berichten, es ginge ihnen besser, und sie sind hilfsbereiter. Aber an sonnigen Tagen sind depressive Menschen noch depressiver, auch die Selbstmordrate ist höher. Helles Licht steigert die Amplitude von Emotionen (Xu und Labroo 2014). Auch sollten Sie bei wichtigen Themen, an denen Sie alleine oder aber mit Ihren Beratern oder Mitentscheidern arbeiten, eine nüchterne Arbeits-

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umgebung suchen. Der leer geräumte Küchentisch ist besser als die weinselige Atmosphäre am späten Abend. Lesen Sie vor der Diskussion Fachliteratur, beschäftigen Sie sich mit Zahlen. Sie werden differenzierter, aufgeräumter und weniger von kognitiven Verzerrungen beeinflusst an die Thematik herangehen. Fremderfahrungen bewerten Für viele Prognosen sind Erfahrungen anderer wertvolle Inputs. Wir wissen bereits, dass die Fallen der Verfügbarkeitsheuristik, des Halo-Effekts, des Primings usw. drohen. Wir ahnen, dass viele Erfahrungen subjektiv gefiltert werden und wir nicht das ganze Bild erzählt bekommen, nicht mit Absicht, aber Menschen blenden Unangenehmes gerne aus. All diese Verzerrungen kennen wir und berücksichtigen sie, wenn wir Erfahrungen anderer in unsere Prognose einbeziehen. Darüber hinaus sollten wir immer nach der statistischen Relevanz fragen. Ein Bergsteiger, der mit einer Diashow über seine spektakuläre Mount-Everest-Besteigung berichtet, stellt sich als Experte für Extrembergsteigen dar. Er wird sich auch als solcher fühlen, aber ist er es? Nein, denn er hat eine singuläre Erfahrung unter den damals vorherrschenden Umständen gemacht. Die Umweltbedingungen werden einmalig gewesen sein, also Wetter, sein Fitnesslevel, die Form der Sherpas usw. Seine Erfahrung wäre für uns nicht einmal nützlich, wenn wir die gleichen externen Bedingungen antreffen würden, denn unsere Form, Einstellung und Motivation machen die Situation speziell. Wenn hingegen Reinhold Messner, der schon oft auf dem Everest und vergleichbaren Bergen war, von seinen Erfahrungen erzählt und Tipps gibt, so dürfen wir diese als Referenz nutzen, denn hier hat ein Experte vielfach wiederholte Erfahrungen gemacht. Unbesehen übernehmen dürfen wir sie natürlich nicht, denn unsere individuellen Voraussetzungen werden immer noch nicht die gleichen sein wie jene von Messner.

3.6 Ein Zwischenergebnis: Wie mächtig sind Alltagsprognosen? Der Kern der vorangegangenen Kapitel war, Prognosen als imaginierte Brücke zwischen der Gegenwart und der Zukunft darzustellen. Eine Brücke lässt sich aber meist in zwei Richtungen beschreiten: Da ist der Blick aus der Gegenwart in die Zukunft mit dem Ziel, sich diese vorzustellen, sie „sicherer zu machen“, eben um beurteilen zu können, ob eine Entscheidung

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klug oder dumm ist. Aber es wirkt auch umgekehrt: Prognosen haben eine rekursive Wirkung. Sie ermöglichen einen erdachten Blick aus der Zukunft zurück in die Gegenwart, indem wir uns vorstellen, welche Folgen eine Entscheidung haben wird. Prognosen machen unser Zukunftsbild.

Darin liegt auch eine Gefahr. Jede Prognose ist nämlich immer nur ein wahrscheinliches Bild unserer Zukunft. Diese ist nicht sicher. Wir nannten das oben „Eintrittswahrscheinlichkeit“ (der Prognose) und „Sicherheit“ (der Zukunft). Prognosen machen Zukunft nicht berechenbar, sie sind Hilfsmittel, um Risiken und Chancen von Entscheidungen abschätzen zu können. Je besser unsere Prognosen sind, je bessere Modelle wir benutzen, je sorgfältiger wir Daten sammeln und damit die Modelle füttern, desto größer wird die Chance, unsere Ressourcen gut einzusetzen und smarte Entscheidungen zu treffen.

Vielleicht nutzen wir nicht die bestmöglichen Modelle, vielleicht haben wir nicht genug Zeit aufgewendet, um auch die letzten sinnvollen Informationen zu beschaffen, vielleicht haben wir Einflussfaktoren nicht berücksichtigt, vielleicht auf suboptimale Prädiktoren vertraut, aber wir haben ein Ergebnis, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit zwar niemals 100 % sein, aber dessen Wert für die Entscheidungsfindung beurteilt werden kann. So werden Sie vielleicht alles Mögliche über ihren potenziellen Arbeitgeber in Erfahrung bringen wollen, aber letztendlich feststellen, dass das zu wenig ist, um damit eine Prognose, wie klug der Jobwechsel ist, erstellen zu können. Sie wissen dann, dass diese Prognose wenig dazu beitragen kann, die Zukunft abzusichern und damit sind Sie einen großen Schritt weiter, denn Sie wissen nun, dass der Jobwechsel risikoreich ist. Ohne den ganzen Aufwand der bewussten Informationsbeschaffung usw. hätten Sie die Entscheidung „aus dem Bauch heraus“ getroffen. Ein anderer, z. B. der neue Chef, mit dem Sie die Bewerbungsgespräche geführt hatten, hätte Ihnen ein Zukunftsbild gemalt, das in seinem Interesse gewesen wäre. Aber wäre es realistisch gewesen? Hätte er in seinem Bild ihre Fähigkeiten, Motivation oder Interessen berücksichtigt? Nein, das können nur Sie. Wenn Sie also

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darauf verzichten, zu prognostizieren, verzichten Sie auf die Absicherung ihrer Entscheidung. Sie sind dann Spielball, passiv, manipulierbar. Erst wenn wir in eine eigene Prognose investieren, treffen wir gute, selbstbestimmte Entscheidungen. Andere machen das nicht für uns. Andere berücksichtigen ihre eigenen Interessen.

Doch auch, wenn es keine „anderen“ gibt, wir also eine Entscheidung im stillen Kämmerlein treffen, gibt es im übertragenen Sinne einen anderen, der uns beeinflusst: Es ist unser Unterbewusstsein, das die Führung übernimmt. Je automatischer wir eine Entscheidung treffen, desto mehr wird sie vom Unterbewusstsein bestimmt. Dann werden Zukunftsbilder von Hoffnungen und Sehnsüchten verzerrt, die Eintrittswahrscheinlichkeiten zu einem „das wird schon“ verstümmeln. Alltagsentscheidungen sind Routine. Wir treffen sie automatisiert, weil uns das Zeit und Aufwand erspart. Wir denken nicht groß nach, erstellen also auch keine bewussten Prognosen. Das ist effizient, doch die Gefahr ist auch groß, dass andere uns beeinflussen und dass wir selbst uns belügen. Mehr und mehr. Schleichend. Wir erleben dann erst die Folgen unserer un-smarten Entscheidung, haben zu viel unnützen Kram gekauft, sind dick geworden, verschwenden unsere Zeit mit idiotischen Dingen, schlucken bei jedem Schnupfen Antibiotika, bezahlen Geld für das Fitnessstudio, in das wir nicht gehen und beten zu einem Gott, an den wir nicht glauben.

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4 Einige ganz besondere Prognosefallen

Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln bereits einige Umstände kennengelernt, die uns unsere Prognosen verderben. Allen voran stehen die heuristischen und die Wahrnehmungsverzerrungen. Sie machen Vorhersagen unpräzise und fallen dabei nicht einmal auf. Wir benötigen Kontrollen und Korrekturen, damit wir diese Fallen erkennen und umgehen können, etwa das Feedback unbeteiligter Berater oder (teil)quantitative Methoden wie die Nutzwertanalyse. In diesem Kapitel stelle ich Ihnen weitere Fallen vor. Ich beginne mit einigen Problemen, die sich bei der Verwendung statistischer Methoden ergeben könnten (Abschn. 4.1, aber auch das Problem des Over- und Underfittings, das ich Ihnen bereits in Abschn. 3.5.4 vorstellte) und werde dann die Verzerrung des Halo-Effektes noch einmal und ausführlich thematisieren (Abschn. 4.2). Dabei gehe ich auch auf das Konzept des „Nudgings“ ein, bei dem Menschen durch Anreize, die z. B. der Staat setzt, zu einem gewünschten Verhalten animiert werden. Das Abschn. 4.3 widmet sich dem Herdenverhalten: „Was alle toll finden, kann nicht schlecht sein“ … oder doch?

4.1 Die Fallen der Statistik Statistische Methoden sind eine der tragenden Säulen der Prognostik. Sie spielen für Alltagsprognosen eine geringere Rolle als für Prognosen im unternehmerischen Umfeld, denn oft fehlen Fach-Know-how oder Inputdaten, wie wir in Abschn. 3.5.4 gesehen haben. Falsch wäre aber nun, gänzlich auf © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. B. Kühnapfel, Die Macht der Vorhersage, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24838-3_4

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statistische Methoden verzichten zu wollen. Zahlreiche Prognosen lassen sich ohne Mathematik nicht erstellen, etwa Vorhersagen zur Vermögensentwicklung. Doch auch bei allen anderen Prognosen spielt ein mathematischer Terminus eine zentrale Rolle: die Eintrittswahrscheinlichkeit. Ohne das Grundwissen, was eine Wahrscheinlichkeit im statistischen Sinne bedeutet, sind Prognosen kaum zu verstehen, denn jede Zukunft ist immer nur eine wahrscheinliche Zukunft. Ohne dass wir uns über ihre Eintrittswahrscheinlichkeit Gedanken gemacht haben, ist eine Prognose wertlos.

Freilich, wir können diese Eintrittswahrscheinlichkeit in den meisten Fällen nicht berechnen. Sie kann nur sehr unpräzise angegeben werden, vielleicht als intuitive Schätzung, aber auch das ist besser als nichts. Darum benötigen wir Kenntnisse der Statistik, und es fördert die Qualität der Prognose, wenn wir auch mögliche Fallen dieser Statistik kennen. Also los! Der Glaube an den Einzelfall Die Chance, im Lotto einen Sechser zu haben, beträgt je Woche und ausgefülltem Spielkästchen ca. 1 zu 14 Mio. Füllen wir vier Kästchen aus, müssen wir ca. 67.308 Jahre spielen, um zu gewinnen. Das klingt lächerlich. Aber betrachten Sie die Zahl einmal anders: Von 67.308 Spielern in Ihrer Stadt wird einer dieses Jahr Millionär. Warum sollten das nicht Sie sein? Sechs Richtige zu haben ist möglich, fast jede Woche passiert das einem oder gar mehreren! Die Statistik stimmt und die Wahrscheinlichkeit ist äußerst niedrig, aber das Gefühl klammert sich an die Hoffnung des Einzelfalls. Wir neigen zuweilen sogar dazu, für uns selbst als Einzelfall die statistische Wahrscheinlichkeit des Ergebnisses durch die statistische Verteilung der Ergebnismöglichkeiten zu ersetzen: Sie haben sechs Richtige oder Sie haben sie nicht: eine 50:50-Chance (wie in der Anekdote über meinen Vater, s. o.)! Aber dann, am Abend, wissen wir doch sehr genau, dass unser Los nur eines im großen Topf aller Lose ist und wir den Ausgang der Ziehung nicht beeinflussen können. Die Maschine interessiert sich nicht für uns und unsere Geldsorgen. Sie ist gerecht, sie agiert im Rahmen statistischer Gesetzmäßigkeiten. Schauen wir uns ein weniger erfreuliches Thema an: die Prognose eines Therapieerfolgs: Wenn Sie über 60 sind und bei Ihnen akute myeloische Leukämie diagnostiziert wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie die nächs-

4  Einige ganz besondere Prognosefallen     181

ten fünf Jahre überleben, geringer als 15 % (Krug et al. 2011). Aber was ist diese Eintrittswahrscheinlichkeit wert? Sie wissen, dass Sie sich auf fundierte Statistiken stützt, aber Sie sind doch ein Einzelfall! Sie klammern sich an die 15 %-Chance und suchen zugleich nach individuellen Einflussfaktoren, welche die Statistik zu Ihren Gunsten verbessern könnte. Solche Faktoren gibt es, etwa wie gut Sie die Medikamente vertragen, wie sportlich Sie sind und ob Sie relevante Vorerkrankungen haben. Sie werden diese Einflussfaktoren zu Mustern verbinden und davon ausgehen, dass Ihre individuelle Überlebenschance besser ist. Ein drittes Beispiel: Ihr Kind soll einmal studieren. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass 53 % der Kinder im Jahr 2014 eine Hochschulzugangsberechtigung erworben haben (Statistisches Bundesamt 2016). Nun, die Grundschulnoten zeigten bereits, dass Ihr Kind zu den 50 % Cleveren gehört. Aber die Prognose, ob Ihr Kind einmal eine Formalvoraussetzung für einen Studienplatz erfüllen wird, ist von vielen individuellen Einflussfaktoren abhängig, nicht nur von diesen Grundschulnoten. Zunächst müssen Sie Ihr Kind natürlich auf eine Schule lassen, die eine solche Hochschulzugangsberechtigung ermöglicht. Des Weiteren können Sie das Lernen fördern, Nachhilfestunden kaufen und darauf achten, dass Ihr Kind Fächer wählt, die seinen Interessen entsprechen, oder solche, für die es bessere Noten gibt. Die statistische Chance von ca. 53:47, nach der Schule studieren zu dürfen, kann also durch Engagement, Geld oder geschicktes Vorgehen beeinflusst werden. (Mir ist die Unschärfe in dieser Betrachtung bewusst, denn manche streben bewusst keine Hochschulberechtigung an.) Diese drei Beispiele (Lotto, Diagnose, Schule) zeigen, dass es durchaus eine Berechtigung gibt, gegen die statistische Wahrscheinlichkeit zu wetten, wenn folgende Voraussetzung erfüllt ist: Je mehr individuelle Einflussfaktoren die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Zukunft bestimmen, desto weniger aussagekräftig ist die abstrahierende Wahrscheinlichkeitsverteilung.

Wenn wir aber nur wenige oder unbedeutende individuelle Einflussfaktoren finden, müssen wir den Statistiken mehr Glauben schenken. Das Verwechseln von Koinzidenz, Korrelation und Kausalität Was wie eine Aneinanderreihung dreier Fremdworte klingt, ist nicht weniger als der Kardinalfehler volkstümlicher Interpretationen von Statistiken.

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In Abschn. 3.5.3 hatte ich bereits begründet, warum wir formale Modelle für Prognosen nutzen sollten, wann immer der Aufwand es rechtfertigt, weil eine Entscheidung wichtig ist. Dort erläuterte ich auch, dass das wiederholte, gleichzeitige Auftreten von Ereignissen keineswegs auch bedeutet, dass das eine Ereignis Grund für das andere sei; Schuhgröße und Einkommen etwa korrelieren, wie Abb. 4.1 zeigt, aber es gibt keine direkte Kausalität. Kausalität bedeutet, dass ein Ereignis Ursache für ein anderes Ereignis ist: Alkoholgenuss und Wohlbefinden am nächsten Tag zum Beispiel. Geringe Mengen wirken sich nicht aus, aber ab einem individuell festzustellenden Pensum zieht Trinken Unwohlsein nach sich. Eine unidirektionale Kausalität: Trinken beeinflusst das Wohlbefinden am nächsten Tag, aber umgekehrt hat das Wohlbefinden am Folgetag logischerweise keine Auswirkung auf die konsumierte Alkoholmenge des Vorabends. Am Rande: Das erwartete Wohlbefinden am Folgetag kann als Einflussfaktor die Prognose beeinflussen, wie viel Alkohol jemand am Abend trinken möchte. Kausalitäten festzustellen ist schwieriger, als es aussieht. Unser „gesunder Menschenverstand“ ist da eher hinderlich. Auch ist es nicht binär, sondern es gibt eine fließende Intensität der Kausalität. Üblicherweise kann man Kausalitäten nur durch Experimente ermitteln. So wäre z. B. möglich, Menschen größere Schuhe tragen zu lassen und in den Folgejahren deren Ein-

Einkommen p.M. in €

1700 1600 1500 1400 1300 1200

36.5

38.5

40.5

42.5

Schuhgröße Abb. 4.1  Korrelation von Schuhgröße und Einkommen

44.5

4  Einige ganz besondere Prognosefallen     183

kommensentwicklung im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die passende Schuhe trägt, zu messen. Eine weitere Frage ist, ob ein Ereignis von einem oder von mehreren Ursachen beeinflusst wird. Entsprechend sprechen wir von Mono- oder Multikausalität. Beim obigen Beispiel scheint die Sache klar: Saufen führt zu Kopfschmerzen, also eine Monokausalität. Was hier auf der Hand liegt, mag zwar sehr wahrscheinlich sein, aber tatsächlich könnte das Unwohlsein auch durch eine Reihe von Ursachen induziert worden sein, die „zufällig“ oder durch den Alkoholkonsum ausgelöst aufgetreten sind. Richtig kompliziert wird es, wenn es sich um Kausalketten handelt, also X nicht Y beeinflusst, sondern A beeinflusst B beeinflusst C beeinflusst D. Spätestens hier ist Expertenwissen gefragt und eine gründliche Ausbildung als Statistiker, um Kausalketten sicher identifizieren zu können. Mehr noch, ich möchte ausdrücklich davor warnen, ohne die erforderlichen Fachkenntnisse Kausalketten zu postulieren, denn nur allzu oft handelt es sich um nicht mehr als kohärente Argumentationsketten, also Erzählmuster, die entsprechenden Verzerrungen unterliegen. Ein Mediatoreffekt liegt vor, wenn die Beziehung zwischen X und Y durch einen Mediator Z „vermittelt“ wird. Ein Beispiel: Zwischen Speiseeisumsätzen und Sonnenbränden gibt es eine Korrelation. Es kann keine direkte Kausalität ermittelt werden, denn häufiges Eisessen macht möglicherweise dick, verursacht aber keinen Sonnenbrand. Aber es gibt Z, die vermittelnde Variable: Sonnenwärme! Bei 29 Grad essen wir mehr Eis und holen uns mehr Sonnenbrände. Eine Korrelation ist hingegen der mathematisch leichter nachweisbare Zusammenhang zweier Ereignisse bzw. Variablen. Auch hier gibt es eine unterschiedliche Stärke des Zusammenhangs. Ein Korrelationskoeffizient von 0 bedeutet, dass zwei Ereignisse keinen Zusammenhang zeigen, 1 bedeutet, dass der Zusammenhang idealtypisch ist: wenn A, dann immer auch B. Aber A hat nicht B und B nicht A bedingt, das wäre Kausalität. Soweit die Sichtweise des Statistikers. Doch es gibt das immerwährende menschliche Bedürfnis, Ereignisse in einen Zusammenhang zu bringen, um aus der Beobachtung von A auf die Veränderung von B schließen zu können. Es ist der Urtrieb der möglichst sicheren Prognose, der es nicht bei einem Variablenzusammenhang (Korrelation) belässt, sondern mindestens eine hypothetische Kausalität unterstellt. Wir werfen Hühnerknochen, opfern Schafe, beten zu Göttern und tragen Glücksbringer, weil wir davon überzeugt sind, dass dieses Verhalten den Ausgang eines ungewissen Ereignisses beeinflusst. Vielleicht ist uns ein Erlebnis präsent (Verfügbarkeits-

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heuristik), vielleicht glauben wir der Erzählung anderer, bei denen es geholfen hat (Repräsentativitätsheuristik); aber stets geht es um die Elimination des Zufälligen. Zufall ist ärgerlich. Er verhindert Ordnung. Und, am Rande: „Aberglaube [ist] nichts anderes als das vorschnelle Annehmen kausaler Zusammenhänge.“ (Eder et al. 2011). Kausalitäten beschreiben Abhängigkeiten (A bedingt B), Korrelationen zeigen Zusammenhänge (wenn A, dann auch B). Der dritte Begriff, den die Überschrift angekündigt hat, ist nun die Koinzidenz. Hier ist weder Abhängigkeit noch Zusammenhang gegeben, sondern es handelt sich lediglich um das gleichzeitige Auftreten zweier Ereignisse: A und B sind gleichzeitig passiert. Es geht hier nicht um Variablenverläufe, sondern um singuläre Geschehnisse. Ob eine Kausalität vorliegt, wissen Sie nicht. Wenn Sie z. B. feststellen, dass Ihre Frau immer dann keine Lust auf Sex hat, wenn der Bofrost-Lieferant da war, ist das zunächst eine schiere Koinzidenz. Ob eine Kausalbeziehung zwischen den Ereignissen existiert, ließe sich nur durch Beobachtung feststellen. Zuweilen „glauben“ wir auch an Koinzidenzen, wo keine sind. Eine solche Koinzidenz ist z. B. der Geburtstermin und das Charakterprofil eines Menschen, auch, wenn Letzteres kein Ereignis im engeren Sinne ist. Gerne unterstellen wir, dass die Geburt in einem festgelegten Zeitintervall, wir nennen es „Sternzeichen“, kausal mit der Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale einhergeht. Aber es ist Mummenschanz. Noch nie konnte ein Beleg für diese Annahme gefunden werden. Geburtstermin, Sternzeichen und Charakterprofil sind Koinzidenzen, aber nur zwischen dem Geburtstermin und dem Sternzeichen liegt eine (hier: definitorische) Verbindung vor, zwischen dem Sternzeichen und dem Charakterprofil kann diese nicht beobachtet werden. Das Beispiel zeigt recht anschaulich, dass Koinzidenzen leicht zu Narrativen verknüpft werden können. Auch mein obiges Anglerbeispiel repräsentiert Geschichten, die vermeintliche Experten, Esoteriker oder Situationserklärer herbeischwätzen: Es werden irgendwelche Zusammenhänge erfunden, nur weil zwei Ereignisse gleichzeitig aufgetreten sind. Vollmond und schlechtes Einschlafen? Nein, es gibt keinen nachweisbaren Zusammenhang (Cordi et al. 2014). Dieser entsteht erst in Folge einer selbsterfüllenden Prophezeiung: „Wenn Vollmond ist, schlafe ich schlecht ein!“. Sogar Profis fallen darauf herein, etwa, wenn sie mit Ergebnissen von Big-Data-Auswertungen unprofessionell umgehen: So lässt sich nachweisen, dass „die Verabreichung von Aspirin die Mortalitätsrate bei Herzerkrankungen senkt, es sei denn, der Patient hat das Sternzeichen Löwe. Das Erste stimmt, das Zweite ist eine Scheinkorrelation beziehungsweise ein Zufallseffekt.“ (Weißenberger 2018)

4  Einige ganz besondere Prognosefallen     185

Was heißt das nun zusammenfassend? Von 1. bis 4. in der nachfolgenden Aufzählung nimmt der Wert des Zusammenhangs zwischen A und B für eine Prognose zu: 1. Wenn festgestellt wird, dass A und B, gleich ob Ereignis oder Datenreihe, einen Zusammenhang aufweisen, z. B. gemeinsam aufgetreten sind, sollten wir zunächst einen Zufall unterstellen. Das ist die „Standardannahme“. 2. Wenn ein Zufall mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, ist es legitim, eine Korrelation anzunehmen. Wenn A, dann auch B (Koinzidenz) bzw. „Je mehr (weniger) A, desto mehr (weniger) B!“ (Korrelation). 3. Wir prüfen, ob ein dritter Faktor, der Mediator, gleichzeitig auf A und auf B Einfluss hat – der Mediatoreffekt. 4. Nur, wenn es einen deutlich erkennbaren und logisch erklärbaren Wirkungszusammenhang gibt, dürfen wir unter Vorbehalt von einer Kausalität ausgehen: A beeinflusst B – die Kausalität. Noch einmal: Hüten Sie sich davor, vorschnell Kausalitäten erkennen zu wollen, vor allem, wenn Sie sie für Prognosen nutzen und wichtige Entscheidungen treffen wollen. Verlässliche Kausalitäten sind gerade in hochkomplexen Umwelten selten, sei es der Finanzsektor, die Medizin, die Kindererziehung oder die Partnerschaft.

Zuletzt möchte ich noch einige sehr schöne Beispiele fehlerhaft unterstellter Kausalitäten zitieren. Zusammengetragen hat sie der Wissenschaftler Tyler Vigen, und die Beispiele unterstreichen sehr eindrucksvoll meine oben eingerahmte Aussage (Vigen 2015). Offensichtlich absurd ist der Zusammenhang zwischen nichtkommerziellen Raketenstarts und der Anzahl an Promotionen von Soziologen in den USA (Abb. 4.2). Hängen die Variablen thematisch zusammen, erscheint uns eine Kausalbeziehung. Hier: verkaufte japanische Autos und Selbstmorde durch mutwillig herbeigeführte Autounfälle (Abb. 4.3). In der Abb. 4.4 findet sich ein weiteres sehr schönes Beispiel: der Zusammenhang zwischen länderspezifischem Schokoladenkonsum und Nobelpreisen (angelehnt an Messerli 2012, Daten aktualisiert). Offensicht-

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700

600 40

Promoonen

Raketenstarts

650 50

550

30

500 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Nichtkommerzielle Rakentenstarts weltweit Soziologie-Promoonen in den USA

1200

140

1000

120

800

100

Selbstmorde

Verkaufte japanische Autos in Tausend

Abb. 4.2  Korrelation nicht-kommerzielle Raketenstarts und Soziologie-Promotionen

600

80 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Verkaue japanische Autos

Selbstmorde duch Autounfälle

Abb. 4.3  Korrelation verkaufte japanische Autos und Selbstmorde durch Autounfälle

4  Einige ganz besondere Prognosefallen     187

lich scheint klar: Schokoladenessen führt zu Nobelpreisen oder umgekehrt, viele Nobelpreise führen zu hohem Schokoladenkonsum. Das Fatale: Der Zusammenhang wurde in dem Aufsatz, der in einer angesehenen medizinischen Fachzeitschrift erschien, ernsthaft als Kausalität beschrieben! Einen Verweis darauf, dass der Zusammenhang auch nur eine mehr oder weniger zufällige Korrelation sein könnte, bringt der Autor widerwillig in einem kurzen Nebensatz (S. 1563, 4. Zeile). Zu aufregend erscheint ihm die „Entdeckung“. Merke: Auch Wissenschaftler verwechseln gelegentlich Korrelation und Kausalität. Konzept der Basisrate als Kontrolle unserer Prognosen Die Basisrate ist der prozentuale Anteil bestimmter Ereignisse oder Beobachtungsobjekte an der Grundgesamtheit. So ist die Basisrate von Frauen in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen in Deutschland 23 %. Die Basisrate ist ein wichtiger Prüfstein für unsere Prognosen. An ihr können wir messen, ob unsere Einschätzung der Zukunft realistisch ist oder nicht.

35

Nobelpreise je 10 Mio. Einwohnern

CH 30 DK AUT NOR

25 20

UK

15 10

F

5

D

IRL

USA FIN

B

I GR E PRT

0 2

3

4

5

6

7

8

9

Schokoladenkonsum in kg pro Jahr und Einwohner Abb. 4.4  Korrelation Schokoladenkonsum und Nobelpreise

10

11

188     J. B. Kühnapfel

Ein einfaches Beispiel: Sind Sie ein überdurchschnittlich guter Autofahrer? Je nach Umfeld, in dem gefragt wird, werden 70–90 % der Befragten dies bejahen (z. B. Svenson 1981). Aber das Ergebnis kann nicht der Realität entsprechen, denn die Basisrate beträgt 50 %! Nur 50 % der Autofahrer können überdurchschnittlich gut sein, die anderen sind unterdurchschnittlich. Das ist per definitionem so, denn der Durschnitt trennt die 50 % schlechteren von den 50 % besseren Autofahrern. Die Crux: Individuell befragt fehlt dem Probanden der statistische Überblick und er kann nur sich selbst beurteilen. Und weil ihm im Sinne einer Verfügbarkeitsheuristik Dutzende Situationen einfallen, in denen allein seine Übersicht und sein fahrerisches Geschick den Unfall mit diesem Idioten von einem Autofahrer verhindert hatten, wird er sich für den besseren halten. Sie aber können die Glaubwürdigkeit von statistischen Erhebungen dieser Art anhand der Basisrate messen. Dies heißt aber auch, dass zuweilen versucht wird, genau diese Messung zu verhindern. So ließe sich die Frage auch anders formulieren: „Glauben Sie, ein besonders umsichtiger Autofahrer zu sein?“ Die entstehende Statistik lässt sich nicht interpretieren, denn was die Autofahrer von sich selbst glauben, hat keine Auswirkung auf das Fahrveralten oder die Unfallhäufigkeit. Das im Mittel der diversen Untersuchungen 80 % der Autofahrer annehmen, besonders umsichtig zu fahren, ist eher eine schlechte Nachricht, denn es lässt sich so interpretieren, dass die Bereitschaft, seine eigene Fahrweise zu überprüfen, gering ist. Hier noch ein anderes Beispiel, entlehnt aus den Arbeiten von Kahneman und Tversky (Kahneman 2016): Sie sind auf einer Party und jemand beschreibt Ihnen seinen Kumpel Klaus mit folgenden Worten: „Klaus ist ein schüchterner Typ, in sich gekehrt und ein wenig weltfremd, aber hilfsbereit, wenn man ihn bittet. Er liebt die Ordnung, sortiert und beschriftet alles in seinem Umfeld. In Details geht er auf.“ Jetzt die entscheidende Frage: Ist Klaus ein Landwirt oder ein Bibliothekar? Experimente zeigen, dass die Meisten auf Bibliothekar tippen, wohin die Repräsentativitätsheuristik uns auch führt: Genau so stellen wir uns einen Bücherwurm vor. Aber tatsächlich übersehen wir dabei die Basisraten: 2016 gab es 940.000 Beschäftigte in der Landwirtschaft, aber weniger als 20.000 Bibliothekare. Die Basisrate der 20.000 oder knapp 2,1 %. Die WahrscheinBibliothekare betrug also 20.000+940.000 lichkeit dürfte sehr viel höher sein, einen Landwirt zu treffen, auf den die Personenbeschreibung zutrifft, als einen Bibliothekar. Wenn Sie nun eine Tochter haben, die ihren Führerschein machen möchte und das Budget ist knapp, reicht ein Blick in die Statistik der Basisraten, um das Problem zu zeigen: 28,1 % der Prüflinge fallen bei der praktischen Fahrprüfung durch (Quelle: Kraftfahrtbundesamt), und die Kosten

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für die Fahrstunden, die bis zur Wiederholungsprüfung zu nehmen sind, waren nicht eingeplant. Da es aber keine bekannten Muster für Durchfaller gibt, die Schlauen sind genauso betroffen wie die Dummen, die Fleißigen wie die Faulen, und die Basisrate mit fast einem Drittel der Prüflinge hoch ist, sollten sie unbedingt Budget für die Wiederholungsprüfung einplanen. Und es reicht nicht, nur 28,1 % des erforderlichen Zusatzbudgets zu planen. Am Rande: Die Durchfallquote bei der theoretischen Prüfung ist höher, 36,8 % in 2017, aber die Kosten der Wiederholungsprüfung sind geringer. Wann immer also Basisraten recherchiert werden können und es keinen Grund für die Annahme gibt, dass das von Ihnen beobachtete Szenario objektiv anders ist, sollten Sie die Basisrate zur Kontrolle der Eintrittswahrscheinlichkeit Ihrer Prognose verwenden. Abweichungen sind gut zu begründen! Gesetz der kleinen Zahlen und das Problem der geringen Stichprobenanzahl Das Gesetz der kleinen Zahl besagt, dass bei einer geringen Anzahl von Ereignissen die Ergebnisse dieser Ereignisse nicht so verteilt sind, wie es die Gesetze der Statistik verlangen würden. Wir sind diesem Gesetz bereits in Abschn. 3.5.4 begegnet, als wir eine Münze warfen: Wenn Sie eine Münze 1000-mal werfen, wird jede Seite ziemlich genau 500-mal oben liegen. Aber werfen Sie nur 10-mal, wird die Verteilung mit geringerer Wahrscheinlichkeit gleichverteilt sein, vielleicht sieben Mal Kopf und nur 3-mal Zahl. Sie können dem Ergebnis bei einer geringen Anzahl Würfe weniger vertrauen. Das Ergebnis weicht umso häufiger und umso mehr (!) vom statistischen Erwartungswert ab, je geringer diese Anzahl ist. Ähnlich ist es beim Roulette: Wird die Kugel 37 Mal in den Kessel geworfen, wäre statistisch zu erwarten, dass jede Zahl ein Mal fällt. Tatsächlich aber fallen nur ca. zwei Drittel der Zahlen, einige also mindestens doppelt und andere gar nicht. Erst bei sehr vielen Durchläufen à 37 Ausspielungen wird sich eine Gleichverteilung ergeben, jede Nummer also 1/37-mal getroffen. Wir lernen daraus, dass statistische Verteilungen nur verlässliche Indikatoren für eine Prognose sind, wenn die Anzahl von Ereignissen hinreichend groß ist.

Bei einer geringen Anzahl von Ereignissen, und das ist bei den meisten Prognosen so (Erfolg einer Partnerschaft, eines Loses, einer Therapie usw.), können wir uns zwar auf die Eintrittswahrscheinlichkeit stützen, aber jedes

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andere Ergebnis ist eben auch möglich, wenn auch unwahrscheinlicher. Das wissen wir intuitiv, und so lässt sich auch erklären, warum wir uns in einigen Lebenssituationen gerne an die unwahrscheinlichen Ergebnisse klammern. Das Gesetz der kleinen Zahlen verführt dazu, auf einen statistischen Ausreißer zu hoffen, vor allem, wenn uns dieser Ausreißer behagt.

Es gibt noch eine andere Ausprägung dieses Gesetzes: Entwicklungen, die mittels absoluter Werte ausgedrückt wenig beeindruckend aussehen, wirken als relative Entwicklungen mitunter spektakulär. Wenn Ihre Tochter in der neunten Klasse in zwei Fächern eine Fünf hatte, aber in der zehnten nur in einem, ist dies eine Verbesserung um 50 %! Ein rasanter Fortschritt, oder? Noch imposanter wirkt dieser Eeffekt, wenn die kleinen absoluten Werte nur einen Bruchteil der Grundgesamtheit ausmachen: In Großbritannien wurde festgestellt, dass sich das Risiko einer lebensgefährlichen Thrombose für Frauen, die die Antibabypille nehmen, mit Einführung der Pille der dritten Generation verdoppelt hat! Was ist passiert? Bei der Pille der zweiten Generation bekam eine von 7000 Frauen eine Thrombose, bei der Pille der dritten Generation aber 2 von 7000. Zweifellos eine Steigerung der Fallzahlen um 100 %, aber die Wahrscheinlichkeit einer Thrombose stieg mal gerade von 0,0014 % auf 0,0028 %. Doch die Meldung war in der Welt, infragen der Statistik unbedarfte Journalisten schürten die Angst vor der neuen Pille. Die Folge waren 13.000 zusätzliche Abtreibungen und eine signifikante Zunahme der ungewollten Schwangerschaften, darunter alleine 800 von Mädchen unter 16 Jahren (Gigerenzer 2014, S. 16 ff.). Diese Auslegung des Gesetzes der kleinen Zahlen begegnet uns oft, wenn Laien wie z. B. Politiker etwas begründen wollen. Prominent war in der Dieseldiskussion 2017/2018 beispielsweise die Zahl von 6000 Toten, die durch die Stickstoffemissionen von Dieselfahrzeugen verursacht werden. Die Zahl wurde im Rahmen einer Studie, die das Umweltbundesamt in Auftrag gegeben hatte, ermittelt. Übrigens war nie von 6000 die Rede, sondern von 5996, und diese Zahl war das Ergebnis einer Modellrechnung. Das Problem ist hier die unscharfe Unterstellung, dass diese Menschen noch leben könnten, wenn es keine Dieselfahrzeuge gäbe. Aussagekräftiger wäre es gewesen, zu berechnen, um welche Zeit Diesel älterer Bauart unsere Lebenserwartung verringern. Wenn wir die Anzahl von 6000 Toten als Jahreswert interpretieren und die Quote zur Gesamteinwohnerzahl auf die Lebenserwartung umrechnen, ergibt sich ein Wert von 2,2 Tagen, allerdings ohne

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zu berücksichtigen, ob die Menschen in der Innenstadt oder auf dem weniger belasteten Land leben. Führt uns das weiter? Nein! Zu viele solcher Meldungen sind übertrieben. Wenn wir die Verringerung unserer Lebenserwartung aller möglichen Todes- und Gefährdungsursachen addieren, und ich habe es grob überschlagen, müssten wir von einem theoretischen Alter von 120 Jahren ausgehen, um nach Abzug all der lebensverkürzenden Ereignisse bei der tatsächlichen durchschnittlichen Lebenserwartung von 81,09 Jahren zu landen. Die Quintessenz ist, dass statistische Wahrscheinlichkeiten oder absolute Zahlen Laien (wie unseren Politikern) nur nutzen, wenn sie als spektakuläre Argumente zu gebrauchen sind. Also werden Modellszenarien berechnet und Prognosen erstellt, und das am lautesten Schreiende schafft es in die Medien. Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Marktschreier verstehen, wie solche Zahlen entstanden sind und welchen Aussagewert sie haben. Der Skandal gilt als ausgemacht, Schuld sind jeweils die anderen, und wenn die Zahlen nicht genug Krawall hergeben, werden Sätze benutzt, die jeden Schwätzer in einer Talkshow oder in einem Interview zweifelsfrei markieren, etwa „Jeder Tote ist einer zu viel!“ Genug geschimpft. Aber vielleicht habe ich Sie motivieren können, zukünftig genauer hinzuhören. Hawthorne-Effekt In den in der Fachwelt berühmten Hawthorne-Experimenten wollten Forscher um Röthlisberger untersuchen, inwieweit sich die Veränderung von Arbeitsbedingungen auf die Performance von Mitarbeitern auswirkt (Roethlisberger et al. 1966, Original von 1939). Festgestellt wurde aber, dass nicht nur die Versuchsgruppe, sondern auch die Kontrollgruppe während der Untersuchung ihre Leistungen verbesserte. Die Erkenntnis war und ist erstaunlich: Probanden ändern ihr Verhalten, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden.

Dieser Effekt wurde vielfach nachgewiesen. Patienten, die beispielsweise vor einer Knieoperation darüber informiert wurden, dass sie anschließend im Rahmen einer Studie zu ihrem Befinden nach dem Eingriff befragt werden, berichteten über signifikant weniger postoperative Schmerzen als eine Kontrollgruppe (De Amici et al. 2000). In der Praxis ist der Effekt lästig, weil er die Ergebnisse von Experimenten beeinflusst. Probanden schauen

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sich Werbesendungen intensiver an, wenn sie wissen, dass sie hinterher dazu befragt werden, sie konsumieren anders, wenn sie es bewusst tun, und sie beschreiben sich auf Partnersuchportalen so, dass sie sich selbst nicht mehr identifizieren könnten. Was bedeutet das für Alltagsprognosen? Wann immer wir Inputdaten aus Untersuchungen nutzen, sowohl formale Studien als auch eigene Beobachtungen, ist die Frage, ob den Probanden bewusst war, dass ihr Verhalten beobachtet wird. Dann nämlich können die Ergebnisse verzerrt sein. Aber da die allermeisten Menschen gut aussehen wollen, werden es Verzerrungen zum Idealen sein. Die realen Ergebnisse werden schlechter aussehen. Umgekehrt lässt sich der Hawthorne-Effekt auch manipulativ nutzen. Weight Watchers oder Fitness-Tracker bauen darauf, dass die Veröffentlichung persönlicher Daten wie Körpergewicht oder Anzahl Schritte pro Tag das Verhalten der Teilnehmer verändert. Man will gut dastehen. Die Regression zum Mittelwert Wenn Messwerte Variabilität aufweisen und im Zeitverlauf schwanken können, zeigt sich eine Annäherung zu einem Mittelwert. Die Höhe des Zauns zum Nachbarn schwankt nicht, sie ist am Montag und am Dienstag gleich. Aber Ihr Blutdruck oder der Wert Ihres Aktiendepots schwanken. Wenn nun der Blutdruck oder der Aktiendepotwert einer Gruppe von Personen zum Zeitpunkt x gemessen wird, so zeigt sich eine gewisse Verteilung. Einige weisen überdurchschnittliche Werte auf, andere unterdurchschnittliche. Wenn wir nun die Gruppe teilen und fortan nur noch die Personen mit Bluthochdruck oder einem besonders erfolgreichen Aktiendepot beobachten, stellen wir fest, dass sich der Durchschnittswert dieser Teilgruppe bei einer zweiten Messung dem ursprünglichen Mittelwert annähert, also der durchschnittliche Bluthochdruck geringer ausfällt und sich die durchschnittliche Performance des Aktiendepots verschlechtert. Was ist passiert? Erlebten die Hochdruckpatienten eine Spontanheilung und sind die erfolgreichen Aktienspekulanten spontan schlechter geworden? Nein, es liegt ein statistischer Effekt vor: Messwerte streuen. So werden auch einige Personen in die Beobachtungsgruppe aufgenommen, bei denen die Messwerte zum Zeitpunkt x „zufällig“ außergewöhnlich hoch bzw. gut waren. Aber bei der zweiten Messung sind ihre Werte wieder normal. Das zieht den Schnitt der Beobachtungsgruppe nach unten. Jene Personen, bei denen die Werte bei der ersten Messung ausnahmsweise niedrig waren und die den Effekt ausgleichen würden, kommen nicht in die Beobachtungsgruppe, eben weil sie bei der ersten Messung keinen würdigen hohen Wert aufweisen konnten.

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Bedingung dafür, einen solchen Effekt beobachten zu können, ist also, • dass die individuellen Messwerte mit der Zeit schwanken können und • dass nach einer ersten Messung nur eine Teilgruppe mit extremen Werten beobachtet wird. Das machen wir tatsächlich, etwa wenn wir nach der ersten Klassenarbeit die besten Schüler einer Klasse beobachten und feststellen, dass diese im Laufe des Schuljahres im Durchschnitt schlechter werden. Oder wir beobachten als Trainer unsere besten Sportler, selektiert aufgrund der Laufzeit, die zum Zeitpunkt x gestoppt wurde, und stellen verwundert fest, dass die Durchschnittszeit der Sportler mit der Zeit schlechter wird. Aber sie trainieren nicht etwa falsch, sondern es liegt eine Regression zum Mittelwert vor. Selbstselektion Wenn Sie auf der Straße willkürlich Menschen ansprechen und sie fragen, ob sie für eine Studie über ihr Sexualleben Auskunft geben würden, werden einige dazu bereit sein und andere nicht. Wer macht mit? Vermutlich werden es jene Menschen sein, die von sich glauben, ein erfülltes und aktives Sexualleben zu haben. Jene, die sich für Versager halten, werden keine Lust verspüren, davon zu berichten. Die Gruppe von Personen, die Sie als Probanden gewinnen, stellt somit keine Durchschnittsgruppe dar, sondern sie repräsentiert die Gruppe derjenigen, die sich für „gut im Bett“ halten. Die Probanden haben sich selbst selektiert, aber die Ursache war Ihr Auswahlverfahren. Wann immer Personen selbst die Entscheidung treffen dürfen, zu einer Stichprobe zu gehören, besteht die Gefahr der Selbstselektion.

Für Meinungs- und Sozialforscher ist das ein ernstes Problem. Es verhindert Repräsentativität. Aber Selbstselektion ist in allen denkbaren Lebensbereichen anzutreffen. Ein paar Beispiele: • Sie sind auf Brautschau. Ihr zur Schau getragener Wohlstand, Ihr Wohnort, Ihr Alter, aber auch Ihr Benehmen, die Art, wie Sie sich ausdrücken, Ihre Gestik und noch viele andere Kriterien führen dazu, dass mögliche Partner sich um Sie bemühen. Das mag etwas seltsam klingen, aber der Mechanismus ist, dass die umworbenen Damen sich selbst selektieren, so lange, bis keine, eine oder mehrere übrig bleiben, mit denen Sie in näheren Kontakt treten (dürfen).

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• Ihre Vorgesetzten sind Ihre Vorgesetzten, weil sie bestimmte Kriterien erfüllen. Bildung, Auftreten, Kleidung, rhetorisches Geschick oder Verhaltensweisen gehören dazu. Die Kriterien bestimmt „das Unternehmen“, aber damit sind natürlich die Vorgesetzten der Vorgesetzten gemeint. Je mehr sich Ihre Vorgesetzten darauf konzentrierten, die Kriterien zu erfüllen (Einflussfaktoren der Karrierechance), desto größer wurde deren Chance aufzusteigen. Opportunismus durch Selbstselektion. Und umgekehrt. Nonkonformisten gibt es natürlich auch, aber sie sind eher Ausnahmen als die Regel. • Schauen Sie sich Bilder des US-amerikanischen und des deutschen Kabinetts an und lesen Sie die Biografien der Minister und Ministerinnen! USA: Männlich, gut aussehend, finanziell unabhängig, wirtschaftlich etabliertes Elternhaus und der Besuch einer Elite-Hochschule sind die augenfälligen Kriterien (Einflussfaktoren), welche die Chance auf einen Ministerjob in den USA beflügeln. In Deutschland sind diese Kriterien weniger oder gar nicht relevant. Hier zählt z. B. die langjährige Parteikarriere zu den wichtigen Kriterien. Einen solchen Selbstselektionsprozess, bei dem wir als Proband die Entscheidung treffen, zu einer Stichprobe zu gehören, gibt es auch hinsichtlich der Handlungsfolgen, die wir prognostizieren. Es ist die Selbstselektion möglicher Zukünfte. Natürlich haben Zukünfte keinen Willen, darum ist es Unsinn, ihnen aktive Handlungen wie eben die Selektion zuzugestehen. Vielmehr agieren wir selbst als diejenigen, die die Selektionsentscheidung treffen. Das Mittel dazu sind Filter, durch die wir mögliche Zukünfte betrachten und als „realistisch“ bewerten, also ihnen eine ausreichend hohe Eintrittswahrscheinlichkeit zubilligen, sodass wir sie in unser Kalkül aufnehmen. Wir sprechen hier nicht mehr von Selbstselektion, sondern nur noch von Selektion. Solche Filter sind: • Wahrnehmungsfilter: Wir haben im Blick, womit wir uns beschäftigen. Außergewöhnliche Einflussfaktoren auf die Entwicklung übersehen wir, sofern wir nicht von Außenstehenden darauf aufmerksam gemacht werden. Viele der Techniken zur Verbesserung von Prognosen, die ich vorgestellt habe, dienen dazu, den Blick über den Tellerrand zu provozieren. Dazu auch mein Lieblingszitat zum Thema Wahrnehmungsfilter, aus der Dreigroschenoper von Berthold Brecht: Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte die im Dunkeln sieht man nicht.

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• Wissensfilter: Gänzlich neues Wissen ist schwer zu erlernen. Viel leichter ist es, neues Wissen an bereits vorhandenes anzudocken. Wenn uns nun eine optionale Zukunft bisher Unbekanntes bringt, scheuen wir sie und halten sie für unwahrscheinlicher, als sie ist. • Einstellungsfilter: Wir akzeptieren Aussagen von Leuten, von denen wir annehmen, dass sie unsere Einstellungen teilen. Experten oder andere Berater unseres Umfelds scheinen uns kompetenter und ihre Aussagen scheinen glaubwürdiger, weil wir ihnen nahestehen. • Sprachfilter: Wir akzeptieren Aussagen, die in einer Sprache formuliert sind, die wir gewohnt sind. Dieser Illusion der kognitiven Leichtigkeit erliegen wir oft: Dann glauben wir Argumentationsketten in Talkshows, nur, weil wir sie verstehen. Eine locker-beschwingte Erklärung des Syrienkonflikts mit klaren Freund-Feind-Positionen halten wir für glaubwürdig, aber dem Versuch des Experten, die vielschichtigen Verflechtungen von Interessen all der Stakeholder, die sich in dieser Region tummeln, zu vermitteln, folgen wir nicht, weil seine Sätze ähnlich komplex geraten wir mir dieser hier. • Selbstbestätigungsfilter: Unsere Erfahrungen setzen Maßstäbe. Extreme und Unerwartetes halten wir für unwahrscheinlicher, als sie tatsächlich sind. Unsere Erinnerungen sind Zäune, die aussperren und einsperren. Je weniger wir bisher erlebt haben, je kleiner das Eingezäunte, desto selektiver gehen wir mit optionalen Zukünften um. Mit zunehmender Erfahrung wächst der Toleranzbereich. Solche Filter bewirken, dass wir die Zukünfte selektieren, die uns wahrscheinlich vorkommen, aber nicht jene, die wahrscheinlich sind. Der Schutzmechanismus gegen den Selbstselektionseffekt bei der Auswahl von Probanden zu einer Stichprobe wäre die Zufallsauswahl, aber bei der Beurteilung von Zukünften geht das nicht. Hier sind alle hinreichend wahrscheinlichen Zukünfte von Interesse. Und dass wir jene auch betrachten und in unser Kalkül einbeziehen, können wir selbst nicht gewährleisten. Hier brauchen wir Hilfe von außen, den schon oft zitierten Berater.

4.2 Die Macht der Experten In zahlreichen Lebenssituationen sind wir auf Hilfe angewiesen, um für eine Entscheidung eine sinnvolle Handlungsfolgenabschätzung, also Prognose, erstellen zu können. Uns fehlen die Möglichkeiten, um die Zutaten einer Vorhersage – Modell, Einflussfaktoren und Inputdaten – sinnvoll

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zusammenstellen und recherchieren zu können. Dann raten wir oder rekrutieren Hilfe. Diese Hilfe können andere sein, denen ebenso wie uns selbst die Möglichkeiten für eine gute Prognose fehlen; dann nutzen sie uns nichts, oder, noch schlechter, bestätigen nur das, was wir uns eh schon dachten und verführen uns dazu, eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit unserer Vorhersage anzunehmen, nur, weil unsere Meinung bestätigt wird (Bestätigungsverzerrung). Die Hilfe kann aber auch von jemandem kommen, der tatsächlich nützlich ist: einem Experten, der Erfahrungswissen besitzt, Prognosemodelle kennt, Einflussfaktoren abschätzen kann und Zugang zu Inputdaten hat. Diesem Experten wollen wir uns anvertrauen, sprich, wir beauftragen ihn, an unserer Prognose mitzuarbeiten oder sie zu erstellen. Das verleiht ihm Macht, die wir in vier Kategorien einteilen können: • Der Experte selbst bestimmt die Zukunft: Es ist zweifelhaft, ob solch ein Experte dann noch als einer wahrgenommen wird. Sektenführer sind ein gutes Beispiel: Er wird zum Experten für die eigene Lebensführung, und ein individuelles Loslösen von seinen Vorgaben wird nicht mehr als Autonomie, sondern als Verstoß gegen eine höhere Ordnung empfunden. Seine Prognosen werden zu Handlungsmaximen. Solch einen Status kann auch ein Psychotherapeut erreichen, auch von esoterischen Heilpraktikern ist das bekannt. Hilfreich ist hier eine schwache Persönlichkeit des Ratsuchenden, der sich mangels eigenen Gestaltungsvermögens vollends dem „Rat“ des „Experten“ unterwirft. • Der Experte macht glaubhaft, die Zukunft zu kennen und löst damit ein Unsicherheitsproblem: Meist geht es um die Zukunft im abstrakten Sinne, also nicht die individuelle. Ein Makler beispielsweise erläutert glaubhaft, wie hoch die Immobilienpreise nächstes Jahr sein werden. Das Unsicherheitsproblem, das er löst, ist die Frage, ob das Risiko des Kredits, der zum Erwerb der Immobilie aufgenommen werden muss, gerechtfertigt ist. Am Rande: Der Makler ist natürlich kein Experte, denn er verfolgt ein Eigeninteresse. • Der Experte hat Zugang zu jemanden, der die individuelle Zukunft kennt: Hier spiele ich natürlich auf all die Hellseher, Schamanen, Astrologen, Geistermedien, Tarotkartenleger und sonstigen Esoteriker an, die uns für mehr oder weniger Geld einen Blick auf unsere eigene Zukunft werfen lassen. Ich werde in Abschn. 5.3.6 noch mit ihnen abrechnen. In abgeschwächter Form übt aber auch der Pfarrer eine ähnliche Expertenmacht aus: Er „kennt“ unsere Zukunft auch und ordnet sie in sein Szenario, in dem Himmel, Hölle und Fegefeuer dominant sind, ein. Er löst

4  Einige ganz besondere Prognosefallen     197

unser Unsicherheitsproblem, indem er vorschreibt, welche Taten gut und welche schlecht sind. • Der Experte hat eine Methode, die individuelle Zukunft kennen zu lernen: Das ist nützlich! Er bietet uns ein Modell, die Einflussfaktoren und vielleicht auch einige Daten, zumindest die nicht-individuellen, er kann uns helfen, Wissenslücken zu schließen, etwa durch Diagnostik, und mediiert den Blick auf unsere individuelle Zukunft. Ist er gut, wird er dies meinungsoffen tun, ist er schlecht, vergisst er zu betrachtende Bereiche oder selektiert wissentlich. Im folgenden Abschn. 4.2.1 werden wir uns näher mit den Mechanismen beschäftigen, mit den Voraussetzungen, die Experten mitbringen müssen, mit den Dilemmata, in denen sie zuweilen selbst stecken und somit auch mit den Grenzen ihrer Aussagen. Anschließend schauen wir uns ein altbekanntes Phänomen an, das unter dem Begriff „Nudging“ neuerlich Karriere gemacht hat: das „Anschubsen“, um eine gewünschte Handlung anzuregen. In Abschn. 4.2.2 beschreibe ich, warum das eine gute Idee sein kann, aber die Grenze zum Manipulativen schnell überschritten ist. Abschn. 4.2.3 schaut als Fortführung des Abschn. 3.5.3 auf Experten ganz besonderer Art: Algorithmen. Ja, auch sie erfüllen die Anforderungen, die wir an Experten stellen, aber scheinen dabei so seelenlos und nüchtern, dass es uns Angst macht, unsere Entscheidungen von ihnen abhängig zu machen. Wann diese Vorsicht berechtigt und wann sie unbegründet ist, versuche ich zu klären – sofern das überhaupt möglich ist.

4.2.1 Der Einfluss menschlicher Experten auf unsere Prognosen Experten haben Expertise. Das macht sie wertvoll für uns, denn sie füllen unsere Wissenslücken. Sie kennen Prognosemethoden, die wir nicht kennen, kennen die Einflussfaktoren auf die Zukunft und haben Zugang zu Inputdaten. Experten können Handlungsfolgen abschätzen, die wir nicht überblicken. Sie sind wertvolle Berater, was wir uns zuweilen eine Stange Geld kosten lassen. Wir verlassen uns auf ihren Rat. Entscheiden müssen wir aber selbst. Wann dürfen wir Experten vertrauen? Der Magier wirft die magischen Hühnerknochen in die Luft und schaut sich an, wie diese in seiner magischen Schale zum Liegen kommen. „Jepp, im

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neuen Job wirst Du im siebten Monat befördert und verdienst dann 4.390 € im Monat“ ruft er aus. Nein, tut er leider nicht. Das wäre viel zu konkret. Er wird sich mirakulös ausdrücken, von Erfolg sprechen, aber immer eine Bedingung daran knüpfen: „In deinem neuen Job wirst du Erfolg haben, wenn du es schaffst, deinen Platz zu erkennen“, oder so ähnlich. Ist der Magier ein Experte? Kennt er sich mit beruflichen Karrieren oder Prognosen aus? Nein, er ist Experte für Scharlatanerie, weiß, was er sagen muss, um Ihnen als Kunden ein gutes Gefühl zu geben, aber ohne sich festzulegen, sodass er nicht hinterfragt werden kann, wenn sich der neue Job als ein Desaster herausstellen sollte. Trauen Sie ihm nicht, trauen Sie überhaupt keinem, der behauptet, die Zukunft voraussagen zu können. Aber es gibt auch Menschen, die aufgrund ihres Fachwissens ein fundierteres Bild von einer möglichen Zukunft haben, sprich, mit höherer Wahrscheinlichkeit als wir eine Zukunft prospektieren können. Diesen Fachleuten sind die Einflussfaktoren bekannt, die eine Zukunft ausmachen, sie haben sicherlich Daten, über die Sie nicht verfügen, und sie haben Erfahrung, unter welchen Umständen das entstehende Bild mehr oder weniger verlässlich sein wird. Solchen Experten dürfen wir vertrauen. Doch leider gibt es kein Qualitätssiegel, dass Expertise bescheinigt. Aber wir können Expertise hinterfragen. Die wichtigsten Eigenschaften, die einen Experten ausmachen, kennen wir bereits aus Abschn. 3.5.1: langjährige Erfahrung und eine stabile Umwelt. An späterer Stelle fügte ich noch hinzu, dass der Experte keine Eigeninteressen verfolgen sollte. Und nun kommt noch ein vierter Aspekt hinzu: Ein Experte hat langjährige Erfahrung mit dem Thema der Prognose, die Umwelt ist stabil, er verfolgt keine Eigeninteressen und er ist bereit, Ihre individuelle Situation zu hinterfragen und ins Kalkül zu ziehen.

Zu dieser individuellen Situation zählt unsere Ausgangssituation, das Ist, unsere Ziele (das Soll), unsere Restriktionen, also zur Verfügung stehende Ressourcen wie Zeit, Geld und Fähigkeiten, aber auch die Beschränkungen, die wir durch unsere Lebenssituation erfahren. Nur wenn ein Experte auf uns persönlich eingeht, wird er eine auf uns zutreffende Prognose erstellen können. Aber die anderen Faktoren, Erfahrung, stabile Umwelt und Abwesenheit von Eigeninteressen, dürfen wir dabei nicht vergessen. Denn der Magier aus dem Eingangsbeispiel ist ein Blender: Er wird unsere Situation in einem Vorgespräch sehr genau hinterfragen und damit das vierte Kriterium erfüllen, aber nur, um nach seinem Hühnerbeinweitwurf einen klug

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klingenden Satz formulieren zu können, den wir für wahrhaftig halten, weil er zum Schein unsere Situation berücksichtigt hat. Noch etwas zum Thema Eigeninteresse: Wenn die Expertenprognose dazu führt, dass der Experte zum Dienstleister wird, ist sie wenig nützlich. Natürlich treffen wir auch auf ehrliche Menschen, den Zahnarzt, der uns von einer teuren Wurzelbehandlung oder den Anwalt, der uns von einer Nachbarschaftsklage abrät, obwohl beide gutes Geld verdienen könnten. Aber wir wissen es nicht. Um einem Experten zu trauen, trennen Sie Prognose und Handlungsfolge (z. B. Auftrag).

Der eine Arzt diagnostiziert, aber wir sagen ihm bereits vorher, dass wir eine mögliche Behandlung von einem anderen ausführen lassen würden (und ja, ich weiß, dass ich mich hier wiederhole). In diesem Augenblick hat der Arzt nichts mehr davon, eine Prognose so zu modifizieren, dass er mit der anschließenden Behandlung Geld verdient. Ähnlich funktioniert das mit Anwälten oder Anlageberatern, aber oft genug stößt dieses Konzept aus rein praktischen Gründen an seine Grenzen. Dann hilft nur noch, anderweitig eine „zweite Meinung“ einzuholen, vielleicht bei Betroffenen, deren Rat allerdings auf dem jeweiligen Einzelfall beruht und darum meinem obigen Kriterium für Expertise, das Eingehen auf die individuelle Situation, widerspricht. Es wäre nur eine Krücke. Wie viel Geld darf der Rat eines Experten kosten? „Guter Rat ist teuer“, sagt der Volksmund. Und je höher die potenziellen Kosten einer Fehlentscheidung sind, desto mehr dürfen wir in den Rat eines Experten investieren. Aber wie bewerten wir die Kosten einer Fehlentscheidung? Ein Beispiel: 2007 kaufte ich 30 km von meinem Wohnort entfernt sieben Hektar Wiese. Meine Idee war, dort eine Streuobstwiese mit alten Obstsorten anzupflanzen. Dieses Vorhaben erwies sich für mich aus vielerlei Gründen als undurchführbar, sodass ich diese Wiese 2015 wieder verkaufte. Mit Verlust. Die Kosten dieser Entscheidung addieren sich aus vielen Positionen, die nicht alle direkt in Geld bemessen werden können. Hier eine unvollständige Auflistung: • Realisierter monetärer Verlust (Verkaufspreis minus Einkaufspreis) • Transaktionskosten für Anwalt, Notar, Grunderwerbssteuer usw.

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• Entgangene Verzinsung des Kapitels während der acht Jahre (Opportunitätskosten) • Aufwand für die Organisation der Wiesenpflege, Maat, Kontrollen usw., vor allem Zeit • Aufwand für die Projektierung der Streuobstwiese, z. B. Einholen von Angeboten, Besuche in Gärtnereien, Lesen von Fachliteratur Dagegen muss ich auch den Nutzen rechnen, denn zweifellos hat mir das Projekt Spaß gemacht. Die Kosten dieser Fehlentscheidung, und so stufe ich sie heute ein, entsprechen also nicht dem damaligen Kaufpreis der Wiese, auch nicht dem realisierten Verkaufsverlust, sondern es kommen zahlreiche weitere Kalkulationsgrößen hinzu, die dazu führen, dass ich die Kosten nicht als schieren Geldbetrag auszuweisen vermag. Meist machen wir uns keinen Überblick über die gesamten Folgekosten einer Entscheidung, weil wir die nichtmonetären Größen nicht berechnen können und unterbewerten.

Der erste Schritt zur Klärung der Frage, was ein Expertenrat wert ist, führt also dazu, die Kosten der Entscheidung zu bewerten. Bei Alltagsentscheidungen ist es vor allem die Zeit, deren Bewertung uns Schwierigkeiten macht, und hier sind wir auf die intuitive Beurteilung des Wertes angewiesen. Dies gilt aber auch für Faktoren wie „Spaß“, „Last“ oder „allgemeines Risiko“; also ein altbekanntes Problem ohne adäquate Lösung. Aber was wir immer tun können, ist, die Positionen, die den Nutzen und die möglichen Kosten einer Entscheidung ausmachen, aufzuschreiben, so, wie ich es oben für mein Wiesenbeispiel getan habe. Nachdem wir uns einen Überblick über die Kosten-/Nutzenpositionen verschafft haben, ist der zweite Schritt, die Revidierbarkeit einer Entscheidung zu beurteilen. Unumkehrbarkeit erhöht die Risikokosten. Eine Wiese kann ich jederzeit wieder verkaufen, schlucke die Kosten herunter und gehe weiter. Aber ein in die Welt gesetztes Kind ist immer da. Eine Unterschenkelamputation ist endgültig, ein Gesichts-Tattoo ziert uns das ganze Leben. Zuweilen sind die Grenzen fließend: Ein Studium kann ich abbrechen, aber es gehen Jahre meines Lebens verloren. Die Penny-Aktie eines liberianischen Mobilfunkunternehmens zu kaufen, kann gut gehen, aber der Kurs kann auch binnen weniger Stunden auf null sinken.

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Der dritte Schritt ist schlussendlich die Bewertung des Preises, den ich für einen Rat zu zahlen bereit bin: Es ist eine persönliche Einschätzung; nein, es sind zwei Einschätzungen: Die erste ist, ob der Rat tatsächlich nützlich ist, die zweite, was er mir wert wäre. Hätte ich 2007 jemanden gefunden, der mir die Folgen des Wiesenkaufs als Experte hätte aufzeigen können, wäre mir das zweifellos einiges wert gewesen. Vielleicht hätte ich 2000 € bezahlt, vor allem dann, wenn sein Rat nicht nur ein „Tue es!“ vs. „Lasse es!“ gewesen wäre, sondern eine detailliertere Darstellung, wie ich das Projekt erfolgreich hätte umsetzen können. Dann hätte ich abschätzen können, ob der damit verbundene Aufwand für mich akzeptabel gewesen wäre oder nicht. Kosten des Rats plus Aufwand hätte ich gegen meine romantischen Vorstellungen, Obstbauer und Naturschützer zu sein, abgewogen. Der akzeptable Preis eines Experten richtet sich nach den Risikokosten und nach seiner weitergehenden Nützlichkeit für mein Handeln.

Darum sollten wir bei Experten darauf achten, dass sie nicht nur orakelgleich ein Urteil über unsere anstehende Entscheidung fällen, sondern dass sie die Handlungsfolgen möglichst differenziert und detailliert aufzeigen, sodass wir diese selbst bewerten können. So ist ein selbstbestimmtes Urteilen möglich. Je präziser der Experte die Handlungsfolgen darstellt, desto mehr darf er ­kosten.

Bezahlen Sie nicht für ein Orakel, bezahlen Sie nicht für ein schnoddriges Ja oder Nein, bezahlen Sie für eine detaillierte Aufstellung dessen, was im Zusammenhang mit einer Entscheidung auf Sie zukommen wird, monetär und nichtmonetär. Haften Experten für ihre Ratschläge? Experten bereiten Entscheidungen vor, indem sie die Folgen unseres Handelns abschätzen und uns vor Augen führen. Damit sind sie für die Qualität ihres Rats verantwortlich. Aber sie sind es nicht für die Entscheidung, denn die treffen wir selbst.

202     J. B. Kühnapfel Ein Experte als Ratgeber haftet nur selten für seine Ratschläge, wenn sich später die empfohlene Entscheidung als falsch herausstellt. Und das ist gut so!

Wäre der Experte für seine Prognosen haftbar, wäre er nicht mehr frei. Er würde seine Ratschläge so geben, dass eine spätere Inregressnahme unmöglich wäre. Dazu gäbe es mehrere Wege: Er könnte seine Empfehlungen wachsweich formulieren, sodass eine allseitige Interpretation möglich wäre. Dem Orakel von Delphi wurde so eine Strategie nachgesagt. Oder er setzt die Eintrittswahrscheinlichkeit für seine Prognosen derart niedrig an, dass sie nicht mehr als Entscheidungshilfe nutzen. Eine Haftung für Ratschläge wäre natürlich insoweit sinnvoll, wenn sie dazu führen würde, dass sich der Experte sorgfältig mit der Situation des Ratsuchenden auseinandersetzt. Eine solche Situation kennen wir beispielsweise von Bankberatern: Diese haben viel zu lange ihre Produkte verkauft, ohne auf die Lebenssituation ihrer Kunden Rücksicht zu nehmen. Verkaufen war alles, Provision vor Sinnhaftigkeit des Produktes. Dieses Verhalten wurde durch einen regulatorischen Eingriff unterbunden: Nunmehr sind Bankberater verpflichtet, sich mit dem Kunden zu beschäftigen und dies auch zu dokumentieren. Aber das Beispiel hinkt. Die regulatorische Verpflichtung wäre unnötig, wenn die Kunden der Bank sich vorher überlegt hätten, wem sie gegenübersitzen! Warum um alles in der Welt sollte ich von einem Verkäufer, gleich welchen Produkts, annehmen, dass er meine Interessen im Blick hat? Er ist seinem Arbeitgeber verpflichtet, niemand anderem sonst, und wenn er über Verkaufsprovisionen motiviert wird, mir ein Produkt anzudrehen, so wird er es tun. Über das Interesse hinaus, mir zukünftig noch weitere Produkte zu verkaufen und von mir weiterempfohlen zu werden, gibt es für den Verkäufer kein Interesse, Arbeit in eine Prognose meiner Vermögenssituation zu investieren. Nein, ein Bankberater ist kein Experte! Ein Bankkunde, der glaubt, in seinem Bankberater einen Experten vor sich zu haben, ist naiv. Experten möchten als Experten gesehen werden oder: Die Mär von der Objektivität der Experten Es ist nicht leicht, sich einen Expertenstatus zu erarbeiten. Zuweilen wird dieser qua Ausbildung verliehen, etwa Ärzten, Anwälten, Automechanikern oder IT-Technikern. Andere Experten verdienen sich ihren Status durch langjährige Arbeit auf dem betreffenden Gebiet, untermauert von Erfolgen. Beide Gruppen von Experten werden für ihre Expertise entlohnt,

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denn sie ist exklusiv. Aber da sich die Umwelt wandelt, ist davon auszugehen, dass auch die Exklusivität des Wissens der ständigen Gefahr der Erosion ausgesetzt ist. Also muss sich auch ein Experte weiterbilden, vor allem aber muss er seine Expertise als solche kennzeichnen und verteidigen. Wie aber kann ein Experte klarmachen, dass er ein Experte ist? Zeugnisse und Ausbildungsnachweise sind das eine Mittel, dessen sich z. B. Physiotherapeuten bedienen, wenn sie in ihrem Warteraum gerahmte Nachweise ihrer Ausbildung aufhängen. Ein anderes Mittel sind Referenzen. „Die Frauke Schulz hat heilende Hände. Sie massiert dir jede Verspannung weg!“, ist zuweilen mehr wert als jedes Zeugnis an der Wand. Das dritte Mittel ist das Auftreten und Verhalten, das der Experte so ausgestalten wird, wie wir Ratsuchende es erwarten. Experten sind darauf angewiesen, dass ihr exklusives Wissen formal (Zeugnisse) oder informell (Referenzen, Verhalten) dokumentiert und anerkannt wird.

Vielleicht habe ich das etwas zu spitz formuliert, aber der Wirkungsmechanismus ist immer wieder zu beobachten, selbst dann, wenn es der Experte eigentlich gar nicht nötig hätte, als Experte bestätigt zu werden. Zudem wirken Unsicherheiten kontraproduktiv auf den Status. Ein „Ich weiß es auch nicht“ würde die Position unterminieren. Das führt zu häufig zu beobachteten Verhaltensweisen wie der sprichwörtlich unverständlichen Expertensprache, zu Ritualen oder zu Arroganz bzw. Unnahbarkeit. Solche Faktoren erhöhen zuweilen sogar die Wertschätzung des Ratschlags und damit den Preis. Von der eigentlich lächerlichen Wartezeit von acht Monaten auf einen Ersttermin bei einem Facharzt erzählen wir stolz in unserem sozialen Umfeld, denn sie ist der „Beweis“ für die Expertise des Arztes! Der Anwalt muss eine gediegene Kanzlei haben, Ledersitze, Eichenholztische und einen teuren Montblanc-Füller benutzen. Und jede Rückfrage und Bitte um Erläuterung muss uns bezahlenden Ratsuchenden wie eine Anmaßung vorkommen, die kostbare Zeit ihrer Majestät über Gebühr zu beanspruchen. Auch das macht den Nimbus eines Experten aus. Nun habe ich wieder überspitzt, aber ich will mir sicher sein, dass Sie verstanden haben, worauf ich hinaus will. Es folgt der nächste Schritt: Welchen Rat wird mir so ein hochgeschätzter Experte geben? Wie wird er dazu beitragen, meine Prognose zu verbessern? Wenn der Experte alle vier Kriterien erfüllt, also Erfahrung besitzt, die Umwelt stabil ist, er keine Eigeninteressen verfolgt und auf die individuelle

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Situation eingeht, werden wir seiner Prognose und damit seinem Rat vertrauen. Sind die Eigeninteressen nicht allzu dominant, müssen wir von der Objektivität seines Rats ausgehen. Werden die Kriterien nicht erfüllt, sollten wir unterstellen, dass die Prognose durch die Zielsetzung des Experten verfremdet ist. Dies illustriert ein wunderschöner Satz eines befreundeten Psychotherapeuten: „Suche dir einen alten Therapeuten, denn die jungen brauchen noch Erfolge.“ Das Problem der Autorität: Der Halo-Effekt schlägt zu! Experten werden als Autoritäten gesehen. Je exklusiver ihr Wissen ist, desto höher ist der Sockel, auf den wir sie stellen. Wir trauen ihnen nachgerade überirdische Fähigkeiten zu, wenn der Halo-Effekt zuschlägt. Ihre Aussagen werden zur „Wahrheit“, Ihre Empfehlungen zu Kommandos, Ihre Vermutungen zu Gewissheiten. Einsprüche trauen wir uns nicht zu erheben. Rückfragen sind Sakrilege. Je höher das soziale und das Bildungsgefälle zwischen Experten und Ratsuchendem, desto größer ist die kommunikationsstörende Distanz.

Zu beobachten sind solche Distanzen bei einem Beratungsgespräch des Vermögensberaters der Sparkasse mit der Rentnerin, die sich um ihr bescheidenes Vermögen kümmern muss, nachdem ihr Mann gestorben ist, oder bei der 90-s-Diagnosebesprechung des Hautarztes mit der türkischen, der deutschen Sprache kaum mächtigen Mutter, der der Arzt flugs erklärt, wie der Hautausschlag der Tochter zu behandeln ist. Rückfragen? Bitten um Erläuterungen? Noch mehr Rückfragen? Autorität distanziert. Autorität hilft aber dem Experten. Sein Nimbus füttert die Glaubwürdigkeit und erlaubt unpräzise Prognosen mit einer Verantwortungsverschiebung, wie sie in wenigen Absätzen erläutert wird. Die Eintrittswahrscheinlichkeit und „unbestimmte Bindungen“ als Prüfsteine Ein Zeugnis für die gute Qualität einer Expertenprognose ist, wenn die Zukunft spezifisch beschrieben wird, die Bedingungen dafür genannt werden und eine angegeben wird. Schauen wir uns das an: Als erstes vier Beispiele für prognostische Aussagen, die sich gut anhören, aber unbrauchbar sind:

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• „Sie werden abnehmen, wenn Sie Ihr Ernährungsverhalten umstellen.“ • „Die Therapie wird bei Ihnen anschlagen, wenn Sie ausreichend viel Sport machen.“ • „Mit unserem erprobten Vertriebssystem werden Sie außergewöhnlich gut verdienen, wenn Sie sich Mühe geben.“ • „Sie werden sich ganz sicher verlieben, wenn Sie sich auf unserer Partnervermittlungsseite aufrichtig präsentieren.“ Selbst eine Konkretisierung der Prognose macht es nicht besser. Im Gegenteil: Die Präzisierung der Zukunft gaukelt Sicherheit vor. Aber immer noch ist der Prognoseeintritt von einer vagen Bedingung abhängig, deren Erfüllung Sie verantworten, nicht der Prognoseersteller, der letztlich nur verspricht: • „Sie werden in 3 Monaten 10 Kilo abnehmen, wenn Sie Ihr Ernährungsverhalten umstellen.“ • „Die Therapie wird bei Ihnen binnen 8 Wochen anschlagen, wenn Sie ausreichend viel Sport machen.“ • „Mit unserem erprobten Vertriebssystem werden Sie nach 3 Monaten mindestens 5.000 € monatlich verdienen, wenn Sie sich Mühe geben.“ • „Sie werden sich innerhalb von 2 Wochen verlieben, wenn Sie sich auf unserer Partnervermittlungsseite aufrichtig präsentieren.“ Leider wissen Sie nicht, was genau Sie tun müssen, damit die Prognose sich erfüllt, respektive das Versprechen eingehalten wird. Ähnlich wie beim Verlagern der Schuld auf die „allgemeinen Umstände“ geht es darum, dass der Experte ex post nicht beschuldigt werden kann, eine fehlerhafte Prognose abgegeben zu haben. Erst in der folgenden Form wären Handlungsfolgen und die dafür erforderlichen Aktivitäten transparent: • „Sie werden in 3 Monaten 10 Kilo abnehmen, wenn Sie Ihr Ernährungsverhalten umstellen und täglich weniger als 1.200 Kalorien zu sich nehmen.“ • „Die Therapie wird bei Ihnen binnen 8 Wochen anschlagen, wenn Sie 3-mal die Woche jeweils 60 Minuten Sport machen.“ • „Mit unserem erprobten Vertriebssystem werden Sie nach 3 Monaten mindestens 5.000 € monatlich verdienen, wenn Sie 6 Tage die Woche jeweils 10 Stunden arbeiten.“

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• „Sie werden sich innerhalb von 2 Wochen verlieben, wenn Sie sich auf unserer Partnervermittlungsseite aufrichtig präsentieren, den Superior-Status buchen und täglich 3 Stunden am Rechner zubringen.“ Die Königsdisziplin ist aber nicht die Angabe unklarer Bedingungen, denn auch dieses Manöver ist viel zu leicht zu durchschauen, sondern die Vernebelung der Eintrittswahrscheinlichkeit selbst. Dabei ist zu konstatieren, dass diese bei vielen Prognosearten tatsächlich schwer anzugeben ist, z. B. bei der Abschätzung von Therapieerfolgen, der Beständigkeit einer Partnerschaft oder der Abschlussnote eines Studiums. Hier dürfen Sie aber Ihren Experten nach der Basisrate in Ihrer Vergleichsgruppe fragen. Wenn der Arzt aber nicht weiß, bei wie vielen Probanden mit einer ähnlichen Ausgangssituation wie ihrer die Therapie wirksam war, hat er schlichtweg keine Ahnung davon. Wenn Parship nur damit wirbt, dass sich alle 11 min ein Single verliebt, aber keine Auskunft darüber gibt, wie oft das bei Männern zwischen 60 und 70 in ländlichen Gebieten passiert, hat Parship entweder keine Daten darüber (was unwahrscheinlich ist) oder möchte diese Prognose nicht veröffentlichen, weil die Zahl wenig imposant wäre. Wie sähen die Prognosen also aus, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeiten beziffert werden sollten? • „Sie werden in 3 Monaten 10 Kilo abnehmen, wenn Sie Ihr Ernährungsverhalten umstellen und täglich weniger als 1.200 Kalorien zu sich nehmen. 65 % der Kunden mit einem BMI wie Ihrem ist das gelungen.“ • „Die Therapie wird bei Ihnen binnen 8 Wochen anschlagen, wenn Sie 3-mal die Woche jeweils 60 Minuten Sport machen. Bei 75 % der Patienten war das so und bei weiteren 10 % zeigten sich nach 12 Wochen Erfolge.“ • „Mit unserem erprobten Vertriebssystem werden Sie nach 3 Monaten mindestens 5.000 € monatlich verdienen, wenn Sie 6 Tage die Woche jeweils 10 Stunden arbeiten. Bisher haben das 41 % der männlichen neuen Verkäufer geschafft, waren es aber Verkäuferinnen, nur 7 %.“ • „Sie werden sich innerhalb von 2 Wochen verlieben, wenn Sie sich auf unserer Partnervermittlungsseite aufrichtig präsentieren, den Superior-Status buchen und täglich 3 Stunden am Rechner zubringen. Gelungen ist dies 35 % der Kunden aller Alterskategorien, aber 70 % derjenigen mit Ihren soziodemografischen Merkmalen hatten in dieser Zeit erste Dates.“

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Fragen Sie Ihren Experten nach der Eintrittswahrscheinlichkeit seiner Prognose für Fälle wie den Ihren. Schiebt er die Verantwortung für den Prognoseeintritt spontan auf Sie zurück, ist es ein Scharlatan oder weiß es nicht, kann er einen passablen Korridor nennen, ist es o.k. Und wenn er dabei Voraussetzungen nennt, die Sie erfüllen müssen, um dem Korridor zugerechnet werden zu können, darf auch das sein, solange sie konkret sind: „Sie werden mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit 7 bis 10 Kilo in den ersten drei Monaten abnehmen, wenn Sie sich an den für Sie entwickelten Diätplan halten und sich nicht mehr als einen Ausrutscher je Monat leisten.“ Das wäre eine legitime Bedingung für eine Prognose, denn nun ist auch für Sie prüfbar, ob Sie sich an die Spielregeln halten oder nicht. Kann zu viel Know-how ein Fehler sein? Bei den Recherchen zu diesem Buch stieß ich mehrere Male auf Studien, in denen gezeigt werden konnte, dass mehr Wissen keine präziseren Prognosen bringt. In einem Fall, bei der Schätzung von Aktienkursentwicklungen, schienen sich die Prognosen mit zunehmendem Know-how sogar zu verschlechtern. Wirtschaftswissenschaftler nennen dies auch einen „abnehmenden Grenznutzen des Wissens“. Der Schluss liegt nahe, dass es eine gute Idee sein könnte, Zeit und Energie zu sparen und auf Informationen zu verzichten. Das ist aus drei Gründen ein Fehler: 1. Der Punkt, ab dem mehr Wissen keine nennenswerte Verbesserung der Prognose bringt, ist uns nicht bekannt. Es gibt auch keinen Indikator. Vergleichen wir das mit dem Lernen für die Führerscheinprüfung: Wer lernt, verbessert seine Chancen, die Prüfung zu bestehen. Aber wann ist genug gelernt? Es gibt zunächst keinen Indikator. Erst dann, wenn sich der Prüfling Testfragebögen vornimmt und damit die Prüfung simuliert, wird er ein Gefühl dafür entwickeln, ab wann er genug gelernt hat. Die Tests sind sein Indikator. Also ist die Frage nach dem optimalen Wissen bzw. dem optimalen Rechercheaufwand für eine Prognose nur zu beantworten, wenn es einen Indikator gibt. 2. Wenn in Studien gemessen wird, dass Experten zu viel wissen, betrifft dies vielleicht grundsätzlich das Wissen zum relevanten Thema, aber nicht unbedingt das spezifische Wissen, das erforderlich wäre, um diese eine Prognose zu erstellen. Für diese benötigen wir die drei Zutaten Modell, Einflussfaktoren und Inputdaten. Wenn eine befragte bzw. getestete Person hinreichend viele Daten und Fakten aufzählen kann, gilt sie als Experte. Als Messsurrogat wird oft angenommen, dass langjähriges Arbeiten auf dem betreffenden Gebiet mit Expertise gleichzusetzen ist.

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Aber das sagt nichts darüber aus, ob dieser Experte auch in der Lage ist, das richtige Prognosemodell auszuwählen. Ferner, und das ist mir noch viel wichtiger, sagt es nichts darüber aus, ob der Experte die relevanten Einflussfaktoren auf die Zukunft kennt. Es ist durchaus denkbar, dass befragte Experten ihren Status dadurch zeigen wollen, dass sie Einflussfaktoren postulieren, die aber kaum eine Wirkung auf die Zukunft entfalten. So könnte der Fußballexperte für eine Ergebnisprognose umfangreiche Recherchen anstellen, die Listen von Verletzten durchgehen, die Geschichte der bisherigen Begegnungen, die vergangenen Ergebnisse der Mannschaften im Kontext der eingesetzten Schiedsrichter usw. Aber wie wichtig sind diese Faktoren tatsächlich, wenn das nächste Spielergebnis vorhergesagt werden soll? 3. Eine typische Verzerrung, unter der vor allem Fachleute leiden, ist die Knowledge-Bias: Wir überbewerten Aspekte, weil wir sie wissen.

Wenn wir uns als – im positiven Sinne – dilettierende Laien mit einem Thema beschäftigen, werden wir uns auf einzelne Aspekte konzentrieren, weil wir nicht mehr Zeit aufwenden wollen, uns der Zugang zu Informationen fehlt oder weil wir kein Interesse haben. Wenn diese einzelnen Aspekte zugleich vermuteten Einflussfaktoren unserer Prognose zugeordnet werden können, ist die Gefahr groß, dass wir ihnen einen zu großen Bedeutungsanteil beimessen und jenen Aspekten, die wir auslassen, einen zu kleinen. Methodisch korrekt wäre es, erst die relative Bedeutung der Einflussfaktoren zu ermitteln und sich danach mit den wichtigsten zu beschäftigen. Aber so läuft es nicht. Wir konzentrieren uns auf die für uns spannenden Aspekte und halten diese dann auch für wichtig. Experten geht es genauso. Ohne eine objektive Analyse des Einflusses der Faktoren wird jeder Experte die von ihm untersuchten für die bedeutsamsten halten. Es geht also erstens um das Wissen, wie eine gute Prognose funktioniert und zweitens um die richtige Einschätzung, welche Bedeutung das hat, was man weiß und das hat, was man nicht weiß. Dies gilt für Laien wie für Experten, und insofern gehen Interpretationen von Studien, in denen behauptet wird, dass es ein Zuviel an Wissen gäbe, ins Leere.

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„Experten“ im privaten Umfeld Für viele Alltagsprognosen werden wir uns Rat und Impulse in unserem engeren sozialen Umfeld holen. Sei es beim gemütlichen Grillabend, auf dem Sofa bei Freunden oder etwas formeller bei einem speziell für das anstehende Thema organisierten Treffen. Wir bitten dann unsere Freunde oder Verwandte um einen Ratschlag (vgl. bzgl. des Nutzens, Walker 1995). Sofern der Ratgebende nicht den oben formulierten Kriterien eines Experten genügt, handelt es sich bei ihm aber immer nur um einen semantischen Sparringspartner, mit dem Themen reflektiert und ventiliert werden. Er besitzt vielleicht ein paar Jahre Lebenserfahrung mehr oder kann von eigenen Erlebnissen berichten, aber das macht ihn natürlich nicht zu einem Experten. Wir haben das bereits in Abschn. 3.5.5 am Mount-Everest-Beispiel diskutiert. Nur weil der Onkel bereits ein Gartenhaus gebaut hat, macht ihn das noch lange nicht zum Experten für den Bau von Gartenhäusern. Dennoch gibt es einen sehr guten Grund, ihm, wie auch anderen Gesprächspartnern, gut zuzuhören: Die Reflexion des eigenen Verhaltens durch Menschen, die uns kennen, ist eine wertvolle Hilfe bei der Erstellung einer Prognose für anstehende Entscheidungen.

Die umfangreichen Forschungen hierzu, unter anderem die bereits in Abschn. 3.3.1 vorgestellten von Epley und Dunning, sind eindeutig: Personen des sozialen Umfelds können unser zukünftiges (!) Verhalten besser einschätzen als wir selbst.

Oben warnte ich vor Selbstüberschätzung und Überoptimismus. Das Gegenmittel dafür ist die Reflexion mithilfe anderer. Je länger die ratgebende Person uns kennt, desto besser, denn die Einschätzung unseres Verhaltens ist eine Form der Mustererkennung, und die Übertragung auf die Zukunft ist nur dann möglich, wenn die Muster stabil sind, also regelmäßig unter ähnlichen Umständen auftreten. Die Expertise gründet sich auf der Kenntnis wiederkehrender Verhaltensmuster, basierend auf stabilen charakterlichen Grunddispositionen, die sich im Erwachsenenalter nur geringfügig verändern. Ein guter Bekannter oder eine gute Freundin, die uns seit Jahren kennt, wird unseren Charakter kennen und wissen, wie wir

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uns zukünftig in bestimmten Situationen verhalten werden – besser als wir selbst, die wir die Einschätzung unseres zukünftigen Verhaltens mit Wünschen, Träumen und Ängsten durchsetzen. Für den privat Ratgebenden liegt die Herausforderung in der Meinungsoffenheit. Zuweilen wird er versuchen, seine eigene Handlungsweise zu rechtfertigen (selbstwertdienliche Verzeihung), er wird seine frühere Informationslage falsch einschätzen (Rückschaufehler) oder, wenn er sich selbst als leuchtendes Beispiel sieht, einen Genieverdacht gegen sicht selbst hegen. Solche egomanischen Verzerrungen lassen sich leicht erkennen: Stellt der Ratgebende Fragen, um die individuelle Situation zu verstehen und bei seinem Rat berücksichtigen zu können? Stellt er keine Fragen, schließt er von sich auf andere – der Induktionsfehler –, stellt er Fragen, hören Sie ihm zu!

4.2.2 Nudging: Der gemachte gute Wille Die Idee des Nudging ist, Menschen zu einem gewünschten Verhalten „anzuschubsen“. Dazu bedarf es erstens der Einsicht, dass Menschen sich keineswegs immer vernünftig verhalten, zweitens eines Ziels, in dessen Richtung geschubst werden soll und drittens eines Instruments, mit dem geschubst wird. Das Konzept geht auf den Verhaltensökonomen und Nobelpreisträger Richard Thaler zurück. Die Besonderheit ist, dass ohne Regeln, Verbote oder besondere Anreize geschubst werden soll, denn diese verursachen Kosten. Es geht nämlich auch anders: So könnte, um ein oft gekanntes Beispiel zu bemühen, Obst und Gemüse in einer Cafeteria auf Augenhöhe, Süßkram aber an einer schwerer einzusehenden Stelle platziert werden, um die Mitarbeiter zu gesundem Essen zu bewegen. Hier drängt sich der Verdacht auf, dass Nudging nichts anderes ist als das, was z. B. die Supermärkte immer schon gemacht haben: Süßigkeiten oder Alkoholikerware in der Quängelzone an der Kasse zu platzieren, die gewinnträchtigeren Markenprodukte auf Sichthöhe ins Regal zu legen und Zielkaufprodukte an dem vom Eingang am weitesten entfernten Ort zu platzieren. Ein weiterer Klassiker der Schubser sind Standardeinstellungen bei Optionen auf Websites. Früher war beispielsweise das Feld, das bestätigte, dass man Newsletter empfangen möchte, immer angekreuzt und man musste diese Option bewusst abwählen, um keine Newsletter zu empfangen. Per Gesetz ist dies geändert worden.

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Das Diskussionswürdige an solchen Anschubsern ist, dass eine fremde Partei gewünschte Handlungsziele definiert und die Angeschubsten manipuliert werden. Zwar ist stets die Option möglich, sich auch anders zu entscheiden und lieber fünf Snickers als den Salat zu essen, aber das gewünschte, weil von einem Dritten als „besser“ definierte Handlungsziel wird unterschwellig gefördert. Das mag in diversen Fällen wünschenswert sein, etwa, um Menschen dazu zu animieren, selbst etwas für ihre Altersvorsorge zu tun, Sport zu treiben, mit dem Rauchen aufzuhören oder sich an das Smartphonenutzungsverbot während des Fahrens zu halten, aber Nudging wird von allen genutzt, die ihre Partikularinteressen vertreten und die Möglichkeiten haben, zu beeinflussen, z. B. Werbetreibende. Anstöße zum vernünftigen Verhalten unterscheiden sich substanziell nicht von den Anstößen zur Wahl eines beworbenen Konsumprodukts. „Anschubsen“ ist immer eine Form nicht wahrgenommener Fremdbestimmung. Da es keine mit akzeptablem Aufwand einsetzbaren Schutzmechanismen vor „schlechtem“ Nudging oder Filter für gutes Anschubsen gibt, bleibt nur, den Mechanismus zu kennen und auf der Hut zu sein. Bewertungsportale im Web Nicht eindeutig dem Nudging zuzuordnen, aber wesensverwandt, ist die öffentliche Bewertung eines Produktes als Qualitätssicherungsmotivation. Ein Beispiel: Das Restaurant in – sagen wir – Venedig lebt von Laufkundschaft. Stammgäste braucht es nicht, denn jeden Tag fallen neue Gäste wie Heuschrecken in die Stadt ein und zahlen hohe Preise für allenfalls durchschnittliches Essen. Egal, beeindruckt von den Sehenswürdigkeiten der Serenissima werden die Gäste, wieder zu Hause angekommen, wohl kaum über ihre kulinarischen Enttäuschungen berichten. Warum sollte der Gastronom also mehr in die Qualität seines Angebots investieren als unbedingt erforderlich? Der große Spielverderber ist das Web mit seinen Bewertungsportalen! Dieses erst macht die öffentliche Qualitätsbewertung einfach. Der enttäuschte Gast kann an Ort und Stelle unter dem akuten Eindruck fad schmeckender Gnocchi binnen weniger Minuten seinem Frust Raum geben. Andere potenzielle Gäste können sich in Sekundenschnelle, während sie hungrig in der Straße schlendern, über die Qualität des Restaurants informieren. Dies ändert die Marktbedingungen des Restaurantbetreibers: Vorher gab es so gut wie keine Kommunikation zwischen seinen Kunden. Wurde A enttäuscht, erfuhr B nichts davon. Nun aber werden Erlebnisse weltweit publiziert. Ich weiß nicht, ob das Nudging im engeren Sinne ist, aber die Möglichkeit, bewertet zu werden, verändert das Verhalten, es schubst an, besser zu werden.

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Vor diesem Hintergrund wurde das Verhalten der Athener Taxifahrer untersucht. Nach 430 Testfahrten war klar: Die Qualität der Taxifahrten steigt signifikant, wenn die Fahrer wussten, dass ihre Leistung auf einem Bewertungsportal beschrieben werden konnte (Alysandratos et al. 2018). Ähnliche Forschungen zeigen, dass sich diese Ergebnisse auf andere Dienstleister übertragen lassen, etwa Ärzte, Hoteliers oder Automechaniker (Balafoutas et al. 2013). Jetzt wird auch der Zusammenhang deutlich: Die Möglichkeit, bewertet zu werden, verändert die Einstellung eines Dienstleisters. Ein Selbsttest gefällig? Stellen Sie sich vor, Ihre Arbeitsleistung könnte anonym von Kollegen bewertet werden oder Ihre Nachbarn beurteilen die Qualität Ihrer häuslichen Arbeiten. Oh, das wäre Denunziantentum? Ist das so? Bei den Taxifahrern fanden Sie es noch gut, oder? Was die Qualität von Bewertungsportalen betrifft, ist natürlich auch hier Vorsicht geboten. Das Angebot von Dienstleistungen zur Beeinflussung sozialer Medien ist mittlerweile breit gefächert: Blogs werden „bewirtschaftet“, Facebook-Freunde im Tausenderpack verkauft, Produktbewertungen auf Amazon kreiert, Bewertungsportale mit erfundenen Kommentaren gefüttert. Für Laien wirken solche Angebote halbkriminell, weil sie die Mechanismen der Kommunikation zwischen Privatpersonen („Anyto-Any“) aushebeln, und tatsächlich verstoßen sie in fast allen Fällen gegen die Regeln der Portalbetreiber. Aber die Angebote werden nicht etwa unter dem Ladentisch gehandelt. Werbeagenturen bieten sie ihren Kunden ebenso offen und „nach Preisliste“ an wie auf Web-Marketing spezialisierte Unternehmen. Darum sollten Sie stets unterstellen, dass Blogs, vor allem kostenlose, nichtkommerzielle Special-Interest-Blogs für spezifische Zielgruppen (junge Mütter, Taucher, Jäger, Skatebordfahrer usw.), von Unternehmen für ihre (Werbe-) Zwecke genutzt werden. Bewertungsportale oder Versandunternehmen wehren sich selbstverständlich dagegen, denn für sie sind Fake-Einträge schädlich, also investieren sie in Mechanismen, deren Zweck es ist, unechte Bewertungen herauszufiltern.

4.2.3 Bestimmen Algorithmen unser Leben? Dass Algorithmen oftmals die besseren Prognosen liefern, habe ich hinreichend begründet. Sie lassen sich nicht von Wahrnehmungsverzerrungen oder Heuristiken fehlleiten, sie nutzen ein definiertes, reproduzierbares Modell, analysieren die Bedeutung der Einflussfaktoren und speisen Daten in eine Auswertung. Die Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit des

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algorithmenbasierten Vorgehens sollte unser Vertrauen in die Formelsysteme steigern. Aber tut es das? Wir wissen aus hinreichend überprüfter Forschung, dass Algorithmen besser diagnostizieren als Ärzte (Meehl 1954), besser Weinpreise abschätzen als Weinexperten (Ashenfelter 1995) oder Börsenkurse voraussagen können. Voraussetzung ist aber immer, dass es die Möglichkeit gibt, einen Algorithmus zu formulieren. Diese Voraussetzungen haben wir als Privatpersonen für unsere Alltagsprognosen aus vielerlei Gründen nicht. Aber es ist ausgesprochen hilfreich, an dieser Stelle die Perspektive zu wechseln und zu analysieren, wie andere mit ihren Algorithmen und vor allem ihren algorithmenbasierten Prognosemaschinen auf unser Leben Einfluss nehmen. Ein paar Beispiele sollen illustrieren, wie präsent Algorithmen bereits sind. Stets ist der Mechanismus, dass Sie zu Beginn einer Geschäftsbeziehung einige Daten über sich preisgeben und ungleich viel mehr Informationen während der Nutzung entstehen. Zu Ihren individuellen Daten werden weitere „aus dem Regal“ hinzugefügt, denn Sie sind immer nur Teil eines Nutzer-Clusters, für das Sie sich selbst qualifiziert haben, und der Anbieter weiß aufgrund der Fülle an Nutzerdaten recht gut, wie Leute wie Sie ticken. Heute nennen wir das „Big Data“. Das ideale Instrument dafür ist das Web, gleich, ob Sie es am Computer oder per Smartphone-App nutzen. Hier die Beispiele: • Wenn Sie ein Produkt recherchieren, sei es ein Möbelstück, Kondome oder eine Dachantenne, werden Sie wochenlang auf allen möglichen Seiten Werbung für dieses und für ähnliche Produkte sehen. Der hier eingesetzte Algorithmus besteht aus einem recht primitiven System aus Detektion Ihres Interesses und Reaktion in Form von Werbung. • Ihr Musikstreaming-Dienst, egal ob Deezer, Spotify oder Amazon Music, wertet Ihren Musikgeschmack aus und schlägt Ihnen weitere Musikstücke vor. Dieser Algorithmus ist etwas komplexer, denn er verlangt die Bewertung von Geschmack und die Zuordnung anderer, noch nicht gehörter Musik. • Parship, Elitepartner oder neu.de führen „passende“ Menschen zusammen. Dieses Matching funktioniert wie unsere oben beschriebene Nutzwertanalyse, in die Ihre Selbstauskünfte eingehen, später auch Ihr Nutzungsverhalten, etwa Ihre Präferenzen oder Ablehnungen. Menschen werden zu Score-Patterns, und passen diese zusammen, wird eine Kontaktaufnahme vorgeschlagen. • Ihre Versicherung schlägt Ihnen eine Fitness-App vor, um, wie Ihnen mitgeteilt wird, „Versicherungen individualisieren“ zu können. Es mag

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tatsächlich die Idee sein, sportliche Nichtraucher zu belohnen und Risikosportler oder aggressive Autofahrer zu bestrafen, aber zunächst geht es nur darum, aus Ihrem Alltagsverhalten die Chance zu errechnen, Ihnen eine weitere Versicherung verkaufen zu können. • Die Auswahl von Nachwuchstalenten, eine Aufgabe für „Talent-Scouts“, wird heute schon von Algorithmen unterstützt. In langwieriger Arbeit wurde ermittelt, welche Indikatoren, wir nennen sie auch Prädiktoren, über die zukünftigen Fähigkeiten eines Spielers Auskunft geben. Anschließend werden die Werte dieser Prädiktoren in Tests ermittelt, etwa Sprungkraft, Ausdauer oder Wurfweite, und die Ergebnisse in einem Algorithmus verknüpft. Auch hier ist das Ergebnis ein Score. Tatsächlich zeigt sich, dass der Algorithmus auch hier die professionellen TalentScouts schlägt (Lewis 2017). • Sie streiten mit Ihrem Ehepartner. Eine App hört mit, schlussfolgert aus dem Gesagten, dass ein Konflikt vorliegt und schlägt Lösungen vor. Die App misst auch Ihren Puls, um Ihren Erregungszustand zu erkennen. Schon heute erkennt sie 80 % aller Konfliktsituationen, und die Datenbank mit situationsangepassten Lösungsvorschlägen wächst beständig (Timmons et al. 2017). Das Muster ist deutlich: Mal mehr, mal weniger automatisiert werden Daten gesammelt, die zu einer Handlungsprognose führen. Die Möglichkeiten, aus nur wenigen Daten recht präzise Modelle über unsere Einstellung, Motivation oder Präferenzen zu erstellen, also Muster zu erkennen und auf zukünftiges Verhalten zu projizieren, sind überraschend vielfältig. Dafür bedarf sehr viel weniger spezifischer Informationen, als wir glauben. Dafür ein prägnantes Beispiel, das mich immer wieder in Erstaunen versetzt: Über 15 Monate wurden Bewegungsprofile von 1,5 Mio. Mobilfunknutzern beobachtet, indem die Standortinformationen, die die Funkmasten liefern, ausgewertet wurden. Die Erkenntnis: Es bedurfte gerade einmal vier (!) Messpunkte (mit Ort und Zeitpunkt), um 95 % der Nutzer sicher zu identifizieren (de Montjoye et al. 2013). Denken Sie darüber nach! Natürlich fallen dabei Individuen durch das Raster, die sich nicht in die gängigen Cluster einsortieren lassen, aber eine große Menge an möglichen Adressaten verkraftet leicht Fehlerquoten von vielleicht 5 oder 10 %. Und nein, wenn Sie jetzt glauben, dass Sie ganz sicher zu den Individualisten gehören, die sich nicht so ohne Weiteres einsortieren ließen, liegen Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit (eben 90 bis 95 %) daneben. So besonders sind wir nicht.

4  Einige ganz besondere Prognosefallen     215

Algorithmen arbeiten zuweilen aus einem anderen Grund fehlerhaft: Wir verhalten uns nicht „echt“, wenn wir ahnen, dass unsere Daten aufgezeichnet und verwertet werden. Diese Verzerrung ähnelt dem bereits beschrieben Hawthorne-Effekt. Wir schummeln bei unseren Selbstauskünften auf der Dating-Website, sodass der ideale Partner nicht gefunden werden kann, wir schummeln auch beim Arzt, wenn er uns fragt, wie viel Alkohol wir trinken, sodass die Therapie weniger wirksam ist als sie sein könnte, und wir schummeln, wenn wir angeben sollen, wie viel TV wir in der Woche schauen. Erst wenn uns das Datensammeln nicht mehr bewusst ist, wird unser Verhalten „ehrlicher“. Kaum noch realisieren wir, dass die von uns besuchten Websites aufgezeichnet und das Nutzungsprofil verkauft wird (ja, auch bei Youporn und selbst dann, wenn Sie dafür ein „privates Fenster“ öffnen), oder die Protokollierung unserer Bestellungen auf Zalando, „um uns noch tollere Superangebote machen zu können“. Den Daten-Upload unseres Fitnessarmbands finden wir „praktisch“, und an einen Transponder im Auto würden wir uns ebenso schnell gewöhnen wie an einen Kühlschrank-Scanner, der mit einem Lieferdienst verbunden ist. Algorithmen schummeln nie. Sie haben weder ein Bewusstsein noch Eigeninteressen oder ein Ego, das es zu füttern gilt. Es sind wir selbst, die die Algorithmen füttern, bewusst oder unbewusst, und die allermeisten Anwendungen dienen kommerziellen Zwecken (siehe hierzu den überaus erhellenden Beitrag des in Bonn lehrenden Philosophen Gabriel über Künstliche Intelligenz: Gabriel 2018). Was nutzen algorithmenbasierte Prognosen? Stehen Entscheidungen an und suchen wir nach einem sinnvollen Prognosemodell, können Algorithmen ausgesprochen nützlich sein. Wann immer die Anzahl der Einflussfaktoren limitiert ist, wir eine überschaubare Anzahl möglicher Zukünfte haben, die berechnet werden können und wir viele Inputdaten nutzen können, ist ein Formelsystem die richtige Art zu prognostizieren. Damit ist die algorithmenbasierte Vorhersage der Antipode zur intuitiven Prognose. Hier exemplarisch ein paar typische Fälle von Prognosen, die ohne Algorithmen nicht erstellt werden können: • Vermögensbildung • Altersvorsorge • Anschaffung langlebiger Güter im Haushalt • Medizinische Diagnosen auf Basis bildgebender Verfahren • Preisentwicklung für Konsumgüter

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• Diät- und Ernährungspläne • Aus- und Fortbildung Vermutlich haben Sie zum Ende der kurzen Liste hin die Stirn kraus gezogen. Warum sollen bei Diäten oder der Ausbildung Algorithmen elementar wichtig sein? Bei Diäten ist das leicht zu erklären, denn wir benötigen zum Abnehmen ein Kaloriendefizit, und das lässt sich berechnen. Schwieriger ist es mit der Ausbildung: Sie sind Schreiner und planen, den Meister zu machen. Das kostet Sie Geld, aber es fallen auch nichtmonetäre Kosten an, insbesondere der Zeiteinsatz, und damit Opportunitätskosten, denn in der Zeit, die Sie lernend am Schreibtisch verbringen, hätten Sie sich auch privat vergnügen oder Überstunden machen und damit ein höheres Einkommen erzielen können. Ein Algorithmus zeigt Ihnen nun auf, worin der Nutzen des Meisters besteht: Sie kalkulieren das mögliche Mehrgehalt (dafür stellen die Handwerkskammern Tabellen zur Verfügung) und stellen diesem den bewerteten Zeitbedarf entgegen, z. B. bewertet mit Ihrem jetzigen Stundenlohn. Eine Kapitalwertrechnung brauchen Sie nicht, weil der für die Diskontierung anzusetzende Zins durch Gehaltssteigerungen kompensiert wird. Was kommt heraus? • Nettoeinkommen Geselle: 12,- €/h (145 Monatsstunden, 2500 € Bruttogehalt, 30 % Abzüge) • Nettogehalt Meister: 14,- €/h (wie oben, aber 2900 € Bruttogehalt) • Mehreinkommen bei 35 Berufsjahren als Meister: 121.800 € oder ca. 3500 €/Jahr Dieses Mehreinkommen rechtfertigt alleine schon den Aufwand, seinen Meister zu machen, auch wenn dieser einen vierstelligen Betrag an Gebühren etc. sowie viele Hundert Zusatzstunden bedeutet. Das ist ein recht primitiver Ansatz, aber er führt zu einer ersten Einschätzung, bevor Sie nun Aspekte wie Arbeitsplatzsicherheit, mehr Möglichkeiten für einen Jobwechsel, ein höheres Maß an Mobilität, aber auch den bereits erwähnten Freizeitverzicht ins – nicht mehr berechenbare – Kalkül ziehen. Aber ohne Algorithmus wäre die Prognose unvollständig, denn Ihre Intuition wird ohne das dafür erforderliche Erfahrungswissen nichts taugen. Wie viele Algorithmen und wie viel Intuition in Ihre Prognosen eingehen, ist abhängig von der Berechenbarkeit der Zukunft, der Menge von Einflussfakten, der Verfügbarkeit von Inputfaktoren und letztlich von der Bereitschaft, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Das Ergebnis sind

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situationsbedingte Handlungsempfehlungen. Diese Empfehlungen verändern sich, wenn sich die Inputdaten verändern, z. B. die Gehälter im obigen Beispiel. Die Handlungsvorschläge bilden eine Art Sockel, auf dem die Prognose weiter aufbaut. Heraus kommt das, was als Methodenmix bereits in Abschn. 3.5.4 gefordert wurde. Werden Algorithmen unser Leben bestimmen? Ich weiß es nicht. Mit Sicherheit werden mit der Verfügbarkeit von Daten Unternehmen versuchen, uns in die von ihnen gewünschte Richtung zu schubsen. Unter dem Deckmantel „Individualisierung“ werden Daten gesammelt, Muster und Korrelationen detektiert und Konsumempfehlungen zurückgespielt. Jeder Empfehlung liegt dann eine Umsatzabsicht zugrunde, sei es, dass Produkt A oder B erworben oder die App C genutzt und weiterempfohlen werden soll. Das Problem dabei: Muster auf Basis von Daten über unsere bisherige Lebensführung • (ver)führen zum Verweilen im jeweiligen Konsumsystem (einmal Apple, immer Apple), • klammern disruptive individuelle Veränderungen aus (Konsumverzicht), • können nur von jenen errechnet werden, die die Daten entweder gesammelt oder bezahlt haben (hohe Einstiegskosten für kleine Unternehmen mit innovativen Ideen) und • können uns benachteiligen (Kreditwürdigkeit, Voraussetzungen für Versicherungen). Ja, Algorithmen werden einen erklecklichen Teil unseres Lebens bestimmen und sie tun das auch heute schon. Ob wir uns davor fürchten müssen, sollte jeder für sich selbst entscheiden, aber für alle gilt die Devise, sich bewusst mit dem Thema zu befassen, um die Kontrolle über die persönliche Lebensführung nicht aus der Hand zu geben: Algorithmen prognostizieren und empfehlen Handlungen, aber die Entscheidung liegt bei uns. Geben wir auch sie ab, z. B., weil es bequem ist, müssen wir das bewusst tun.

Es ist also eine Frage der Verantwortung im Umgang mit Prognosen und den darauf basierenden Entscheidungen.

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Von der Gefahr, Nonkonformist zu sein Algorithmen errechnen Muster auf Basis von Vergangenheitsdaten und ggf. Selbsteinschätzungen. In der Regel reicht das aus, und die bereits oben beschriebenen Ausreißer der Statistik sind aus Sicht von erwerbswirtschaftlich orientierten Unternehmen leicht zu verkraften. Aber aus individueller Sicht kann das zu einem Problem führen: Wenn Sie nicht zum „Durchschnitt“ gehören und ein „statistischer Ausreißer“ sind, können Sie sich nicht mehr auf die Handlungsempfehlungen des Algorithmus verlassen.

Ein Beispiel: Sie kalkulieren Ihre finanzielle Altersvorsorge und besprechen dies mit Ihrem Bankberater. Eine Schlüsselgröße ist dabei Ihr vermutliches Sterbedatum, denn bis zu diesem muss das Vermögen reichen. Dieses Datum ist aber unbekannt, und so wird es geschätzt. Dazu dienen Sterbetafeln des Statistischen Bundesamts. Diese errechnen sich als Durchschnittswerte, und Ihr Berater wird eine gewisse Streuung des Mittelwerts vermuten, also annehmen, dass Sie etwas älter als der Durchschnitt werden, vielleicht 83 statt 81 Jahre. Er wird einen Algorithmus bemühen, hier ein recht banales Computerprogramm, und basierend auf recht wenigen Parametern das Ihnen monatlich zur Verfügung stehende Geld errechnen. So weit, so gut und richtig. Aber wenn Ihre Vorfahren allesamt über 90 wurden, Sie also über Gene verfügen, die eine längere Lebenserwartung als die durchschnittliche vermuten lassen, sollten Sie sich als Ausreißer zu erkennen geben und es dem Berater sagen. Andernfalls ist Ihr Geld zu früh ausgegeben; ebenso, wenn Sie eine Krankheit haben, die zu einem früheren Tod führt, denn dann leben Sie zu sparsam und verzichten womöglich auf eine die Lebensqualität steigernde, aber kostenintensive medizinische Maßnahme. Ein anderer Fall, der banal erscheint, aber den Mechanismus recht gut deutlich macht, ist die Anschaffung eines Autos. Privatkundenleasing scheint zuweilen eine attraktive Alternative der Finanzierung zu sein. Sie mieten auf Zeit ein Auto. Der Leasinggeber errechnet die monatliche Rate auf Basis von Durchschnittswerten, insbesondere einer Ihrer Lebenssituation gerecht werdenden jährlichen Fahrleistung in Kilometern. Sollten sich diese Daten verändern, weil Sie einen entfernten Job annehmen und pendeln, fallen Sie aus dem tolerierten Erwartungswertkorridor. Sie werden ein statistischer Ausreißer und sollten versuchen, Ihre Leasingrate anzupassen, um keine hohen Nachzahlungen am Mietdauerende leisten zu müssen.

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Seien Sie, wenn Algorithmen prognostizieren und eine Handlungsempfehlung liefern, Konformist. Sind Sie es nicht, ändern Sie die Eingangsparameter, wenn dies möglich ist, oder betrachten Sie das Ergebnis mit der gebotenen Skepsis.

4.3 Die Macht der Herde Zahlreiche Forschungsarbeiten aus unterschiedlichen Fachrichtungen haben sich mit dem beschäftigt, was wir „Herdenverhalten“ nennen. Oft wird versucht, aus tierischem Verhalten Analogien für menschliches zu ziehen. Doch egal, ob dafür andere Primatenarten, Vögel, Fische oder Lemminge beobachtet werden, immer wieder sind wir bass erstaunt, dass Herden in der biologischen Existenz so vieler Spezies von existenzieller Bedeutung sind – und eben auch bei uns Menschen. Doch Herde heißt auch Unterordnung: Herdenmitglieder ordnen sich einem Führer unter, einer Schwarmintelligenz, einem herdenkonformen Verhalten und Regeln des Zusammenlebens. Herdenmitglieder verzichten auf bestimmte Formen der Selbstverwirklichung. Herdenmitglieder tauschen Individualität gegen Gemeinschaft, und diesen Trade-off können wir durchaus auch ökonomisch betrachten. Aber was hat das mit den Alltagsprognosen zu tun, die eine Verwaltungsfachwirtin in Oer-Erkenschwick macht, um smarter zu entscheiden? Ist sie auch Teil einer Herde, und das, obwohl ihr Individualität und Selbstbestimmung heilig sind? Schauen wir es uns an. Wie kommt eine Herde zustande? Herden entstehen durch Zusammenrottung. Diese muss keineswegs physisch erfolgen, wie wir es uns bei einer Pferdeherde oder bei einem Vogelschwarm vorstellen. Bei uns Menschen ist das sogar die Ausnahme. Wir Menschen leben grundsätzlich als Individuen, und das drückt sich auch durch unser Wohnverhalten aus: Auf der Mikroebene präferieren wir eigene Räumlichkeiten, eigene Zimmer, aber auf der Makroebene tun wir uns zu Siedlungsgemeinschaften zusammen. Hier gehören wir gleichzeitig vielen Herden an: dem Sportverein, den Kirchgängern, den Zumbakursbesuchern, den Anhängern von Superfood, den Nutzern von iPhones oder den Trägern von Hollister-Shirts. Sie alle bilden jeweils eine themenspezifische Herde. Warum suchen wir eine Herde?

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• Die Herde bietet Sicherheit: Teil einer Herde zu sein, sichert die individuelle Prognose und Entscheidung: Einen VW Golf zu kaufen, schützt vor einem Fehler, denn wenn so viele dieses Auto erwerben, dass es seit Jahren Marktführer ist, kann der Kauf nicht verkehrt sein. Die Herde ist dann auch ein emotionaler Schutz: Wenn viele Hollister-Shirts tragen, perlt die Kritik eines Außenstehenden ab. Hier steht der emotionale Schutz vor kognitiven Dissonanzen im Vordergrund; die Reue nach dem Kauf bleibt aus. • Die Herde sorgt für mehr und bessere Informationen: Viele wissen mehr als Einzelne. Wir folgen einer Herde in eine Richtung, weil wir davon ausgehen, dass die Gruppe weiß, wo es langgeht. Wir unterstellen einen Informationsvorsprung durch schiere Masse, vielleicht auch Schwarmintelligenz. • Die Herde tut gut, denn sie bietet soziale Integration: Das Zugehörigkeitsgefühl ist uns die Einschränkung individuellen Verhaltens wert. Zu einer Gruppe zu gehören, ist Teil unserer biologischen Grunddisposition, ein Urtrieb. Wir fühlen uns in einer Gruppe wohl, sofern wir sie selbst wählen dürfen und uns das Nähe-Distanz-Verhältnis behagt. • Die Herde senkt die Prognosekosten: Das Nachahmen bzw. Mitschwimmen im Strom wird als Ersatz für die individuelle Prognose akzeptiert. Der Preis ist, dass auf die Nutzung eigener Informationen ebenso wie auf die Berücksichtigung der individuellen Situation verzichtet wird. Diesen bezahlen wir gerne, vor allem bei einer Zukunft, die uns hochgradig unsicher erscheint. Diese Vorteile machen deutlich, wieso es sich „lohnt“, einer Herde anzugehören. Doch natürlich haben Herden auch einen Preis. Der wichtigste ist die Aufgabe von Individualität, doch wird diese oft gar nicht als Preis empfunden, vor allem dann nicht, wenn man mit seinen Spielräumen nichts anzufangen weiß. Jemand, der kein Lebenskonzept hat, schließt sich gerne einer radikalen Gruppe an, denn die Vorteile sind groß (siehe oben), und da mit dem Segen der Selbstbestimmung eh nicht umzugehen gewusst wurde, ist der Preis gering. Aber das Wie ist noch offen: Wie entsteht eine Herde? Hierauf gibt es keine universelle Antwort. Vielmehr gibt es diverse Initiationsvarianten. Herden können erschaffen werden, aber auch spontan entstehen. Sie haben erkennbare, nachvollziehbare und beschreibbare Wurzeln, manchmal scheinen sie sich aber auch ohne Grund zu bilden. Es ist also erforderlich, sich die verschiedenen Arten von Herden anzuschauen.

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Herdentypologie In der wissenschaftlichen Literatur werden Herden wenig differenziert betrachtet. Eine Gleichrichtung von Interessen, Ansichten oder Taten bei mehreren Menschen reicht hier aus, um von einer Herde zu reden. Aber es lohnt sich, einen näheren Blick auf diesen Aspekt zu werfen, um die Prognoserelevanz beurteilen zu können. Denn darum geht es: Welcher Herde dürfen wir uns anschließen, um unsere Zukunft besser zu gestalten, und welchen Herden sollten wir aus dem Weg gehen?

Für die Zwecke dieses Buches möchte ich Herden nach zwei Kriterien differenzieren: der Intensität der Kommunikation der Herdenmitglieder untereinander und der Spezifität des Zieles der Herde. Das ergibt eine Matrix mit vier Arten von Herden, wie sie in Abb. 4.5 dargestellt ist. Was zeichnet diese Herdentypen aus? • Die soziale Herde: Die Kommunikation innerhalb der Herde ist intensiv, aber die Ziele sind eher unkonkret, variabel und verändern sich. Dies zeichnet viele Special-Interest-Groups aus, z. B. Brigitte-Diät-Fans, Rennradfahrer, Hooligans oder Asylbewerber. Bindung entsteht durch Grundsätzliches, etwa die Lebensanschauung, das gemeinsame Schicksal oder die gleichen Ziele und Hobbys. Typisch ist das Entstehen von Teilgruppen innerhalb gereifter Herde, die sich organisieren und zuweilen abspalten.

Hohe Kommunikaonsintensität

Soziale Herde

Exklusive Herde

Niedrige Kommunikaonsintensität

Schickimicki-Herde

Gier- und Angst-Herde

Unspezifische Ziele

Spezifische Ziele

Abb. 4.5  Typen von Herden

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• Die Schickimicki-Herde: Auch hier ist das Ziel flexibel, aber im Unterschied zur sozialen Herde kommunizieren die Mitglieder wenig miteinander. Die Folge ist, dass diese Herde instabil ist und wie eine Wolke scheinbar zufällig entsteht und vergeht. Die Bindungsintensität der Individuen ist gering. Typisch für dieses Muster sind Moden und Trends, früher Aerobic, heute Zumba, früher Fruit of the Loom, heute Hollister, früher Nokia, heute Apple. Es schmückt, zu dieser Herde zu gehören. Oft finden wir hier „First Mover“, vielleicht einen Promi, der den Trend auslöst. Anschließend bildet sich ein „harter Kern“ heraus, der als Minderheit der Herde seinen Stempel aufdrückt (Frey 2013). Der Rest sind „Follower“. • Die exklusive Herde: Die Mitglieder kommunizieren intensiv miteinander und gleichzeitig gibt es ein bestimmtes Ziel. Exklusivität wird organisiert, darum finden sich in exklusiven Herden regelmäßig formelle oder informelle Hierarchien und Zugangsbeschränkungen. Nicht-Herdenmitglieder, die sogenannten „Outsider“, werden zuweilen als unterprivilegiert betrachtet, Trittbrettfahrer verteufelt. Eine Pferdeherde ist z. B. exklusiv, aber eben auch eine Bürgerbewegung, eine Sekte oder – ganz wichtig – die eigene Familie. Oft spielt die soziale Nachahmung eine große Rolle. Wir lernen von den anderen Herdenmitgliedern Werte bzw. Einstellungen und übernehmen deren Präferenzen, und wenn wir aus den herdentypischen Mustern ausbrechen wollen, wird dies sanktioniert, im schlimmsten Falle durch Ausschluss. In der exklusiven Herde finden wir das höchste Maß an Schutz, aber bezahlen auch den höchsten Preis in Form von Aufgabe von Individualität. Typisch ist, dass wir in dieser intimen Herde eine große Opferbereitschaft antreffen. Die exklusive Bindung führt zu mehr Kooperation und Fairness, „Deals“ werden auch dann akzeptiert, wenn sie Nachteile bringen, Informationen werden bereitwillig zur Verfügung gestellt und altruistisches Verhalten wird praktiziert. Gemeinschaft und soziale Integration werden wie ein Teil des Entgelts bewertet; wir kennen das z. B. aus Mafia-Filmen. • Die Gier- und Angst-Herde: Die Intensität der Kommunikation unter den Mitgliedern ist gering, aber das Ziel ist fixiert. Meist findet sich diese Herde durch Schocks, positive wie negative, zusammen. Die Tulpenkrise in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts, die Dotcom-Blase um das Jahr 2000, die Immobilienkrise 2007, EHEC, SARS, die geniale Geldanlage mit hohen Renditen ohne Risiken und auch Kriege – sie alle führten oder führen dazu, dass sich Menschen in Herden zusammenfinden. Disruptive Ereignisse schweißen zusammen, aber nur temporär. Das Problem: In

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diesen Herden finden wir regelmäßig irrationale Übertreibungen – Gier und Angst. Es gibt keine steuernde Führung, keine beruhigende Information. Der schiere Glaube daran, dass „die anderen“ mehr Informationen als man selbst besitzen, bestimmt das Handeln. Ein Beispiel war die Pillen-Hysterie, die in Abschn. 4.1 erläutert wurde. Ein anderes Beispiel sind die Attentate am 11. September 2000 auf das Empire State Building. Diese führten dazu, dass die Amerikaner erst einmal Flugzeuge mieden. Dadurch sind ca. 1600 Menschen zusätzlich bei Autounfällen ums Leben gekommen (Gigerenzer 2014, S. 21 f.). Wie werde ich Teil einer Herde und wie verhalte ich mich als Mitglied? Ich stelle die Herde nicht infrage, ich folge. Sie bestimmt meine Einstellung, meine Ziele, meine Präferenzen. Sie entscheidet für mich, sie bestimmt – jeweils für das Herdenthema – mein Leben. Wo die Herde hinläuft, da laufe auch ich hin. Wo die Herde verweilt, da verweile auch ich. Wenn die Herde wegläuft oder weiterzieht, ziehe ich mit.

Meine individuelle Situation wird nicht berücksichtigt. Wenn die Herde teure Kleidung als Integrationsmerkmal trägt, so werde auch ich mir diese teure Kleidung kaufen müssen. Wenn die Mitglieder der Herde ihre Autos tunen, unverschämt laute Abgasanlagen montieren und Autorennen in der Innenstadt veranstaltet, so werde ich das auch tun müssen. Verweigere ich mich oder kann ich es mir nicht leisten, bin ich draußen. Mache ich es besonders gut, leiste mir vielleicht das teuerste Auto, habe den lautesten Auspuff und rase am tollkühnsten über rote Ampeln, habe ich die Chance, zum harten Kern zu gehören. Ich verhalte mich also erwartungstreu, wobei diese Erwartungen ein Resultat eines nicht im Detail nachvollziehbaren Bewusstseinsprozesses sind. Zudem gilt: Je relevanter die Herde für die persönliche Lebensführung ist, desto stärker ist die Bindung.

Wenn mein Leben erbärmlich genug ist und ich die einzige Anerkennung in der Auto-Poser-Szene erfahre, so werde ich mich stark zu den Werten dieser Herde hingezogen fühlen. Ich werde sie auch vor Angriffen von außen schützen. Sollte sich jemand über diese Poser mokieren, so gebe ich Kontra.

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Das erwarte ich auch von den anderen Herdenmitgliedern und so entsteht ein Rundumschutz. Die Gruppe schützt sich selbst. Und was bedeutet das für Alltagsprognosen? Der Grad der Bindung an eine Herde korreliert mit der prognostischen Relevanz des Herdenverhaltens.

Trifft ein Sektenmitglied eine Entscheidung, wird es sich unwillkürlich oder bewusst fragen, wie „die Herde“ darauf reagieren wird. Ein nichtkonformes Verhalten zöge Sanktionen nach sich, die Entscheidungskosten darstellen und die den Nutzen einer Handlung überwiegen können. Als Moslem oder Jude Schweinefleisch zu essen, mag lecker sein, aber die Sanktionen einer konservativ eingestellten Gemeinde wiegen so schwer, dass dem Gläubigen schon beim Gedanken daran der Appetit vergeht. Das Wertesystem der Herde stellt also einen Korridor dar, innerhalb dessen Prognosen des persönlichen Handelns sowie die persönliche Zukunft stattfinden dürfen oder können. Eine enge Kommunikation der Mitglieder untereinander, wie sie bei der sozialen sowie der exklusiven Herde vorzufinden sind, lässt diese Leitplanken undurchdringlich erscheinen. Gefangen in diesem Raum glauben die Mitglieder dann auch, sich selbstloser, gruppenaltruistischer, freundlicher und großzügiger zu verhalten als Outsider, was wir übrigens ungeachtet der statistischen Basisraten sowieso von uns glauben (Epley und Dunning 2000). Wir überschätzen unseren Sinn für Gemeinwohl, aber in der Herde können wir unsere Absichten auf die Gruppe fokussieren und relativ schnell Bestätigung und Anerkennung erfahren. Das macht eine Herde lukrativ. Wie ist das aber bei einer eher informellen Herde, etwa jener, die einem Konsumtrend folgt, z. B., weil er in der Hollywood-Welt en vogue ist? Auch diese verschafft Anerkennung, wenn ihren Vorgaben gefolgt wird. Diese Anerkennung kommt aber von außen und selten von innen, denn durch die geringe Kommunikationsintensität erfolgt keine persönliche Ansprache. Der Ausstieg ist leicht und eine Abkehr von den Regeln ist vergleichsweise unkritisch. Sie ist sogar zu einem bestimmten Zeitpunkt erforderlich, denn Trends sind per definitionem immer nur temporär, und wer möchte schon länger mit einer Dauerwelle herumlaufen, Pilates machen oder hochpreisige Goji-Beeren essen, als es die Schickimicki-Herde vorgibt?

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Outsider statt Insider: Der Einzelgänger und sein Kampf gegen die Herde Oft ist die bewusste Nichtmitgliedschaft in einer Herde kein größeres Problem. Es erhält die Individualität, aber es bedeutet auch den Verzicht auf ein Stück Zukunftssicherheit. Schwierig ist jedoch der Verzicht auf bestimmte Typen von Gruppen: Wer sich bewusst entschließt, auf Vereine als exklusive Herden zu verzichten und trotzdem Fußball spielen möchte, muss höhere Transaktionskosten in Kauf nehmen, um Mitspieler, einen Platz usw. zu organisieren. Er akzeptiert mehr Unsicherheit und Volatilität, seine Zukunft ist unsicherer. Zu einem Kampf des Outsiders gegen die Herde wird es dann sogar, wenn Ressourcen knapp sind: Gibt es nur einen geeigneten Spielplatz, wird die Herde ihren Anspruch auf den Platz leichter vorbringen und durchsetzen können als der Einzelne. Die Argumentation ist einfacher, denn der Entscheider, z. B. der Sportdezernent einer Stadt, wird den Platz durch viele besser genutzt sehen als durch den Einzelnen, der nur verspricht, viele um sich scharren zu können. Zudem kann es sein, dass der Dezernent selbst Teil der Herde ist oder Kontakte zu ihren Mitgliedern hat. Der Preis, sich einer Herdenmitgliedschaft zu widersetzen, ist also nicht nur, den Prognosenutzen nicht zu haben, sondern auch, durch die direkte oder indirekte Konkurrenzsituation zusätzlichen Unsicherheiten ausgesetzt zu sein. Welche prognostische Relevanz hat eine Herde? Die Herde gibt einen Korridor vor, innerhalb dessen die eigene Zukunft Gestalt annimmt. Menschen, auch Sie, sind Teil mehrerer Herden, solcher mit enger und solcher mit schwacher Bindung, solcher, deren Ziele klar sind und solcher, deren Ziele sich verändern. Die Mitgliedschaft bringt beim jeweiligen Thema der Herde Prognosesicherheit. Die Aufgabe von Individualität bringt Prognosesicherheit. Zwar wissen wir nicht immer, wohin die Herde läuft, aber wir unterstellen, dass die Richtung und das Ziel der Herde auch für uns selbst gut sind. Und das erfahren wir dann auch, mindestens durch die Bestätigung der Gruppe. Ich brauche an dieser Stelle sicherlich nicht zu betonen, wie fatal dieser Mechanismus sein kann: Die Herde der Gefolgschaft Adorf Hitlers, geleitet vom harten Kern der Braunhemden, hat in unglaublich kurzer Zeit unglaubliche Gräuel verübt bzw. zugelassen. Und heute? All die Autokraten in allen Teilen der Welt, die sich in der Sonne ihrer Macht wohlfühlen, despotisch herrschen und nicht den Hauch von Selbstzweifel hegen, ihre Gegner gewaltsam ruhigstellen, nur das Beste für ihr Volk wollen und am Ende

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steinreich sind, sind nichts als Herdenführer, die einen harten Kern protegieren, Herdenmitglieder mit einem guten Gefühl der Anerkennung und des schieren Dabeiseins abspeisen und mit den Outsidern unter Beifall der Mitglieder hart ins Gericht gehen. Der Nutzen für die Mitglieder ist relative Zukunftssicherheit, solange das System funktioniert. Ja, Herden sind nützlich, aber bewahren Sie sich Individualität. Sie erhalten sich Handlungsspielraum, und der Preis, eine unsicherere Zukunft, ist selten zu hoch.

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5 Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern

An dieser Stelle sollten Sie sich gut informiert fühlen. Sie sollten wissen, was eine gute Prognose ausmacht und was ihr im Weg steht. Sie sollten Varianten von Prognosen, also Modelle, kennen, soweit sie für Alltagsfragen bzw. Entscheidungen der Lebensführung relevant sind. Sie sollten gelernt haben, immer nach den Einflussfaktoren auf die Zukunft zu fragen und bereit sein, Inputdaten zu sammeln, wenn es welche gibt, um nicht den Irrlichtern von Meinungen zu folgen. Sie sollten darum auch wissen, wann und wie weit sie Ihrer Intuition oder Beratern/Experten vertrauen dürfen. Dieses neu erworbene Wissen wollen wir nun anwenden. Dazu habe ich einen Strauß von Lebenssituationen zusammengestellt, denen wir alle begegnen werden oder die wir zumindest gut antizipieren können. Mein Anspruch ist es, Ihnen das Instrumentarium der Alltagsprognostik vorzuexerzieren und Sie auf die jeweiligen themenbedingten Gefahren hinzuweisen.

5.1 Lebensziele und ihre Bedeutung für Alltagsprognosen Der Anspruch ist groß: Bewusste Prognosen sollen bessere Entscheidungen und klügeres Handeln ermöglichen. „Besser“ und „klüger“ bedeutet, seine Ressourcen zielgerichtet einzusetzen. „Zielgerichtet“, als drittes Adjektiv, schreit nach einem Zielsystem. In der Sprache des Managements ist das eine häufig genutzte Vokabel. Unternehmen dienen dazu, die Interessen der Eigentümer zu befriedigen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. B. Kühnapfel, Die Macht der Vorhersage, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24838-3_5

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Der „Shareholder-Value“ steht als Topziel an der Spitze. Um dieses zu erreichen, und nun kommen wir schon zur zweiten Ebene der Zielkaskade, müssen Gewinne erwirtschaftet und der Unternehmenswert gesteigert werden. Fein, betrachten wir die dritte Ebene: Wir benötigen für Gewinne Umsätze, die zu steigern, und haben Kosten, die abzuziehen sind. Ferner ist die Substanz durch Investitionen zu mehren. Eine vierte Ebene erspare ich uns, aber das Prinzip ist klar: Es gibt das Topziel, Unterziele, Unter-Unterziele usw. Dies kann immer weiter detailliert („heruntergebrochen“) werden, und schließlich weiß, so das Idealmodell, jeder Einzelne im Unternehmen, welches persönliche Ziel er zu erreichen hat, um seinen Beitrag zum Topziel, dem Shareholder-Value, zu leisten. Und er wird auch daran gemessen, womit wir schon beim Begriff der „wertorientierten Unternehmensführung“ angelangt sind. Wozu dieser Exkurs? Was Manager für ein Unternehmen formulieren können, sollten wir für unser Leben auch formulieren. Betrachten Sie sich doch einmal als Unternehmen. Ihr Topziel ist Ihre Zufriedenheit, mythisch überhöht auch „Lebensglück“ genannt. Hier passt die Analogie zum Unternehmen noch. Aber schon auf der zweiten Ebene der Zielkaskade wird es schwammig: Was ist in unserem Leben der „Gewinn“, was der „Unternehmenswert“? Doch es ist einfach: Der Umsatz ist der Beitrag zur Zufriedenheit, der aus unseren Handlungen entsteht, und hier gibt es Kosten im Sinne des Ressourceneinsatzes sowie der Verzichtskosten (Opportunitätskosten). Der Gewinn ist der bilanzierte Nutzen. Am Beispiel unserer Kinder wird das klarer: Wir haben einen Umsatz, oder nennen wir ihn Nutzen, der aus Freude, Lachen, Herzenswärme und dem guten Gefühl besteht, ein kleines Wesen an die Hand genommen und in die Welt geführt zu haben, und dem stehen Kosten gegenüber, Ausgaben, Enttäuschung, Schmerz oder der Verzicht auf all die tollen Dinge, auf die wir wegen der Kinder verzichten mussten. Wenn Sie Vater oder Mutter sind, können Sie es bilanzieren: War der Nutzen höher, als es die Kosten waren? Dann ist Ihnen einen Gewinn für die Zufriedenheit in Ihrem Leben entstanden, weil Sie ein Kind großgezogen haben. Der Unternehmenswert unseres Selbst ist die körperliche und mentale Substanz, also die Fähigkeit, zu handeln und auch in der Zukunft noch handeln zu können. Eine Fremdsprache zu lernen, mehrt unsere Substanz, denn es mehrt die Anzahl von Handlungsoptionen. Wir können uns auf bessere Jobs bewerben. Sport zu treiben, mehrt auch unsere Substanz, denn wir werden seltener krank und bleiben länger im Alter fit. Wenn wir aber mit unseren Ressourcen verschwenderisch umgehen, also Geld verprassen, saufen und uns eine fette Wampe anfuttern, erzielen wir womöglich kurzfristigen Gewinn,

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treiben aber Raubbau an unseren Ressourcen und verlieren schnell – im übertragenen Sinne – an Unternehmenswert. Vielleicht geht Ihnen diese Analogie zu weit, aber in der Quintessenz dürften wir wieder zusammenkommen: Wir müssen unser eigenes Zielsystem kennen, um unsere knappen Ressourcen bestmöglich einzusetzen.

Was also ist uns wichtig, um einen Lebensgewinn/Zufriedenheit zu erzielen, was ist wichtig, um unsere Substanz, um nicht ständig den unromantischen Ausdruck von „Wert“ strapazieren zu müssen, zu festigen oder zu mehren? Ohne die Kenntnis unserer Lebensziele sind alle Entscheidungen von der jeweiligen Stimmung oder spontanen Wünschen abhängig. Es bleibt fraglich, ob die Ressourcen so eingesetzt werden, dass nachhaltige Lebenszufriedenheit entsteht.

Prognosen, die spontanen Entscheidungen vorausgehen, können dann auch nicht mehr leisten, als eine Einschätzung dafür zu liefern, ob man mit der Handlung eine Menge Spaß haben oder den absehbaren Ärger vermeiden wird. Mit dem Last-Minute-Urlaub, den man sich leistet, weil sich das Sozialamt verrechnet und mehr als geplant überwiesen hat, verschafft man sich eine Woche Spaß am Ballermann, aber nur, wenn man sowohl langfristige Ziele als auch die wahrscheinliche Rückforderung des Geldes ausblenden kann. Ebenso verhindert eine Lüge so manchen Streit und erscheint vorteilhaft, aber kommt sie dann doch ans Tageslicht, weil man sich nicht alles Erlogene merken konnte, wird es umso schlimmer. Prognosen ohne das Bewusstsein für das eigene Zielsystem sind nutzlos, denn sie erlauben keine nachhaltige Beurteilung des Prognoseergebnisses.

Alltagsprognosen werden nicht für unabhängige, externe Systeme erstellt (Wahlerfolg, Konjunkturdaten, Vulkanausbruch, Wetter usw.), sondern zur Abschätzung der Folgen individueller Handlungen. Bei Prognosen zum Vermögensaufbau beispielsweise geht es nicht um die Entwicklung eines

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Aktienindexes, sondern um die Entwicklung des Wertes des individuellen Aktiendepots. Bei der Prognose eines Therapieerfolgs geht es nicht um die Resultate einer Probandengruppe, sondern um die Frage, ob Sie selbst wieder gesund werden. Bei der Prognose der Sinnhaftigkeit, einen Porsche zu kaufen, geht es nicht um PS, CO2-Ausstoß oder Verbrauch, sondern darum, ob Sie sich mit der Anschaffung gut fühlen und ob das die Ausgabe wert ist. Aber für diese Urteile müssen Sie Ihr Zielsystem (und damit Ihre Präferenzstruktur) kennen. Zu einer Prognose gehört also immer ein Zielsystem, anhand dessen wir das Prognoseergebnis bewerten können. Die Rezeptur für Prognosen, wie wir sie bisher betrachtet haben und die aus Modell, Einflussfaktoren und Inputdaten bestand, lässt sich nicht von uns selbst und unseren Wünschen und Einstellungen trennen. Selbst wenn ein außenstehender Experte, sei es ein Arzt oder ein Freund, unser zukünftiges Verhalten abschätzt, werden wir diese Abschätzung – die Prognose – nur nutzen können, wenn wir sie an unserem Zielsystem spiegeln. Das System aus Lebenszielen ist der Maßstab, mit dem wir das Prognoseergebnis messen.

5.2 Der gemachte Konsumwille Güter des täglichen Bedarfs kaufen wir gewohnheitsmäßig. Dieses habituelle Einkaufsverhalten erfordert wenig Aufwand, wir benötigen keine Nutzungs- und Nutzenprognose, weil wir Erfahrungen mit einem Produkt gemacht haben. Wir könnten zwar darüber nachdenken, ob eine Alternative noch etwas mehr Nutzen bringen würde, aber warum es testen? Erst ein besonderes Ereignis wird uns dazu zwingen, etwa wenn unser Standardprodukt vergriffen ist. Diese Schwerfälligkeit im Verbraucherverhalten ist für Anbieter von Gütern des täglichen Bedarfs Fluch und Segen zugleich. Die Bindung an eine Marke bedeutet Treue, kontinuierlichen Absatz und lässt etwas höhere Preise zu. Aber für den Wettbewerb bedeutet es auch hohen Aufwand, um einen Verbraucher von seinem Standardprodukt wegzulocken. Wer immer Persil kauft, ist nur schwer dazu zu bewegen, Ariel auszuprobieren. Und dabei ist es egal, dass die objektiven Produkteigenschaften nahezu identisch sind und sich die Waschmittel vermutlich nur in der Parfümierung unterscheiden. Das bisherige Verhalten ist ein hervorragender Prädiktor für das zukünftige Verhalten (Bentler und Speckart 1981).

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Aber wie ist es mit Gütern, die nicht täglich oder wöchentlich beschafft werden? Ich meine nicht den exotischen Ceranfeld-Reiniger, der ein halbes Jahr hält, sondern ich meine Güter, die so viel kosten, dass ihre Anschaffung im privaten Rahmen als Investition empfunden wird. Fachlich ist der Begriff „Investition“ natürlich nicht korrekt, denn Private erwerben immer Konsumgüter, die wir in Verbrauchs- und Gebrauchsgüter unterteilen. Ein privat angeschafftes Auto ist immer noch ein Konsumgut, hier ein Gebrauchsgut. Wird es gewerblich genutzt, ist es ein Investitionsgut. Aber diese Unterscheidung ist für die Zwecke dieses Buches nicht nützlich, und so möchte ich beim im privaten Umfeld etablierten Sprachgebrauch bleiben. Also: Ein nennenswerter Teil des verfügbaren Haushaltsbudgets wird beim Kauf eines „privaten Investitionsgutes“ in Anspruch ge- und vielleicht sogar ein Konsumkredit aufgenommen. Der Kauf ist auf Jahre bindend. Solche „privaten Investitionsgüter“ zu beschaffen, stellt ein Risiko dar, denn ein Fehler ist teuer. Hier lohnt eine Prognose: Wird das Produkt halten, was ich mir von ihm verspreche? Ist es die Ausgabe wert? Gibt es Alternativen, die besser wären? Könnte ich ohne das Produkt auskommen?

Für die Anschaffung eines Autos, eines Fernsehers, einer Lebensversicherung, der Beauftragung eines Carports oder die Fettabsaugung lohnt die Prognose. Hier gibt es keine (eigenen) Erfahrungswerte. Und, kommen wir zu einer dritten Kategorie von Gütern: Wie ist es mit der Anschaffung von Produkten „dazwischen“, die weder den täglichen Bedarf decken, noch einen eindeutig investigativen Charakter haben? Der Boss-Anzug, die Timberland-Boots, der Weber-Grill, der Wochenendausflug ins Disneyland, alles Produkte, deren Kauf zwar kein allzu großes Risiko darstellt, aber • deren Ausgaben hoch genug sind, sodass eine Häufung von Fehlern Probleme bereiten könnte und • die eine emotionale Bedeutung haben, also mit Herzblut verbunden sind (endogen) sowie zu Reputation verhelfen (exogen). Menschen mit geringer Ausgabendisziplin, die immer ein wenig über ihren Verhältnissen leben, wissen, wovon ich hier schreibe. Nennen wir diese Produkte „High-Involvement-Produkte“. Lohnt die Prognose? Sicherlich, auch wenn ein geringerer Aufwand betrieben werden sollte. Aber vor allem lohnt die Prognose im Kontext der Lebensziele. Die Gefahr ist, dass die

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Häufung von Einzelfallentscheidungen in Summe zu einem Problem führt, nämlich jenem, dass das Geld irgendwann ausgeht. Nur wer seine Ziele im Blick hat, wird auf die Anschaffung dieses oder jenes Produktes verzichten, auch wenn es noch so verlockend ist. Das schauen wir uns genauer an:

5.2.1 Werbung und Konsum Prognosen für Produkte des täglichen Bedarfs lohnen meist nicht, hier reicht die Intuition aus. Also klammern wir sie auch in diesem Kapitel aus. Bleibt die Frage, wie wir Prognosen für die Entscheidung erstellen, die „teuren“ Produkte, die wir „private Investitionsgüter“ und „High-Involvement-Produkte“ genannt haben, zu erwerben. Welche Modelle eignen sich hierfür, welches sind die Einflussfaktoren, die zu berücksichtigen sind, und welche Inputdaten stehen zur Verfügung? Herausfordernd ist bereits die Prognosefrage selbst. Schauen wir uns dazu drei Entscheidungen an: • Die Waschmaschine: Die alte ist defekt und nicht mehr zu reparieren. Die Anschaffung einer neuen dürfte sich als Entscheidung aufdrängen und es ist lediglich ein Auswahlproblem. Grundsätzlich gibt es aber auch hier Handlungsoptionen: Statt eine neue Maschine anzuschaffen, könnte eine gebrauchte gekauft, eine neue finanziert, mit der Hand gewaschen oder ein öffentlicher Waschsalon genutzt werden. Also könnte tatsächlich eine Prognosefrage formuliert werden: „Welche Methode zu waschen, ist für mich am besten?“ Vor allem werden Restriktionen eine Rolle spielen, etwa der Kontostand oder die Zeit, um einen Waschsalon aufzusuchen. Für die Prognostik ist hier aber nichts zu holen: Ist Geld da, wird der Kauf einer neuen Maschine die übliche Entscheidung sein. Nur für den Fall, dass das Geld für eine Anschaffung nicht ausreicht, sind Optionen miteinander zu vergleichen, am besten mit einer Nutzwertanalyse. • Der Ausflug: Schauen wir uns eine andere Entscheidung an: „Soll ich einen Wochenendausflug mit der Familie unternehmen und ist ein Centerpark ein geeignetes Ziel?“ Hier stecken zwei Fragen drin, die grundsätzliche, ob ein Ausflug eine gute Idee sei, und die Frage nach dem Ziel. Also müssen auch zwei Prognosen her und zumindest bei der zweiten Frage, dem Ziel, ist das Modell auch klar: Es muss eine Nutzwertanalyse sein. Nur diese Methode erlaubt es, all die unterschiedlichen

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Einflussfaktoren auf den Erfolg des Ausflugs wie Kosten, Fahrtzeit, Spaßfaktor, Erholungsfaktor usw. mit einzubeziehen, sogar differenziert nach Teilnehmern der Kurzreise. Auch die Kinder wollen mitreden! • Der Luxusartikel: Und noch eine dritte Entscheidung: „Soll ich die Manolo Blahnik-Schuhe kaufen?“ Es gibt keine zwingende Notwendigkeit dafür, der Produktnutzen ist unklar. Der Kauf bedient einen Traum. Aber sollten wir uns nicht alle, die Ressourcen vorausgesetzt, einmal einen solchen Traum erfüllen? Aber halt! Wir wissen doch auch: „Gott bestraft seine Kinder, indem er ihre Wünsche erfüllt.“ Also lieber doch nicht? Rationalität versagt bei solchen Entscheidungen, denn der Nutzen des Kaufs lässt sich nur schwer bewerten, lediglich die Kosten sind klar. Das Preisschild ist eindeutig. Die drei Entscheidungsfälle, für die wir Prognosen erstellen wollen, sind also: 1. Auswahl eines High-Involvement-Produktes 2. Entscheidung über die Anschaffung eines nicht zwingend erforderlichen Produktes inklusive Auswahl einer Option 3. Anschaffung eines Emotionsproduktes. Das Prognosemodell, die Einflussfaktoren und die Inputdaten In einem ersten Schritt gilt es, die richtigen Fragen zu stellen. Hierzu ist erforderlich, dass das persönliche Zielsystem bewusst und transparent ist. Die erste Kernfrage lautet nämlich: Wird das Produkt dazu beitragen, meine Ziele zu erreichen?

Aber das ist nur die halbe Miete. Denn es fehlt ein Bezug zu den Kosten der Anschaffung. Stünde die Frage alleine, würde eine Edelwaschmaschine die Ziele besser erreichen helfen als eine Billigmaschine. Aber erstere kostet wesentlich mehr und vielleicht reicht die günstigere, sodass mit dem eingesparten Geld noch anderes angeschafft werden könnte. Also müssen wir die Frage ergänzen: Wird das Produkt unter Berücksichtigung der Anschaffungskosten dazu beitragen, meine Ziele zu erreichen?

Ist das Ziel lediglich, als Student saubere Wäsche zu bekommen, reicht ein günstiges Modell. Sollten die Umstände aber andere sein, muss z. B. für eine

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achtköpfige Familie gewaschen werden, vom verkleckerten Babylätzchen über das mit Matsch verschmutzte Fußballtrikot bis zu den Seidendessous, die ihren Beitrag zu den sechs Kindern leisteten, sind die Anforderungen an die Waschmaschine und damit die Ziele andere. Sinnvoll wäre es, nun ein Pflichtenheft zu erstellen. In dieses gehören die Anforderungen, die eine neue Waschmaschine auf jeden Fall erfüllen sollte („must have“), sowie jene, die schön wären („nice to have“). Idealerweise werden die Anforderungen gewichtet, also nach ihrer Bedeutung für die Erreichung der Ziele sortiert. Damit wäre das Prognosemodell auch schon fertig, denn es ist im Wesen nichts anderes als ein strukturiertes Entscheidungsverfahren. Anforderungen werden den Kosten gegenübergestellt. Stehen mehrere Waschmaschinen zur Wahl, hilft eine Nutzwertanalyse weiter. Sind die einzubeziehenden Faktoren irrational, wird das Modell komplexer. Werden also nicht zwingend erforderliche Produkte oder Emotionsprodukte angeschafft, beginnen die Schwierigkeiten bereits bei der Formulierung der Ziele. Denn: Welches Ziel wird befriedigt, wenn Sie sich beispielsweise einen Gucci-Pullover für 1100 € (ich habe es recherchiert) leisten? Er wird sich nicht so sehr von anderen Pullovern für vielleicht 110 € unterscheiden. Hier wäre ein Katalog von mess- und überprüfbaren Anforderungen, den wir eben beim Kauf der Waschmaschine noch benötigten, wenig nützlich. Hier geht es um Design, Geschmack, das gute Gefühl, etwas Edles zu tragen und letztlich auch darum, dass es andere bemerken, also um Reputation. Somit kommen zwei Ziele infrage: „Ich möchte mich durch den Besitz des Produktes (das Tragen des Pullovers) gut fühlen und andere beeindrucken“ oder „Ich möchte durch den Kaufvorgang Befriedigung finden“. Die zweite Frage zielt auf etwas ab, worüber wir gerne die Nase rümpfen: Kaufen als Lust. Nicht nur Kaufsüchtige, fast jeder kann dem Akt des Erwerbens etwas abgewinnen. Hierzu gehört die Recherche, das Sichbeschäftigen mit Features, Farben und Funktionen, das Vergleichen und letztlich der Kauf selbst. Dieses triebhafte Verhalten entzieht sich aber der Prognose, so, wie es auch sinnlos wäre, wenn ein Drogensüchtiger vorhersagen sollte, ob der nächste Schuss ihn befriedigen wird. Er kennt die Spirale. Aber die erste Frage ist sinnvoll und kann in Form einer Prognose behandelt werden. Wird der Kauf des Produktes (des Pullovers) unter Berücksichtigung der Anschaffungskosten meine Lebenszufriedenheit erhöhen?

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Was wären die Einflussfaktoren, mit denen das gute Gefühl und die Reputation einhergeht, etwas zu besitzen? Sachliche Qualität spielt sicherlich eine Rolle, denn würde der Pullover beim ersten Tragen bereits Fäden ziehen, bliebe allenfalls Ärger. Exklusivität durch Knappheit, erzeugt durch den Preis oder eine andere Form von Angebotsreduzierung, wären wichtig, aber auch, dass das Produkt als exklusiv erkannt wird. Ein fettes Logo auf der Brust wäre eine Möglichkeit; Hollister, GAP oder Billabong haben es vorgemacht. Doch ein Gucci-Schriftzug über der Brust wäre vermutlich weniger schick. Aber gar kein Logo? Nein, die Kunst ist die unauffällige Auffälligkeit, den Ort zu finden, auf den jeder schaut, um Exklusivität zu entdecken. Zurück zum Prognosemodell: Wie kann gemessen werden, ob der Besitz eines Produktes dazu führt, dass man sich besser fühlt und andere beeindruckt? Gesucht werden immer noch die Einflussfaktoren, um für diese dann die Inputdaten recherchieren zu können. Leider ist kaum möglich, diese Faktoren zu versachlichen. Selbst wenn wir es versuchen, wird nicht gelingen, die Ursachen eines guten Gefühls zu extrahieren. Vermutlich sind diese auch unstet. Mal benötigt man nichts, um sich toll zu fühlen, mal eine große Portion Eis und dann auch mal ein teures Kleidungsstück. Oft stellen wir auch erst nach dem Kauf fest, dass dieser keine Befriedigung brachte, oder, noch schlimmer, es stellen sich kognitive Dissonanzen ein, die Reue nach dem Kauf. Was bleibt, sind gerade einmal zwei Modelle, die geeignet sein könnten: 1. Intuitive Prognose: Da sicherlich Erfahrungen mit dem Erwerb von emotionalen Produkten vorliegen, ist eine Erinnerung daran wertvoll: „Habe ich durch den Besitz dieses oder jenes Produktes meine Ziele (besser) erreichen können?“ Achtung: Die Formulierung der Frage ist wichtig. Frage ich nach dem Nutzen des Kaufs und nicht nach dem Nutzen des Besitzes, geht es nur um die bereits abgehandelte überflüssige Prognose von Suchtverhalten. Entscheidend ist aber, ob der Besitzt half, die Lebensziele (besser) zu erreichen. Der Schlüssel ist, wie immer bei intuitiven Prognosen, das persönliche Erfahrungswissen. 2. Beratung durch Experten (Freunde): Liegen keine eigenen Erfahrungen vor und gerne auch ergänzend, lohnt es sich, andere Personen im persönlichen Umfeld zu fragen. Diese können meist besser einschätzen als ich selbst, ob ich die oben formulierte Frage positiv oder negativ beantworten kann. Die zugehörigen Forschungen von Epley und Dunning (Freunde können das eigene Verhalten besser einschätzen als man selbst) habe ich

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bereits mehrfach beschrieben. Auf solche Expertenprognosen ist Verlass, wenn die Ratgebenden die Situation einschätzen können, weil sie mich lange genug kennen. Erforderlich ist stets, dass sie sich präzise an die Frage halten und nicht etwa einen Austausch der Fragestellung vornehmen und z. B. überlegen, ob ihnen selbst der Pullover gefällt oder sie neidisch sind. Beide Modelle basieren im Wesentlichen auf unbewussten Einflussfaktoren. Inputdaten sind Erfahrungswerte, genau genommen Analogien. Alle anderen Modelle erfordern aber bewertbare Faktoren, für die ein Messen, Zählen oder Wiegen möglich wäre. Doch gibt es noch einen anderen Weg, eine Entscheidung auch ohne explizite Prognose vorzubereiten: Dafür nutzen wir das Konzept der Transitivität. Das Konzept der Transitivität als Ersatz für eine Prognose Der Begriff der Transitivität ist ein wenig unscharf. Aufs Wesentliche reduziert bedeutet er, dass wenn A ≥ B und B ≥ C, auch A ≥ C sein muss. Dies lässt sich auf unsere Präferenzordnung für Konsumgüter übertragen: Wenn wir Schokolade (A) lieber mögen als Kuchen (B) und Kuchen (B) lieber mögen als Joghurt (C), mögen wir auch Schokolade (A) lieber als Jogurt (C). Übertragen auf unser Gucci-Pullover-Beispiel hieße das, uns zu fragen, welche Produkte wir noch für 1100 € kaufen könnten. Einen Thermomix z. B., einen Roboterrasenmäher, eine Flasche Wein vom Château d’Yquem, aber auch vier Handtaschen von Michael Kors oder ein paar Schuhe von Manolo Blahnik. Steht die Liste, ließe sie sich sortieren. Es wird also nicht nach dem absoluten Nutzen des Besitzes gesucht, sondern dieser Nutzen in Relation zum Nutzen des Besitzes anderer Güter bewertet. Sinn dieses Vorgehens ist es, eine Nutzenrelation zum Preis herzustellen. Bewertungsgrundlage und damit Quelle der Inputdaten ist die Vorstellung des Besitzes. Ohne Frage ist dies im Wortsinn mangelhaft, aber eine verlässliche Näherung, wenn objektive Maßstäbe fehlen. Vermutlich wird sich sogar zeigen, dass das Gesetz der Transitivität gar nicht immer gilt. Sie mögen z. B. Manolo-Schuhe lieber als Wein und Wein mögen sie lieber als den Rasenmäher, aber Sie mögen trotzdem den Rasenmäher lieber als die Manolo-Schuhe. Dieser vermeintliche Bruch ist häufiger, als Sie glauben. Er entsteht durch situations-, stimmungs- oder fremdbestimmte Präferenzirritationen. Der Gedanke an den Lustkauf überschreibt Vernunft, die aber keineswegs ausradiert wird, sondern sich in den Paarvergleichen des Transitivitätskonzepts Bahn bricht.

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Wie gehen wir mit solchen Brüchen um? Sie zeigen uns, dass die Frage, ob sich der Besitz im Kontext der Kosten zur Erreichung individueller Ziele auszahlt, keineswegs eindeutig zu beantworten ist. Zweifel sind angebracht. Es fallen uns bessere Verwendungsmöglichkeiten für das Budget ein. Was Sie nun aus dieser Erkenntnis machen und wie letztlich Ihre Entscheidung ausfällt, bleibt ganz bei Ihnen. Wie wichtig ist Ihnen der Gucci-Pulli? Oder könnten Sie mit diesem Geld etwas Sinnvolleres anfangen? (Die Nummer des Spendenkontos für das Kinderhospiz Stiftung Bärenherz ist: DE21 5107 0024 0018 1818 00). Beeinflussung durch Werbung bzw. Werbetreibende Werbung ist brachial. Statt sich raffiniert um Aufmerksamkeit zu bemühen, erzwingt sie sie immer lauter, immer häufiger und unter Nutzung immer ausgefeilterer Methoden. Die Logos werden immer größer, die Nutzenversprechen immer dümmer, die Auftritte immer aggressiver, hämmernder, krawalliger, omnipräsenter. Bis zu 3000 Werbebotschaften empfangen wir pro Tag, wird behauptet. Die Superkraft der Werbung ist das Geld. Ca. 26 Mrd. € investieren Unternehmen in Deutschland jedes Jahr in Werbung (Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft e. V.). Das bleibt nicht ohne Nebenwirkungen: Schwächere Signale gehen im allgemeinen Gebrüll unter, wir stumpfen ab, wir verwechseln „häufig“ mit „wichtig“. Ich habe es gezählt: Als Rennradfahrer fahre ich – je nach Kleidung – 42–51 Werbebotschaften durch die Gegend und jede einzelne habe ich bezahlt. Ein Trikot, eine Trinkflasche oder ein Rad zu kaufen, das nicht seinen Hersteller in Form von aufgedruckten Logos in die Welt schreit, ist unmöglich geworden. Im Fußballstadion reicht eine Werbebande schon lange nicht mehr aus und im Fernsehen lassen sich die Produzenten und Sender immer mehr Tricks einfallen, um Werbebotschaften zu platzieren. Und online? Hier üben die Anbieter von Werbeplätzen noch, aber raffinierter scheint die Werbung auch dort nicht zu sein. Doch sind die Werbetreibenden und ihre Handlanger, die Werbe- und Mediaagenturen, sicherlich keine Idioten. Laute und omnipräsente Werbung scheint zu funktionieren, sonst würden die dadurch entstehenden Kosten eingespart werden. Werbung dient dem Zweck, das beworbene Produkt besser zu verkaufen. Durch den Mehrabsatz des Produktes muss so viel erwirtschaftet werden, dass der Mehrgewinn die Mehrkosten, die durch die Werbung anfallen, kompensiert. Das Wohlergehen der durch die Werbung gewonnenen Kunden spielt dabei nur insofern eine Rolle, als dass keine negativen Wirkungen erzielt werden dürfen (Akerloff und Shiller 2016, S. 87 ff.). Kritisch wird diese Grundhaltung, wenn über Wiederholungskäufe, Markenbindung

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und Weiterempfehlung nachgedacht wird. Hierfür ist nicht nur der Verkauf erforderlich, sondern auch, dass der Kunde sich anschließend „gut fühlt“. Auch dies kann mit Werbebotschaften befördert werden, und es ist kein Zufall, dass Kunden nach dem Kauf eines „privaten Investitionsgutes“, etwa eines Autos, Werbung für dieses intensiver anschauen als davor. Doch ob es sich um abverkaufs-, bindungs- oder imagefördernde Werbung handelt, niemals darf ein Konsument alleine gelassen werden. Das gesamte Orchester der Wahrnehmungsverzerrungen und Heuristiken steht für eine Manipulationssymphonie zur Verfügung: die Verfügbarkeitsheuristik, die einen im Supermarkt Persil auswählen lässt, die Ankerheuristik, die ein Sonderangebot (−20 %) besonders günstig erscheinen lässt, der Halo-Effekt, wenn Elke Sommer eine Creme bewirbt, die Bestätigungsverzerrung, wenn die Zahnbürste einen Test gewinnt, das Framing, wenn die Wirksamkeit des Vitaminpräparats angepriesen wird, die narrative Kohärenz, wenn der Turnschuh dazu führt, dass der Berg flacher wird, usw. Bitte glauben Sie der Werbung nicht! Die Creme lässt Ihre Haut nicht 20 Jahre jünger aussehen, außer in den ersten 20 min, der Schiffsfonds wird keine 8 % Rendite bringen, außer dem Banker, der ihn Ihnen verkauft, und das Müsli trägt Sie auch nicht auf den Berg. Doch Werbung darf nicht lügen! Das ist verboten. Aber nur, weil eine Creme „dermatologisch getestet“ wurde, heißt das noch lange nicht, dass der Test auch zufriedenstellend verlief. Ein Test mit 20 Probanden darf als klinischer Test beworben werden, auch wenn das positive Ergebnis auf dem Gesetz der kleinen Zahl und dem Hawthorne-Effekt basieren wird. Und fällt der Test negativ aus, wird er eben wiederholt, solange, bis das Ergebnis passt. Lügen darf Werbung nicht, also muss es die geschickte Formulierung einer Botschaft richten. Und Werbebotschaften zu formulieren, ist eine Kunst. Es ist die Kunst, im Kopf eine Geschichte entstehen zu lassen, die der Adressat sich selbst zu Ende erzählt. George Clooney hält keine Nespressokapsel in die Kamera und preist den Kaffeegeschmack an, nein, er ist es selbst, sein Aussehen, sein vermuteter Erfolg bei Frauen, seine Coolness, wie er den Espresso nippt mit der Botschaft: So kannst du auch sein, wenn du diesen Kaffee kaufst. Werbung manipuliert unsere Prognosen.

Sie beeinflusst dadurch unsere Kaufentscheidung. Ihr entkommen können wir nicht, und es wäre naiv, zu glauben, immun gegen Werbung zu sein, nur weil man schnell wegschaltet, wenn der Werbeblock beim Spielfilm beginnt.

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Der brachialen Kraft der Werbung entgehen wir nicht, sie hämmert auf unsere Präferenzordnung ein, bis auch wir glauben, dieses oder jenes besitzen zu müssen. Schützen können wir uns nicht vor Werbung, aber wenn wir es uns zur Regel machen, bei wichtigen Kaufentscheidungen eine Prognose zu erstellen und uns die Frage stellen, inwieweit der Besitz dazu beiträgt, unsere Ziele zu erreichen, leben wir smarter.

Ein plakatives Beispiel, mit dem ich meine Tirade auf die werbetreibende Industrie abrunden möchte, ist die Einführung von Flatrates. Kunden sollen nicht mehr ihre tatsächlich konsumierten Mengen bezahlen, sondern einen fixen Preis und dann so viel konsumieren können, wie sie möchten. Mobilfunkanbieter bieten Flatrates an, Kabelfernsehanbieter, Internetprovider, aber auch die Deutsche Bahn mit ihren Bahncards, obgleich nur die Bahncard 100 eine idealtypische Umsetzung des Flatrate-Konzepts darstellt. Was hier wirkt, ist die Flatrate-Bias: Im Durchschnitt über alle Kunden wird die Höhe der Flatrate als Angebotspreis so berechnet, dass eine Unternutzung stattfindet. Erstaunlich ist, dass vermutlich fast 100 % der Flatrate-Kunden glauben, durch sie Geld zu sparen, denn sonst hätten sie dieses Angebot nicht angenommen, aber der Gesamtgewinn ist für den Anbieter größer als bei individueller Nutzungsabrechnung. Folglich muss, so ungefähr, die Mehrzahl der Kunden schlechter fahren als zuvor. Diverse Effekte erklären diesen Mechanismus (Lamprecht und Skiera 2006). Flatrates sind deswegen ein gutes Beispiel, weil es hier relativ einfach wäre, die tatsächlichen Produktkosten bei individueller Abrechnung zu kalkulieren und mit der Flatrate zu vergleichen. Die Kostenprognose wäre leicht möglich. Ich habe es für mich gemacht, und ja, ich bezahle eine viel zu hohe Telefonrechnung, weil ich mein Daten- und mein Telefonvolumen bei weitem nicht ausreize. Bequemlichkeit, Versicherung gegen Ausreißer, Taxametereffekt? Ich weiß es nicht. Konsumherden und ihre prognostische Relevanz Wir folgen Moden und Trends. Ganze Medienformate wie Zeitschriften oder TV-Sendungen drehen sich nur darum. Was ist in, was ist out? Es bilden sich Schickimicki-Herden und sie lösen sich wieder auf. Eine Gesetzmäßigkeit ist nicht zu erkennen, und tatsächlich scheint es sie auch nicht zu geben. Denn wären die Mechanismen bekannt, mit denen sich Moden und Trends etablieren ließen, würden sich Unternehmen ihrer sehr viel häufiger bedienen.

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Natürlich versuchen sie es. Sie geben viel Geld für Werbung und noch mehr Geld für redaktionelle Hilfestellungen aus, um Frauen zu erklären und von den Medien erklären zu lassen, welche Jacke/Handtasche/Frisur in der nächsten Saison ein „Must-have“ sei. Für Unternehmen ist das wichtig, denn sie müssen rechtzeitig ihre Kollektionen ordern. Was im Herbst 2019 „Mode“ ist, muss im Winter 18/19 feststehen … oder auch nicht. Denn die Kunden reagieren erratisch. Wann und in welchem Maße sie einem Konsumtrend folgen, ist nach wie vor kaum erforscht. Wir wissen, dass mit schierer Kraft, also sehr viel Werbeausgaben, ein Trend gekauft werden kann. Selten lohnt eine solche Investition, und Trittbrettfahrer, also nachahmende Anbieter, die sich auf den Trendzug aufschwingen, sind nicht nur ärgerlich, sie schöpfen auch einen nennenswerten Teil der Gewinne ab. Nur selten lassen sich die Produkte, die einen Trend ausmachen, patentieren. Und wie schnelllebig selbst Markentrends sind, zeigen in der Modebranche die Umsatzeinbrüche von z. B. Hollister oder Gerry Weber oder, noch deutlicher, die Insolvenzen von René Lezard, Wöhrl, SinnLeffers oder Adler. Es gibt aber auch positive Beispiele für Trends. Sie sind echte Mysterien. Oder gibt es einen nachvollziehbaren Grund, warum der Zauberwürfel, der Tamagotchi oder die Scoubidou-Schnüre trendy wurden? Stets finden wir hier Herdenverhalten mit geringer interpersoneller Interaktion und einem geringen Organisationsgrad. Diese Schickimicki-Herden kommen und gehen. Ihnen als Konsument zu folgen, ist risikoarm. Es gibt ein gutes Gefühl der Sozialisation und, wenn es peinlich wird, fällt der Abschied aus der Herde leicht. Schwieriger ist es, wenn mit der Mitgliedschaft in einer Konsumherde Reputation verbunden ist. Dann ist das Folgen eines Trends eine Verpflichtung (Scharfstein und Stein 1990). Dies betrifft keineswegs nur Konsumherden, sondern auch „Meinungsherden“. Mobbing zum Beispiel: Eine Gruppe koaliert und richtet Spott und Groll gegen eine Person. Zur Gruppe zu gehören, erscheint günstiger, als für die gemoppte Person Partei zu ergreifen. Zu dem guten Gefühl, einer starken Gemeinschaft anzugehören, kommt die vermiedene Gefahr, selbst zur Zielscheibe zu werden. Aber hier entferne ich mich vom Thema, den Konsumherden. Eine prognostische Relevanz haben solche Trends und die ihnen folgenden Herden insbesondere bei repräsentativen Gütern, also den HighInvolvement-Produkten oder den „privaten Investitionsgütern“. Das neu anzuschaffende Auto beispielsweise muss in der sozialen Gruppe, dem Kollegenkreis oder der Nachbarschaft, akzeptiert sein. Es macht sich nicht gut, mit einem Dacia Logan auf den Parkplatz des Golfklubs zu rollen. Aber es adelt, beim nächsten Treffen der Fußballfreunde den neuesten Smoker von Weber einzuweihen.

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Der Online-Handel als Game-Changer? Wir sind immer noch bei der Prognosefrage Wird das Produkt unter Berücksichtigung der Anschaffungskosten dazu beitragen, meine Ziele zu erreichen?

die ich eingangs dieses Kapitels formulierte. Online-Medien können in vielerlei Hinsicht helfen, Inputdaten für eine Prognose zu recherchieren. Erstens ist es leicht, sich einen Überblick über das Produktangebot und die Alternativen zu verschaffen. Bei aller Oberflächlichkeit und trotz aller Einschränkungen ist ein schnelleres und damit billigeres „Scannen“ des Marktes nicht möglich. Zweitens gibt es Expertenrat, z. B. durch die seriösen Warentester (vgl. Abschn. 3.5.4). Drittens gibt es Erfahrungsberichte anderer Kunden, in Blogs, auf Bewertungsportalen oder in organisierten Web-Angeboten. Diese Konsumerfahrungen haben eine höhere Durchschlagskraft auf Absatzzahlen als die klassische Werbung, insbesondere negative Aussagen (Huang und Chen 2006). Aus Sicht der Anbieter ist das kritisch, denn selten dokumentieren die Kritiker ihre ursprüngliche Erwartungshaltung an das Produkt, von dem sie nun enttäuscht sind, und eine direkte Reaktion im Sinne einer Rechtfertigung ist den Anbietern nicht möglich. In Blogs ist das anders. Hier ist es üblich, dass insbesondere Markenhersteller eine aktive Bewirtschaftung vornehmen, indem eigene Mitarbeiter oder beauftragte Agenturen inkognito als Nutzer mitmischen und im Sinne des Anbieters agieren. So üblich es ist, so kritisch ist es auch. Im Kaufhaus oder Fachmarkt weiß ich, dass der Verkäufer seinen Umsatz im Blick hat, wenn er mir zu einem bestimmten Produkt rät. Aber in einem User-Forum ist das nicht so eindeutig. Dennoch: Marktübersichten und Nutzererfahrungen sind die zwei Quellen für Inputdaten, die das Web zur Verfügung stellt und die genutzt werden sollten.

Kleine Kniffe zur Verbesserung von Konsumprognosen Das Wesen der Konsumprognosen im Sinne dieses Kapitels ist es, dass sie für wenig folgenschwere Entscheidungen erstellt werden. Also lohnt auch nur ein geringer Aufwand. Die meisten Methoden zur Verbesserung der Prognose, die ich in diesem Buch vorgestellt habe, verursachen einen solchen Aufwand. Einige aber lassen sich auch spontan anwenden und sie helfen, sich vor allzu sinnlosem Erwerb von High-Involvement-Produkten zu schützen.

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• Rat einholen: Oben habe ich es bereits thematisiert. Das engere soziale Umfeld zu befragen, ist immer eine gute Idee, vor allem, weil gute Freunde besser als man selbst einschätzen können, ob man das Produkt, das man kaufen möchte, anschließend auch tatsächlich wertschätzt bzw. nutzt. • Auf die Spezifität des Produktnutzens achten: Wird das Produkt helfen, meine Lebensziele zu erreichen, auch wenn sich die Umweltbedingungen in der Zukunft anders darstellen als gedacht? Je spezifischer der Produktnutzen ist, desto geringer ist das Spektrum an Lebensumständen, in dem sich dieser Nutzen manifestiert. Kommt es anders, nutzt das Produkt nicht und es entsteht Reue. Ein banales Beispiel: Insbesondere Frauen wird nachgesagt, dass sie gerne Kleidungsstücke kaufen, die ein wenig zu eng sind, damit sie zum Abnehmen anreizen (ob das stimmt, weiß ich allerdings nicht). Gelingt die Diät nicht, passt das Kleidungsstück nicht und der Nutzen ist dahin. Wäre es eine Nummer größer gewesen, hätte es gepasst oder enger gemacht werden können. Die hohe Spezifität der etwas zu engen Hose (z. B.) rächt sich. • Kontraintuitives Denken: Zwingen Sie sich, ein paar Minuten ihrem Kaufdrang zu widerstehen und fragen Sie sich: „Warum sollte ich das Produkt nicht kaufen?“ Gerne können Sie dieser ersten eine zweite Frage anschließen: „Was könnte ich mir von dem Geld stattdessen kaufen?“ Möglicherweise fallen Ihnen Antworten ein, die Sie an dem beabsichtigten Kauf zweifeln lassen oder Sie kommen darauf, dass es besser sei, das Geld für das Alter zurückzulegen. • Pro-Mortem-Methode: Sie versetzen sich in die Zukunft, vielleicht ein Jahr nach dem Kauf des Produktes, das Sie im Visier haben, und überlegen, welche Gründe es dafür gibt, dass der Kauf ein Fehler war. Ähnlich wie beim kontraintuitiven Denken ist das Ziel, die Perspektive zu wechseln. So wird aus unreflektiertem Kaufdrang überlegter Kaufwunsch. Wenn Sie das Produkt dann erwerben, werden Sie vor kognitiven Dissonanzen geschützt sein. Am Ende noch ein Tipp jenseits der Regeln guter Prognostik: Schlafen Sie eine Nacht drüber! Eine Waschmaschine oder einen Gucci-Pullover sollten Sie nicht spontan kaufen. Bei Rennrädern sehe ich das natürlich anders!

5.2.2 „Private Investitionsgüter“ Was „private Investitionsgüter“ sind, haben wir oben bereits ebenso geklärt wie klargestellt, dass der Begriff betriebswirtschaftlich nicht korrekt ist. Dennoch verwenden wir ihn hier, um zu verdeutlichen, dass die Anschaffung

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ein außergewöhnliches Ereignis im Leben ist. Nur alle paar Jahre steht eine solche Kaufentscheidung an. Diese beeinflusst das Haushaltsbudget bzw. das Vermögen wesentlich, sei es durch eine hohe Ausgabe oder durch einen langfristig bindenden Kredit. Die Kaufentscheidung wird sehr gut durchdacht werden. Lust- und Spontankäufe finden sich in dieser Kategorie eher selten. Die Prognosefrage ist abhängig vom anzuschaffenden Gut. Hier möchte ich zwei Arten unterscheiden: • Substitute: Das Gut soll ein anderes ersetzen. Der Nutzen, also im weitesten Sinne der Beitrag zu den Lebenszielen, wurde bisher durch ein anderes Gut erbracht. So ersetzt das neue Haus die alte Wohnung und eine neue Garage ersetzt den bisherigen Laternenparkplatz auf der Straße. Essenziell ist, dass der Nutzen auch bisher schon erbracht wurde und das neue Gut diesen Nutzen „besser“ erbringen soll. • Komplementäre: Das Gut bringt einen neuen Nutzen. Wenn Sie erstmals ein Motorrad anschaffen wollen, um am Wochenende durch das heimische Mittelgebirge zu cruisen und sich den Wind um die Nase wehen zu lassen, ist das ein neuer Beitrag zur Erreichung Ihrer Lebensziele, der bisher von keinem anderen, zu ersetzenden Gut geleistet wurde. Für die Formulierung der Prognosefrage ist diese Unterscheidung wichtig, denn im Falle von Substituten lautet sie Wird das neue Gut so viel nützlicher als das alte sein, um die Kosten des Austauschs zu rechtfertigen?

im Falle von Komplementären aber Wird das neue Gut mein Leben so sehr bereichern, dass sich die Anschaffungskosten lohnen?

Im ersten Falle haben wir einen soliden Vergleichsmaßstab: den Nutzen des bisherigen Gutes. Im zweiten Falle fehlt dieser. „Lebensbereicherung“ ist ein Gefühl und wir können es nicht messen, wiegen oder zählen. Es ist instabil. Welche Prognosemethoden bieten sich an? Für beide Fälle empfehle ich die Nutzwertanalyse. Der Grund ist, dass es keine „privaten Investitionsgüter“ gibt, bei denen nicht eine Vielzahl von Kriterien ins Kalkül gezogen werden müsste, um zu prognostizieren, wie sinnvoll der Kauf sein wird.

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• Bei Substituten ist die Technik zudem einfach, weil die möglichen neuen Güter mit den bisherigen verglichen werden können. Zuweilen bieten sich sogar Varianten des neuen Gutes an, z. B. unterschiedliche Finanzierungsarten. Um die Nutzwertanalyse noch einmal zu zeigen, findet sich am Ende des Kapitels das Beispiel 2 für die Anschaffung einer Garage. Der Sinn des zweifellos aufwendigen Verfahrens ist es, dass es zwingt, sich ausführlich Gedanken über die Einflussfaktoren auf die Zukunft, also die Kriterien, zu machen. Ferner bezieht es alle Inputdaten ein, die verfügbar sind, oder zwingt dazu, diese zu beschaffen. Es werden qualitative Faktoren (Vorlieben usw.) ebenso berücksichtigt wie quantitative, etwa die Finanzierungsdaten. Schlussendlich liegen Nutzwerte, sogenannte Scores, für jede Entscheidungsalternative vor. Zeigen diese Unterschiede, ist die Alternative mit dem höchsten Score die beste Wahl. Sind die Unterschiede in den Scores gering, sind die Alternativen gleich gut und Sie dürfen würfeln. • Schwieriger ist die Nutzwertanalyse bei den Komplementären, also den „privaten Investitionsgütern“, für die es bisher keine nutzengleiche Güter gab. Bleiben wir bei dem Motorrad. Es wird vielleicht vier Nettomonatsgehälter kosten und ist zu nichts anderem nutze, als dazu, Spaß zu haben. Dieser Spaß kostet also vier Gehälter, zudem die laufenden Unterhaltskosten, die Zeit, die Sie einsetzen müssen und schlussendlich einen Preis für das Risiko, dass Sie einen Unfall haben. Letzteres ignorieren wir hier, es würde die Sache unnötig verkomplizieren. Aber die ersten drei Komponenten sind dem Spaß als nichtberechenbare Nutzengröße gegenüberzustellen; aber womit vergleichen? Zwar wäre denkbar, ähnlich kosten- und zeitintensive Freizeitaktivitäten in einer Nutzwertanalyse mit dem Motorradfahren zu bewerten, etwa Gleitschirmfliegen, Tauchen oder Segeln (siehe hierzu auch die obigen Ausführungen bzgl. Transitivität). Aber vielleicht haben Sie Höhenangst, kein adäquates Gewässer in der Nähe oder schlichtweg nur Lust auf Motorradfahren. Dann ist ein Vergleich sinnlos. Möglich ist dann nur noch der Vergleich mit anderen Verwendungsmöglichkeiten für das Geld und die Zeit. Ein teurer Urlaub, eine Heimkinoanlage oder eine Einbauküche vielleicht. Eine solche Gegenüberstellung ist nützlich, wenn die gleiche Kaufmotivation vorliegt, hier der „Freizeitspaß“ (sofern Sie gerne kochen), aber das Budget nur für eine Anschaffung reicht. Dann wäre die Nutzwertanalyse hilfreich und das Motorrad stünde z. B. im Wettbewerb zur Heimkinoanlage. Ist ein Vergleich nicht möglich, also steht eine Ja-Nein-Entscheidung an, empfehle ich dennoch die ersten Schritte einer Nutzwertanalyse, insbesondere

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das Sammeln und Bewerten von Kriterien. Schauen wir uns noch einmal die Prognosefrage an: Wird das neue Gut mein Leben so sehr bereichern, dass sich die Anschaffungskosten rechtfertigen?

Die Bereicherung, nach der gefragt wird, setzt sich sicherlich aus vielen Kriterien zusammen, und indem wir uns diese vor Augen führen, zwingen wir uns selbst, uns mit ihnen bewusst auseinanderzusetzen. Denn Prognosen für solche teuren, Lebensfreude spendenden Güter werden für eine unsichere Zukunft ersten oder zweiten Grades erstellt. Wir können allenfalls erahnen, ob wir uns zukünftig auch tatsächlich freuen werden. Schauen wir uns das Beispiel 1 hierzu an: Beispiel 1: Anschaffung eines Motorrads Das Vorgehen habe ich in Abschn. 3.5.4 unter Punkt 7 beschrieben. In Tab. 3.4 sind die Arbeitsschritte aufgelistet. Als Erstes ist das Umfeld zur Durchführung zu organisieren, und das heißt hier vor allem, zu entscheiden, wer an dem Verfahren teilnehmen soll. Das Motorrad ist für Sie alleine, aber sollte Ihr Partner nicht mitreden dürfen? Natürlich wird er Ihnen den Spaß gönnen, aber weil Ihr Partner selbst wenig davon hat, wird er die Kosten und das Risiko relativ höher einschätzen als Sie, der Nutznießer. Der Partner wird auf abstrakter Ebene gönnen, aber im Konkreten Argumente gegen eine Anschaffung vorbringen. Sicherlich ist es aber auch eine gute Idee, persönliche Freunde einzuladen, um bei der Entscheidungsvorbereitung zu helfen. Diese können, wir wissen es nun schon, besser einschätzen als Sie selbst, ob Sie der Typ zum Motorradfahren sind, ob Sie also Ihr neues Spielzeug tatsächlich hinreichend oft aus der Garage holen oder ob Sie nur in die Idee verliebt sind. Vertrauen Sie auf deren Rat, er ist besser als Ihre eigene Einschätzung, die vermutlich von Repräsentativitätsheuristiken (cooler Biker auf dem Highway) oder Priming (der Verkäufer, den Sie schon angesprochen haben, hat seinen Job getan) verzerrt sein wird. Das Prognoseproblem erschöpft sich in der oben formulierten Frage, womit der zweite Schritt erledigt ist. Entscheidungsalternativen, der dritte Schritt, müssen auch keine gesammelt werden. Aber nun geht es los: das Sammeln und Gewichten von Kriterien, den Einflussfaktoren auf die Zukunft. Dies sind der vierte und der fünfte Schritt. Welche sind für die Beantwortung der Prognosefrage relevant? Was beeinflusst, ob das Motorrad das Leben so sehr bereichern wird, dass sich die Anschaffung lohnt?

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Der erste Schritt ist ein Brainstorming. Sie, ob alleine oder mithilfe anderer, schreiben auf, was Ihnen wichtig erscheint. Hier ein Auszug aus einer möglichen Liste: • Gefühl von Freiheit • Spaß an der Technik • Beschleunigung und Kurvenfahren • Gruppenfahrten & Gemeinschaftsgefühl • Mehrtagestouren • Treffen mit Gleichgesinnten • Cool aussehen und jung bleiben • Prestige im Kollegenkreis Aber es gibt noch mehr Kriterien, die vielleicht weniger erfreulich sind, wenn sich erst der Traum im Kopf breitgemacht hat: • Anschaffungspreis • Regelmäßige Unterhaltskosten wie Versicherung und Steuer • Verbrauchskosten für Benzin, Öl und Verschleißmaterial • Kosten für Wartung und Werkstattservices • Zeitaufwand für Werkstattbesuche • Zeitaufwand für Ausfahrten • Langes Gesicht, weil Regen die Ausfahrt verdorben hat • Unfallrisiko • Opportunitätskosten, insbesondere der Zeit, die dann nicht mehr der Familie zur Verfügung steht Diese Liste mag unvollständig sein, dann ergänzen Sie sie, oder sie führt Kriterien auf, die Sie nicht angesetzt hätten. Was folgt, ist die Bewertung. Hierfür benötigen wir eine Skala, z. B. 0 Punkte für „irrelevant“ bis 5 Punkte für „sehr wichtig“. Das Ergebnis könnte wie in Tab. 5.1 dargestellt aussehen, wobei ich hier nur exemplarisch ein paar der Kriterien übernommen habe: Wenn Sie ehrlich waren, haben Sie nun ein recht gutes Bild, was Ihnen tatsächlich wichtig ist. Hilfreich ist, die Tabelle nach Kriteriengewichten zu sortieren. Das Ergebnis zeigt Tab. 5.2. Der Nutzen dieser Liste ist, dass Sie sich einen mentalen Spiegel vor die Augen halten. Sie sehen nun vor sich, welches Ziel Sie mit dem Motorrad zu erreichen versuchen. Werden Sie das schaffen? Wird das Motorrad seinen Zweck erfüllen? Zwei der wichtigsten Faktoren, das „Gefühl von Freiheit“ und die „Faszination von Beschleunigung und Kurvenfahren“ können Sie testen, indem Sie sich ein Motorrad leihen. Das „Prestige“, das Sie sich erhoffen, lässt

5  Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern     249 Tab. 5.1  Kriteriengewichtung für Nutzwertanalyse zur Anschaffung eines Motorrads Kriterium

Gewicht

Gefühl von Freiheit Spaß an der Technik Beschleunigung und Kurvenfahren Gruppenfahrten & Gemeinschaftsgefühl Mehrtagestouren Treffen mit Gleichgesinnten Cool aussehen und jung bleiben Prestige im Kollegenkreis Anschaffungspreis Regelmäßige Unterhaltskosten wie Versicherung, Steuer Verbrauchskosten für Benzin, Öl und Verschleißmaterial Kosten für Wartung und Werkstattservices Zeitaufwand für Werkstattbesuche Zeitaufwand für Ausfahrten Langes Gesicht, weil Regen die Ausfahrt verdorben hat Unfallrisiko Opportunitätskosten, insbesondere der Zeit, die dann nicht mehr der Familie zur Verfügung steht

Tab. 5.2 Sortierung der Kriterien Anschaffung eines Motorrads

nach

Gewicht

für

5 4 5 3 1 2 4 5 4 2 0 1 3 4 3 1 2

Nutzwertanalyse

Kriterium Gefühl von Freiheit Beschleunigung und Kurvenfahren Prestige im Kollegenkreis Spaß an der Technik Cool aussehen und jung bleiben Anschaffungspreis Zeitaufwand für Ausfahrten Gruppenfahrten & Gemeinschaftsgefühl Zeitaufwand für Werkstattbesuche Langes Gesicht, weil Regen die Ausfahrt verdorben hat Treffen mit Gleichgesinnten Regelmäßige Unterhaltskosten wie Versicherung, Steuer Opportunitätskosten, insbesondere der Zeit, die dann nicht mehr der Familie zur Verfügung steht Mehrtagestouren Kosten für Wartung und Werkstattservices Unfallrisiko Verbrauchskosten für Benzin, Öl und Verschleißmaterial

Gewicht 5 5 5 4 4 4 4 3 3 3 2 2 2 1 1 1 0

zur

250     J. B. Kühnapfel

sich aber nicht simulieren oder ausprobieren. Das bleibt ein Risiko. Zumindest wissen Sie nun, dass es Ihnen sehr wichtig ist, also sollte es die Auswahl der Marke und des Typs beeinflussen. Da aber auch die Anschaffungskosten wichtig sind (4 Punkte), sind dieser Auswahl Grenzen gesetzt. Preis und Prestigewert korrelieren meist negativ, Kompromisse sind schwierig zu finden. Eine Harley ist teuer, aber bei einem Chopper von Yamaha werden Ihre Kollegen nur mit den Schultern zucken. Also: Gebraucht kaufen! Das Prognosemodell ist hier zu Ende. Es hat seine Aufgabe erledigt und hilft Ihnen, Ihre Prognosefrage zu beantworten. Eine Ergänzung wäre leicht, wenn Sie sich weiterhin sicher sind, ein Motorrad kaufen zu wollen: Dann würden Sie die gewichteten Kriterien nutzen und die möglichen Kaufoptionen vergleichend bewerten. Es sind die Schritte 6 und fortfolgende, wie sie im Beispiel 2 beschrieben werden. Neben der Nutzwertanalyse werden einige andere Hilfstechniken die Prognose verbessern. Beispielsweise wäre hier die Berücksichtigung des Imparitätsprinzips wichtig, bei dem Sie bewusst die Hoffnung unter- und die Angst übertreiben (Abschn. 3.1). Der beidseitige Puffer! Ich schlage dies im Sinne einer mentalen Kompensation vor, weil anzunehmen ist, dass bei „Träumen“ wie jenen, in denen Sie sich als cooler Biker sehen, die Vorstellungskraft mit Ihnen durchgeht und Sie die Zukunft viel zu rosig sehen. Auch andere Hilfstechniken zielen darauf ab, die Emotionalität zu reduzieren. Neben der Pro-Mortem-Methode lohnt sich hier der Aufwand, de Bonos sechs Denkhüte aufzusetzen oder eine Checkliste zu erstellen, was alles gegeben sein muss, damit die Realität mit Ihrem Traum Schritt halten kann (gutes Wetter, Zeit, die Familie muss den Egotrip akzeptieren, Freunde, eine funktionierende Maschine, Geld, Platz machende Autofahrer usw.). Abzuraten ist in jedem Falle von einer intuitiven Prognose. Sie haben weder Erfahrungswissen noch wäre eine stabile Umwelt gegeben, denn „private Investitionen“ verändern diese, haben also disruptiven Charakter. Beispiel 2: Anschaffung einer Garage Die ersten Schritte sind die gleichen wie im ersten Beispiel: Zunächst wird ein Umfeld zur Durchführung der Nutzwertanalyse geschaffen. Dazu gehören in Anbetracht der Bedeutung der Entscheidung in jedem Falle umfangreiche Recherchen, von den Preisen über baurechtliche Vorschriften bis hin zu technischen und handwerklichen Fragen. Auch kann es sich lohnen, einen Experten hinzuzuziehen, sofern dieser keine Eigeninteressen hegt und Ihnen beispielsweise eine Garage verkaufen möchte. Die Prognosefrage ist: Wird eine neue Art, das Auto unterzustellen, so viel nützlicher sein als der bisherige Laternenparkplatz, so dass die Kosten gerechtfertigt sind?

5  Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern     251

Der dritte Schritt ist die Benennung der Entscheidungsalternativen. Diese sind hier: 1. Beibehaltung des Laternenparkplatzes 2. Carport 3. Fertiggarage Nun werden im vierten Schritt die Entscheidungskriterien gesammelt. Hierbei sollten Personen helfen, die Erfahrung besitzen, um keine Kriterien zu übersehen, die sich im Nachhinein als wichtig herausstellen. In Tab. 5.3 findet sich eine mögliche Liste, die mit Sicherheit unvollständig ist. Die Kriterien werden nun gewichtet. Auch hierfür benötigen Sie eine Skala, z. B. eine von 0 (unwichtig) bis 10 (sehr wichtig). Die Gewichtung kann spontan erfolgen, aber das wäre hier der falsche Weg. Die Anschaffungskosten werden vermutlich sehr viel bedeutender sein als die temporäre Belastung in der Bauzeit. Also empfehle ich hier, auch die relative Bedeutung der Kriterien untereinander zu berücksichtigen. Das Mittel der Wahl ist der Paarvergleich. Es ist ein Hilfsverfahren, das sich in der Praxis hervorragend bewährt hat (Kühnapfel 2014). Hierbei werden immer zwei Kriterien gegenübergestellt und bewertet, welches Kriterium das wichtigere ist, „Kosten oder Unterhalt?“, „Kosten oder Werterhalt?“, „Kosten oder Lager?“ usw. bis hin zu „Optik oder Bauzeit?“ Anschließend wird ausgezählt, wie oft ein jedes Kriterium genannt wurde. Der relative Anteil in Prozent ist dann das Gewicht des jeweiligen Kriteriums. Tab. 5.4 zeigt das Ergebnis: Der sechste Schritt ist nun die Bewertung der jeweiligen Alternative. Auch hier ist eine Skala erforderlich: Inwieweit erfüllt eine Alternative das jeweilige Kriterium? Ich nutze hier einer Skala von 0 bis 10 Punkten. Tab. 5.3  Sammlung von Kriterien zur Auswahl einer Parkoption Kriterium Anschaffungskosten Unterhaltskosten Werterhalt Auto Lagerkapazitäten Genehmigungsaufwand Beziehung zu Nachbarn Optik Grundstück Belastung Bauzeit Weitere

Gewicht

Laterne Note

Erg.

Carport Note

Erg.

Garage Note

Erg.

252     J. B. Kühnapfel Tab. 5.4  Gewichtung der Kriterien mithilfe der Paarvergleichsmethode Kriterium Kosten Unterhalt Werterhalt Lager Genehmgg. Nachbarn Optik Bauzeit Summe

Kos

Unt

Wer

Lag

Gen

Nac

Opt

Bau

Σ

In %

Kos

Kos Wer

Kos Lag Wer

Kos Unt Wer Lag

Kos Nac Wer Lag Gen

Kos Opt Opt Lag Opt Nac

Kos Unt Wer Lag Bau Bau Opt

7 2 5 5 1 2 4 2 28

25 % 7% 18 % 18 % 4% 7% 14 % 7% 100 %

Wichtig ist, dass eine hohe Bewertung immer bedeutet, dass die Option günstig ist. Tab. 5.5 zeigt ein mögliches Ergebnis. Der siebte Schritt ist die Berechnung der jeweiligen Nutzwerte, indem die Bedeutungsgewichte der Kriterien mit den Punktwerten multipliziert und anschließend die Ergebnisse addiert werden (Tab. 5.6). Das Ergebnis zeigt, dass es besser wäre, auch zukünftig auf der Straße zu parken. Der Hauptgrund ist ebenfalls leicht zu erkennen: Es sind die Anschaffungskosten, die drücken. Wären diese weniger relevant, etwa weil genug Geld durch eine Erbschaft zur Verfügung stünde, würden sich in Tab. 5.4 die Kriteriengewichte verschieben und das Ergebnis sähe möglicherweise anders aus. Die Quintessenz dieses Kapitels ist also, dass bei anstehenden Entscheidungen und somit Prognosen für langlebige, privat genutzte Wirtschaftsgüter mit Investitionscharakter eine Nutzwertanalyse empfehlenswert ist, da diese dazu erzieht, das Prognoseproblem von allen Seiten zu betrachten. Die ständige Quantifizierung in den Zwischenschritten verhindert zudem eine Tab. 5.5  Bewertung der Parkoptionen

Kriterium Anschaffungskosten Unterhaltskosten Werterhalt Auto Lagerkapazitäten Genehmigungsaufwand Beziehung zu Nachbarn Optik Grundstück Belastung Bauzeit

Gewicht 25 % 7% 18 % 18 % 4% 7% 14 % 7%

Laterne Note 10 10 1 0 10 2 10 10

Erg.

Carport Note 4 4 3 2 8 7 4 4

Erg.

Garage Note 1 5 10 8 1 5 2 2

Erg.

5  Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern     253 Tab. 5.6  Berechnung der Scores der Parkoptionen

Kriterium Anschaffungskosten Unterhaltskosten Werterhalt Auto Lagerkapazitäten Genehmigungsaufwand Beziehung zu Nachbarn Optik Grundstück Belastung Bauzeit Summe

Gewicht 25 % 7% 18 % 18 % 4% 7% 14 % 7%

Laterne

Carport

Garage

Note

Erg.

Note

Erg.

Note

Erg.

10 10 1 0 10 2 10 10

25 7 1,8 0 4 1,4 14 7 60,2

4 4 3 2 8 7 4 4

10 2,8 5,4 3,6 3,2 4,9 5,6 2,8 38,3

1 5 10 8 1 5 2 2

2,5 3,5 18 14,4 0,4 3,5 2,8 1,4 46,5

voreilige intuitive Prognose, die sich auf keinerlei Erfahrungen stützen könnte und somit wertlos wäre. Auch bietet sich die Chance, andere Personen strukturiert in die Entscheidung einzubinden. Zweifellos verursacht das Verfahren Aufwand und wirkt zuweilen übertrieben. Doch: Es hat sich in der Praxis bewährt.

5.2.3 Ernährung Die Oecotrophologie oder Ernährungswissenschaft tut sich schwer. Die Erforschung der Zusammenhänge und Wirkungen von Nahrung und dem, was der Körper daraus macht, scheint kompliziert. In kaum einer anderen Wissenschaft werden so viele Erkenntnisse revidiert, korrigiert, negiert. Vielleicht liegt das daran, dass Ernährung ein Thema ist, über das jeder gerne spricht und zu dem jeder auch gleich eine Meinung hat. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Medien, die Forschungsergebnisse vermitteln, vorläufige Erkenntnisse zu sehr komprimieren und vereinfachen wollen; dann wird aus einem „… kann unter den Umständen A mit der Eintrittswahrscheinlichkeit B die Wirkung C entfalten“ ein plumpes „das hilft“. Auf jeden Fall nerven die ständigen Korrekturen der Kausalitäten. Tomaten erregen Krebs, ach nein, Eier erhöhen den Cholesterinspiegel oder wirken sich doch nicht aus, ein Glas Rotwein täglich verlängert das Leben oder verkürzt es auch; Goji-Beeren machen schön, Brokkoli macht einen schlanken Fuß. Als Ausdauersportler lese ich jeden Monat in meiner Fachzeitschrift Artikel über Nahrungsmittel, die mich besser machen. Mal ist es der Chia-Samen, der fit macht, mal die Rote Bete, die die Sauerstoffaufnahmefähigkeit erhöht. Bananen sind ein Dauerbrenner, sie zu empfehlen, bringt

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keine Punkte, also muss eine Spezifikation her, und fortan sind nur noch überreife Bananen nützlich. Tatsächlich ist es äußerst anspruchsvoll, eine signifikante Wirkung von Nahrungsmitteln auf den Körper nachzuweisen. Die Wechselwirkungen mit anderem Essen sind kaum erforscht, die Streuungen in der individuellen Fähigkeit, Nährstoffe zu verstoffwechseln, sind groß. Was dem einen guttut, bewirkt beim anderen vielleicht nichts. Hinzu kommen Verzerrungen wie der Hawthorne-Effekt: Sobald eine Testperson weiß, dass an ihr die Wirkung von Acai-Beeren/Bocksdorn/Yacon/Moringa getestet werden soll, wird sie schneller laufen und höher springen. Und selbst wenn ein Effekt gemessen werden kann, ist die Frage, ob dieser auch signifikant ist und reproduziert werden kann (siehe auch die Ausführungen zur „Regression zum Mittelwert“ in Abschn. 4.1). Denken Sie an die Zutaten für eine Prognose, die in Abschn. 3.1 beschrieben wurden: Modell, Inputdaten und … Einflussfaktoren! Welche Einflussfaktoren bewirken welche Wirkung im Stoffwechselsystem? Bei diesen tappen wir oft im Dunkeln, denn die Komplexität des Gesamtsystems macht uns Erkenntnisgewinn schwer. Dennoch scheuen sich Wissenschaftler nicht, Studienergebnisse zu veröffentlichen, bei denen explizit und wissenschaftlich korrekt nur ein einziger Faktor untersucht wurde, z. B. die Menge an Magnesium, die während einer Therapie begleitend verabreicht wird. Wird dieser Faktor verändert (mehr oder weniger Magnesium) und stellt sich eine Veränderung des beobachteten Ergebnisses ein (bessere oder schlechtere Wirkung der Medikamente), haben wir eine Korrelation gefunden und unterstellen auch gleich eine Kausalität. Schon ist die Nachricht und damit die Prognose im Raum: „Magnesium erhöht die Heilungschance!“. Und wenn schon die Prognose der Wirkung von Nahrungsmitteln auf unser Leben kaum möglich ist, wird es beim Thema Diäten nahezu lächerlich. Seit Jahrzehnten beschäftigen sich Wissenschaftler, Unternehmen und Medien mit der Frage, wie wir unser Gewicht reduzieren können. Abnehmen ist eine Massenbewegung. Herden etablieren sich, exklusive (Weight Watchers, Body Change von Detlef Soost, Sophia Thiel usw.) und nichtexklusive (Nachbarn, Kolleginnen, Sportgruppen). Unzählige Web-Angebote konkurrieren miteinander und jedes verspricht, x Kilogramm in y Wochen verschwinden zu lassen. Die Prognosefrage ist hier: Schaffe ich es, mit dem ins Auge gefassten Diätprogramm in einer bestimmten Zeit mein Wunschgewicht zu erreichen?

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Aber diese Frage ist falsch formuliert, denn die Antwort ist immer „Ja“! Sofern das Gewichtsziel körperlich realistisch ist, werden wohl die meisten Diäten zum Erfolg führen. Dass sie das in der täglichen Praxis nicht tun, liegt nicht an den Diäten, sondern an der eigenen Disziplin. Wir kennen den Basismechanismus der Gewichtsreduktion sehr gut: Es ist das tägliche Kaloriendefizit. Wenn Sie mehr Kalorien, genau genommen Joule, verbrennen, als Sie zu sich nehmen, wird Ihr Körper Reserven angreifen: das Fett. Dieses liefert uns pro Kilogramm ungefähr 7000 kal, also genug für etwas mehr als drei Tage bei einem Tagesbedarf von 2200 kal, den eine 35-jährige, mittelgewichtige Büroangestellte haben dürfte. Nimmt sie während einer Diät täglich 1500 kal auf, bleibt ein Defizit von 700 kal. Sie wird also 100 g täglich abnehmen, was sich auf der Waage anders darstellt, denn die Schwankungen pro Tag sind viel größer. Aber langfristig stimmt es: Nach 10 Tagen ist das erste Kilo verschwunden, nach 30 Tagen sind es drei. Hierfür ist von äußerst geringer Bedeutung, wie sich die Nahrung zusammensetzt. Kohlenhydrate, Eiweiße oder Fett, egal, solange das Kaloriendefizit stimmt. Doch so gut dieser recht banale Zusammenhang auch erforscht ist (Sacks et al. 2009), so unattraktiv ist diese Erkenntnis für die Anbieter von Diäten. Was wir daraus lernen, ist, dass für die Prognose des Diäterfolgs die Frage wie folgt lauten muss: Bin ich diszipliniert genug, über den erforderlichen Zeitraum ein Kaloriendefizit zu ertragen?

Das Prognosemodell ist die Beurteilung des eigenen Verhaltens durch einen guten Freund (siehe oben), denn dieser kann meine Disziplinfähigkeit besser beurteilen als ich selbst. Die Einflussfaktoren sind hier überschaubar. Zu den exogenen gehören etwa die Ausrichtung des Diätprogramms auf Sättigung, Sport, die Anzahl außergewöhnlicher Veranstaltungen im Diätzeitraum oder die Bereitschaft der Familie, zu unterstützen. Zu den endogenen Faktoren zählt die persönliche Leidensfähigkeit, die Stärke des Wunsches, abzunehmen oder auch die Bereitschaft, vorübergehend schlechtere sportliche Leistungen erbringen zu können. Zu den Inputdaten zählen Erfahrungswerte, aber eben auch Informationen über die Anzahl der Kalorien von Lebensmitteln. Welche Form der Diät nun gewählt wird, ist nebensächlich. Bei der Prognose des Diäterfolgs ist also nicht die angebotene Diät selbst der Schlüssel, sondern die persönliche Fähigkeit, ein Kaloriendefizit zu ertragen. Ist diese Leidensfähigkeit ausgeprägt, wird „FdH“ oder Intervallfasten ausreichen, ist sie es nicht, bedarf es umfangreicherer Kontrollmechanismen,

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etwa solcher, die eine Herde bietet. Denn wer möchte schon in die tägliche Gewichtsverlaufsliste am Schwarzen Brett der Firma eintragen, dass er schon den dritten Tag in Folge nicht mehr ab-, sondern sogar zugenommen hat? In solchen Fällen kommt als Hilfstechnik der Analyse vergangener Fehler eine besondere Bedeutung zu (Abschn. 3.5.5). Warum war die Diät bislang erfolglos? Was hat dazu geführt, dass die Kalorienbilanz nicht negativ war?

5.3 Prognosen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung Selbstbestimmung ist ein sehr hohes Gut in unserer Gesellschaft. Anders als vielleicht Parteigenossen in Nord-Korea, stammestreue Yanomami-Indianer oder anders, als es der ISS-Besatzung im All möglich wäre, wollen wir den persönlichen Lebensgestaltungsspielraum maximieren. Wir wollen uns frei fühlen, die kostbarste Ressource, die wir haben, die Lebenszeit, den Dingen zu widmen, die uns wichtig sind. Das muss keineswegs immer etwas „Großes“ sein. Zuweilen ist uns wichtig, im Vorabendprogramm „The Big Bang Theory“ oder „Rote Rosen“ zu schauen. Die Freiheit, es tun zu können, ist es, was wir schätzen, denn Freiheit heißt, Alternativen zu haben und sie ergreifen zu können. Diese Freiheit wird eingeschränkt. Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, schränkt uns ein, Regeln der sozialen Koexistenz, etwa sich zu waschen, schränken uns ein, normative Regeln bzw. Gesetze tun es, aber auch die schon mehrfach thematisierte Herde schränkt uns ein. All diese Grenzen sind der Preis für einen Nutzen, den wir erhalten, z. B. das Gehalt und damit die Möglichkeit, Dinge kaufen zu können, Verlass im Umgang miteinander, Sicherheit im Straßenverkehr oder den Schutz der Gemeinschaft. Wir akzeptieren Einschränkungen unserer Freiheit und tauschen diese gegen etwas, was uns nützlich erscheint. Die zentrale Prognosefrage ist dabei stets: Erhalten wir einen akzeptablen Gegenwert für die erlaubte Einschränkung unserer persönlichen Freiheit?

Dass sich diese Frage zuweilen gar nicht stellt, versteht sich von selbst. Wenn wir in das Gefängnis müssen, steht die Freiheit nicht mehr zur Disposition. Ebenso kann uns eine Krankheit oder Verletzung einschränken, das Alter wird uns an vielem hindern, oder die Natur setzt ihre Grenzen. Aber immer

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dann, wenn es Optionen gibt, die mit der Währung „Einschränkung der Freiheit“ erworben werden können, ist die oben formulierte Prognosefrage von Bedeutung. Nachfolgend untersuchen wir Entscheidungs- und Lebenssituationen, in denen unsere Freiheit zur Disposition steht. Wenn wir einen Partner wählen, Kinder bekommen oder an einen Gott glauben, akzeptieren wir Einschränkungen in der Hoffnung, etwas Besseres zu bekommen. Es ist ein Geschäft. Ökonomen nennen diesen Tausch „Trade-off“. Und die Alltagsprognostik kann uns helfen, für die Entscheidung eine Vorhersage zu treffen, mit welcher Eintrittswahrscheinlichkeit der Tausch ein guter oder ein riskanter Deal werden wird. Hierbei kommt es mir als Autor aber nicht darauf an, Ihnen Empfehlungen für Ihre Lebensführung zu geben. Das kann ich auch nicht, und das meine ich wörtlich. Aber ich möchte Ihnen das Instrumentarium der Prognostik und die Gefahren bzw. Fallen, die sie uns stellt, vor Augen führen. Und vielleicht gelingt es mir auch, Ihnen zu helfen, die richtigen Fragen an die Zukunft zu stellen.

5.3.1 Partnerwahl Irgendwann in unserem Leben, und in der Regel sogar mehrmals, stehen wir vor der prognostischen Frage, ob der Partner, den wir ins Auge gefasst haben, der „richtige“ ist. Wir fragen uns das in einer Zeit, in der wir verliebt sind, und wir gehen davon aus, dass wir den Rest unseres Lebens miteinander verbringen werden. In der Mehrzahl aller Fälle geht das schief: Über 50 % der Paare, die die erste Turtelphase bereits überstanden haben, trennen sich wieder! Aber warum ist das so? War es ein Fehler, die Beziehung zu wagen, vielleicht sogar zu heiraten? Haben wir etwas übersehen? Oder war die Grundannahme zu Beginn, eine lebenslange, glückliche, erfüllende und von Liebe und gegenseitigem Respekt geprägte Beziehung zu führen, naiv? Schauen wir es uns an: Ist der ökonomische Blick auf „Partnerschaft“ erlaubt? In nichtwirtschaftswissenschaftlichen Kreisen würde mit dem Begriff Ökonomie unweigerlich „Geld“ verknüpft werden. Es ist populär zu behaupten, dass Betriebswirte, wenn Sie von Kosten, Nutzen oder der Optimierung der Bedürfnisbefriedigung sprechen, versuchen, alles in Euro oder Dollar umzurechnen. Diese Kritik ist Unsinn, denn es zeigt sich oft, dass romantisch verklärte Lebenssituationen wie Glück, Partnerschaft oder Liebe erst durch eine ökonomische Betrachtung zu verstehen und vor allem zu gestalten sind.

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Ohne die ökonomische Brille bleibt unser Handeln zufällig, von situativen Emotionen, ja von hormonellen Schwankungen gesteuert, aber wir wären nicht in der Lage, die positiven Effekte langfristig aufrechtzuerhalten. Und so bliebe Glück zufällig, Liebe eine Sache von ein paar Monaten und Partnerschaft wäre nach anfänglichem Wohlgefühl bestenfalls langweilig. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Gary S. Becker (Becker 1993), aber auch die vielfach ausgezeichnete Sozialwissenschaftlerin Eva Illouz (Illouz 2016) und viele andere Wissenschaftler (Lundberg, Pollak, Shleifer, Rose usw.) haben uns gezeigt, dass es keine Sünde ist, Liebe und Partnerschaft „zu analysieren“. Unisono raten sie uns, Partnerschaft nicht nur als Folge von Liebe zu betrachten, sondern ebenso als Lebensgemeinschaft, die organisatorischen, juristischen und ökonomischen Zwängen unterliegt. Ignorieren wir diese, rächt sich das, und Trennung oder eine zermürbende, die Lebensqualität mindernde Beziehung sind die Folge. Funktionieren Partnerschaften heutzutage nicht mehr? Fast ein Drittel der Ehen in Deutschland werden geschieden. Aber diese Zahl verschleiert die tatsächliche Situation: Zum einen werden die nicht verheirateten, dauerhaften Lebensgemeinschaften nicht erfasst, zum anderen sowohl „frische“ Ehen mitgerechnet als auch jene der Alten. Aber die Scheidungsquote frisch Vermählter ist natürlich sehr gering und viele trennungswillige Alte bleiben verheiratet, weil nach ihrem Empfinden eine Scheidung „nicht mehr lohnt“. Zählen wir also als Grundgesamtheit alle Paarbeziehungen, gleich welchen juristischen Status, die länger als ein Jahr stabil sind, aber noch nicht länger als 40 Jahre bestehen, dann beträgt die Quote der Paare, die sich in diesem Zeitfenster wieder trennen, zwischen 60 und 70 %. Dies jedenfalls ist die Bandbreite von Schätzungen, die ich gefunden habe. Exakte Daten sind hier keine zu bekommen, so sehr das auch verwundern mag. Das heißt: Zwei von drei Paaren werden sich mittelfristig wieder trennen. Also die meisten. Und vermutlich keines hat dies im Anfang wahrhaben wollen. Alle träumten von Dauerhaftigkeit, ja von Ewigkeit: „Bis das der Tod uns scheidet.“ Nun, das Offensichtliche schmerzt. Beziehungsprognosen im Stadium der Verliebtheit taugen nichts.

Dabei ist die Frage, ob eine Beziehung gescheitert ist, letztlich eine Frage des Messsystems. Wann ist denn eine Beziehung „gut“ oder „schlecht“?

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Tatsächlich messen Wissenschaftler die Qualität einer Partnerschaft in Jahren ihres Bestehens. Das tun wir im Alltag auch: Trennen sich Partner, dann gilt die Beziehung als gescheitert. Die lebenslange Gemeinschaft ist das Idealmodell und der Maßstab für Beziehungsqualität; wer sich früher trennt, hat das Ziel nicht erreicht.

Das ist fatal: Einerseits gehen somit katastrophal verlaufende Beziehungen von Partnern, sie sich schon lange nichts mehr zu sagen haben und bei denen stilles Ertragen bzw. Kapitulation die Zuneigung verdrängt hat, als positive Beispiele in die Statistik ein, andererseits diskreditieren wir Paare, die sich nach vielen schönen Jahren bewusst entscheiden, sich zu trennen. Das Standardmodell der lebenslangen Partnerschaft bewirkt, dass jede vorzeitige Trennung als Misserfolg gewertet wird. Aber ist sie das? Was wäre denn stattdessen ein besseres Maß für eine funktionierende Partnerschaft? Diese Frage ist entscheidend für die Prognosefrage, die wir uns stellen. Sie lautet nämlich nicht, „Könnte diese Person der lebenslange Partner sein, den ich suche“, denn wer weiß, als was für eine Niete sie sich im Laufe der Jahre erweist. Also benötigen wir ein anderes Beziehungsziel, um die richtige prognostische Frage zu stellen. Die Messung von Beziehungsqualität und der Wandel der Bindungsmotive In „früheren Zeiten“, wann immer diese auch waren, waren Paarbeziehungen Versorgungsgemeinschaften. Es galt, die Lasten des Lebens gemeinsam zu schultern und in der kirchlich-gesellschaftlich sanktionierten und kontrollierten Paargemeinschaft den nicht hinterfragten Auftrag, Kinder zu bekommen und großzuziehen, zu erfüllen. Gesellschaftliche Normen regelten die Partnerwahl. Beziehungsanbahnung, das Leben als Paar und der Erfolg als Paar waren öffentlich. Und „heute“? Heute ist das Hauptbindungsmotiv die Liebe. Eine Paarbeziehung ohne diese wird belächelt. Niemand traut sich – jedenfalls nicht in unserem Kulturkreis – zuzugeben, einen Partner wegen seines gut gefüllten Bankkontos oder weil er viel erben wird gewählt zu haben. Solche vormals legitimen Motive der Partnerwahl sind zu verbotenen, mindestens aber zu irrelevanten Motiven geworden. Stattdessen gilt eine Beziehung als erfolgreich, solange die Partner sich lieben. „Wir haben uns getrennt, weil wir uns nicht mehr lieben“ ist ein allgemein akzeptierter Trennungsgrund.

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Aber Liebe als Bindungsmotiv ist kritisch, denn sie verändert sich im Laufe einer Partnerschaft. Aus der anfänglichen Schwärmerei (Überbetonung von vermuteten und erhofften positiven Eigenschaften) wird ein Verliebtsein („Schmetterlinge“), im günstigen Fall Liebe und schlussendlich innere, tiefe Vertrautheit. Beide Partner entwickeln sich in ihrer Eigenschaft als Beziehungsteilnehmer, oder, wie wir umgangssprachlich sagen: „Die Partnerschaft“ entwickelt sich. Auf diesem Weg wäre es jedoch allenfalls Zufall, wenn die Wandlung der emotionalen Einordnung dieser Beziehung durch beide Partner, die die Beziehung natürlich im individuellen Kontext erleben, im Gleichtakt verlaufen würde. Denn beide Partner entwickeln sich auch als Individuen weiter. Ihre Bedürfnisse verändern sich unabhängig voneinander. Wenn dies nicht kongruent zur Beziehungsentwicklung verläuft, und hier gibt es keine Kausalbeziehung, dürfte der Normalfall sein, dass eine Beziehung, die im Anfang – als das Verliebtsein noch dominierte – das Epizentrum selbst der Individualität darstellte, mit der Zeit immer mehr mit anderen Zielen konkurrieren wird. Gibt es nun keinen gesellschaftlich-moralischen Druck, der eine Trennung unter Strafe stellt, so wird sie zu einer Handlungsoption, die mit der Option des Zusammenbleibens konkurriert. Tatsächlich überschätzen Menschen die Zeit, die sie in einer Beziehung glücklich waren (MacDonald und Ross 1999). Und, um Ihnen gleich den Zahn zu ziehen: Selbst Kinder verlängern die durchschnittliche Beziehungsdauer nur noch geringfügig (Steinwede und Hess o. Z.). Liebe ist wankelmütig. Sie verliert ihren Schmetterlingscharme und geht in Vertrautheit über. Spätestens dann, wenn die rosarote Brille abgesetzt wurde und sich die Personen weiterentwickelt haben, entdecken sie ihren Partner neu. Die Liebe verbindet dann kaum mehr … aber was tut es dann? Wie sieht unser individuelles Zielsystem, mit dem wir uns so ausführlich in Abschn. 5.1 beschäftigt haben, im Rahmen der Partnerschaft aus? Ist es die lebenslange Gemeinschaft? Ist es die „erfüllende“ Zeit? Sind es die Kinder? Und was ist zu tun, damit das jeweils individuelle Ziel erreicht wird? Die seriöse Beziehungsforschung liefert hier nur vereinzelt Erkenntnisse. „Erfolgsrezepte“ für das Erreichen der Beziehungsziele liefert sie nicht. Wir müssen uns aus Fragmenten ein Bild zusammensetzen, das uns bei der Beziehungsprognose hilft. So wissen wir recht zuverlässig, dass Partnerschaften langfristig glücklicher verlaufen, intensiver sind und länger halten, wenn intellektuelle Ähnlichkeiten bestehen. Auch eine Kongruenz von grundsätzlichen Werten und Einstellungen hilft. „Gleich und gleich gesellt sich gern“ ist günstig, auch wenn „Gegensätze ziehen sich an“ spannender klingt. Suchen Sie einen Partner, der Ihnen in möglichst vielen sozialen Merkmalen ähnelt!

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Nun habe ich mehr oder weniger heimlich einen anderen Maßstab für Beziehungsqualität eingeführt. Statt lediglich die Länge der Partnerschaft als Maß zu verwenden, schrieb ich von „glücklich“, „intensiv“ und auch „lange“. Hier liegt die Crux: Eine Partnerschaft ist meines Erachtens erfolgreich, wenn sie die persönliche Lebenszufriedenheit, also das Glücksempfinden, steigert, eine intensive Verflechtung auf emotionaler und organisatorischer Ebene erlaubt und wenn sie – auch das! – auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet ist. Diese drei Kriterien, von denen zwei nicht eindeutig messbar sind (Glück und Intensität), machen die Qualität einer Partnerschaft aus. Somit wäre für die Prognosefrage: Könnte diese Person jene sein, mit der eine glückliche, intensive und langfristige Partnerschaft gelingt?

Für Sie könnten andere Kriterien wichtig sein. Aber stets geht es über die schiere Länge einer Beziehung hinaus. Das macht Bindungsqualität schlechter messbar, sogar so schlecht, dass das Messinstrumentarium für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar wird, aber führt uns dazu, dass wir über eine mehrdimensionale, bewusste Beurteilung unserer Partnerschaft verfügen: Was ist Ihnen in Ihrer Beziehung wichtig? Schreiben Sie es sich auf, denn das sind die Einflussfaktoren auf die Zukunft.

Die Inputdaten werden vorwiegend nichtquantitativer Natur sein, Gefühle, eigene und Fremdeinschätzungen oder spontane Eindrücke. Aber dieses bewusste sich Auseinandersetzen mit den eigenen Bindungsmotiven und den eigenen Kriterien für Beziehungsqualität nimmt den Schleier des Verliebtseins fort, wenn die Entscheidung ansteht, sich dauerhaft zu binden. Ein Prognosemodell für die Liebe Was uns nun noch fehlt, ist das Prognosemodell selbst. Leider gibt es keines, das sich für diesen Themenbereich anbietet und das auch nur halbwegs in die romantische Vorstellungswelt frisch Verliebter passen würde. Aber es gibt ein Modell, das funktioniert und das im Kern den Scoring-Modellen ähnelt, die ich als Nutzwertanalyse dargestellt habe: das „Matching“.

262     J. B. Kühnapfel Die Ausgangshypothese ist, dass Menschen umso besser zusammenpassen und folglich die Chance umso größer ist, dass sie eine glückliche, intensive und langfristige Partnerschaft führen, desto mehr beziehungsrelevante Merkmale zusammenpassen.

Solche Merkmale sind beispielsweise die Ähnlichkeit von schulischen Leistungen (Lesen, Buchstabieren, Rechnen, Wortschatz und Verständnis) und Intelligenzquotienten (verbaler IQ, Leistungs-IQ und Gesamt-IQ, siehe Pan und Wang 2011), gleiche Einstellungen zu zentralen Lebensthemen, gleiche Meinungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen oder gleiche Vorstellungen über die Zusammensetzung des Freundeskreises und über zentrale Fragen der Lebensgestaltung. Der bereits zitierte Wirtschaftsnobelpreisträger Gary S. Becker sah die gegenseitige Ergänzung bei haushaltsnahen Dienstleistungen als Erfolgsrezept an, also explizit unterschiedliche persönliche Fähigkeiten, aber bei gleichzeitiger Kongruenz von Werten und Einstellungen. Seine Idee war, dass sich Partner, die sich bei den Aufgaben der allgemeinen Lebensführung gegenseitig ergänzen und helfen, nützlich sind. Oft sind soziodemografische Ähnlichkeiten die Voraussetzung für solche Kongruenzen, so z. B. die räumliche Nähe zu Beginn der Beziehung, ein ähnliches Alter oder eine vergleichbare Ausbildung. Diese Merkmale, die wir bei der Nutzwertanalyse noch als Kriterien bezeichneten, sind je nach Präferenz unterschiedlich zu gewichten. Und je besser die „begutachtete“ Person zu Ihnen passt, desto höher ist die Eintrittswahrscheinlichkeit einer glücklichen, intensiven und langfristigen Partnerschaft. Kommt Ihnen dieses Modell bekannt vor? Ja, genau so gehen Partnerschaftsbörsen im Web wie Parship oder Elitepartner vor. Dazu später mehr. Beziehung oder Trennung: Eine Frage des Nutzens Niemand würde offen zugeben, eine Beziehung zu führen, weil sie „nützlich“ sei. Diese Sprache sprechen wir nicht. Aber in Wirklichkeit denken wir exakt in diesen Kategorien. Wir gestalten unser Leben nach dem Aspekt der Nützlichkeit, oder besser: nach der Befriedigung unserer Bedürfnisse. Jede Aktion, jede Handlung, jeder Zustand, jeder Gegenstand, der unsere aktuellen oder langfristigen Bedürfnisse befriedigt, ist nützlich. Wir spiegeln diesen Nutzen an den Kosten und bewerten anschließend, ob der Nutzen diese rechtfertigt. So ist es auch mit der Beziehung: Sie verursacht Kosten, die z. B. im Verzicht auf andere Partner oder in der Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten liegen, und sie bringt Nutzen, z. B. das Gefühl von Geborgenheit

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oder die Teilung von Lasten der Lebensführung. Übersteigen die Kosten den Nutzen, ist eine Trennung günstig für die Maximierung der persönlichen Wohlfahrt. Jedoch sind hier noch die Kosten der Trennung zu betrachten, etwa die monetären durch die Neuanschaffung eines Haushalts, aber auch die nichtmonetären wie die Angst vor der Leere nach der Trennung, die Trauer oder der Aufwand der Wiederanbahnung einer Folgepartnerschaft. Doch es fällt uns sehr schwer, den Nutzen einer Partnerschaft und deren Fortführung zu bewerten. Dafür verantwortlich ist zum einen, dass wir keinen Maßstab für Nutzen und Kosten der gezeigten Art besitzen. Es gibt keine „Nützlichkeitspunkte“, und auch „Geld“ ist nicht geeignet. Also bleibt die Bewertung vage, zufällig, unpräzise. Zum anderen unterliegen wir zahlreichen Wahrnehmungsverzerrungen. Ein Beispiel: In Trennungs(selbst) gesprächen wird oft die gemeinsame Vergangenheit als Grund dafür angeführt, zusammenzubleiben: „All die Erlebnisse … die sprechen doch für die Partnerschaft.“ Ökonomen nennen dies – wie in den Abschn. 3.3.6 und 3.5.1 beschrieben – „versunkene Kosten“. Aber die Frage, ob eine Beziehung weitergeführt werden sollte oder nicht, ist ausschließlich eine Frage der Gestaltung der Zukunft. Vergangener Nutzen und versunkene Kosten sind eben vergangen bzw. versunken und dürfen dabei keine Rolle spielen. Ein Lottospieler wird ja auch keine höhere Gewinnchance bei der nächsten Ziehung der Lottozahlen haben, nur weil er schon seit vielen Jahren erfolglos spielt. Die Prognosefrage wäre somit: Wird meine Lebenszufriedenheit – nach der Trennungsphase – ohne meinen jetzigen Partner höher sein?

Um diese Frage zu beantworten, eignet sich kein Matching-Modell und keine Nutzwertanalyse. Auch unsere Vorstellungskraft reicht nicht aus, denn zukünftige Emotionen wie der Trennungsschmerz, die Leere oder die Chance auf ein neues Verlieben lassen sich nicht verlässlich antizipieren. Die prognostische Frage, welchen Einfluss eine Trennung auf die persönliche Zukunft haben wird, bleibt unbeantwortet. Nicht zuletzt darum bleiben Paare zusammen, bis es „wirklich nicht mehr geht“, bis der emotionale Druck so groß ist, dass er als Leiden wahrgenommen wird. Abmildern kann dies eine Liaison: Kommt ein Dritter ins Spiel, verliebt sich also einer der Partner in eine andere Person, fällt der Ausstieg viel leichter. Das wieder frische Gefühl des Verliebtseins trägt über den Trennungsschmerz hinweg. Der zurückbleibende Partner leidet allerdings doppelt,

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unter der Trennung und unter dem Gefühl, als Mensch durch einen „besseren“ ersetzt worden zu sein. Wird eine Beziehung, und hier bin ich beim Fazit angelangt, als nicht mehr „nützlich“ für die eigene Lebenszufriedenheit eingeschätzt (der Nettonutzen ist negativ), steht eine Veränderung des Beziehungsmodells im Raum. Die Trennung ist eine Option. Die Kosten der Trennung, von den finanziellen über die organisatorischen bis zu den emotionalen, sind kaum im Vorfeld abzuschätzen, der Nutzen sollte nicht in der Eventualoption einer neuen Partnerschaft, sondern im Auflösen der belasteten aktuellen Situation gesucht werden. Aber dafür gibt es noch eine andere Lösung: die Neuverhandlung des Beziehungsmodells. Verhandlung als Modell des Beziehungserhalts Scheint eine Beziehung am Ende ihres Lebenszyklus angelangt, kann statt einer Trennung auch versucht werden, die Partnerschaft durch eine Neuordnung von Rahmenbedingungen zu erhalten. Die Prognosefrage ist: Unter welchen Bedingungen ist die Fortführung der Partnerschaft möglich, so dass ich die Lebenszufriedenheit erreiche, die ich mir wünsche?

Die Fragestellung ist wie immer egozentriert, und dieses Buch ist zu kurz, um Ausnahmesituationen (Pflege eines schwerbehinderten Partners usw.) zu berücksichtigen. Möglich sind bei dieser Prognosefrage zwei Antworten. Erstens kann es sein, dass es keine Bedingungen gibt, dann ist die Trennung unausweichlich. Zweitens ergibt sich ein Katalog an Maßnahmen, welche die Rahmenbedingungen verändern. Einen solchen Katalog wird der Partner möglicherweise auch haben, aber in jedem Falle ist die Veränderung der Bedingungen nur mit einem kooperierenden Partner möglich, denn sonst hätten sie ja schon umgesetzt werden können. Kooperiert der Partner nicht, ist auch in diesem Falle die Trennung unvermeidlich. Die Verhandlungslösung setzt also zielgerichtete Kommunikation zwischen den Partnern voraus, und dass sich beide Partner wünschen, unter bestimmten Bedingungen die Beziehung fort zu führen. Voraussetzung für eine zielgerichtete Kommunikation ist, dass jeder Partner • den wie Kosten erlebten Mangel, den er in der Beziehung empfindet, und • die gewünschte Veränderung, die den Zusatznutzen bringen soll, benennen kann. Das ist schwer! Es verlangt, dass sich jeder Partner mit seiner Situation auseinandersetzt und sie bewusst bewertet. Es verlangt, dass

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sich jeder Partner selbst analysiert und fähig ist, die erlebten Mängel zu artikulieren, die Veränderungswünsche herauszuarbeiten und diese zu priorisieren. „Es passt mir nicht, dass …“ oder „Es wäre schön, wenn …“ reichen hier keineswegs aus, denn solche Aussagen lassen sich nicht bewerten und oft auch nicht priorisieren. Es muss konkreter sein. Ist dieses Modell radikal, weil die Liebe als Partnerschaftsmotiv nicht mehr auftaucht? Nein, die Liebe spielt noch immer eine wichtige Rolle: Sie wird in den meisten Fällen, in denen sich eine Verhandlungslösung anbietet, nicht mehr so empfunden werden wie in den ersten Monaten oder Jahren. Sehr wohl aber ist sie präsent, nämlich in Form einer Nutzenerwartung. Erhofft sich einer der Partner für die Zukunft als Nutzen eben jenes Gefühl der Liebe oder des Verliebtseins, wünscht er sich also in romantischer Verklärung auch nach 12 Jahren Ehe wieder „Schmetterlinge im Bauch“, so ist auch das „nur“ eine Verhandlungsposition. Akzeptieren beide Partner hingegen, dass die Liebe der ersten Zeit Vergangenheit ist und freuen sich über die Möglichkeit, die innige Vertrautheit aufrichtig zu erleben, auch ohne Schmetterlinge, ist eine Verhandlungsbasis vorhanden. Die Chance auf eine zukunftsfähige Neuauflage der Beziehung erhöht den Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung. Partner verhalten sich kooperativer und zugewandter, wenn sie erwarten, dass sich auch der andere so verhalten wird (Jones und Panitch 1971). Diese alte Erkenntnis wird experimentell immer wieder bestätigt, aber in der Lebenspraxis genauso häufig infrage gestellt. Hier dominiert die Angst davor, dass die eigene Gutwilligkeit bestraft wird. Aber ist das eine sinnvolle Basis für ein Weiterführen der Beziehung? Da die Partner vermutlich im Frust der bisher schlecht laufenden Beziehung emotional gefangen sind, Vorwürfe und Anklage erhoben werden und „Du bist …“-Sätze dominieren, kann und wird es sinnvoll sein, einen Moderator für die Beziehungsverhandlung zu engagieren. Aber da dieses Buch ein Buch über Prognosen und kein Beziehungsratgeber ist, breche ich hier ab. Online-Partnerschaftsbörsen Fast 7 Mio. Singles sind in Deutschland im Web in ca. 2500 Partnerschaftsbörsen unterwegs. Manche suchen eine unverbindliche sexuelle Beziehung, viele aber auch den Partner fürs Leben. Ca. 60 % der Mitglieder von Singlebörsen und Partnerschaftsvermittlungen haben Dates, gut ein Drittel finden einen Partner. Parship gibt die Erfolgsquote bei Premiummitgliedern mit 38 % an, Elitepartner sogar mit 42 % (Stiftung Warentest 2016). Je nach Quelle und Studie ist der Anteil der Ehen, die im Web ihren

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Anfang nehmen, 16 % bis zu einem Drittel (Döring 2010). 84 % geben an, mit ihrer Online-Partnerschaft zufrieden zu sein, was höher ist als die Zufriedenheit von Personen mit einer Offline-Partnerschaft (77 %). Die Daten zeigen: Webbasierte Partnerschaftsbörsen funktionieren. Darum ist die Prognosefrage berechtigt: Kann mir die Nutzung des Webs unter Inkaufnahme der Kosten einer Partnerschaftsbörse helfen, einen Partner zu finden?

Partnervermittlungen nutzen das Matching: Ein Algorithmus misst die Passgenauigkeit von Personen aufgrund ihrer Selbstauskunft und eines Persönlichkeitstests bei der Anmeldung. Es werden für jede sinnvolle Konstellation „Matching-Punkte“ vergeben, womit wir bei genau der Methodik sind, die wir als Nutzwertanalyse kennengelernt haben, wobei die Anbieter ihren Kriterienkatalog nicht offenlegen. Werden Personen zusammengeführt oder finden sie sich, wirkt die „Filtertheorie der computervermittelten Kommunikation“: Diese Kommunikation ist zunächst textbasiert, denn die Interessenten schreiben sich Mails. Aussehen, Mimik, biologisches Alter, Gestik, haptische Reaktionen usw. werden nicht oder nur begrenzt (Fotos) berücksichtigt. Kommunikationspartner agieren psychologisch enthemmter, sind also offener, direkter, selbstanalytischer, und Intimität baut sich schneller auf. Bei Konflikten sind sie aber auch verletzender und aggressiver (Bargh und McKenna 2002). Ähnlichkeit (siehe oben) im Ausdrucksvermögen usw. führt dazu, dass die Kommunikationspartner die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Beziehung höher einschätzen. So fördern Web-Partnerschaftsbörsen das Prinzip der Homogamie, bringen also Menschen zusammen, die sich ähneln, in ihren Ansichten, Hobbys, Weltanschauungen, Werten sowie soziodemografischen Merkmalen. Ganz im Sinn von Illouz und Becker. Die Kritik an Web-Partnerschaftsbörsen ist, dass sie ein Kennenlernen „von innen nach außen“ befeuern. Merkmale werden abgeklopft. Aber damit folgen sie genau dem oben beschriebenen Prognosemodell, das zunächst erfordert, dass Einflussfaktoren für eine glückliche, intensive und langfristige Beziehung gefunden und als Merkmale bewertet werden. Wenn das Prognosemodell funktioniert, müsste die Qualität von Beziehungen, die online gestiftet werden, besser sein! Und tatsächlich, sie ist gleich gut oder besser als bei Offline-Partnerschaften (Nice und Katzev 1998).

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Die Studienlage hierzu ist allerdings noch recht dünn, weil die Messung der mehrdimensionalen Beziehungsqualität (Zufriedenheit, Intensität, Langfristigkeit) wie oben bereits ausgeführt schwierig ist und die bei Wissenschaftlern so beliebte Abkürzung, schlicht die Partnerschaftsdauer zu messen, deswegen nicht funktioniert, weil Online-Partnerschaften ein recht junges Phänomen sind. Es gibt keine Historie. Überhaupt: Wir üben den Umgang mit Matching-Mechanismen noch. Zwar gibt es eine jahrzehntelange Erfahrung mit klassischen, karteibasierten Partnerschaftsvermittlungen, und letztlich ist die Eheanbahnung durch die Eltern auch nichts anderes, aber die Nutzung des Webs als Marktplatz der Partnerschaften ist recht neu. Lernen müssen wir beispielsweise, wie wir eine Online-Kontaktanzeige gestalten. Es ist eine Selbstanalyse erforderlich. Wir wissen allerdings schon aus Abschn. 4.2.1, dass eine Einschätzung des eigenen Verhaltens und wohl auch der persönlichen Charakteristika durch eine enge Freundin oder einen engen Freund besser wäre. Zudem verführt der Zweck zu einer taktisch motivierten Selbstdarstellung: Merkmale, Präferenzen oder Fähigkeiten werden übertrieben, „Macken“ oder für wenig günstig gehaltene Eigenschaften untertrieben. Hinzu kommt das Gefühl des Wettbewerbs. Vermeintliche Vorteile in der Einstiegsphase werden dann zu frustrierenden Erfahrungen (Ablehnung) beim ersten Kennenlernen. Und: Portale mit Hunderttausenden oder gar Millionen Mitgliedern bedeuten auch eine gigantische Zahl an Wettbewerbern. Wer sich hier nicht ordentlich präsentiert, wird schnell weggeklickt. Das Fazit: „Wem es [dagegen] gelingt, sich eine spielerische Haltung zu bewahren und immer wieder Abstand zum Geschehen zu gewinnen, kann Online-Dating eher als bereichernde Ergänzung herkömmlicher Kontaktmöglichkeiten erleben“ (Döring 2010, S. 45). Hilfstechniken zur Verbesserung der Partnerschaftsprognose Es mag erstaunen, dass es einem Matching-Algorithmus recht gut gelingt, einen passenden Partner für uns zu finden. Ist die Prognose bzgl. der Partnerwahl also eine, für die Intuition nicht geeignet ist? Es scheint so, denn die Voraussetzungen für eine intuitive Prognose sind nicht erfüllt. Zwar wähnen wir uns als erfahren, aber die persönliche Umwelt wird durch das Hinzukommen eines Partners mit seinen eigenen Wünschen und Zielen instabil. Ferner ist fraglich, ob wir unserem Bauch eine sinnvolle Prognose zutrauen dürfen, wenn wir frisch verliebt sind und angehimmelt werden. Also: Intuition taugt hier nichts.

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Wie ist es mit Ratgebern aus dem engeren sozialen Umfeld? Ein potenzieller neuer Partner wird irgendwann den Freundinnen und Freunden vorgestellt, später auch der Familie. Ob Sie es wollen oder nicht, Ihr Umfeld wird Ihnen Meinungen aufzwingen: „Der passt zu dir“, „die scheint die Richtige für Dich zu sein“, „na, ich weiß nicht“ oder was auch immer. Der spontane Impuls ist die selektive Wahrnehmung und führt damit schnell zu einer Bestätigungsverzerrung: Was uns bestätigt, wird gehört, das andere ignoriert. Tatsächlich aber sollten wir genau zuhören und die spontanen Kommentare hinterfragen. In der Rückfrage liegt der Schlüssel! Freunde können unser zukünftiges Verhalten besser einschätzen als wir selbst, also sollten wir uns die Zeit nehmen, vielleicht in einem späteren Telefonat die spontane Äußerung zu hinterfragen. Haben wir dann ein ungefähres Bild über die Charaktereigenschaften des potenziellen neuen Partners, ist eine gute Selbsteinschätzung wichtig (Abschn. 3.3.1): Passen wir zusammen? Überoptimismus ist hier fehl am Platze. Dinge, die uns zu Beginn stören, werden uns später, wenn sich die rosa Wolken verzogen haben, noch viel mehr stören. Es stört Sie, dass die Auserwählte raucht? Dann gibt es nur drei Optionen: Sie können es ihr abgewöhnen, Sie gewöhnen sich an den Aschenbechergeschmack beim Küssen oder Sie werden sich später noch mehr daran stören. Was glauben Sie, welche Eintrittswahrscheinlichkeit jede dieser Optionen hat? Selbstverständlich führt der Überoptimismus, der bei intuitiven Prognosen zu einer Romantisierung der Zukunft führt (siehe Abschn. 3.5.1), auch zu einer Übertreibung vermeintlich positiver Eigenschaften. In jedem Falle sollten Sie einen Abgleich Ihrer Zielsysteme vornehmen. Im romantischen Sinne tun Sie das ganz gewiss, wenn Sie sich abends auf der Bank am See gegenseitig Ihre Träume erzählen. Aber das meine ich nicht. Ich spreche von Ihren Alltagspräferenzen, von der Zeit, die Ihr Hobby einnimmt, von Ihrem Tagestrott, Ihrem Umgang mit Freunden und Familie, Ihrem Konsumverhalten usw. Sind die Systeme grundsätzlich kompatibel, sollten Sie ihn bzw. sie ganz fest in den Arm nehmen.

5.3.2 Erziehung In Abschn. 2.1 haben wir gedanklich ein Kind in die Welt geschickt. Wir haben uns mit Zukunftswahrscheinlichkeiten im Allgemeinen beschäftigt und speziell mit der Wahrscheinlichkeit, dass eine Geburt in einer berechneten Zeitspanne stattfindet. Nun ist das Kind da, und Sie als Elternteil sind in der Pflicht, es so zu erziehen, dass es sich gut entwickelt.

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Tausende von Ratgebern helfen Ihnen dabei, und nein, ich werde keinen weiteren hinzufügen, denn ich habe von Kindererziehung keine Ahnung (aber einen spannenden und ungewöhnlichen Blick auf das Thema jenseits des Mainstreams liefert Ehrmann 2016). Was ich leisten kann, ist, Ihnen bei dem Versuch zu helfen, die richtigen Prognosefragen zu formulieren und Vorhersagen für anstehende Entscheidungen zu erarbeiten. Eine solche Frage könnte zum Beispiel lauten: Wie erziehe ich mein Kind so, dass es in der Welt zurechtkommt?

In dieser Frage sind zwei „semantische Weichmacher“ enthalten. Zunächst ist recht allgemein von „in der Welt“ die Rede. Präziser und von Ihnen zu leisten wäre eine Eingrenzung auf das soziokulturelle Umfeld. Selbstverständlich sind die Maßstäbe, an denen sich Heranwachsende orientieren, in Saudi-Arabien andere als in Deutschland. In Berlin-Marzahn gelten andere Werte und müssen möglicherweise andere Handlungsmuster erlernt werden als in Hamburg-Blankenese. Eine Eingrenzung auf das Umfeld als Referenz wird Ihnen aber nicht behagen: Als Eltern haben Sie einen höheren Anspruch: Ihr Kind soll „alle Chancen der Welt“ nutzen dürfen und nicht durch welche Grenzen auch immer aufgehalten werden. Ein Gedanke, der dem Pluralismus unserer Kultur entspringt und der z. B. im konservativen Kastensystem Indiens absurd wäre. Der zweite Weichmacher in der Prognosefrage ist „zurechtkommen“. Hier spiegelt sich das Zielsystem der Eltern wider. Natürlich werden Sie wünschen, dass Ihre Kinder ein glückliches Leben führen, und Sie sind bestrebt, hierfür die Grundlagen zu legen. Solche Ziele sind aber nicht operationalisierbar. Sie müssen „heruntergebrochen“ werden. Typisch ist, dass der zukünftige wirtschaftliche Erfolg des Kindes einen Spitzenplatz in der Zielhierarchie einnimmt. „Das Kind soll es einmal gut haben“ wird mit Einkommen und Vermögen assoziiert. Erst an zweiter Stelle folgt das Ziel einer nach üblichen Maßstäben erfolgreichen Familie, also die monogame Partnerschaft mit Kindern. Eltern scheinen sich aber dem ersten Ziel, Geld, eher verpflichtet zu fühlen als dem zweiten, Familie, und messen den Erfolg ihrer Erziehungsleistung tendenziell daran, ob es gelungen ist, dem Kind eine Bildung mit auf den Weg zu geben, die zu auskömmlichem Einkommen führt. Entgleisungen in der Lebensführung des Kindes, etwa Straffälligkeit und Gefängnisaufenthalt, werden als Erziehungsversagen empfunden, wobei eine selbstwertdienliche Verzeihung das negative Gefühl der Eltern mildern kann: „Wir haben alles richtig gemacht, aber dann ist das Kind durch falsche Freunde auf die schiefe Bahn gekommen.“

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Dennoch bleibt es bei der Verantwortlichkeit der Eltern: Sie prognostizieren, sie handeln und sie tragen die ganzheitliche Verantwortung für die Erziehung ihres Kindes. „Äußere Umstände“ und die begrenzten Fähigkeiten von Vater und Mutter wirken wie Restriktionen, aber vermutlich sind Interesse und Engagement der Eltern größere Einflussfaktoren auf den Entwicklungserfolg als z. B. die soziale Herkunft. Wenn dem so ist, wäre die Prognosefrage mit dem „Wie“, also der Suche nach den Einflussfaktoren und richtunggebenden Maßnahmen im Epizentrum, korrekt formuliert. Dann wäre eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Ressourceneinsatz bei der Erziehung und dem Erfolg zu unterstellen. Das heißt allerdings nicht, dass viel Einsatz immer auch einen großen Erfolg verspricht: Wir kennen die Helikoptereltern, die das Maß verloren und die 24-h-Betreuung ihres Kindes als Lebensinhalt definiert haben. Das „Wie“ ist die Suche nach einer hochkomplexen Mixtur sinnvoller Maßnahmen, die mit dem Heranwachsen des Kindes ständig neu orchestriert werden müssen, denn auch das Kind selbst verändert durch seine Entwicklung, Talente und Präferenzen dieses hochdynamische System. Diverse Voraussetzungen werden mitbestimmen, wie ein solches System ausgestaltet werden kann. Eine ist der Erfahrungshintergrund der Eltern, genau genommen ihre Wertung von Erlebnissen, an die sie sich erinnern. Aus Kindheitserinnerungen wird Erfahrungswissen und die Erziehung des Kindes zu einer Kopie der eigenen Erziehung, die allerdings nur aus der damaligen Kindesperspektive interpretiert und unter Nutzung heutiger Maßstäbe nachjustiert wird. Als Expertise darf dies nicht verstanden werden: Nur weil wir alle einmal erzogen wurden, sind wir noch keine Erziehungsexperten. Aber das wollen wir sein, denn unser Anspruch an den Erziehungserfolg hat sich verändert: Während früher möglicherweise die eigenen Fußstapfen maßgeblich waren, der Dachdeckersohn also Dachdecker und die Bäckerstochter Bäckerin werden sollte, streben Eltern heute mehr an: Als Erziehungsideal gilt, das Kind so zu erziehen, dass ihm die Voraussetzungen mitgegeben werden, zu gegebener Zeit selbstbestimmt ein Lebensmodell zu wählen, dass es ihm erlaubt, seine Talente und Präferenzen zu entdecken und einzusetzen.

Das Kind selbst wird erst in einer bestimmten Reifephase in der Lage sein, zukunftsrelevante Entscheidungen zu treffen. Bis dahin, und ich rede hier von den ersten eineinhalb Lebensjahrzehnten, ist es die Aufgabe der Eltern,

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zu steuern und die Entscheidungen zu treffen (und sie dann und wann manipulativ dem Kind unterzuschieben). Was und wie ist im Rahmen von Erziehung zu prognostizieren? Die wichtigste Vorhersage ist die Antwort auf die Frage eines optimalen Mitteleinsatzes, um das Kind im Sinne der Prognosefrage zu fördern. Die Ressourcen sind immer begrenzt, mindestens die Zeit, meist aber auch das Geld oder auch nur die Möglichkeit, das Kind zu Terminen zu chauffieren. Also ist eine Auswahl zu treffen, welche schulischen und außerschulischen Angebote das Kind wahrnehmen sollte. Ballettunterricht oder Klavier, Fußball oder Tischtennis, Pfadfinder oder DLRG? Mir liegen keine Studien vor, die einen Anhaltspunkt dafür liefern könnten, welche Aktivität den größtmöglichen Nutzen hätte. Vielleicht ist es die Vielfalt, das Ausprobieren, das Sichtesten, das Kinder wachsen lässt, vielleicht ist es im Gegenteil die Konstanz, das Sichdurchbeißen, das zu Durchhaltevermögen führt. Das Problem für die Eltern ist, dass es in ihrer jeweiligen sozialen Gruppe viele Meinungen geben wird und noch mehr Einzelbeispiele. Prognosen werden hier schnell durch Verfügbarkeitsheuristiken ersetzt, Beispiele illustrieren nicht mehr, sie werden wie Beweise ins Feld geführt. Gleichzeitig müssen Artikel in Fachzeitschriften („Eltern“ usw.) oder in der Fachliteratur zwangsweise abstrakt bleiben. Die Übertragung der journalistisch herbeierzählten Erkenntnisse auf die eigene Situation ist dann immer nur ein Schlaglicht („Was muss ich tun, wenn mein Kind seinen Spinat nicht mag“). Und das schlechte Gewissen meldet sich, weil das eigene Kind nicht so schön Blockflöte spielt wie die Nachbarstochter, sich nicht für Dinosaurier interessiert und etwas pummelig ist. Doch der eigenen Intuition zu trauen, ist auch kein verlässlicher Weg, denn es gibt kein Erfahrungswissen, dass sich anwenden ließe, außer den verzerrt memorierten Erlebnissen der eigenen Kindheit. Eine Prognose, welches Portfolio aus Aktivitäten das individuell bestgeeignete ist, damit das eigene Kind in der Welt zurechtkommt, erscheint hier unmöglich. Ein Lösungsansatz ist eine Trennung der Entscheidungsebenen. Die langfristigen, zukunftsweisenden Entscheidungen verlangen eine langfristig angelegte Prognose, die sich am Zielsystem der Eltern orientiert. Wird für das Kind beispielsweise wirtschaftlicher Erfolg angestrebt, ist ein Studium eine brauchbare Idee. Entsprechend wird die Schullaufbahn so zu planen sein, dass eine Hochschulzugangsberechtigung erworben werden kann. Hier sind die Prognose und die Entscheidungsfindung noch einfach, weil Ziele, Wege und Maßnahmen geregelt sind. Für andere Erziehungsziele wie die oben angesprochene Familienfähigkeit gibt es keine formellen Anweisungen,

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es gibt keinen regulierten Weg, und die Wirkungsmechanismen und Erfolgsfaktoren sind unklar. Was bleibt? Es bleibt die scharfe Beobachtung des Erfolgs kleiner Schritte. Maßnahmen sollten dann eine begrenzte Wirkung haben und kurzfristig überprüft werden, was sie mit dem Kind machen. Dieses Konzept des „inkrementellen Fortschritts“ (siehe Abschn. 2.2) kennen wir aus vielen Lebensbereichen: Der bewusst handelnde Angler wird immer nur kleine Veränderungen vornehmen und die Wirkung beobachten, der Koch wird nur wenig würzen und seine Bouillabaisse immer wieder abschmecken, und der Roulette-Spieler wird je Coup nur einen geringen Betrag seines Budgets setzen. Ein weiterer Vorteil des Konzepts der kleinen Schritte: Es ermöglicht auch dem Kind, die jeweilige Wirkung zu reflektieren. So gelingt die Mitsprache, die bestenfalls zu einem Gefühl für Eigenverantwortlichkeit führt. Am Rande: Eine denkbare Alternative wären „Erziehungsschulen“. Das noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts unsere Kultur prägende christlich-kirchliche Erziehungsideal mitsamt seinen Angeboten half Eltern, wichtige Prognosefragen rund um die Erziehung ihrer Kinder zu beantworten. Stringenter arbeiteten Erziehungsanstalten in sozialistischen Staaten, und pervertiert wurde und wird dieses Konzept von totalitären Regimen, seien es die Nationalsozialisten damals oder die nordkoreanische Junta heute. Hier werden Eltern komplexe Entscheidungen abgenommen, was die Prognosesicherheit erhöht. Über die Folgen brauche ich hier wohl nichts zu schreiben. Prognosemodell, Einflussfaktoren und Inputdaten Eine der wenigen Prognosefragen im Kontext der Kindererziehung, die sich analytisch behandeln lässt, ist die Frage nach der Schulwahl. Sie hat weitreichende Bedeutung für die Ausbildung in der Form, dass der Besuch eines Gymnasiums alle Optionen für die sich anschließende Ausbildung offenhält, aber der Besuch einer Hauptschule viele Türen schließt. Eine nüchterne Betrachtung der Optionen und der Talente des Kindes wird den Weg aufzeigen. Wie sich im Konkreten die schulischen Leistungen entwickeln, ist schwieriger zu prognostizieren: Zahlreiche Einflussfaktoren wirken sich auf die schulischen Leistungen und die Fähigkeit eines Kindes aus, auch über Mathe und Sachkunde hinaus die Welt zu begreifen und sein eigenes Umfeld zu gestalten. So wurde die Bedeutung von Langeweile für die Entwicklung von Kreativität erforscht, der Einfluss von Sport auf die Ausbildung handwerklichen Geschicks, die Rolle von Freunden und familienfremden Bezugspersonen für gute Noten, die Prägung durch Vorbilder oder auch die Beeinflussung der Entwicklung durch Fernseher, das Internet und Smartphones.

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Gerade der letztgenannte Aspekt zeigt, dass sich Eltern nicht auf Erfahrungswissen verlassen können. Heute 30-Jährige erlebten das Internet anders als ihre Kinder, weder Alexa noch Siri oder Cortana existierten, und das iPhone gab es in Deutschland erst, als sie bereits 20 waren (2008). Heute tragen Kinder die abgelegten Smartphones ihrer Eltern auf. Das Fernsehen beginnt, langweilig zu werden, denn das Web ist spannender. Elektronik verdrängt den Ball, zuweilen sogar schon die Barbie-Puppe. Das ist für Eltern ebenso beunruhigend wie es jeder technische Fortschritt zu jeder Zeit war. Aus Sicht der Prognose von Erziehungsfragen, die keine brauchbaren Instrumente zur Verfügung stellt, deren Einflussfaktoren Legion sind und für die statt Inputdaten nur Beispiele und Meinungen zur Verfügung stehen, bleibt als Ultima Ratio nur, die wichtigen Weichenstellungen (Schulwahl usw.) bewusst und strukturiert anzugehen, die täglichen Schritte aber klein genug zu machen und intuitiv zu entscheiden. Hilfsmethoden zur Prognostizierung von Erziehungsentscheidungen Auch wenn sich außer der Schulwahl wohl alle Erziehungsentscheidungen einer systematischen, analytischen Wirkungsvorhersage entziehen, können wir Anleihen aus der Welt der Prognostik nutzen, um die Erziehung der Kinder nicht dem Zufall zu überlassen. So hatte ich bereits in Abb. 3.3 die Kindererziehung thematisiert und versucht, deutlich zu machen, dass für die unspezifische Zukunft unspezifische Entscheidungen zu treffen sind. Es sind solche, die Raum lassen. Das Konzept der kleinen Schritte (inkrementeller Fortschritt) ist beispielsweise eine Möglichkeit, ständiges Justieren zu erlauben. Weitreichende Entscheidungen sollten sorgfältig durchdacht werden, und dass dabei insbesondere auf kognitive wie narrative Verzerrungen, den Drang, die eigene Geschichte sich in den Kindern wiederholen zu lassen oder falsche Experten zu achten ist, bedarf wohl keiner Erwähnung mehr. Natürlich lässt sich das gesamte Instrumentarium an Hilfsverfahren zur Verbesserung von Prognosen und Entscheidungen nutzen, seien es de Bonos Denkhüte, die Pro-Mortem-Methode oder die bewusste Analyse vergangener Fehler. Wozu immer Sie bereit sind, nutzt. Hilfreich ist auch die positive Form der Verhaltenssteuerung, z. B. das Nudging: Wie kann erreicht werden, dass das Kind von sich aus will, was die Eltern wollen? Das klingt zweifellos nach Manipulation, aber dies ist dem Nutzen gegenüberzustellen, dem Kind das Gefühl zu geben, eine eigene Entscheidung getroffen zu haben.

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Das Fazit: Prognosen für Erziehungsfragen Das Fazit ist enttäuschend. So wichtig Prognosen wären, um existenziell wichtige Fragen bezüglich der Entwicklung eines Kindes zu beantworten, so wenig hat die Prognostik als Methodenwissenschaft zu bieten. Aber die Erziehungswissenschaft ist da keinen Deut besser. Wäre es anders, müssten Pädagogenkinder überdurchschnittlich erfolgreich sein. Dass sie es nicht sind, zeigt, dass die Einflussfaktoren auf die Entwicklung eines Kindes so komplex sind wie jene auf das Wetter: Jenseits der nächsten Tage erscheint alles willkürlich und zufällig. Kinder, die geborgen und geliebt in bestem Elternhause aufwuchsen, entpuppten sich als Verbrecher, Kinder, die unter widrigen Bedingungen aufwuchsen, als Menschen, die einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft leisteten. Sicherlich korrelieren das Einkommen, das Bildungsniveau und die Wertefestigkeit der Eltern mit der Fähigkeit des Kindes, in der Welt zurechtzukommen, aber warum das so ist und wie sich daraus Regeln für die erfolgreiche Erziehung des Kindes ableiten ließen, ist nach wie nicht hinreichend erforscht.

5.3.3 Wie werde und bleibe ich glücklich? Anders als Prognosen zu Erziehungsfragen sind Prognosen zur Verwirklichung des persönlichen Glücks relativ leicht. Das mag auf den ersten Blick verwundern, hängt aber damit zusammen, dass die Einflussfaktoren auf das persönliche Glück vergleichsweise gut erforscht sind (Kühnapfel 2011). Aber was ist „Glück“? Glück – der Begriff und der Versuch einer Definition Die Schwierigkeit, sich im Alltag mit dem Thema Glück zu befassen, ist zunächst die Sprache selbst. Glück wird als Begriff gerne überhöht und meist im Kontext mystischer Verklärung erwähnt. Oft erscheint es uns als göttliche Belohnung, zumindest aber als passives Erleben: „Da habe ich aber Glück gehabt“ bedeutet immer auch, Glück als Geschenk empfangen, aber nicht, es selbst erreicht zu haben. Wenn Glück aber nicht erarbeitet werden könnte, wären diesbezügliche Prognosen nichts anderes als Ratespiele, sozusagen „Glücksspiele“. Glücksforscher jedoch, und hier meine ich ausdrücklich all die seriösen Wissenschaftler etablierter Fakultäten, verstehen unter Glück etwas, was erreicht, erarbeitet und geschaffen werden kann. Womit wir bei der zweiten Schwierigkeit der Annäherung sind:

5  Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern     275

Die Deutungshoheit über das, was glücklich macht, ist an Laien abgetreten worden.

Von Esoterikern über Frauenzeitschriften bis zu Nachmittagsfernsehserien … alle wollen uns lehren, wie Glück geht. In diese Aufzählung muss ich wohl auch unsere Religionen einordnen, die uns ebenso einen Regelkanon diktieren: „Tue dies und lasse jenes und Gott wird dir ein glückliches Leben und/oder eine Eintrittskarte ins Paradies schenken.“ Eine sichtbare Folge dieser Abgabe der Deutungshoheit sind Myriaden von dämlichen Sprüchen zum Thema Glück, gestickt auf Kissen, gedruckt auf Kaffeetassen und auf Facebook gepostet. Besser, als das Thema Glück jenen Naiven zu überlassen, wäre, sich bewusst und im privaten Umfeld damit auseinanderzusetzen. Aber viel zu selten ist Glück Gesprächsthema. Wer unterhält sich schon in der Kaffeepause, auf der Party oder beim Stadtbummel über Glück? Wir haben gelernt, dass dieses Thema „etwas ganz Großes“ ist und trauen uns nicht mehr heran. So gelingt es aber nicht, die äußerst flachen und unnützen Artikel aus der Men´s Health oder der Brigitte einzuordnen, und wir überlassen Volontären in den Redaktionen ein Interpretationsmonopol. Der letzte Aspekt ist die Sprache selbst. Es gibt kein etabliertes Vokabular, um sich über Glück zu unterhalten. Die Semantik wird schnell abstrakt, die Worte sind ungeübt, weil sie im Alltagswortschatz nicht vorkommen. Das hemmt. Selten gibt es ein gemeinsames Verständnis des Wortes Glück. Damit möchte ich anfangen und ich schließe mich den Formulierungen etablierter Forscher auf diesem Gebiet an, die allesamt Glück als nichts anderes sehen als Zufriedenheit. Glück ist das tiefe Gefühl innerer Zufriedenheit mit sich und seinem Leben.

Es geht also um eine Emotion, um einen egozentrischen Blick auf sich selbst und vor allem um innere Zufriedenheit. Diese Definition wirkt entspannend, denn sie nimmt das Mytische und Überhöhte heraus. Innere Zufriedenheit ist als Kernbegriff vermeintlich leichter zu erreichen, zumindest wissen wir eher, wann wir zufrieden sind, denn nur allzu oft verwechseln wir Glück mit einer Impulsemotion und glauben, eine Achterbahnfahrt, ein Karibikurlaub oder der neue BMW machten uns glücklich. Die Prognosefrage ergibt sich ohne Umwege aus obiger Definition:

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Was muss ich tun, um mit mir und (in) meinem Leben zufrieden zu sein?

Diese Fragestellung eignet sich für die großen Weichenstellungen ebenso wie für die kleinen Alltagsfragen. Vor allem gibt die Antwort auf diese Frage allen Entscheidungen im Leben ein Primärziel, die innere Zufriedenheit mit sich und seinem Leben. In Abschn. 5.1 hatte ich es „Topziel“ genannt. Prämissen für Glück Aus der psychologischen Glücksforschung sind uns einige Voraussetzungen bekannt, die zu erfüllen sind, damit uns unsere Handlungen zufrieden machen können: • Motivation: Die erste Voraussetzung ist der Wunsch, glücklich sein zu wollen. Das sollte selbstverständlich sein, alle anderen Haltungen ordnen wir Krankheitsbildern zu. Aber nicht ohne Hintergrund nannte der Konstruktivist Paul Watzlawick eines seiner berühmten Bücher „Anleitung zum Unglücklichsein“: Der Hang zur Selbstzerstörung oder der kindliche Wunsch, andere durch Selbstschädigung bestrafen zu wollen, ist weniger selten als angenommen. • Verantwortung: Die zweite Prämisse ist, anzuerkennen, dass die Verantwortung für die Zielerreichung bei einem selbst liegt. Das bedeutet nicht, die Schuld für alle Einschüsse des Lebens bei sich selbst suchen zu müssen. Unfälle, Krankheiten oder der Bankrott des Arbeitsgebers sind Schicksalsschläge, und der Gedanke, glücklich zu sein, ist vermutlich der letzte, den man in einem solchen Augenblick hat. Aber was nun entscheidend ist, ist die innere Haltung zu diesem Rückschlag. Fragen Sie sich selbst: Ist es möglich, mit einer Schulterverletzung im Krankenhaus liegend, mit Multipler Sklerose oder als Arbeitsloser zufrieden mit sich und seinem Leben zu sein? Ja, ist es, auch, wenn es sehr viel anspruchsvoller ist als in einer Lebenssituation, die frei von Schicksalsschlägen ist. In jedem Falle gilt aber, dass es nur eine Person gibt, die Zufriedenheit erreichen kann: man selbst. Zuweilen vernebelt dies die Umgangssprache: Schon ein „Schatz, du machst mich glücklich“ überträgt die Verantwortung auf den Partner und beinhaltet eine Drohung: „Wenn du dich falsch verhältst, machst du mich unglücklich – du bist dann schuld!“ • Omnipräsenz: Die dritte Prämisse ist das Bewusstsein dafür, dass Glück im Sinne der Zufriedenheit mit sich und seinem Leben eine omnipräsente Emotion ist. Zwar steht sie nicht ständig im Vordergrund, aber im Unterbewusstsein wirkt sie. Zufriedene Menschen erscheinen uns ausgeglichener, stressresistenter, resilienter und sogar hilfsbereiter.

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Umgekehrt wirken unzufriedene Menschen eher negativ auf ihre Umwelt ein, sind aggressiv oder sarkastisch (die Aggressivität des Intellektuellen). Wir können uns der charakterprägenden Kraft des Zufriedenseins nicht entziehen. • Investitionsbereitschaft: Die vierte und letzte Prämisse ist, dass wenn wir etwas verändern wollen, wir Aktionen anstoßen müssen, die Ressourcen erfordern. Eine Veränderung kann auch eine Veränderung der Haltung sein. Auch dann müssen wir etwas tun, mindestens etwas unterlassen, und dies erfordert Aufmerksamkeit und Bewusstheit. Dieser Einsatz ist mit der Investition von Geld und Zeit zu vergleichen, aber anspruchsvoller in der Umsetzung, weil es kein Buchungskonto gibt, das uns bei der Bilanzierung von Aufwand und Nutzen hilft. Aufmerksamkeit ist keine Währung, aber dennoch eine begrenzte Ressource. Messung von Glück Um zu prognostizieren, ob eine Entscheidung uns zufriedener machen wird, benötigen wir ein Messsystem für unser Glücksniveau. Hätten wir so etwas zur Verfügung, ließen sich Erfahrungen ansammeln und Aktivitäten im Kontext ihres Ressourcenbedarfs bewerten: „Tue dies oder jenes und dein Glücksniveau steigt um 4 Punkte.“ Ein solches Messsystem gibt es auf intrapersoneller Ebene nicht. Glück lässt sich so einfach nicht messen. Einerseits nehmen wir die Wirkung von Erlebtem situativ war. Endorphine, Adrenalin oder Serotonin bestimmen unsere spontane Einschätzung, aber die dauerhafte Wirkung, die für die Zufriedenheit ungleich wichtiger ist, lässt sich so nicht bewerten. (Im Gegenteil: Ständige Häppchen für unser Belohnungszentrum können dazu führen, uns langfristig in die Abwärtsspirale zu treiben. Süchtige aller Art wissen, was ich meine.) Andererseits unterliegen wir den vielen Wahrnehmungsverzerrungen, wie sie in Abschn. 3.3 beschrieben wurden. Was wir erleben, ist nicht immer das, was ist. Wir können unser Glücks- und Zufriedenheitsniveau nicht messen. Was nun passiert, ist ein Austausch der Fragestellung. Wir ersetzen die Glücksmessung durch Spaßmessung. Diese gelingt zwar auch nicht präziser, aber je öfter wir „entertained“ werden, lachen, Spaß haben und unsere Lust befriedigt wird, als desto glücklicher wähnen wir uns. Lassen wir uns darauf ein, werden wir unsere Lebensführung und Ressourcen darauf ausrichten. Wir werden Youporn konsumieren, uns einen großen Fernseher kaufen und einen neuen, witzigeren und „bunteren“ Partner suchen. Immer wieder. Zufrieden macht das nicht, aber es bringt Spaß.

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Natürlich ist dies kein binärer Zustand. Nur wenige Exoten werden sich auf die eine oder andere Seite, also die glücklich machende Sinnsuche oder die schiere Spaßkonsumtion, schlagen. Wichtig war mir hier, aufzuzeigen, dass die Unmöglichkeit der Glücksniveaumessung sehr schnell dazu führen kann, auszuweichen. Tatsächlich aber müssen wir die Messung durch eine rein intuitive Analyse ersetzen, und hier ist Intuition gerechtfertigt, denn wir kennen uns selbst gut. Üblicherweise wird dies als „in sich hineinhören“ bezeichnet: Wir messen unsere Zufriedenheit, indem wir in ruhigen, ausgeglichenen Momenten eine Selbstanalyse starten, wohl nicht sehr weit von dem entfernt, was der Android Data auf dem Raumschiff Enterprise auch tut. Messung des Volksglücks Glücksforschung auf volkswirtschaftlicher Ebene hat Tradition. Seit vielen Jahren schon lässt die Deutsche Post wissenschaftlich das Glücksempfinden deutscher Bürger messen (Raffelhüschen und Krieg 2017). International macht dies die OECD (OECD 2017), und ihr geht es auch darum, festzuhalten, dass die auf monetäre Leistungen abzielenden Indikatoren wie das Bruttosozialprodukt einen nur unvollständigen Blick auf die Entwicklung einer Gesellschaft ermöglichen (Osberg und Sharpe 2002). Letztlich geht es hier aber nicht um die Messung des Glücksniveaus der jeweiligen Einwohner, sondern um die Messung von nichtmonetären Errungenschaften, die Voraussetzung für die Zufriedenheit der Bürger sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang, sich die Kataloge von Messkriterien anzuschauen, denn diese repräsentieren die jeweils unterstellten Einflussfaktoren auf das Glücksniveau der Einwohner. Im Falle der Deutschen Post sind die Kriterien: • Einkommen • Wohnraum • Gesundheit • Beschäftigung • Soziales Umfeld • Allgemeine Lebenszufriedenheit Die OECD verwendet einen etwas ausführlicheren Kriterienkatalog: • Wohnraum • Einkommen • Arbeit • Soziales Umfeld

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• Zugang zu Bildung • Umwelt • Ausbleiben von Willkür bei öffentlicher Verwaltung • Zugang zu Gesundheitseinrichtungen • Schutz vor Kriminalität • Allgemeine Lebenszufriedenheit • Work-Life-Balance Als drittes und letztes Beispiel möchte ich gerne den Kriterienkatalog der Enquete-Kommission des Bundestages vorstellen (Deutscher Bundestag 2013). Er ist der ausführlichste, wie auch der Gesamtbericht mit 844 Seiten Umfang nur schwer verdaulich ist. Der Kommission ging es darum, ein System vorzuschlagen, mit dem über monetäre volkswirtschaftliche Algorithmen hinaus der Wohlstand gemessen werden kann. Hier das Ergebnis, das ich nicht kommentieren, aber als Anregung für einen individuellen Katalog wiedergeben möchte: • Materieller Lebensstandard • Zugang zu Arbeit • Qualität der Arbeit • Gesellschaftliche Verteilung von Wohlstand • Soziale Inklusion und Kohäsion • Intakte Umwelt • Verfügbarkeit begrenzter natürlicher Ressourcen • Bildungschancen • Bildungsniveau • Gesundheit • Lebenserwartung • Qualität öffentlicher Daseinsvorsorge • Soziale Sicherung • Politische Teilhabe • Subjektiv von Menschen erfahrbare Lebensqualität • Zufriedenheit Den Kriterien in den drei hier vorgestellten Katalogen wurde ein Messsystem unterlegt. Dies ist wichtig, um die jährlichen Messergebnisse vergleichen und eine Entwicklung erkennen zu können. Bei internationalen Vergleichen gibt es selbstverständlich eine Anpassung der Gewichtung und der Quantitäten, denn (beispielsweise) hat Wohnraum in dem meist warmen Guatemala eine andere Bedeutung als auf Grönland. Die Ergebnisse

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und damit die Antwort auf die Frage, welche Menschen welcher Länder die glücklichsten sind, bitte ich Sie selbst nachzuschlagen. Das Interessante für uns ist nun, dass es gelingt, die Kriterien, die beispielsweise die OECD verwendet, auf das persönliche Glücksmanagement anzuwenden. Genügend Wohnraum zu haben, ein Einkommen, das Freiheiten lässt, eine befriedigende Arbeit und so fort sind zweifellos auch Einflussfaktoren auf die persönliche Zufriedenheit. Wenn Sie also keine bessere Idee haben, verwenden Sie die Kriterien der OECD als persönlichen Zielkatalog, treffen Sie Entscheidungen, die dazu führen, dass Sie diese Ziele in Summe optimieren, und erleben Sie, wie Ihr Glücksniveau steigen wird. Messung des individuellen Glücks Es gibt aber auch eine Reihe von Kriterienkataloge, die aufgestellt wurden, um das persönliche Glücksniveau zu analysieren. Hier möchte ich exemplarisch den von Günter Ruckriegel (Ruckriegel 2007) nutzen: • Familiäre Beziehungen • Befriedigende Arbeit • Soziales Umfeld • Physische und psychische Gesundheit • Persönliche Freiheit • Innere Haltung • Lebensphilosophie • Finanzielle Lage Dieser Katalog beschreibt recht umfassend die Lebensbereiche, deren Ausgestaltung das persönliche Zufriedenheitsempfinden beeinflusst. Hier begegnen wir wieder dem Problem der Messbarkeit, denn z. B. für „persönliche Freiheit“ gibt es kein Maß. Auch dürfte für jeden die Bedeutung der Kriterien unterschiedlich wichtig sein. Aber es gibt ein recht einfaches Verfahren, seinen individuellen „Glückslevel“ zu messen: Zunächst werden die acht Kriterien – und vielleicht kommen in Ihrem Falle noch weitere hinzu – mittels der Paarvergleichsmethode, wie ich sie in Abschn. 5.2.2 am Beispiel der Garagenentscheidung demonstriert habe, gewichtet. Anschließend könnten Sie jeden Sonntagabend die Qualität eines jeden Kriteriums auf einer Skala von 0 bis 10 einschätzen. Aus der Addition der Multiplikationen des jeweiligen Kriteriengewichts mit der Bewertung ergibt sich ein Zufriedenheitsscore. Tab. 5.7 zeigt ein Beispiel. Der kurzfristige Trend wäre hier weniger erfreulich. Ein Tipp zur Bewertung: Vertrauen Sie hier auf Ihre Intuition. Eine Punktevergabe „aus

5  Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern     281 Tab. 5.7  Scoring der wöchentlichen Lebenszufriedenheit

Kriterium Familiäre Beziehungen Befriedigende Arbeit Soziales Umfeld Physische und psychische Gesundheit Persönliche Freiheit Innere Haltung Lebensphilosophie Finanzielle Lage Summe

Gewicht

Woche 1

Woche 2

Woche 3

Wert

Erg.

Wert

Erg.

Wert

Erg.

20 % 10 % 10 %

8 6 4

1,6 0,6 0,4

7 6 4

1,4 0,6 0,4

9 6 5

1,8 0,6 0,5

20 %

6

1,2

6

1,2

6

1,2

10 % 8% 7% 15 %

3 4 5 7

0,3 0,32 0,35 0,95 5,72

2 6 4 7

0,2 0,48 0,28 0,95 5,51

3 2 5 6

0,3 0,16 0,35 0,9 4,81

dem Bauch heraus“ reicht aus, und mit der Zeit werden Sie ein Gefühl für Punkte entwickeln. Sie dürfen auch die Gewichtung der Kriterien (= Einflussfaktoren) später anpassen, wenn Sie merken, dass mit der Zeit und mit Ihrer persönlichen Entwicklung korrespondierend Faktoren wichtiger oder unwichtiger werden. So geben Menschen mit der Heirat persönliche Freiheit auf, und im Zuge einer selbstwertdienlichen Verzeihung wird der Faktor als relativ weniger bedeutsam eingestuft. Später aber, wenn die Schmetterlinge gelandet sind, wird dieser Faktor erfahrungsgemäß wieder als wichtiger eingestuft. Ähnlich der Faktor „Lebensphilosophie“: In jungen Lebensjahren ist diese durchaus vorhanden, und der eigene prognostizierte Weg erscheint wie ein Postulat. Nach den ersten Ernüchterungen neigen wir dazu, die Präsenz einer Lebensphilosophie für weniger wichtig zu halten. Erst in der nächsten Lebensphase, wenn die Kinder groß sind und ausziehen, rückt dieser Aspekt wieder mehr in den Blickpunkt und gewinnt an Bedeutung. Die in Tab. 5.7 dargestellten acht Einflussfaktoren auf das persönliche Glück sind ein Beispiel. Zuweilen werden diese acht Faktoren um einige weitere, individuelle ergänzt. So könnten Sie beispielsweise „Faulenzen“ als weiteren Faktor einbringen oder aber „Gesundheit“ ergänzen, indem Sie „Sportlichkeit“ oder „Aussehen“ hinzunehmen. Mithilfe der Paarvergleichsmethode lässt sich immer wieder überprüfen, wie wichtig die hinzugefügten Faktoren in Relation zu den anderen tatsächlich sind. Mein eigener Katalog an Faktoren enthält beispielsweise meinen Sportlevel, die Balance zwischen

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Arbeit und Freizeit sowie zwei in die Zukunft gerichtete Faktoren, einer davon ist die „Einkommens- und Vermögenssituation nach Pensionierung“. Hier zum Schluss noch ein weiterer Katalog, den das Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt erstellt hat und der einige ergänzende Einflussfaktoren auf das persönliche Glück beinhaltet (Bergheim 2010). Vielleicht inspiriert er Sie. • Arbeitslosigkeit (negativ) • Mentale Gesundheit • Physische Gesundheit • Fernsehen (negativ) • Freunde • Arbeitszufriedenheit • Bildungsniveau • Dankbarkeit • Reflexion des eigenen Glücks • Abwechslungsreiche Aktivitäten • Sinn (im Leben, im Tun etc.) • Schenken, Geben • Anstrengungen, harte Arbeit Was hilft bei der Verbesserung des Glücksniveaus? Der letztgenannte Faktor, der sich auf die Wahrscheinlichkeit bezieht, auch ohne Arbeitseinkommen finanziell nicht zu verarmen, zeigt sehr gut ein Dilemma auf: Ich muss auf heutigen Konsum verzichten und sparen. Heutige Bedürfnisbefriedigung wird gegen zukünftige getauscht, etwas, was Disziplin erfordert. Auch wird zuweilen eine Entscheidung erforderlich sein, welcher Faktor in einer konkreten Situation der wichtigere ist. So können die Pflege der familiären Beziehung und das soziale Umfeld konkurrieren, wenn es beispielsweise um die Frage geht, ob Sie nächsten Samstag mit Ihrer Frau ins Kino oder mit Ihren Fußballfreunden ins Stadion gehen. Dieser Konflikt bedeutet eine Einschränkung Ihrer persönlichen Freiheit, und da Sie bei jeder möglichen Entscheidung einen emotionalen Preis bezahlen, denn eine Partei enttäuschen Sie immer, reduziert sich der Nutzen der Aktivität. Es geht also um die Allokation von Ressourcen und die prognostische Frage, welcher Aspekt wie ausgestattet wird, um den Lebenszufriedenheits-Score langfristig zu entwickeln. Aus den 5,72 Punkten in Woche 1 und dann 4,81 Punkten in Woche 3 soll das Maximum werden, theoretische 10 Punkte! Das Scoringmodell aus Tab. 5.7 hilft dabei, den Kurs zu halten.

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Als ein Schlüssel zum Erfolg werden hierbei zwei charakterliche Fähigkeiten erachtet. Zunächst einmal ist da ein erforderliches Bewusstsein für Strukturen. Dieses hilft, sich vor spontanen Gelüsten zu schützen und eher seltener seinen Weg zu verlassen. Eng damit verknüpft ist die zweite charakterliche Fähigkeit, die in unserem eng verwobenen soziokulturellen System eine immense Bedeutung hat: Disziplin! Von allen Charaktereigenschaften, die helfen, sein Lebensglück zu managen, ist sie die wichtigste. Sie hilft, die knappen Lebensressourcen geschickt zu verteilen, sie hilft, mit den eigenen Bedürfnissen, insbesondere den triebhaften, adäquat umzugehen. Das dritte Glas Wein nicht zu trinken, weil das Auto draußen steht, den Mann mit dem gut aussehenden Nachbarn nicht zu betrügen, das fette Stück Sahnetorte liegen zu lassen und dem unnützen Streit mit dem Chef aus dem Weg zu gehen, obwohl man im Recht ist, zeugt von Disziplin, die in den Einflussfaktor „innere Haltung“ eingeht. Hier sind sich alle Glücksforscher einig: Die wichtigste Charaktereigenschaft für ein erfolgreiches Glücksmanagement ist Disziplin.

Das heißt übrigens keineswegs, jedem Spaß aus dem Weg zu gehen. Unvernunft kann sehr gut tun. Leider wirkt sie nur im Moment befriedigend, aber langfristig könnte sie schaden, spätestens dann, wenn Sie Ihrem sterilisierten Mann Ihre Schwangerschaft erklären müssen. Prognosen für das Glücksmanagement Ein Prognosemodell für das Glücksmanagement stützt sich methodisch auf die Nutzwertanalyse. Die Einflussfaktoren werden erfasst, gewichtet und bewertet. Die Inputdaten sind im Wesentlichen eine intuitive Bewertung der jeweiligen Frage, zur Messung des Fortschritts vergangenheitsbezogen („Inwieweit habe ich in der vergangenen Periode [den Faktor] gefördert?“) und für die Prognose zukunftsbezogen: Welche Verbesserung für [den Faktor] wird es bringen, diese oder jene Aktivität umzusetzen, und wird dadurch [ein anderer Faktor] benachteiligt?

Das Ergebnis ist ein Scoring-Modell, dass die Wirkung von Aktivitäten auf das individuelle Zufriedenheitsniveau ins Bewusstsein rückt. Glück wird somit weniger zufällig, sondern aktiv managebar, so, wie es eine der Eingangsprämissen postulierte.

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Mir ist natürlich bewusst, dass Sie mehr oder weniger heftig den Kopf schütteln. „Glück“ derart in ein analytisches Modell packen zu wollen, widerspricht unserem Empfinden. Darauf ging ich zu Beginn dieses Kapitels ein. Wir haben Begriffe wie eben „Glück“, aber auch „Liebe“ mittlerweile derart vernebelt, dass uns der Umgang mit ihrer praktischen Erfahrung schwerfällt. Glück und Liebe haben dann keine Präsenz mehr, sondern sind nur noch Ziel. Mir geht es darum, Sie zu motivieren, sich Glück sachlich zu nähern. Wenn Ihnen der hier beschriebene Ansatz nicht gefällt, suchen Sie sich einen anderen, aber suchen Sie!

5.3.4 Religion und Glaube Über Religion und Glaube zu schreiben, ist immer heikel. In unserer Gesellschaft haben wir nach den Jahrhunderten bedingungsloser Unterwerfung unter die Doktrin der zwei christlichen Kirchen noch keinen neuen Umgangston gefunden. Neben den extremen Minderheiten der streng Gläubigen und jenen der strengen Atheisten gibt es die große Mehrheit der „irgendwie vielleicht doch“ Gläubigen. Sie können das „Vaterunser“ mitbeten, schauen sich gerne Kirchenbauwerke an und nehmen Folkloredienste der Kirchen (Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen, Firmungen, Trauerfeiern) in Anspruch. Aber nur 10 % selbst der steuerzahlenden Kirchenmitglieder besuchen den Gottesdienst. So eine miese Nutzungsquote haben nicht einmal Fitnessclubs. Diese indifferente Mehrheit spricht nicht gerne über Gott. Irgendwie ist da ein latenter Bezug zum Thema, auch eine gewisse Gottesfürchtigkeit, die zumindest eine unterschwellige Bindung an Gott und Kirche erkennen lässt. Die Kinder werden in den Konfirmanden- oder Kommunionunterricht geschickt, weil es üblich ist. Wir haben es immer so gemacht, und die Häufigkeit, mit der Gewohntes ausgeübt wird, beeinflusst signifikant das zukünftige Verhalten (Ouellette und Wood 1998). Wiederkäuen macht gefügig. So wird auch in den üblichen Talkshows gerne erzählt, die christlichen Kirchen seien kulturstiftend für unser Deutschland, und die grundsätzlichen Werte unseres Zusammenlebens seien die Werte, die uns der Glaube und die Kirche vermittelten. Das mag für einige Werte zutreffen, aber hier handelt es sich meist um Regeln des Zusammenlebens, die sich in so gut wie allen Kulturkreisen unserer Erde etablieren konnten, unabhängig davon, ob und welche Religion dort ausgeübt wird. Aber darüber hinaus macht unsere Gesellschaft gerade die Überwindung christlicher Werte aus. Angefangen mit der Gleichberechtigung der Frauen, die ganz sicher keine

5  Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern     285

Idee der Kirchen war, bis hin zur Idee des Pluralismus, also der Akzeptanz auch anderer Kulturen, Religionen oder sexueller Neigungen in einer Gesellschaft, war es ein hartes Stück Arbeit, sich von der Kirche und ihren Werten zu lösen, um eine Struktur des Zusammenlebens aufzubauen, wie wir sie heute schätzen. Auf individueller Ebene, und ja, ich nähere mich dem Thema Alltagsprognostik, arbeitet die Kirche auch heute noch mit einem seltsam anmutenden Mechanismus: Es werden Regeln aufgestellt, solchen, die sich aus der Bibel ableiten, solche, die mit der Bibel nichts zu tun haben und sogar solchen, die im Widerspruch zur Bibel stehen, deren Befolgung im Diesseits, also während unseres Lebens, erst nach unserem Tode sanktioniert wird. Die Belohnung für ein gottgefälliges Leben erhalten wir im Jenseits, ebenso, wie wir erst dann bestraft werden. Im Zweifel winkt das Fegefeuer, auch heute noch fester Glaubensbestandteil zumindest der katholischen Lehre. Ein skurriler Gedanke, im Jenseits für diesseitige Regelbefolgung belohnt oder bestraft zu werden. Stellen Sie sich bitte vor, Ihr Chef verlangt von Ihnen, zukünftig 60 h die Woche zu arbeiten und verspricht Ihnen dafür mehr Gehalt, den fettesten Firmenwagen und eine eigene Abteilung – aber erst, wenn Sie gestorben sind. Oder der Staat verbietet das Verschicken von WhatsApp-Nachrichten während Sie Auto fahren, aber die Strafe müssen Sie erst nach Ihrem Tod entrichten. Das klingt albern. Aber warum funktioniert es im Falle der christlichen oder der muslimischen Religion? Eine Religion wäre sicherlich glaubhaft, wenn es einen Kausalzusammenhang zwischen Regelbefolgung und Zielerreichung gäbe. Dann wäre es möglich, in religiös motivierte Aktivitäten zu investieren, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, eine intensive, erfüllende Partnerschaft zu führen oder viele Kinder zu bekommen. Umgekehrt wäre es klar, dass ein Regelverstoß dazu führen würde, die eigenen Ziele nicht zu erreichen. Aber in der Praxis sieht es anders aus: Wenn Sie lügen, betrügen, misshandeln oder aggressiv manipulieren, droht Gottes Strafgericht nicht. Kein Blitz fährt vom Himmel, kein Richter lässt Sie zur Salzsäule erstarren, keine Trompeter umkreisen Ihr Haus und lassen die Wände einstürzen. Es bleibt nur die diffuse Angst vor einem Jüngsten Gericht, vor einem göttlichen Richterstuhl, vor einem Himmelstorwächter namens Petrus, der sich Ihre Akte anschaut und Ihnen dann mit einem Blick in Ihre Steuererklärung (keine Kirchensteuer!) den Zugang verweigert. Diese Aspekte machen die Alltagsprognostik im Kontext von Glauben sinnlos. Der gewünschte Zusammenhang von Aktion und Ergebnis ist nicht herzustellen. Schon eine Prognosefrage kann nicht aufgestellt werden, ohne weitreichende Annahmen und Unterstellungen zu treffen. Versuchen wir es:

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Wie kann ich gottgefällig leben, um in den Himmel zu kommen?

So naiv und kindlich diese Frage auf den ersten Blick wirkt, so ist sie doch die zentrale Prognosefrage der meisten Religionen, sogar – mit einigen semantischen und inhaltlichen Anpassungen – jene des Buddhismus und des Hinduismus. Aber die Frage enthält zwei Annahmen, die gravierende Auswirkungen haben: Erstens ist von Gottgefälligkeit die Rede, aber was gottgefällig ist, haben mehrere irdische Instanzen selektiert: Zunächst haben Jesus oder Mohammed „Gottes Wort“ interpretiert, dann jene, die das aufgeschrieben haben (Evangelisten usw.), anschließend jene, die festlegten, was zur verbindlichen „heiligen Schrift“ gehört (die Teilnehmer am Konzil von Nizäa, die Mohammed nachfolgenden Kalifen usw.) und schlussendlich all die Geistlichen, die im Kontext ihrer Zeit Interpretationen und Auslegungen der Inhalte verbindlich festlegten. Was gottgefällig ist und was nicht, wissen wir nicht. Wie bei einem Stille-Post-Spiel wissen wir nur, was als Folge der Interpretations- und Selektionskaskade zeitgeistkonforme Regelvorgabe studierter Kirchenoberhäupter ist. Der zweite zu hinterfragende Aspekt ist der Begriff „Himmel“, oft mit dem Begriff „Paradies“ verwechselt. Er gilt als Ort der unvorstellbaren Glückseligkeit, des Aufgehens in Gott, der Erlösung von allen Leiden. Klar, da wollen wir hin. Der alternative Gedanke, dass mit unserem Tod nichts mehr kommt, unser Bewusstsein erlischt, unser Körper zu einer Handvoll Kohlenstoff verrottet und das Einzige, was bleibt, Erinnerungen der Überlebenden sind, ist scheußlich. Der Glaube an die unsterbliche Seele, das Leben nach dem Tod oder die Wiedergeburt ist tief verwurzelt. Aber letztlich ist es egal: So, wie Sie sich heute nicht an frühere Existenzen erinnern können, so würden Sie sich auch nach einer Wiedergeburt nicht an Ihr heutiges Leben erinnern. Ihre jetzige Existenz ist eine Singularität und mit dem Tod ist sie vorbei. Vermutlich. Dabei bräuchte es einen solchen Mechanismus gar nicht. Im konservativen Protestantismus, z. B. bei den Calvinisten, galt wirtschaftlicher Erfolg im Diesseits als Zeichen des Auserwähltseins, der „Prädestination“. Und auch bei den Juden spielen Himmel, Hölle und Paradies im Sinne eines Nachtodregulariums für wohlgefälliges Verhalten im Diesseits eine untergeordnete Rolle. Geht doch! Weichen wir also die Prognosefrage etwas auf: Was muss ich tun, um in dem Fall, dass es Gott gibt, so zu leben, dass er mich ins Paradies lässt?

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Die Antworten liefern die jeweils in den Religionen bzw. Konfessionen verwendeten Schriften. Das kann anstrengend sein. Für Juden z. B. gelten außer den 10 Geboten noch 603 weitere Regeln, die sich aus dem Alten Testament ableiten. Nun, insgesamt 613 Regeln sind sehr wenige, wenn Sie die schiere Anzahl mit der Zahl unserer weltlichen Gesetze und Paragrafen vergleichen (es sind Zehntausende). Aber die Regeln stammen aus einer weit vergangenen Zeit und muten zum Teil skurril an. Also werden sie dem Zeitgeist entsprechend verändert oder ignoriert. Das machen wir Christen auch gerne, oder ziehen Sie ernsthaft in Betracht, folgende neutestamentarische Regel des Paulus zu akzeptieren? Eine Frau soll sich still und in voller Unterordnung belehren lassen. Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten (1. Brief an Timotheus 2,11-12).

Wir können mit obiger Prognosefrage nichts anfangen, außer wir versuchen, streng konservativ nach der Bibel zu leben, oder wir unterwerfen uns den jeweiligen Bibelauslegungen der studierten Priesterschaft. Dies wäre eine Option, wenn Priester als Experten gelten könnten. Da deren Wissensgebiet allerdings die nicht messbare Mystik ist, in der Kausalitäten den Charakter von Zufällen haben, kann keine Erfahrung aufgebaut werden. Priester sind somit zwar Experten im Zitieren von Bibelversen und katechetischen Verhaltensanordnungen, aber nicht für Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die alleine eine prognostische Relevanz hätten. Für einen Agnostiker, also jemanden, der zwar zweifelt, aber die Existenz Gottes für möglich hält, wäre nun eine dritte Variante der Prognosefrage möglich: Hat ein Gott Einfluss auf meine Zukunft und wie müsste ich mich dann verhalten, um glücklich/zufrieden zu leben?

Diese Frage ist berechtigt. Sie fragt nach der oben geforderten Kausalbeziehung zwischen individuellen Taten und einer Reaktion Gottes. Doch solange solche Reaktionen durch andere Instanzen erfolgen (soziales Umfeld, Arbeitgeber usw.) und das göttliche Strafgericht durch weltliche Gesetzgebung und gesellschaftlich geprägte Verhaltensnormen ersetzt wird, brauchen wir keinen Gott, um unsere Zukunft im Diesseits vorherzusagen. Was bleibt, ist ein Rettungsversuch der Kirchen, wenn sie behaupten, Gott wirke durch andere und nicht direkt. Er schleudere heutzutage keine Blitze mehr vom Himmel. Im Alten Testament war er zwar noch sehr aktiv

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tätig und griff direkt ein, aber auch Gott entwickele sich weiter. Wenn das so ist, brauchen wir Gott aber immer noch nicht, denn dann wäre ausreichend, die Intermediäre göttlichen Willens zu befriedigen. Wenn Gott sich durch die Priesterschaft offenbart, müssen wir nach deren Pfeife tanzen. Wenn Gott sich durch unsere Mitmenschen zeigt, müssen wir deren Reaktionen betrachten. Letzteres tun wir auch! Aber wir vermuten keinen göttlichen Willen dahinter, die rein menschlichen Reaktionsmuster sind schwierig genug. Einen Schritt weiter als die Kirchen gehen die Kreatoren esoterischer Alternativreligionen. Sie streichen Gott und ersetzen ihn durch etwas Größeres, Universales, z. B. das Universum selbst. Dieser Gedanke ist nicht neu, Naturreligionen haben den gleichen Inhalt, und das Universale ist „die Natur“ bzw. „Mutter Gaia“. Ihr Versuch ist, Handeln in Einklang mit etwas Transzendentalem zu bringen, das allerdings wiederum einer Beschreibung bedarf. Die Chance ist, dass sich mit der Zeit ein Kanon von Metaregeln entwickelt, der das Zusammenleben auf diesem Planeten erleichtert. Tatsächlich haben wir diesen schon, z. B. die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Die Vernunft hat die Religion überholt, aber sie befriedigt weder den tief verwurzelten Wunsch der Menschen nach einem Übervater, der schützend seine Hand über uns hält, noch nährt sie die Hoffnung darauf, dass unser Tod nicht das Ende ist. Was bedeutet das nun für die Alltagsprognostik? Prognosen mit religiösem Kontext sind sinnlos. Es lassen sich keine Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge finden, die eine entscheidungsrelevante Vorhersage ermöglichen würden. Das heißt selbstverständlich nicht, dass der Glaube an sich nutzlos wäre. Er mag individuell Trost und Halt geben und im Sinne selbsterfüllender Prophezeiungen nützlich sein. Vielleicht zeigen sich sogar Korrelationen, etwa in der Form, dass je tiefer Glaube verinnerlicht und praktiziert wird, die Widerstandskraft bei Krankheiten steigt. Aber hinterfragen, berechnen, analysieren oder kalkulieren lassen sich solche Zusammenhänge nicht.

5.3.5 Ärzte und andere Heiler In den vorherigen Kapiteln hatten wir es mit diversen Arten von Interaktionspartnern zu tun, die Einfluss auf unsere Zukunft nehmen und die in unserer Prognose zu berücksichtigen sind. Beim Thema Konsum sind es z. B. die Werbung oder „Herden“, bei der Partnerwahl sind es zunächst nur oberflächlich, dann näher bekannte Menschen, bei der Erziehung sind es

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unser Kind sowie die Bildungseinrichtungen, bei der Ernährung und dem Glücksmanagement wir selbst und bei Religion und Glaube Regelsetzer, menschliche (Priester) wie abstrakte (Gott bzw. Götter). Nun haben wir es erstmals mit Experten zu tun. Ärzte und andere Heiler sind ausgebildet. Wir erwarten, dass sie die Mechanismen von Krankheit und Heilung verstehen. Sie sind Experten darin, • zu erkennen, ob wir gesundheitliche Probleme haben, • einzuschätzen, mit welcher Chance eine auszuwählende Therapie in welchem Maße die Probleme löst, • uns ein Bild davon zu vermitteln, wie lange eine Therapie dauert und • welchen gesundheitlichen Status wir anschließend haben werden. Bestenfalls können sie sogar Alternativen aufzeigen und auch deren Erfolgschancen abschätzen. Wir erwarten von Ärzten, dass sie Prognoseprofis sind.

Diese Anforderung erscheint uns berechtigt, denn die grundsätzlichen Anforderungen an eine sichere Prognose mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit einer bestimmten Zukunft sind erfüllt: Ärzte kennen die Ausgangssituation, denn der Mensch und damit die Ursache-Wirkungs-Beziehungen der Pharmakologie und der Therapien scheinen gut erforscht zu sein, sie haben Erfahrungswissen über die Diagnose und die Anwendung von Therapien, eigene oder in Studien dokumentierte, und sie können Konstellationen ergründen, indem sie untersuchen (Anamnese und Diagnose). In der Tendenz stimmt dies auch. Grundsätzlich sind ausgebildete Ärzte eher als wir Laien in der Lage, Krankheiten zu erkennen, Therapien auszuwählen und die Heilungschancen abzuwägen. Das war zu allen Zeiten so. Selbst in der Antike oder dem Mittelalter wurde von Ratsuchenden vermutet, dass der Medicus diese Expertise besitzt. Heute sind wir einige Schritte weiter und lächeln rückblickend über Aderlässe, Pestnasen oder Ziegenkotpillen. Doch vergessen Sie nicht: Schon morgen werden wir über das lächeln, was wir heute „moderne Medizin“ nennen. Und eines Tages werden unsere Nachfahren darüber den Kopf schütteln, weil die Ärzte noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht einmal Erkrankungen wie Alzheimer oder Multiple Sklerose heilen konnten. So hoffe ich.

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Schwierigkeiten einer Heilungsprognose aus Sicht des Arztes Von außen betrachtet scheinen mehrere Einflussfaktoren die Heilungsprognosen von Ärzten schwierig zu machen: Zum einen ist der menschliche Körper keineswegs erforscht. Auf mikrozellulärer Ebene gibt er uns ständig neue Rätsel auf. Wir haben noch nicht einmal den Stoffwechsel vollständig verstanden, und das Leben all der Mikroorganismen in unserem Körper, der Parasiten, Mikroben, aber auch der Bakterien und Viren ist uns fremd. Nur mit beträchtlichem Aufwand können diesem Mysterium Erkenntnisse abgerungen werden. Oft sind diese nicht mehr als Hypothesen oder Trends, denen Ärzte wie eine Herde hinterherlaufen. Soziale Psychosen, das „Multiple Chemical Sensitivity Syndrom“, Lactose-, Fructose- oder Glutenunverträglichkeiten, der Vitamin-D-Mangel, ADHS und auch das beliebte Burn-out-Syndrom sind Krankheitsbilder, die wie eine Mode daherkommen und oft auch wieder verschwinden. Ach ja: Asperger ist das neue Burn-out. Zum anderen ist häufig die pharmakologische Wirkung von Medikamenten, die Wirkung nichtmedikamentöser Therapien und erst recht deren Zusammenspiel unklar. Ungewollte Neben- und Wechselwirkungen treten auf oder auch nicht. Erfolge stellen sich ein oder auch nicht. Als drittes ist eine bedeutsame kognitive Verzerrung festzustellen, die bei der Kommunikation zwischen Ärzten und ihren Patienten eine Rolle spielt: der Halo-Effekt (Abschn. 4.2.1). Das Bildungsgefälle zwischen Arzt und Patienten stört die Kommunikation, der Patient wird sich Rückfragen verkneifen, selbst dann, wenn er nicht versteht, was der Arzt ihm gerade erläutert. Ferner „überzieht“ der Halo-Effekt das Vertrauen in den Arzt. Seine Vermutungen werden so zu Gewissheiten, aus einem „Möglicherweise“ ein „Garantiert“. Dieses Kommunikations- und Wahrnehmungsproblem sollte dem Arzt bewusst sein und er sollte es berücksichtigen. Es liegt hier in der Verantwortung des Experten, sich verständlich auszudrücken und Verzerrungen dieser Art zu korrigieren, denn der Patient bezahlt ihn, wenn auch nur indirekt, für seine Dienstleistung. Ein vierter Aspekt: Ärzte sind nicht unbedingt gute Prognostiker. In ihren Studiengängen spielt die Statistik eine geringere Rolle als beispielsweise bei Psychologen. Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer befasste sich eingehend mit der Frage, wie gut es um die Prognosequalifikation von Ärzten bestellt sei (Gigerenzer 2014). Das Ergebnis war niederschmetternd. Schon im ersten Schritt, der Diagnose, machen sie häufig Fehler. Sie interpretieren Forschungsergebnisse falsch und haben Schwierigkeiten, mit statistischen Effekten wie dem Bayesschen Theorem, der Regression zum Mittelwert, dem Simpson-Paradoxon, dem Will-Rogers-Phänomen usw. umzugehen

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(Kleist 2006). Bei der Therapieverordnung verlassen sie sich viel zu oft auf Pharmareferenten, Wirksamkeitsstudien der Pharmaunternehmen, Schlagzeilen in Ärztezeitschriften und ihre eigene Erfahrung, so begrenzt und überholt sie auch sein mag. Doch unterstellen wir, dass dies alles den Ärzten bewusst ist. Dann bleibt immer noch das Dilemma, dass ihr Auftreten gegenüber den Patienten den Heilungserfolg beeinflusst. Sie können ihre Unsicherheiten und Wissenslücken nicht offen zugeben. Sicherheit, in unserem Sinne z. B. die Aussage des Arztes, dass eine vorgeschlagene Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit wirksam sein wird, wirkt als selbsterfüllende Prophezeiung und bewirkt damit einen Placebo-Effekt, selbst wenn z. B. die pharmakologische Wirkung eines Medikaments nicht gegeben ist. Ehrliche Unsicherheit hat hingegen keine Wirkung, wenn nicht sogar eine negative. Andererseits ist es für den Patienten unmöglich, einzuschätzen, ob eine nicht wirkende Therapie ein Fehler des Arztes war oder, wie der Arzt anführen wird, auf „die Umstände“ zurückzuführen sei. Der Arzt ist also auf der sicheren Seite, wenn er Sicherheit zeigt. Damit stützt er zugleich seinen Nimbus als Experte. Wichtig wird ihm zudem sein, dass er so behandelt, dass ihm hinterher kein Fehler angelastet werden kann. Hier sind vor allem Auslassungen gemeint. Noch nie wurde meines Wissens ein Arzt wegen „Überdiagnose“ oder „Überbehandlung“ angeklagt. Jeder umgeknickte Finger wird in das MRT geschoben, denn eine nicht erkannte und falsch behandelte Verletzung könnte Folgen haben. Und die Kosten? Die trägt die Krankenkasse. Der Patient aber trägt sie nicht bzw. derart indirekt, dass er kein Bewusstsein für sie entwickelt. Er wird jede Art der Behandlung begrüßen, so unsinnig aufwendig sie auch ist. Für einen Arzt lohnen sich Mut und Innovationsgeist nicht. Er verdient weniger und setzt sich Risiken aus. Seine Leistungen können vom Patienten kaum bewertet werden, auf jeden Fall nicht negativ, solange er „wie üblich“ behandelt. „Defensive Medizin“ ist für ihn die bessere Strategie. Die Prognosefragen aus Sicht des Patienten Die erste Prognosefrage, die Sie sich bei einem auftretenden Gesundheitsproblem stellen werden, wird sein: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird mich ein Arzt von meinen Leiden befreien?

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Für die allermeisten Leiden benötigen wir keinen Arzt. Wir werden im Laufe unseres Lebens Dutzende Male krank und fast immer heilt der Körper sich selbst. Wir kennen uns auch mit geringfügigen Erkrankungen aus, nehmen Aspirin bei Kopfschmerzen, Cetirizin bei Heuschnupfen und Wick Medinait, wenn wir erkältet sind. Wir haben die Selbstmedikation gelernt, können uns meist selbst helfen, aber vor allem sind wir recht gut darin, zu entscheiden, ob ein Besuch beim Experten, dem Arzt, notwendig ist. Das Web leistet hier seinen Beitrag. Krankheits-Blogs gibt es haufenweise. Es werden Symptomkataloge beschrieben bzw. diskutiert und somit die Prognose befördert, eine Krankheit zu haben. Ärzten ist das ein Graus: Die Patientin betritt das Behandlungszimmer und leiert die Symptomliste herunter, gibt die Diagnose vor und fordert das vermeintlich passende Medikament samt Krankschreibung. Andererseits kann das Web helfen, durch z. B. Checklisten die eigene Symptomatik präziser zu erkennen und auch auf Aspekte und Veränderungen zu achten, die sonst bei oberflächlicher Selbstanalyse ignoriert worden wären. Systemische Erkrankungen oder seltenere Syndrome lassen sich so vom Arzt zuverlässiger und schneller eingrenzen. Die zweite Prognosefrage betrifft die Auswahl eines Arztes: Welcher Arzt bietet welche Therapieerfolgschance?

Zuweilen ist die Antwort vorgegeben, weil die Arztwahl eingeschränkt ist. Aber ist sie möglich, wäre es gut, messbare Kriterien zu kennen, die zur Auswahl desjenigen Arztes führen, der die größten Heilungschancen verspricht: Welcher Arzt ist „der beste“? Ideal wären Erfolgsstatistiken: Wie viel Prozent der relevanten Erkrankungen konnten erfolgreich in welcher Zeit behandelt werden, in wie viel Prozent der Fälle wurden Behandlungsfehler gemacht? Aber solche Statistiken gibt es nicht. Wie vermutlich alle anderen Menschen auch, zeigen Ärzte keine Ambitionen, sich messen zu lassen. Würden Sie das in Ihrem Beruf wollen? Wäre es Ihnen recht, wenn Ihre Leistungen gemessen, verglichen und die Ergebnisse veröffentlicht würden? Die naheliegende Ersatzlösung heißt: Bewertungsportale. Es gibt sie seit 2007 in Deutschland und alleine jameda hat monatlich über sechs Millionen Nutzer, Netdoktor und Gesundheit.de jeweils über fünf (AGOF 2018). Die Stiftung Warentest hat 2011 einige dieser Portale getestet und weist auf die Schwierigkeit der Messung der Ärztequalität hin. Patienten, die eine Bewertung abgeben wollen, füllen einen Fragebogen aus, der sich mit diversen Aspekten beschäftigt (Ausstattung der Praxis, Freundlichkeit des Personals usw.). Da aber Patienten die wichtigste aller Fragen, nämlich jene, ob

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der Arzt ein optimales Behandlungsergebnis geliefert hat oder nicht, naturgemäß nicht beantworten können, bleibt es hier bei der Bewertung von Kriterien, die weniger bedeutende Einflussfaktoren auf die Therapie darstellen. Ich jedenfalls hätte lieber einen Muffel, der mich gesund macht, als einen eloquenten Dienstleister, der mich falsch therapiert. Dennoch haben Bewertungsportale einen Nutzen: Sie wirken, wie ich in Abschn. 4.2.2 am Beispiel der Athener Taxifahrer beschrieb, erzieherisch. Es ist eine Form des „Nudging“, und wenn der wirtschaftliche Erfolg der Arztpraxis von einer großen Anzahl Patienten abhängt und die Portale genügend Nutzer haben, wird eine Verhaltensbeeinflussung von ihnen ausgehen. Hoffentlich werden Ärzte dann nicht nur buntere Zeitschriften in die Wartezimmer legen, sondern auch ihre Therapieerfolge dokumentieren. Zuletzt bleibt, einige Hypothesen aufzustellen. So könnte die Therapieerfolgschance mit der Erfahrung des Arztes korrelieren. Dann wäre ein alter Arzt, der sich schon sehr lange mit dem betreffenden Krankheitsbild befasst, einem jungen vorzuziehen. Der übliche Einwand ist hier, dass junge Ärzte aber in jüngerer Zeit ausgebildet wurden und damit zu unterstellen sei, dass sie mit neueren Forschungsergebnissen vertraut seien. Wenn das so ist, wäre eine Kombination ideal: Wähle einen alten, erfahrenen Arzt, der Interesse an wissenschaftlichen Studien und neuen Entwicklungen hat. Das klingt gut, aber während das „Alter“ im Gesicht steht, ist „Interesse“ schwierig zu erkennen und eine diesbezügliche Frage an den Arzt wäre zweifellos befremdlich. Eine zweite Hypothese ist, dass die Therapieerfolgschance mit der Spezialisierung des Arztes korreliert. Dies erscheint schlüssig: Fachexpertise geht, das zeigt uns die Lebenserfahrung, mit Fokussierung einher. Berufe verzweigen sich, neue Technologien und Materialien führen zu neuer Expertise. Zuweilen bilden sich Praxisgemeinschaften heraus, in denen sich Ärzte spezialisieren, der eine auf Zahnkorrekturen, der zweite auf Wurzelbehandlungen, der dritte auf Implantate und so fort. Die Chance eines jeden Arztes, schnell Erfahrungswissen aufzubauen und dadurch größere Therapieerfolge zu haben, ist gegeben. Der Einwand hier ist, dass die Spezialisierung den Blick über den Tellerrand und eine ganzheitliche Sichtweise auf Krankheitsbilder verhindert. Der Facharzt für Fußgelenksorthopädie wird immer zuerst eine Fußgelenksarthrose vermuten und den Bandscheibenvorfall nicht erkennen, weil das seinem Wahrnehmungsfokus entspricht. Er hat danach gesucht. Die dritte Hypothese, die ich aufstellen möchte, ist, dass die Therapieerfolgschance mit der Praxisausstattung korreliert. Der Blick richtet sich auf modernere und mehr Geräte. Das scheint leichter zu bewerten, denn

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moderne Technik fällt auf. Und Ärzte, die moderne Technik einsetzen, unterliegen weniger kognitiven Wahrnehmungsverzerrungen und können diffiziler diagnostizieren. Tatsächlich ist die gerätegestützte Diagnostik auf dem Vormarsch. Kaum noch trauen wir einem Arzt, der mit dem guten alten Stethoskop hantiert und uns manuell den Rücken abklopft. Wir wollen Geräte eingesetzt sehen und wir unterstellen, dass diese mehr erkennen als der Arzt alleine. Sind solche Geräte vernetzt, können sie sogar auf breite Datenbestände zurückgreifen. So ist die Tumorerkennung dank moderner Bilddiagnostik zuverlässiger geworden. Eine Antwort auf die Hypothese könnte also sein: Moderne Geräte sind nützlich und weisen auf eine höhere Chance hin, dass die vorgeschlagene Therapie hilft. Doch auch hier gibt es den Einwand, dass Geräte alleine nichts nutzen. Sie müssen eingesetzt und ihre Ergebnisse müssen interpretiert werden. Ferner kosten sie sehr viel Geld. Der Arzt wird sie also tendenziell häufiger einsetzen als erforderlich. Zumindest aber kann der Patient nicht einschätzen, ob die Spirometrie oder das EKG erforderlich waren oder nicht. Insofern sind Geräte zuweilen auch Blendwerk. Daten zur Überprüfung dieser Hypothesen liegen mir keine vor und eine freihändige Einschätzung versage ich mir. Ich weiß es nicht, neige selbst aber, das sei hier verraten, zu Ärzten mit guter Praxisausstattung in Gemeinschaftspraxen. Warum, weiß ich nicht und ich kann auch nicht beurteilen, ob diese intuitive Wahl gut ist. Meine Erfahrungen jedenfalls sind zu gering. Kommen wir so zur dritten Prognosefrage, die fällig ist, wenn Sie sich entschieden haben, zum Arzt zu gehen, einen ausgewählt haben und er nach seiner Anamnese und Diagnose eine Therapie empfiehlt: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die vorgeschlagene Therapie erfolgreich ist?

Ist die Krankheit unkritisch und ein therapeutischer Fehlversuch akzeptabel, wird der Arzt – hoffentlich – mit kleinen Geschützen anfangen. Vielleicht verschreibt er zunächst ein schwach wirkendes Medikament und bittet Sie, darüber hinaus dieses oder jenes zu tun oder zu lassen. Ärzte beklagen jedoch, auch wenn ich zu dieser Feststellung keine Daten vorweisen kann, dass die Bereitschaft von Patienten, Ressourcen in den Heilungsprozess zu investieren, gering sei. Die verordneten Pillen werden geschluckt, aber die zusätzlichen 15 min Gymnastik am Morgen oder der umständlich zuzubereitende Heilerdewickel werden schnell unterlassen. Dabei könnten gerade solche Maßnahmen sehr wichtig sein. Der Glaube an die Wirkung einer solchen Maßnahme, und hier meine ich nur zum Teil den Placebo-Effekt, ist

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für den Heilungsprozess bedeutsam. Ich kann also die Wahrscheinlichkeit, dass eine vorgeschlagene Therapie erfolgreich ist, in gewissen Grenzen selbst beeinflussen. Tatsächlich ist es mir persönlich lieber, einen möglichst großen Teil des Heilungserfolgs in der eigenen Hand zu haben. Pillen schlucken setzt mich der Wirkung pharmakologischer Prozesse aus, die ich nicht einschätzen kann, aber Gymnastik kann ich steuern. Ist die Krankheit kritisch und ein Fehlversuch wäre fatal, stellt sich die Sachlage anders dar. Vorausgesetzt, es ist Zeit für eine Analyse und Prognose vorhanden, ist es geboten, Daten zu sammeln. Wie immer beginnen wir bei der Feststellung der Einflussfaktoren: Was bestimmt den Erfolg der vorgeschlagenen Therapie? Die Faktoren lassen sich in drei Gruppen einteilen: den Arzt, Sie selbst oder die Therapie. • Der Arzt ist ein Faktor, genau genommen seine Erfahrung und seine Fähigkeiten, die Sie einschätzen müssen. Indikativ können Sie auch seine Sorgfalt beobachten, mit der er die Diagnose erstellt hat oder Ihnen die Therapie erläutert. Hier schlussfolgern Sie von der Sorgfalt bei der Beratung auf die Sorgfalt bei der Behandlung, sicherlich kritisch, aber andere Möglichkeiten der Beurteilung haben Sie kaum. Seine Fähigkeiten können hinterfragt werden, auch wenn Fragen dieser Art seltsam erscheinen. Es kommt sicherlich nicht häufig vor, dass sich Ärzte vor ihren Patienten rechtfertigen müssen. • Zu den endogenen Faktoren zählt mindestens Ihre Bereitschaft zur Kooperation: die Disziplin, Gymnastik zu machen, die häuslichen Möglichkeiten, bei gebotener Bettruhe auch tatsächlich liegen zu bleiben usw. Aber auch persönliche Vorerfahrungen, Unverträglichkeiten usw. spielen eine Rolle. • Die Faktoren, die durch die Therapie selbst getriggert werden, sind z. B. die Reversibilität im Misserfolgsfall, die Kosten, die Heilungsdauer, die Möglichkeiten zur Wiederherstellung Ihrer Einsatzbereitschaft usw. Vielleicht gibt es Alternativen, die zu vergleichen sind. Dann bietet sich die bereits mehrfach dargestellte Nutzwertanalyse im Sinne eines Scorings an. Beispielsweise wäre sie hilfreich, wenn zu entscheiden wäre, ob ein Bandscheibenvorfall konservativ oder mittels eines operativen Eingriffs behandelt werden soll. Der Arzt wird Ihnen immer einen Vorschlag machen, aber Sie können nicht wissen, worauf sich dieser Vorschlag stützt. Vermutlich wird der Arzt auch seine eigenen Interessen verfolgen, und wenn er z. B. nicht selbst operiert, wird er einen konservativen Ansatz „zunächst einmal“ vorschlagen und umgekehrt. Aber durch ein Scoring gelingt es Ihnen, alle

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Aspekte (alle Einflussfaktoren auf einen Therapieerfolg) zu betrachten, auch wenn Sie nicht alle abschließend bewerten können. So haben Sie doch zumindest eine Checkliste für die Fragen, die Sie Ihrem Arzt stellen sollten. Der bereits zitierte Gerd Giegerenzer empfiehlt in diesem Zusammenhang übrigens, den Arzt nicht zu fragen, was er empfiehlt, sondern was er raten würde, wenn der Patient seine Mutter oder er selbst wäre. Das Ergebnis sei ehrlicher und weniger von voreilender Verteidigungshaltung geprägt (Gigerenzer 2014, S. 89). Vom miesen Gefühl, Teil einer Statistik zu sein Ärzte, die mit dem Vorwurf konfrontiert werden, keine Eintrittswahrscheinlichkeiten für einen Therapieerfolg zu benennen, wehren sich oft mit dem Einwand, dass Patienten dies nicht hören wollten. Es würde ihnen eine grobe Einschätzung reichen, z. B. dass die Therapie „wahrscheinlich“ anschlagen werde, es aber keine Garantie dafür gäbe. Die Nennung konkreter Daten, selbst wenn sie vorlägen, führe dazu, dass sich Patienten nur als Teil einer Statistik, als Nummer, fühlten und dem Arzt den Vorwurf machten, ihre individuellen Umstände zu ignorieren. Es wäre voreilig, in diesem Einwand eine billige Verteidigung der Ärzteschaft zu sehen. Zweifellos haben wir einen ausgeprägten Hang zum Individualismus: Wir spielen Lotto und kennen die Erfolgswahrscheinlichkeit, halten es aber für durchaus möglich, schon nächste Woche Lottomillionär zu sein. Wir haben vom millionenfachen Erfolg des Thermomix gehört, wollen aber keinen haben, weil die Cousine der Tante der Nachbarin ihren nicht nutzt. Wir haben keine Ahnung vom Finanzmarkt, glauben aber dem Banker, der uns erzählt, dass wir mit seinen Anlageideen mehr Rendite als der Durchschnitt erwirtschaften können. Wir sind nicht gut darin, zu akzeptieren, dass statistische Wahrscheinlichkeiten auch für uns gelten. Zuweilen verwechseln wir sogar die Verteilung der Ergebnismöglichkeiten mit der Verteilung der Eintrittschancen. Am Samstag im Lotto sechs Richtige zu haben, hat dann eine Chance von 50:50: Entweder ich habe sie oder ich habe sie nicht. So wird sich ein 70-jähriger Leukämiekranker nicht damit zufriedengeben, zu erfahren, dass seine Überlebenschance bei weit unter 20 % liegt. Er wird nach individuellen Faktoren suchen, die eine Abweichung von der Statistik begründen und im Zweifel dem Arzt die Aufgabe übertragen, dafür zu sorgen, dass die Statistik nicht zutreffen möge. Auch sind Wahrscheinlichkeiten bei einem binären Ausgang einer Therapie schwer zu verstehen. Wenn ein Eingriff gelingt oder nicht, entweder oder, und die Chance auf das Gelingen steht bei 80 %, das Risiko eines Misserfolgs bei 20 %, verträgt sich das nicht mit dem garantiert extremen

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Ergebnis. Es gibt dann im Einzelfall keinen 80 %igen Erfolg, dieser ist entweder 100 %ig oder es ist ein Misserfolg. Bei vier von fünf Patienten nimmt der Körper z. B. das Organimplantat an, bei einem jedoch nicht, und die Restlebensdauer wird dann nur noch wenige Wochen betragen. Es erscheint wie ein Glücksspiel, und genau das ist es letztlich auch. Man ist dann Teil einer Lotterie, ob man will oder nicht. Es ist diese Ambivalenz, die das Verständnis von ärztlichen Aussagen über Heilungschancen kritisch macht. Wir verstehen Wahrscheinlichkeitsverteilungen, aber es fällt uns schwer, uns als Ganzes in das Körbchen mit gutem Ausgang oder in das Körbchen mit schlechtem Ausgang zu legen; und teilen können wir uns nicht. Dass nun Ärzte diesen gedanklichen Rösselsprung zu vermeiden suchen, ist verständlich. Formulierungen mit unbestimmten Bedingungen (siehe Abschn. 4.2.1) wie „Wenn Sie dieses und jenes tun, werden Sie sicherlich wieder gesund“ helfen dabei. Sie können sich als Patient damit zufriedengeben, warum auch nicht, aber Sie können auch Ihren Mut zusammennehmen und Ihren Arzt und sein Know-how hinterfragen. Er sollte sich auskennen! Von Heilpraktikern und Heilern Grundsätzlich sind die drei Prognosefragen, die oben im Zusammenhang mit dem Arztbesuch formuliert wurden, immer noch die gleichen: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird mich ein Arzt von meinen Leiden befreien? Welcher Arzt bietet welche Therapieerfolgschance? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die vorgeschlagene Therapie erfolgreich ist?

Zu ersetzen ist in den ersten beiden Fragen der Arzt durch den Vertreter der „komplementären“ oder „alternativen“ Medizin. Dies impliziert eine vierte Prognosefrage: Wird ein Heilpraktiker/Heiler einen größeren Therapieerfolg bringen als ein Arzt?

Heilpraktiker üben die Heilkunde aus, ohne eine geregelte Ausbildung durchlaufen zu haben. Auch Fort- und Weiterbildung ist nicht vorgeschrieben. Es gibt keine bindenden berufsständischen Regelungen. Heilpraktiker ist jemand, der eine Erlaubnis nach der Überprüfung durch die Gesundheitsämter, die sogenannte „Amtsärztliche Prüfung“, erhält. Ziel dieser Prüfung

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ist aber weniger die Abfrage des medizinischen Wissens, sondern die Vermeidung von Gefahren für die „Volksgesundheit“. Geprüft wird vor allem, ob die angehenden Heilpraktiker erkennen können, dass eine Erkrankung vorliegt, die einen Besuch beim Arzt erforderlich macht (Heudorf et al. 2010). Es kann bei einem Heilpraktiker also nicht vorausgesetzt werden, dass dieser über das fachliche Wissen verfügt, dass erforderlich ist, um ein Leiden zu therapieren. Dies hat zwei Konsequenzen: 1. Es ist Aufgabe des Patienten, zu überprüfen, ob das erforderliche Wissen und Erfahrung vorliegen. Den Heilpraktiker zu fragen, wird selten hilfreich sein, denn es liegt ein wirtschaftliches Interesse vor, zu behandeln. Die banale Frage „Werden Sie mir helfen können?“ wird er also tendenziell auch dann mit „Ja“ beantworten, wenn er sich unsicher ist. 2. Aus Sicht des Heilpraktikers ist es vorteilhaft, sich auf Behandlungsmethoden zu konzentrieren, die erstens bekannt und akzeptiert sind zweitens hinreichend abstrakt wirken. Aus der Not hat die Zunft eine Tugend gemacht und sich mit der Etablierung des Begriffs „ganzheitliche Medizin“ freigeschwommen. Gepaart mit tüchtigem Schimpfen auf die symptomfokussierte Schulmedizin bedeutet dies in diesem Kontext auch, langfristigen Heilungserfolg versprechen zu können, auch wenn die Symptome zunächst bleiben. Und im Falle eines Misserfolgs können immer noch Energieblockaden, Säfte, Umweltgifte oder unbewusste Widerstände des Patienten für das Scheitern verantwortlich gemacht werden. Bleiben wir zunächst beim ersten Punkt: Wie können Sie vorhersagen, ob ein Heilpraktiker einen größeren Erfolg bringen könnte als ein Arzt? Leider sind mir keine wissenschaftlich fundierten Untersuchungen bekannt, in denen Einflussfaktoren isoliert und getestet wurden. Es wäre eine Art Wettbewerb erforderlich, Arzt gegen Heiler, Pille gegen Globuli, Muskelrelaxans gegen kraniosakrale Osteopathie. Da es diesen nicht gibt, werden Beispiele wie Beweise zitiert und implizit auf Allgemeingültigkeit geschlossen, wie Sie wissen, eine narrative Verzerrung, befeuert durch kognitive Leichtigkeit, aber ein fataler Fehler der Prognostik. Jeder kennt jemanden, der durch einen Heilpraktiker Linderung erfahren hat, aber was sagt das aus? Viele kaskadieren: Sie versuchen es erst beim Arzt und bei Misserfolg gehen sie zum Heilpraktiker. Dann dürfen wir eine Verzerrung in der Berichterstattung annehmen: Konnte der Heilpraktiker helfen, nachdem die Schuldmedizin keine Erfolge zeigte, ist das eine Geschichte wert und wird erzählt: Brachte aber auch er keine Linderung, wird das viel weniger häufig erzählt.

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Über Erfolge des konventionellen Arztes berichten wir nicht, denn aufgrund seines Status setzen wir sie als Behandlungsziel voraus. Ist er nicht erfolgreich, ist es wiederum eine Geschichte wert (narrative Verzerrung). Die Erwartungshaltung ist unterschiedlich. Bei Heilpraktikern werden die Erfolge, bei konventionellen Ärzten die Misserfolge betont und berichtet.

Die Medien tragen das Ihre dazu bei: Über Therapieerfolge einer neuen Pille eines Pharmariesen zu berichten, ist langweilig (außer im Falle von Viagra), aber eine neue alternative Behandlungsmethode wird gerne thematisiert. Das Muster ist dann stets, von Frau M. aus F. zu berichten, die jahrelang zu Ärzten ging, aber erst die Heilpraktikerin K. brachte durch den Einsatz der Bioresonanz-, Hydrocolon- oder Bachblütentherapie Linderung. Erfolgsstatistiken liegen also keine vor. Bewertungsportale sind Sammlungen von Einzelerfahrungen und können bei der Auswahl eines geeigneten Heilpraktikers helfen, liefern aber keine Antwort auf die Frage, ob dieser größeren oder wahrscheinlicheren Erfolg als ein Arzt verspricht. Was von meinen obigen Empfehlungen bleibt, wäre, auf die Spezialisierung und die Praxisausstattung zu achten. Beides aber widerspricht dem Ansatz der ganzheitlichen Medizin, und ich mag hier vielleicht ein wenig argumentativ abkürzen, aber ein Heilpraktiker, der sich auf eine bestimmte Behandlungsmethode beschränkt, wäre eher kritisch zu sehen, selbst dann, wenn die Methode selbst Ganzheitlichkeit verspricht (z. B. Homöopathie). Das Fazit ist ernüchternd. Es gibt keine Antwort auf die Prognosefrage, welcher Therapeut der bestgeeignete wäre. Wir wissen aber, welche Kraft die Suggestion im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung hat. Tatsächlich erklärt beispielsweise der Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung die Wirkung von Wunderzaubern wie Voodoo fast vollständig (Ludwig 1991, S. 130). Wenn Sie also an die Macht alternativer Medizin glauben und Ihnen z. B. geschüttelte Tropfen bzw. Globuli helfen, ist es gut. Kommen wir zum zweiten Aspekt, der Sichtweise des Heilpraktikers. Er darf nur eine recht enge Bandbreite an Krankheiten behandeln. Was er aber darf, ist prophylaktische Therapien anbieten. Ferner darf er all jene behandeln, die wegen des betreffenden Krankheitsbildes bereits bei Ärzten sind oder waren und bei denen Tabletten etc. keine Besserung gebracht haben. Und der Heilpraktiker darf unklare Krankheitsbilder, die medizinisch abgeklärt wurden, behandeln. Dies sind sehr oft psychosomatische

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Erkrankungen oder Lebenskrisen, bei denen zwar eine psychiatrische Betreuung nicht erforderlich ist, aber alleine schon die Aufmerksamkeit eines Heilkundigen guttut. Hier konkurriert der Heilpraktiker durchaus mit dem Psychologen, hat aber den Vorteil, dass der Patient im Bekanntenkreis von ihm erzählen darf. Die Aussage: „Ich gehe nachher noch zu meinem Heilpraktiker“ ist unkritisch, aber „Ich gehe zu meinen Psychologen“ ist stigmatisiert. Das kennen wir: „Burn-out“ ist gut, „Depression“ ist schlecht. Was also wird der Heilpraktiker nun tun? Die gesetzlichen Regelungen grenzen ihn stark ein. Er muss Patienten unter Umständen zum Arzt schicken und er darf keine Medikamente verschreiben. Also konzentriert er sich am liebsten auf diffuse Krankheitsbilder und auf Patienten mit einer beeinflussbaren Psyche. Hier sind Heilungserfolge am leichtesten zu erreichen, womit, ist tendenziell egal. Kommen wir zu den Schlussfolgerungen im Kontext der Prognosefragen: • Eine auch nur halbwegs belastbare Prognose ist nicht möglich. Für keine einzige der vier Fragen gibt es Daten. Persönliche Erfahrungen liegen erst dann vor, wenn es ausprobiert wird und auch dann nur für den konkreten Behandlungsfall. • Fremderfahrungen haben eine suggestive Wirkung, und zu erwartende narrative Verzerrungen machen die Erzählungen aus prognostischer Sicht nutzlos. • Heilpraktiker sind gesellschaftlich akzeptiert. Sie dürfen Therapien ohne wissenschaftlichen Wirknachweis anwenden. Am Rande: Wunderheiler unterliegen überhaupt keinen Beschränkungen (außer jenen grundsätzlich geltender Gesetze). Voodoo, Geistheilungen und Engel können ebenso heilend sein wie eine Wallfahrt nach Lourdes. • Wenn Sie „offen für Neues“ sind, oder anders ausgedrückt, ahnen, dass Sie sich leicht beeinflussen lassen, arbeitet der Placebo-Effekt für Sie. Das grundsätzliche Problem, dass Sie viel zu oft falschen Propheten hinterherlaufen, kann hier von Vorteil sein. • Wenn Sie analytisch in die Welt schauen und Daten über Meinungen stellen, werden Ihnen Therapien von Heilpraktikern meist wenig nutzen. Skepsis schadet dem Erfolg. Vermutlich wird ein Gutteil der Leser, nämlich jener, der mit Heilpraktikern gute Erfahrungen gemacht hat, mir in den meisten Punkten widersprechen. Wir lesen nicht gerne, was unserem Weltbild entgegensteht. Mir geht es hier um die Alltagsprognostik und die Fragestellungen, die sich bei anstehenden

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Arztkonsultationen aufdrängen. Bei meinen Recherchen war ich immer wieder überrascht, wie wenig substanzielle Untersuchungen es über die tatsächlichen Heilungserfolge von Ärzten oder Heilpraktikern gibt. Natürlich liegt das an der Komplexität, dies zu messen. Aber Pharmaunternehmen müssen die Wirksamkeit ihrer Wirkstoffe und Medikamente ja auch quantitativ nachweisen. Darf man das von Dienstleistern nicht verlangen? Ferner darf nicht übersehen werden, dass die alternative Medizin die konservative immer wieder befruchtet. Die Wirkung von Diäten, Heilpflanzen, Heilerde oder anderen Dingen, die früher einmal wichtige Bestandteile der Medizin waren und mit dem Siegeszug der pharmakologisch orientierten Ärzteschaft eher belächelt wurden, erleben eine Renaissance. Vergessen wir nicht, dass der Ursprung der heute verwendeten Antibiotika ein Schimmelpilz und die Acetylsalicylsäure (Aspirin) auch nicht mehr als ausgekochte Weidenrinde war.

5.3.6 Glücksbringer, Aberglaube und die Faszination der Wahrsagerei Der englische Philosoph Franzis Bacon schrieb: „Fast ebenso steht es nun mit allem Aberglauben, mit der Sterndeuterei, mit Träumen, Vorgeschichten, Strafzeichen u. dgl. Treffen sie ein, so machen die Gläubigen ein Geschrei davon; schlagen sie, wie gewöhnlich, fehl, so übergehen sie die Sache mit Stillschweigen“ (Bacon 1962, S. 35). Natürlich ist dieses Zitat aus dem 17. Jahrhundert nicht mehr als die persönliche Meinung eines Empiristen und hat keinerlei Beweischarakter, illustriert aber sehr schön ein Problem, das uns auch eben schon im Kontext der Heilpraktik begegnet ist: selektive Wahrnehmung. Wir memorieren unser Horoskop, wenn es zutraf, aber nicht, wenn es danebenlag. Wenn dieses dazu noch abstrakt genug formuliert ist und nur vage Aussagen getroffen werden, halten wir es für „wahr“ (Musgrave 1993, S. 51). Astrologiegläubige neigen dazu, ihre Aufmerksamkeit auf jene Charaktereigenschaften zu richten, die Menschen eines Sternbildes nachgesagt werden. Sie biegen sich ihr Selbstbild zurecht (Wiesendanger 1988). Das gilt auch für Horoskope, denn jene, bei denen Vorhersagen als erfüllt betrachtet werden, sind bewusstseinsdominant. Tatsächlich gibt es keinen Zusammenhang zwischen einem Tierkreiszeichen oder Aszendenten, in dem man geboren ist, und bestimmten Charaktereigenschaften. Es gibt ausgesprochen viele Studien, die immer wieder belegen, dass diese Korrelation nicht nachzuweisen ist. Auch aus dem beobachteten Sozialverhalten und den Einstellungen

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von Testpersonen konnte nicht auf ein Tierkreiszeichen geschlossen werden. Die Trefferquoten changierten um die 8,3 %, also ein Zwölftel. Mehr noch: Man hat Testpersonen ein Charakterprofil vorgelegt und behauptet, dass es das ihres eigenen Tierkreiszeichens sei. Meist erkannten sich die Personen wieder. Tatsächlich aber war es zufällig ausgewählt. Sogar erfundene Beschreibungen wurden mit der gleichen Häufigkeit als zutreffend identifiziert. Aber was sind schon Forschungsergebnisse? Der Volksglaube schwört auf Horoskope und die Macht der Sterne, und anscheinend ist dieser Glaube nicht auszurotten. Ähnlich ist es mit Glücksbringern: Der Stoffbär auf dem Tisch während der Matheprüfung, der Glückspfennig im Portemonnaie, die Siegersocken des Speerwerfers, die Amulette, Kleeblätter, Marienkäfer, Engelsfiguren, Hufeisen oder Rituale wie das Klopfen auf Holz – all diesen „Dingen“ schreiben wir aktive Kräfte zu: Sie bringen uns Glück. Websites versprechen Zaubersprüche und Rituale für Liebe, Glück usw. zum „Nachzaubern“ oder obskure praktische Lebenshilfe: „Um gezielt positive Ereignisse anzulocken, kannst Du versuchen einige Kleidungsstück [sic!] auf links zu tragen“ (www. herzwandler.net/hexen-magie-und-zaubersprueche). Natürlich fällt es leicht, sich darüber lustig zu machen. Fairerweise sollten wir uns dem Thema analytisch nähern. Die Prognosefrage wird lauten: Wird die Aktivität/das Ereignis eher oder stärker positiv ausfallen, wenn ich einen Glücksbringer verwende?

Im Falle eines Horoskops wird sie vielleicht recht abstrakt lauten: Wird mir das Horoskop helfen, meine Lebenszufriedenheit zu steigern?

Bleiben wir zunächst bei den Glücksbringern. Glücksbringer Diese anzuwenden verursacht Kosten. Wir müssen an sie denken, sie mitnehmen, dabeihaben, und wenn wir sie zu Hause haben liegen lassen, verstärken sie unsere Unsicherheit. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf sie. Also sollten sie auch etwas nutzen. Das könnte gemessen werden, z. B. bei wiederkehrenden Ereignissen oder durch Blindtests. Ein Vorschlag: Wenn Sie einen Glücksbringer besitzen, stecken Sie ihn sich ein und gehen Sie in ein Spielcasino. Setzen Sie beim Roulette auf Rot oder Schwarz, vielleicht hundert Mal, um statistische Streuungen auszuschließen. Machen Sie dies am Tag danach noch einmal ohne Ihren Glücksbringer. Sollten sich die

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Ergebnisse nicht wesentlich voneinander unterscheiden, war der Glücksbringer nutzlos. Aber vielleicht ist er nur in bestimmten Fällen sinnvoll? Vielleicht will sich das Glück nicht auf die Probe stellen lassen? Abgesehen davon, dass wir dem Glück damit ein eigenes Bewusstsein und eine gewisse Hinterhältigkeit unterstellen, ist die Frage in gewisser Hinsicht berechtigt. Denn Glücksbringer wirken tatsächlich, wenn auch anders, als erwartet. Sie beeinflussen nicht das Glück, dass letztlich immer eine statistische Größe ist, sondern sie beeinflussen uns selbst. Unsere Nervosität vor Prüfungen wird gesenkt, weil wir einen Verbündeten haben. Unser Glaube an uns selbst, unsere Standfestigkeit oder unsere Ruhe werden gestärkt. Glücksbringer sind immer dann nützlich, wenn sie uns autosuggestiv stärken.

Vielen Menschen hilft das Gefühl, den Unbilden des Schicksals nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Anders ausgedrückt: Sie versuchen, den Zufällen der hochgradig unsicheren Zukunft durch Zuhilfenahme von Magie zu begegnen. Dieser Wunsch mag berechtigt sein, funktionieren kann es aber nur, wenn die Selbstbeeinflussung hilfreich ist. Im Falle eines Roulette-Spiels ist es aber egal, wie sehr wir an uns glauben: Die Kugel lässt sich nicht beeinflussen. Bestellungen beim Universum bleiben unbeantwortet. Es wäre auch seltsam, hier etwas anderes anzunehmen, denn wenn sich fünf Roulette-Spieler jeweils eine Zahl „bestellen“, geriete das Universum in ein Dilemma. Bei einer Prüfung spielt die Selbstsicherheit schon eher eine Rolle, aber andere Einflussfaktoren sind wohl wichtiger, etwa der investierte Lernaufwand oder die Anzahl Übungen. Ähnlich ist es bei sportlichen Leistungen: Auch hier ist der Trainingseinsatz der wesentliche Einflussfaktor auf zukünftigen Erfolg, aber bei allen Sportarten ist auch mentale Stärke wichtig, und wenn sich diese durch die Glückssocke fördern lässt, hilft sie. Leider ist uns eine Erfolgsmessung kaum möglich: Vermutlich gibt es niemanden, der Buch darüber führt, wie viel Erfolg er bei was auch immer mit und ohne Glücksbringer hatte. Es bleiben selektive Wahrnehmungen übrig, Einzelbeispiele, die in der Regel nur dann memoriert werden, wenn ein besonderer Erfolg dem Glücksbringer zugeschrieben wird. Aber Misserfolge werden auf andere Umstände zurückgeführt. Vielleicht ist eine Prüfung gelungen, als Sie die Socken auf links gedreht trugen, was Sie erst hinterher feststellten. Bei der nächsten Prüfung wollen

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Sie es testen und tragen die Socken wieder auf links. Ist auch diese zweite Prüfung erfolgreich, vermuten Sie bereits eine Kausalität, und wenn nun noch eine andere Person es ausprobiert und ebenfalls erfolgreich ist, haben wir einen neuen Aberglauben geboren. Aberglaube Möglicherweise sind so die „abergläubischen Prognosen“ entstanden, aber es ist verwunderlich, dass wir vorbehaltlos über einige lachen, aber mehr oder weniger heimlich andere für sinnvoll halten. Die von links nach rechts laufende schwarze Katze (oder war es andersherum?), das Unterlaufen einer Leiter, das sich in die Augen schauen beim Zuprosten (es zu vergessen, bringt sieben Jahre schlechten Sex), das verstreute Salz oder der zerbrochene Spiegel, allesamt Prognosen, die eine Ursache mit einer Wirkung in Beziehung setzen. Je nach eigener kultureller und gesellschaftlicher Prägung, also je nach vermeintlichem Erfahrungswissen unserer Altvorderen, sind abergläubische Wirkungsannahmen recht unterschiedlich: In der Mongolei gilt es auch heute noch als großer Fehler, auf eine Türschwelle zu treten. Japaner stecken beim Anblick eines Leichenwagens die Daumen in die Tasche, damit die Eltern länger leben. In Spanien darf nie einer Single-Frau vor den Füßen gekehrt werden, weil sie sonst einsam sterben wird. Nun, als Tourist fegen wir eher selten, aber es kann schnell passieren, dass wir – zu Besuch auf den Philippinen – ein Baby fotografieren und dieses dann ohne Seele aufwachsen muss. Solcherlei tun wir gerne als archaische Magie ab, aber andere, im Grunde ebenso verwirrende Wirkungsannahmen, halten wir für möglich: Die 13 gilt vielen als Unglückszahl. Hotels verzichten auf ein 13. Stockwerk, in Flugzeugen mancher Airlines gibt es keine 13. Reihe, und Bismarck unterschrieb niemals am 13. eines Monats Verträge (Das Beispiel mit den Flugzeugen gefällt mir am besten und ich frage mich, welchen Unterschied im Falle eines Flugzeugabsturzes es macht, ob man in Reihe 12 oder 13 sitzt). Gleichzeitig aber ist die 13 in China eine Glückszahl. Auch in nordischen Religionen war die 13 positiv besetzt, denn es war die Lieblingszahl der Göttin Freya. Tatsächlich aber ist der 13. ein Tag wie jeder andere. Es gibt nicht mehr Unfälle als an jedem anderen Tag im Kalender, auch dann nicht, wenn er auf einen Freitag fällt. Auf der Suche nach einem prognoserelevanten Zusammenhang könnte ein Blick auf Religionen hilfreich sein. In fast allen Religionen, so auch im Christentum, spielen Opfer eine große Rolle. Der Sinn ist regelmäßig, dass durch eine Gabe, also eine Investition, eine gewünschte Zukunft erzeugt wird. In archaischen Religionen bestanden diese Investitionen aus einem

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Verzicht auf persönliches Vermögen ohne einen Nutznießer, etwa das Verbrennen eines Tieres. Heute werden von Kirchen aller Religionen Geldspenden bevorzugt, warum, dürfte klar sein. Das Opfern entspricht einer entbehrungsreichen Form des Betens. Auch heute beten wir, um den positiven Ausgang einer Situation zu beeinflussen. Zuweilen machen wir sogar „Deals“ mit Gott: „Wenn du mich eine eins schreiben lässt, opfere ich dir dieses oder jenes.“ „Wenn du mich gesund machst, pilgere ich nach Santiago de Compostela.“ Wem auch dies zu riskant und kostenintensiv ist, beschränkt sich aufs Beten und Bitten: „Bitte mach´, dass ich den neuen Job bekomme.“ Solcherlei Motivation zu beten, ist kongruent mit der Motivation, ein Glücksschwein einzustecken. Einen Unterschied aus Sicht der Prognostik gibt es nicht. Kausalitäten sind möglich, basieren aber auf der Kraft von Suggestion und selbsterfüllender Prophezeiungen. Der Vollständigkeit halber und um Missverständnisse zu vermeiden möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen, dass es auch eine andere Form des Betens gibt: die Meditation. Ihr Ziel ist es, und bitte lassen Sie es mich unfachmännisch formulieren, „den Geist zu beruhigen“. Dies kann in bestimmten Fällen eine segensreiche Wirkung haben. Meditation kann helfen, Angstzustände abzubauen (Prüfungen), zu fokussieren und auch körperlich gelassener zu werden. Auch viele Sportler meditieren, in welcher Form auch immer, um sich auf ihre Herausforderung zu konzentrieren. Ob Sie nun im Lotussitz vor einem Räucherstäbchen sitzen oder kniend eine Marienstatue anbeten, ist dabei nebensächlich. Auf jeden Fall ist, eine Fokus und Konzentration erfordernde Aufgabe unterstellt, ein Zusammenhang zu einem positiven Ausgang der Situation anzunehmen. Beten im Sinne der Meditation stellt somit einen Einflussfaktor auf die Zukunft dar und hat eine prognostische Relevanz. Wahrsager und Propheten Es ist eine schöne Annahme, dass unser Schicksal und damit die Zukunft feststehen und wir sie durch einen Experten kennenlernen können. Das verleiht Sicherheit, wir wissen, wie wir zu entscheiden haben und sind nicht mehr all den beängstigenden Zufällen ausgesetzt. Für mich ist die Idee des feststehenden Schicksals ein fürchterlicher Gedanke. Er negiert meine Gestaltungsspielräume und lähmt mich. Warum sollte ich mich anstrengen, kreativ sein, Mut zeigen, wenn doch eh feststeht, was passieren wird? Und doch: Zuweilen wäre es hilfreich und schön, den Ausgang einer Situation zu kennen, und zwar mit einer so großen Eintrittswahrscheinlichkeit wie möglich. Dann ließen sich Vorbereitungen treffen und es bräuchte keine Halbherzigkeiten mehr.

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Diese Sehnsucht bedienen Wahrsager und Propheten. Einige unter ihnen haben es zu gewisser Berühmtheit gebracht, etwa die Propheten des Alten Testaments, Merlin, Hildegard von Bingen und Nostradamus, in der Neuzeit vielleicht Edgar Cayce, Baba Wanga oder der Bauer aus dem Waldviertel (Obst 2000). Ihr Bekanntheitsgrad korreliert aber nicht mit der Präzision und Richtigkeit ihrer Vorhersagen. Vielmehr bestimmen zahlreiche Faktoren, z. B. das geheimnisvolle Ambiente, das Auftreten der Anhängerschar oder vereinzelte „Treffer“, ihren Rang. Ihre Prognosequalität unterscheidet sich regelmäßig nicht von jener zufällig befragter Personen. Insofern können wir dieses Unterkapitel gleich wieder schließen und sollten uns nicht von Weltuntergangsprophezeiungen stören lassen: Zu „wissen“, dass vielleicht am 13. Oktober 2022 ein dritter Weltkrieg ausbricht, der unsere Welt, unser Leben und unsere Zukunft zerstört, nutzt für Fragen der Lebensführung wenig. Konkreter sollen persönliche Wahrsager werden. Dies kann ein beauftragter Astrologe sein, die in Astro-TV antelefonierte Tarotkartenlegerin oder Ronja in ihrem Wohnwagen auf dem Rummelplatz. Ziel ist jedes Mal, eine Auskunft über die Entwicklung der persönlichen Zukunft oder über den Ausgang einer bestimmten Situation zu erhalten. Hier fällt auf, dass die prophetischen Aussagen umso konkreter werden, je detaillierter die Fragen des Wahrsagers an den Ratsuchenden zu Beginn des Gesprächs waren. Dies mag uns nicht gleich auffallen, denn jeder Psychologe und jeder Arzt macht zunächst eine Anamnese. Wir sind das Gespräch zu Beginn einer Session gewohnt. Außerdem erzählen wir gerne von uns und unserer Situation. Bei Wahrsagern aber mutet das seltsam an, denn sie geben vor, in die Zukunft blicken zu können und mit einer höheren Instanz in Kontakt zu stehen. Wozu benötigen sie dann Informationen über die aktuellen Lebensumstände, Vorhaben oder Charaktereigenschaften? Doch werden diese nicht abgefragt und hat der Wahrsager auch sonst keine Chance, sich ein Bild vom Ratsuchenden zu machen, fallen die Auskünfte sehr vage aus. So wird der Anruferin der Hotline von Astro-TV angekündigt, dass sie im Herbst endlich zur Ruhe kommen wird. Nun, wäre sie nicht in Unruhe, hätte sie nicht angerufen. Das ist nicht schwer zu erraten und ein Selbstselektionsmechanismus. Auch Probleme in der Partnerschaft, gesundheitliche und Geldsorgen gehören zu den Klassikern. Tatsächlich ist es recht leicht, das Charakterprofil eines Menschen in einem solchen Maße zu erkennen, dass die Formulierung von individuell erscheinenden prophetischen Aussagen möglich ist. Auftreten, Gestik, Mimik, ja sogar die Kleidung geben erste Hinweise. Wenige Sätze und ein geringes Maß an Interaktion reichen aus, ein Persönlichkeitsmuster hinreichend

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sicher zu identifizieren, für das ein Portfolio von prophetischen Äußerungen vorbereitet ist. Der Schlüssel ist oft, einige Aussagen zur gegenwärtigen Situation des Ratsuchenden zu machen, um die Glaubwürdigkeit auch der Prognosen zu befeuern. Die Kunden greifen dies bereitwillig auf. Es gibt sogar einen wissenschaftlichen Namen für den Hang von Ratsuchenden, in Aussagen von Wahrsagern die eigene Person zu suchen und zu finden: Es ist der Barnum-Effekt, so benannt vom bereits zitierten Paul Meehl. Professionelle Wahrsager haben in der Regel viel Erfahrung darin, die Problemfelder des Gegenübers zu erkennen. Erinnern Sie sich? Expertise braucht langjährige Erfahrung und eine stabile Umwelt. Und die wesentlichen Problemfelder bei uns Menschen verändern sich nicht (Partnerschaft, Geld, Kindererziehung, Gesundheit usw.). Kommen wir zu Horoskopen: Sie sind nichts anderes als eine bestimmte Art der Darstellung des Ergebnisses von Wahrsagerei. Sie basieren auf Astrologie, also auf der Konstellation von Sternen am Firmament. 77 % der Deutschen lesen manchmal oder immer ihr Horoskop in Zeitungen und Zeitschriften (IfD Allensbach 2001, S. 375), 2 % glauben, ihr Leben sei durch die Sterne bestimmt und 23 % räumen ihnen eine gewisse Rolle als Einflussfaktor ein. Bei Frauen ist der Glaube an Horoskope wesentlich mehr verbreitet als bei Männern (TNS Infratest 2012). Je mehr individuelle Daten, vor allem jene der Geburt, in die Erstellung eines Horoskops eingehen, als desto glaubwürdiger werden die Ergebnisse erachtet. Ferner befördern komplexe Auswertungen und Grafiken die Vermutung, dass Horoskope „wahr“ sind und die Zukunft vorhersagen. Nun, die Sinnhaftigkeit von Horoskopen habe ich oben bereits diskutiert. Ihre prognostische Relevanz ist gleich Null. Letztlich kann nur davor gewarnt werden, in den Aussagen abstrakter oder individualisierter Horoskope oder Wahrsagungen eine prognostische Relevanz zu vermuten. Prognosen dienen dazu, Entscheidungen im Hinblick auf eine unsichere Zukunft zu treffen und die Handlungsfolgen einzuschätzen. Tarotkarten usw. behaupten, genau das zu leisten, nutzen aber bei näherem Hinsehen nichts. Es gibt nach gegenwärtigem Stand unserer Erkenntnisse keine höheren Mächte, die Ronja ins Ohr flüstern, wann Claudia oder Kevin ihren Traumpartner bekommen. Verschwörungsideologien Der Kern von Verschwörungsideologien ist schnell freigelegt: Es handelt sich um Hypothesen über die Beeinflussung unserer Zukunft durch im Verborgenen handelnde „Mächte“. Diese Mächte verfolgen dabei einen

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Zweck und benutzen uns, um ihn zu erreichen. Der Unterschied zu Verschwörungs-„Theorien“ ist, dass Verschwörungs-„Ideologien“ eine Ausrichtung auf die Zukunft haben, während die Theorien dazu dienen, Erklärungen für vergangene Geschehnisse zu liefern (Mondlandung, Attentat auf Kennedy, Klimawandel usw.). Vermutlich haben Verschwörungsideologien nur einen geringen Einfluss auf Ihr Leben. Sie haben sicherlich einen gewissen Unterhaltungswert, mehr aber auch nicht. Ich möchte sie aber nutzen, um einige Wirkungsmechanismen aufzuzeigen, die zu Prognoseverzerrungen führen, denn diese Mechanismen wirken auch im engeren sozialen Umfeld, etwa bei Gerüchten: Der Unterschied zwischen der Vermutung, dass die Illuminaten die Wertherrschaft übernehmen wollen und der Vermutung, dass die Nachbarin ihren Mann betrügt, ist erstaunlich gering. Der Schlüssel liegt in zwei Aspekten, die zusammenkommen müssen: 1. Die „Story“ muss eine hinreichende Faszination ausüben. 2. Die „Story“ muss gut erzählt werden. Ad 1: Wovon die Faszination einer Geschichte ausgeht, weiß ich selber nicht. Den Schlüssel kennen vielleicht Autoren wie John Grisham (Die Firma, Das Urteil), Gene Roddenberry (Enterprise), John R. R. Tolkien (Herr der Ringe) oder Frank Schätzing (Der Schwarm). Eine Verschwörungsideologie beinhaltet immer eine faszinierende Geschichte, die unser Bild von den Wirkungsweisen unserer Gesellschaft infrage stellt. Nichts ist, wie es scheint. Die Gefahr darf nicht zu real erscheinen. Ein Schauer mag über den Rücken laufen, aber bitte nicht so sehr, dass daraus eine reale Angst wird. Das Muster einer Verschwörungsideologie ist einfach zu durchschauen: Es wird ein unlösbares Problem beschrieben, das von einem Kreis von Verschwörern gepflegt wird, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

So haben die Pharmaunternehmen kein Interesse an einer Welt ohne Krebs (Griffin 2007), die Bilderberger planen die Weltherrschaft der Supereliten (Meck und Weiguny 2018) und die satanischen Freimaurer Macron, Trump und Kim Jong Un stürzen die Menschheit gezielt ins Verderben (Wisnewski 2017). Das Nützliche an solchen Storys ist, dass sich die vielen Ungereimtheiten dieser Welt, die zu komplex für uns Laien ist, auflösen. Die verworrene Interessenlage im Syrienkrieg, die Diskussionen über die

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Klimaerwärmung, die Flüchtlingskrise oder das nicht nachvollziehbare Verhalten von politischen Führern, all das ergibt unter der Prämisse, dass eine Verschwörungsideologie dahintersteht, einen Sinn. Ad 2: Es ist die Fähigkeit des Erzählers, eine narrative Kohärenz herzustellen und dabei kognitive Leichtigkeit zu bewahren. Dies ist in Abschn. 3.3.4 beschrieben worden. Eine Story, die schwer zu verstehen ist oder die Lücken im Aufbau hat, wirkt unglaubwürdig. Verschwörungsideologien bieten dankbare Erzählinhalte, denn die Storys müssen „gut“ sein, nicht „wahr“. Es ist viel schwerer, eine komplizierte, aber wahre Geschichte zu erzählen als eine gute, aber erfundene. Ideal ist, eine Situation zu beschreiben und den Zuhörer respektive Leser selbst die Schlussfolgerung treffen zu lassen, dass es sich um eine Verschwörung handeln muss. Dieser Mechanismus, dass sich der Empfänger selbst eine Geschichte weiter- und zu Ende erzählt, entspricht dem Mechanismus, den wir aus Werbespots kennen. Wenn ein Empfänger dazu gebracht werden kann, den Beginn einer Geschichte durch Schlussfolgerungen und zielgesteuerte Ergänzungen sich selbst zu Ende zu erzählen, wird er der Story glauben.

Komplexität schadet. Schlüssigkeit ist wichtig. Tab. 3.1 führt die wichtigsten Stilmittel zur Erzeugung kognitiver Leichtigkeit auf, und unsere grundsätzliche Gutgläubigkeit tut das Ihre. Aber: Wir können nie wissen, ob die Geschichte nicht doch stimmt. Zwar sind wir skeptisch, aber eine gut erzählte Verschwörungsideologie scheint immer auch möglich zu sein. Eine Prüfung der Glaubwürdigkeit könnte durch die vorgeschlagenen Fragen erfolgen: Woher weiß der Erzähler das? Könnte es auch anders sein? Aber es ist ja gerade das Wesen von Verschwörungen, dass keine Fakten bekannt sind. Es sind Geheimnisse. Das Fehlen von Fakten und Daten taugt sogar als Argument: Weil Aspekte unbekannt sind, wird geschlussfolgert, dass das Unwissen gewollt ist. „Die wollen uns dumm halten!“ Auch werden uns Ideologiegläubige ein düsteres Zukunftsbild vermitteln: „Der Egoismus der Verschwörer schadet der gesamten restlichen Menschheit.“ Wir werden – so ihre Geschichte – dumm gehalten, ausgebeutet und belogen, um die Macht der Elite nicht zu gefährden und so weiter (siehe weiterführend hierzu Lamberty und Imhoff 2018). Lohnt es sich nun, mit Ideologiegläubigen zu diskutieren? Kaum. Der Experimentalpsychologe Steven Pinker betont, dass z. B. Leugner des Klimawandels durchweg besser informiert seien als die Vertreter der Mehrheitsmeinung. Leugner führen den Kampf der Außenseiter, sammeln selektiv

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Informationen, die ihre Position stützen und üben sich ständig darin, Streitgespräche zu führen. Dies trainiert sie, ihre Meinung überzeugend darzulegen. Sie spielen die „Klaviatur der kognitiven Leichtigkeit“ virtuos (siehe hierzu das Interview mit Steven Pinker in: Der Spiegel 2018). Verschwörungsideologien eine prognostische Relevanz zuzubilligen, wäre töricht. Es gibt gelegentliche Extreme, die für Einzelne sehr wohl zukunftsrelevant sind, z. B. Massenselbstmorde, um dem Weltenende zuvorzukommen, aber mit ihnen beschäftigen sich Psychiater. Für unsere Fragestellungen der Alltagsprognostik gibt es keine sinnvollen Affirmationen. Nicht einmal uns möglicherweise betreffende Verschwörungsideologien, z. B. das „Währungskartell“, das versucht, uns mittels des Geldes in all seinen Formen zu kontrollieren und willfährig zu machen, können Sie berücksichtigen. Aber spaßig ist es dennoch, sich mit solchen Zukunftsfantasien zu beschäftigen. Mir war es wichtig, die Gefahr einer sehr gut erzählten Geschichte aufzuzeigen: Nur, weil etwas narrativ auf Engelsflügeln angeschwebt kommt, ist es nicht wahr. Suchen Sie nach den Fakten, hinterfragen Sie das vermeintliche Wissen! Und wenn mit der Geschichte eine Zukunft verknüpft wird, prüfen Sie, ob die Kausalkette hält, wenn Sie daran zerren. Lassen Sie sich aber nicht blenden von geübten Rednern, die schon Hunderte Male ihre Story erzählt haben. Diese sind trainiert, Sie sind es nicht.

5.4 Vom Irrtum des rationalen Umgangs mit dem Rationalen Rationalität hat viele Facetten. Wir assoziieren sie mit Vernunft, Objektivität und Nachdenken. Rationalität erscheint uns wie das Gegenteil von Spontaneität und Impulsivität. Im günstigen Fall bringt sie eine gewisse Distanz, zu sich selbst, zur Umwelt und vor allem zu dem, wie wir uns in dieser Welt bewegen. Sie verhindert, dass aus Vermutung Meinung wird und aus Meinung falsches Wissen. Sie ermöglicht, dass wir Meinungen, „Wissen“ und Postulate anderer hinterfragen und Sinnhaftes von Unsinnigem trennen. Sie ermöglicht auch zu erkennen, wann wir Selbstverständliches hinterfragen sollten. Für unsere Zwecke möchte ich drei Facetten der Rationalität herausstellen, weil sie im Kontext der Alltagsprognostik eine wichtige Rolle spielen: Kosten bzw. Nutzen, Zeit und, keine Überraschung, Opportunitätskosten.

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• Kosten und Nutzen: Geld!? Nur weniges ist so leicht zählbar. Wir sind im Umgang mit Geld geübt, wir erfassen blitzschnell seinen Wert, wir nutzen es im Alltag als Referenz. 7 €? Sofort können wir diesen Betrag einordnen. Wir können ihm Gegenwerte zuordnen, zwei Cappuccinos etwa. Kurz: „Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles“ (Goethe). „Geld“ dürfen wir nun aber nicht mit „Kosten“ oder „Nutzen“ verwechseln. So verursacht z. B. eine Liebesbeziehung Kosten, sie kostet einen „Preis“, was die Liebenden so sicherlich nicht empfinden werden. Aber Geld ist mit diesem Preis nicht gemeint, vielmehr geht es um den Zeiteinsatz oder den Verlust alternativer Beziehungschancen. Auch das Rasenmähen verursacht Kosten: den Strom- oder Benzinverbrauch und den Zeiteinsatz. Der Nutzen ist auch klar: ein gepflegter Rasen, an dem wir uns oder sich unsere Nachbarn erfreuen. Strom kostet abzählbares Geld, „sich erfreuen“ bringt einen nicht zählbaren Nutzen. Dennoch sind beides gleichermaßen rationale Begriffe. Rationalität bedingt also nicht zwingend, dass alles mess-, zähl- oder wiegbar ist, obgleich dies vieles vereinfacht. Grundsätzlich sollten wir akzeptieren, und das habe ich in diesem Buch häufig dargestellt, dass alles auf dieser Welt einen Nutzen und einen Preis (Kosten) hat. Nichts ist umsonst, nichts ist sinnlos. Die Bilanzierung fällt uns zuweilen schwer, weil uns Maßeinheiten fehlen, aber das heißt nicht, dass die Erkenntnis aus der Welt wäre. Oft fehlt uns aber der Mut, Aspekte des Lebens auf diese Weise zu betrachten: Wer würde schon die Kosten eines Kindes oder den Nutzen einer Krankheit rational analysieren? Doch um Vorhersagen treffen zu können, müssen wir auch das tun. • Zeit: Neben Geld ist auch die Zeit leicht zählbar. Zeit ist begrenzt. Wir können sie nicht mehren oder mindern. Sie ist – von hier irrelevanten physikalischen Spitzfindigkeiten abgesehen – absolut. Der Satz „Ich habe keine Zeit“ ist darum auch Unsinn und müsste vielmehr „Ich habe andere Prioritäten“ oder noch genauer „Ich weiß Besseres mit meiner Zeit anzufangen“ lauten. Unsere Lebenszeit ist limitiert. Also ist es eine gute Idee, sich genau zu überlegen, was wir mit dieser knappen Ressource anfangen wollen. Aus prognostischer Sicht ist es von zuweilen tragischer Bedeutung, dass wir heute Entscheidungen treffen, die unsere Zeit in Zukunft in Anspruch nehmen werden. Sich mit einem Architekturbüro selbstständig zu machen, mit 42 noch ein zweites Kind zu bekommen oder ein altes Bauernhaus zu kaufen, das in Eigenleistung renoviert werden soll, bindet zukünftige Lebenszeit. Nicht immer machen wir uns dies vollumfänglich und rational bewusst; dann überwiegt die Romantik, die Vorstellung

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einer Zukunft durch die rosarote Brille betrachtet, und der gegenwärtige Wunsch übertüncht die zukünftige Realität. Zeit kann wie kaum eine andere Größe rational und absolut gemessen und bewertet werden. Ist sie nutzlos verschwendet, ist sie auch unwiederbringlich verloren. Wir können Zeit nicht im Lotto gewinnen. Wir können uns Zeit nicht kaufen. Und doch ist die Bewertung der Tätigkeiten, mit denen wir Zeit ausfüllen, hochgradig individuell: Die neueste Rosamunde-Pilcher-Verfilmung im Fernsehen zu sehen, mag für den einen Zeitverschwendung sein, aber für den anderen ein wunderbarer Abend. Eine rationale Bewertung, ob jemand Zeit sinnvoll verwendet und oder ohne Sinn verschwendet, ist einem Außenstehenden schwer möglich, weil die individuellen Präferenzstrukturen unbekannt sind. Bewusst lebende Menschen sollten diese kennen, um in Prognosen den Nutzen zukünftigen Zeiteinsatzes einbeziehen zu können. • Opportunitätskosten: Ganz eng mit obigen Begriffen sind die Opportunitätskosten verknüpft. Die Frage ist: Welchen Nutzen hätte es mir gebracht, wenn ich meine Zeit oder mein Geld für etwas anderes aufgewendet hätte? Statt Rasen zu mähen, hätte ich auch im Wald Rad fahren können. Dann wäre aber der Rasen lang geblieben. Also hätte ich einen anderen beauftragen müssen, den Rasen zu mähen, und dieser hätte 25 € dafür verlangt. Das Radfahren hat mir dann mehr Spaß gebracht, mich aber auch 25 € gekostet. Die Opportunitätskosten des Radfahrens betrugen 25 €. Ein anderes Beispiel: Wenn Sie mit 42 noch einmal Mutter werden, können Sie eine bestimmte Zeit nicht oder nur eingeschränkt arbeiten und Geld verdienen. Der Verdienstausfall entspricht den Opportunitätskosten des Zusammenseins mit Ihrem Kind. Was immer Sie also tun oder lassen, stets steht die Frage im Raum, was Sie mit der einzusetzenden Zeit bzw. dem einzusetzenden Geld sonst noch hätten anfangen können. Dieser entgangene Nutzen sind die Opportunitätskosten.

Bei Prognosen für Entscheidungen, die eine zukünftige – nennenswerte – Bindung von Zeit und Geld bedeuten, empfehle ich dringend, sich zu überwinden und die Opportunitätskosten zu betrachten. Auch hier hat die Romantikbrille auf dem Kopf nichts zu suchen, sondern ist Rationalität wichtig. Wenn diese Pflichtaufgabe erfüllt ist, darf in einem zweiten Schritt gerne geschwärmt werden.

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Diese drei Facetten von Rationalität spielen bei zwei Prognosetypen eine besonders große Rolle: der Wahl des richtigen Jobs, eine Entscheidung, die auf Jahre, zuweilen ein Leben lang, bindet, und der Frage der Altersvorsorge. Letztere ist deswegen so schwierig zu diskutieren, weil alles Sparen für die Zukunft einen Verzicht in der Gegenwart bedeutet. Es sind die Opportunitätskosten eines sorgenfreien Lebens in 20, 30 oder gar 40 Jahren, die uns zu schaffen machen, aber dazu mehr im betreffenden Kapitel.

5.4.1 Die Wahl des richtigen Jobs Die Wahl des richtigen Jobs entscheidet über die Lebensverhältnisse: Wie viel Geld werde ich später verdienen können? Wird mir der Beruf Spaß machen? Gehe ich in Zukunft gerne zur Arbeit oder wird das Leben nur noch an den Abenden, Wochenenden und im Urlaub stattfinden? Aber auch Fragen wie die gesellschaftliche Akzeptanz spielen eine Rolle. Darum ist die erste prognostische Frage mit dem nahenden Ende der Schullaufbahn zu stellen: Welche Berufswahl ermöglicht mir im Rahmen meiner persönlichen Restriktionen und Präferenzen die gewünschten Lebensverhältnisse?

In den meisten Lebensläufen kommt es dann später zu einem Wechsel des Arbeitgebers, freiwillig oder unfreiwillig. Die Prognosefrage wird dann sein: Werde ich beim neuen Arbeitgeber meine beruflichen und Lebensziele besser verwirklichen können als beim bisherigen?

Aber es gibt noch eine dritte Situation, in der der Job auf dem Prüfstand steht: der Wechsel des Berufs. Der alte wird verlassen und ein inhaltlich gänzlich neuer Job wird angenommen: Aus dem Bäcker wird ein Versicherungssachbearbeiter, aus dem Landmaschinentechniker ein Gastwirt oder aus dem Unternehmer ein verbeamteter Professor. Hier lautet die Prognosefrage: Werde ich mit dem neuen Beruf meine beruflichen und Lebensziele besser verwirklichen können als mit dem bisherigen?

Diese drei Prognosefragen schauen wir uns nun genauer an:

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Die Berufswahl Wird mich der Job, den ich mir aussuche, ein Leben lang „tragen“? Wird er mich finanziell befriedigen, wird er mir Spaß machen, wird er sicher genug sein, um auch andere Entscheidungen darauf aufbauen zu können, etwa den Kauf eines Eigenheims? Solche prognostischen Fragen zu beantworten, ist schwierig. Wenn sie anstehen, also gegen Ende der schulischen Laufbahn, geht es um einen Prognosehorizont von ca. 50 Jahren und darum um eine Zukunft, die nur dann hinreichend planbar ist, wenn wesentliche Annahmen getroffen werden. Zum Beispiel muss von wirtschaftlicher Kontinuität ausgegangen werden, von Frieden, von persönlicher Gesundheit und so fort. Ferner muss davon ausgegangen werden, dass die gegenwärtigen Interessen, Vorlieben und Abneigungen auch die zukünftigen sind. Es sind die persönlichen Restriktionen zu berücksichtigen: Wer in der Schule schlecht in naturwissenschaftlichen Fächern ist, sollten kein Ingenieurstudium beginnen, auch, wenn er Spaß am Auto-Tuning hat. Und schlussendlich gibt es Formalvoraussetzungen, die einem Berufswunsch entgegenstehen können: Selbst die Schlaueste wird mit einem Hauptschulabschluss keine Ausbildungsstelle zur Bankbetriebswirtin bekommen. Oft verzerren hier Heuristiken die rationale Analyse, welcher Beruf der richtige ist. So überschätzen Menschen systematisch die Wahrscheinlichkeit, einen gut bezahlten Job zu bekommen (Hoch 1985), wenn z. B. eine Bekannte oder der Onkel gut verdient – eine klassische Verfügbarkeitsheuristik. Oder es wird ein Stereotyp verallgemeinert: „Alle Ärzte verdienen gut und helfen Menschen“ ist nicht mehr als eine Repräsentativitätsheuristik und sicherlich nicht die Realität. Eltern spielen bei der Berufswahl der Kinder eine wichtige Rolle. Sie haben natürlich Vorbildcharakter, aber auch Einfluss. Zudem darf unterstellt werden, dass Eltern in überzogener Weise ihren eigenen Beruf für erstrebenswert halten – die selbstwertdienliche Verzeihung ist hier am Werk – oder einen starken Antrieb haben, dass es „den Kindern einmal gut gehen soll“ (Puhlmann 2005). Ferner sprechen Jugendliche über kein anderes Entwicklungsthema mit so vielen anderen wie über die Berufswahl, nämlich mit ca. 2,5 Personen (Fthenakis und Minsel 2002, S. 308); weit über 80 % sprechen mit mindestens einem Elternteil darüber (ebenda, S. 310). Über einen festen Freund reden sie hingegen nur mit ca. einer weiteren Person, und weniger als 20 % wollen die Frage einer festen Partnerschaft mit ihren Eltern diskutieren. Wenn nun Eltern einen solchen Einfluss haben, sollten sie diesen auch nutzen, um ihr Kind zu einer guten Entscheidung zu führen. Hierfür bedarf

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es einer Antwort auf obige Prognosefrage. Diese Antwort führt – wie schon so oft in diesem Buch – über die Sammlung von Kriterien (= Einflussfaktoren), die für eine „gute“ Berufswahl eine Rolle spielen werden. Diese könnten beispielsweise sein: • Verdienstmöglichkeiten, vor allem nach einigen wenigen Berufsjahren, wenn also die Phase des Familienaufbaus beginnt • Persönliches Talent • Regionale Flexibilität, sodass der Beruf auch in anderen Regionen ausgeübt werden kann • Unabhängigkeit von einem Arbeitgeber vor Ort (Minenbetrieb, ortsansässiger Großarbeitgeber) • Flexibilität hinsichtlich der Spezialisierung während und nach der Ausbildung • Vermuteter zukünftiger Bedarf an Personen der betreffenden Berufsgruppe • Weiterbildungsmöglichkeiten • Körperliche Beanspruchung • Arbeitszeiten Diese und weitere Kriterien werden gesammelt, bewertet und die zur Wahl stehenden Optionen miteinander verglichen, so, wie als Nutzwertanalyse in Abschn. 3.5.4 demonstriert. Wie dieser rationale, objektivierende Ansatz bei den Jugendlichen aufgenommen wird, weiß ich nicht. Versuch macht klug. Was jedoch bleibt, sind zwei typische Fragen, die über eine rationale Prognose hinausgehen: Darf man einen Beruf wählen, der zwar Spaß macht, aber hinterher wenig einbringt? Sollte man einen Beruf wählen, der viel einbringt, aber wenig Spaß verspricht?

Im ersten Fall mag es sich um eine in musischen Fächern talentierte Jugendliche handeln, die Werbegrafik oder Mediendesign studieren möchte. Das Einstiegsgehalt liegt im Durchschnitt auf dem Niveau des Monatseinkommens eines Kassierers bei Aldi oder Lidl, ca. 2000 €, die Arbeitszeiten sind projektabhängig sehr viel länger und in beiden Fällen gibt es nur für die Besten nennenswerte Entwicklungschancen. Kommerziell ist diese Studienfach- und damit Berufswahl wenig lukrativ, die Opportunitätskosten sind hoch. Der Widerstreit ist groß: „Spaß“ oder „Geld“?

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Im zweiten Fall könnte es sich um einen Jugendlichen handeln, der auf Anraten seiner Eltern den Beruf des Versicherungskaufmanns lernt. Zweifellos ist das ein Beruf mit guten Aussichten, denn er verspricht ein höheres Einstiegsgehalt, gute Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten, örtliche Flexibilität und gute Voraussetzungen für ein etwaiges sich anschließendes Studium. „Cool“ wird der Beruf aber nur aus Sicht der wenigsten sein. Es ist eine Vernunftwahl. Werden diese Aspekte rational betrachtet und einbezogen, wohl wissend, dass sie nicht immer auch rational bewertet werden können, ist die Arbeit der Prognose erledigt. Es liegen alle Aspekte auf dem Tisch, die messbaren wie die nicht messbaren. Die Eintrittswahrscheinlichkeit einer gewünschten positiven Zukunft im Sinne der Prognosefrage kann zwar nicht berechnet werden, aber die vollständige Sammlung der relevanten Aspekte wird helfen, die Facetten Kosten/Nutzen, Zeit und Opportunitätskosten zu berücksichtigen und eine bessere Entscheidung zu treffen. Eine gute Idee ist die Konsultation eines Experten. Nach den in den betreffenden Kapiteln herausgearbeiteten Kriterien dürften nichtkommerzielle beratende Fachleute die erste Wahl sein. Schulen engagieren solche Berufswahlberater, aber auch die Arbeitsagenturen haben sie unter Vertrag. Ihr Vorgehen entspricht dem hier geschilderten: Es werden persönliche Fähigkeiten und Präferenzen eruiert (Anamnese), und der Experte wird mithilfe seines Know-hows, seiner Erfahrungen und in Kenntnis der berufsspezifischen Marktsituation Vorschläge unterbreiten. Der Wechsel des Arbeitgebers Gründe, den Arbeitgeber zu wechseln, gibt es viele. Zuweilen spielen Zwänge eine Rolle, z. B., weil der Ehepartner einen anderen Job in einem anderen Ort annimmt oder weil der bisherige Brötchengeber insolvent ist. Diese Motive behalten wir im Hinterkopf, weil einiges von dem, was nachfolgend ausgeführt wird, auch hier anwendbar ist. Im Vordergrund sollen aber andere Wechselgründe stehen: Der neue Arbeitgeber erscheint „besser“ als der alte, was zu obiger Prognosefrage führt: Werde ich beim neuen Arbeitgeber meine beruflichen und Lebensziele besser verwirklichen können als beim bisherigen?

Leicht fällt diese Antwort dann, wenn der alte Arbeitgeber frustriert: Ein unterdurchschnittliches Gehalt, ein miesepetriger Vorgesetzter, mobbende Kollegen oder langweilige Arbeitsinhalte treiben Sie weg. Der Wechsel fällt

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hier leichter, als würde die Situation als „ganz o. k.“ empfunden werden, aber die Hoffnung auf bessere Verhältnisse lockt. Sie könnten nun, um eine Entscheidungsprognose zu erstellen, wiederum mit der bekannten Nutzwertanalyse arbeiten. Sie beginnen mit der Sammlung von Kriterien, bewerten diese usw. Das Ergebnis ist eine rationale Betrachtung der Entscheidungssituation. Genau dieses Verfahren empfehle ich auch ausdrücklich, möchte aber dennoch auf einige Aspekte hinweisen, die für die Prognose relevant sind und die die Bewertung Ihrer Kriterien verzerren könnten. Dazu müssen wir auf Arthur Demsetz´ „Nirwana-Approach“ zurückgreifen, den ich in Abschn. 3.5.1 beschrieben habe. Er moniert dabei, dass wir dazu neigen, eine gegebene reale Situation mit einer Idealsituation zu vergleichen, hier ihren bisherigen, unbefriedigenden Job mit dem neuen, den Sie sich in den buntesten Farben ausmalen. • Der erste Irrtum, den er beschrieb, ist die „The grass is always greener“-Fallacy. Die Kirschen in Nachbars Garten erscheinen immer süßer als die am eigenen Baum. Im Falle des neuen Arbeitgebers ist die Frage: Was wissen wir nicht über ihn? Es kann sein, dass unsere aktuellen Probleme durch den Wechsel gelöst werden. Aber entstehen uns neue, die wir gar nicht betrachtet hatten? Die Arbeitsinhalte sind möglicherweise tatsächlich interessanter, der Chef ist netter, die Kollegen sind es auch und die Bezahlung ist prima. Aber vielleicht kommt das Gehalt nur unregelmäßig, weil die neue Firma am wirtschaftlichen Existenzminimum arbeitet, der Ergebnisdruck ist spürbar höher, unbezahlte Überstunden sind üblich und das Großraumbüro ist auch nicht so prickelnd wie dargestellt? „The grass is always greener“ bedeutet, dass aus der Ferne betrachtet alles besser aussehen mag, aber steht man erst einmal auf dem Rasen, sieht man die Hundekothaufen, die tiefen Furchen oder die zentimeterdicke Düngerschicht. • Der zweite Irrtum ist die „Fallacy of the free lunch“. Nichts auf dieser Welt ist umsonst. Das Zugeständnis, dass Sie dem neuen Arbeitgeber in den Vertragsverhandlungen abgerungen haben, wird Sie etwas kosten, vielleicht nicht unmittelbar, aber dann später. Auch kann es sein, dass Sie zwar erfolgreich in das „Dream-Team“ wechseln, aber feststellen, dass das Team Sie gar nicht so traumhaft findet. • Das führt direkt zur „People could be different“-Fallacy. Demsetz ist hier sehr nüchtern, wenn er in etwa postuliert, dass die Menschen überall gleich seien und sich auch nicht änderten. Wenn Sie bei Ihren bisherigen Kolleginnen und Kollegen angeeckt sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Ihnen das auch in Ihrem neuen Job passieren wird. Die Hoffnung,

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endlich das blöde Pack hinter sich zu lassen und ganz neu anfangen zu können, wird schnell getrübt. Ist Ihre Wechselmotivation also, den schlimmen Kollegen zu entfliehen, überprüfen Sie zunächst einmal, welchen Anteil am Konflikt Sie selbst trugen bzw. tragen. Werden diese Themen betrachtet und berücksichtigt, bleiben möglicherweise rationale Wechselgründe übrig: die Beförderung, die im eigenen Hause nicht möglich gewesen wäre, mehr Gehalt oder eine neue Aufgabe. Solche Gründe sind messbar und akzeptabel. Kritisch sind Versprechen. Diese sind oft vorzufinden, wenn insbesondere junge Menschen aus dem Mittelstand in ein Großunternehmen wechseln, vom IT-Service Müller & Co. zu SAP, vom Farbenhändler Meier zur BASF oder vom Steuerberater Schmidt zu Deloitte. Der Name des neuen Arbeitgebers verspricht Ruhm im sozialen Umfeld, und die dargestellten Entwicklungschancen erscheinen fast sicher. Karriere! Headhunter sind die Könige solcher Karriereversprechen. Sie haften aber nicht für ihre Versprechen. Und nur allzu oft findet sich der „Customer Demand Manager“ in spe als Bildschirmmaskenprogrammierer wieder, und statt den Großunternehmen dieser Welt in die Bücher zu schauen, muss der Neueinsteiger monatelang Charts für irgendwelche Präsentationen malen. Die narrativen Verzerrungen führen dazu, dass wir von solchen enttäuschenden Geschichten selten erfahren, aber die Erfolgsstorys umso lauter und häufiger nacherzählt werden. Dann prägen Beispiele den Glauben an einen Automatismus. Ergo: Konkrete Vorteile sind ein guter Grund, den Job zu wechseln, versprochene Chancen sollten genauer hinterfragt werden.

Der Berufswechsel Der dritte Fall, bei dem einmal mehr die Wahl des „richtigen“ Jobs in den Mittelpunkt der Prognose rückt, ist der Berufswechsel. Der bisherige Beruf wird fortan nicht mehr ausgeübt und als Quereinsteiger ein neuer versucht. Der Koch wird Lagerist, die Buchhändlerin Angestellte im Katasteramt oder der Mediendesigner wird Produktmanager. Zuweilen wird ein solcher Berufswechsel oktroyiert, wenn der alte Beruf ausstirbt (Peitschenmacher, Bürstenbinder), der einzige denkbare Arbeitgeber in der Region verschwindet (Kohlentagebau) oder die Gesundheit den alten Beruf nicht mehr erlaubt (Straßenbau). Aber es kann auch individuelle

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Gründe geben: Geld, Aufstiegschancen, Familientraditionen oder schlichtweg ein sich veränderndes Interesse. Wechsel sind nach längeren Pausenzeiten möglich, z. B. nach der Auszeit zur Kindererziehung. Dann steigen z. B. junge Mütter nicht mehr in ihren alten Beruf ein, sondern nutzen den Wiederanfang dafür, den vielleicht schon lange beabsichtigten Wechsel zu vollziehen. Doch in den wenigsten Fällen wird der Berufswechsel einen Neubeginn des Ausbildungsweges bedeuten, ein „Zurück auf Los!“. Meist ist eine Weiterbildung ausreichend, vor allem dann, wenn Vorwissen vorhanden ist. Auch die finanzielle Perspektive ist wichtig: Ein Berufswechsel bedeutet, dass bereits ein erster Beruf gelernt wurde, die betreffende Person also schon im Erwerbsleben steht. Würde der Wechsel nun bedeuten, finanziell wieder von vorne anzufangen (Ausbildungslohn), wäre ein Wechsel sehr viel schwieriger (Opportunitätskosten). Aus prognostischer Sicht sind im Wesentlichen die gleichen Aspekte relevant wie beim Wechsel des Arbeitgebers. Der romantisierenden Vorstellung kann durch Rationalität in Form eines Scorings (Nutzwertanalyse) begegnet werden, den Fallen des Nirwana-Irrtums durch Hinterfragen. Auch bietet sich an, das persönliche Umfeld zu befragen und einschätzen zu lassen, ob man selbst seine Ziele mit dem neuen Beruf erreichen könnte.

5.4.2 Altersvorsorge Dieses Thema habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Es ist das am wenigsten romantische von allen. Es verlangt von Ihnen eine gute Portion Abstraktionsfähigkeit, denn wir behandeln einen Aspekt Ihres Lebens, der Ihnen vermutlich nicht behagt: den Tod. Zwei Prognosefragen stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen: Wie viel Vermögen muss ich aufbauen, um mir nach dem Ende des Erwerbslebens die gewünschte Lebensqualität leisten zu können?

Und: Wie baue ich dieses Vermögen auf?

Wie viel Vermögen werde ich brauchen? In der Regel erhalten Sie mit dem Ende Ihres Erwerbslebens eine Rente oder eine Pension. Freiberufler haben hoffentlich anderweitig vorgesorgt, z. B. durch eine private Rentenversicherung. Wie hoch diese Rentenzahlungen

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sind, wissen Sie schon frühzeitig bzw. können es sich jederzeit ausrechnen lassen. Diesen Betrag werden Sie diskontieren müssen, um den aktuellen Gegenwert des zukünftigen Betrags bewerten zu können, denn die Inflation wird den Nennbetrag entwerten. So hat eine erwartete Rentenzahlung von 1750 € in 20 Jahren bei durchschnittlich 2 % Inflation einen heutigen Wert von 1178 €. Reicht Ihnen das? Vermutlich reicht es nicht. Also sollten Sie rechtzeitig beginnen zu sparen, um mehr Geld im Alter zur Verfügung zu haben. Hierin liegt die Crux: Sparen für das Alter heißt Konsumverzicht in der Gegenwart.

Meist ist uns die Gegenwart kostbarer als die ungewisse Zukunft. Der größere Fernseher, die Fernreise, das schicke neue Auto, alles gut begründete Ausgaben, die das Sparen verhindern oder auf „später“ verschieben. Wissenschaftlich ausgedrückt sprechen wir hier von einem Prokrastinationseffekt, dem Hang, Wichtiges aufzuschieben, umgangssprachlich von der Scarlett-O´Hara-Verzerrung der Altersvorsorge: „Morgen ist auch noch ein Tag!“ Wir erinnern uns an den Nobelpreisträger Richard Thaler und sein Konzept des „Nudgings“ (Abschn. 4.2.2). Staat und Gesellschaft haben ein Interesse daran, Individuen zu animieren, Teile ihres Einkommens fürs Alter zurückzulegen. Also wären kleine Schubser sinnvoll, die in Deutschland in Form finanzieller Anreize gegeben werden. Riester- oder Rürup-Renten sind zwar keine Anschubser im akademischen Sinne, aber immerhin Anreize zu sparen. Tatsächlich hilft nur Ausgabendisziplin und das Ansparen von Vermögen nicht auf später zu verschieben. Der sicherste Weg ist hier, nicht das zu sparen, was übrigbleibt, sondern die Altersrücklage zur ersten Ausgabe mit der höchsten Priorität eines jeden Monats zu machen. Am besten gelingt dies durch einen wie auch immer gearteten Vertrag, woran natürlich Ihre Bank oder Ihre Versicherung mitverdienen möchte. Aber nur so können wir der Verzerrung der hyperbolischen Diskontierung widerstehen, also der Missachtung langfristiger Ziele zugunsten kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung. Wenn Sie diesen Schritt akzeptieren, ist es auch leicht, auszurechnen, wie viel Vermögen Sie zusätzlich anhäufen müssen, um die Differenz zwischen Ihrem gewünschten Rentenbetrag und dem errechneten Wert zu schließen. Angenommen, Sie möchten in 20 Jahren, wenn Sie in Rente gehen, den Gegenwartswert von monatlich 2000 € zur Verfügung haben. 1178 € haben Sie schon (siehe oben), es fehlen Ihnen also noch 822 €. Hierfür müssten Sie

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in 20 Jahren einen monatlichen Betrag von 1221 € ausgezahlt bekommen, eine Inflationsrate von 2 % unterstellt. Doch wie viel Geld müssen Sie ansparen, um diesen zusätzlichen Betrag jeden Monat, bis zu Ihrem Tod, zu erhalten? Das können Sie nicht ausrechnen, weil Sie nicht wissen, wie alt Sie werden. Bei der staatlichen Rente funktioniert das anders: Der Staat, der Ihnen eine Rente oder eine Pension bezahlt, übernimmt für Sie das entscheidende Prognoserisiko: Ihr Sterbedatum.

Egal, ob Sie das Renteneintrittsalter um 1 Jahr oder um 30 Jahre überleben, Sie erhalten immer Ihre Rente und wenn Sie tot sind, nicht mehr (von der Witwen- oder Witwerrente einmal abgesehen, aber die nutzt Ihnen nichts mehr). Anders ist es, wenn Sie ein eigenes Vermögen anhäufen, aus dem Sie dann einen monatlichen Betrag entnehmen: Sie wissen nicht, wie alt Sie werden. Sie können entsprechend den Sterbetafeln, die auch die Versicherungswirtschaft verwendet, Ihre vermutliche Restlebensdauer ablesen, doch ist dies für Sie nur ein Anhaltspunkt: Es gibt für Sie als Einzelfall keinen statistischen Mittelwert! Wenn Sie nun länger leben als berechnet, geht Ihnen das Geld aus und Sie erleiden am Ende Ihres Lebens Einbußen in der Lebensqualität. Wenn Sie früher sterben, hinterlassen Sie das Restvermögen Ihren Erben. Das ist zweifellos schön für diese, aber Sie hätten mit höheren monatlichen Auszahlungen mehr Lebensqualität kaufen können, vielleicht noch die Antarktiskreuzfahrt, von der Sie immer geträumt haben, die Ihnen aber zu teuer war. Das Hauptproblem der Kalkulation des benötigten Vermögens im Alter ist, dass das eigene Sterbedatum nicht bekannt ist.

Gehen wir einen Schritt weiter: Wann ist Ihnen das Geld am nützlichsten? Vermutlich dann, wenn Sie noch imstande sind, es auszugeben. Die Natur der letzten Lebensphasen ist, dass Sie immer immobiler, eingeschränkter und kranker werden. Entsprechend verändert sich auch Ihr Ausgabeverhalten. Um dies zu illustrieren, schlage ich folgendes Phasenmodell des Rentenalters vor: • Phase 1: „Der rüstige Rentner“: Es sind die ersten Seniorenjahre. Sie sind noch fit, treiben ein wenig Sport, sind reiselustig, haben jugendliche Enkel, die beschenkt werden wollen. Sie schaffen langlebige Güter an,

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einen Fernseher, vielleicht ein Auto, und Sie gestalten den Garten noch einmal neu. Ihren Haushalt schmeißen Sie alleine oder haben eine Putzhilfe, aber die tägliche Lebensführung gelingt Ihnen ohne größere Probleme. • Phase 2: „Betreutes Wohnen“: Sie werden passiver. Die Reisen werden überschaubarer, Bad Münstereifel statt Koh Samui. Schließlich kommen sie fast vollständig zum Erliegen, denn alleine schaffen Sie es nicht mehr. Sie wohnen noch in den eigenen vier Wänden, zunächst von Ihrem Partner unterstützt, bis auch das nicht mehr geht. Dann sind Sie auf Altenund Pflegedienste angewiesen, der häusliche Alltag wäre alleine erst kaum noch, dann gar nicht mehr zu bewältigen. Die Pflegegrade steigen. • Phase 3: „Alten- und Pflegeheim“: Sie verlassen letztmals Ihre eigenen vier Wände und ziehen in ein Heim. Hier werden Sie versorgt und nutzen das dort angebotene Freizeitprogramm. Sie übertragen die Lasten der täglichen Haushaltsführung auf das Heim. „Raus“ kommen Sie nur gelegentlich und auch nur dann, wenn Sie Angehörige in der Nähe haben, die Zeit und Lust haben, sich um Sie zu kümmern. • Phase 4: „Siechtum“: Sie verbringen Ihre letzte Zeit vorwiegend bettlägerig, unterbrochen von wenigen guten Phasen, die immer seltener werden. Sie sind auf ständige medizinische Versorgung und Überwachung angewiesen. Ihr Verstand wird nur noch wenig beansprucht. Ihr Leben kreist um Ihre Krankheit; bis Sie sterben. Selbstverständlich sind diese Phasen nicht zwangsläufig. So mancher stirbt früher. Auch ist nur schwer zu prognostizieren, wie lange jede einzelne dieser Phasen dauert. So mancher ist noch bis ins hohe Alter rüstig, stirbt dann aber nach einer Erkrankung oder einem Unfall binnen weniger Wochen. Er lässt dann die Phasen 2 und 3 aus. Aber ich möchte trotz aller Unvollkommenheit bei diesen vier Phasen bleiben, denn sie repräsentieren einen typischen Zyklus des letzten Lebensabschnitts. Gehen wir einen Schritt weiter: Welchen monatlichen Finanzbedarf haben Sie in diesen Phasen, um • die Lebenshaltungskosten zu decken und • Anschaffungen zu finanzieren? Abb. 5.1 zeigt es: Als rüstiger Rentner wird er vergleichsweise hoch sein. Tatsächlich ist nicht zu erkennen, warum er niedriger sein sollte als am Ende des Erwerbslebens. Sie haben jetzt Zeit, Geld auszugeben. Sie können reisen,

5  Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern     323 Rüsger Rentner

Betreutes Wohnen

Heim

Siechtum

65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Ausgaben für die Anschaffung langlebiger Güter Private Ausgaben für Gesundheit & Pflege

Konsumausgaben Ausgaben gesamt

Abb. 5.1  Ausgaben in den Lebensphasen eines Rentners

Projekte starten, fast alles Aktivitäten, für die Sie bisher keine Zeit hatten und die Geld kosten. Die Konsumausgaben werden aber umso geringer, je immobiler Sie werden. Dafür steigen dann die Ausgaben für Gesundheit und Pflege. Sie erreichen in der Phase des betreuten Wohnens ihren Spitzenwert, ebben dann aber ab. Im Heim können Sie sich noch einige Zusatzleistungen kaufen, aber dann, in der vierten und letzten Phase, nutzt Ihnen mehr Geld auch nichts. Ein paar Konsumausgaben wird es noch geben (Geschenke für die Enkel), vielleicht kaufen Sie sich noch ein bequemes Schränkchen neben Ihr Bett, aber hoch sind Ihre Gesamtausgaben nicht mehr. Die Krankenkasse bezahlt. Auch diese Ausgabenverläufe sind nur als Muster zu verstehen. Sie zeigen aber, dass der Finanzbedarf am Anfang am höchsten ist. Eine degressive Rente ist aber nicht vorgesehen, weder beim Staat noch bei den privaten Rentenversicherungsanbietern. Das führt dazu, dass viele Rentner, die in ihrer rüstigen Phase knapp bei Kasse sind, zum Ende ihres Lebens hin Kapital anhäufen, das sie nicht mehr benötigen. Freilich wird dies in vielen Fällen mit dem privaten Kostenanteil für die Heim- und Pflegekosten wieder eingezogen. Die Quintessenz dieser Betrachtung: Über die monatlichen Renteneinkünfte hinaus sollte für die ersten rüstigen Jahre noch ein zusätzlicher Kapitalstock für die temporär höheren Konsumausgaben aufgebaut werden.

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Was die Ausgabenverläufe darüber hinaus noch zeigen, ist, dass es bei den Phasenübergängen nicht zwangsweise zu Sprüngen in den Ausgabenkurven kommen muss. Allerdings ändert sich der Zahlungsempfänger. Der sicherlich härteste Einschnitt ist der Umzug aus den eigenen vier Wänden in ein Heim. Die Kosten für das eigene Domizil entfallen (Miete, Nebenkosten, Betreuung), werden aber nahtlos durch die Kosten des Heimaufenthaltes ersetzt. Kommen wir nun zur Antwort auf die Prognosefrage, die ich noch einmal wiederholen möchte: Wie viel Vermögen muss ich aufbauen, um mir nach dem Ende des Erwerbslebens die gewünschte Lebensqualität leisten zu können?

Rechnen Sie damit, dass Sie in den ersten Jahren ungefähr so viel Geld zur Verfügung haben, wie Sie zuletzt netto verdienten, vollkommen unabhängig davon, ob Sie ein Eigenheim besitzen oder nicht. Ein Gutteil des Betrages sollte aus den laufenden monatlichen Renten, Pensionen, Betriebsrenten oder Zahlungen einer privaten Rentenversicherung gedeckt werden, vielleicht zwei Drittel. Den Grund habe ich oben erläutert: Sie bekommen das Geld auch dann, wenn Sie steinalt werden. Das Kollektiv sichert Sie ab. Das fehlende Drittel sollte aus dem angesparten Kapitalstock finanziert werden, der durch die Entnahmen natürlich immer kleiner wird. Ist er aufgezehrt, bleiben Ihnen immer noch zwei Drittel Ihres letzten Nettolohns. Machen wir eine Simulation. Hierbei ist zu beachten, dass die (staatliche) Rente mit den Reallöhnen wächst und wir unterstellen, dass damit die Inflationsrate kompensiert wird. Der Kapitalstock wird nicht verzinst, was mir die Rechnung einfacher macht und was ohnehin wenig Auswirkung hätte. Wir nehmen an, dass 60 % des Kapitalstocks in den rüstigen Jahren aufgezehrt werden wird, 20 % während des betreuten Wohnens und die letzten 20 % in der Heimphase. Tab. 5.8 zeigt drei Szenarien in einer Musterkalkulation. Professionelle Finanzanlageberater mögen mir die Vereinfachungen verzeihen. Was können wir damit anfangen? Zunächst sehen wir den Unterschied zwischen dem faulen und dem fleißigen Sparer. Ob ein Kapitalstock von 75.000 oder 250.000 € aufgebaut wird, macht einen signifikanten Unterschied, erwartungsgemäß vor allem in den rüstigen Jahren. Gut tausend Euro monatlich mehr zur Verfügung zu haben, macht nach Abzug der Fixkosten der Haushaltsführung usw. einen entscheidenden Unterschied: Südsee oder Mallorca? Wellness in Bad Griesbach oder Sauna im Sauerlandstern? Später dann gleichen sich die monatlichen Einkünfte an, aber dann ist

5  Smarter leben: Mit Prognosen unsere Entscheidungen verbessern     325 Tab. 5.8  Renteneinkommen in den letzten Lebensphasen Der Sparfaule Alter bei Renteneintritt Letztes Nettoeinkommen Rente ab 1. Monat Höhe private Zusatzrente oder Betriebsrente Angesparter Kapitalstock Rüstige Jahre Jahre betreutes Wohnen Jahre im Heim Jahre im Siechtum Lebenserwartung Monatliches Budget: „Rüstige Jahre“ „Betreutes Wohnen“ „Heim“ „Siechtum“

Der fleißige Sparer

Der lang lebende fleißige Sparer

66 3.300 € Ø 55 % des letzten Nettos, hier 1.815 € 421 € 75.000 € 8

83 2.705 € 2.392 € 2.392 € 2.236 €

250.000 € 8 5 3 1 83 3.799 € 2.757 € 2.757 € 2.236 €

250.000 € 15

90 3.069 € 2.514 € 2.514 € 2.236 €

der Nutzen von mehr Geld – Wirtschaftswissenschaftler sprechen hier vom Grenznutzen – auch geringer. Aber wehe, Sie unterschätzen Ihre Zeit als rüstiger Rentner. Wenn Sie bis ins 81. Lebensjahr aktiv sind, und das ist heutzutage keine Seltenheit, haben Sie trotz fleißigen Sparens weniger monatlich zur Verfügung als am Ende Ihres Erwerbslebens. Der angesparte Kapitalstock, den Sie gut prognostizieren und beeinflussen können, sowie die Anzahl rüstiger Jahre sind die entscheidenden Parameter für Ihre Vermögensplanung.

Die rüstigen Jahre können Sie nur bedingt beeinflussen. Ja, Sie können sie künstlich limitieren, wie es uns im Film „Soylent Green“ – oder wie er bei uns in Deutschland hieß: „Jahr 2022 … die überleben wollen“ – bedrückend in Form von Suizideinrichtungen vor Augen geführt wurde. Stattdessen können Sie saufen, rauchen oder anderweitig Schindluder mit Ihrem Körper treiben. Umgekehrt ist eine Verlängerung der aktiven Jahre durch eine gesunde Lebensführung möglich, wohlgemerkt immer nur im Rahmen statistischer Eintrittswahrscheinlichkeiten.

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Die Frage nach der Höhe der Altersvorsorge ist also bedingt kalkulierbar, aber wichtige Schlüsselgrößen haben wir kaum im Griff: das Lebensalter und die Übergänge der Lebensphasen. Eine derart punktgenaue Kapitalentnahme, sodass am Tage unseres Todes unser Geld aufgebraucht ist, dürfte unmöglich sein oder wäre „Zufall“. Aber vielleicht reicht es auch schon, dafür zu sorgen, die ersten 10 Jahre nach Renteneintritt ein monatliches Einkommen in Höhe Ihres letzten Nettoverdienstes zur Verfügung zu haben. Der Konsumbedarf wird entsprechend Ihrer Agilität abnehmen, und im Hospiz spielt Geld kaum noch eine Rolle. Wie baue ich dieses Vermögen auf? Diese Frage ist eine, die Finanzberater, seien es freie oder Angestellte von Banken oder Versicherungen, zu beantworten suchen. Mit ausgesprochen unterschiedlichem Erfolg. Leider ist keinem einzigen Akteur zu trauen: • Finanzprodukteverkäufer sind ihrem Arbeitgeber (Bank, Sparkasse, Versicherung usw.) verpflichtet und sie sind persönlich umso erfolgreicher, je mehr sie verkaufen. Das gilt auch für unabhängige Finanzberater, sofern diese tatsächlich unabhängig sind, was Sie „von außen“ nur schwer prüfen können. Das Gerücht ist übrigens wahr: Fonds, die von Banken empfohlen werden, schneiden außergewöhnlich häufig schlecht ab (o. V. 2018). • „Freie“ Berater, die sich gerne in Zeitungen, Zeitschriften oder Blogs äußern, sind vertrauenswürdiger, vor allem, wenn sie nichts verkaufen. Das Problem mit ihnen ist, dass sie zwar virtuos die Angebote anderer zerlegen, aber selbst nur wenige Vorschläge machen, wie Geld anzulegen ist. Dennoch nutzen sie mehr, denn sie zeigen uns die Irrwege und Verzerrungen des Finanzproduktemarketings auf. Der berühmteste Vertreter dieser Zunft ist zweifellos Harry Markowitz, der 1990 einen Wirtschaftsnobelpreis für seinen Ansatz zum Finanzportfoliomanagement erhielt. Und was machte er selbst mit seinem Vermögen? Er streute es breit und ignorierte das Modell, für das er ausgezeichnet wurde. • Vermögensmanager, seien es jene von Banken, freie oder in Gesellschaften tätige, kümmern sich aktiv um das Vermögen ihrer Kunden. Meist verlangen sie Mindestanlagesummen, mindestens aber eine Verwaltungsgebühr in Höhe eines verhandelbaren Prozentbetrages der Anlagesumme. Das Problem: Sie sind nicht gut. Nur sehr wenige schlagen in ihrer Performance langfristig den DAX, geschweige denn zuverlässig. Das ist zugegebenermaßen aus diversen Gründen nicht leicht, aber

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mit einer breit gestreuten Anlage können sie sogar als disziplinierter Privater besser sein. Tatsächlich zeigen Messungen immer wieder, dass die Performance von Profis nicht besser ist als die von „informierten Laien“, und mehr Informationen und mehr Know-how können die Ergebnisse sogar verschlechtern (Törngren und Montgomery 2005). • Sie selbst. Ihnen dürfen Sie am allerwenigsten trauen. Das Gebiet der individuellen Risikowahrnehmung ist ausgesprochen gründlich erforscht, nicht zuletzt darum, weil hier relativ leicht Experimente und Beobachtungen möglich sind. Und die Ergebnisse zeigen immer wieder, dass wir relativ schlecht darin sind, Risiken einzuschätzen und uns im monetären Sinne „optimal“ zu verhalten. Es wäre nun müßig, zu erläutern, welche Verzerrungen die Prognose des Erfolgs von Finanzanlagen (oder auch jene der Entwicklung des Finanzmarktes insgesamt) verfälschen. Die Regale der Fachbuchhandlungen sind voll davon. Es werden zwar stets die immer gleichen Forschungsergebnisse von Kahneman, Tversky, Smith, Akerlof, Shiller oder Thaler wiedergekäut, aber angesichts der beobachtbaren Leichtgläubigkeit vieler privater Anleger offensichtlich noch nicht oft genug. Doch lehnen wir uns zurück: Der Finanzmarkt ist gigantisch. Er weist eine geschätzte Größe von über 300 Billionen US$ p. a. auf, ist also ungefähr viermal so groß wie die globale Realwirtschaftsleistung. Er ist auch keineswegs vollkommen. Es gibt Blasen, Spekulation, gezielte Fehlinformation, Taktieren und Unfairness. Er ist in der Lage, Länder zu ruinieren und Weltwirtschaftskrisen oder Kriege auszulösen. Und Sie glauben ernsthaft, Sie könnten schlauer sein als all die professionellen Marktteilnehmer? Nein. Es ist sogar lächerlich, anzunehmen, dass Ihr Bankberater oder Ihr Vermögensverwalter auch nur einen Hauch von Ahnung hätten, wie der Markt funktioniert, geschweige denn das „sichere“ Rezept kennen, den Risiken aus dem Weg zu gehen und ein paar zehntel Prozent Rendite mehr als der Durchschnitt zu verdienen. Was heißt das für uns? Werte für die Zukunft zu horten, ist beileibe kein neues Problem. Münzen wurden schon immer unter Küchendielen versteckt. Neu ist der Gedanke, dass sich Werte als Geld vermehren müssen. Aus 100 € heute mögen 120 € morgen werden. Der Preis ist die Inflation als gegenläufiger Effekt, und genau sie ist auch der Grund dafür, dass die Dielen kein guter Platz für unsere Münzen sind: Aus 100 € heute würde ein Gegenwert von 80 € morgen werden. Also müssen wir unser Geld „arbeiten lassen“, es anlegen. Es gibt aber keine sichere Anlageform, die zugleich höhere Zinsen als die

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Inflationsrate einbringt. Immer sind Risiken vorhanden und Risiken und Gewinne korrelieren: Je mehr Risiken Sie akzeptieren, desto höher werden Ihre zukünftigen Gewinne, aber mit sinkender Eintrittswahrscheinlichkeit. Regeln, Tipps und gute Ratschläge, wie Sie eine Altersvorsorge gestalten können, gibt es viele. Für die Beträge, jenen, den Sie im Alter benötigen werden, und jenen, den Sie monatlich beiseitelegen müssen, sollten Sie nun auch ein „Gefühl“ haben. Hier ist eine recht einfache Prognose durch eine die Inflation und die Verzinsung berücksichtigende Trendfortschreibung möglich. Meine Empfehlung ist, sich auf die ersten 10 Jahre nach Eintritt ins Rentenalter vorzubereiten und für diese ein adäquates Polster aufzubauen: Zwei Drittel des letzten monatlichen Nettoeinkommens sollten aus unbefristeten Rentenzahlungen (des Staates oder einer Versicherung) kommen, das letzte Drittel aus dem zusätzlich aufgebauten Kapitalstock, der für mindestens diese 10 Jahre ausreichen sollte. Um dies zu erreichen, • müssen Sie früh mit dem Ansparen beginnen, idealerweise mit dem Beginn des Erwerbslebens, • sollten Sie sich in die Materie einarbeiten und dann Ihre Anlagen selbst in die Hand nehmen, • den Empfehlungen von Experten folgen, die keine Eigeninteressen verfolgen (mein Favorit: http://schliesslich-ist-es-ihr-geld.de/finanzblog/), • konservativ und geduldig sein, • sich nicht von einzelnen Erfolgsgeschichten anstacheln lassen oder gar spekulieren. Gehen Sie dem Nachbarn aus dem Weg, der mit seinem super Aktiendeal prahlt. Über seine Misserfolge schweigt er. Die Angst vor dem nächsten Finanzcrash Die Wahrscheinlichkeit, dass uns ein nächster Crash der Finanzmärkte ins Haus steht, ist sehr hoch. Die Frage ist aber: wann? Propheten, die ihn voraussagen, gibt es zuhauf. Zu diesen gehören auch angesehene Wissenschaftler und das Fatale ist, dass auch der nächste Crash von irgendwem richtig vorhergesagt werden wird. Es ist für einen Wissenschaftler risikolos, zu raten, denn kaum jemand führt Buch über falsche Prognosen, und wenn, lag es an den Umständen. Hat er aber recht, kann er glänzen und sich zum Propheten aufmandeln. Krisen, die sich auf die Renditen von Finanzanlagen niederschlagen, gibt es recht häufig. Alleine in den letzten 20 Jahren haben wir drei davon erlebt (Dotcom-Blase 2001/2002, Subprime- und Finanzkrise 2007/2008/2009, Eurokrise 2010). Zwar haben sich seitdem die Kontrollen durch staatliche

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Aufsichtsorgane verbessert, aber die Strukturen der Finanzmärkte und damit die grundsätzlichen Wirkmechanismen sind noch immer die gleichen. Es gibt also keinen Grund für die Annahme, dass es keine Finanzmarktkrisen mehr geben wird. Und wackelnde Dominosteine gibt es genug: die Immobilienpreise, die über Zölle ausgetragenen Handelskriege oder die Inflationsgefahren durch die Buchgeldmenge, die nach der Finanzkrise 2007/2008 angehäuft wurde. Das Prognoseproblem ist für einen privaten Anleger aber nicht die meist recht begrenzte Dauer eines Crashs, sondern der Zeitpunkt, wenn er z. B. Aktien verkaufen muss. Vermutlich ist das Problem aber nicht so groß, wie es scheint, wenn, wie vorgeschlagen, zwei Drittel des letzten Nettoeinkommens aus monatlichen Rentenzahlungen kommen und nur das letzte Drittel, der „Luxusteil“, kapitalstockfinanziert ist. Zwar wird dieser dann etwas schneller aufgezehrt, aber nur wenn in den ein bis drei mageren Jahren – und dieser Zeitraum ist typisch für Finanzmarktkrisen – auf Ausgaben bzw. Anschaffungen nicht verzichtet wird. Viel wichtiger ist die Berücksichtigung des nächsten Finanzcrashs bei der Zusammenstellung des Anlageportfolios. Wer Klumpenrisiken akzeptiert, weil er einem provisionsorientierten Verkäufer aufsaß, der ihm hohe Renditen ohne nennenswerte Risiken versprach, riskiert seinen Kapitalstock. So büßten viele Anleger in den Nullerjahren Vermögen ein, dass sie in Zertifikate investiert hatten (ein Zertifikat ist eine Wette!), in den letzten Jahren waren Schiffsfonds große Kapitalvernichter. Prognostischen Verlass bringt hier nur eine breite Streuung. An dieser Stelle wird gerne eingewendet, dass diese Streuung auch das Risiko erhöhe, eine Niete zu ziehen. Wer nur in drei Anlageklassen investiert (Aktien, Edelmetall und Immobilienfonds), fahre besser als jemand, der seine Anlage auf zehn Klassen verteilt (wie oben, zusätzlich Staatsrenten, Unternehmensschuldverschreibungen, Devisen, ETF-Fonds, vermietetes Wohneigentum, Waldfonds usw.). Dieser Einwand ist sogar berechtigt. Die Lösung ist, sein Geld nach Renditechancen der Anlageklassen bzw. Anlageformen zu verteilen. Und zwar kontraintuitiv: In die Anlage mit der höchsten Renditechance wird der geringste Anteil investiert, der größte entfällt auf die Anlage mit der niedrigsten Rendite. Die Komplexität des Anlageportfolios Die Anzahl der Anlageklassen ist für die meisten Anleger aber sowieso begrenzt, und hier überschreite ich nun vielleicht doch meine selbst gezogene Grenze, keine Anlageempfehlungen zu geben: Kaufen Sie nur Produkte, die Sie verstanden haben! Es ist wie bei den Nahrungsmitteln: Je weniger ein Lebensmittel industriell verarbeitet wurde, desto größer

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ist die Chance, dass es seine natürlichen Inhaltsstoffe bewahrt hat und damit gesund ist. Eine Kartoffel ist gesund, Kartoffelchips sind ungesund. Bei Finanzanlagen ist es genauso: Eine Aktie zu kaufen, ist eine direkte Beteiligung an einem Unternehmen. Einen ETF-Fonds zu erwerben, ist eine Beteiligung an allen Unternehmen des abgebildeten Index, z. B. des DAX. Aber die Ausgestaltung einer „fondsgebundenen Lebensversicherung mit diversifiziertem Anlageportfolio in Emerging Markets“ verstehen vermutlich die meisten Anleger nicht. Für eine Renditeprognose und vor allem für die Einschätzung der Anlagerisiken werden sie auf den Verkäufer angewiesen sein. Dieser wird geschult sein, gute Gründe für eine gute Entwicklung aufzählen und die Risiken kleinreden können. Vielleicht gibt es Vergangenheitsdaten, z. B. die Entwicklung des Basisfonds in den letzten Jahren. Aber die Aussagekraft dieser Vergangenheitsdaten können Anleger, die das Produkt kaum verstehen, mit Sicherheit nicht bewerten, und das Fatale ist, dass es sich so einfach und logisch anhört. Der Verkäufer ist kein Experte, er ist Verkäufer und vertritt seine Interessen. Der Vergleich mit den Lebensmitteln drängt sich ein weiteres Mal auf: Die Werbung sagt Ihnen, ob ein Produkt gesund ist, Ihre Pfunde schmelzen lässt oder Ihnen den jugendlichen Teint einer 17-Jährigen zurückbringt. Sie können es nicht prüfen, müssen es glauben und vertrauen, also wird die werbetreibende Industrie alle Register ziehen, Ihnen im Rahmen gesetzlicher Vorgaben zu suggerieren, was immer Sie kaufen lässt. Gehen Sie nicht davon aus, dass die Ergo-Versicherung, die Allianz oder Ihre Sparkasse anders agieren als Danone, Procter & Gamble und Nestlé. Die Herde investiert Den Nutzen einer Herde, aber auch die Gefahren, habe ich in Abschn. 4.3 erläutert. Im Kontext der Finanzmärkte entstehen immer wieder „Gierund Angst-Herden“ mit spezifischen Zielen (Rendite) bei niedriger Kommunikationsintensität der Mitglieder untereinander. Der empfundene Druck, einer Herde anzugehören, ist gerade hier recht hoch: Im Erfolgsfall möchte man auch Gewinner sein, geht es aber schief, leidet man gemeinsam und kann die Schuld selbstwertdienlich abschieben. Das Geld ist aber trotzdem weg. Es gehört tatsächlich ein breites Kreuz dazu, einem zunächst erfolgreichen Trend zu widerstehen. Stellen Sie es sich vor: Der Goldpreis steigt. Er steigt auf 1500 US$ die Feinunze, dann auf 1750 US$, auf 2000 US$ und so weiter. Sukzessive geht es immer weiter nach oben. Finanzmarktexperten schreiben und postulieren in Interviews, dass der Deckel noch lange nicht erreicht sei. Selbst ernannte Propheten erwarten einen Preis von 5000 US$

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und sie begründen dies auch sorgfältig. Es erscheint nachvollziehbar, warum die Goldnachfrage weltweit angezogen hat. Heraeus und Degussa melden Engpässe. Alle Ihre Freunde und Verwandten kaufen Gold und rechnen täglich aus, wie viel sie verdient hätten, würden sie jetzt verkaufen. Es geht aber noch besser: Goldderivate! Es geht nun nicht mehr um Gold, sondern um Optionen, also um zukünftige Käufe zu einem vorher festgelegten Preis. Steigt der Goldpreis weiter, ist die Option ungefähr die Differenz zwischen dem festgelegten und dem tatsächlichen Preis wert. Derivate sind komplizierter und risikoreicher, haben aber eine höhere Renditechance. Hier kommt alles zusammen, was eine Herde antreibt: Es gibt tatsächlich Gewinne und Gewinner, es gibt Erklärungen für Renditen, Experten, die diese Erklärungen konstruieren, und es gibt immer risikoreichere Finanzinstrumente, die eine immer größere Gier bedienen. Die Herde wird größer, einige Herdenmitglieder sind gute Bekannte. Menschen haben eine Sehnsucht nach Kongruenz. Sie ignorieren sogar eigene Informationen und trauen ihren eigenen Überlegungen nicht (Beck 2017). Auch gibt es das Insider-Problem: Die Herdenmitglieder tauschen ihre Prognosen untereinander aus, man kocht sozusagen im eigenen Saft, und das ist zunächst auch erfolgreich (Trueman 1994). Aber jeder Einzelne wird sich ganz sicher bewusst sein, dass er sich inmitten einer Blase befindet, einem Trend folgt, der auch zusammenbrechen könnte. Doch jeder Einzelne wird von sich annehmen, es aber zumindest hoffen, den optimalen Zeitpunkt zu erwischen, auszusteigen. Einigen mag das gelingen, aber den meisten nicht. Das ist der entscheidende Punkt: Blasen schrumpfen selten langsam. Sie platzen. Die niederländische Tulpenblase endete an einem einzigen Tag im Februar 1637, als Händler in Haarlem erstmals auf ihren Zwiebeln sitzen blieben. All die narrativen Verzerrungen, die guten Gründe, die prognostizierten Wertsteigerungen waren schlagartig vergessen. Aber können Sie sicher sein, dass dies das Ende des Trends ist? Werden Sie bei kleinen Irritationen sofort verkaufen? Nein, die Verlustaversion schlägt zu, die meisten werden auf einen Trendsattel hoffen, und dass danach die Preise weiter steigen. Das kann sogar sinnvoll sein, aber wenn der Sattel dann doch keiner war, startet die Abwärtsspirale, die Anleger werden ihr Gold oder ihre Goldzertifikate zu spät verkaufen und der Kapitalstock für das Alter ist vernichtet. Doch wann ist eine Blase eine Blase? Bis wann ist es ein erfreulicher Trend? Sind die gigantischen Unternehmenswerte der Web-Plattformbetreiber wie Facebook, Uber oder AirBnB eine Blase oder ein wohlüberlegter, vielleicht ein wenig überzogener Ausdruck zukünftiger Gewinne? Es

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gibt keine Grenze, und alle Versuche, beobachtbare Merkmale zu finden, sind bisher gescheitert. Aus Sicht der Fragestellungen der Alltagsprognostik bleibt nur ein vernünftiger Ratschlag: Finger weg! Der Preis konservativer, relativ sicherer Anlagen ist der Verzicht auf Spekulationsgewinne. Das Auslassen von Chancen ist der sichere Weg zu dem Kapitalstock, den Sie benötigen, um die Lebensqualität im Alter zu sichern. Vermeiden Sie, Herden zu folgen. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie irgendwann eine Herde erwischen, die wie (angeblich) die Lemminge zielstrebig auf die Klippe zusteuert. Das eigene Haus und die Tücken der Wahrscheinlichkeitsrechnung Eine typische Verzerrung in der Bewertung von Vermögensanlagen hängt mit der Schwierigkeit zusammen, die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses einschätzen zu können. Dies möchte ich anhand einer typischen Kapitalanlage erläutern: dem Eigenheim. Sie haben einen guten Job, ein erstes Kind, das zweite ist unterwegs und möchten darum bauen. Das Haus soll Ihrer Familie ein gutes Heim sein. Sie investieren Ihr weniges bisher Erspartes, pumpen sich von Ihren Eltern Geld, um mehr Eigenkapital einbringen zu können, aber den Großteil des benötigten Geldes leihen Sie sich bei einer Bank. Die Schulden scheinen kein Problem zu sein, die monatlichen Raten sind hoch, aber akzeptabel, und in 30 Jahren wird das Haus ganz Ihnen gehören. Ihr Plan ist nun, dass dieses Haus den Kapitalstock repräsentiert, den Sie zur Ergänzung Ihrer Rente (das letzte Drittel, siehe oben) benötigen. Darüber hinaus werden Sie kein Geld für z. B. eine private Rentenversicherung beiseitelegen (können). Vermutlich werden Ihnen die involvierten Experten zuraten: Ihre Eltern stammen aus der Häuslebauer-Generation, die ein Eigenheim mit Solidität assoziiert, der Banker verdient an dem Verkauf von Krediten (samt Kreditversicherung) und Ihr Umfeld, mit dem Sie über das Vorhaben sprechen, begrüßt die Aussicht, dass Sie auf Jahrzehnte vor Ort bleiben. Um zu entscheiden, ob die Investition in das Eigenheim getätigt werden sollte oder nicht, machen Sie zunächst eine Prognose. Die Fragestellung ist: Wird die frühzeitige Investition in ein Eigenheim dazu führen, dass erstens die Familie ein gutes Zuhause haben und zweitens der Kapitalstock für das Rentenalter aufgebaut wird?

Selbstverständlich kann Ihre Prognosefrage von meiner abweichen. Ich gehe hier von einem selbst genutzten Haus – dem Eigenheim eben – aus. Soll ein Haus gebaut und vermietet werden, ändert sich die Fragestellung natürlich und nur der Kapitalstock als Zweck bleibt übrig.

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Der Aspekt des „guten Heims“ ist aus prognostischer Sicht einfach zu bewerten, und einmal mehr kann eine Nutzwertanalyse helfen, die Kriterien zu sammeln, zu priorisieren und zu bewerten, die ein „gutes Heim“ ausmachen. Schließlich ist das zur Verfügung stehende Hausbaubudget zu verteilen. Das Ergebnis ist ein Masterplan, der die Größe, die Ausstattung, die Extras, aber auch die Außenanlage usw. bestimmt. Der zweite Aspekt der Prognosefrage betrifft den Wert des Hauses. Dieser ist zunächst gering. Nach der Fertigstellung entspricht er der Differenz zwischen dem Marktwert und den Restschulden. Am Ende der Kreditlaufzeit entspricht er dem Marktwert. Schulden sind dann keine mehr abzuziehen und mögliche anstehende Investitionen in die Bausubstanz sind in den Marktwert eingepreist. Die intuitive Prognose ist, dass der Marktwert in 30 Jahren dem heutigen Marktwert zzgl. eines Aufschlags zum Ausgleich der vermutlichen Inflation (vielleicht 2 %) entspricht. Dies setzt voraus, dass der Wertverfall durch laufende Erhaltungs- und Modernisierungsaufwendungen kompensiert wird. Diese werden durch Rücklagen finanziert, also einen gewissen monatlichen Geldbetrag, den Sie beiseitelegen müssen. Der Verband privater Bauherren schlägt 1 € je Quadratmeter und Monat vor, allerdings von Beginn an. Ich setze voraus, dass Sie dies machen. Andernfalls verludert das Haus und es dürfte einsichtig sein, dass es in 30 Jahren nur noch einen Bruchteil seines Wertes haben wird. Doch tatsächlich ist selbst dann, wenn Sie Ihr Eigenheim sorgsam pflegen, die Eintrittswahrscheinlichkeit, dass es als Kapitalstock für Ihre Rente reicht, geringer, als Sie spontan vermuten werden. Der Grund ist, dass es gleich mehrere Einflussfaktoren gibt, die gegen Sie arbeiten. Jeder dieser Faktoren hat eine eigene Eintrittswahrscheinlichkeit, und nach den Gesetzen der Mathematik summieren sich diese einzelnen Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht, sondern sie multiplizieren sich zu einer Gesamtwahrscheinlichkeit. Den mathematischen Mechanismus habe ich am Ende des Abschn. 3.5.3 bzw. in Tab. 3.3 unter dem Begriff „Kettenwahrscheinlichkeit“ bereits erläutert. Tab. 5.9 zeigt dies, und gerne können Sie mit den Daten etwas „spielen“. Bei einer optimistischen Schätzung ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Haus nach 30 Jahren den vorher geplanten Preis erzielen wird und somit in der vorgesehenen Höhe zum Kapitalstock der Rente beiträgt, weniger als 50 %! Selbstverständlich irritiert das Ergebnis und Ihr Reflex wird sein, dass Sie die einzelnen Eintrittswahrscheinlichkeiten hochsetzen. Tatsächlich aber habe ich die Wahrscheinlichkeiten in der Spalte „Pessimist“ aus jeweils zur Verfügung stehenden Datensätzen berechnet und im Rahmen der jeweiligen Konfidenzintervalle Mittelwerte angenommen. Und selbst heute gibt es,

334     J. B. Kühnapfel Tab. 5.9  Berechnung einer Gesamteintrittswahrscheinlichkeit, hier am Beispiel des Werterhalts eines Hauses Einflussfaktor

Erläuterung Pessimist Sie bleiben mit Ihrem Partner zusammen, keine 66 % Teilung/Zwangsveräußerung der Immobilie Sie arbeiten in der Nähe Ihrer Immobilie, ein Umzug 80 % Job-Ort ist nicht erforderlich Sie verdienen auch in Zukunft genug, um die Job-Gehalt 90 % monatlichen Lasten des Hauses tragen zu können Sie bekommen nicht mehr Kinder, als in das Haus Kinder 98 % passen Sie bezahlen Ihren Privatkredit wie geplant ab. Es Privatgibt keine Notwendigkeit einer Umschuldung, etwa 95 % kredit zur Verteilung des Erbes bei Tod Ihrer Eltern. Der Bankkredit bleibt auch nach seiner Bankkredit 97 % Verlängerung im Erwartungsrahmen Beim Verkauf der Immobilie können Sie den Immobilienmarkt erhofften Wert realisieren; es gibt im 75 % in 30 Jahren Verkaufszeitraum keine Krise, die den Preis mindert Gesamteintrittswahrscheinlichkeit 32 % Partnerschaft

Optimist 66 % 90 % 95 % 99 % 95 % 98 % 90 % 47 %

obgleich alle von einem weiterhin boomenden Immobilienmarkt ausgehen (Stichwort: Herde!), Verlierer, vor allem in ländlichen Regionen, in denen die Häuserpreise kontinuierlich fallen (FAZ 2018). Der Wert der Immobilie wird also nur mit einer geringen Wahrscheinlichkeit dem gegenwärtigen Marktwert zzgl. eines Zuschlags zur Kompensation der Inflation entsprechen. Sie müssen Abschläge einkalkulieren, wobei nicht jeder Einflussfaktor den gleichen Abschlag bedingt. Dennoch ist entsprechend des Imparitätsprinzips anzuraten, den Wert des Hauses nur mit einem verminderten Wert, vielleicht 50 % des Gegenwartswertes (zzgl. Inflation) einfließen zu lassen. Am Rande: Selbst dann, wenn Sie diese Betrachtung von Wahrscheinlichkeiten für wenig nützlich halten, ist die Investition in eine eigene Immobilie nicht immer ratsam. Der schiere Vergleich von Mietausgaben und Ausgaben für eine selbst genutzte Eigenimmobilie geht keineswegs immer zugunsten des Eigentums aus (Juretzek 2018). „Um die Rente kümmere ich mich später“ Vermutlich ist das größte Problem im Kontext der Prognosen zur Altersvorsorge, mit 20, 25 oder 30 Jahren Weichen für das Rentenalter stellen zu müssen. Das Leben bietet in dieser Phase so unendlich viele Möglichkeiten. Alles ist am Anfang: die berufliche Laufbahn, der Aufbau der Familie oder der Freundeskreis der Erwachsenenwelt. Das erste eigene Einkommen öffnet Tore in die Konsumwelt.

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In diesem Alter wirkt ein Betrachtungshorizont von über 40 Jahren abstrakt und weltfremd. Sich ein Leben als alte Frau oder alter Mann vorzustellen, gelingt dann allenfalls mit dickem Schädel am Morgen nach einer ausgesprochen fetten Party. Doch wäre es genau das richtige Alter, um Rücklagen zu bilden, denn diese haben dann die meiste Zeit, sich zu verzinsen. Voraussetzung ist, dass sie unangetastet bleiben. Es sind keine Rücklagen, um sich vielleicht 10 Jahre später ein Eigenheim kaufen zu können. Sie müssen tatsächlich für einige Jahrzehnte verschlossen werden, und das Ansparen von Eigenkapital für die Immobilie ist eine zweite Aufgabe. Aber wer hat schon zu Berufsbeginn jeden Monat so viel Geld übrig, sowohl für die Rente als auch für ein eigenes Haus sparen zu können? Es gibt so viele Dinge anzuschaffen! Eine Verzerrung, die wir uns antrainiert haben, ist die Wahrnehmung von Anschaffungsoptionen: Der gedankliche Regelfall, erst Geld anzusparen und sich dann Dinge zu kaufen, ist oft schon die Ausnahme. High-Involvement-Produkte sowie „private Investitionsgüter“ werden abgestottert: Erst der Kauf, dann die Bezahlung. Der Gedanke, dass wir Dinge besitzen dürfen, sie aber erst später bezahlen müssen, vernebelt das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Sparens. Und es gibt Dinge, die müssen angespart werden, z. B. die Rente! Der Königsweg aus diesem Dilemma ist selbstverständlich, in den sauren Apfel des Konsumverzichts zu beißen und einen Rentensparplan zu entwickeln. Ein prozentualer Anteil des monatlichen Nettoeinkommens gehört für die Zeit nach dem Erwerbsleben beiseitegelegt, am besten selbstverpflichtend per Vertrag. Dieser Kapitalstock darf nicht angegriffen werden, auch nicht, weil eine selbst genutzte Immobilie angeschafft werden soll. Die Feinde dieses Vorgehens tragen schicke Namen, die ich Ihnen bereits vorgestellt habe: Prokrastination und hyperbolische Diskontierung: Der Drang, erst einmal gut zu leben und den Beginn des Sparens aufzuschieben, ist groß und der sich erst in ein paar Jahrzehnten einstellende Nutzen lockt heute kaum. Aus diesem Grund, und weil im Vergleich dazu alle anderen Prognosen des Vermögensaufbaus leichte Fragestellungen der Prognostik in Form von Trendextrapolationen zu sein scheinen, möchte ich es dabei belassen, eindringlich zur Selbstdisziplin zu mahnen und vor selbstwertdienlichen ­Verzeihungen zu warnen. Alle Ausreden, die immer nur dazu dienen, den gegenwärtigen Konsum über das Sparen für die Rente zu stellen, sind Selbstbetrug. Schauen wir uns abschließend meine „Best of“ solcher Ausreden an. Finden Sie sich wieder?

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• „Später verdiene ich mehr und kann dann auch mehr sparen“: Nominell stimmt das. Aber mit dem Einkommen steigen die Ausgaben, sowohl die fixen als auch die variablen. Außerdem verzinst sich das später gesparte Geld geringer. Wer mit 55 Jahren Geld für die Rente beiseitelegt, wird kaum noch Zinsen erwirtschaften, weil die Zeitspanne zu kurz ist und er nur noch geringe Kapitalmarktrisiken akzeptieren kann, denn da der Termin der Auszahlung des Geldes nah ist, könnten Schwankungen schlechter ausgesessen werden. • „Später werde ich erben“: Für Ihren Säckel ist das ein erfreulicher Gedanke, sofern das Erbe planbar ist. Damit ist weniger der Zeitpunkt gemeint, denn die Elterngeneration (und damit auch die Tanten und Onkel) stirbt in der Regel vor dem eigenen Eintritt in das Rentenalter, als vielmehr die Höhe. Liegen keine gesicherten Erkenntnisse über die Erbmasse vor, ist Vorsicht geboten. Die Erfahrung zeigt, dass das hinterlassene Vermögen der Verblichenen – nach Verteilung und ggf. Steuern – niedriger sein wird als angenommen. • „Der Staat bezahlt meine Rente“: Das Nettorentenniveau vor Steuern ist von 52,9 % im Jahre 2000 auf 48,1 % in 2016 gesunken und es wird weiter sinken, vermutlich auf ca. 44 % im Jahre 2030 (gemeinsame Finanzschätzung von BMAS und Deutsche Rentenversicherung Bund, Herbst 2015). Die Kosten für Pflege zu Hause und Heimaufenthalte steigen. Der Anteil der mindestens 65-Jährigen an der Bevölkerung wächst von 17 % in 2000 auf ca. 32 % in 2050 (Destatis 2015). Nachdem Sie über 250 Seiten über Prognostik gelesen haben, beantworten Sie sich die Frage selbst: Wie hoch ist die Eintrittswahrscheinlichkeit, dass Sie zukünftig eine Rente auf dem gegenwärtigen Niveau erhalten werden? • „Ich habe eine zusätzliche Betriebsrente“: Es gibt diverse Varianten von Betriebsrenten. Eine ist die Entgeltumwandlung und dann ist sie genau das, was ich vorschlage: ein sicheres, per Vertrag normiertes Sparen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Sparbetrag ausreichend hoch ist, um die spätere Lücke zwischen der gesetzlichen Rente und dem erwünschten monatlichen Gesamtrenteneinkommen auszugleichen, was aber leicht berechnet werden kann. • „Im Alter brauche ich nicht viel Geld“: Das Argument scheint verbreitet, ist aber falsch. 1970 konnte mit durchschnittlich 12 Jahren Rentnerleben gerechnet werden, heute sind es über 17 Jahre (Demografieportal des Bundes und der Länder, kein Datum). Selbst wenn sich dieses längere Rentnerleben auf alle vier Phasen (siehe oben) gleich verteilt, bleiben mehr rüstige, ausgabenintensive Jahre übrig. Oder anders herum gedacht: Was machen Sie als rüstiger, reiselustiger Rentner ohne Geld?

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• „Ich lebe heute, im Hier und Jetzt, nicht in der Zukunft“: Das Argument ist schlagend. Gegen die philosophische Grundhaltung, in den Tag hinein zu leben, kann nichts vorgebracht werden. Sie ist entweder Ausdruck für das Bewusstsein, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Rentenalter eh nicht zu erleben, oder dafür, dass andere sich um die Altersvorsorge kümmern werden, der Staat, die reichen Eltern, Gott oder das Universum. Viel Glück.

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6 Was können wir tun? Was müssen wir tun?

Der Anspruch dieses Buches ist, Ihnen zu helfen, durch bessere Prognosen bessere Entscheidungen treffen zu können. Und? Haben Sie das Gefühl, dass dies gelungen ist? Werden Sie in Zukunft Ihr Leben „smarter“ gestalten ­können? Was in jedem Falle gelungen sein dürfte, ist, Sie in die Welt der Zukunft zu entführen. Der Drang, heute schon zu wissen, was morgen ist, ist für uns Menschen dominant. Unser Lebenskonzept erfordert, die Zukunft zur bestimmenden Größe unseres gegenwärtigen Handelns werden zu lassen: Alle Entscheidungen basieren auf einer Prognose der Zukunft. Doch bleibt sie unsicher. Niemals wissen wir mit Bestimmtheit, was kommt. Immer ist eine Zukunft, die wir annehmen, nur eine wahrscheinliche Zukunft, eine mögliche unter unzählig vielen. Dies habe ich versucht, mit Graden der Unsicherheit von Zukunft auszudrücken. Wir „wissen“ nichts über die Zukunft, wir stellen stets nur Hypothesen auf, leben mit Meinungen, Vermutungen und Annahmen. Dies ist die Angriffsfläche für kognitive Verzerrungen – das Potpourri der Wirkungsmechanismen, die wir ungern wahrhaben wollen. Wir empfinden sie als Schwächen, als Fehler in unserem mentalen System, doch sind sie nichts anderes als der Preis für die Fähigkeiten und Qualitäten, die uns Menschen ausmachen. Sie sind allerdings auch der Werkzeugkoffer all derjenigen, die uns manipulieren. Diese Personen suggerieren ein Bild unserer Zukunft und erreichen, dass wir Entscheidungen treffen, die ihnen nutzen. Aber wir können uns wehren, indem wir uns der Fehlerquellen und der Manipulationsversuche bewusst sind und ihnen begegnen. Dafür haben wir © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. B. Kühnapfel, Die Macht der Vorhersage, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24838-3_6

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viele Methoden kennengelernt. Deren Kern war immer, kognitive Automatismen zu durchbrechen und durch Innehalten, Nachdenken und Reflektieren zu ersetzen. Dieses Reflektieren und Nachdenken findet in der Anwendung von Prognosemethoden seinen Ausdruck. Es gilt, das richtige Modell auszuwählen und zu nutzen. Aber niemals sind alle Parameter bekannt, um eine sichere Vorhersage machen zu können. Mal fehlen Einflussfaktoren, mal Inputdaten. Prognosen können immer nur Näherungslösungen sein, weshalb wir möglichst mehrere gleichzeitig erstellen sollten. Wilhelm Tell traf den Apfel mit einem einzigen Schuss. Aber wir sollten viele Pfeile schießen oder gleich ein Schrotgewehr verwenden, um sicherzugehen, dass wir den Apfel auch treffen. Oh, Tells Sohn … der passt nicht in die Metapher. ­Entschuldigung. Systematische Prognosen sollen „Vermutungen aus dem Gefühl heraus“ ersetzen. Ein Extrem der „Entemotionalisierung“ von Wahrnehmungen und Vermutungen sind Algorithmen. Wir haben viele Beispiele kennengelernt, die uns zeigen, dass mathematische Verfahren unsere Zukunft unter Umständen besser voraussagen können als wir selbst, ja, selbst als ein Experte. Unter Umständen? Ja, denn auch mit Algorithmen im Speziellen und mit statistischen Methoden im Allgemeinen können prognostische Verzerrungen einhergehen. Der Algorithmus schützt, aber wie jede Impfung kann er auch schaden. Darum mussten wir uns auch mit statistischen Verzerrungen beschäftigen. Der Antipode von Algorithmen ist die Intuition. Dürfen wir unserem Bauch trauen? Wir haben viel Zeit darauf verwendet, die Glaubwürdigkeit intuitiver Prognosen zu hinterfragen, denn sie kommen uns immer in den Sinn, wenn eine Entscheidung ansteht. Immer. Aber nicht immer ist die Intuition ein guter Ratgeber. Doch das lässt sich rechtzeitig prüfen, denn es gibt ihn, den Lackmustest für „nützliche“ Intuition. Schließlich haben wir uns ausführlich mit Experten auseinandergesetzt. Sie sind in vielen Alltagssituationen unentbehrlich. Wir kommen ohne sie dann nicht mehr aus. Sie haben Macht über unsere Entscheidung, und darum müssen wir ihnen ganz genau auf die Finger schauen. Doch nur vom Hinschauen alleine können wir wohl kaum erkennen, ob der Experte einer ist oder ob er nur gelernt hat, wie einer zu erscheinen. Darum benötigen wir auch hier einen Lackmustest. Nur wenn er ihn besteht, dürfen wir unsere Entscheidungen an seinen Empfehlungen ausrichten. Doch wir hören keineswegs nur auf Experten. Herden sind ebenso wichtig. Sie sind in vielerlei Hinsicht nützlich für uns. Aber weil sie uns nicht immer auf grüne Weiden, sondern zuweilen auch über die Klippe führen,

6  Was können wir tun? Was müssen wir tun?     343

müssen wir hinschauen. Die „Schwarmintelligenz“ prognostiziert nur dann besser als wir selbst, wenn diverse Voraussetzungen erfüllt sind. Im letzten Teil des Buches haben wir uns konkrete Lebens- und Entscheidungssituationen angeschaut. Vorangestellt war ein Kapitel über Lebensziele, oder weniger pathetisch: die individuelle Präferenzordnung. Was will ich? Was ist mir wichtig? Wichtig war dies, weil eine Alltagsprognose eine Referenzgröße benötigt, wenn sie einer Entscheidung dienen soll. Wir haben uns mit 11 Situationen beschäftigt, für die wir im Alltagsleben Prognosen erstellen, von der Konsumentscheidung bis zur Altersvorsorge. Nicht immer gibt es verlässliche Prognosemodelle. Zuweilen brauchen wir Experten, müssen kalkulieren oder unserer Intuition vertrauen. Manche Situationen konnten analysiert werden, und es zeigte sich, wie nützlich es sein kann, ein Problem zu fragmentieren, denn die Teile waren handlicher als das Ganze. In jedem Thema standen andere prognoserelevante Aspekte im Mittelpunkt, sodass ich hoffe, dass Sie das Instrumentarium auch auf eine 12., 13. oder 14. Situation anwenden können. Viel Erfolg!