Der Gleichheitsstaat: Macht durch Nivellierung [1 ed.] 9783428447824, 9783428047826

145 102 33MB

German Pages 320 Year 1980

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Gleichheitsstaat: Macht durch Nivellierung [1 ed.]
 9783428447824, 9783428047826

Citation preview

WALTER LEISNER

.

DER GLEICHHEITSSTAAT

Der Gleichheitsstaat Macht durch Nivellierung

Von

Prof. Dr. Walter Leisner

DUNCKER & HUMBLOT /

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten @ 1980 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany

ISBN S 428 04782 6

Vorwort Dieses Buch über den "Gleichheitsstaat" ist der zweite Band einer Reihe von Betrachtungen, welche 1979 mit "Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform?" begonnen wurde. Sie steht unter einem größeren Thema: Die Spätdemokratie. Die Dogmen von Religion und Politik vergehen - ein Dogma wird stärker denn je geglaubt: die politische Gleichheit. Wer sie nicht als eine Wahrheit verehrt, der erfährt sie als Drohung: Die vielen Gleichen lassen sich nicht mehr beugen. Mit der großen Egalität scheint das Dritte Rom zu beginnen. Die weltliche Reichsmacht der Feudalherren ist gebrochen, die geistige Macht der Kirche verdämmert, auf Erden löst sich alle Macht in Gleichheit auf. Denn dies ist die eigentliche Grundlage des politischen Gleichheitsglaubens: Selbst wenn die Menschen "von Natur" nicht ganz so gleich sein sollten - und jeder erfährt es täglich - so liegt doch der Höchstwert der Gleichheit in der Sicherung der Freiheit. Wo jeder neben dem anderen steht, gibt es keine Herrschaft. Antiautoritäre haben es laut genug verkündet. Doch ganz große politische Hoffnungen werden ganz groß enttäuscht, so auch die Messiaserwartung der Gleichheit. Und es werden nicht im irdischen Paradies Wolf und Lamm friedlich nebeneinander weiden; die vielen gleichen Schafe rufen den Hirten, die Gleichheitsgewalt. Egalität zerstört Herrschaft nicht, sie verstärkt sie ins Ungemessene; der Leviathan bleibt neu zu schreiben. Die zertrümmerte große Gleichheitsmasse kann keinen Freiheitswiderstand mehr leisten, wie Adel, Bürger, freie Bauern, die wesentlich Ungleichen der Geschichte. Auf zahllosen Wegen dringt die Herrschaft des Gleichheitsstaates vor; die Atomisierung der Bürger wird zur Kettenreaktion der Macht. Durchgesetzt ist der politische Monotheismus - eine Staatlichkeit ganz hoch über vielen Gleichen. Doch es ist die schicksalhafte Illusion des Gleichheitsdenkens, hier keine Macht zu sehen, weil alle Beherrschten an der Herrschaft beteiligt seien. Der Machtapparat ruft sich seine Mächtigen, Gleichheitsherrschende wird es immer geben - und vielleicht gar ,die erbarmungslosesten, ,die Vielen.

Vorwort

6

Jeder mag anders darüber denken, ob dieser Weg der politischen Gleichheit aufwärts oder abwärts führt, ob es eine Umkehr gibt. Nur daß wir unterwegs sind, sollen diese Blätter zeigen. Die Gleichen der Französischen Revolution haben kaiserliche Macht geschaffen - Napoleon ist gekommen. Die Gleichheitsmacht bestehi schon; wer wird sie eines Tages - über die Gleichen ergreifen? Erlangen, den 20. 4. 1980

Walter Leisner

Inhaltsverzeichnis I. Vorbemerkung zu einer Herrschaftslehre der Gleichheit....... .....

17

II. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt? . . .

22

1. Egalität -

das wesentlich Antiautoritäre...... ...... . ........

22

a) Gleichheit als "Freiheit gegen Jedennann" ..... . . . . . . . . . . . . .

23

b) Antiautoritäre "Gleichheitsstimmung" gegen jede Gewalt..

24

c) Entkrustung der Hierarchie - Freiheitsgewinn für den Bürger durch "innere Egalisierung der Staatsgewalt" . . . . . . . . . . . 25 d) Gewaltvereinheitlichung durch Gleichheit - leichtere Machtkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 e) Das Ende der gegenseitigen "Gewaltabstützung" von Staat und Gesellschaft .......................................... 28 f) Lückenloser Gewaltabbau - Absterben der Pouvoirs reserves

29

g) Absolute Gewaltlosigkeit - Gleichheit als "negative Machtprämie" .................................................. 30 h) Egalität - der öffentliche Angriff auf die Gewalt ...... . . . . 31 2. Gleichheit als höchste Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichheit -

32

die "Fonn" der Freiheit.. ................ ....

32

b) Gleichheit als Freiheit der Schwächeren....................

33

c) Gleichheit als "gesellschaftliche Freiheit" ..................

35

d) Prozessuale Waffengleichheit als Freiheit.. ............. ...

35

e) "Nutzlose Freiheit" ohne materielle Gleichheit .............

36

3. Gleichheit als die eigentliche Freiheit, als allein wirksame Machtbeschränkung - "überholung der Freiheit durch Gleichheit 37 a) Freiheit nur durch gemeinsame Aktion - also durch Gleichheit 37 b) Die begeisternde egalitäre Freiheit.............. ...........

38

c) Gleichheit als ethische Fonn des Kampfes gegen die Macht . .

40

4. Die Geschichte der Freiheit - eine Historie der Gleichheit .....

43

a) Griechische Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

b) Christentum und Kirche.. . . .... . ..... ...... .......... .....

44

c) Die Französische Revolution...... . ........... ... ..... .....

46

d) Die soziale Umwälzung ...................................

48

Inhaltsverzeichnis

8

5. Von der Freiheit als Sturmbock der Gleichheit zur Libertät als Folge der Egalität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 6. Die Greifbarkeit der Machtzerstörung durch die Gleichheit in der Demokratie. .. . . .. . . .. . .. . . . .. . .. . .... . .. . . ... .. ... ... ... 51 7. Gleichheit: Die große Hoffnung auf das Ende aller Macht.. . ...

52

8. Gleichheit: Kulturfortschritt durch rationale Antigewalt . ... ...

54

Divide et impera .....

58

1. Die Gleichheit als neuer Sozialvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .

58

a) Gleichheit als Recht der Teilnahme am "gemeinsamen Staat"

58

b) Egalität -

Forderung nach dem aktiven Staat.. .. ..... .. ..

60

c) Gleichheit - der Weg zur "Institution" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

61

2. Gleichheit als Zentrum des Pfiichtenbegriffs . . ... . . .. .. . . .. . . ..

64

a) Ohne Gleichheit keine Pflicht ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

b) Egalität macht "Pflicht zu Recht" .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

65

c) "Bürger" -

66

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument -

ein Gleichheitsbegriff ........................

3. Die Gleichheit - Garantie kontinuierlicher Macht, Zwang zu kontinuierlichem Herrschen .................................. 67 a) Macht durch Dauer - "Demokratische Kontinuität" . . . . . . . ..

67

b) Kontinuitätssmwäche durch Unterschiede - Stärke durch Gleichheit ................................................

69

c) Kontinuitätszwang in "Gleichheitsosmose" .................

71

d) Kontinuität als "Gleichheit in der Zeit" ...................

72

e) "Große Innovation" -

zu noch mehr Gleichheit. . .. . .... . ..

73

4. Die geringe Revolutionsanfälligkeit der Gleichheitsherrschaft ..

74

5. Gleichheitsmacht als Lawinengewalt .........................

76

a) Die Machtlawine - Vom Gleichheitsziel zur Herrschaftsbefugnis ....................................................

76

b) Machteinsatzzwang zu "voller Gleichheit" ..................

78

c) Herrschaftsmultiplikation - Die vielen Gleichen als Machthelfer .................................................... 79 d) Hochschaukeln der Macht - Zwang zur Globalreform ......

80

e) Systematisierungszwang der Herrschaft Verfassungssystem der Gleichheit ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 81 f) Gleichheit -

die "ungewollte Macht"-Herrschaftsautomatik 84

6. Gleichheit -

Zwang zur strategischen- Macht.. . .. . .. . . .. . .. ..

86

a) Egalität -

Macht der .,kleinen ,Schritte" ..•......._. .. . . . . . .

86

Inhaltsverzeichnis

9

b) "Liberale" Gleichheitstaktik - "ein wenig Ungleichheit belassen" ..................................................

87

c) Zwang zum "großen" politischen Denken. .. . . . ... .. ..... ..

88

7. Die unmerkliche Gleichheitswahl ............................

89

a) Unmerklichkeit - Voraussetzung aller Macht über Gleiche..

89

b) Radikale Nivellierung - ein Gleichheitsfehler ... . .... ... . ..

90

c) Unmerkliche Einebnung - ein Gebot der "Gleichheitsgerechtigkeit" ............................................. 91 d) Die "unbeweisbare Gleichheitsverteilung" - Datengewalt als Gleichheitsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 8. Die unkontrollierte Gleichheitsgewalt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Parlamente -

Verstärkung der Egalisierung. .. ... . . ... . ...

92 94 94

b) Opposition - Drängen auf mehr Nivellierung . . . . . . . . . . . . . ..

96

c) Das Fehlen der "gesellschaftlichen Kontrolle" ..............

97

9. Die "pluralistische Ordnung" - Verstärkung und Legitimation der Gleichheitsmacht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Pluralismus - Ruf nach vielfaltzerstörender Gleichheit. . . . .

99

b) Toleranz als Angleichungszwang ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 100 c) Pluralismus als Form der Entindividualisierung ........... 101 d) Pluralismus -

Machtlosigkeit der vielen Gleichen . . . . . . . . .. 102

10. Der Gleichheitsstaat als sparsame Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . .. 102 a) Reibungslosigkeit der Herrschaft über Gleiche ............. 103 b) Klare, einfache Zielvorgabe ............................... 103 c) Erleichterung des Technologieeinsatzes ..................... 104 d) Die billige Selbstbewachung der Gieichen .................. 104 11. Der Gleichheitsstaat als Friedensordnung ..................... 106 12. Der Gleichheitsstaat -

ein ganz neues Divide et impera ...... 108

a) Von der außenpolitischen Maxime zum System der Innenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 108 b) Von der Minderung der Gegenmacht zur Unterwerfung der Gleichen ................................................. 109 IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt - egalisierende Herrschaftsverstärkung mit rechtlichen Mitteln .............................. 110

1. Der Gegensatz von Freiheit und Rechtsidee - Gleichheit als "stärkere Rechtsidee" ... . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 110 2. Gleichheit als "Gerechtigkeit" ................................ 114 a) Suum cuique -

allen das Gleiche ......................... 114

10

Inhaltsverzeichnis b) Gleichheitsverletzung - der einzig deutliche Gerechtigkeitsverstoß ................................................... 115 c) "Soziale Gerechtigkeit": nichts als Gleichheit . . . . . . . . . . . . . .. 116 3. Gleichheit - Verstärkung der Herrschaft durch Nonnativismus 117 a) Nonn als Gleichheit ....................................... 117 b) Nonnativismus 4. Der Richter -

Selbstverstärkung der Gleichheit ....... 117

Hüter und Verstärker der Gleichheit

119

a) Nivellierung durch richterliche Rechtsfortbildung

119

b) Der schwächerenschützende Richter ........................ 120 c) Gerichtsbarkeit - Verstärkung und Verschleierung der Gleichheitsmacht ......................................... 121 5. Die Verwaltung als Instrument des Gleichheitsstaates ......... 122 a) Egalität durch Legalität .................................. 123 b) Egalitäre Machtverstärkung im modernen Verwaltungsrecht 12:J 6. Machtkonzentration nach oben "durch Gleichheit" ............ 126 a) "Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse" gegen Föderalismus ...................................................... 127 b) Ministerialgewalt im Namen der Gleichheit ................ 127 c) Rechtswegestaat als Zwang zur Machtkonzentration ....... 129 7. Öffentliches Interesse als Gleichheitsinteresse ................ 130 8. Gleichheit als Grundlage der typisierenden Staatsgewalt ...... 132 9. Der Zug zum öffentlIchen Recht - mehr Gleichheit . . . . . . . . . . .. 134

v. Die Gleichheitsstufen -

"Gleichheit vor dem Gesetz" und "Chancengleichheit" als Nivellierung .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136 1. Die Gleichheit vor dem Gesetz -

eine nivellierende Machtentscheidung ................................................... 137 a) Volle Unterwerfung unter die Macht der numerisch Gleichen 138 b) Vom Gewohnheitsrecht der Unterschiede zum geschriebenen Recht der Gleichheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 c) Gleiche Chancen vor dem Richter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 d) Rechtsprechung durch "einen Gleichen" .................... 140 e) Erscheinen vor Gericht -

ein Privilegsverlust ............. 140

f) Von der Gleichheit vor dem Gesetz zur Gleichheit durch Ge-

setz ...................................................... 141

2. Die Chancengleichheit -

Chance zur vollen Nivellierung ..... 143

a) Die ökonomische und die moralische Begründung der Chancengleichheit ............................................. 143

11

Inhaltsverzeichnis

b) "Gleiche Chancen" als nivellierende Güterverteilung ....... 145 c) Chancengleichheit - unmöglich, willkürlich, widersprüchlich 147 d) Chancengleichheit - Entscheidung gegen Familie und Eigen-

turn ............•......................................... 153

e) Chancengleichheit als Herrschaftsauftrag und Machtgewinn 156

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht ...... ............. 158 1. Steuergleichheit als Grundlage von Steuernormativismus und

Steuerparlamentarismus ..................................... 158

2. Die Steuergleichheit als Herrschaftsinstrument der Verwaltung 160 3. Steuergerichtsbarkeit als Gleichheitsverstärkung ............. 162 4. Die Steuergewalt als einheitliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 164 5. Die Steuergleichheit als moralische Macht - Das Steuerstrafrecht ........................................................ 165 6. Die ungezielte, unmerkliche Herrschaft der Steuergleichheit ... 167 7. Die unaufschiebbare Gewalt des Steuerstaates ................ 168 8. Der Steuerstaat - Ausdruck der Machtverstärkung durch atomisierende Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 169 9. Die Nicht-Sachgebundenheit der Steuer - Grundlage des Herrschaftsbeliebens ............................................. 171 10. Steuervielfalt - Machtvielfalt ................................ 174 11. Steuern - Machtstrategie und Gewöhnungseffekt ............. 176 12. Mit den kleinen Schritten der Steuer in die Macht .............. 177 13. Mißbrauch und wirtschaftliche Betrachtungsweise - überwindung der Norm im Namen der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 180 14. "Der wesentlich ungleiche Steuerpartner Staat" - gedeckt durch die Gleichheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 182 15. Steuertypisierung -

Nivellierung durch die Exekutive ........ 183

16. Gegen das Steuergeheimnis im Namen der Gleichheit. . . . . . . . .. 186

VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit 1. Leistungsfähigkeit -

die soziale Nivellierung 189

ein allgemeiner Nivellierungsbegriff .... 189

2. Die Pseudobegründung der Leistungsfähigkeit aus der Freiheit 190 3. Leistungsfähigkeit -

ein Begriff rein faktischer Gewalt ...... 191

4. Belastung nach Leistungsfähigkeit - "gleiche Merklichkeit der Herrschaft" .................................................. 193

12

Inhaltsverzeichnis 5 "Leichtere Durchi"etzbarkeit gegenüber Leistungsfähigen" - ein Zeichen vorgängiger Egalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 195 6. Belastung nach Leistungsfähigkeit -

gleichheit -

steigender Zoll für Undie Rückkehr des Assekuranzdenkens ............ 196

7. Die egalitäre Selbstverstärkung der Herrschaft durch das Leistungsfähigkeitsprinzip: die progressive Belastung ............ 198 8. Durch Leistungsfähigkeitsdenken zur Bedürfnisbeherrschung

durch den Staat .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 200

9. Von der unterschiedlichen Leistung zur gleichen Leistungsfähig-

keit ......................................................... 202

VIII. Der Verbändestaat als Herrschaftsordnung der Gleichheit . ......... 204

1. Verbandlichkeit -

ein Bestandteil der Herrschaftsordnung .... 204

a) Herrschaft durch Verbände .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 204 b) Verbände - Hilfsorgane der Demokratie ................... 205 c) Die "originäre" Verbandsmacht als Reservedemokratie . . . .. 207

d) Staats ähnlichkeit der Verbandsherrschaft ................. 208 '2. Der "notwendige Verbändestaat" der Demokratie ............. 209 a) Demokratie als Verband ............ , ...................... 209 b) Parteien als Verbände ..................................... 209 c)

Der Zug zum staatsähnlichen Großverband ................ 210

d) Machtmäßigung des Staates durch Verbände. . . . . . . . . . . . . . .. 211 3. Verbände als Antinivellierungsmacht? ........................ 212

a) Verbandlichkeit als Dezentralisierung ..................... 212 b) Verbände als neue "Zwischengewalten" .................... 212 c)

Der Verband als "Individualität" ........................... 213

4. Verbändestaatlichkeit -

eine Folge der Egalisierung .......... 213

5. Innerverbandliche Organisation als Herrschaftsform der Gleichheit ......................................................... 215

a) "Ein Mitglied -

eine Stimme" ............................. 215

b) Das Mehrheitsprinzip - der Verband als "Gesellschaft von Gleichen" ................................................ 216 c) Der Verband als egalisierendes Diskussionsforum ........... 217 d) Verbandsmanagement als Egalisierungsinstanz ............. 217 e) Verbandsinformationen als Egalitätsprämien .............. 218 f) Die Egalisierung durch Verbandslobby ..................... 218

Inhaltsverzeichnis

13

6. Die Großnivellierung in den Massenverbänden . . . . . . . . . . . . . . . .. 219 a) Der Zug zum Großverband ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 220 b) Der unaristokratische Massenverband ..................... 220 c) Das gemeinsame angleichende Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 221 d) Die innerverbandliche Nivellierung im Großverband ...... 221 e) Die Nähe des Großverbandes zur egalitären Staatsdemokratie .................................................... 222 7. Die Verbände -

zweite Herrschaftsfront der Gleichheit ...... 223

a) Entindividualisierung -

Interessenapathie ................ 224

b) Der Verband als verlängerter Befehlsarm des Staates ...... 224 c) Der beliehene Verband als Herrschaftsinstrument . . . . . . . . . .. 225 d) Verbände als Datenlieferanten für den Staat .............. 226 e) Das Gespräch Staat-Verbände - Abbau des Widerstands gegen den Staat .......................................... 226 f) Die verbandliche Vorbereitung der Staatsrnacht in der Ge-

sellschaft ................................................. 227

g) Verbändenivellierung durch den Gleichheitsstaat ............ 228 IX. Der Tarifvertragsstaat als Herrschaftsordnung .................... 231 1. Tarifautonomie als Herrschaftsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 231

a) Vertragsautonomie - und ihre Abschwächung - als "politische Entscheidung" ...................................... 231 b) Tarifautonomie - gezielte egalisierende Herrschaftsvorbereitung an der Basis ...................................... 232 c) Das Tarifsystem - eine Form indirekten, staatlich ferngesteuerten Zwanges ........................................ 232 2. Das Tarifsystem - nicht "normaler" Vertrag, sondern politische Herrschaftsentscheidung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 234 a) Abschlußzwang ........................................... 234 b) Nicht Einigung - Waffenstillstand ......................... 235 c) Vertrag über Rechte Dritter ................................ 236 d) Riesenkartell ............................................. 236 3. Die Gleichheit - Vorverständnis und Ziel der gesamten Tarifvertraglichkeit .............................................. 237 a) "Vertraglichkeit nur zur Gleichheit" - Notwendige "Vertragsgleichheit"? . ......................................... 237 b) "Waffengleichheit" - im Vertragsrecht unbekannt. . . . . . .. .. 238 c) Das Dogma vom Machtgefälle Arbeitgeber-Arbeitnehmer .. 239 4. Tarifvertraglichkeit als Nivellierungsinstrument .............. 241 a) Hebung der "Schwächeren" innerhalb der Koalitionen ...•.• 241

14

Inhaltsverzeichnis b) "Die Arbeitnehmerschaft" - Solidarisierung als Egalisierung 243 c) "Unternehmergleichheit" durch tarifvertragliches Lohnkartell ................................................... 244 d) Gleichheitsbalance zwischen den Sozialpartnern ........... 246 5. Die Mitbestimmung - Krönung des Systems der egalisierenden Tarifvertraglichkeit .......................................... 246 X. Gleichheit durch Medien . ......................................... 249 1. Der Medienstaat ............................................. 249

a) Gleichheitsgewalt durch staatsferne Instanzen ............. 249 b) "Medienstaat" ............................................ 249 c) Die Medien als "Institution" - als Herrschaftsinstanz ....... 250 d) Die Medien als Teil des Herrschaftsapparates .......... . . .. 250 e) Das "Herrschaftsforum" ................................... 252 2. Eine Institution in Ungleichheit - und doch ein Instrument der Gleichheit ................................................... 252 a) Medienvorrechte -

Privilegien "reiner Macht" ............ 252

b) Kritik als Egalisierungszwang .............................. 253 c) Ständische Medienstruktur - gerade deshalb egalitäres Wirken ....................................................... 254 3. Die egalisierende Wirkung der Medienmacht ................. 256 a) Preiswertes, das "jeder sich leisten kann" .................. 256 b) Von den Elitärmedien zur Gütenivellierung ............... 256 c) Meinungskonformismus durch Medien ..................... 258 4. Mehr Gleichheit -

ein notwendiges Medienziel ............... 259

a) Das "große Publikum" als Existenzgrundlage ............... 259 b) Die große Aufgabe der "progressiven Medien": Kampf der Ungleichheit .............................................. 260 c) Gleichheitsfragen d) "Medienerziehung" -

"medienoffen" diskutierbar .......... 261 zur Gleichheit ...................... 261

5. Die unwiderstehliche Mediengewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 262 a) Unmerklich-ungezieltes Wirken ............................ 262 b) Kein Widerstand gegen die nivellierende Medienvielfalt ... 263 6. Die Gleichheitsherrschaft durch die Medien ................... 265 a) Der Weg des Staates zu den herrschaftsverstärkenden Medien 265 b) Medienkonforme Herrschaftstechniken ..................... 266 c) Zusammenfassung: Machtpotenzierung durch Gleichheit ... 270

Inhaltsverzeichnis 7. Die Medien -

15

Instrumente alternativlosen Herrschens ........ 271

a) "Oppositionsverengung" durch Zwang zur Medienfönnigkeit 271 b) Keine Medienhilfe für eine "Opposition gegen die Gleichheit" 272 8. Die Verstärkung der "Prämien der Macht" durch die Medien ... 273 9. Die Erhaltung der Teilnahmeillusion des Bürgers an der staatlichen Macht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 275 a) Medien - Demokratietheater gegen Wahlapathie ........... 275 b) Die Gewalt des ständigen Wahlversprechens ............... 276 c) Widerstandsillusion ....................................... 277 10. Divide et impera -

die Gleichheitsgewalt über die Medien .... 278

a) Selbstblockade der Medien in Meinungsfreiheit .. . . . . . . . . . .. 279 b) "Meinungsvielfalt" - Zerschlagung der Gegenmacht der Medien ................................................... 279 c) Die zersplitterten Medien - "Gesellschaftliche Kräfte" als Gleichheitskontrolleure ................................... 281 XI. Ausbruch aus der Gleichheit? ..................................... 283

1. Mehr Leistung? ............................................. 284

a) Einheit von Leistung und Leistungsverdienst .............. 284 b) "Gesellschaftliche Funktionengleichbewertung" - daher Nivellierung des Leistungsverdienstes? ........... . . . . . . . . . . .. 285 c) Progression -

Zerstörung des Leistungsdenkens ........... 287

2. Differenziertes Bildungssystem . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 287 a) Entegalisierung durch Differenzierung der Ausbildung . . . . .. 287 b) Pädagogische Freiheit gegen Nivellierung ................. 288 c) Berufsbeamtentum als gestuftes Bildungsmodell . . . . . . . . . . .. 290 3. Stärkung der Familie als Keimzelle gesellschaftlicher Vielfalt 291 4. Mut zu allem Privaten -

mehr Selbsthilfe .. . . . . . . . . . . . . . . . .. 293

5. Systematischer Minderheitenschutz gegen Nivellierung . . . . . . .. 295 6. Ein neues kulturelles Vielfaltsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 297 7. Ethische Entzauberung der Gleichheit ......................... 299 XII. Entwicklungslinien der Gleichheitsgewalt ......................... 304

1. Die Stufen der Nivellierung ................................. 304

a) Rückführung aller Unterschiede auf Besitz . . . . . . . . . . . . . . . .. 304

16

Inhaltsverzeichnis b) Entherrschaftlichung des Eigentums

305

c) Die Nutzlosigkeit des Besitzes ............. " .............. 306 d) Das Kleinbürgertum ...................................... 308 2. Die Verstärkung der institutionellen Staatsgewalt ............ 309 a) Zentralstaat .............................................. 309 b) Personalgleichschaltung ................................... 310 c) Staatsassimilierung von Kirchen und Großbetrieben . . . . . . .. 311 3. Das Ende der Kontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 313 a) Die Kontrollunfähigkeit der egalisierten Volksvertreter ..... 313 b) Gleichheitsdiskussionen -

und kontrollfreie Bürokratie .... 315

4. Ausblick: Herrschaft ohne Herrschende -

oder reine Gewalt? 316

a) Nutzlose Herrschaft? ...................................... 316 b) Und doch Herrschaftswillige! .............................. 317 c) Aufstand gegen die Gleichheitsherrschaft -

Anarchie ...... 318

I. Vorbemerkung zu einer Herrschaftslehre der Gleichheit Nach dem Buch "Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform" wird hier nun ein weiterer Band zu einem Themenkreis vorgelegt, den man benennen könnte: Prinzipien und Entwicklungen der späten Volksherrschaft. Die Grundstrukturen, das Wesen dieser Demokratie, sie werden ja nicht so sehr in zeitlosen, philosophischen Grundannahmen deutlich, als vielmehr in ihrer Entwicklung. Und eine "späte" kann sie genannt werden, weil sie sich heute einem Zustand nähert, der schon so oft in der Geschichte ihr Ende ankündigte, vor allem aber, weil sie ihre Herrschaftsformen zuhöchst gesteigert hat. Dies soll hier am mächtigsten Grundpl'linzip der Demokratie gezeigt werden - an der Gleichheit. Den Anschluß an die Untersuchung über die Selbstzerstörung der Demokratie findet diese Arbeit darin: In jenen Blättern wurde die parlamentarische, auf Freiheit gegründete Volksherrschaft dem Rätestaat gegenübergestellt, der Ordnung der gewaltigen und gewaltsamen Gleichheit. Die Chancen dieser radikalen Egalitätsmacht sind sicher hoch, größer als die eines geschwächten, sich selbst schwächenden Parlamentarismus. Herrschaftsschwäche ist ja das eigentliche Problem der freiheitlichen, liberalen Demokratie. Doch muß sie wirklich enden in politischer Niederlage gegenüber der autoritären Gleichheit der Räte, in gewaltsamer Auflösung? Kann sie sich nicht selbst wandeln, einen "dritten Weg" zu neuer Macht gehen, in ihr "Drittes Rom" - in die Gleichheitsgewalt, aus der Freiheit heraus mit den Mitteln, mit dem Segen der Freiheit? Diese Entwicklung ist es, welche hier verdeutlicht werden soll. Damit wäre dann auch eine Antwort gegeben auf die Frage "Selbstzerstörung einer Staatsform"? Sie würde lauten können: Selbstzerstörung, nein; Selbstüberwindung in Gleichheit. Die folgende Untersuchung steht unter einer großen These: Gleichheit bringt nicht Machtabbau, sondern Machtverstärkung; Nivellierung ist das stärkste moderne Herrschaftsinstrument. Dieses Thema unterscheidet sich grundlegend von dem des früheren Bandes. Daß nämlich in der parlamentarischen Demokratie selbstzerstörerische Tendenzen angelegt seien, ist heute Gemeingut, ja eine Banalität. Interessieren kann allenfalls noch, wie weit die Selbstvernichtung 2 Lelsner

18

I. Vorbemerkung zu einer Herrschaftslehre der Gleichheit

schon fortgeschritten ist. Doch in der These dieser Betrachtung scheint nun das Paradox offensichtlich: Gerade aus der Egalität, aus jenem Grundprinzip, das doch nichts anderes zu sein scheint, als Herrschaftsnegation, als Abschwächung, Überwindung aller Macht, soll denn eben daraus - neue, lastende, ja vernichtende Mächtigkeit entstehen? Dies aber ist gerade die zentrale Behauptung: In der Egalität als solcher liegt nicht Machtabschwächung, sondern Machtverstärkung; sie ist darin überwältigend, daß sie sich selbst hinaufpflanzt zu immer neuer Gewalt. Diese Macht ist nicht nur dadurch besonders gefährlich für die Freiheit des Bürgers, daß in ihr diese Tendenz zur Selbstverstärkung liegt, sondern auch in der Unmerklichkeit, in der Allseitigkeit und in der Freiheitslegimitaton ihrer Entfaltung - und all dies wird so dann zur Freiheitszerstörung eingesetzt. Das Sterben der Freiheit in Gleichheit - dies könnte man auch über die folgenden Blätter schreiben. Sie wollen zeigen, daß Libertät und Egalität keine Ergänzung bringen, sondern einen unauflöslichen Widerspruch darstellen, daß dieser aber nicht letztlich Spannung bleibt, sondern nur im Siege der Gleichheit endet; und daß es kein Entrinnen gibt aus dieser Egalität, weil sie zugleich in Staat und Gesellschaft wirkt, beide Bereiche zusammenschließt. Diese Gedanken mögen theoretisch als paradoxe übersteigerung erscheinen, in historischer Erfahrung sind sie eine Selbstverständlichkeit. Immer wieder ist ja die ganz große Macht nur aus einem entstanden, in ihm bereits gewesen: in der ganz großen Gleichheit. So ist die spätrömische Kaisergewalt errichtet worden auf der atomisierten Bürgergleichheit, die allen Menschen im Römischen Reiche verliehen wurde; und auf die Frage, warum denn auf so viel Gleichheit der Französischen Revolution so viel napoleonische Macht folgen konnte, gibt schon Chateaubriand die gültige Antwort: Wie einfach - nur aus dieser Gleichheit konnte solche Gewalt kommen. "Volksgenossen" haben es vor kurzem wieder erlebt. So ist denn die Egalität das größte Herrschaftsinstrument des Caesarismus gewesen. Sie zerschlägt die aristokratischen Gegenkräfte, atomisiert die Bürgerfreiheit, stellt Mittel der Herrschaft bereit, schafft herrschaftsgünstige Zustände, in welchen dann der ganz große Gewaltige nurmehr ein letztes Divide et impera einsetzen muß, um die Gewalt an sich zu errichten. Und deshalb werden diese Blätter jetzt geschrieben: Weil wir in immer größerer Gleichheit leben, damit aber in immer größerer Freiheitsillusion, weil wir glauben, liberal zu bleiben, in Wahrheit aber - egal werden, gleich und gleichgültig einer Macht, die sich über uns in unser aller

I. Vorbemerkung zu einer Herrschaftslehre der Gleichheit

19

Namen zusammenzieht. Heute mag sie noch von freiheitsbewußten Menschen zu unserem ruhigen Glück gebraucht werden, morgen schon kann sie in die Hände des Diktators fallen. Denn Gleichheit ist letztlich eben kein Zustand, sondern ein Herrschaftsinstrument. Diese Kapitel sind Staatstheorie, Staatsrecht und Herrschaftslehre, nicht Wirtschaftstheorie oder Soziologie. Es geht hier nicht darum, gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben, sondern politische Herrschaftsmechanismen; Gegenstand der Betrachtung sind nicht ökonomische Verteilungsvorgänge, sondern die Machtausübung von Menschen über Menschen im Namen der organisierten politischen Gemeinschaft. Sicher werden immer wieder soziologische und ökonomische Grenzüberschreitungen unterlaufen - mögen sie die Nachsicht des Lesers finden. Eine Herrschaftskategorie, die sich derart wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung bedient, kann nicht auf den engen Raum herkömmlicher politischer Institutionen festgelegt werden. Doch um eines geht es hier sicher nicht: um den Nachweis, wieviel an Gleichheit bereits im einzelnen geschaffen ist. Dies könnte nur ökonomische und soziologische Analyse erweisen. Sie würde wohl noch weit mehr feststellen können als das, wovon die folgenden Betrachtungen immer wieder, in globaler Beispielhaftigkeit, ausgehen. Denn die Liste der Nivellierungen, die Verlustliste unserer Bürgerfreiheit, unserer Individualität, ist heute schon lang, jeder von uns kann sie aus eigener Erfahrung verlängern. Wenn irgendwo Vollständigkeit nicht mehr zu erreichen ist, so bei der Auflistung der Nivellierungsinstrumente und der Nivellierungseffekte moderner Staatlichkeit. Da sind Steuerprogression und nivellierte Abschreibungsmöglichkeiten; gleichmachende Beitragsgestaltung in der Sozialversicherung; Nivellierung in Besoldung, Beihilfen, Urlaub im öffentlichen Dienst; Zuruckdrängung und Abschaffung von Amtsbezeichnungen und Titeln; Sozialtarife bei öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen öffentlichen Leistungen; nivellierende Krankenvorsorge nach dem Bedürfnis und klassenloses Krankenhaus; kostenlose Schule und Lehrmittel, sozialgestaffelte Kindergartenbeiträge; da sind die vielen Transferleistungen, welche die Staatsgewalt anbietet, von Stipendien und Ausbildungsförderung über Subventionen und sozialen Wohnungsbau bis zu Wohngeld und Kohlengeld. Und da sind schließlich die Nivellierungswirkungen zahlloser Gesetze, die den einen eben unverhältnismäßig schwerer treffen als den Mitbürger - vom Ladenschluß bis zur allgemeinen Wehrpflicht. Eines stünde aus und steht wirklich an, wenn man ehrlich Staatlichkeit spielen wollte: eine ganz große Egalitätsenquete in Staat und Gesellschaft. Selbst viele Vertreter der Gleichheit würden hier wohl erschrecken.

20

I. Vorbemerkung zu einer Herrschaftslehre der Gleichheit

Doch dies ist noch gar nicht das Entscheidende, um das es hier geht wieviel bereits an Gleichheit geschaffen ist; der Gleichheitsstaat will ja etwas ganz anderes, seine Gefahr liegt darin: Er versucht mehr Gleichheit und damit mehr Macht. Er ist ein Herrschaftsphänomen, nicht eine Tatsachenfeststellung. Wieviel Egalität besteht, kann ihm gleichgültig sein, wenn er nur begründen kann, warum mehr an Gleichheit notwendig ist. Im Gegenteil sogar: Der politische Gleichheitswille braucht immer wieder Ungleichheiten,um sie dynamisch gestaltend zu überwinden. Die erreichte Gleichheit mag ihm Bestätigung sein, Ansporn zu neuen Forderungen, doch noch wichtiger ist ihm die zu überwindende Inegalität. So ist es denn typisch für unsere heutige Entwicklung, daß hinter jeder der beispielhaft erwähnten, bereits erreichten Gleichheiten noch viel weitergehende Gleichheitsforderungen stehen: vom Sozialtarif zum Nulltarif. Hier bedarf es also gar nicht einer eingehenden Erfolgsbilanz bisheriger Gleichheitsbemühungen. Denn gerade wenn sie noch nicht ganz überzeugend wäre, so würden und müßten ja dauernde Egalitätsstöße kommen, weil der begonnene Gleichheitsstaat sich aus seinen Grundideen heraus in totaler Gleichheit vollenden muß, durch Einsatz seiner Herrschaftsmacht. Dies soll hier gezeigt werden. Wo also Nivellierung beispielhaft aufgezeigt wird, dient dies nur dem Nachweis, daß dieser große Weg der Gleichheit bereits mit Erfolg beschritten wird, daß Gleichheitsstaatlichkeit nicht eine theoretische Chimäre ist, sondern eine mächtige Realität. Daß aber noch nicht überall heute Gleichheit ist, beweist nichts gegen den Gleichheitsstaat, sondern alles für ihn: die Notwendigkeit, daß in dieser Richtung noch größere Anstrengungen unternommen werden müssen, kommen werden. Denn Gleichheitsstaat ist eben mehr als registrierte Realität, er ist Wille aus Wirklichkeit. Die Untersuchung beginnt mit der herkömmlichen These, daß Gleichheit nichts anderes sei als Vollendung und Verstärkung der Freiheit. Sodann folgen die großen Antithesen: Gleichheit ist stärker als Freiheit, sie ist ein wesentliches Herrschaftsinstrument, sie hat die Macht der Selbstverstärkung in der Herrschaftseskalation. Diese Gegenposition soll dann erhärtet werden an einer Reihe von Ausdrucksformen des modernen Gleichheitsstaates, von der Steuergewalt bis zur Medienstaatlichkeit. Immer ist die Grundthese eine und dieselbe: Gleichheit ist Herrschaft, Gleichheit wirkt selbstverstärkend, in ihr potenziert sich Macht. In jenen Kapiteln, welche der Kritik der parlamentarischen Demokratie gewidmet waren, konnte und mußte offen bleiben, ob sich diese Staatsform letztlich mit Notwendigkeit selbst vernichtet. Auch hier kann nicht eine staatsrechtliche Prophetie versucht werden, der hohe Unsi-

I. Vorbemerkung zu einer Herrschaftslehre der Gleichheit

21

cherheitsgrad politischer Entwicklungen schließt dies aus. Gegenwartsanalysen können lediglich gewisse theoretische Grundlagen aufzeigen, Grundtendenzen erhärten, Wahrscheinlichkeiten feststellen, vor allem aber politische Kräfte, die am Werke sind. Vielleicht wird es ihnen gelingen, den vollen, freiheitsvernichtenden Gleichheitsstaat auf Dauer zu errichten, wie ihn diese Blätter entwerfen. Vielleicht entwickelt sich aber auch eine elementare Gegenreaktion in einem Widerstand, in dem sich Freiheit in neuen Formen entlädt; vielleicht hat dies schon begonnen, und es gilt dann, auch über diese Seiten hinauszudenken. Sie wollen nur eines: daß in der Nacht an Gleichheit gedacht werde.

11. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt? 1. Egalität - das wesentlich Antiautoritäre Hier wird die These aufgestellt, daß Gleichheit ganz wesentlich machtverstärkend wirke. Doch ist dies nicht ein reines Paradox, liegt es nicht im Wesen der Egalität, daß in ihr Herrschaft, Gewalt abgebaut werde, wo immer sie auftritt? Die Gleichheit war doch der große Motor der Emanzipation in der modernen Gesellschaft. Diese aber hat, das ist schon fast ein Tabu, dem Bürger größere Freiheitsräume gebracht, gegen andere ebenso wie gegen den Staat. Ist die Gleichheit nicht, in der ganzen neueren Geschichte, stets die unzertrennliche Begleiterin der Freiheit gewesen, ihr Schrittmacher sogar? Wer also Machtverstärkung durch Gleichheit nachweisen will, muß zunächst einmal die weithin anerkannte Gegenposition untersuchen: Egalität ist ganz wesentlich Machtminimierung; in ihr stirbt die Gewalt von Mensch über Mensch so vollständig ab, daß sie sich letztlich auch im Verhältnis des Bürgers zum Staat nicht mehr halten läßt. Die Gleichheitsordnung erscheint, aus dieser Sicht, als die wesentlich gewaltlose Gesellschaft einer bereits greifbaren Zukunft. Dies ist wirklich eine Schicksalsfrage der modernen, demokratischen Staatlichkeit, welche so eng mit der Gleichheit verbunden ist, auf ihr aufbaut: Wenn nämlich die Gleichheit Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen nicht entscheidend abschwächt, so verliert sie damit nicht nur ihre wesentliche Legitimation, sie droht zur antiautoritären illusion zu werden, auf die sich der Bürger in der Hoffnung verläßt, freier zu werden, obwohl sie ihm doch nur - eine andere, noch mehr lastende Gewalt beschert. Gleichheit wird heute mit solcher Macht, mit solcher Begeisterung begehrt und durchgesetzt, daß ein gefährlicherer Irrtum kaum denkbar wäre. Immerhin lassen sich für die These von der Gleichheit als dem wesentlich Antiautoritären gewichtige Gründe anführen:

1. Egalität -

das wesentlich Antiautoritäre

23

a) Gleichheit als "Freiheit gegen Jedermann" Gleichheit bedeutet geradezu begrifflich "weniger Herrschaft". Wo immer sie durchgesetzt wird, in der Familie oder in der Arbeitswelt, in der Gleichstellung von Bürger und Staat vor den Verwaltungs gerichten oder im gemeinsamen Wahlakt - überall werden Niveauunterschiede zwischen Menschen, Gliedern der Gemeinschaft eingeebnet. Ihre große Kraft ist, daß sie Freiheit gegen Jedermann zu bringen scheint. Spätestens seit der Aufklärung, und nicht erst im antiautoritären Schrifttum der letzten Jahrzehnte, ist klar erkannt worden, daß in jeder Ungleichheit zwischen Menschen, mag sie nun gesellschaftlich oder staatlich-politisch begründet sein, ein Keim zur Machtausübung, eine Versuchung zur Gewalt über den Mitmenschen liegt. Ein demokratischer Staat, welcher die Fr(!iheit, die Herrschaftslosigkeit, als einen Grundwert an sich proklamiert, kann grundsätzlich keinen Unterschied machen, ob diese Gewalt vom Staate oder von anderen Gliedern der Gesellschaft ausgeht. Er blickt in erster Linie auf den einzelnen Bürger und will ihn als ein möglichst herrschaftsfreies Wesen; der Begriff von Macht und Gewalt wird nicht auf das Verhältnis des Bürgers zum Staat eingeengt. Die Gleichheit aber ist es, in der sich die Machtfreiheit in alle Richtungen gleichmäßig entfaltet: Gleichheit ist die einzige "drittgerichtete Libertät". Dies war der große, demokratie-ideologische Ansatz der Diskussion um die sog. Drittwirkung der Grundrechte nach 1949: Die Freiheitsrechte sollten sich nicht mehr allein gegen die politische Staatsgewalt wenden, Freiheitsräume gegen die "Polizei" absichern. Die eigentlichen großen Freiheitsgefahren für den Bürger glaubte man nicht mehr so sehr in dieser klassischen staatlichen Eingriffsmacht zu erkennen, welche ja auch durch Demokratisierung und Wahlen entschärft wurde; vielmehr schien doch nun die moderne Gewalt vor allem von sozialen Mächten zu kommen, vom Arbeitgeber und den Verbänden, vom Vermieter und von der Familie. Und selbst der Staat erschien als eine besonders gefährliche Macht nicht dort, wo er mit Polizeibefehl vorging, sondern wo er sich, nach der berühmten "Flucht ins Privatrecht", als eine privatrechtliche, gewährende - oder eben nicht gewährende soziale Macht betätigte. So wollte man denn "der Gewalt" in all ihren Spielarten entgegentreten, stets im Namen der Grundrechte, die also auch gegen Privatrechtssubjekte, gegen andere Bürger, in Anspruch genommen werden sollten. Dahinter stand die Vorstellung, daß der Begriff der Macht viel allgemeiner zu verstehen und nicht auf die staatliche Macht festzulegen sei.

24

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

Und hier nun war es die Gleichheit, welche als einziges "Grundrecht gegen Jedermann" anerkannt wurde. Die "Drittwirkung der Freiheit" hat sich ja nicht allgemein durchsetzen können, denn bald erkannte man, daß sich hier die Freiheit selbst aufzuheben droht: Wenn jeder Bürger den Grundrechtsraum des anderen auch im rechtsgeschäftlichen Verkehr zu achten hat, so kann von Privatautonomie, einem wesentlichen Freiheitsrecht, nicht mehr die Rede sein. Freiheit besteht eben gerade auch darin, die eigene Freiheit aufzugeben, sich zu binden, vor allem im Vertrag; in ihm wird Freiheit zur Legitimation der Herrschaft, es kommt zur "Fremdbestimmung durch Freiheit". Doch hier ist es nun die Gleichheit, welche einen Kernbereich der Freiheit unbedingt sichern soll, auch gegen Selbstaufgabe. Durchgesetzt hat sich die "drittgerichtete Gleichheit" vor allem im Arbeitsleben: Das Direktionsbelieben des Arbeitgebers findet in ihr seine Grenze, Mann und Frau muß er gleichbehandeln, gleiche Leistung gleich bezahlen - Gleichheit als Ende der Arbeitsherrschaft. Wenn die Drittwirkungslehre an einem Punkt einen entscheidenden Durchbruch erzielt hat, so im Bereich der Egalität, in der Durchsetzung der Gleichheit als Freiheitsrecht in allen Richtungen. Hat sich damit nicht die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß es eben letztlich doch eine Einheit des Begriffes der Gewalt gibt, und daß diese Gesamtlage der Gewaltunterworfenheit ,auf jeden Fall abgebaut werden muß, daß aber kein Instrument dafür so gut geeignet ist wie das der Egalität? Gleichheit als drittgerichtetes Freiheitsrecht - diese heute schon herrschende Vorstellung zeigt doch, daß sich die Gleichheit als das wesentlich Antiautoritäre bereits laufend bewährt, im Abbau vielfacher Herrschaftsbeziehungen, und damit, insgesamt, in einem mächtigen Freiheitsgewinn; denn die Freiheit erscheint eben als unteilbar, sie verstärkt sich immer dort, wo irgendwelche Unterschiede fallen, im Namen der Gleichheit. b) Antiautoritäre "Gleichheitsstimmung" gegen jede Gewalt

Die Theorie des Antiautoritären geht im wesentlichen davon aus, daß bereits der Abbau "privater" Macht, von Bürger zu Bürger, ein wesentlicher, ein heute geradezu entscheidender Freiheitsgewinn sei. Doch die Gleichheit, in deren Namen dies versucht wird, macht ja, so heißt es, bei dieser Emanzipation nicht Halt; überall soll in ihrem Namen eine "Antiherrschaftsmentalität" entstehen. Eine egalitäre Gesamtatmosphäre muß doch dann auch in den staatlichen Bereich hineinwirken, schon deshalb, weil ja die dort im Namen der Demokratie Herrschenden eben zugleich Bürger sind, damit aber der Tagtäglichkeit der überall bestehenden Egalität und Gewaltlosigkeit unterworfen.

1. Egalität -

das wesentlich Antiautoritäre

25

Darüber hinaus muß doch eigentlich, so mag es scheinen, aus einer allgemeinen Gleichheitsstimmung eine Gleichheitsüberzeugung entstehen, welche sich gegen Gewalt durch Menschen wendet, wo immer diese sich zeigt. Dann aber wird und muß sich doch der Bürger, der Gleichheitsbewußtsein am Arbeitsplatz gelernt hat, im Namen dieses neuen Selbstbewußtseins genauso entschieden gegen jede Art von "Spitzengewalt" wenden, wo immer sie auch auftreten mag - auch, und vor allem, im staatlichen Raum. Das Überwirken des Gesellschaftlichen in das Staatlich-Politische ist hier also mehr als eine blutleere Theorie der "Einheit von Staat und Gesellschaft". Hier durchdringt doch die in der Gesellschaft erworbene, in der Familie oder im Berufsleben täglich praktizierte Gleichheit dann sehr bald auch den Staat und minimiert Gewalt dort ebenso wie zwischen den Menschen. Die Einheit der Gewalt, so lautet die antiautoritäre These, ist so stark, sie wird von Menschen so wesentlich gefühlt, daß Gewaltabbau im Namen der Egalität zwischen Menschen zugleich notwendig auch das Ende der lastenden staatlichen Gewalt bedeuten muß. c) Entkrustung der Hierarchie - Freiheitsgewinn für den Bürger durch "innere Egalisierung der Staatsgewalt"

Und in der Tat läßt sich ja bereits feststellen, so heißt es, daß diese Gleichheit die Herrschaftsstrukturen des Staates selbst durchdringt. Die Organisation der Staatgewalt wird, im Namen der Egalität, eingeebnet, enthierarchisiert, entpyramidisiert. Wenn überall in den Verwaltungen mehr an Teamarbeit stattfindet, wenn der Durchgriff des Vorgesetzten auf den Nachgeordneten sich abschwächt, wenn die Abzeichnungskolonnen in den Verwaltungen kürzer werden, wenn der Untergebene zum Mitarbeiter wird - liegt in all dem nicht ein gewaltiger Aufschwung zur Gleichheit, weil eben der einzelne Beamte und Angestellte der öffentlichen Hand auch zugleich Bürger ist, weil er damit aber den antiautoritären Geist der Gesellschaft in die" verkrusteten staatlichen Strukturen" hineinträgt? So läßt sich doch dann nicht nur behaupten, sondern auch praktisch belegen, daß im Namen der Gleichheit ein Gewaltabbau im Verhältnis des Staates zum Bürger stattfindet, in einer "inneren Egalisierung der Herrschaft". Im einzelnen mag sicher nicht leicht nachzuweisen sein, wie groß der konkrete Freiheitsgewinn des Bürgers ist, der einer derart in sich immer mehr egalisierten, ja nivellierten Staatsmaschinerie gegenübersteht. Wenn etwa im Namen der Egalität die Unterschiede zwischen den Laufbahngruppen des einfachen, mittleren, gehobenen und höheren Dienstes laufend eingeebnet und miteinander verzahnt werden, so daß in abseh-

26

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

barer Zeit kaum mehr wesentliche Unterschiede zwischen den Beamtenkategorien, jedenfalls nach der Bezahlung, bestehen werden, so berührt dies zunächst nicht unmittelbar den Bürger. Kann es ihm nicht gleichgültig sein, wer ihm den Hoheitsbefehl gibt, wie dieser im Verhältnis zu anderen Mitarbeitern bezahlt, wie weitgehend er seinem Vorgesetzten unterworfen ist? Ist nicht die innerbehördliche Gleichheit etwas "ganz anderes" gegenüber dem Staat-Bürgerverhältnis, auf das sie kaum emanzipierend einwirkt? Doch auch hier liegt die emanzipatorische Behauptung nahe: Die Freiheit im Staat-Bürgerverhältnis beginne damit, daß Gleichheit innerhalb der Staatsorganisation zunehme. Denn je weniger elektrische Spannung im Staatsbereich selbst bestehe, desto weniger könne sich davon machtmäßig auf den Bürger fortpflanzen. Die Gleichheit der Staatsbediensteten sei der Beginn der bürgerlichen Freiheit. Und eines immerhin kann zur Unterstützung dieser These herangezogen werden: Die ganze Demokratie ist ja ihrem Wesen nach nichts anderes als eine Form organisatorischer Freiheitssicherung, indem der Bürger durch die Gewählten des Volkes Einfluß nimmt auf den staatlichen Machtapparat, ihn, soz. von außen, demokratisiert. Dies aber geschieht im Namen der Gleichheit und sogar, sieht man auf die Gledchheit der Abgeordneten untereinander, mit Mitteln der Egalität. Wenn aber diese Freiheitssicherung durch Gleichheit so große Wirkungen auf die Staatlichkeit gezeitigt, wenn sie soviel an Kontrolle und damit Machtmäßigung des Staatsapparates bewirkt hat, so ist doch bewiesen, daß eine Egalisierung im staatlichen Bereich unmittelbar zugunsten der Freiheit der Bürger wirkt; es kommt dann doch in jedem Falle zu einer Transformation der "Gleichheit innerhalb der Staatsorganisation" in einen Machtabbau im Verhältnis Staat-Bürger. Damit aber eröffnen sich ganz neue Perspektiven für eine Machtminimierung überhaupt: Sie wirkt zunächst im Gesellschaftlichen, von dort aus, über die Personen der Staatsbediensteten, in den staatlichen Bereich hinein; dort entfaltet sie ihr Eigenleben als "innerstaatliche, staatsorganisatorische Gleichheit" - und wirkt dann wieder als Freiheitsgewinn auf den Bürger machtminimierend zurück. Der Staat wirkt also im Ergebnis lediglich als ein Verstärker der Effekte der Egalisierung in der Gesellschaft: Der Machtabbau, der dort, zwischen den Bürgern, gelingt, kommt in vervielfachter Wirkung, aus dem Staat reflektiert, wieder in die Gesellschaft zurück. Es entsteht eine eskalierende Gleichheitssteigerung, ein spiralförmiger Machtabbau zwischen Gesellschaft und Staat.

1. Egalität -

das wesentlich Antiautoritäre

27

d) Gewaltvereinheitlichung durch Gleichheit-

leichtere Machtkontrolle

Die Gleichheit zwischen den Bürgern mag eine große Vereinfachung bringen, eine Schematisierung und Vereinheitlichung der Bedürfnisse, des Denkens und Fühlens. Doch dies bedeutet zugleich, daß die einzelnen Bürger nicht allzusehr in Gruppen getrennt und damit unterschieden werden, daß sie damit aber auch nicht ganz unterschiedlichen, heterogenen Gewalteinflüssen unterworfen werden, die schwer entdeckt, vor allem aber in ihrem Zusammenwirken kaum kontrolliert werden können. So wie der egalisierte Bürger "ein einheitlicher Typ" wird, so wird auch die Gewalt soz. vereinheitlicht, sie zerfällt nicht mehr, so scheint es doch, in jene zahllosen Gewaltausprägungen, welche die frühere, vor allem die zünftische, ständische, eben die vorrevolutinäre Periode kannte. Die Vereinheitlichung der Gewalt, der Abbau heterogener Gewaltstrukturen, wirkt auf diese Weise ganz wesentlich gewaltminimierend, weil nur in der übersichtlichkeit der Machtausübung und der Machtträger die Chance zu einer echten Kontrolle und damit zu einer Reduktion der Macht liegen kann. Die Gewalt über Menschen ist zwar erst in dem Augenblick als eine lastende wirklich bewußt geworden, als die Französische Revolution, in der Zerstörung der gesamten Zwischengewalten des Ständischen und Zünftischen, aber auch des Kirchlichen, die einheitliche Staatsmacht hervorgebracht hat. VieUach ist auch in der Theorie des Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts Klage geführt worden, daß auf diese Weise der Staat nur neue Macht hinzugewonnen, daß die Staatsmacht den Bürger nur um so mehr bedrückt habe. Doch dagegen kann immerhin eingewendet werden, daß diese neue, zugegebenermaßen besonders lastende, einheitliche Staatsgewalt, welche der freiheitliche Bürger ja in der Terreur leidvoll kennenlernen mußte, eben auch ein neues Antimacht-, ein Freiheitsbewußtsein erzeugt habe, das früher in dem Geflecht der vielen heterogenen Gewalten stets erstickt worden sei. So läßt sich denn durchaus die These hören, die Geschichte habe immer wieder bewiesen, daß die durch die Egalisierung bewirkte Machtschematisierung der Beginn eines großen Freiheitsgewinnes für den Bürger sei. Berechenbarkeit und Rationalität der Macht hätten auf diese Weise entscheidend zugenommen, und die Vereinheitlichung der Macht habe den eigentlich gefährlichen Gewaltträger, die politische Macht des Staates, erst als solche deutlich in Erscheinung treten lassen. Damit aber habe die große Machtentlarvung stattgefunden - und sie führe auf nichts anderes zurück, als auf eben die Egalität: Denn nur in ihrem Namen seien alle jene vielfältigen Zwischenmächte gebrochen worden, welche im Ergebnis das Gefährlichste hervorgebracht hätten - die Kryptogewalt.

28

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt? e) Das Ende der gegenseitigen "Gewaltabstützung"

von Staat und Gesellschaft

Der Gleichheit wird zugute gehalten, daß sie durch die "Vereinfachung des Menschen" nicht nur die versteckten, vielfältigen Gewalten von Korporationen und Religionen, von Familien und vielen anderen Machtinstanzen offengelegt habe. Auf diese Weise sei es auch, so heißt es, unmöglich geworden, daß sich all diese vielfachen Gewalten von Menschen über Menschen weiter verschränkten und gegenseitig abstützten, damit aber praktisch jeden Widerstand in der einen oder anderen Weise abfangen könnten. Der Gleichheitsbürger steht einem Herrn, dem Staat gegenüber; dieser kann sich nicht wiederum auf andere Mächte, auf die Kirche oder auf gesellschaftliche Gewalten zurückziehen. Darin lag ja, so heißt es, das besonders Gefährliche früherer Macht: Wurde sie vom Bürger erkannt, angegriffen und geschlagen, so zog sie sich sogleich auf andere Gewalten zurück, welche sie stützten, ohne sich aber mit ihr zu identifizieren. So sehen viele etwa die Rolle der Kirchen in den Bauernkriegen der beginnenden Neuzeit. Die Gewaltenvereinheitlichung im Namen der Gleichheit und der Demokratie, welche in letzter Zeit zugunsten des Staates stattgefunden habe, sei, so meint man, ein entscheidender Gewaltabbau insgesamt, weil es nunmehr keine Flucht von Gewalt zu Gewalt, keine Austauschbarkeit der Gewalten mehr gebe. Und besonders deutlich scheint sich dies im Verhältnis Staat - Gesellschaft zu zeigen: Die Gewaltvereinheitlichung, welche aus der Gleichheit folgt, hindert den Staat daran, in die Gesellschaft zu fliehen, gesellschaftliche Mächte zur Sanktion des politischen Willens einzusetzen, so wie umgekehrt die Gesellschaft nicht auf den Staat ausweichen kann. Eine typische Entwicklung der liberalen Gemeinschaft im 19. Jahrhundert war es in der Tat, daß der Staat gewisse schicht- oder klassenspezifische Handlungsweisen nicht selbst bekämpfte, sondern dies der "Gesellschaft" überließ. Das reichte von Beleidigung und Duell bis zur unehelichen Geburt; die ständischen Vorstellungen "gehobener Berufe" haben sich so entfalten können und schließlich als berufsständisches Recht sogar staatliche Sanktion erreicht. Nicht nur, daß auf diese Weise überall ein Klassen- oder doch Schichtenrecht entstand - die staatliche Gewaltausübung trat als solche zurück, weil die Sanktionen der "Gesellschaft" überlassen blieben. Umgekehrt brauchte diese dort nicht einzugreifen, wo ihre differenzierten und ebenfalls schichtenspezifischen Wertvorstellungen vom Staat übernommen und unter dem Mantel des allgemeinen Gesetzes angewendet wurden - Paradebeispiel dafür ist das Kriminalrecht, vor allem das Sittlichkeitsstrafrecht.

1.

Egalität - das wesentlich Antiautoritäre

29

So kam es denn in der liberalen Zeit zu einer wenig beachteten und doch sehr wirksamen Gewaltenverschränkung und Gewaltendurchdringung zwischen Staat und Gesellschaft, welche die Macht für den Bürger nicht nur schwer durchschaubar, sondern, vor allem, in ihrem kombinierten Einsatz, nahezu unwiderstehlich machte. Denn gegen die gesellschaftliche Mächtigkeit halfen ja auch die politischen Mittel der neu sich entwickelnden egalitären Demokratie wenig. Erst als die Egalität tief in die Gesellschaft hineinwirkte, dort eine Bedürfnisvereinheitlichung, geradezu einen einheitlichen Menschentyp hervorzubringen begann, erst von da an begann dieses Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft, diese kombinierte Machtausübung, an Wirksamkeit zu verlieren. Denn die "Gesellschaft" übte nun, so schien es wenigstens, auf den "Einheitsbürger" weniger und weniger Macht aus, weil dieser ja nicht mehr in den klassen- und schichtenspezifischen Bindungen stand, also auch der Gewalt der öffentlichen Meinung nicht mehr in gleicher Weise unterworfen war. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch im Bereich des öffentlichen Dienstes. Noch vor wenigen Jahrzehnten bestanden dort vielfache berufs- und schichtenspezifische Verhaltenscodices. Der Beamte als solcher hatte sich schon so zu benehmen, wie "man es von einem Beamten erwartet", und dies wurde dann auch häufig noch disziplinarrechtlich sanktioniert. Darüber hinaus gab es besondere Verhaltensweisen für den höheren oder den mittleren Beamten; vom Polizeibeamten wurde etwas anderes erwartet als vom Lokomotivführer. In all dem verfing sich der "Bürger im öffentlichen Dienst", der Beamte, in einem schwer durchschaubaren, nicht zu zerreißenden Netz von gesellschaftlich-staatlicher Machtausübung. Dem allem soll nun die Gleichheit ein Ende machen, und man ist in der Tat auf dem besten Wege dazu. Die Gleichschaltung der Beamtenkategorien ist ein Mittel; auf der anderen Seite, und dies ist noch wichtiger, werden die Erwartungen der egalisierten Bürger gegenüber den egalisierten Beamten ebenfalls - uniformiert. Damit verliert das gesamte Netz der berufsständischen Bindungen und Machtausübungen seine Wirksamkeit. Der letzte Akt der Französischen Revolution, der Zerstörung des Ständischen, scheint bereits abzulaufen. Und überall Machtabbau, im Staat wie in der Gesellschaft, überall im Namen der Gleichheit. f) Lückenloser Gewaltabbau - Absterben der Pouvoirs reserves

Egalität ist ein ganz allgemeines Prinzip, sie macht vor keinem Bereich Halt, auch nicht innerhalb der Staatsgewalt. Gleichheit bedeutet Gewaltlosigkeit überall, vor ihr gibt es keine "Gewaltreserven" und keine "Reservegewalten". Damit hört auf, so scheint es doch, all das, worin man

30

11. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

in vergangenen Jahrhunderten geradezu das Wesen staatlicher Macht gesehen hat: die sog. Pouvoirs reserves. Dann aber dehnt sich doch jene Gewaltlosigkeit, jene Machtminimierung, deren vielfache Wege vorstehend verdeutlicht wurden, auf den Gesamtbereich der Staatsgewalt aus, vor allem auf die eigentlichen Zentren der Macht. Gerade sie, die "hohe Politik", Militär und Auswärtige Gewalt etwa, müssen sich zurückentwickeln, mehr Freiheitsraum dem Bürger lassen, der mit der einheitlichen Macht der Gleichheit auch hier gegen den Staat vordringt. Die Gleichheit gilt dann eben auch innerhalb der Staatsgewalten in dem Sinne, daß keine von ihnen ein echtes Machtprivileg in Anspruch nehmen kann. Es gibt kein öffentliches Interesse, das so hoch wäre, daß in seinem Namen eine besonders lastende Gewalt ausgeübt werden dürfte. Sehr deutlich zeigt sich dies etwa in der modernen Militärpolitik, in allgemeiner Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung. Nicht einmal das höchstrangige Gemeinschaftsinteresse der gemeinsamen Verteidigung gibt dem Staat das Recht, seine Bedürfnisse unbedingt gegenüber den Interessen des Bürgers durchzusetzen, den einen dabei stärker zu belasten als den anderen. Denn auch hier wirkt überall die Egalität, so scheint es doch, mächtig im Sinne des Abbaues der Macht, wenn etwa niemand gegen seinen Willen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf, die Wehrpflicht bald nicht mehr als eine besondere Last für die männliche Bevölkerung erscheint, vor allem aber dort, wo der "Bürger in Uniform" in allem und jedem möglichst dem Zivilisten gleichgestellt werden soll - in all dem dringt heute bereits tagtäglich egalitärer Machtabbau auf breiter Front vor. Dann aber läßt sich doch die These aufstellen, die Gleichheit wirke nicht nur bedeutsam, sondern systematisch, lückenlos im Sinne eines Gewaltabbaus.

g) Absolute Gewaltlosigkeit Gleichheit als "negative Machtprämie" Die Gleichheit stellt Menschen, Bürger neben-, nicht übereinander. Darin ist sie, so läßt sich sagen, Antithese aller Gewalt, und nicht nur punktuell, nicht nur bis zu einem gewissen Grad, sondern prinzipiell und bis ins Unendliche, bis zur vollen, totalen Gleichheit. Dann aber entwickelt sich aus diesem ihrem fernen Ziel eine ganz besondere Dynamik, die wahrhaft grundsätzliche Negation aller Gewalt. Egalität versteht sich dann nicht nur als eine gelegentliche Machtmäßigung, sondern als ein Generalangriff auf jede Macht. Und die egalitäre Ordnung erscheint als ein Ausdruck geordneter Anarchie im besten Sinne des Wortes, dem der wirklichen Gewaltlosigkeit.

1.

Egalität - das wesentlich Antiautoritäre

31

So wie in der Gewalt von Mensch über Mensch, vor allem im politischen Bereich, mit Sicherheit etwas wesentlich Eskalierendes liegt, weil sich über die Prämien der Macht immer neue Gewaltmöglichkeiten ergeben können, so scheint hier, umgekehrt, die Egalität ein echtes Gegengift zu sein, weil in ihr soz. eine Gegen-Eskalation angelegt ist: Jede Nivellierung bringt nicht nur konkreten Gewaltabbau an der Stelle, an welcher sie erfolgt, sie führt zu neuer Einebnung in anderen Bereichen, weil nun eben die Ungleichheiten, infolge der Egalisierung, dort deutlicher hervortreten und damit um so weniger berechtigt erscheinen; und überdies verstärkt sich jenes allgemeine Gleichheitsklima, jene Luft der Gleichheit, die ebenso tödlich für jede Macht zu sein scheint, wie die viel beschworene Luft der Freiheit. Ist daher nicht nur die Gleichheit - "so mächtig wie die Macht?" Liegt nicht in ihr jene Virtualität, jene grenzenlose Dynamik, welche eben den ganz großen Ideen eigen ist? h) Egalität - der öffentliche Angriff auf die Gewalt

Nicht zuletzt aber hat die Gleichheit als Instrument der Machtminimierung eine besondere Chance in der heutigen Zeit: Sie braucht die Öffentlichkeit nicht zu scheuen, sie sucht sie vielmehr. Publizität bedeutet heute Sichtbarkeit einer Entwicklung, eines Zustandes für die große Zahl der Bürger, damit aber für die vielen Gleichen. Nichts kann sich vor ihnen besser sehen lassen, als neue Gleichheit; der Abbau von "Privilegien", als den sich die Nivellierung heute meist versteht, wird daher stets die Flucht in die Öffentlichkeit, in die große Gleichheit suchen. Gerade die Gleichheit kann es sich eben leisten, publik zu werden, weil sie immer eine Mehrheit finden wird, die der bereits Egalisierten. Es ist daher typisch für moderne Gleichheitsbewegungen, etwa der Nivellierung durch Steuern, daß man versucht, sie möglichst rasch in die Öffentlichkeit zu tragen. Die eigentliche Sach- und Facherörterung wird denn auch nicht selten vorzeitig abgebrochen, Publizität ersetzt Diskussion. Denn die neue Abgabe, die sich auf die Steuergleichheit berufen kann, ein neues Sorgerecht, das eine Egalität zwischen älterer und jüngerer Generation herstellen will, all dies wird eben getragen von einem großen Pathos der Gewaltminimierung, die gerade durch ihre "Öffentlichkeit" besonders stark zu wirken scheint: Wie anders könnte denn Gewalt stärker beschränkt, minimiert werden, als in jener Publizität, in welche die Gleichheit drängt? Dort wird doch die Macht kontrollierbar, überschaubar, unschädlich. So brechen sich denn die letzten Reste der früheren feudalen oder ständischen Macht, der vielfachen Unterworfenheiten des Menschen unter den Menschen, mehr und mehr an dieser einen großen Idee: an der antiautoritären Gleichheit; so scheint es jedenfalls.

32

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

2. Gleichheit als höchste Freiheit

Für die These von der machtzerstörenden Gleichheit spricht eine besonders plausible Begründung: Die herkömmliche Nähe der Gleichheit zu jener Freiheit, welche ja das klare Gegenprinzip zu aller Macht darstellt und vor allem im politischen Bereich in dieser Weise wirkt. Nicht von ungefähr ist die Französische Revolution im Namen von "Freiheit und Gleichheit" angetreten, als wäre dieses nur ein großes Grundrecht; und nicht umsonst gilt die Gleichheit im Staatsrecht noch heute als ein besonders hohes Grund-, d. h. aber als ein Freiheitsrecht. So kann denn die These sogar dahin zugespitzt werden: Gleichheit ist der Anfang und das Ende der Freiheit, die Egalität bringt Libertät hervor und vollendet sie. a) Gleichheit - die "Form" der Freiheit

Die Freiheit als solche ist kein gemeinschafts gestaltendes, sondern ein gemeinschaftsabwehrendes Recht. Die Gleichheit dagegen ist ein wesentlich sozialgestaltendes Prinzip, und nur in seinen konstruktiven Formen kann, so scheint es, die Freiheit überhaupt auftreten, will sie nicht zur totalen Anarchie werden. Dies sind mehr als oft wiederholte, höchst allgemeine Formeln. Wo immer der Bürger Freiheit wirksam in Anspruch nehmen will, muß diese rechtlich gesichert werden; dies aber ist unmöglich, wenn nicht Tatbestände geschaffen werden und damit überall Freiheit in vielfache Gleichheiten gegossen wird. Daß Freiheit überhaupt nur in Gleichheit möglich wird, zeigt sich Tag für Tag, auf Schritt und Tritt. Die Baufreiheit des Grundeigentümers ist nur erträglich, wenn er sich einfügt in die von vielfachen Gleichheiten bestimmte Bauordnung; persönliche Freiheit sogar, das innerste Zentrum jeder Libertät, ist undenkbar ohne die organisierte Waffengleichheit im Prozeß, welche sie am stärksten sichert. Hier nun zeigt sich die große geistige Versuchung der Gleichheit, die Doppeldeutigkeit, welche in dieser Idee liegt, gerade in ihrem Verhältnis zur Freiheit: Sie kann ja begriffen werden als eine Begrenzung der Freiheit, als eine notwendige Schranke, innerhalb deren allein sich Libertät entfalten kann; dies war im wesentlichen das Gleichheitsverständnis des Liberalismus im 19. Jahrhundert. Doch das Verhältnis der Gleichheit zur Freiheit kann auch ganz anders, noch weit enger bestimmt werden: Gleichheit als Freiheit, Egalität ganz wesentlich als Libertät. Dann liegt Freiheitsgewinn bereits in der Herstellung der Gleichheit, Nivellierung wird zur großen Freiheit. Es geht dann nicht mehr darum, Freiheitsgenuß durch gewisse, begrenzte Gleichheiten zu ermöglichen, etwa da-

2. Gleichheit als höchste Freiheit

ss

durch, daß geordnete rechtliche Tatbestände geschaffen werden; vielmehr erscheint jeder Gleichheitsgewinn zugleich als ein Mehr an Freiheit. Die unbestrittene Tatsache also, daß durch eine gewisse Gleichheit die Freiheit überhaupt erst sozial praktikabel wird, kann so verstanden werden, als werde "in der Gesellschaft immer so viel Freiheit hergestellt wie Gleichheit dort herrsche". An diesem schicksalhaften Punkt hat sich der nivellierende Sozialismus vom unterscheidenden Liberalismus getrennt, in der Frage: Freiheit durch Gleichheit oder "Gleichheit als Freiheit". Wenn die Gleichheit den Freiheitsstaat konstituiert, wenn er ohne sie nicht sein kann, "ist er dann nicht um so mehr, je mehr nivelliert wird"? Damit aber zeigt sich erstmals etwas ganz Neues: Eine eigenartige "Überholung der Freiheit durch Gleichheit". Wenn Gleichheit als solche schon Machtverdrängung, also Freiheit "ist" - bedarf es dann noch der Freiheit? Gleichheit ist Freiheit - heißt das nicht: Sie ist die "bessere" Freiheit? Und so lehrt es doch der Marxismus aller Spielarten. Dies wird später noch zu vertiefen sein; vorher noch einige Argumente für "Gleichheit als Freiheit". b) Gleichheit als Freiheit der Schwächeren

Die Freiheit ist ein selbstzerstörerischer, ein letztlich in sich widersprüchlicher, unmöglicher Gedanke; denkbar, realisierbar wird er nur in der Gleichheit. Dies ist immer wieder betont worden: Die Freiheit hebt sich ohne Gleichheit selbst auf, sie wird zur Form der Unterdrükkung, der Unfreiheit anderer. Im Namen dieser Idee hat der Sozialismus letztlich die liberale Freiheit der Gleichheit geopfert, nicht leichten Herzens sicher, kommt er doch selbst aus einer wahren Freiheitsidee, aber mit einer für ihn notwendigen Konsequenz. Dieses Denken ist auch keineswegs auf den Sozialismus beschränkt. Von jeher ist die unaufhebbare Einheit von Freiheit und Bindung betont worden, am eindrucksvollsten in der Philosophie des deutschen Idealismus. Doch nicht Bindung sollte es mehr heißen, das Wort ist zu ungenau, politisch zu vieldeutig. Hinter ihm steht vor allem eines: die Gleichheit, die stärkste, die überzeugendste aller Bindungen. Wo immer man also in den liberalen großen Lehrbüchern ·des privaten oder öffentlichen Rechts lesen kann, daß in der Freiheit die Bindung mitgegeben sei, am deutlichsten eben etwa in der allgemeinen Vertragsfreiheit des bürgerlichen Rechts oder in der Freiheit des Eigentums - dort überall sollte eigentlich gesagt werden: In der Freiheit ist eine Gleichheit mitgedacht - also doch Egalität als "Beschränkung der Freiheit", nicht "selbst als Freiheit"? 3 Leisner

34

II. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

Doch nun kommt es eben zu jenem eigentümlichen Denkvorgang, der aus der Gleichheit als einer Ermöglichung, aber einer Begrenzung der Freiheit - eine Form der Freiheit macht, so daß dann Egalität schlechthin und wesentlich machtminimierend wirken muß, wie ebendie Freiheit: Die ungebundene Libertät des einen wird zur Unterdrückung des anderen, dem wirkt die Gleichheit entgegen. Dies aber ist doch nur dann ein echter Freiheitsgewinn, wenn die Libertät nicht mit Blick auf den Einzelmenschen definiert wird, nicht soz. auf das Quantum seiner individuellen Freiheit, sondern mit Blick auf das Gesamtquantum aller in der Gesellschaft vorhandenen Freiheitsräume. Nur dann nämlich wirkt die Egalität wirklich freiheitsverstärkend, weil sie dem einen Bürger die Möglichkeit nimmt, viele andere in ihrer Freiheit zu beeinträchtigen, weil sie damit durch Einebnung der Unterschiede im Ergebnis, in der Zusammenrechnung, mehr an Freiheiten, d. h. aber an Freiheit herstellt, als wenn Unterschiede bestünden. Hier liegt ein ganz entscheidender Punkt in der großen Diskussion zwischen Freiheit und Gleichheit: Wird die Freiheit als die Libertät des Jedermann, jedes einzelnen Bürgers bestimmt, insbesondere auch als die der Schwächeren, so ist Gleichheit Freiheit, so ist sie der größte Freiheitsgewinn; denn durch Nivellierung wird immer wenigen etwas genommen, dafür aber einer größeren Zahl Freiheit gegeben, damit aber ein Mehr an Freiheit geschaffen. Versteht man dagegen Freiheit als die Entfaltungsmöglichkeit je nach der Stärke des Einzelnen, so ist es mit ihr ohne weiteres vereinbar, daß der Schwächere im Ergebnis weniger an Freiheitsraum besitzt als der Stärkere; dann ist eben Freiheit vor allem das Recht des Stärkeren. So hat der große Liberalismus die Freiheit letztlich verstanden. Der Sozialismus jedoch, für den Egalität eindeutig selbst Freiheit ist, geht bereits von einem Vorverständnis der Freiheit aus: Sie muß als gleiche Freiheit einem jeden Bürger nicht nur zu Anbeginn mitgegeben werden, sie muß ihm stets mehr oder weniger in diesem Umfange erhalten bleiben. In diesem Sinne also erweist sich Freiheit geradezu als ein Durchlaufbegriff, als etwas weithin Sinnleeres: Hinter ihr steht entweder ein Bekenntnis zur Gleichheit, oder ein Bekenntnis zum Recht des Stärkeren, zur Entfaltung des Einzelnen auch auf Kosten des Nebenmenschen. Wie dem aber auch sei -die Gleichheit schlüpft soz. in die Freiheit, sie wirkt mit deren Legitimation, mit ihrer ganzen psychologischen Macht.

2. Gleichheit als höchste Freiheit

35

c) Gleichheit als "gesellschaftliche Freiheit" Die Gleichheit erscheint schon deshalb wesentlich als Freiheit, weil sie die einzige Form ist, in der "Gesellschaftliche Freiheit" hergestellt werden kann. Davon war bereits oben (1) die Rede. Die klassische Freiheit der Liberalen mag insoweit einen guten Sinn haben, als sie sich gegen einen Staat wendet, der ja stets in seiner Macht über dem Bürger stehen wird, wie weit er auch im Namen der Freiheit zurückgedrängt wird. Im gesellschaftlichen Bereich aber, in der Familie und am Arbeitsplatz vor allem, scheint das über-Unterordnungsverhältnis keine logische Notwendigkeit zu sein. Der Abbau der "sozialen Mächtigkeit", etwa des Vermieters über den Mieter oder des Arbeitgebers über den Arbeitnehmer, wenn man diesen pauschalierenden Urteilen folgt, kann jedoch nur durch die Herstellung maximaler Gleichheit zwischen den Bürgern erfolgen. Also liegt die Folgerung nahe, die Egalität sei nicht Ermöglichung oder Schranke der Freiheit, sondern geradezu ganz wesentlich selbst gesellschaftliche Libertät. Die Befürworter der Nivellierung betonen daher denn auch, daß nur auf solche Weise eine Verengung des Freiheitsbegriffs auf den Staat vermieden werden könne. Das große Freiheitsethos aber verlange unbedingt, daß Freiheit als Wert absolut gesetzt werde, sich nicht im Verhältnis zum Staat erschöpfe. Andernfalls würden gesellschaftliche Mächte sogleich an die Stelle einer geschwächten Staatlichkeit treten, wie sich dies ja gerade in der deutschen Geschichte, etwa im späten Mittelalter, aber auch in der Zeit des ausgehenden Absolutismus, immer wieder gezeigt habe. Damit gewinnt die Gleichheit als die "gesellschaftliche Form der Freiheit" das große Freiheitspathos schlechthin. Sie zeigt sich geradezu als die "wahre Freiheit", die den Freiraum dort herstellt, wo es ihn ohne weiteres geben kann - zwischen den Menschen. d) Prozessuale Waffengleichheit als Freiheit

Aber auch dann, wenn man nicht auf die Gesellschaft, sondern nur auf die Staatsgewalt als Machtträger blickt, erscheint doch die Egalität weithin einfach als zentrale Form der Libertät. Man denke nur an das klassische Zentrum der liberalen Freiheiten, an die Freiheit der Person gegen ungerechte Freiheitsberaubung. Hier kann das Entscheidende in der Tat, das, was die Verfassung zu garantieren vermag, nur durch Gleichheit geleistet werden: Alle Sicherungen der Person gegen ungerechte Verhaftung zielen denn auch darauf hin, eine Waffengleichheit in dem nunmehr anlaufenden Strafprozeß zu gewährleisten. In der (straf-)prozessualen Waffen gleichheit aber zeigt sich die Egalität doch geradezu als eine Form 3"

36 H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt? der Freiheit, als die einzige allgemeine Freiheitsform, die es in solchen Fällen überhaupt geben kann. Die Bindungslosigkeit des Bürgers kann ja nicht wohl dahin führen, daß er beliebige Straftaten begehen darf; doch auch dann begleitet ihn die Freiheit - eben in Gestalt der Gleichheit. e) "Nutzlose Freiheit" ohne materielle Gleichheit

Noch deutlicher tritt der Freiheitsbezug der Gleichheit, ihr Machtminimierungseffekt, dort in Erscheinung, wo man Egalität als Vorbedingung der Libertät versteht. Hier sei nur auf die bekannten Lehren über die "reale Freiheit" verwiesen, die sich nicht in formaler, rechtlicher Gleichstellung erschöpfen dürfe, sondern Sicherung der Grundlagen sinnvoller Freiheitsbetätigung einschließen müsse. Das bereits von Marx kritisierte Recht des Arbeiters, unter den Brücken zu verhungern, ist eben keine Freiheit. Selbst wenn man der Ungebundenheit kein eigentliches Ziel setzen kann - worüber außerhalb des Marxismus Einigkeit besteht - so müssen doch der Freiheitsbetätigung gewisse Mittel zur Verfügung gestellt werden, ohne die die ganze Freiheit nutzlos, zur liberte inutile wird. Diese Vorstellungen sind nicht nur unter Marxisten verbreitet, sie finden sich ebenso unter den Anhängern einer liberalen Libertät, welche eben das Nutzloswerden, den Leerlauf der Freiheit vermeiden wollen. So wird aus der Freiheit des Privateigentums ein Recht auf Privateigentum konstruiert; wichtiger als die Arbeitsfreiheit, die Berufs- und Gewerbefreiheit erscheint das Recht auf Arbeit, auf Entwicklungsmöglichkeit der Freiheiten in diesen Bereichen. Ein solches "Recht auf" die Grundlagen sinnvoller Freiheitsbetätigung muß aber stets - allen gleichmäßig zugestanden werden: Die "reale Freiheit" ist gar nichts anderes als eine gewisse gleiche Zuteilung von Gütern an den Jedermann; dann aber ist - Gleichheit die Voraussetzung der Freiheit. Gleichheit schafft also, so scheint es doch, erstmals den Raum, in dem Freiheit möglich wird. Sie erscheint als eine "Vorbedingung" aller Libertät, damit aber als eine eigentümliche "Freiheitsentwicklungs-Freiheit". Hier zeigt sich wiederum der neue Bezug der Gleichheit zur machtminimierenden Freiheit, die bereits erwähnte" überholung der Freiheit durch Gleichheit": Die Egalität kann geradezu als ein logisches Prius gegenüber aller Freiheit verstanden werden. Die Devise mag dann lauten: Suchet zuerst die Gleichheit, alle Freiheit wird euch dazugegeben werden.

3. Gleichheit - die eigentliche Macht

37

3. Gleichheit als die eigentliche Freiheit, als allein wirksame Machtbeschränkung - überholung der Freiheit durch Gleichheit Das hohe Lied der Gleichheit als der echten Freiheit läßt sich noch weit überzeugender singen. Freiheit ist als Machtgrenze etwas irgendwie Theoretisches, darin liegt von jeher ihre Stärke und ihre Schwäche. Nur in einem Fall kann sich, so scheint es, die Macht nicht mehr über den Freiheitsanspruch hinwegsetzen: wenn dieser antritt mit der Wucht der Gleichheit, unterstützt von den vielen Gleichen. Und hier beginnt ein neues Kapitel: Gleichheit nicht nur als Freiheit, sondern als - die bessere Freiheit.

a) Freiheit nur durch gemeinsame Aktion - also durch Gleichheit Wer sich gegen Macht wendet, im Namen eines wie immer begründeten Freiheitsanspruches, der ist ganz wesentlich ein Schwächerer. Dies gilt - oder wird behauptet - in der Gesellschaft ebenso (Mieter, Arbeitnehmer) wie im Verhältnis des Bürgers zum Staat. Gleichheit aber ist letztlich nichts anderes als die Forderung des Ausgleiches von Machtgefälle, darin bereits hat sie etwas von Freiheit. Doch dieser Freiheitsgehalt der Egalität ist noch weit deutlicher: Die Schwächeren können der Macht gar keinen Widerstand leisten, wenn sie sich nicht zusammenschließen, in Freiheitsparteien, Vereinen, Gewerkschaften. Freiheit verlangt also die gemeinsame Aktion, und welche communis actio könnte wirksamer sein gegenüber der Gewalt, wie immer diese auftritt, als der Zusammenschluß von Gleichen, welche antreten im Namen ihrer gleichen Freiheitsrechte? Gleichheit wird hier zum Ausdruck einer echten Machtmathematik: Egalität ist Addition von Libertäten zu größerer Potenz. Freiheit will zwar, ihrem Wesen nach, nicht selbst Macht sein, sie ist eben Gegenmacht. Doch auch in diesem Sinne muß sie etwas von Mächtigkeit, von politischer Durchsetzungsfähigkeit haben, soll sie den Kampf gegen die stets neu sich formierende Gewalt bestehen. Freiheit, welche nicht mit echtem Machtanspruch in diesem Sinne auftritt, ist nichts anderes als wirkungslose Klage. Die Geschichte der Freiheit ist voll von solchen Freiheitsklagen, sie scheinen ein liberales Schicksal zu sein. Ernst wird es erst dann mit echter Freiheit, wenn die Gleichheit hinzukommt, damit aber die gemeinsame, geschlossene Aktion der Vielen. Und die Gleichheit ist nicht nur Ansporn und Anstoß der Ausübung von Freiheit als Gegenmacht, sie bietet auch zugleich die entscheidenden Kategorien für die Organisation einer solchen Aktion: Indem die Vielen gleiche Rechte einbringen in diese "Gesellschaft der Freiheit", in diesen

38 H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt? Anti-Macht-Verein, ist ihr jeweiliger Gewinn von vornherein bestimmt, der Ablauf ihrer Aktion über das Mehrheitsprinzip von Anfang an organisatorisch festgelegt. So ist denn die Egalität nicht nur eine Ermöglichung der Freiheit, sondern zugleich, so scheint es doch, deren wirksamste Organisationsform. Einen Beweis von historischer Größe für diese These liefert nichts besser als das Phänomen der Gewerkschaften. Der einzelne Arbeitnehmer, dies ist doch die seit Generationen nahezu unbestrittene These, wäre machtlos, wollte er aus seiner jeweiligen Position heraus mit der starken Gegenmacht des Arbeitgebers verhandeln. Nur dadurch wird der Arbeitnehmer zur Gegenmacht, daß er zur Arbeitnehmerschaft erstarkt. Dies aber bedeutet für ihn einen entscheidenden Verlust an Individualität, im Namen der Gleichheit aller Arbeitnehmer: Der hochbezahlte Spezialarbeiter und der einfache Handlanger, der wirtschaftlich überhaupt nicht gefährdete Meister und der stets von Arbeitslosigkeit und Entlassung bedrohte Anfänger, sie alle finden sich zusammen in der einen Gewerkschaft, unter Aufgabe ihrer jeweiligen Ungleichheiten, im Namen der einen großen Egalität, zur Arbeitsnehmerschaft. Als solche jedoch sind sie dann echte wirtschaftspolitische, ja allgemein-politische Macht, dann können sie die Räder stillstehen lassen, den Staat als unsichtbare Reservegewalt beherrschen. Die gesamte Verbandlichkeit des modernen demokratischen Staates, diese wahre Verbandsstaatlichkeit, ist sie etwas anderes als Freiheit durch gemeinsame Gleichheit? Und haben die Deutschen die Schelte verdient, sie seien ein Volk von Vereinen, ohne Sinn für echte Freiheit? Ist nicht ihre Vereinsstaatlichkeit eine deutliche und sehr wirksame Form egalisierter Freiheit? b) Die begeisternde egalitäre Freiheit Die vielen Machtlosen, welche im Namen der Freiheit gegen die Herrschenden antreten, sie sind nicht nur darin schwächer, daß sie Macht nicht besitzen, sich sogar gegen Macht wenden; ihre eigentliche Schwäche liegt darin, daß es der Macht offenbar, in irgendeiner Weise, gelungen ist, sie getrennt zu halten. Das mag infolge der jeweiligen Interessenlage der Fall sein - es steht eben der einzelne isolierte Mieter oder Kleinlieferant dem großen, beherrschenden Hausbesitzer oder dem Großunternehmen gegenüber; diese schwächende Isolation der Freiheit liegt aber, darüber hinaus, geradezu in ihrem Wesen. Wenn sie nicht herrschen will, kann sie sich, so scheint es doch, eigentlich nur abkapseln. Aus dieser Isolation heraus führt sie die Gleichheit, zur Gemeinsamkeit und damit zu echter Gegenmacht, dies wurde bereits vorstehend dargelegt. Doch die Egalität bietet der Freiheit mehr als nur rationale

3. Gleichheit - die eigentliche Macht

39

Gründe, wirksam zu werden, mehr auch als allein machtgeometrisch korrekte Organisationsformen. Zum rationalen Gehirn fügt sie das emotionale Herz: Gleichheit hat immer begeistert, sie muß stets Enthusiasmus wecken, weil sie etwas wesentlich Emotionales ist. Die Begeisterungsdimension als solche verlangt ja eine gewisse Resonanz, einen größeren Raum, in dem man eigene Überzeugungen aussprechen und sie in ihrem Echo bestätigt finden kann. Eben dies aber bringt die Gleichheit: Ihre gleiche Freiheitsforderung hallt tausendfach zurück, ist sie nur einmal erklungen, aber immer gleich, damit immer stärker. Darin übertrifft sich die Gleichheit als Machtmathematik selbst: Sie addiert nicht nur, rational, die einzelnen Freiheiten der Bürger gegen die Mächtigen, gegen den Staat, sie "potenziert Freiheit gegen Staatspotenz", im wahrsten Sinne des Wortes: Über ihre begeisternde Gleichheitsdimension werden die hundert gleichen Freiheiten weit mehr als hundert, sie werden zum Anstoß der unüberhörbaren Masse, zum Beginn einer revolutionsähnlichen Bewegung, gegen die kein Widerstand mehr möglich ist, weil sie eben aus der größeren Zahl zur Unzähligkeit angeschwollen ist. Dem Staatsrechtler, dem Machtgeometer mag dies nicht beweisbar erscheinen, und daher wird es ihm unheimlich. Doch in Massenbewegungen und Revolutionen erstarkt es immer erneut zu einer Realität, die vielleicht keinen Grund haben mag, unberechtigt erscheint, die aber dann immer wieder der Grund allen Staatsrechts, aller politischer Macht wird. In keinem Punkt wird die normative Kraft des Faktischen deutlicher sichtbar, als in der normativen Macht der vielen faktischen Libertäten, welche über die Begeisterung effektiv werden. Es ist ein unerhörter geistiger Umbruch: Im Namen des höchst rationalen Prinzips, der mathematischen Egalität, wird höchste Irrationalität wirksam, in jenem Enthusiasmus, welcher aus hundert Bürgern die unzählige, unwiderstehliche Masse werden läßt. In dieser begeisternden Kommunikation wird etwas wirksam, das erscheint wie ein neuer Übergang von der dreidimensionalen euklidischen Mathematik in die n-dimensionale Mathematik der neuesten Zeit: Die Egalität schafft mit ihrem Pathos das Integral der ganz großen Freiheit. Und dann wird diese Freiheit erst zur neuen und durchaus rechenbaren Größe. Denn dies ist es ja, was letztlich hinter der durch Gleichheit gesteigerten Freiheit steht: Hier wird das ganz große Pathos im politischen Raume wirksam. Es mag auch ein wirksames Pathos der großen Isolation der Freiheit geben, es sind die letzten gewaltigen Worte eines Danton vor der Guillotine, die Lyrik eines Andre eMnier, welche der Henker unterbricht. Doch all das wirkt nur mit einer politisch tödlichen Verzögerung - wenn es überhaupt je mächtig wird, wenn es die Herrschenden, die Geschichte nicht

40 Ir. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt? verschütten. Viel stärker ist auf jeden Fall das politische Pathos. Die egalisierte Freiheit der Vielen. Die großen Zeugnisse dieses politischen Pathos aus Gleichheit sind uns gerade heute gegenwärtig: Es sind die mächtigen Parlamentsreden des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen sich der wortgewaltige Abgeordnete, der nichts hinter sich weiß, als das Vertrauen der vielen Machtlosen, an seine ebenso machtschwachen Kollegen wendet, jene Reden, in denen aus dem Geist und der egalisierten Machtlosigkeit die echte große Gegenmacht kommt, vor der die mächtige Exekutive erschrickt und zurückweicht. Und darin zeigt sich auch zuerst der große Machtverlust der Freiheit, etwa in der parlamentarischen Demokratie, wenn es dieses mächtige Pathos nicht mehr gibt, wenn die Parlamentsreden zu Rechenkunststücken oder Buchhalterberichten herabsinken. Die durch Gleichheit wirksame Freiheit hat einen Hang zum Poetischen, zum übersteigerten, zum Grenzenlosen. Doch gerade dies ist für die Gleichheit unumgänglich, will sie echte Gegenmacht sein; denn jede staatliche oder gesellschaftliche Herrschaft ist ja auch ihrerseits umgeben mit Arten von irrationalem Pathos, vom großen Staatstheater der Orden, Uniformen und militärischen Schaustellungen, bis hin zur kommerziellen Würde der veloursgedämpften Vorstandsetagen. Alle diese so gewichtigen Unwägbarkeiten werden nur durch eines wirklich wirksam aufgewogen: durch das Pathos der egalisierten Freiheit - so scheint es doch, und was spricht denn gegen diesen Schein? c) Gleichheit als ethische Form des Kampfes gegen die Macht

Kampf gegen Herrschaft im Namen der Freiheit ist zwar, seinem Wesen nach, etwas höchst Moralisches; und doch ist der Streit gegen die Macht stets mit einem hohen ethischen Risiko belastet, dem jedes Widerstandes gegen das Bestehende, damit aber: gegen das Gute. Denn darin sind alte philosophische Weisheiten unerschüttert geblieben, daß das Bestehende auch gut sei, und darum erscheint das Mächtige nur zu oft als legitim. Dies ist nicht nur die Grundlage des ganzen internationalen Rechts, immer mehr und stärker. Auch im Staatsrecht, bis hin zum Verfassungs recht der Demokratie, wirken solche Gedanken - wohl etwas zögernd, aber vielfältig und beharrlich. Man denke nur an die Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit der Normen, vor allem der parlamentsbeschlossenen Gesetze. Im Zweifel sind sie eben anzuwenden, zu befolgen, der Widerstand trägt das Risiko, jedenfalls die Last der Anfechtung und ihrer ganzen, auch wirtschaftlichen Konsequenzen. Im Zweifel für den Staat - das gilt auch für das Urteil, ja für den Verwaltungsakt, die Machtäußerung der doch sonst mit so großem Mißtrauen betrachteten Exekutive. Dahinter aber steht mehr als eine Frage der

3. Gleichheit - die eigentliche Macht

41

juristischen Geltung, es liegt darin auch ein moralischer Anspruch, und so ist es vom Staate stets verstanden, von seinen Strafgerichten gegenüber dem Widerstand gegen die Staatsgewalt judiziert und von den Kirchen immer und immer gepredigt worden. Wer Widerstand leistet, der muß eben den ganz außerordentlichen Notfall abwarten und, was weit schwerer wiegt, nachweisen; und diese probatio diabolica nimmt auch heute dem Bürger der bundesdeutschen Demokratie kein Gericht ab, mag auch die Verfassung das Widerstandsrecht ausdrücklich verankert haben. Ohne diesen moralischen Anspruch fällt vor allem der demokratische Staat geradezu ins Nichts zusammen, und deshalb ist eben er es, der diese "Staatsethik gegen den Bürger" immer noch weiter steigert - in gefährlicher Weise, weil er doch gerade das Gegenteil wollen sollte. Dann aber muß sich die Freiheit, welche ja auch diesem Staat täglich entgegentritt, auf eine gleichartige, und was wichtiger ist: gleichwertige Gegenmacht besinnen. Nirgends findet sie sie besser und wirksamer als in der Gleichheit. Freiheit ist ja etwas, zunächst, Isoliertes, etwas Individuelles, damit aber erscheint sie als eigensüchtig, als moralisch bedenklich. Sie tritt zwar an mit dem Ethos der Einzelperson, welche ja das Grundgesetz so machtvoll an den Anfang stellt und preist. Doch wo bleibt da die Gemeinschaft, wo bleibt der Nächste, die Zentralfigur unserer christlichen Gesellschaft? Der christliche Bürger muß doch erwarten, daß ihn der ewige Richter am Jüngsten Tage nicht danach fragt, was er für seine eigene Freiheit, sondern was er für die Freiheit des Nächsten getan hat, der da hungert und dürstet. Und gerade für die Freiheit dieses Nächsten, soll er doch im Gefängnis besucht werden. Von wem aber kann denn erwartet werden, daß er sich für diesen Nächsten engagiert oder gar opfert, wenn er nicht darin selbst seine eigene Freiheit verteidigt und schützt? Dann aber wird die Gleichheit zur Grundlage jeder vernünftig zu erwartenden Nächstenliebe im Politischen, weil man nur in ethischer Überzeugung für die Freiheit eintreten wird, wenn die Libertät des anderen gleich der eigenen ist. Und wenn der kategorische Imperativ darin liegt, daß man sich so verhalte, wie man es von jedem anderen auch erwarte, so bedeutet dies notwendig das Postulat der egalisierten Freiheit. Moralisch ist eine solche Forderung nur dann, wenn sie von Jedermann in gleicher Weise in Anspruch genommen werden kann, wenn man also mit der eigenen Freiheit zugleich auch stets die des anderen, vieler anderer, eben die des Nächsten verfolgt. Alles Eigensüchtige fällt von einer solchen Forderung ganz natürlich ab, sie wird getragen sowohl vom Ethos des individuellen Einzelmenschen, wie von dem einer Gemeinschaft, in welcher viele gleiche Freiheiten zu einer größeren Freiheit zusammenwachsen.

42

II. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

Im Namen dieses Ethos kann dann nicht nur die große Zahl der Schwächeren, es kann sogar jeder einzelne von ihnen gegen die Macht antreten. Das Märtyrertum, ohne das Freiheit nicht gedeihen kann, muß stets getragen sein von der Selbstlosigkeit einer Gleichheit, für welche die eigene Forderung nichts, die der anderen alles ist. Nur auf diesem Wege entgeht die Freiheit, so scheint es doch, den schwersten Vorwürfen, welche man, gerade im sozialen Bereich, immer wieder gegen sie erhoben hat: denen des Neides. Die Schwächeren müssen, um eine Gegenmacht zu bilden, bestreiten und kritisieren, und sie tun es bis hin zur systematischen Verleumdung. Auf dieser Straße gäbe es keine ethischen Etappen, die Herrschenden würden leicht und immer wieder die Freiheitsforderungen zu Boden schlagen mit dem Hinweis auf den sozialen Neid, aus dem sie kommen, oder auf die politische Unruhe, welche nur die doch so schöne etablierte Ordnung angreife - wenn nicht das Gleichheitsethos wirksam wäre. Im Namen dieser Gleichheit kann ja dann behauptet werden, die Freiheit sei nicht nur das Stärkere, sie sei auch das Bessere. Denkt man solche Ideen fort, so mag es als merkwürdig erscheinen, daß in der Staatslehre so häufig und besorgt der Gegensatz von Gleichheit und Freiheit beschworen wird. Ist es überhaupt nicht erst die Gleichheit, welche die Freiheit zu einem moralischen Wert macht, den es gilt zu verteidigen? Und wird die ethische Macht des Staates - die es ja gibt und immer geben muß - nicht nur dadurch in Grenzen gehalten, daß eben die Freiheit antritt im Namen aller? Wenn der Brutus in die tiefste Hölle verdammt ist, weil er den Freund verraten hat - ist nicht der Freiheit nur dann das höchste Paradies sicher, wenn sie die Dimension der Freundschaft erreicht, in der allgemeinen Egalität? Liegt nicht ein ganz tiefer ethischer Fortschritt, eine wahre moralische Eskalation in jener historischen Trias, welche so zufällig entstanden ist: Ist es nicht eine moralische List der Vernunft, wenn der Weg ausgeht von der Freiheit und dann über die Gleichheit die höchste Dimension der Brüderlichkeit, damit aber des Ethos erreicht? So trifft denn die Gleichheit die Herrschaft, so scheint es doch, im Kern, weil sie dieselbe als illegitim erscheinen läßt, als wirkendes Unrecht; Freiheit bringt es immer nur bis zum Widerstand; Gleichheit geht darüber hinaus: Sie verurteilt ein Regime, eine Gewalt, die Herrschenden im Namen der Freiheit.

4. Die Geschichte der Freiheit - eine Historie der Gleichheit

43

4. Die Geschichte der Freiheit - eine Historie der Gleichheit

Wenn die politische Geschichte überhaupt eines zu lehren scheint, so dies: daß alle Freiheit erst in der Dimension der Gleichheit wirksam werden kann, daß Freiheit überhaupt nur als Egalität zur Machtbe... schränkung wird.

a) Griechische Demokratie Die attische Demokratie, der große Durchbruch zur abendländischen politischen Freiheit, trat an im Namen der Libertät gegen die Tyrannei. Mit ihr wurde die Freiheit, die Eleutheria, außenpolitisch, innenpolitisch und moralisch, in dieser dreifachen Dimension, zum Kernbegriff des griechischen Staatsdenkens überhaupt. Dieser große geistige Schwung ist aus der griechischen Philosophie gekommen, er hat sie immer geprägt; die Gleichheit hat nie eine vergleichbare wissenschaftliche, philosophische Fortune im griechischen Denken begleitet, deshalb vor allem ist es ihr versagt geblieben, ebenso zum Zentralbegriff der neueren Philosophie zu werden wie die Freiheit. Denn im deutschen Idealismus wurde das griechische Staatsdenken voll übernommen, mit seinem Höchstwert der Freiheit, nicht aber seiner praktischen Ausprägung der Gleichheit. Und doch war es die Gleichheit, welche in der attischen Demokratie von Anfang an in der Freiheit mitgedacht war, welche recht eigentlich machtbeschränkend wirkte und erst die Freiheitsorganisation in der Volksversammlung begründet und stets getragen hat, welche sie letztlich auch hat niedergehen lassen. Die griechischen Philosophen preisen die Freiheit, die griechischen Historiker zeigen uns das attische Staatsdenken als eine nahezu reine Gleichheitsdimension, in Athen und seinen altgriechischen Verbündeten wie im neuen größeren Raum der italischen und westmittelmeerischen Kolonien. Immer sind es die Gleichen und die Vielen, welche da aufstehen gegen verfestigte tyrannische Herrschaft, und immer wieder geschieht es im Namen der Gleichheit, wird im Namen der Gleichheitsherrschaft die Hilfe des großen Athen erbeten, gehen Sparta und seine Verbündeten im Namen einer gestuften, ständischen Herrschaft gegen diese Gleichheit vor. Vielleicht ist auch etwas an der These, daß der ganze peloponnesische Krieg vor allem eine große staats-ideale Auseinandersetzung war zwischen der in Gleichheit hochgesteigerten, zum Prinzip erhobenen Freiheit und der gestuften Ordnung der älteren Zeit, in der immer etwas stärker Aristokratisches, ja Königliches lag. Die griechische Geschichte jedenfalls ist in erster Linie getragen von dem Gleichheitsethos, das in der platonischen Philosophie dann hinter das Ordnungsethos zurücktreten sollte. Ist dies nicht ein Beweis dafür, daß die Freiheit dort, wo sie zum ersten Mal und am mächtigsten geistig durchgebrochen ist, dies über 'die Gleichheit erreicht

44

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

hat, welche, weit mehr als sie, das eigentliche staatsrechtliche Grundprinzip gewesen ist?

b) Christentum und Kirche Im Christentum und seiner Freiheit erreichen Libertät und Egalität, erneut zusammen, eine weitere und höhere, vor allem eine ethisch bedeutendere Dimension. Hatte die römische Entwicklung, vom Königtum und Ständestaat zur Republik, mit anderen Mitteln und in unterschiedlichen Formen, aber in gleicher politischer Richtung, die griechische Entfaltung der Freiheit durch Gleichheit fortgesetzt, so kommt nunmehr im Christentum das Höhere: Freiheit im Namen des Religiösen, wiederum nur über die Gleichheit. Der Mensch gilt als Gottes Ebenbild - dies gibt ihm den großen sittlichen Wert, die Bestimmung für das Jenseits und damit das Freiheitsrecht im Diesseits. Im Namen dieser Gottesebenbildlichkeit werden christliche Märtyrer geboren, gewinnt die Kirche daraus ihre menschliche, moralische Legitimation gegen die größte und mächtigste Staatlichkeit, die es je gegeben hat. Sie durchdringt diese Staatlichkeit, verwandelt sie in etwas moralisch, religiös Erträgliches, ja in die Statthalterschaft des Gottes der Freiheit auf Erden. Und all dies geschieht in der Organisation der Gleichheit und mit dem Ethos der Egalität. Nur in ihren "demokratischen" Erstchristenzirkeln wird diese neue Religion zur wirksamen Macht. Nur indem sie die zerfallende Sklavengesellschaft des späten Rom auffängt in ihren Gleichheitsideen, kann sie stärker werden als der aristokratisch legitimierte Caesar; nur mit ihren neuen, auf Gleichheit gegründeten, wenn auch noch weithin autoritär geleiteten Gemeinden bringt sie eine Organisationsform hervor, in der das alte, zerbrechende Reich überleben, in das Mittelalter hinübergerettet werden kann, in seinen wertvollsten Ideen und Leistungen. Dies alles gründet zwar auf der Freiheit eines Christenmenschen, noch weit mehr aber auf der machtbegrenzenden Egalität der gleichen Kinder Gottes. Sie verweigern dem Kaiser die Anbetung und den religiösen Eid, weil sie ihm letztlich im Namen der Gotteskindschaft gleich sind. Sie durchdringen die Legionen und verwandeln sie zu Märtyrerheeren, weil sie sich nicht führen lassen gegen andere, gleiche, gottesebenbildliche Menschen. Und weil der eine große Gott über allen steht, weil man nie wissen kann, wem er Gnade gibt, wen er verdammen wird oder bereits verdammt hat, deshalb, aus dieser höchsten Gleichheit heraus, wendet sich die katholische Kirche stets und wirksam gegen die Macht, von den römischen Caesaren über die deutschen Kaiser bis zu einem Ludwig XIV., dem seine Hofprediger mit der höheren Gewalt eines Gottes drohen können, vor dem er mit dem letzten seiner Untertanen

4. Die Geschichte der Freiheit -

eine Historie der Gleichheit

45

gleich ist. So ist diese Kirche zwar ein Herrschaftsinstrument, aristokratisch verfaßt, doch sie ist zugleich auch eine einzige große geistige Dimension der Freiheit der Gleichen, der Kinder Gottes, denen kein Herrschender zu nahe treten darf, weil er nichts anderes ist vor Gottes Antlitz als sie. In all ihren Ausprägungen, bis hin zu ihren revolutionären Kräften, hat sich die Kirche, hat sich das Christentum stets diese staatsbeschränkende egalitäre Libertät bewahrt. Wie hätte sonst auch die Kirche überleben können, wären in ihr nicht immer wieder Kräfte bis hin zur Revolution lebendig gewesen, bis zu jenen Umwälzungen, die immer nur aus Gleichheit kommen können? So war es in der franziskanischen Bewegung des hohen Mittelalters, die nicht nur Freiheit in Bedürfnislosigkeit predigte, sondern diese zugleich in der Egalität ihrer Armenklöstel' radikal organisierte. Und so war es, vor allem, in der großen Revolution der Reformation, von der sich heute gerade zeigt, daß sie die Kirche nicht zerstört, sondern, in ihren beiden großen Strömen, weitergetragen und belebt hat. Auch sie, eine echte geistige und religiöse Revolution, ist ja gekommen aus der Freiheit eines Christenmenschen, aber nicht nur aus ihr: Hinter ihr stand die Gleichheit aller Christen, der Abbau der alten Hierarchie, das allgemeine Priestertum, das ja nichts ist als die höchste Stufe religiöser Egalität. Dort gerade, wo diese Gleichheit am meisten gesteigert werden konnte, im Demokratismus der Calvinisten, dort wurde auch die höchste staatsbegrenzende, ja staatsfeindliche, geradezu anarchistische Dimension erreicht - im Monarchomachentum, in jenem großartigen Befehl, im Namen Gottes und seiner höchsten Gleichheit ,die Herrschenden zu töten. Höher kann politische Freiheit durch politische Gleichheit nicht mehr gesteigert werden, als in dieser wahrhaft totalen Idee der Staatsfeindlichkeit, der wir ja nicht nur im Calvinismus begegnen, sondern auch in der tiefen Religiosität des politischen Islam, der zum religiösen Mord aufruft. Dies alles mag uns heute, in seinen letzten grausamen Konsequenzen, politisch entsetzen; vergessen wir nicht, daß unsere eigene politische Geschichte zu langen und wichtigen Zeiten davon getragen war, daß wir einen erträglichen Staat nur über diese Gewaltsamkeiten erreichen konnten, daß die imponierenden Leistungen der Demokratie in Amerika anders gar nicht zu verstehen sind, denn als Abschwächung, aber auch Fortsetzung des großen europäischen Monarchomachentums, einer Idee, welche freie Menschen über den Ozean getrieben hat. Darin liegt auch der richtige Kern der These Georg J ellineks von der religiösen Freiheit der Amerikaner als Kern aller Grundrechte, aller politischen Freiheit überhaupt: Im Namen der religiösen Freiheit des Christenmenschen ist der Staat bisher am stärksten, am grundsätzlich-

46

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

sten, am überzeugendsten zurückgedrängt worden. Doch war es wirklich die religiöse Freiheit, stand dahinter nicht immer das viel Wichtigere: die religiöse Gleichheit des Christenmenschen? Im eigentlichen religiösen Bereich konnte sie allerdings nur begrenzt wirken, stand doch über ihr stets Derjenige, in dessen Namen sie überhaupt ja gewährt wurde: Gott selbst und seine Stellvertreter auf Erden. Ihre Wirkung in die Staatsgewalt hinein litt darunter aber nicht. Gerade weil der Staat nicht von einem Gott regiert wurde, mochte hier christliche Gleichheit sein, Machtabschwächung in ihrem Namen - nicht zuletzt, damit die Kirche stärker sei. ... Ein gutes Beispiel dafür ist die Haltung insbesondere der katholischen Kirche gegenüber dem Liberalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Dessen "reine" Freiheitlichkeit wurde in den kirchlichen Bereich nicht nur nicht übernommen, sondern von der Kirche heftig, letztlich bis auf den heutigen Tag herauf, bekämpft. Die egalisierenden Elemente der Freiheit dagegen hat gerade die Kirche in ihrer katholischen Soziallehre sogleich aufgenommen und eigenständig weiterentwickelt. Zwar hat also jede Gleichheit im christlichen Bereich feste letzte Grenzen in der religiösen Unterworfenheit des Menschen unter den Schöpfer; und deshalb werden alle christlichen Kirchen stets einer Übersteigerung der Egalität, einer wirklichen Nivellierung entgegentreten, weil diese sich ja mit Notwendigkeit auch auf das Gott-Menschenverhältnis auswirken muß. Im übrigen aber und sehr weitgehend "kennt" die Kirche die Gleichheit weit besser als die Freiheit, sie anerkennt eigentlich Freiheit nur insoweit, als sie Ausdruck der Gleichheit ist. Ist dies nicht ein mächtiger historischer Beweis dafür, daß Staatsbegrenzung letztlich stets über die Egalität kommt und nur durch sie möglich ist? Durch sie, als die eigentliche Freiheit? c) Die Französische Revolution

Die Französische Revolution ist die größte explosive Freiheitsbewegung, welche wir kennen. Und gerade in ihr war die Verbindung von Freiheit und Gleichheit, von Anfang an, eine tiefe und notwendige, die Revolution erfolgte nicht nur im Namen von, sie war schlechthin: Liberte et Egalite. Das Ausland hat stets in der Französischen Revolution einen Aufstand für die Freiheit gesehen, so vor allem wurde sie auch nach Deutschland getragen. In Frankreich ist sie immer und von Anfang an in erster Linie als eine Gleichheitsrevolution verstanden worden. Freiheit war das große Werbewort, Gleichheit der eigentliche Inhalt.

4. Die Geschichte der Freiheit -

eine Historie der Gleichheit

47

Die Großtat der Französischen Revolution, die Abschaffung der Zünfte, Stände und Privilegien in der Nacht des 4. August 1789, war eine Gleichheitstat unter dem Mantel, im Namen der Freiheit. Das gleiche Wahlrecht für alle, die Organisation aller Bürger in den Primärversammlungen - die ganze Staatsorganisation kam aus der Gleichheit. Die neue Departement-Verfassung hat nicht einmal mehr einen eigentlichen Bezug zur Freiheit, sie bedeutet sogar neue, schärfere Unterworfenheit unter die Pariser Zentrale; doch sie ist revolutionär als Ausdruck der staatsorganisatorischen Gleichheitsgeometrie. Die großen Enteignungen schließlich, die Schaffung der Nationalgüter, die wirkmächtigste vollendete Tatsache auf Dauer, welche die Revolution verewigt hat - auch sie ist im Grunde nichts als Gleichheit. Und schon im Eingang des unsterblichen hohen Liedes der Freiheit, in der Menschenrechtserklärrung von 1789, wird die untrennbar enge Verbindung von Freiheit und Gleichheit gepriesen: "Die Menschen werden frei und mit gleichen Rechten geboren". So waren denn für die französischen Revolutionäre Freiheit und Gleichheit nie von Anfang an und niemals später zwei getrennte Begrüfe, sondern stets eine machtvolle Begrüflichkeit mit zwei Aspekten, eine wahre staatsrechtliche Zweifaltigkeit von Freiheit und Gleichheit. Mehr noch: Die Französische Revolution hat sich in ihren klassischen Jahren, von 1789 bis 1793, immer mehr von dem einen Pol, besser: dem einen Aspekt der Freiheit zum anderen entwickelt - hin zur Gleichheit. Die Nationalversammlung von 1789 war noch eine wirre Ansammlung von Freiheitsforderungen, weit mehr ein Forum des Verlangens, als eine Versammlung der Verwirklichung. Doch schon die Gironde wurde zum ersten Aufbruch zur Gleichheit, darin vor allem unterschied sie sich von der früheren Mehrheit. Der Sieg der Jakobiner schließlich, bis hin zum Höhepunkt der Terreur, bedeutet im Grunde nur eines: den Durchbruch der von Anfang an latenten großen Revolution, der eigentlichen Gleichheit. So zeigt sich hier wie in einem Lehrstück der Geschichte: Je mehr diese große Freiheitsbewegung Revolution geworden ist, desto mehr wurde sie Gleichheit; und mit dem Auslaufen der Revolution in Direktorium und Konsulat verliert sich wieder die wirklich revolutionäre Größe: die Gleichheit. Damit aber 'bleibt nurmehr die anfängliche Freiheit, sie schwächt sich ab, und der Kreislauf endet im Caesarentum Napoleons. Was sich von der Revolution schließlich halten kann, ist nicht so sehr größere Freiheit, als ein Mehr an Gleichheit, Ullld sei es auch nur der weit offene Zugang zu den Heeren, der sehr bald zum Recht auf das gleiche Sterben auf kaiserlichen Schlachtfeldern wird.

48

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

Eine These scheint so bewiesen: Wo die Freiheit irgendwie den Staat nicht nur zurückdrängt, sondern selbst den Staat besetzt, da gelingt ihr dies immer nur mit der Macht der Gleichheit. Allerdings - und hier nehmen wir Späteres vorweg - wird dabei die Gleichheit zur neuen Macht, die Freiheit ist nichts anderes mehr als ihre Deckung, als ein staatsrechtlicher Durchl,aufbegriff. Die übrigen Völker Europas, denen die Französische Revolution eigentlich doch erst durch den Ersten Konsul und den Kaiser gebracht wurde - ihnen ist die Illusion, und die immer neue Enttäuschung, der "reinen Freiheit" durch das ganze 19. Jahrhundert geblieben, der Traum der Freiheit der Eroica; denn das etgentliche herrschaftsbeschränkende, staatsumgestaltende Prinzip, die Gleichheit, haben sie nur in caesarischer Ausprägung kennengelernt und daher die Französische Revolution "nur zur Hälfte", in ihrem besseren, aber schwächeren Teil erfahren. Deshalb wurde in der deutschen Staatslehre des Konstitutionalismus eine Dogmatik der reinen Freiheit versucht, während in Frankreich stets die egalitäre Freiheit gepriesen und systematisiert wurde. So hat die Französische Revolution denn die alleinige Wirksamkeit der gleichen Freiheit bewiesen, darüber hinaus aber noch mehr: daß die Freiheit von der Gleichheit unterwandert, erfüllt und überwunden wird, daß die Gleichheit als Antiherrschaftsprinzip sich nicht damit begnügt, die alte Macht zu brechen, daß sie eine neue Macht aufrichtet. Das erste Mal ist hier der Schritt von der Gleichheit als Antimacht zur Gleichheit als neuer Macht vollzogen worden. d) Die soziale Umwälzung

Noch deutlicher wird dies in der großen, konsequenten Folgebewegung der Französischen Revolution, in der sozialen Umwälzung des 19. Jahrhunderts, bis hin zur Russischen Revolution. Die große Spaltung des europäischen Liberalismus, in den Jahren um und nach 1848, in die weiterhin freiheitlich-liberale Bewegung und in den Sozialismus, vollzieht sich nur im Namen eines Prinzips: der Gleichheit. Der Liberalismus stellt die Freiheit über die Gleichheit, oder besser: vor die Egalität. Für ihn wird es echte Gleichheit geben, ja es gibt sie bereits, wenn nur Freiheit herrscht; er glaubt an die reine Chancengleichheit, die noch nicht materielle Gleichheit ist, sie aber soz. von selbst werden wird, ohne jeden Zwang. Für den Sozialismus ist dieser Weg ungangbar, realisierbar vielleicht noch im Staat, nie aber in der eigentlich bedeutsamen Gesellschaft. Deshalb stellt der klassische Sozialismus die Weichen total um, verlangt er die völlige Umwertung aller Werte, die er als erster auch vollzieht: Gleichheit vor Freiheit, Freiheit

4. Die Geschichte der Freiheit - eine Historie der Gleichheit

49

nur durch Gleichheit. Die staatsbeschränkende Freiheit ist nicht mehr Ausgangspunkt und Motiv, sie ist Endzustand und Hoffnung, alles beginnt mit der Gleichheit. Und der sozialistische Staat verheißt denn auch nicht mehr die Staatsbeschränkung im Namen der Freiheit, sondern das endgültige Sterben des Staates im Namen der Gleichheit. Für den Marxismus geht es nur um eines: um die reale Freiheit, nicht um die Freiheit des Verhungerndürfens, um die Liberalität der Möglichkeiten der Liberalen. Der Marxismus will dem Bürger das geben, wodurch die Freiheit erstmals Sinn erhält, das gleiche Eigentum, oder besser: das gemeinsame Eigentum, den Arbeitsplatz, die soziale absolute Sicherheit. Dies alles ist weit mehr als praktische Politik oder gar Demagogie; in der Lehre von der realen Freiheit durch Gleichheit gelingt ein wesentlicher geistiger Fortschritt. Reale Freiheit - das bedeutet: Gleichheit als die eigentliche, als die wirkliche, als die letztlich einzige Freiheit. Im Marxismus wird aus der liberalen staatsrechtlichen Zweifaltigkeit der entschlossene, neue staatsrechtliche Monotheismus der Gleichheit. Der hochverfeinerte, gebildete Bürger Frankreichs gefiel sich im 18. Jahrhundert in den staatsrechtlichen Paradoxen und Gegensätzen, in jenen Antithesen, die noch die deutschen Frühromantiker bis Hegel begeistern konnten. Für diesen war in der Tat Freiheit und Gleichheit ein belebender Spannungszustand, in dem sich soziale Energien entluden, aus dem immer neue Ströme kamen. Wer dagegen Arbeiterbewegungen lenken, einfache Menschen ansprechen will, der muß auch zur Einheit der staatsrechtlichen Grundbegriffe zurückfinden, und dies ist in der "Gleichheit-Freiheit" des Sozialismus eindrucksvoll gelungen. Gewaltenteilungen muß man ertragen können, geistig ebenso wie in der praktischen Politik. Schon Rousseau hatte das Ende der Teilungen kommen sehen, wenn er in seiner berühmten Kritik der Gewaltenteilungslehre Montesquieus diese Theorie mit den Kunststücken der japanischen Scharlatane verglich, welche Kinder zerstückelten, ihre Glieder in die Luft warfen und dann den unversehrten, vollständigen Körper wieder in ihren Armen auffingen. Dem Sozialismus ist dieses Kunststück mit Gewalt gelungen; und in seinem Fortschritt zeigt sich, wie schon früher in der Französischen Revolution, der immer stärkere Durchbruch zur Gleichheit. So entwickelt sich der Sozialismus geradezu in Etappen zur Egalität: vom rechten Liberalismus zum linken, von diesem zum Sozialdemokratismus, von dort wiederum zum konsequenten Einparteiensozia!ismus, von ihm hin zum Bolschewismus und zu den Schrecken der totalen Revolutionsgleichheit in Rußland. In all dem ist nur ein "Fortschritt", eine Eskalation: hin zu immer mehr und mehr Gleichheit, damit zu immer weniger (bürgerlichem) Staat. und zu einer neuen Gewalt, der der Gleichheit. 4 Leisner

50

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

Das Lehrstück der Französischen Revolution wird so in Sozialismus und Bolschewismus zu Ende gespielt: Gleichheit als die allein wirksame Gegenmacht - die sich dann zur neuen Macht entwickelt. In dieser großen geschichtlichen Entwicklung wird alles exemplifiziert, was vorstehend dargelegt wurde: die Gleichheit als die eigentlich wirksame Gegengewalt, als das begeisternde Pathos und das höchste Ethos; die Gleichheit als das geometrische System und als der Wert, für den man stirbt; die unnötige Freiheit und die nötige, nein: die notwendige Gleichheit. Fassen wir nun die Lehren dieser Gleichheitshistorie systematisch zusammen: 5. Von der Freiheit als Sturmbock der Gleichheit zur Libertät als Folge der Egalität Die eigentliche große Entwicklung, nochmals sei es betont, von der Französischen bis über die Russische Revolution hinaus, war die eine: Im 18. Jahrhundert fielen die mächtigen Mauern der Feudalherren unter den Fanfarenstößen der Freiheit; die Gleichheit konnte dann in die Breschen eindringen. Im 20. Jahrhundert bricht die revolutionäre Gleichheit der Massen die kunstvollen Dämme der Bourgeoisie, in der Hoffnung, daß aus dem großen Meer der Gleichheit dann die Freiheit sich erhebe - als Folge der Egalität. Und diese Hoffnung wird durchaus rational begründet: Die Egalität sei, so heißt es, die notwendige Durchsetzerin aller Freiheit, ihr Vorreiter, der zuerst kommen müsse, um die Macht der Herrschenden zu zerstören. Der Unterschied dieser Auffassung zum klassischen Liberalismus und Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts liegt darin: Es geht nicht mehr um Machtmäßigung, sondern um Machtzerstörung, Machtablösung. Die Gleichheit muß stets die Tabula rasa verlangen, sie allein kann sie herstellen. Dahinter steht dann auch ein gewandeltes Freiheitsverständnis, aber durchaus auch etwas von Freiheit: Sie ist nicht mehr ein stilles Kämmerlein, das man mühsam gegen Monarchen und Feudalherren verteidigt, nicht mehr eine bescheidene Wohnung, eine saubere Stube, welche man dem herrschenden reichen Bürgertum abmietet. Freiheit ist eine neue Fauna und Flora, eine ganz neue Welt, eine neue Zivilisation überhaupt. Sie wächst auf diesem durch die Gleichheit geschaffenen Nährboden der früheren Macht, auf der großen staatsrechtlichen Ebene, die nicht mehr die hochmütigen Berge der Privilegien mit ihren Freiheitsbeschränkungen kennt. Aber - und das ist entscheidend - sie kommt eben erst nach der Gleichheit.

6. Greifbarkeit der Machtzerstörung durch Gleichheit

51

Der Liberalismus glaubte an die Freiheit an sich, der neue sozialistische Egalitarismus hat zunächst einmal die Gleichheit an sich geschaffen. Sie erscheint als der Ausgang einer neuen Zeit der Wissenschaftlichkeit, denn hinter ihr folgt die Freiheit mit der Notwendigkeit der geschichtlichen Konsequenz, so scheint es. Freiheit dagegen als Vorreiter, als Ausgangs begriff - das ist letztlich etwas Romantisches, Hoffnung auf Gleichheit, etwas Unbeweisbares und Unbewiesenes; die Gleichheit dagegen beginnt sogleich mit der realen Revolution und endet in der Berechenbarkeit der totalen Staatsorganisation, aus der dann die Freiheit nicht kommen wird, sondern kommen muß. So ist denn die Wissenschaftlichkeit des egalitären Sozialismus, mit deren Notwendigkeit er diese neue Zeit postuliert, letztlich weit mehr als ein Aufruf, sie ist ein Zwang, der Notwendigkeit verheißt. Der Weg hat von der Proklamation der Freiheit zur Deklaration der Gleichheit geführt. Der letzte Akt ist dann, so scheint es, die Erkenntnis, daß alle Freiheit etwas Unvollständiges an sich hat, und das Ende heißt: Freiheit ist nichts anderes als die unvollständige Gleichheit, und gegen Macht braucht man nur eines - die Egalität.

6. Die Greifbarkeit der Machtzerstörung durch die Gleichheit in der Demokratie Politische Theorien sind mächtig nur durch Evidenz. Und es gibt kaum eine stärkere politische Einsichtigkeit als die Antimachtwirkung der Gleichheit in der Staatsform der Demokratie. Hat sich hier nicht die Machtminimierung durch die große Gleichheit für Jedermann sichtbar vollzogen? Der freie Bürger, ungebunden bis zu anarchischen Auswüchsen, in Staat und Gesellschaft, von der Armee bis zur Fabrik, von der freien politischen Diskussion bis zur freien Liebe - ist er nicht das Produkt der politischen Gleichheit, hat ihm all dies nicht die organisierte Egalität gebracht, die Parlamente und ihre dauernde Kontrolle über die nurmehr zeitweise Mächtigen? Diese Parlamente, so mag er doch meinen, können einen Freiheitsverlust in Staat oder Gesellschaft ohne weiteres ertragen; wird dagegen die Gleichheit aus dem Verkehr gezogen, so bricht ihre Organisation, ihre Grundlage, das allgemeine Wahlrecht, sofort zusammen. Was der Durchschnittsbürger vom Staat wirklich weiß, von seiner Verfassung real erlebt, das ist die Gleichheit, seine gleiche Teilnahme an der Staatsorganisation in der Wahl. Diese Gleichheit allein bringt ihm wirklichen Gewinn, so scheint es doch im Wahlversprechen, in immer neuen wirtschaftlichen und sozialen "Fortschritten". Wann je hat ihm denn die Freiheit als solche etwas gebracht?

52

H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

Die Gleichheitsevidenz ist noch stärker: Es scheint geradezu, als sei alle Macht durch die neue Egalität nicht nur beschränkt, sondern vernichtet. So vollständig hat die Gleichheit die frühere Macht der Feudalherren und Fürsten zurückgedrängt, daß nunmehr Macht und Herrschaft weitgehend gleichgesetzt werden mit dem, was ein Ludwig XIV. ausüben konnte, mit der "Zweiten Zeit" des Marxismus, mit den Herrschaftsformen des Feudalismus. Dann aber ist "Macht" eigentlich inexistent, bereits abgelöst durch jene Gleichheit, bei der die Fr.age überhaupt nicht mehr gestellt werden wird, die uns hier beschäftigt: ob sie nicht nur eine neue Macht schaffen, neue Formen der Beherrschung hervorbringen werde. Mag nun eine wirkliche Machtverengung im Namen der Gleichheit stattgefunden haben oder nicht - im allgemeinen Bewußtsein wirkt die Egalität viel stärker: als völlige Machtüberwindung, als Machtablösung. Sie erscheint als einsetzbar gegen jede Form der Herrschaft, und sie erringt immer neue historische Siege, von einer Emanzipation in die andere. Sie scheint "die Macht an sich" zerstört zu haben, und was weit wichtiger ist: Selbst wenn dies nicht geschehen sein sollte - davon ist Jedermann überzeugt, gerade dies ist zum großen Gleichheitstabu geworden. 7. Gleichheit: Die große Hoffnung auf das Ende aller Macht

Gleichheit ist also weit mehr als Machtminimierung, sie ist Machttransformation und noch einmal mehr: Sie ist Machtüberwindung. Freiheit steht letztlich immer im Kampf mit der Macht, will sie von außen beschränken, zurückdrängen; doch im Grunde akzeptiert sie die Herrschaft und deren Berechtigung, sie beläßt ihr jenen großen Außenraum, aus dem heraus sie dann immer wieder neu zur Beschränkung der Freiheit antreten kann. Die Gleichheit dagegen ist Negation der Macht. Sie erkennt ihr Berechtigung als solche gar nicht zu, stellt sie vielmehr stets in ihren Grundlagen in Frage und bedroht sie mit dem Ersatz durch andere Macht. Besonders deutlich wird dies im Gesellschaftlichen: Der Liberalismus mag gewisse Korrekturen der Wettbewerbsordnung anstreben, die Rechte des Mieters gegenüber dem Eigentümer verstärken, die eigentlichen, auf Privatrecht gegründeten Machtpositionen tastet er nicht an. In der Gleichheit dagegen liegt immer eine Tendenz zu einer radikal anderen Machtausübung, zu einer Ablösung der Wettbewerbsordnung durch eine Staats- oder Genossenschaftswirtschaft, zu einem Ersatz des privaten Grund-und Wohnungseigentums durch Formen der Gemeinwirtschaft.

7. Gleichheit: Die große Hoffnung auf das Ende aller Macht

53

Wenn auch nur irgendetwas richtig ist an der marxistischen Lehre vom Mehrwert, oder an der dezisionistischen Theorie von der Prämie der Macht, wenn also Macht aus sich selbst heraus immer neue und größere Macht hervorbringt, ganz automatisch, dann kann die Freiheitsforderung als solche nie wirkliche Staatsbeschränkung bringen; denn sie greift ja die Macht nicht in ihrem Zentrum, sondern stets nur von außen an, sie will sie zurückdrängen, nicht im Kern zerstören. Hier liegt die Problematik der sogenannten oder wirklichen Radikaltheorien, die im wesentlichen immer Gleichheitstheoreme sind, hier beginnt die eigentliche Diskussion um die Systemveränderung. Die immer wieder vorgebrachten Gegenargumente gegen derartige radikale Versuche Laufen doch darauf hinaus, daß man hier "zu weit gehe", daß es, um die Freiheit zu bewahren oder zu schaffen, nicht notwendig sei, das Privateigentum abzuschaffen, oder jede staatliche Herrschaftsäußerung zu demokratisieren. Doch diese typisch liberale "übersteigerungskritikft an den radikalen Formen der Gleichheit kann doch nur dann durchschlagen, wenn es einen "Mittelweg" hier überhaupt gibt, wenn es also sinnvoll und wirksam ist, den Staat im Namen der liberalen Freiheit eben "etwas weiter zurückzudrängen", ohne daß es erforderlich wäre, zu den Radikalkuren der unbedingten Egalität und damit der Machtveränderung überzugehen. Doch gerade dies erscheint nicht als zweifelsfrei. Eines zumindest ist den radikalen Theoremen zuzugeben: Es führt nicht etwa ein bruchloses Spektrum von den Machtbeschränkungsforderungen im Namen der Freiheit bis hin zu den radikalen Formen der Machtablösung durch Gleichheit. Hier handelt es sich vielmehr um zwei völlig verschiedene Ansätze der Antimachtkritik: Argumentiert man allein aus der Freiheit, so mag es genügen, einige Kündigungsfristen zu verlängern, einige Rechte mehr gegen die Polizei oder die 'Macht der Richter zu gewähren. Der Antimachtansatz der Egalität ist ein ganz anderer: Hier soll die Macht in ihrem Kern eine andere und damit ein für allemal unschädlich werden. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß diese machtvernichtende Egalität etwas gänzlich anderes ist als die machtbeschränkende Libertät. Eine Gefahr jedenfalls tritt dann nicht auf, wenn man in radikaler Gleichheit vorgeht: daß sich die Kämpfe gegen die Macht in jenem Grabenkrieg festfressen, in welchem -die Freiheit des Liberalismus seit einem Jahrhundert immer neue Machtäußerungen, Machtmehrungen, Machtformen der Regierungshydra mehr oder weniger erfolgreich bekämpft. Im übrigen kommt es gar nicht darauf an, ob es der in Gleichheit gegossenen Freiheit nun wirklich gelingt, all dies zu erreichen, eine neue Gewalt zu schaffen. Sie wirkt ganz besonders stark als die große histori-

54 H. Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt? sche Hoffnung. Eine Hoffnungsdimension hatte die Freiheit wohl zu ihrem Beginn, mit vielen kleinen und mittleren Hoffnungen ist sie angetreten, von der Französischen Revolution bis auf unsere Tage. Doch eines hat ihr immer gefehlt: Da war nie die Hoffnung, daß "alles anders werden werde", nie die Hoffnung auf jene goldene Zeit, die es eben im Namen der stets doch skeptischen Freiheit nie geben kiann. Der Freiheit ist nicht jener große Schwung einer Menschheitshoffnung eigen, den die Egalität mit ihrer neuen Macht den Menschen vorstellen kann. So ist denn die Gleichheit schlechthin eine ganz andere Antimachtdimension als die Freiheit, sie verspricht Heilung, nicht Aufschub und Besserung. Im politischen Bereich geht es aber immer gerade darum: Es muß etwas von einer überschießenden Tendenz dasein, damit überhaupt eine Wirkung erzeugt werde; in der Gleichheit liegt eine derartige Tendenz, ganz deutlich und faßbar, in der Freiheit nur nebulös und sogleich ins Utopische abgleitend. Nicht als ob die Gleichheit nicht auch utopiegeladen wäre, anders könnte sie politisch nicht wirken; denn auch ein Rest von Utopie als Treibsatz muß der politischen Idee eigen sein, will sie etwas bewegen. Doch diese Utopie ist eben nicht die der "an sich irrealen" Freiheit; irgendwie erscheint Egalität als machbar, und sie ist ja, wenn auch unter größten Opfern, in mächtigen Staaten bereits weithin Wirklichkeit geworden. Wenig kommt es hier darauf an, ob die Ergebnisse gut sind, die Machbarkeit allein scheint eben bewiesen. So liegt in der Gleichheit etwas von einer realen Utopie, einer eigenartigen Mischung von Realität und Unmöglichkeit, welche vielleicht allein die eigentliche politische Hoffnung konstituiert. Diese Gleichheitshoffnung ist deshalb so mächtig, weil sie jedem eigen ist, weil sie vom kleinen Bürger bis zum großen Staatsmann stets alle bewegt: die Hoffnung, daß man dasselbe erreichen werde, was dem Stärkeren, Erfolgreicheren, Glücklicheren zugefallen ist. Denn natürlich gibt es immer nur - "Gleichheit nach oben" ... Damit ist die Gleichheit das Stärkste, was überhaupt gegen die Macht eingesetzt werden kann: eine tiefe Hoffnung eines jeden Menschen und eine Menschheitshoffnung.

8. Gleichheit: Kulturfortschritt durch rationale Antigewalt Die große Wirkmacht der Gleichheit besteht darin, daß sie Elemente des Irrationalen in sich trägt, in ihrem Kern, ihrem Wesen nach aber doch durchaus rational bleibt. Gerade darin ist sie die staatstheoretische Grundidee einer "wissenschaftlichen" Epoche: Sie setzt die Rationalität gegen das Irrationale der Macht ein, ohne daß es ihr an irrationalem

8. Gleichheit: Kulturfortschritt durch rationale Antigewalt

55

Gegengift gegen dieses Phänomen fehlte. Ihr Rationales liegt vor allem darin, daß sie die Rechtsträger auf gleiche Einheiten reduziert und damit die Machtausübung als solche rechenbar machen will. Rationalisierung der Macht ist seit langem eine der großen Hoffnungen der Staatslehre und der Politik, sogar in der Wissenschaft hat sie sich bis in romantische Träume hinein gesteigert. Man denke nur an das große französische Verwaltungsrecht des beginnenden 20. Jahrhunderts, welches den Staat aus einem Herrschaftsmechanismus von Menschen zu einem System von Dienstleistungen machen wollte, in denen nurmehr Verwaltung sei. Nicht anders hatten ja auch jene Liberalen begonnen, welche vom Monarchen verlangten, er solle nicht mehr herrschen, sondern regieren. Das Streben nach Entzauberung und Rationalisierung der Macht hat gerade in unserer Generation einen neuen Höhepunkt erreicht: Das Staatstheater wird abgeschafft, die Uniformen treten zurück, die Würde des Staates an sich wird in Zweifel gezogen zugunsten einer partnerschaftlichen Stellung der Staatsorgane gegenüber dem Bürger; die Titel verschwinden, und der Beamte wird zwn reinen Funktionsträger; sein Status selbst wird, als ein angeblich typisches Beispiel irrationaler Machtausübung, in Frage gestellt und soll mit dem des Arbeitnehmers gleichgeschaltet werden. Es hat ja geradezu eine Jagd auf das Irrationale im Staat und in der Gesellschaft begonnen, von der väterlichen Gewalt bis zu der Herrschaft der Ordinarien über die Universitäten. Und dies alles letztlich im Namen der Gleichheit - sie erscheint doch nun als eine weitere zivilisatorische Großtat: Nach dem Siege des Geistigen über das rein Physische, des Intellekts und der Schrift über die Kraft der Muskeln (eine Entwicklung, die ja noch immer nicht abgeschlossen ist ...) gilt es nun eine zweite Phase der Entwicklung einzuleiten, so meinen die Vertreter der großen Gleichheit: den Sieg der Egalität über jede Macht, auch über die feineren Formen der geistigen, besonders gefährlichen Beherrschung. Die ganze Menschheitsgeschichte wird so zu einer großen zivilisatorischen Leistung des Machtabbaus, beendet und vollendet in der großen Gleichheit, der überwindung jeder überlegenheit. In doppelter Weise erscheint die Gleichheit als das rationale Gegengift gegen jede Form der Gewalt:

-

Als ein Prinzip, das mit notwendiger, wissenschaftlich nachweisbarer Präzision die Macht abtötet; die Gleichheit tritt hier in ihrer staatstheoretischen Rationalität gegen die Macht an. Und sie ist ein historisch nachweisbares Gegengift, weil sie sich eben ger>ade in Spätzeiten zivilisatorischer Entwicklung immer mehr und immer vollständiger gegen die irrationalen Machtäußerungen früherer Epochen durchsetzt.

56

Ir.

Die antiautoritäre Illusion: Gleichheit - Absterben aller Gewalt?

Damit vereint die Egalität in sich die beiden wichtigsten Komponenten des Fortschrittsbegriffs, die historische ebenso wie die mathematisch-naturwissenschaftliche: Sie ist notwendig, stärker und besser als jede Gewalt, und auch als jene Freiheit, welche sich auf die Stufe der früheren Macht stellte und sie damit nie eigentlich hat überwinden können. In der Gesellschaft ist heute weit verbreitet, trotz aller pessimistischen Grundströmungen, ein großer Kulturoptimismus des Fortschrittes. Aus den ~ahlreichen naturwissenschaftlichen und sozialen Verbesserungen heraus wird auf einen ständigen geistig-zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit geschlossen. Staatstheoretisch kann die Freiheit allein dazu nicht allzuviel beitragen; sie muß ja immer, wenn sie hergestellt wird, erst beweisen, daß sie eine "Freiheit zum Fortschritt" ist; und nur zu oft gelingt ihr dies, in Unordnung und Chaos, schlechthin nicht. So ist denn die These von der Freiheit als Kulturfortschritt zwar vielfach vertreten, jedoch immer wieder durch das Scheitern freiheitlicher Ordnungen entkräftet worden. Ganz anders die Gleichheit in ihrer machtminimierenden, ja machtzerstörenden Funktion: Hier scheint das Absterben der Macht zu einem notwendigen kulturverstärkenden Phänomen zu werden, hinter dem die große Schubkraft von all dem steht, was notwendig und was gut ist. Und bessere Zentral- und Wertungsbegriffe kann es nicht geben. Schon in der Antike bestand Einigkeit darüber, daß Freiheitsempfindungen auch der Barbar haben könne. Ungeordnetes, turbulentes Freiheitsstreben wird man heute auch unterzivilisierten Völkern nicht absprechen können, vielleicht ist es bei ihnen sogar echter, tiefer gefühlt. Doch als die höhere Stufe der Freiheit erschien von jeher ihre egalisierte Form, in der eben die Freiheit erst wirklich geordnet wurde. Selbst wenn sich alle hochentwickelten Völker heute redlich und oft gewaltsam bemühen, auf die Unterentwickelten nicht herabzusehen, ein Stolz bleibt ihnen doch immer: der der besseren, ruhiger und rationaler funktionierenden politischen Ordnung; und vielleicht liegt nur darin letztlich der Abstand in den Entwicklungsstufen. Ist es aber nicht letztlich nur ein Unterschied, der all dies trägt - bei den einen ist eben die Gleichheit höher entwickelt als bei den anderen? Ist nicht ein Entwicklungsland nur die Gegend, in der man noch nicht von der Freiheit zur Gleichheit gefunden hat? Kann man der Gleichheit politisch ein höheres hohes Lied singen? In diesen letzten Kapiteln haben wir, im Grunde, schon die Antithese - Gleichheit als Machtminimierung - verlassen und die These erreicht: Macht durch Nivellierung. Die Gleichheit hat in der Tat machtauflösend

8. Gleichheit: Kulturfortschritt durch rationale Antigewalt

57

in der Vergangenheit gewirkt - doch es war immer nur eine Gewalt, die sie zurückdrängte: die "feudale", die Ungleichheitsgewalt. Damit aber ist in keiner Weise bewiesen, daß nicht aus der Egalität eine ganz neue Macht entstehen kann. Daß dies möglich, daß es im Gange ist, dafür spricht schon der Vorgang, der gerade in der antifeudalen Machtverdrängung durch Gleichheit deutlich wurde: die überholung der Freiheit durch die Gleichheit. Wenn aber die Freiheit, das zuinnerst Machtfeindliche, sekundär wird, zur gestatteten Folge herabsinkt - dann ist hier bereits der Anfang einer neuen Herrschaft. In der antiautoritären Gleichheit hat schon die neue Autorität begonnen - der Gleichheitsstaat. Daß er, daß Herrschaft das Eigentliche ist an der Gleichheit - davon sei nun die Rede.

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument Divide et impera 1. Die Gleichheit als neuer Sozialvertrag Nur dann kann aus der Gleichheit neue, freiheitsgefährdende, ja freiheitsvernichtende Herrschaft kommen, wenn der Egalitätsbegriff an sich geeignet ist, ein Herrschaftsinstrument zu sein. Dies aber ist der Fall, ganz anders als bei der Freiheit: Sie ist allenfalls Widerstand; Gleichheit ist ein Prinzip der Staatsorganisation, der Machtausübung als solcher.

a) Gleichheit als Recht der Teilnahme am "gemeinsamen Staat" Freiheit gründet keinen Staat -

wohl aber Gleichheit.

Die Grundrechte sind ganz wesentlich, seien sie nun in Verfassungen niedergelegt oder nicht, Schranken eines Freiheitsraumes des Bürgers gegen den Staat. Daran hat sich auch in den letzten Jahrzehnten, trotz aller neueren Entwicklungen der Grundrechtsdogmatik, im Grunde nur wenig geändert. Zwar hat man in neuester Zeit versucht, aus den Grundrechten auch Teilhabeansprüche gegenüber dem Staat, insbesondere der leistenden organisierten Gemeinschaft abzuleiten; doch dies ist nur in wenigen Fällen überzeugend gelungen, so etwa dort, wo der Staat gewisse Leistungen monopolartig erbringt, wie im Angebot von Studienplätzen an den Universitäten. Im übrigen hat die Rechtsprechung, nicht ohne Grund, diesen "Teilhaberechten aus Freiheit" eine klare Absage erteilt: Einerseits würde dies die Leistungsfähigkeit der staatlichen Haushalte, im Grunde aber die Freiheit der demokratischen Politik als solche übermäßig belasten, zum anderen wären schwer die Grenzen derartiger Teilhabe, jedenfalls als eines Freiheitsrechts, zu bestimmen. So steht also heute fest: Die Freiheit hat immer etwas Abwehrendes, Ausgrenzendes an sich. Aus ihr allein führt kein breiterer Weg in die Teilhabe an staatlichen Leistungen, noch ~ger an der Ausübung der Staatsgewalt; status positivus und status activus sind, das muß offen ausgesprochen werden, über Grundrechte nicht zu erreichen.

1. Die Gleichheit als neuer Sozialvertrag

59

Damit aber werden die Grundrechte nicht nur immer weniger" wichtig" - in dem Maß, in dem der Staat als Leistungsorganisation oder als politische Potenz an Bedeutung gewinnt, sich vom Polizeistaat zum Fürsorgestaat entwickelt. Weit wichtiger und grundsätzlicher noch ist ein anderes: Es zeigt sich, daß "auf der Freiheit ein Staat überhaupt nicht errichtet werden kann"; denn alle Staatlichkeit verlangt zuallererst, daß "der Bürger an die organisatorische Gemeinschaft herangebracht werde". Staatlichkeit kann nicht auf Zäunen, auf Schranken, gegründet werden, deshalb kann sie auf Freiheit als solcher nie gebaut sein. Dies ist die große, bleibende Erkenntnis der Theorie vom Sozialvertrag, wie sehr man ihn sonst auch mit leichten Argumenten bekämpfen mag: Staat bedeutet ein Zusammenführen von Bürgern, Macht kann immer nur durch Willensintegration, nicht durch die Desintegration der Freiheit erreicht werden. Es muß eben etwas vergemeinschaftet, es müssen Interessen und Willensmächte ineins geworfen werden, damit auf diese Weise die Legitimation der Macht entstehe. Dies aber zeigt: Aus einem reinen "status negativus-Denken" kann Staatsgewalt überhaupt nicht aufgebaut werden. Staatsgrundlage ist jene Gemeinsamkeit, an welcher der Bürger teilhaben kann, seien es nun wirtschaftliche Dienstleistungen oder politische Machtäußerungen. Ein Staatsgründungs-, ein Staatsorganisationsprinzip kann also nie die Freiheit sein - wohl aber jene Gleichheit, ohne welche geordnete Teilhabe undenkbar ist. Die Gleichheit ist es doch, welche die gesamte Teilhabe der Bürgerschaft an der politischen Macht trägt, sei es in den oligarchischen Clans der gleichen Mitglieder mächtiger Familien, sei es heute im allgemeinen, gleichen Wahlrecht. Die wirtschaftlichen Dienste können doch nur unter Einsatz dieses Prinzips effizient erbracht werden; von Wasser- und Energieversorgung bis hin zu den Subventionen ist modernes Recht letztlich nichts anderes als eine Ausprägung und Spezialisierung des Gleichheitssatzes. Alle Versuche etwa, neuerdings ein ausgebautes Subventionsrecht zu schaffen -' sie sind angesichts der Bedeutung dieser Materie eine der wichtigsten Aufgaben des öffentlichen Rechts - haben doch letztlich zu nichts anderem geführt als dazu: Einerseits soll hier ein neu es Vertragsrecht entstehen, am wichtigsten ist aber, zum anderen, die Gleichheit als Grenze staatlicher Subventionswillkür. Die Gleichheit ist also die neue Form der Sozialvertraglichkeit, der enthistorisierte Contrat social, von dem alle Eingeborenenromantik abgefallen ist. Und diese Gleichheit ist gerade in einem Staat, der sich freiheitlich nennt, ein geradezu ideales Staatsorgansationsprinzip, weil sie das Gefühl- oder 'die Illusion - vermittelt, als sei eben doch der Staat "auf Freiheit gegründet": Ist nicht die Gleichheit von jeher ein Freiheitsrecht gewesen, wird sie nicht von allen Verfassungsgerichten als

60

IH. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

eines der vornehmsten, vielleicht als das allerhöchste Grundrecht bezeichnet? b) Egalität -

Forderung nach dem aktiven Staat

Nicht nur darin kann die Gleichheit, anders als die Freiheit, wirklich staatskonstitutiv wirken, daß sie erstmals das "Gemeinsame" zusammenbringt, seine Verteilung regelt, in dessen Namen ja die Bürger einig sein sollen; mindestens ebenso wichtig ist ein Zweites: Gleichheit kennt nicht nur den untätigen Staat. sie wirkt auch im tätigen Staat, ja sie fordert ihn. Die Freiheit als Ausgrenzung, als Schranke soll ja die Staatlichkeit in erster Linie zu einem zwingen: zur Untätigkeit. Der Polizist soll nicht verhaften und keine Wohnungen betreten, der Gewerbebürokrat den kommerziellen Merkur frei fliegen l'assen. Dem Bürger gegenüber ist das Ideal dieses liberalen Freiheitsstaates letztlich nichts anderes als der Untätigkeitsstaat. Nicht umsonst wurde im 18. und 19. Jahrhundert seine wesentliche Aufgabe in den Bereichen der Außen- und der Militärpolitik gesehen. Es bedarf hier keiner vertiefenden Betrachtung darüber, daß gerade heute ein derartiger Unterlassungsstaat, eine Hände-in-dem-Schoß-Gemeinschaft nicht den Idealen der Bürger, insbesondere der jüngeren Generation entspricht. Allzugroß ist die allgemeine Machbarkeitsüberzeugung, von der man, naturgemäß, den Staat, die größte aller Maschinen, nicht glaubt ausschließen zu können. Dann aber wird die Freiheit als solche schon, als Staatsorganisationsprinzip wenigstens, problematisch; denn sie bedeutet, daß dieses mächtigste aller Zukunftsvehikel letztlich nur - mit Bremsen sich vorwärts bewegen soll. Ganz anders die Gleichheit: Sie ist ganz wesentlich auf den aktiven Staat anwendbar, weil sie ja die Rechte der Bürger auf seine Leistungen überhaupt erst praktikabel, möglich macht. Und noch weit mehr: Die Gleichheit zwingt den Staat sogar, in vielen Fällen, zur Aktivität: Hat er einen Bürger in bestimmter Weise behandelt, ihm etwa eine Baugenehmigung zugesprochen, so muß er jedem anderen dieselbe Vergünstigung gewähren, ihm gegenüber aktiv werden; und hat er einem Benutzer eine besondere Energieleistung zugewendet, so hat jeder andere, der dieselben Voraussetzungen verwirklicht, Anspruch auf dieseLbe Aktivität. So also wird die Gleichheit zum Staatskonstitutivelement, indem sie die gemeinsame Aktion nicht nur organisiert, sondern erforderlich macht, geradezu hervorbringt. Im Namen der Freiheit passiv, aktiv im Namen der Gleichheit- dies ist ein Herrschaftsprogramm; und mit welcher Absolutheit es wirken kann, zeigt gerade die Volonte generale Rousseaus.

1. Die Gleichheit als neuer Sozialvertrag

c) Gleichheit -

61

der Weg zur "Institution"

In der Gleichheit ist, von vorneherein, etwas angelegt, was über die reinen Freiheitsgrundrechte bisher in der Staatslehre nie gelungen ist: die Schaffung von Institutionen. Aus der Freiheit haben sich bisher Regierungsmaximen nicht gewinnen lassen; die Gleichheit macht sogar aus der Freiheit eine Regierungsorganisation - die "Institution". Am Ende der Weimarer Zeit schlug der Staatsrechtslehre etwas wie ein schlechtes Grundrechtsgewissen. Man glaubte, überall nurmehr Schranken zu sehen, allzuvieles, was die Staatsgewalt beschränkte, nichts, was sie konstituierte und über die damaligen Notzeiten hinwegtragen konnte. So war es natürlich, und durchaus noch nicht Zeichen eines bereits beginnenden Faschismus, daß man sich einer Objektivierung der Grundrechte verschrieb: Aus den FreiheitsveI"bürgungen der Verfassung, aus Meinungs- und Glaubensfreiheit etwa, sollte mehr werden als nur Schranken, welche der Bürger dem Staat entgegensetzte. Ordnungen vielmehr sollten geschaffen werden auf der Grundlage dieser Freiheitsrechte, die Staatlichkeit sollte objektivierte grundrechtliche Regierungsmaximen aus der Verfassung ableiten können. Und bereits die Weimarer Verfassung hatte dahin, so schien es jedenfalls, den ersten Schritt getan: Die Grundrechte hatte sie ja nicht, wie später das Grundgesetz, in einen harten Forderungskatalog zusammengefaßt, sie vielmehr eingebettet in die weicheren und allgemeineren, staatsgrundlegenden Formeln ihrer gesellschaftlichen Ordnungen, welche auf der Freiheit errichtet waren: Ehe und Familie, Glaube und Religionsgemeinschaften, Wirtschaft und Arbeit.

Dieser Versuch einer Objektivierung der Grundrechte, einer Ordnung auf verfassungsrechtlich verbürgten Freiheiten ist damals gescheitert. Nach 1945 schrieb man dies alles den unglücklichen politischen Entwicklungen zu, welche eben die gesamte Grundrechtlichkeit überrollt hätten. Deshalb wurde auch, bald nach der Wiederherstellung der Demokratie in Deutschland, ein neuer Anlauf zu derartiger Objektivierung gemacht: Wiederum sollte die Meinungsfreiheit eine "Ordnung der freien Meinung" grundlegen, aus der Versammlungsfreiheit eine "Ordnung der Demonstrationen" entwickelt werden. Auch dies ist letztlich nur bis zu Ansätzen gekommen. Denn die Freiheit als solche kann eben nicht objektiviert, sie kann nicht zur Regierungsmaxime werden; wer sollte sie gegen den herrschenden Staat durchsetzen? Müßte sie dann nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden, in ein Freiheitsrecht des Staates gegen den Bürger? Hier wurde ein Versuch mit untauglichen Mitteln, eben der Versuch der Herrschaft durch Freiheit unternommen. Gelingen konnte und kann etwas derartiges nur mit einem "Freiheitsrecht": mit der Gleichheit.

62

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

Dies zeigt sich, in einer "Gleichheit als Regierungsmaxime", sehr deutlich bereitS in den neueren Entwicklungen des Verfassungsrechts, welche mit dem Stichwort der "Institutionenlehre" umschrieben werden. Ehe und Familie, Erbrecht und Eigentum im privaten Bereich, Berufsbeamtentum und gemeindliche Selbstverwaltung im öffentlichen Sektor - all dies wurde bereits in der Weimarer Zeit zur "Institution" erhoben, verfestigt. Der Ausganspunkt war, was viel zu wenig erkannt worden ist, auch bei earl Schmitt, ein durchaus freiheitlicher: Da es nicht gelang, die Grundrechte in allem und jedem zu geltendem Recht werden zu lassen, sie dem Staat vor den Gerichten entgegenzuhalten, sollte der so nicht zu verwirklichende Freiheitsgehalt der Grundrechte in anderer Weise den Staat durchdringen, ihn soz. konstituieren; und dem diente die Institutionenlehre. Hier wurden ja Räume des Gemeinschaftslebens oder gar der Staatsorganisation angenommen, welche in ganz besonderer Weise vom Freiheitsgehalt erfaßt, in Freiheit soz. organisiert werden sollten. Das Wesentliche der Institution - die gemeindliche Selbstverwaltung zeigt es deutlich - war der autonome Raum, den der Staat achten sollte, in den er nur unter bestimmten Voraussetzungen eindringen durfte. Dies traf sogar noch zu für jenes Berufsbeamtentum, das eben vom Staat in seinen herkömmlichen, hergebrachten, d. h. aber vom Staat nicht ad hoc geschaffenen Grundsätzen zu achten war. Viel zu wenig erkennt man auch heute noch, daß der Sinn der hergebrnchten Grundsätze des Berufsbeamtenturns (Art. 33 Abs. 5 Grundgesetz) ja ein echter Freiheits-, ein Autonomiesinn sein sollte und sein soll: Der Staat findet hier etwas vor, was sich soz. selbsttätig entwickelt hat, was er hinnehmen und weitertragen, nicht aber autonomie-, freiheitszerstörend verändern soll. In diesem Sinn ist also das Berufsbeamtentum von jeher eine Institution der Freiheit gewesen. Noch deutlicher war der Freiheitsbezug der Institutionenlehre bei den Einrichtungsgarantien des Privatrechts, bei Eigentum, Erbrecht, Familie und Ehe. Hier sollte die subjektive Freiheit, der Anspruch, sich verehelichen zu dürfen, Eigentum zu besitzen, nicht genügen, dem Staat sollte es verwehrt sein, jene größere Ordnung der Freiheit zu beeinflussen, welche durch die Institutionen Eigentum und Ehe als solche geschaffen waren. Freiheit als Regierungsmaxime - hier schien sie doch Wirklichkeit zu werden. Doch gerade dies ist letztlich nur wenig, nur sehr unvollkommen gelungen, denn in diese Institutionenlehre schob sich, unter dem Mantel der Freiheit, sogleich jenes andere Prinzip, das eben eine echte Herrschaftsmaxime ist: die Gleichheit. Die Egalität war es, in deren Name sich letztlich die Institutionenlehre hat entwickeln können.

1. Die

Gleichheit als neuer Sozialvertrag

63

Was nämlich der Staat an der Ehe und an der Familie oder im Erbrecht zu achten hat, das ist weniger eine besondere Freiheit; wäre dem so, so stünden diese Institutionen ja nicht mehr in jenem Maße zur Disposition des Staates, wie dies heute für unumgänglich gehalten wird; welcher Staat wäre es denn, der auf die Ordnung des familiären Bereichs verzichtete! Es beschränkt sich also die Bedeutung der Institution im wesentlichen darauf, daß innerhalb ihrer Grenzen feste Ordnung sei vor ihr sollte der Staat haltmachen, weil man sie als "natürlich", als nicht vom Staat geschaffen ansah. Doch sehr rasch zeigte sich, daß diese kleineren "Freiheitsordnungen" nicht aus sich selbst bestehen konnten; und da "machte der Staat sie erst wirklich zur Institution" - durch die Gleichheit staatsgesetzter Tatbestände. Jeder Bürger soll unter gleichen Umständen in gleicher Weise erben und vererben dürfen, die Partnerwahl der Ehe soll jedem in gleicher Weise, unter gleichen Voraussetzungen offenstehen. Gel'ade jene Institutionen überdies, welche im Namen der Freiheit in der Verfassung speziell gesichert wurden, haben neuerdings eine besonders weitgehende innere Egalisierung erfahren, die über reine ausgrenzende Freiheit weit hinausgeht: Nirgends mehr als in Ehe und Familie soll heute die Gleichheit hergestellt werden, zwischen den Ehegatten ebenso wie zwischen Eltern und Kindern; das Erbrecht wird zu einem Instrument der Güterverteilung und der Egalisierung, nicht nur über die Erbschaftsteuer; im Eigentumsrecht wird gerade im Namen der institutionell verfestigten Eigentumsordnung nicht mehr der Schutz der Eigentumsungleichheit, sondern neuerdings zunehmend ein gleiches Recht aller auf Eigentum postuliert. Daß die Gleichheit jene im Namen der Freiheit geschaffenen Institutionen sogleich durchdringt und zu Egalitätsräumen umzuformen sich bestrebt, ist auch kein juristischer oder politischer Zufall. Hier kommt etwas ganz Wesentliches aller Gleichheit zum Ausdruck: ihre Nähe zur Institution. Wenn so etwa heute gefordert wird, es solle aus der Pressefreiheit eine "Institution freie Presse" entwickelt werden, so steht dahinter im letzten die Forderung nach der "Pressegleichheit" - die Zeitungen sollen "in Vielfalt" möglichst gleich groß, gleich mächtig sein. Und wer die Demonstrationsfreiheit institutionalisieren will, der fordert den gleichen Demonstrationsbürger überall; seine Aktionen sind dann eine Art von Bürgerpflicht und überdies - der Macht in ihrer Nivellierung nicht allzu gefährlich. Weil die Gleichheit ein Organisationsprinzip ist, in allem und jedem, schafft sie überall sogleich Strukturen, feste Schemata von Rechten und Pflichten und, vor allem, nicht nur die Verteilung, sondern die Verteiler, die Träger der Organisation, bis hin zur Bürokratie. Darin aber liegt etwas ganz wesentlich Staatsgründendes, Staatsbewahrendes, darin ist Herrschaft angelegt, Macht. Deutlich wird dies gerade in den verschlungenen Wegen von der ursprünglich

64

II!. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

freiheitsbegrundeten, grundrechtslegitimierten Einrichtungsgarantie bis hin zur Institution Familie, Ehe und Eigentum als staatlichem Herrschaftsinstrument: Diese ganze Entwicklung ist nur durch ein Prinzip getragen - durch jene Gleichheit, welche sich in die Freiheit geschoben und sie zur Organisation der Macht hat werden lassen. So wie die Hand des unglücklichen Königs einst alles zu Gold werden ließ, so wird alles, was die Gleichheit erfaßt, zur Institution, und alles fügt sich dann zusammen zur größten Machtinstitution - zum modernen Staat. 2. Gleichheit als Zentrum des Pflichtenbegriffs Die Gleichheit ist aber weit mehr als ein gutes Instrument zur Herstellung, zur Befestigung der Macht: Die Macht ruft geradezu nach der Gleichheit, weil diese ihren eigentlichen Kern konstituiert, den Pflichtenbegriff. Das erste, was die neuen Herrschenden gegenüber einem zerfallenden liberalen Staat neu schaffen müssen, das ist ja jener Pflichtbegriff, der gerade in der deutschen Tradition stets mahnend den übersteigerten Rechten der Freiheit entgegengehalten wurde - von Kant bis zur großen Staatslehre der Weimarer Zeit.

a) Ohne Gleichheit keine Pflicht Ohne Freiheit kann es im modernen Staat keine Rechte geben, ohne Gleichheit keine Pflichten - dies ist zuwenig bewußt. Von einer gewissen allgemeinen Entwicklungsstufe der Einzelpersönlichkeit an, welche in allen westlichen Ländern erreicht ist, können Pflichten dem Staat gegenüber nur konstituiert werden, wenn sie im Namen der Gleichheit erfüllt werden sollen. So war die allgemeine Wehrpflicht weit mehr als eine geniale Erfindung der Französischen Revolution, sie war die notwendige Folge eines gewissen zivilisatorischen Entwicklungszustandes der französischen Nation in dieser Zeit: Auf Schlachtfeldern wäre man umsonst, um weniges Geld, in solcher Größenordnung überhaupt nicht mehr gestorben, diese Pflicht konnte nur eine nationale, eine gleiche sein. Und deshalb mußte England so lange am Söldnerheer festhalten, weil es, trotz aller Freiheitlichkeit, eine gestufte, eine "ungleiche Ordnung" besaß, bis herauf in jenes 20. Jahrhundert, in dem dann die Gleichheit auch dort stark genug wurde, so daß man zur allgemeinen Wehrpflicht übergehen konnte. Die große Pflicht der Frauen, welche der der Männer zum Sterben herkömmlich entsprach, die Pflicht zum Gebären, sie konnte nur durchgesetzt werden als eine Verpflichtung gegen Gott, die Gemeinschaft und

2. Gleichheit als Zentrum des Pflichtenbegriffs

65

die Familie, solange sie aus natürlicher, unentrinnbarer physischer Gleichheit abgeleitet werden konnte. In dem Augenblick, in welchem Verhütungsmittel den Ausbruch aus dieser notwendigen Gleichheit erleichtern, muß auch der Pflichtencharakter dieses Gebärens zusammenbrechen, und mit keiner staatlichen Veranstaltung wird man die Frauen wieder in solche Pflicht nehmen können. Und das dritte Beispiel ist das größte und wirklich unbestreitbare: die Steuergleichheit. Diese wichtigste Pflicht, die das öffentliche Recht kennt - sie ist nie erfüllt worden und wird nie erfüllt werden, wenn sie nicht getl1agen wird von der unbedingten Gleichheit. Deshalb war die "egalite devant les charges publiques" die vornehmste, grundrechtlich besonders verbürgte Ausprägung der Gleichheit schon in den Freiheitsrechten der Französischen Revolultion. So ist frühe Demokratie im Namen der SteuI ergleichheit geschaffen worden, im Steuerbewilligungsrecht der Stände, weil die Volksherrschaft, diese bedeutendste Form der Gleichheit, im Namen der Pflichtengleichheit zur Staatsorganisation werden konnte. Der Bürger tut nichts für den Staat, es sei denn mit Blick auf den Nächsten; denn immer erfüllt er Pflichten ja letztlich nicht nur im eigenen, sondern auch im fremden Interesse, in dem des Mitbürgers, von ihm verlangt er daher - ein Gleiches. Der reine Altruismus des kategorischen Imperativs bedarf stets, um politisch durchsetzbar zu sein, der Gleichheit. Zwar wird von der moralischen Persönlichkeit verlangt, sie solle sich so verhalten, daß dies stets zugleich Maxime für das Handeln aller anderen sein könne; doch in der praktischen Politik kehrt sich die Reihenfolge um: Hier wird der Bürger eine Maxime nur befolgen, wenn sie bereits für alle anderen Mitbürger gilt. Die Gleichheit kommt vor dem Befehl, Gleichheit plus kategorischer Imperativ ist Staatlichkeit. b) Egalität macht "Pflicht zu Recht"

Nur im Begriff der gleichen Pflicht wird die lastende Verpflichtung, welche dem Bürger vom Staat auferlegt wird, in einer Weise verschleiert, daß sie erträglich und ertragen wird: Durch die Gleichheit wird die Pflicht als Recht hingestellt. Wenn nur ein Bürger oder wenige dienen, für die Gemeinschaft sterben müssen, so ist dies für sie nichts anderes als ein odioses Opfer, eine "reine Pflicht". Erfüllen sie "ihre Pflicht wie jeder andere auch", oder wie sonst jene hohen Formeln lauten mögen, in deren Namen Millionen gestorben sind, so erscheint dies nicht nur als süß und ehrenhaft, sondern, mehr noch, als ein echtes Recht: Man darf das Vaterland verteidigen wie alle anderen auch, daraus erwächst eine Ehre. Der ehrliche Steuerbürger, wenn es ihn gibt, sollte den Steuerstolz haben, das Recht, 5 Leisner

66

UI. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

die Gemeinschaft mitzutragen. Und wenn ihm hier schon sein Gold lieber ist als diese teuere Ehre, so wird doch in unserer heutigen Erziehung alles getan, um dem Bürger wenigstens den Wahlstolz zu geben, die Befriedigung, seine Stimme ebenso in die Urne legen zu dürfen wie alle Bürger, wie jener letzte unter ihnen, der nicht mehr weiß, was er tut, oder dem es völlig gleichgültig ist. Im gesellschaftlichen Bereich finden sich noch weit treffendere Beispiele für jene Transformation von Pflichten in Rechte, mit denen die moderne Egalität den Bürger über die Lasten der Gewalt hinwegtäuscht. Man denke nur an den Sozialzwang zur Arbeit, den jeder als ein stolzes Recht zur Arbeit fühlen, ·aus dem er dann sogar ein Recht auf Arbeit ableiten soll. Das Lastende als Glück empfinden, den Sozialzwang als sozialen Fortschritt werten - dies alles kann nur über einen Begriff geschehen: über die Gleichheit. c) "Bürger" -

ein Gleichheitsbegriff

Pflichten obliegen nicht dem Menschen, sondern nur dem Bürger. Die Schwäche des Pflichtenbegriffes im Verfassungsrecht, im öffentlichen Recht überhaupt, kommt von Anfang an daraus, daß dieser Pflichtenbegriff doch dem Rechtebegriff entsprechen soll, es jedoch zwar Menschenrechte, nicht aber Menschenpflichten in der politischen Gemeinschaft gibt. Selbst die deutsche idealistische Philosophie, welche doch so vieles und Entscheidendes über das Entsprechungsverhältnis von Rechten und Pflichten ausgesagt hat, auch sie konnte nie überzeugend die Menschenpflichten grundlegen, es sei denn in einem sehr, allzu hohen moralischen Imperativ. Die Bürgerpflichten jedoch als Entsprechung zu Bürgerrechten - sie kann es zwar geben, doch sie verlangen eben den Bürger. Zum Bürger wird der Mensch in der staatlichen Gemeinschaft letztlich aber nur durch eines: durch die Gleichheit. Die enge, wesentliche, ja notwendige Verbindung des Bürgerbegriffes mit der Egalität ist bisher nur selten herausgehoben, und, soweit ersichtlich, nie wirklich systematisiert worden. Die Bürgerstellung ist ja letztlich nichts anderes als der Inbegriff aller gleichen Rechte und Pflichten, welche den Gliedern der Gemeinschaft zugerechnet werden. Soweit es rechtliche Unterschiede gibt, ist die Bürgerstellung abgeschwächt, der Drei-Klassen-Bürger der alten preußischen Zeit, der "auslaufende Bürger" des US-Rechts sind eben - insoweit keine Bürger. Wenn die Unterschiede in den Rechten und den Pflichten zu weit getrieben werden, so bricht der Bürgerbegriff selbst auseinander, der stets einen gewissen Minimalstandard gleicher Rechte und Pflichten zwingend voraussetzt. Bürger - das ist, im Namen der Gleichheit, ein Ehrentitel. Doch es ist eben mehr und etwas sehr Gefährliches: Es ist ein Machtkianal, durch

3. Die Gleichheit -

Garantie kontinuierlicher Macht

67

den alle Äußerungen staatlicher Herrschaft auf den Einzelmenschen herabstürzen. Der Bürgerbegriff ist bereits nichts anderes mehr als ein großer Staatsvorbehalt, eine Staatslegitimation zu vielen, unzähligen, unbestimmten Freiheitsbeschränkungen. Nichts führt daran vorbei: Im Namen der Gleichheit steht der Bürger vor dem Staate, vor dem Herrschenden stramm, zum Empfang unzähliger Befehle. Nur deshalb muß heute so viel vom Bürger die Rede sein, mehr als in früheren, freiheitlicheren Zeiten, weil man dem Einzelmenschen damit immer wieder sagen, ja einhämmern will, daß er in Pflicht genommen werden kann, in Pflicht genommen wird. Da war schon der alte Ausdruck "Staatsbürger" der bessere, in dem etwas Bürokratisches mitgedacht war, damit aber der Einzelmensch auch stets zugleich gewarnt wurde vor dem, was ihn erwartete; im "Bürger" liegt etwas Romantisch-Pflichtengebundenes - und die große egalisierte Staatsmaschine nützt es auch sogleich und bis an die Grenzen aus. Pflichten gegenüber dem Staat erfüllt der Mensch mit dem Opfer seiner Freiheit und dem seines Eigentums. Auf diese beiden Räume kann der Staat nicht ohne weiteres greifen, denn hier ist ja das wesentlich Ungleiche, eben im Namen von Freiheit und Eigentum. Die Gleichheitslegitimation jedoch schafft jenen Bürger, der sich dem Staate gegenüber letztlich auf nichts mehr berufen kann, nicht auf die Freiheit und nicht auf Eigentum - wenn nur die Gewalt dem Nächsten ebensoviel nimmt. "Bürger" - das soll ein Ehrentitel sein; in Wahrheit spricht man so den Menschen an, der "ohne Eigentum gedacht ist" irgendwie auch ohne individuelle Freiheit. Es gibt keinen stärkeren Herrschaftsbegriff als den des Bürgers. Der Staat schafft sich den egalitären Bürger nach seinem Bild und Gleichnisse, nach dem der egalitären Demokratie, vor allem aber nach seinen Bedürfnissen.

3. Die Gleichheit - Garantie kontinuierlicher Macht Zwang zu kontinuierlichem Herrschen Macht braucht Ruhe und Kontinuität. Die Gleichheit sichert ihre Herrschaft ohne Stöße, sie zwingt darüber hinaus die Herrschenden zu einer Machtausübung, welche die Grundlagen ihrer Herrschaft kontinuierlich verstärkt. So ist die Egalität Halt und Lehre der Herrschaft zugleich, und dies vor allem in der unruhigen neuesten Zeit.

a) Macht durch Dauer- "Demokratische Kontinuität" Daß Macht Kontinuität in erster Linie braucht, bedarf keines Beweises. Hier geht es nicht nur um etwas Quantitatives - weil fünf J,ahre Herrschaft mehr sind als ein Monat. Jede staatliche Macht hat zu

68

ur. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

jeder Zeit etwas gekannt wie das Gesetz der progressiven Machtsteigerung in der Zeit: Mit Zeitablauf findet keine Machtaddition statt, sondern eine Machtpotenzierung. Nur längere, kontinuierlich ausgeübte Macht gestattet es den Herrschenden, die Früchte dessen zu ernten, was sie gesät haben; und dies ist eine historische Wahrheit, von den "goldenen Zeiten" der Antike, der langen Herrschaft eines Augustus, bis in die neueste Zeit, welche im Instrument der staatlichen Planung der kontinuierlichen Herrschaft neue Machtinstrumente erschlossen hat. Sicher gibt es auch das gegenläufige Gesetz der rasch abnehmenden Macht durch Machtabnützung. So spricht manches dafür, daß sich die Macht, in längeren Zeitabläufen, in Kurven entwickelt, daß sie exponentiell steigt und fällt. Doch gerade deshalb ist Zeitablauf nicht alles, es muß ein Zweites hinzukommen: die Verstetigung der Machtausübung, die Machtkurve auf gleicher Höhe. Man mag versucht sein, die Geltung des Gesetzes, daß kontinuierliche Machtausübung Machtverstärkung bedeutet, gerade für die Demokratie zu bestreiten: Kann es hier überhaupt zu kontinuierlicher Macht, selbst bei kontinuierlichem Regime, kommen? Sind nicht in dieses System, durch den Machtwechsel zwischen den Parteien und die Strömungswechsel innerhalb derselben, derartig viele Diskontinuitäten eingebaut, daß gerade jene machtverstärkende Gleichförmigkeit ausgeschlossen erscheint, wie sie etwa Ludwig XIV. in höchster Form hat erreichen können? In solcher Allgemeinheit ist diese These nicht haltbar; jedes Regime, jede Staatsform hat ihre eigenen Kontinuitätsformen der politischen Herrschaft, auch und gerade die Demokratie. Auch hier kommt es zu jenem Gewöhnungseffekt der Gewaltunterworfenen an die Herrschaft, welche in immer gleicher Weise ausgeübt wird und damit als unwiderstehlich und legitim zugleich erscheint. Und gerade dadurch, daß das Streben nach Neuem in der Volksherrschaft geradezu institutionalisiert ist, gibt sich der Bürger allzu leicht oft mit der Illusion zufrieden, da alles jederzeit wechseln könne, ändere sich auch alles. Die Diskontinuitätshoffnungen der feudalen Regierungen vor 1914 haben sich ja im Falle der Französischen Republik auch nicht erfüllt: Die französische Außenpolitik etwa war, entgegen allen feudalen Theoremen, gleichmäßiger und kontinuierlicher als die der meisten fürstlich regierten Staaten. Zuzugeben ist andererseits, daß gerade die Demokratie an Kontinuitätsschwächen leidet, daß ihr die Machtverstetigung in gleichen Formen und in gleicher Intensität nicht immer gelingt. Doch gerade jene selbe Gleichheit, welche derartige Gefahren in besonderer Weise hervorbringt, sie hilft auch, sie zu überwinden; sie bringt zwar Unruhe in die politische Ordnung, zugleich aber verstetigt sie die Machtausübung in

3. Die Gleichheit - Garantie kontinuierlicher Macht

69

bedeutsamer Weise und sorgt für Kontinuität. Diese weniger beachtete Wirkung soll nun näher dargestellt werden. b) Kontinuitätsschwäche durch Unterschiede -

Stärke durch Gleichheit

Ungleichheit bringt politische Unruhe, belebende vielleicht, aber auch gefährliche. Weist eine Gesellschaftsordnung erhebliche Ungleichheiten auf, ist sie geradezu darauf gegründet, wie dies etwa in der feudalen Zeit der Fall war, so muß stets mit Fluktuationen gerechnet werden, mit sozialen Bewegungen, welche das Streben der einen Schicht nach Aufstieg ausdrücken, den Abstieg der anderen bedeuten. Das politische System muß diese Bewegungen, welche sich zu Stößen verdichten können, aushalten, ja balancieren. Daraus entstehen erhebliche innere Spannungen, die, verbunden mit äußeren Schwierigkeiten, zur Zerreißprobe des gesamten Systems werden können. Die Geschichte, vor allem die des 19. Jahrhunderts, mit ihren neuen Klassenschichtungen, bietet dafür eindrucksvolle Beispiele. Der soziale Parvenü bedeutet eine wahre Kontinuitätsgefahr für die politische Ordnung. Die zahlreichen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts erklären sich, dies ist seit langem bekannt, vor allem dadurch, daß laufend Ungleichheiten aufgefüllt und ausgeglichen wurden, zugleich jedoch erhebliche neue entstanden oder jedenfalls bewußter wurden: Das Bürgertum verdrängte erst im 19. Jahrhundert die Aristokratie ganz wesentlich aus den Führungspositionen, vor allem in Frankreich, jedoch nur um den Preis eines industriellen Reichtums, der neue, große Ungleichheiten aufbrechen ließ. Selbst die doch elastischen Institutionen der parlamentarischen Demokratie erwiesen sich als nicht hinreichend, um diese Gleichheitsströmungen alle aufzufangen und zu beruhigen; sie kamen weder in der III. und IV. Republik Frankreichs zur Ruhe, noch in der Weimarer Zeit. Noch größer und gefährlicher wird die Diskontinuität dann, wenn die sozialen Ungleichheiten unmittelbar in das politische System übergreifen, weil sie in diesem sogar institutionell verfestigt sind. Hier entsteht dauernde gefährliche Bewegung; die Geschichte der Aristokratie seit dem Beginn der Neuzeit, ,die Versuche des mittleren und kleinen Adels, in die Positionen der Magnaten, nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch aufzusteigen, sind dafür ein eindrucksvoller Beleg. Nur die große Kontinuitäts-Institution des absoluten Fürstentums konnte diese vielfachen Bewegungen verdecken, welche jedoch schließlich das Ancien regime entscheidend schwächen sollten. Zwar mögen also aus diesen zahllosen Bewegungen zur überwindung und Auffüllung der Ungleichheiten, welche ja stets neue Ungleichheiten

70

!II. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

erzeugen, belebende Ströme auch in den politischen Bereich fließen; daß ihre Wirkung stärker sei als die der Desintegration, ist das Glaubensbekenntnis der Olig.archie; denn Klassenherrschaften, wie immer sie auch beschaffen sein mögen, erheben geradezu die Ungleichheitsbe.wegungen zu einem der wichtigsten Motoren aller Staatlichkeit, das Streben nach oben, der Abstieg der anderen ist das eigentliche Leben dieser politischen Ordnung. Daß derartige Konstruktionen in einer an sich schon durch rasche und unvorhersehbare technische Entwicklungen übermäßig bewegten Zeit keine Grundkonzeption tragen können, liegt auf der Hand; und deshalb zeigt sich die Gleichheit hier erneut als ein Herrschaftsinstrument von hohem Werte: Sie bringt jene Kontinuität, die keine starke Bewegung kennt, weder in der Gesellschaft, noch im Staate. Die verordnete, vom Staat erzwungene Egalität kennt weder die Abstiegsangst der einen, noch die parvenühafte Aufstiegsgier der anderen. Wo aber nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren ist, da hat die Herrschaft das leichteste Spiel, letztlich ist es nur ihre Aufgabe, im großen und ganzen einen Status quo zu erhalten. Sie mag ihn insgesamt verbessern, doch sie wird darin nicht gestört durch dauernde Sonderbewegungen von Gruppenegoismen. In einem gewissen Sinne wird die Herrschaft sogar zurückgeführt auf das, was ihr eigentlicher Kern ist, was sie am besten versteht: auf eine Art von polizeilicher Ordnungsrnacht im weiteren Sinne des Wortes. Sie ist den lästigen, schwierigen, meist sogar unmöglichen Aufgaben dessen enthoben, was man heute so leichthin Sozialgestaltung nennt, die dauernde Einebnung von neu entstehenden Ungleichheiten. Man mag nämlich den Service-Staat preisen, in ihm die eigentliche Entwicklung der neueren Zeit sehen - dies ist nichts als eine lliusion, und jede Herrschaft wird immer wieder zurückstreben zur eigentlichen Machtäußerung der ordnenden Polizei, jedenfalls zu einer Ordnungsverwaltung, der gegenüber es keine gesellschaftlichen Ungleichheiten gibt. So bedeutet denn jede kleine oder größere Gleichheit, welche eine politische Ordnung durchsetzen kann, das Ende von politischen Problemen. Der eigentliche Grund der erstaunlichen Stabilität der sowjetischen Herrschaft, entgegen aller ökonomischen und politischen Kritik, liegt wohl letztlich darin: In einer hart durchgesetzten Gleichheit sind viele politische Probleme nicht nur für beendet erklärt worden, sondern wirklich aufgehoben, welche die westlichen, freiheitlichen Länder dauernd erschüttern. Darin liegt in der Tat, ohne negativen Beigeschmack, etwas von einem neuen Zarismus, wenn man diesen Begriff so versteht, daß es in ihm nur eine große, oberste Ordnung, nicht eine vielfach gestufte Feudalgewalt gibt, die sich dauernd aufzufüllen und zu verändern bestrebt. In diesem Sinn hat Rußland vielleicht erst, seit Peter dem Großen

3. Die Gleichheit - Garantie kontinuierlicher Macht

71

das erstemal wieder, in seinem Rätestaat zu seinem wahren Zarentum zurückgefunden. So bleibt denn in der Gleichheit das Substrat identisch, durch nichts kann Herrschaft wirksamer erleichtert werden. c) Kontinuitätszwang in "Gleichheitsosmose"

Die Gleichheit bringt einen echten staatsrechtlichen Kontinuitätszwang. Was immer in einer solchen Ordnung irgendwo begonnen worden ist, es kann nicht leichthin liegengelassen, es muß mit dem großen Zwang der Gleichheit durchgesetzt werden, auf breitester Front, bis in alle Verästelungen des gesellschaftlichen und politischen Lebens hinein. Denn nur dann ist ja Gleichheit eine politische Wirklichkeit, wenn jeder neue Anstoß sich mit seiner Wellenbewegung bis zu den fernsten Gestaden hin fortsetzt. Da kann dann nicht eine Kategorie von Arbeitnehmern anders behandelt werden als die andere, eine Hochschule einer anderen gegenüber Privilegien genießen. Angesichts der vorgegebenen, oft sogar "natürlichen" Ungleichheiten, welchen derartige Bewegungen allenthalben begegnen, muß es daher zu vielfachen Experimenten kommen, zu einem langsamen Angleichungsvorgang. Anders als der Freiheit ist eben der Gleichheit nicht die rasche Durchsetzung eigen, der schlagartige Erfolg. Ihre typische Bewegung ist die der Osmose, der langsamen, sich hochschaukelnden Angleichung. Aus diesem Grunde ist auch jede Gleichheitsordnung in besonderer Weise schwerfällig und wird als solche von den rasch sich bewegenden Freiheitsregimen leichthin verurteilt. Wiederum ist der Sowjetstaat dafür ein guter Beleg. Hier können ja nicht einzelne liberale W olkenkratzer hochgezogen werden, es muß der riesige Block der gesamten sozialen Struktur millimeterweise gehoben werden, der "soziale Fortschritt" muß sich in jahrelanger Osmose durch das gesamte Riesenreich in Gleichheit verbreiten. Diese gleichheitsbedingte Schwerfälligkeit bringt sicher Probleme für die Herrschaft. Doch abgesehen davon, daß sie ihre Allgegenwärtigkeit und Unersetzlichkeit eindrucksvoll beweist, wovon noch die Rede sein wird - eben diese Schwerfälligkeit erzwingt eine Kontinuität der Macht, ihre Alternativlosigkeit in der Zeit. Mehr und Besseres aber kann sie sich wohl nicht wünschen. Für den Betrachter der politischen Zustände, der von "außen" sieht, mag all dies als ein Nachteil erscheinen, und so ergeht es wiederum dem Kritiker des Sowjetstaates im Westen. Doch er verkennt, daß diese seine Kritik für die Gleichheitsordnung systemimmanent nichts Negatives an

72

Ur. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

sich hat: Die vielen gewaltunterworfenen Gleichen kennen keine Alternative der Ungleichheit mehr, kein Barometer, welches den raschen Freiheitserfolg messen könnte; und die Herrschenden selbst benötigen an sich eben keinen Erfolg, sondern nur Kontinuität. Denn dies ist ein zuwenig beachtetes Prinzip aller Macht: Sie braucht den Erfolg, die Glorie an sich nicht, nicht für sich, sondern nur insoweit, als ihre Herrschaft bedroht ist. Deshalb bedarf die kontinuierliche Macht der Gleichen auch nicht jener Eitelkeiten der Wirksamkeit, der Erfolge; solange sie nicht sichtbar im Inneren bedroht ist, kann sie ruhig warten, in Gleichheit und in Kontinuität; so wie eben letztlich jede wirkliche Macht etwas zutiefst UneitIes an sich hat. Und wieder braucht man nur ·auf Rußland zu blicken. d) Kontinuität als "Gleichheit in der Zeit"

Gleichheit muß schon deshalb Kontinuität schaffen, weil Herrschaftskontinuität nichts anderes ist als Gleichheit in der Zeit. Diese historische Dimension der Egalität wird häufig verkannt; Gleichheit erscheint, ganz zu Unrecht, als etwas Unhistorisches. In Wahrheit hat sie ein sehr waches, sehr starkes historisches Gefühl, sie schweißt gewisse geschichtliche Perioden zu einer Einheit zusammen, welche westlichen politischen Geschichtsvorstellungen unbekannt ist. Wiederum genügt ein Blick auf den kommunistischen Rätestaat: Dort wird die dritte, die sozialistischkommunistische Periode der Menschheit zu einem eindrucksvollen einheitlich ablaufenden Lehrstück, das zwar Akte kennen mag, nicht aber Diskontinuitäten, Spannungen, Tragödien. Diese Gleichheit in der Zeit - man könnte sie die vertikale Dimension der Egalität nennen - ist letztlich nicht weniger wichtig als die horizontale, die Herstellung gleicher Zustände überall und zu jedem gegebenen Zeitpunkt. Natürlich kann sie nicht Bewegungslosigkeit bedeuten, welche das politische System zerstören müßte. Doch es gibt in ihr nur eine Richtung der Bewegung: den Fortschritt von weniger Gleichheit zu mehr Egalität. Wenn die Zukunft schon der Vergangenheit nicht gleich sein kann, so muß sie doch, zumindest, in dieser angelegt sein. Die historische Dimension der Gleichheit bedeutet also eine Art von "potentieller Egalität" in der Zeit, die von der Herrschaft nur, immer mehr, entfaltet werden muß. Damit aber kann es keine Diskontinuität, keine Revolution gegen die Herrschaft geben, weil sonst diese historische Gleichheit, in der Zeit, nicht mehr möglich wäre. In diesem Sinne also wirkt jede Gleichheit irgendwie auch revolutionsfeindlich, die Revolution hat eben, endgültig, stattgefunden. Diese antirevolutionäre Beruhigung aber ist ein echtes Fundament der Herrschaft, der ganz großen Macht.

3. Die Gleichheit - Garantie kontinuierlicher Macht

73

Und eines darf nicht vergessen werden: Letztlich gibt es eine Einheit des Gleichheitsbegriffes, der vertikalen und der horizontalen Egalität, der gleichen Zustände in der Zeit und der gleichen Lage in allen Bereichen: Je mehr Egalität von einem Sektor zum anderen, von einem Berufsstand zum nächsten, hergestellt wird, desto leichter wird man sich auch an die Kontinuität, an die zeitliche Gleichheit gewöhnen; und umgekehrt: Je länger eine Ordnung gedauert hat, desto leichter wird es, sie, auch horizontal, auf immer neue Schichten, immer weitere Interessenlagen zu erstrecken. Nicht nur, weil die Ruhe und damit die Kräfte dafür vorhanden sind, sondern auch, weil ein allgemeines Gleichheitsund Angleichungsbewußtsein entsteht. In der Kontinuität der Herrschaft kommt es zu mehr Gleichheitsbereitschaft; mehr Egalität im sozialen Körper gewährleistet längere Dauer der Herrschaft. e) "Große Innovation" - zu noch mehr Gleichheit

Jene Kontinuität, welche in einer Gleichheitsordnung herrscht, muß jedoch die Macht nicht zu einer Untätigkeit verdammen, die sie auf die Dauer nutzlos werden ließe und aufheben müßte. In dieser Kontinuität, in dieser vertikalen Gleichheit in der Zeit, ist durchaus auch das Gegenteil angelegt: die ganz große Innovation, hin zu noch größerer Gleichheit. Derartige Basisbewegungen, nach Art etwa der chinesischen Kulturrevolution, brechen zwar jene Kontinuität in der Zeit, welche die Macht der Herrschenden immer bestärkt; und gerade im chinesischen Fall hat dies ja auch machtpolitisch nicht unbedenkliche Konsequenzen für die Herrschenden nach sich gezogen. Andererseits aber ist die kontinuierliche Gleichheitsordnung, in diesem einen Sinn wenigstens, innovationsträchtig: Die dauernde Gleichförmigkeit der Herrschaft kann nur zurücktreten vor einer großen, wirklich bedeutenden neuen Gleichheitsanstrengung. So führt die recht verstandene "Kontinuität aus Gleichheit" zur Notwendigkeit des "großen Sprunges", des großen Herrschaftsschlages. Es muß also keineswegs so kommen, daß Gleichheit zur Verkümmerung der Macht in immer gleicher Machtausübung führt. Aus dieser Gleichheitsruhe in der Zeit kann vielmehr gerade eine Spannung kommen, welche dann die wirklich bedeutende Innovation trägt, sie jedenfalls vor den Beherrschten legitimiert. Denn grundsätzlich-theoretisch kann eben der eine Gleichheitsaspekt (die Egalität in der Zeit) nur dann zurücktreten, wenn dies kompensiert wird durch eine ganz große neue Gleichheit, wenn also die Dimension der horizontalen Egalität so groß wird, daß sie die Abschwächung der vertikalen Egalität ausgleicht.

74

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

Dies ist kein abstrakt-theoretisches Schema, sondern eine häufig zu beobachtende Wirklichkeit: Eine lange aufrechterhaltene Ordnung bewirkt eine Art von staat5politisch€m Rückstau, der sich in größerer Innovation entladen muß; der Machtwechsel in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1969 ist dafür, wenigstens in gewissen Grenzen, ein Beispiel. Doch gerade hier zeigt sich eben die überlegenheit der Gleichheit5macht: Sie wird durch derartige Entwicklungen, die ja doch etwas Revolutionäres an sich haben, nicht etwa gebrochen oder abgelöst, sondern nur zu neuer, noch größerer Gleichheit weitergetragen. Anders ausgedrückt: Gegen eine Gleichheitsordnung gibt es nur die Revolution noch größerer Gleichheit; aus einer Ablösung von Macht, die auf Gleichheit gegründet ist, kann nur noch größere Egalitätsmacht kommen. Die Herrschaft, welche auf der Gleichheit der Bürger einmal errichtet wurde, ist also praktisch kaum mehr zu beseitigen, sie kann nur noch, kontinuierlich oder in großen Stößen, verstärkt werden. Dies bedeutet einerseits die notwendige Eindimensionalität der Entwicklung, hin auf immer mehr Gleichheitsherrschaft, zum anderen die Absage an die mittleren und größeren politischen Bewegungen, wie sie gerade der westlichfreiheitlichen liberalen Ordnung eigen sind; sie kann es in der Gleichheitsordnung nicht geben, wie das russische und das chinesische Beispiel eindrucksvoll zeigen: Dort kann entweder Kontinuität herrschen, oder die ganz große Bewegung; und zwar letztlich eben doch nicht zur Ungleichheit, sondern zu noch größerer, noch breiterer Gleichheit. Damit wird die Gleichheit nicht zur Innovationssperre, sondern zu "ganz großem" Innovationszwang. Die Gleichheit überlebt sich nicht notwendig in Kontinuität, sie pflanzt sich in größere neue Gleichheit hinauf.

4. Die geringe Revolutionsanfälligkeit der Gleichheitsherrschaft Die Revolutionsanfälligkeit einer Herrschaftsordnung ist ein entscheidendes Machtkriterium. Für die Gleichheitsordnung ist diese Problematik vielschichtig: -

Gleichheit selbst ist ein ganz wesentlich revolutionäres Prinzip, alle großen Umwälzungen der neueren Zeit gehen auf Gleichheitsideen zurück. Doch die einmal errichtete Gleichheitsordnung ist, insgesamt, weniger revolutionsanfällig als andere Regime, gelingt ihr doch, wie nachgewiesen, eine große Kontinuität der Herrschaft. Zwar kann es, gerade infolge solcher Kontinuität, zu einem besonderen Aufstau kommen, der sich dann in großen Innovationen ent-

4. Geringe Revolutionsanfälligkeit der Gleichheitsherrschaft

75

lädt; doch auch diese wieder verlaufen im Kanale der Gleichheit, sie führen nur hin zu größerer Gleichheit; dies war das Ergebnis des vorstehenden Kapitels. Insgesamt wird man also von einer verhältnismäßig geringen Revolutionsanfälligkeit der Gleichheitsregime ausgehen müssen, schon deshalb, weil hier die eigentlichen Ergebnisse der großen Revolutionen der Neuzeit bereits vorweggenommen erscheinen. Nur ein Gleichheitsregime kann auch erklären, die Revolution sei ein für allemal beendet, sie sei geschlossen, soz. klassisch. Nur die Herrschenden in der Gleichheitsordnung können ihre revolutionären Gegner als Konterrevolutionäre bezeichnen und auf diese Weise in die Ecke der Vergangenheit drängen; nur eine Egalitätsrevolution wie die mexikanische konnte das Ende aller Revolution proklamieren. Dem allem scheint nun allerdings eine bedeutsame historische Erfahrung zu widersprechen, die besondere Revolutionsgefahr der Gleichheitsordnungen zu begründen: Gewaltsame Umstürze finden ja in aller Regel nicht dort statt, wo die Unterschiede besonders groß sind, wie in dem Rußland der Leibeigenen oder im Frankreich Ludwigs XIV. Stets ist es vielmehr dann zum Ausbruch gekommen, wenn sich aufsteigende und absteigende Schichten nahezu berührten, wenn die Unterschiede sich fast bis zur Unmerklichkeit abschwächten. Dies ist der Ausgangspunkt des bekannten Phänomens der Wohlstandsrevolutionen gewesen, von der bürgerlichen Machtergreifung des Jahres 1789 bis zur außerparlamentarischen Opposition der Sechziger Jahre in Deutschland. Auf Gleichheit gegründete, Gleichheit erstrebende Ordnungen durchlaufen also mit einiger Sicherheit eine gefährliche Zone: die der Annäherung der unterschiedlichen Schichten der Bürger. Hier kann es in der Berührung in der Tat zum Kurzschluß kommen. Eben dies aber zwingt auch die Herrschenden in der Gleichheitsordnung zu einer unbedingten, eisernen Konsequenz: Je mehr Gleichheit geschaffen worden ist, desto mehr muß noch kommen; gerade wenn die Annäherung der bisher Ungleichen gelungen ist, muß sie unbedingt und rasch vollendet werden. In der Gleichheitsmacht liegt daher der innere Trieb zur Selbstperfektionierung, zur Zerstörung aller noch verbleibenden Unterschiedlichkeit. Damit aber bleibt sie dynamisch, immer auf dem Weg zu ihrem großen Ziel, um so entschiedener, je mehr sie sich demselben nähert. Die Französische und die Russische Revolution sind ausgebrochen nach jeweils einem Jahrhundert echter und tiefgreifender Liberalisierung, nach einem beispiellosen Abbau der Ungleichheiten in diesen beiden Ländern. Sie mußten erfolgen, weil die Herrschenden in einem bestimmten Augenblick glaubten, von der nunmehr erreichten Gleichheitssituation auf volle Freiheit soz. umschalten zu können, weil sie die wei-

76

II!. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

tere Egalisierung nicht mehr mit derselben Intensität verfolgten. Dies aber mußte sogleich den revolutionären Geist gebären: Die kupierte, die irgendwo angehaltene, in Freiheit sich-auflösen-sollende Gleichheit wurde aktiv bis zur Gewalt. Geschehen konnte dies letztlich nur, weil die vorhergehenden Ordnungen der Könige und der Zaren nicht egalisieren, sondern liberalisieren wollten. Deshalb sahen sie die große Dynamik der Gleichheit gar nicht, die sie hervorgebracht hatten - sie wurden von ihr überrollt. Ein bewußtes Gleichheitsregime aber, wie etwa das des sozialistischen Rätestaates, läuft ein derartiges Risiko nicht. Sein Gegner ist lediglich die Freiheit, sie wird ins Exil geschickt. Weil man aber auf Gleichheit aufbaut, aus Gleichheit heraus herrscht, besteht eine Egalitätssensibilität bei den Herrschenden: Sie erkennen, weil sie aus der Gleichheit leben, sogleich auch die neue Gleichheitsgefahr, welche sich aus der Angleichung bisher unterschiedlicher Schichten und Stände ergibt. Deshalb wird ihr Herrschaftsgrund zugleich stets rechtzeitig zum Warnsignal. Sie brauchen auch, wenn dieses aufleuchtet, ihre eigenen Herrschaftsprinzipien nicht etwa aufzugeben oder abzuändern; es genügt, wenn sie einen neuen Aufschwung zu stärkerer Gleichheit nehmen. Kein Herrschaftsprinzip aber kann wohl stärker sein als jenes, welches die Mächtigen vor ihrem eigenen Ende warnt und sie zwingt, konsequenter ihre eigenen Prinzipien anzuwenden, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Weil bereits viel Gleichheit, deshalb noch mehr Gleichheit: Dies ist nicht nur eine gute Regierungsmaxime, sondern ein ständiger Druck auf eine Klasse von Herrschenden, die nur auf diese Weise wirklich auf Dauer mächtig bleiben kann. 5. Gleichheitsmacht als Lawinengewalt

Eine staatliche Ordnung der Nivellierung der Bürger bringt nicht etwa eine Art von "auslaufender Gewalt", indem die Herrschenden immer weniger zu bewirken hätten. Diese Theorie vom Absterben des Staates in der völligen Gleichheit, in der Schlußphase des Kommunismus, ist nichts anderes als eine große Illusion, als eine Form von Opium für die Gleichen, denn gerade das Gegenteil trifft zu: Gleichheitsgewalt muß immer stärker, immer aktiver, immer lastender wirken. Dies mag hier nur mit einigen Bemerkungen verdeutlicht werden:

a) Die Machtlawine- Vom Gleichheitsziel zur Herrschaftsbefugnis Die Gleichheitsordnung bringt die Herrschenden in einen Zugzwang, welcher jeder anderen Ordnung unbekannt ist, einen Konsequenzzwang, der ihre Befehle und Sozialgestaltungen lawinenförmig anwachsen läßt.

5. Gleichheitsmacht als Lawinengewalt

77

Wo immer die Staatsgewalt in der Gleichheitsordnung etwas beginnt - sogleich wird sie es nach den Grundsätzen ihres Organisationsprinzips, in allen anderen Räumen auch durchsetzen. Dies führt dann etwa zu folgendem: -

-

Wird eine sozial bedeutsame Lösung für eine Kategorie von Bürgern staatlich verordnet und durchgesetzt, so kann es nicht lange dauern, bis alle anderen Kategorien in diese Ordnung eingebunden sind. Das beste Beispiel ist, in Deutschland und anderswo, die kategorienweise Einbeziehung der Bürger in die Zwangs-Sozialversicherung. Hier werden nicht nur ähnliche Sicherungslagen für alle Versicherten, ausgehend von ihrem letzten Einkommen, hergestellt: Es findet sogar innerhalb des Systems noch eine mächtige Nivellierung statt, indem die Leistungsfähigeren für die Schwächeren bezahlen. Damit wirkt also der Konsequenzzwang der Gleichheit nicht nur egalitätsausdehnend, sondern zugleich egalitätsintensivierend. In der Gleichheitsordnung sollen gewisse Egalitätsformen hergestellt werden, für jedermann. Dies führt dann zu einer staatlichen Aktivitätsverstärkung noch in einem anderen Sinne: Es werden zur Erreichung eines vorgegebenen Gleichheitsziels immer neue Aktivitäten entfaltet. Man denke an die sog. Chancengleichheit: Ist einmal dieses globale Ziel gesteckt, so legitimiert es den Einsatz ganz verschiedener, sehr vieler Mittel zu seiner Erreichung. Da muß die Steuergewalt bemüht werden, die Schulgewalt, die familiären Bindungen müssen abgeschwächt und es muß mit Subventionen gearbeitet werden.

Hier zeigt sich also, rechtsdogmatisch betrachtet, daß die Lawinenwirkung der Gleichheitsgewalt vor allem über zwei Wege zum Tragen kommt: Einerseits werden kraft des Gleichheitsdogmas möglichst alle bereits eingesetzten Mittel verstärkt, auf andere Adressaten und Bereiche erstreckt; man könnte von einem Gleichheitsschluß von Befugnis zu Befugnis sprechen. Auf der anderen Seite jedoch, und dies ist noch weit gefährlicher, ermöglicht die Gleichheit einen Schritt, der in der Rechtsstaatlichkeit besonders bedenklich, letztlich aus dem Freiheitsbegriff heraus verboten ist: den Schluß von der Zulässigkeit des Zieles auf die Notwendigkeit der Mittel. Mit einem einzigen Gleichheitsziel, das geschickt gewählt ist, kann eine Fülle neuer Herrschaftsinstrumente geschaffen werden, welche alle aus dem Ziel heraus legitim erscheinen - und, dies ist noch wirksamer, ihrerseits wieder in der Progression "von Mittel zu Mittel" weiter wuchern. Denn darin liegt die eigentliche Lawinenwirkung: in der Kombination der beiden Ausuferungen; "von Mittel zu Mittel" und "von Aufgabe auf

78

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

Mittel" wird geschlossen und ständig kombiniert weiterverfahren. Aus den Aufgaben werden die Mittel hervorgezaubert, diese dann verbreiternd überall eingesetzt. Die Machtlawine rollt also nicht nur in eine Richtung, sie verbreitert sich mit jedem Fortschritt, in alle möglichen neuen Bereiche. b) Machteinsatzzwang zu "voller Gleichheit"

Die Gleichheitsgewaltigen besitzen nicht nur diese Möglichkeiten der Machtverstärkung, die Legitimation zu ihr; sie werden zu ihrem Einsatz aus der inneren Konsequenz ihres Prinzips heraus geradezu gezwungen. Wenn der Staat, in welcher Form immer, irgendwo mit Herrschaft einsetzt, so wird er nicht nur, er muß dies mit Notwendigkeit egalisierend fortsetzen, bis in die kleinsten Verästelungen des sozialen Körpers hinein. Andernfalls hat er nichts geschaffen als ein gleichheitswidriges, besonders verwerfliches, antiquiertes Privileg. Dieser "glückliche Zwang" nötigt die Herrschaftsgewaltigen zu Folgerungen, welche sie immer noch stärker machen. Mit einer gewichtslosen, kaum sichtbaren Schneeflocke kann es beginnen - mit der Freistellung irgendwelcher Bürger von bestimmten Abgaben - und sogleich schwillt es an, aus unerwarteten Protesten oder in selbstberechneter Konsequenz, zur Notwendigkeit, das gesamte System egalisierend fortzuentwickeln. Die Staatsgewalt braucht also stets nur einen Anfang zu setzen, der an sich unbedeutend sein, ja sogar Experimentcharakter tragen kann. Sogleich beginnt dann die Gleichheitsosmose: Wird einer Beamtenkategorie eine Vergünstigung gewährt, so kommen andere Laufbahnen mit gleichen Forderungen. Wird Teilzeitbeschäftigung der Mutter ermöglicht, welche unmündige Kinder zu versorgen hat, so kann es nicht lange dauern, bis zunächst im Namen der Gleichheit den Vätern, sodann aus irgendwelchen plausiblen Gründen immer weiteren Beamtenkategorien diese Möglichkeit eröffnet wird. Die Staatsgewalt muß deshalb auch nicht mit großflächigen Bombenteppichen von Befehlen einsetzen, sie kann sich auf die Anstoßgewalt, auf die "Initiative im weiten Sinn" zurückziehen, welche den ersten Tatbestand setzt, dem sich dann viele, alle anderen anzugleichen haben. Es bedarf daher nicht so sehr der Herrschaftsgewalt im Sinne einer brutalen Durchsetzung, als vielmehr einer Art von Herrschaftsphantasie, welche irgendwo in der Landschaft einen neuen Wasserturm errichtet, ein scheinbares Privileg, an dem sich dann aber alle anderen emporranken, in dem Sinne, der der Staatsführung vorschwebt. Die Gleichheit wirkt also ganz anders als die wuchtig einsetzenden großen

5. Gleichheitsmacht als Lawinengewalt Freiheitsanstrengungen zum Kreißen.

79

bei ihr bringt, umgekehrt, eine Maus Berge

c) Herrschaftsmultiplikation Die vielen Gleichen als Machthelfer

Das Wichtigste aber an dieser Lawinenwirkung ist, daß sie mit einer gewissen Automatik abläuft. Der Befehl muß gar nicht generalisiert, die Sozialgestaltung gar nicht bis in die letzte Hütte vom Staate erzwungen werden; er setzt hiE'T ein Heer von freiwilligen Helfern ein, die Betroffenen, all die Zahllosen, welche im Namen der Gleichheit dasselbe zu erreichen suchen. Gibt er einer kleinen Gruppe eine Vergünstigung im Baurecht, so werden alle anderen Eigentümer sehr bald, durch ihre Verbände oder durch individuelle Klagen, im Namen der Gleichheit die Ausdehnung dieser Gestaltung auf sich selbst verlangen und durchsetzen. Es muß nicht einmal immer der Gesetzgeber bemüht werden, die Verwaltung mit ihrem gleichheitsmäßig gleichgeschalteten Ermessen und die Gerichtsbarkeit, welche jedem Bürger das Gleiche zubilligen will, sind soz. die Folgetäter eines kleinen Anstoßes der Gesetzgebung. Die Staatsgewalt kann sich daher, im Namen der Gleichheit, immer mehr auf die "hohe Politik" zurückziehen, welche im Gleichheitsstaat die Politik der Anstöße ist; die lastende, molestierende Durchsetzung, um derentwillen ja die Exekutive stets die irgendwie verhaßte Gewalt war - dies alles kann der Gleichheitsstaat weithin seinen gleichheitslüsternen Bürgern überlassen. Es kommt nicht nur zu einer Selbstdurchsetzung seitens der Betroffenen, sondern dahinter steht auch die überzeugung, daß dies rechtens, daß es notwendig sei, diese Lösungen auf "alle" zu erstrecken. Auf diese Weise entsteht das für die Herrschenden Beste, für die Beherrschten Gefährlichste: die automatischeMacht, die selbständige Herrschaftsfortpflanzung, die Kettenreaktion der Gewalt im Namen der Gleichheit. Soviel könnte der politische menschliche Wille einzelner gar nicht erreichen, wie die große Zahl der Gleichheitssuchenden im Namen eines geglückten Anstoßes selbst verwirklicht - oder durch Forderungen gegenüber den Staatsorganen erzwingt. Viel einfacher und weit weniger odios ist da doch jene Herrschaftsphantasie, die mit Intelligenz arbeitet, nicht mit Polizeiknüppeln: Sie stellt eine neue Lösung in den Raum, eine neue Versicherungsform, einen neuen Kündigungsschutz, eine neue Ausbildungsrichtung - und sie überläßt es der Selbsttätigkeit der zahllosen bereits weithin Gleichen, durch egalitäre Inanspruchnahme dieser Möglichkeiten noch gleicher zu werden. Ist dies alles nicht wahrhaft "soziale Selbstgestaltung der Bürger"? Indem nämlich diese gleicher werden wollen, leihen sie ihre kleinen Mächtigkeiten den Herrschenden zur Durchsetzung des von diesen Angestoßenen, und damit werden nicht nur die Lösungen breiter,

80

IH. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

die Kraft, welche hinter ihnen steht, schwillt ins Unermeßliche an, wird unwiderstehlich, weil sie von wahrem Sozialzwang, nicht nur von der sozialen Überzeugung, getragen ist. Auf diesen Wegen hat sich unser Steuersystem leise, aber sicher zu immer größerer Nivellierung fortentwickelt; welche Bedeutung dabei das meist nur am Rande erwähnte Abgabenerfindungsrecht hat, bedarf hier keiner Vertiefung; es ist nichts als der herkömmliche Ausdruck für Herrschaftsphantasie in dem wichtigsten Bereich der Staatsgewalt. Wer Steuerfindung sagt, meint in Wahrheit eine Anstoßgewalt für Kettenreaktionen von wahrhaft atomarer Brisanz, für Explosionen, nach denen nurmehr eine Ebene übrigbleibt. d) Hochschaukeln der Macht -

Zwang zur Globalreform

Diese lawinenhaft anschwellenden Bewegungen führen nicht nur zu einer Verbreiterung der Machtausübung, in der Gleichheit kommt es zu einem eigenartigen Hochschaukeln der Macht, zum Zwang zur Globalreform. Was aus kleinen Ansätzen heraus, aus Sonderbestimmungen einzelner Gesetze, bereits durch die Gleichheitsosmose weitere Verbreitung gefunden hat, das kann nun leicht mit anderen Bereichen verglichen werden, in denen derartiges noch nicht "erreicht" zu sein scheint. Der vergleichenden Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Hier können Fabrikarbeiter mit Landwirten, Wohnhäuser mit Kirchen, Südfrüchte mit Industrieprodukten unschwer verglichen werden. Gebiete, die tausend Meilen voneinander entfernt sind, werden über den großen Globalbegriff der "gleichen Lebensverhältnisse" vergleichbar. Weil nun überall Gleiches hergestellt werden muß, wird die Staatsgewalt in immer größere Anstöße soz. von selbst gedrängt, mächtigere Schläge der Sozialgestaltung erscheinen nicht als revolutionäre Systemveränderungen, sondern als Systemangleichung - oder Ausgleichung, im Namen eben der Egalität. Von einer bereits großen Lösung zur immer noch größeren schaukelt sich so die Staatsgewalt hoch im Namen der Gleichheit der Bürger; wenn auf einer Reihe von Bereichen reformiert worden ist, etwa im Abgabensektor, dann muß eben mit Notwendigkeit im Namen der Gleichheit der ganz große Schlag kommen, die größere Steuerreform. Die vielen kleinen Aktivitätszwänge, in die die Herrschenden des Gleichheitsstaates manchmal durchaus ungewollt geraten, in die sie sich aber meist nur zu gerne begeben - sie summieren, besser: potenzieren sich zur großen Aktivität einer Reformpolitik, wie sie Deutschland nach dem Machtwechsel von 1969 in Versuchen erlebt hat. Viele befürchteten hier

5. Gleichheitsmacht als Lawinengewalt

81

düstere heimliche Sysstemveränderung; in erster Linie wirkte darin, mit offener und notwendiger politischer Konsequenz, ein neues Gleichheitsdenken, eskalierend bis hin zur Forderung nach den großen, gesellschaftsverändernden Schlägen. Denn der ganz große Gleichheitsschlag wird am leichtesten akzeptiert. So wirkt denn in der Gleichheit eine Art von eigentümlicher Basisbewegung, aus kleinen und kleinsten Anlässen bis zum großen Schlag der Globalreform fortschreitend. Und im A der Gleichheit ist dieses 0 beschlossen.

e) Systematisierungszwang der Herrschaft Verfassungssystem der Gleichheit Machtverstärkung durch Systematisierungszwang ist eine weitere Folge der Gleichheit. Hier darf es keine Zufälle geben, nichts, was auf Dauer Experiment bliebe. Was immer der Staat anstößt, was sich dann über die Betroffenen, die Verwaltung, die Gerichte in Gleichheit fortsetzt - es muß systematisch und zu Ende gedacht werden. Wenn etwa den Arbeitnehmern und den Beamten, zwei doch sogar von Verfassungs wegen zu unterscheidenden Beschäftigungskategorien, insgesamt gleiche oder vergleichbare, funktionsbezogene, aktive Dienstbezüge zuerkannt werden, so muß sich dies, früher oder später, mit systematischer Notwendigkeit in einer angeglichenen Altersversorgung fortsetzen; sodann muß die Krankheitsfürsorge angeglichen werden, und es würde als unerträglich empfunden, wenn etwa Unterschiede bei Umzügen oder Reisekosten blieben. Das Entscheidende aber an einem solchen Osmosevorgang ist, daß er nicht etwa mit zufälliger Langsamkeit abläuft, sondern im Namen einer systematischen, alle Rechtsbeziehungen erfassenden Kategorie: Aus den ersten Angleichungen wird darauf geschlossen, daß es ein Rechtsprinzip gebe, nach dem Beamte und Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst gleichzubehandeln seien. Aus diesem wird dann auf die systematische Notwendigkeit, nicht nur auf die Zweckmäßigkeit, laufender weiterer Nivellierung der unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnisse geschlossen. Von dieser gleichgeschalteten Kategorie der "Beschäftigten im öffentlichen Dienst" wird dann weiter angleichend fortgeschritten zur Egalisierung sämtlicher Beschäftigtenverhältnisse. Es wird das Prinzip aufgestellt, daß im öffentlichen Dienst grundsätzlich das Gleiche verdient werden müsse wie in der privaten Wirtschaft, obwohl doch die Verhältnisse, herkömmlich und gegenwärtig, völlig unterschiedlich sind und es nirgends einen solchen Grundsatz von Rechts wegen gibt; dieser wird jedoch im Namen der Gleichheit postuliert und sogleich auch im Gleich6 Leisner

82

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

heitssatz der Verfassung verankert. Daraus ergibt sich dann ein ganz großes, nationales System egalisierter Arbeitsverhältnisse. Ist dies einmal geschaffen, so setzt sich die Bewegung in einer "inneren Egalisierung" fort: Es ist dann ja "nicht einzusehen, warum" die verschiedenen Beschäftigungskategorien, die unterschiedlichen Laufbahnen, Rechte auf mehr oder weniger Urlaubstage erhalten sollten. Es folgt wiederum die Angleichung der Krankheitsvorsorge, des Kindergelds, der Reisekosten usw., bis eine quasi-totale Nivellierung sämtlicher Bezüge erreicht ist, welche noch durch das Steuersystem verstärkt wird. Das Entscheidende ist immer eines: Der Vorgang läuft mit einer systematischen Notwendigkeit, und, vor allem, unter Einsatz systematischer Kategorien ab. Er beginnt mit einer Art von Induktion, soz. von unten nach oben; von kleineren Beschäftigtenkategorien, wo die Innovation nicht allzu sehr auffällt, schreitet man zu größeren, aufwendigeren, fort. Doch wenn eine gewisse Nivellierungsbreite erreicht ist, so schlägt diese Induktion sogleich in Deduktion um: Es wird dann die meist durch gar nichts begründete Behauptung aufgestellt, dies alles sei im Namen eines höheren Egalisierungsprinzips erfolgt, das seinerseits wieder systematisch aus der Verfassung abgeleitet wird. Und nachdem die Verfassungen ja jenen allerallgemeinsten Gleichheitssatz regelmäßig enthalten, gelingt es unschwer, jede Nivellierungstendenz sogleich in der Verfassung nicht nur aufzuhängen, sondern sogar als ein Verfassungspostulat zu begreüen. Jede Angleichung, die so ganz wesentlich politische, kontingente Entscheidung ist oder doch sein sollte, wird auf diese Weise sogleich zur Erfüllung eines prinzipiellen Verfassungsauftrages hochstilisiert. Sie wird eingebettet in ein größeres Verfassungssystem, gegen dessen Einzelausprägungen es dann kein gültiges Argument mehr geben kann. So erweist sich denn auch die Verfassung nicht als ein Hemmschuh, sondern als ein mächtiger Motor der Egalisierung. Dies alles bewirkt eine gewaltige, geradezu unabsehbare Machtverstärkung, vor allem in Deutschland: Hier ist ja das systematische Denken, die Freude am systematischen Zusammenbau verschiedener Lösungen, wohl allgemein-geistig stärker noch entwickelt als in den meisten anderen Ländern. Was also im Namen des Systems geschieht, hat sogleich die Weihe des Notwendigen, des Legitimen, an sich. Die Systematisierung der Verfassung, die aus der Freiheit heraus, wie andernorts bereits dargelegt, nicht gelungen ist und nie gelingen kann - im Namen der Gleichheit ist sie täglich wirksam. Die oberste Normenordnung, die der Verfassung, die einzige, die an sich eine Schranke gegen die Herrschaft der Mächtigen bilden könnte, gerade sie wird auf diese

5. Gleichheitsmacht als Lawinengewalt

83

Weise zur stärksten Legitimation großer Sozialgestaltung im Namen der Egalität. Doch darin erschöpft sich die Systematisierungswirkung der Gleichheit nicht: Sie trägt weiter zu einem eigenartigen erzieherischen Effekt, zu einem wahren "Zwang der Herrschenden zur systematischen Macht". Es mag immer Augenblicke geben, in denen gerade die sicher und kontinuierlich herrschende Schicht, gewisse Parteien oder mächtige Verbände, in dieser selben Machtausübung befriedigt und damit müde werden. Die Gleichheit ist hier das ewig Lebendige, der dauernde, ebenfalls kontinuierliche Zwang zur Machtausübung. Denn die Basis, die Betroffenen verlangen ja die ständige Aktivität in neuen Angleichungen, und täglich brechen erneute Ungleichheiten auf oder werden doch bewußt. Der Befehl ist nicht nur das Beste, die Befehlslosigkeit ist das Schlechteste. Dieser Zwang aber führt auch nicht zu "irgendeiner Politik", zu einigen isolierten Anordnungen, sondern eben zur systematischen Machtausübung, zur systematischen, d. h. aber letztlich: zur großen Politik. Diese besteht darin, daß letztlich alle Gegner nicht geschlagen, sondern aufgelöst werden müssen, weil sie sich ja sonst notwendig immer wieder gegen die in vollem Gleichmaß durchgesetzte Lösung wenden werden. In diesem Sinn bedeutet die Gleichheit für die Herrschenden einer solchen Ordnung eine Art von Zwang zum Endsieg. Gegner gibt es nicht mehr, auf halbem Weg bleibt nichts stehen, das System will laufend perfektioniert sein, oder es geht die Macht überhaupt verloren. Wollen die Herrschenden zur Machtausübung in Ungleichheit übergehen, neue Privilegiengruppen schaffen und gegeneinander ausspielen, so werden sie durch den systematischen Zwang ihres eigenen Ausgangspunktes sogleich wieder auf den "rechten Weg" der Machtausübung zurückgeführt, auf den geraden Weg der Gleichheit. Die Korrektur von "Fehlentwicklungen" in sozialistisch-kommunistischen Ländern ist dafür ein Beweis. Das Gleichheitssystem wirkt daher, über den Systematisierungszwang, als eine laufende Selbstkorrektur der Macht. Ihre jeweilige Effizienz läßt sich geradezu ablesen am Zustand der erreichten Egalität. Aus diesem Grunde können die vollen Gleichheitsordnungen auch mit einer gewissen überzeugungskraft behaupten, sie bedürften gar keiner Kontrolle von außen, da sie sich selbst, jeweils nach dem Grad der erreichten Gleichheit, kontrollierten. Nur allerdings bleibt eines zu berücksichtigen: All diese Machtkontrolle von innen bewirkt nicht etwa eine Abschwächung der Macht, wie sie der Liberalismus im Namen der Kontrolle wünscht, sondern eine Machtverstärkung. Selbstkontrollierte 6·

84

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

Herrschaft ist eben bewußtgewordene Macht, damit aber immer noch stärkere Gewalt. Daß all dies in einem Kapitel über die Gleichheitsmacht als Lawinengewalt stehen muß, bedarf keiner weiteren Ausführungen, blickt man auf den sozialistischen Rätestaat.

f) Gleichheit-die "ungewollte Macht" -Herrschaftsautomatik Die Gleichheitsmacht als "ungewollte", soz. gewichtslose Gewalt ist ein letztes, wichtiges Merkmal der egalitären Machtlawine. Das eigentlich Odiose an der Macht ist, daß sie nicht nur lastet, sondern als Belastung gewollt ist, daß hier ein menschlicher Wille andere sich unterwirft. Ein Machtschicksal würde hingenommen, der Machtwille reizt zum Widerstand, gegen ihn allein wendet sich letztlich das Freiheitsstreben der Bürger. Die Gleichheit macht eine Herrschaft, die auf sie gegründet ist, dadurch unwiderstehlich, daß sie den Anschein der nicht gewollten Macht erweckt, die sich automatisch weiterentwickelt. Die Herrschenden selbst dienen ihr, so scheint es wenigstens, weil sie ja nichts anderes bewirken, als immer neue Egalität, und sich damit soz. selbst in diese Gleichheit einordnen. Und wenn sie ein wenig gleicher sind als andere, sich über diese erheben und eben dann doch - herrschen, so wird dies hingenommen, weil sie als hochbezahlte Instrumente eines komplizierten, im wesentlichen selbsttätigen Mechanismus toleriert werden. Sie vollziehen ja immer irgendwelche logischen Notwendigkeiten, wenn sie weitere Bevölkerungsgruppen gleichschalten, hinter ihnen steht immer die Schwerkraft einer geheimnisvollen Mehrheit, welche an eine Minderheit von Privilegierten angeglichen zu werden wünscht. Wie groß dann in Wahrheit die Zahl der jeweils "ungleich, ungerecht Behandelten" war, wie lastend die Ungleichheit im einzelnen wirklich gewogen hatdies alles spielt keine Rolle, weil das System sich eben von selbst perfektioniert hat, nicht über den Willen eines Diktators. Stat pro ratione voluntas - daß der Herrschaftswille den vernünftigen Grund eines Befehles ersetze, dies ist das Wesen jeder Herrschaft, aber auch ihre Schwäche, weil hier das Aufreizende, Odiose des Herrschaftshochmuts erscheint. Der Machtwille kann zwar an die Stelle der Vernunft treten, sie aber im letzten doch nicht ersetzen, weil das Irrationale, gerade in der neu esten Zeit, von niemandem an der Stelle des rationalen Kalküls akzeptiert wird. Eine derartig irrationale Willensmacht muß sich also stets aus sich selbst heraus legitimieren, was letztlich nur wieder durch eine römische Herrschaftsmaxime geschehen kann - durch die Furcht, oderint dum metuant. Diesem ganzen Kreislauf, der fast

5. Gleichheitsmacht als Lawinengewalt

85

notwendig im Widerstand endet, ist die Gleichheitsordnung enthoben: Sie kennt den "reinen Willen der Macht" gar nicht, die Macht als den reinen Willen. Hier läuft eben etwas Willenloses selbsttätig ab, die Herrschenden sind nur seine unmaßgeblichen, selbstgewichtslosen Helfer. Dies ist eine neue Version des Begriffs der technokratischen Herrschaft: Die Herrschenden schlüpfen in eine heute sehr allgemein akzeptierte Rolle, die des Machttechnikers, der nur überwacht, was an sich von selbst kommt, von selbst kommen muß. Deshalb ist es auch in der egalitären Demokratie schlechter Stil, wenn die Führung einen eigenen Willen durchsetzen will oder auch nur zum Ausdruck bringt - sie läßt sich soz. tragen durch die Notwendigkeit einer Entwicklung, die eben aus der breiten Basis kommt und von ihr nur aufgenommen wird. Am höchsten ist dies vervollkommnet in der marxistischen Ideologie, in welcher Herrschaft deshalb gewichtslos wird, weil sie nur den notwendigen Vollzug wissenschaftlich zu berechnender Entwicklungen bedeutet. In diesem Sinn, daß nämlich eine gewichtslose Herrschaft Basisbewegungen lediglich aufnimmt, mag sich dann eine solche Gewalt auch demokratisch nennen. Zu Unrecht also macht man den Herrschenden der Gleichheitsordnung den Vorwurf, sie "führten" nicht. Die Kategorie Führung als solche ist hier, auf Dauer wenigstens, überholt, die Herrschenden begleiten lediglich die Gewaltunterworfenen in eine immer stärker nivellierte Zukunft. In diesem Sinne ist sozialistisch-kommunistische Führung eigentlich ein Widerspruch in sich, und in der sozialistischen Machttheorie ist dies auch klar erkannt worden. Niemand herrscht, es gibt nur Ordnungsabläufe - der Widerstand ist sinnlos, die Freiheit ist in Gleichheit aufgelöst. Und, eben in dieser Gewichtslosigkeit, paradoxerweise unerhört verstärkt. Da sie nicht für einen menschlichen Gegenwillen zu fassen ist, bleibt sie letztlich unzerstörbar. Die Gleichheit als Tarnhelm der Macht, als gewichtsloses Herrschen, damit gewinnt die Gleichheitstheorie einen eigentümlichen Anschluß an die klassischen Lehren von der Gewaltenteilung. Montesquieu lehrt ja, daß die Dritte Gewalt, die der Richter, nicht ein eigentlicher Pouvoir, sondern "gewissermaßen gewichtslos", en quelque fac;on nulle sei. In dieser Gewichtslosigkeit wirkt die gesamte Gleichheitsordnung, nicht nur ihre Dritte Gewalt, darin hat sie etwas Richterliches, etwas Schiedsrichterliches, und eben etwas besonders überzeugendes. Widerstand gegen Richter ist selten, weil sie nicht mit eigenem Willen belasten, sondern im Namen der Gerechtigkeit zuteilen. Und nichts anderes geschieht in der riesigen Gleichheitsgewalt. Ihre Lawinenmacht verstärkt

86

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

sich ins Unermeßliche, weil sie unfaßbar bleibt, nichts anderes ist als der Ausdruck richterlicher Gerechtigkeit.

6. Gleichheit - Zwang zur strategischen Macht Es besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen taktischer und stra'tegischer Machtausübung, zwischen kurzfristigem und langfristigem Machtdenken. Die eigentliche, große, die endgültige Macht kann nur in größeren Räumen denken, nur dann unangefochten auf Dauer bleiben. Ein Regierungsprinzip allein gewährleistet dies heute: die Gleichheit.

a) Egalität - Macht der "kleinen Schritte" Der Nivellierungsmechanismus braucht Zeit, um sich allgemein und endgültig durchsetzen zu können. überhastete Egalisierungen mußten immer wieder zurückgenommen werden; die Bürgergleichheit der Französischen Revolution hat sich erst ein Jahrhundert später einigermaßen durchsetzen können. Der Gleichheit sind die kleinen Schritte ganz wesentlich, schon damit sie unbemerkt bleibe, wie noch darzulegen sein wird. Aber auch unabhängig davon kann sie sich nur in ganz langen Zeiträumen befestigen, sie muß wirklich geplant sein, denn sie kommt aus dem System und will zu größerem, stärkerem System werden. Für diese Gleichheit als "Politik der kleinen Schritte", als "Homöopathie der Macht", gibt es, gerade heute, unzählige Beweise in der politischen Praxis. Ob es die Sozialbindung des Eigentums, vor allem des größeren und mächtigeren ist, oder die eines privaten Arbeitgebers, der immer mehr dem Dienstherrn der Beamten, nach seinen Verpflichtungen, angenähert wird - alles erfolgt in kleinen Schritten, von Urlaubstag zu Urlaubstag, von Beitragsprozent zu Beitragsprozent. Und daß das eigentliche Ziel, der angestrebte Endzustand, etwa die Totalität einer sozialen Sicherung des Arbeitnehmers, gar nicht fixiert wird, daß darüber nicht einmal gesprochen werden kann - gerade dies ist die größte Macht der Planung, eine Strategie auf ein Ziel hin, das den Geführten und Beschränkten unbekannt bleibt. Es gibt heute keine größere soziale Klage als die über die vielen kleinen Schritte der Freiheitsbeschränkung. Bei näherem Zusehen zeigt sich, daß sie alle in einem Namen erfolgen: in dem der größeren Gleichheit, der Nivellierung. Deshalb aber bleibt a11 dieses Klagen sinnlos, weil hinter dieser Gleichheitsbewegung eine große Strategie steht, weil ein derartiges strategisches Denken in den Gehirnen der Gleichheitsherrscher von der Idee selbst erzwungen würde, auch wenn sie dazu nicht bereit wären. Ein derartiges unbewußtes politisches Generalstabsdenken, in

6. Gleichheit -

Zwang zur strategischen Macht

87

dem geradezu eine Art von objektivem Geist zu wirken scheint, mag durch kleine Auflehnungen beschränkter Freiheiten vielleicht durchkreuzt, es kann nie gebrochen, von seinem letzten Ziel der Nivellierung abgelenkt werden. Denn wer wollte schon die große Gleichheitsstrategie durch die kleinen Züge der Freiheitstaktik wirksam bekämpfen! Die Freiheitsforderungen haben stets etwas aufgeregt-Atemloses, die Gleichheit kann immer warten, ihr bleibt der kleine, aber sichere Terraingewinn. Und wieder liegt die größte Machtverstärkung der Gleichheit darin, daß sie die in ihrem Namen Herrschenden zu solcher Vernunft zwingt, wollen sie sich nicht sogleich selbst aufgeben. b) "Liberale" Gleichheitstaktik "ein wenig Ungleichheit belassen"

Die Stärke des strategischen Denkens der Gleichheitsmacht wird gerade in einem Punkte offenbar: in dem, was man sogar den "Liberalismus der Gleichheit" nennen könnte. An sich hat die Gleichheit, das wurde hier ja schon häufig festgestellt, nicht das geringste Liberale an sich, will sie doch eine ganz feste Ordnung zementieren, ohne Rücksicht auf Freiheitsräume des Einzelnen, ja in der Negation einer Freiheit, die eben mit der Gleichheit wesentlich unvereinbar ist. Doch auch diese Gleichheitsstrategie hat ihre eigene Taktik, und dieses ist nun - wieder paradoxerweise, aber sehr wirksam - eine liberale Taktik zu einem großen strategischen GleichheitsfernzieL Auf dem Weg in die volle Nivellierung hat die Gleichheitsidee niemals Eile, sie kann in längeren Perioden, auf eine scheinbare Dauer, sogar freiheitsbewahrend wirken. Es muß nicht alle Freiheit sogleich in Nivellierung gleichgeschaltet werden, gewisse Privilegien können auch in der Ordnung einer hochentwickelten Gleichheit durchaus noch toleriert werden. So hat es der schwedische Sozialismus hingenommen, daß eine gewisse Schicht von Industriellen und Geschäftsleuten durch großzügigste Abschreibungsregelungen dem einfachen Gleichheitsbürger ein privilegiertes Leben in Hotels und Restaurants der Luxusklassen vorspielen konnte - zur größeren Ehre einer Wirtschaft, welche eben florieren muß; und dies alles in einem ganz bewußt auf Gleichheit gegründeten Staat. Dies läßt sich, aus der Strategie der Egalität heraus, zumindest in doppelter Weise rechtfertigen: -

Einerseits hat die große Gleichheit eben einen langen Atem, für sie bedeutet es wenig, wenn sie einige odiose Privilegien zeitweise er-

88

II!. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera trägt; sie kann sich hier ja stets auf die internationalen Usancen berufen, die man, gerade in einem kleineren Land, hinnehmen, nicht von sich aus durch Gleichheitsrevolution brechen könne; und der internationale Geschäftsmann erwartet eben eine reiche Bewirtung.

-

Doch der Gleichheitsideologe findet in einem solchen Abwartenmüssen noch eine gewisse Befriedigung - in einer Doppelstrategie: Gerade indem er nämlich Ungleichheiten, Privilegien bewußt toleriert, erhält, ja schafft, entstehen die kritikablen, odiosen Beispiele dessen, was er übermorgen, nicht morgen bereits, durch neue Freiheitsstöße bekämpfen muß: die unberechtigte Ungleichheit. Die Gleichheitsstrategie verlangt eben, daß es immer noch den unberechtigt Reicheren gebe, in dessen Namen, gegen den dann neue Nivellierungen durchgesetzt werden können.

Dies also ist die liberale Taktik der Gleichheit, mit welcher den atemlosen taktischen Angriffen der Freiheit ohne weiteres entgegengekommen werden kann. Strategie bedeutet ja, daß der taktische Angriff ohne Gefahr für die große Marschlinie abgefangen werden kann. c) Zwang zum "großen" politischen Denken

Dieses strategische Denken in Gleichheitskategorien hat einen mächtigen erzieherischen, geradezu moralisierenden Effekt auf die Führungselite dieses Staates. Sie muß in größeren Kategorien denken, sie bekommt in dieser Strategie "weitere Augen". Die tagtägliche, politisch ja oft notwendige Niederlage kann sie hinnehmen, mit Blick auf den unsichtbaren, aber höchst real gedachten Endzustand. Aus diesen politischen Niederlagen, aus den Rückschlägen der Gleichheitsbewegung, welche ihr immer wieder das sich stets neu formierende " Kapital " zufügt, kommt dieser Elite nur eines: die immer stärkere überzeugung von der Notwendigkeit des pausenlosen Kampfes um die Gleichheit. Entmutigung ist daher solchen Regierenden weit weniger bekannt als jenen Bürgerlichen, welche kurzfristige Freiheitsgewinne erstreben, Ungleichheiten, in denen doch schon ihre Niederlage von übermorgen angelegt ist. Die Gleichheitselite, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, wird durch solche Rückschläge nicht auseinandergetrieben, sondern nur fester zusammengeschweißt; nicht nur, weil sie sich im Besitze einer politischen Wahrheit glaubt, sondern weil das notwendig strategische Denken in Gleichheitskategorien am Tage der taktischen Niederlage bereits den strategischen Endsieg erneut plant. Die Auswirkungen auf die elitäre Struktur unter den Herrschenden des Gleichheitsstaates sind kaum zu überschätzen: Sie bilden wirklich einen Block, einen Orden, aus dem es Ausschluß, nicht aber Austritt gibt. Nach dem Zusammenbruch der feudalistischen Ordnungen setzt sich

7. Die unmerkliche Gleichheitsgewalt

89

deren "geschlossene Herrschaftsgesellschaft" fort, eben unter dem Druck der Gleichheitsstrategie. Hier können auch Fehler hingenommen werden; der einzelne glücklose General tritt ins zweite Glied zurück, die deutsche Entwicklung der letzten zehn Jahre gibt überzeugende Beispiele. Der große Gleichheitsmarsch aber wird an allen Fronten, bemerkt oder unbemerkt, fortgesetzt. Moltkes Generalstabsdenken war für Generationen die höchste Steigerung des Herrschens - in einem rechnenden, schweigenden Denken auf vielen Ebenen. Eben dies ist die Gleichheitsstrategie, und hier bleibt meist sogar noch der Stratege unbekannt; die schwere Artillerie des Systems schießt sich, auf Dauer jedenfalls, geradezu automatisch auf jede feindliche - Erhebung ein.

7. Die unmerkliche Gleichheitsgewalt a) Unmerklichkeit - Voraussetzung aller Macht über Gleiche Die Unmerklichkeit der Gewaltausübung ist heute eine der wichtigsten Voraussetzungen wirksamer Herrschaft. Sie ist nicht identisch mehr mit der zugleich ja auch stets versuchten Machtverschleierung. Unmerkliche Machtausübung meint, daß zwar die Existenz und die Wirkungen der Macht durchaus bekannt sind, daß sie jedoch derart wenig, jedenfalls im gegebenen Augenblick, belasten, daß sie hingenommen werden. Darin liegt bereits eine Folge der Egalisierung der modernen Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung: Macht kann heute nurmehr akzeptierte Gewalt sein; wird sie allzu merklich, so bricht sie unter dem Widerstand oder gar dem Angriff der zahllosen Gleichen zusammen, welche ja auch grundsätzlich zur gleichen Zeit die merkliche und damit odiose Macht bekämpfen werden. Es ist also innere Systemnotwendigkeit, wenn die Gleichheitsordnung versuchen muß, ihre Macht unmerklich zu halten. Die Unmerklichkeit ist bereits eine wichtige Kategorie des öffentlichen Rechts geworden, ein Blick auf das Steuerrecht genügt: Dort wird vom wirksamen Steuersystem in erster Linie verlangt, daß es unmerklich wirke, daher keinen Steuerwiderstand bei den Betroffenen hervorrufe. Dieselbe Kategorie kann man unschwer auf andere Bereiche, und nicht nur auf das Abgabenrecht im weiteren Sinne, etwa die Sozialversicherung, anwenden: Es gibt eben auch bereits einen Bauwiderstand, der sich in Baumüdigkeit äußert, einen Umweltwiderstand, der die volkswirtschaftlich erforderlichen Investitionen unterläßt - überall gibt es solchen "Widerstand". Je mehr die Gleichheit alle Schichten der Bürger auf eine Ebene hebt, sie damit alle zu virtuellem Widerstand

90

IH. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

gegen die Macht befähigt, in demselben Maße muß sie versuchen, als solche, in all ihren Ausprägungen unmerklich zu bleiben. Dies aber ermöglicht ihr die innere Logik des Prinzips selbst. b) Radikale Nivellierung - ein Gleichheitsfehler

Schon der Zwang zur Strategie, der vorstehend dargestellt wurde, bewahrt die neueren Gleichheitsherrschaften vor dem Fehler ihrer utopistischen Vorgänger: vor der radikalen, raschen Egalisierung. Nivellierungen wie die der Französischen und der Russischen Revolution waren extrem merklich, riefen einen mächtigen nationalen und, was noch schwerer wiegt, internationalen Widerstand hervor, denn di.ese letztere Kategorie darf ja nicht unterschätzt werden: Die Gleichheitsordnung ist nicht frei darin, wieviel an Egalität sie im eigenen Lande herstellt, sie muß stets auch das Gleichheitsgefälle zu anderen Ländern berücksichtigen. Es gibt nicht nur eine innerstaatliche, sondern auch eine internationale Merklichkeit der Nivellierung. Die französischen Revolutionäre haben sie nicht beachtet oder, umgekehrt, sogar gewollt, und damit ihre neue Ordnung in blutige Kriege gestürzt, in denen sie dann, auf lange Sicht jedenfalls, wieder aufgehoben wurde. Und auch die Russische Revolution hat, infolge der internationalen Merklichkeit ihrer radikalen Maßnahmen, Jahrzehnte der Isolation hinnehmen müssen. Wer allzu vieles, oder allen alles nehmen will, um es ihnen dann wieder über einen Verteilungsstaat bruchstückweise zukommen zu lassen, der begeht eine Todsünde wider den heiligen Geist der Gleichheit: Er schafft zunächst einmal mächtige Ungleichheiten, weil jeder betroffene Bürger sogleich auf den unmittelbar vorhergehenden Zustand schauen wird und eine schockierende Ungleichheit in der Zeit feststellt. Damit wird zwar Gleichheit in der Horizontalen hergestellt, es wird jedoch die vertikale Gleichheit, die Kontinuität in einer Weise gebrochen, welche durch die sozialen Nivellierungen nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Die radikalen Umschichtungen im Namen der Gleichheit begehen auch einen weiteren grundlegenden Fehler: Sie müssen notwendig die enteigneten Güter auf einen Dritten, den allmächtigen Verteilungsstaat, übertragen. Damit aber schaffen sie neue, höchst sichtbare Ungleichheit, zwischen diesem Riesenfonds und allen anderen Rechtsträgern. Gerade diese Inegalität wird nur schwer und widerwillig hingenommen, selbst wenn sie zu laufenden Verteilungen führt, erscheint sie immerhin als eine typische Gewalt. Viel feinsinniger und wirksamer ist die Egalisierung dort, wo in kleinen Schritten nivelliert wird, dann aber unmittelbar von Rechtsträger zu Rechtsträger, wo nicht etwa gewaltige Massen von Reichtum einem anonymen staatlichen Träger von "Nationalgü-

7. Die unmerkliche Gleichheitsgewalt

91

tern" übertragen werden. Die Schwäche des Staatsmonopolismus liegt gerade hier: Im Namen der (künftigen) Gleichheit schafft er die geradezu gigantische Ungleichheit zwischen den Rechtsträgern. Die Enteignung bleibt sichtbar verfestigt, die Gleichheit wird zur verhaßten Machtäußerung. Deswegen zwingt wohlverstandene Gleichheitsherrschaft die Egalitätsstrategen in vorsichtige, langatmige und unmittelbare Verteilung, damit die Nivellierung unmerklich werde. c) Unmerkliche Einebnungein Gebot der "GZeichheitsgerechtigkeit"

Die unmerkliche Nivellierung ist schon deshalb ein natürliches Gleichheitsgebot, weil im Namen der Gleichheit ja keinem Unrecht, nur vielen anderen mehr Recht geschehen soll. Dies aber verbietet es, dem einen Bürger, oder einer Kategorie von solchen, so viel zu nehmen, daß dies nicht mehr als "gerecht" von ihnen empfunden wird. Gleichheit als mehr (soziale) Gerechtigkeit kann ja nur dann als solche akzeptiert werden, wenn der Verlust, gemessen an dem Verbleibenden, gering erscheint gegenüber dem gebilligten Güterzuwachs bei den vielen anderen Bürgern. Dem Reichtum ist ein gewisses "schlechtes Eigentumsgewissen" durchaus eigen, er wird daher einen Saum seines Mantels ohne weiteres opfern, so wie ja auch die Randzonen, die letzten Spitzen des Reichtums, im allgemeinen nicht als Leistungserfolge, sondern als Glücksgeschenk von den Begünstigten selbst verstanden werden. Sie sind daher auch bereit, dies dem Verteilungsstaat wieder zur Verfügung zu stellen, der eine solche Glücksverwirklichung ermöglicht hat. Anders dann, wenn der Eingriff zu tief wird, zu rasch erfolgt: Dann fühlt sich jeder Besitzende in dem getroffen, was ihn zum moralischen Widerstand reizt: in seinem Leistungseigentum. Es ist daher eine tiefe Weisheit des neueren Enteignungsrechts, daß es die Schwelle der Enteignung, gegenüber der entschädigungslos hinzunehmenden Sozialbindung, dort legt, wo der Eingriff "allzu schwer" und damit unzumutbar wird, während Randbeeinträchtigungen ohne weiteres hinzunehmen sind. Geschickter Gleichheitspolitik entspricht eine solche Grenzziehung, sie kann auch immer wieder und auf längere Sicht ausgenützt werden, wobei dann ja die Schwereschwelle des Eingriffs immer weiter abgesenkt, näher an den Kern der Güter hin verlegt werden mag: Zunächst muß der Grundeigentümer nur hinnehmen, was seinem Eigentum als situationsgebundene Beschränkung von vornherein, seit Generationen eigen war; sodann kann von ihm verlangt werden, daß er auch die entsprechenden gesellschaftlichen Entwicklungen berücksichtigt und so weiter, und so fort.

92

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

Immer wieder aber ist es die Merklichkeit, die gerade im Namen der Gleichheit beachtet werden muß; geschieht dies nämlich nicht, so wird der Leistungsfähige, Starke, ebenso getroffen wie der Leistungsschwächere - dies aber ist ein Verstoß gegen die Gleichheit und wird auch so empfunden, weil eben die beiden Tatbestände nicht gleich sind. Nur dann, wenn wenig, aber auf Dauer nivelliert wird, kann niemand behaupten, geschweige denn beweisen, sein Fall sei anders gelagert als der des begünstigten schwächeren Bürgers, ihm dürfe nichts genommen werden. Dann aber kann ein Widerstand aus dem einzigen heraus nicht beginnen, was eben wirksam wäre: unter Berufung auf die Gleichheit. Nur einen Widerstand nämlich muß die Gleichheitsordnung unbedingt vermeiden: den Widerstand im Namen der Gleichheit selbst. Dies aber erzwingt Unmerklichkeit. d) Die "unbeweisbare Gleichheitsverteilung" Datengewalt als Gleichheitsmacht Unmerklich ist die nivellierende Gewaltausübung vor allem deshalb, weil sie so schwer feststellbar ist. Der Einzelne besitzt, in aller Regel, nicht die hinlänglichen Vergleichsdaten anderer Fälle, dies ist das große Problem aller Gleichheitsprozesse. Bis zum Beweis des Gegenteils muß er davon ausgehen, daß ihm nur widerfährt, was auch andern bereits freiheitsbeschränkend geschehen und daher grundsätzlich rechtens ist. In kosten- und zeitaufwendigen Untersuchungen muß er sich überhaupt erst ein Bild von der Rechtslage anderer Bürger machen, und er ist im Prozeß dann immer noch mit dem typischen Gleichheitsrisiko belastet, daß der besser informierte Staat ihm nachweisen kann, er sei eben doch nur wie einer von vielen anderen behandelt, in seiner Freiheit beschränkt worden. Hier hilft sogar noch die Freiheit der Gleichheit: Weil es eine Privatsphäre, ein Geschäftsgeheimnis gibt, weil jeder Bürger gerade darin den wichtigsten Kernbereich seiner Freiheit mit Recht sieht, eben deshalb ist es den Vergleichsuchenden kaum möglich, die Daten für den Beweis einer gleichheitsverletzenden Freiheitsbeschränkung ausfindig zu machen. Selbst Verbände scheitern daran nicht selten, weil sich eben die Mitglieder nicht zur Information bereitfinden, vor allem nicht vor Gericht Aussagen machen wollen, die bei einem anderen Verbandsmitglied einen Gleichheitsverstoß begründen könnten. Paradoxerweise wirkt also gerade die Privatheit, die ja eigentlich etwas höchst Individuelles, Antiegalitäres sein sollte - zugunsten des egalisierenden Staates, weil sie dem Bürger den Beweis der Gleichheitsverletzung erschwert, wenn nicht unmöglich macht.

7. Die unmerkliche Gleichheitsgewalt

93

Die Staatsgewalt ihrerseits aber gewinnt aus ihrer großen Information, die nunmehr durch die Datenverarbeitung nahezu ins Unermeßliche gesteigert wird, eine weitere typische Gleichheitsgewalt, ein Herrschaftsinstrument: Sie allein ist letztlich Herrin über die Gleichheitsdaten, damit aber über die möglichen Beweise der Gleichheitsverletzung. Wie viele Rechtsverletzungen könnte der Bürger heute nachweisen, hätte er den "großen" Zugang zu den Datenbanken, könnte er jene vielen Fälle jederzeit abrufen, die den Beweis für seine Sonder- und damit für eine ungerechte Behandlung erbringen! So wird denn das Datenproblem in der Gleichheitsordnung meist nur in recht unvollständiger Weise aufgeworfen: Es wird darüber diskutiert, wer im einzelnen die Daten abrufen dürfe, unter welchen Voraussetzungen. Man macht sich Gedanken, ob durch den Dateneinsatz nicht einzelne gezielt getroffen werden könnten. Mindestens ebenso gefährlich aber ist die andere Seite: Der Staat verfügt über zahllose Vergleichsdaten, die er auch anonymisiert einsetzen kann, um immer das Gleichheitskonforme, damit aber das Gerechte seiner Lösungen zu beweisen. Dies geschieht in einem tagtäglichen Vorgang, vor allem in der Arbeit der Ministerial- und Steuerverwaltungen. Da werden zahllose anonyme Gleichheitsrechnungen aufgemacht, die immer nur eines beweisen: daß man noch mehr nivellieren dürfe, weil schon so viele in ihrer Freiheit beschränkt worden seien. Mit Hilfe der Datenverarbeitung kann also der Gleichheitsstaat die Gleichheitsvermutung seiner Machtausübung, damit aber die Gerechtigkeitsvermutung, immer wieder, immer stärker stützen, auch und gerade, wenn er nur "anonyme Daten" einsetzt. Aus diesem generellen Beweisnotstand wird für den resignierenden Bürger die Gleichheitsmacht aber auch wirklich unmerklich - die Gleichheitsverletzung, welche er nicht beweisen kann, nicht einmal vermuten darf, wird eben hingenommen, und dies wird zur Gewohnheit. Wie stark Unmerklichkeit aus Gewöhnung kommt, dafür ist die Resignation des Bürgers vor der Steuerprogression ein Zeichen. Dieser Kreis der Gewöhnung an die vermeintlich unwiderlegliche Gleichheit aber läßt sich schon deshalb nicht durchbrechen, weil sich die Gleichheitsmacht des Staates immer darauf zurückziehen wird, sie könne die Daten ja nicht offenlegen, ohne die Privatsphäre einzelner zu verletzen - und damit eben wieder die Gleichheit. Dieser Selbstschutz einer Machtgrundlage ist damit geradezu unüberwindlich.

94

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

8. Die unkontrollierbare Gleichheitsgewalt Eine Staatsgewalt, die ihre Macht wesentlich nivellierend einsetzt, wirkt nicht nur unmerklich und wird daher leichter akzeptiert, sie ist auch schwer feststellbar und entzieht sich damit den Kontrollen, welche gerade die Demokratie, die politische Gleichheitsordnung vorsieht. In dieser Unkontrollierbarkeit der Machtausübung wird die Gefährlichkeit des Gleichheitsstaates, die Stärkung seiner Gewalt besonders deutlich. Dies sei an einigen Beispielen belegt. Sie sollen zeigen, daß die wichtigsten Kontrollinstanzen der Staatsgewalt, mögen sie nun von innen oder von außen auf diese einwirken, einer nivellierenden Machtausübung nicht entgegenwirken, sondern diese sogar noch verstärken:

a) Parlamente - Verstärkung der Egalisierung Die wichtigste Kontrolle der Staatsgewalt in der parlamentarischen Demokratie, die Volksvertretung, kann eine Nivellierung nicht entzerren, sie muß sie notwendig verstärken. -

Nimmt das Parlament seine Kontrollfunktion im Einzelfall wahr, insbesondere in Anfragen an die Regierung, so wirkt dies in aller Regel nur gleichheitsverstärkend; einer Nivellierung kann so praktisch kaum jemals entgegengetreten werden. Denn gerügt wird ja immer, rechtlich oder politisch, ein vermeintlicher Fehlgriff: die ungleiche Behandlung in einem Einzelfall. Da soll die Regierung etwa antworten, weshalb in dem einen Falle die Besetzung eines Postens nach anderen Voraussetzungen erfolgt ist als in verschiedenen Vergleichsfällen; oder sie soll sich dazu äußern, wie lange sie noch den Importeuren des einen Gutes jene Vergünstigungen vorenthält, welche sie seit langem denen eines anderen gewährt. Eine Einzeluntersuchung der parlamentarischen Anfragen würde ergeben, daß sie, in den letzten Jahrzehnten, immer mehr von ihrer eigentlichen Funktion sich entfernt haben: Sie sollten höchst individuelle Fälle zur unauswechselbaren Behandlung führen; in der parlamentarischen Praxis aber geht es meist um die Herstellung der Gleichheit, nicht um die Berücksichtigung besonderer Individualität. Zu dieser letzteren ist das arbeitsüberlastete Parlament, schon infolge seines chronischen Informationsnotstandes, meist gar nicht in der Lage.

-

Eine Machtkontrolle in Gesetzesform über die Nivellierung wäre an sich möglich, durch Schaffung von Sondertatbeständen ist sie auch nicht selten wirklich und wirksam. Darin nicht zuletzt liegt ja die Legitimation der Ausschußarbeit, daß die Besonderheit gewisser Fallgruppen stärker berücksichtigt wird, als dies in der notwendig schematischen Arbeit der Ministerialbürokratie geschehen konnte.

8. Die unkontrollierbare Gleichheitsgewalt

95

Die oft beklagten Durchbrechungen und Abschwächungen angeblich "großer" gesetzgeberischer Würfe sind, bei Lichte besehen, oft nur Entzerrungen einer Nivellierung im letzten Augenblick; denn die Regierung pflegt ja in der Regel das als einen großen Wurf zu bezeichnen, was besonders stark schematisiert und nivelliert. So ist es, erstaunlicherweise, gerade die Gesetzgebung, die Instanz des "allgemeinen Willens", welche gelegentlich noch als Gegengewicht wirkt wider den höchst allgemeinen, besonders stark egalisierenden normativen Parlamentswillen, als ob eben wieder einmal Teufel nur durch Beelzebub ausgetrieben werden könnte. Doch die Wirksamkeit dieser normativen Kontrollmechanismen darf nicht überschätzt werden. An sich und grundsätzlich liegt sie schon gar nicht in der Idee der parlamentarischen Arbeit: Der Abgeordnete soll sich ja, einmal gewählt, als Vertreter des gesamten Volkes, nicht einer Interessengruppe fühlen; in seiner entnivellierenden Arbeit aber geschieht gerade dieses letztere, häufig mit schlechtem Gewissen, und die Volksvertreter werden dann auch dementsprechend in der Öffentlichkeit durch die Medien angegrüfen. Das Parlament als Ganzes ist überdies das Organ des allgemeinen, gleichen Gesetzes - so verkündet es die Verfassung ausdrücklich (Art. 19 GG). Wird es zum Ausnahmegesetzgeber, durchbricht es die großen schematischen Gleichheitslösungen der Exekutive durch allzu viele Zusätze und Ausnahmen, so kommt es zu dem Phänomen des "Parlaments als Ausnahmegesetzgeber" : Die Volksvertretung wird dann leicht mit dem Odium der Interessenklüngelei belastet; damit aber wird ihre Legitimation gegenüber der angeblich nur im öffentlichen Interesse, nämlich gleichheitsverstärkend tätigen Exekutive herabgesetzt. Schon heute läßt sich ja in der Mediendiskussion feststellen: Während die Lösungen der Regierung leicht in ihrer geschlossenen, glatten Gleichheitsform ungehindert oder unerkannt - die Kritik der Allgemeinheit passieren, wirft sich diese mit um so größerer Intensität auf die parlamentarische Arbeit, in welcher angeblich die starken Lösungen verwässert werden - wodurch? Durch entnivellierende, individualisierende Tendenzen. -

Nicht zuletzt aber ist es eben wiederum der unüberwindliche Informationsrückstand der Volksvertretung, welcher oft derartige gesetzliche Entzerrungen übersteigerter Nivellierung unmöglich macht: Der Datenmangel der Volksvertretung wird, gerade mit Fortschreiten der Elektronik, noch bedenklicher werden. Die große Vorsicht, mit der die Daten (naturgemäß von der Regierung) gehütet werden, wird auch dem Parlament, dem einzelnen Abgeordneten wenigstens, eine schwer überschreitbare Zugangsperre errichten. Wie aber soll das Parlament individualisieren, wenn alle dafür erforderlichen

96

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera Grundlagen letztlich bei der Regierung gespeichert sind? Die Volksvertretung kann viel leichter, auch in normativer Form, eine Verletzung der Gleichheit rügen und diese gesetzgeberisch reparieren, als selbst individualisierend einer Nivellierung entgegenwirken.

-

Die Parlamentskrise, die Überlastung der Volksvertretung, ist vor allem Ausdruck der Krise des Normativismus: Allzu vieles soll normativ geregelt werden, der Normzustand wird unübersichtlich, im Labyrinth des Rechtsstaates entstehen der Regierung neue, unbemerkte Freiheitsräume. Wollten sich die Abgeordneten zur Entnivellierungsinstanz aufwerfen, so würde ihre Arbeit ins Ungemessene anwachsen; das schlechte Normgewissen, das heute allen Volksvertretern bereits zur Gewohnheit geworden ist, müßte sich unerträglich verstärken. Sie würden sich immer mehr dem pauschalen und herkömmlichen Vorwurf der Exekutive aussetzen, daß nämlich das Parlament die klaren, einfachen (d. h. meist: nivellierenden) Lösungen der Exekutive unübersichtlich und unpraktikabel mache. In letzter Zeit sind aus der Beamtenschaft und aus der Gesellschaft immer stärkere und im Kern durchaus berechtigte Angriffe gegen diese Unübersichtlichkeit vorgetragen worden, welche den Rechtsstaat ad absurdum führten. So sehr sie aus der Sicht der Freiheit zu begrüßen sind, so muß doch auch eine negative Wirkung beklagt werden: Sie führen zu größerer Enthaltsamkeit der Volksvertretung im Normativen, damit aber notwendig - zu noch mehr Gleichheitsgewalt der typischen Gleichheitsmacht: der normvorschlagenden Exekutive.

-

Schließlich muß die Gleichheit als ein Gesamtzustand gesehen werden, in dem das politische System oder die Gesellschaft sich befinden, dem sie sich nähern sollen. Einen solchen Gesamtüberblick aber kann das Parlament, können vor allem seine allein ja wirklich arbeitsfähigen Ausschüsse niemals haben. Er ist jedoch jener Regierung eigen, in welcher das Zentrum der Gleichheitsgewalt ruht. Sie kann und muß stets nur eines anstreben: eine Reibungslosigkeit des Ablaufs des Machtmechanismus, damit aber möglichst große Gleichheit. Und im Namen dieses Funktionierens der Staatlichkeit wird sie immer wieder die parlamentarische Kontrolle zu größerer Nivellierung ermuntern, nicht zur Individualisierung. b) Opposition - Drängen auf mehr NiveHierung

Die politische Opposition ist, auf allen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen, die geborene Gewaltenkontrolle in der parlamentarischen Demokratie. Doch auch und gerade sie ist eher eine Macht der Gleichheitsverstärkung als eine entnivellierende Instanz.

8. Die unkontrollierbare Gleichheitsgewalt

97

-

Die Opposition ist die Regierung, der Kern der Staatsgewalt von morgen. Sie ist deshalb an alle Regierungsmaximen und Machtgrundsätze gebunden, welche sie, vielleicht in kurzer Zeit schon, selbst anwenden, weitertragen, als Grundlage ihrer Macht befestigen muß. In einem bereits etablierten Gleichheitsregime bleibt daher der Opposition nichts anderes übrig, als sich selbst an das Massengesetz der Gleichheit gebunden zu fühlen, will sie zur Macht vordringen. Nicht selten kommt es ja, gerade durch ihre Aktivitäten, noch zu einer Eskalation der Gleichheit: Die Opposition will Gleichheitsmacht gegen die Regierung mobilisieren, sie wirft ihr Gleichheitsdefizit, "Ungerechtigkeit" vor. In einer nur einigermaßen festgefügten Gleichheitsordnung kann sich die Opposition diesen Machtspielregeln nicht mehr entziehen, sich nicht außerhalb der Regierungsmaxime stellen, sie muß gleichheitsverstärkend, nicht entnivellierend wirken.

-

Im übrigen muß sie ja den Weg des geringeren Widerstandes gehen, gerade weil sie die politisch schwächere Kraft ist. Das aber, was sie der Regierung am leichtesten vorhalten kann, ist der Gleichheitsverstoß; hier wirkt der Datenrückstand auch nicht allzu schwer, in dem sie sich den Regierungsinstanzen gegenüber befindet: Unschwer kann ja ein Einzelfall herausgegriffen und behauptet werden, seine Behandlung stehe mit allgemein bekannten anderen Fallentscheidungen in Diskrepanz. Wer nicht regiert, muß den Regierungsdefekt beweisen - bei der Gleichheitsverletzung ist dies am einfachsten; und wer regieren will, wird sich nicht von vorneherein des stärksten Regierungsinstruments berauben - der nivellierenden Gewalt. c) Das Fehlen der "gesellschaftlichen Kontrolle"

In einer Demokratie wird die Machtkontrolle nicht zuletzt durch die "Instanzen der Gesellschaft" ausgeübt, durch Medien und Verbände. Doch auch sie können eine wahre Gegenkontrolle gegenüber der Nivellierungstendenz des modernen Gleichheitsstaates nicht ausüben. Für die Verbände wird dies noch in einem späteren Abschnitt besonders darzulegen sein; in ihnen, über sie wirkt die Egalität in besonderer Weise in die Gesellschaft hinein. Denn sie sind gerade Instrumente der Gleichheit, innerhalb von ihnen kommt es zur Gleichschaltung der insbesondere wirtschaftlich recht unterschiedlich leistungsfähigen Mitglieder, sie fassen diese gerade im Namen der Gleichheit zusammen. Die Verbandlichkeit drängt im übrigen ganz wesentlich auf die Einbeziehung der Außenseiter; die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, je7 Leisner

98

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

denfalls ihre Geltung für Außenseiter, ist ein typisches verbandliches Ideal. Aus all diesen Gründen sind sie die letzten, welche sich gegen Nivellierung wenden können, es sei denn als Kleinverbände; dann aber sind sie zu schwach, um der großen Gleichheitsgewalt Widerstand leisten zu können. Meist wird es nur eines geben zwischen Verbänden und Staat Gleichheitskonkurrenz. Was schließlich die Medien anlangt, so ist ihr Verhältnis zur Gleichheit sicher ein höchst komplexes, das ebenfalls später noch vertiefend untersucht werden wird. Hier nur soviel: Einerseits finden sie stets besonderen Gefallen an dem Einmaligen, dem Ungleichen, das eben die Grundlage ihrer eigentlichen "Geschichten-Schreibung" liefert. Zum anderen aber haben sie, nicht zuletzt gerade durch die kritisierende Herausstellung derartiger besonderer gesellschaftlicher Zustände, durch kritische Schilderung der Individualität einiger Bürger, immer wieder Nivellierungstendenzen insgesamt verstärkt. Denn vor der Pressekritik ist ja eigentlich nur eines sicher: was auf ganz breiter Front bereits nivelliert ist, ein Phänomen, das sich in zahllosen Fällen verwirklicht findet. Dann nämlich wird es zu einem Tabu, an dem auch und gerade die Kritik der Presse abprallt. Phänomene wie die nivellierte und nivellierende Sozialversicherung, den einheitlichen Kündigungsschutz oder ein gleichschaltendes allgemeines Wettbewerbsrecht werden auch die Medien nicht angreifen. Ihre Kritik richtet sich immer und ganz wesentlich auf die sozialen "Erhebungen", auf das Ungleiche - damit wirkt aber gerade diese Kontrollinstanz letztlich machtverstärkend. Wieder zeigt sich eben: Die Gleichheitsgewalt ist weder staatlich-institutionell, noch gesellschaftlich kontrollierbar - eine entscheidende Machtverstärkung. 9. Die "pluralistische Ordnung" - Verstärkung und Legitimation der Gleicbheitsmacht In der modernen Gesellschaft müssen unterschiedliche, oft gegensätzliche Wertordnungen, Überzeugungen, Lebensformen nebeneinander bestehen können. Die erste Aufgabe des Staates ist es, sie zu einer wahren Koexistenzordnung zusammenzuschließen. Keiner Gewalt gelingt dies besser als der Macht der Egalität. Sie wird am besten den vielfältigen Problemen des Pluralismus gerecht, aus deren Lösungen sie besondere Legitimation und damit Machtverstärkung gewinnt.

9. "Pluralistische Ordnung" - Verstärkung der Gleichheitsmacht

99

a) Pluralismus - Ruf nach vielfaltzerstörender Gleichheit Allein schon im Wesen, im Begrüf des Pluralismus liegt ein eindeutiges Gleichheitspostulat. Nehmen wir nur seine bedeutendste, grundsätzliche Erscheinungsform, die religiös-weltanschauliche Koexistenz: Sie muß sogleich zum Glaubenskrieg führen, wenn sie nicht in einer großen Gleichheitsordnung gehalten wird, wenn sie nicht zur Parität findet. Neuere religionsgeschichtliche Untersuchungen haben gerade für den deutschen Raum gezeigt, daß einerseits die Parität der religiösen Bekenntnisse ein mächtiges Instrument zur Entwicklung der Gleichheit, darüber hinaus sogar von grundrechtlichen Vorstellungen gewesen ist; auf der anderen Seite läßt sich wohl nachweisen, daß die Verstärkung der religiösen Parität einhergeht mit der Entwicklung jener Gleichheitsgedanken im 17. und 18. Jahrhundert, welche das frühe Naturrecht gebracht hat. Der Pluralismus und der mit ihm eng verbundene Ausgleichsbegriff der Toleranz bedeuten ja letztlich eine besondere Steigerung der Gleichheit in Staat und Gesellschaft in doppelter Hinsicht: -

Nicht nur Individuen müssen gleich behandelt werden, das Gleichheitsrecht erstreckt sich auf Gruppen von solchen, es wird in die Gruppendimension gehoben. Darüber gewinnt es, gerade in einer nivellierten Gesellschaft, eine neue Kraft als staatsorganisatorisches Prinzip.

-

Die Gruppengleichheit wird auch denjenigen Zusammenschlüssen zuteil, welche als solche, numerisch, politisch völlig ungleich sind. Damit schafft die Gleichheit jenen Minderheitenschutz, der ja im Pluralismus unerläßlich ist. Diese Egalität wird so mächtig, daß sogar Ungleiches wesentlich gleich behandelt werden muß.

Gerade darin allerdings könnte man eine antiegalitäre Strömung des Pluralismus erkennen wollen: Wenn kleinere Bekenntnisse, überzeugungsgemeinschaften, Interessengruppen ebenso zu behandeln sind wie größere - liegt darin nicht eine Verfestigung der Ungleichheit, indem eben das rein Quantitative der Bürgerzahl, der Endzustand der Gleichheit, nicht entscheidet? Daran ist sicher richtig, daß in einem noch lebendigen Pluralismus die volle, totale Gleichheit nicht zu erreichen ist. Doch hier soll ja nur ein anderes dargelegt werden: daß auch die pluralistische Ordnung mit zahlreichen Gleichheitsbegriffen arbeiten, der Egalität besondere Bedeutung beimessen muß; und daß dann allerdings, wenn sich die Gleichheit des Pluralismus auf diese Weise bemächtigt hat, die plurale Vielfalt und Individualität der Gruppen nurmehr ein Durchgangsstadium sein wird. Die "ungleichen" Gruppen werden "gleich" behandelt, aber dies führt eben auf Dauer dazu, daß sie auch tatsächlich

100

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

- gleich werden. Der Pluralismus muß, um überhaupt bestehen zu können, die Gleichheit ins Haus rufen. Sie schafft dort eine Ordnung, in der immer mehr jene Individualität der einzelnen Gruppierungen abstirbt, welche den Pluralismus hervorgebracht und getragen hatte. So wird die Egalität Trägerin und Zerstörung zugleich der pluralistischen Ordnung; auf diese Weise löst sie deren Probleme. b) Toleranz als Angleichungszwang

Wie derartiges abläuft, läßt sich gerade am Beispiel der religiösen, konfessionellen Parität aufzeigen. Eine gewisse anarchisierende Tendenz liegt in jedem Pluralismus; ein stets nur tolerierendes, sich ignorierendes Nebeneinander der Gruppen kann aber in der Gemeinschaft nicht bestehen. Deshalb verlangt der Pluralismus, selbst im religiösen Bereich, nach einer "dritten" ordnenden Macht, welche sein vielfältiges Spiel hält; diese kann aber letztlich nur der Staat sein. So kommt gerade aus dem Pluralismus ein lauter und dauernder "Ruf nach der Macht". Nur der Gleichheitsstaat vermag es, diese gegensätzlichen, ja verfeindeten Gruppen in Balance zu halten, indem er sie gleichmäßig achtet, schützt, subventioniert. Das aber setzt voraus, daß sich ihre gegenseitige Aggressivität vermindert, und gerade dies verlangt ja auch der Staat mit seinem Toleranzangebot. In dieser vermeintlichen oder wirklichen Friedensordnung der Toleranz liegt jedoch bereits Abschwächung nicht nur der Aggressivität, sondern auch der überzeugungen, der Unterschiede. Wie viele Unterschiede zwischen den christlichen Bekenntnissen hat nicht gerade der tolerante Gleichheitsstaat seit etwa zwei Jahrhunderten in Deutschland eingeebnet! Der Gleichheitsstaat führt, mehr als jede andere Institution, zur Ökumene, gerade weil er sich nicht mit einer der Seiten identifiziert. Damit aber schafft er Angleichung, Gleichheit des Glaubens - oder des überhaupt-nicht-mehr-Glaubens. Nicht anders haben sich die Verhältnisse im Politischen und Ökonomischen entwickelt: Je größer der Pluralismus, die Freiheit des Nebeneinander unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Interessen war, desto mächtiger ertönte sehr bald der Ruf nach jener ausgleichenden, Toleranz gebietenden Macht, deren Toleranzordnung sich dann rasch in Subvention und damit auf Dauer in Macht verwandelte. Die Finanzierung der politischen Parteien ist dafür ein deutliches Beispiel; in ihrer Tendenz zur Aufrechterhaltung bestehender politischer Gruppierungen kommt echte konservierende Staatsmacht zum Tragen. Der Gleichheitsstaat ermöglicht also zunächst Pluralismus, doch gerade darin schwächen sich die Gegensätze, schwächt sich der Pluralismus selbst ab, er gibt all seine Energien auf die Dauer an diesen Gleichheitsstaat ab.

9. "Pluralistische Ordnung" - Verstärkung der Gleichheitsmacht

101

c) Pluralismus als Form der Entindividualisierung

In der Garantie des Nebeneinanderbestehens, welche der Gleichheitsstaat dem Pluralismus, wenigstens auf Zeit, gibt, liegt auch, betrachtet man es näher, keineswegs eine Garantie des Weiterbestehens voller Individualität der verschiedenen Gruppen. Der Staat bleibt ja der Herr darüber, wie diese Gleichheit funktionieren solle, wie groß, wie stark eine Gruppe werden dürfe, bis sie die Gleichheit breche. Er bestimmt letztlich die äußeren Spielregeln des Pluralismus-Spieles; durch diesen Rahmen jedoch wirkt er bereits in besonderer Weise egalisierend. So werden gewisse religiöse Gebräuche in Deutschland vom Staate nicht geduldet, der doch sonst den konfessionellen Pluralismus so unbegrenzt zu tolerieren scheint; es heißt dann, sie seien mit "unseren elementaren Kulturauffassungen" nicht vereinbar. In Wahrheit zeigt sich hier ein typisches Nivellierungsphänomen: Der Staat entnimmt den Rahmen des religiös Zulässigen den überzeugungen der herkömmlichen, "herrschenden" religiösen Gruppierungen. Nach deren Wertvorstellungen, denen er noch einige Tropfen seines liberalen Egalitarismus beimischt, einiges von gegenwärtiger politischer Demokratieauffassung hinzufügt, schneidet er alle anderen, künftigen, möglichen religiösen Bewegungen nach einem bestimmten Bild und Gleichnis, eben dem einer irgendwo doch egalisierten Religiosität. Auf diese Weise erfolgt sogar im letzten das, wogegen sich doch der weltanschaulich neutrale Staat stets lautstark verwahrt: eine gewisse Wertegalisierung, eine Auffüllung von Unterschieden bei elementaren Wertvorstellungen in der Gemeinschaft. Im Wettbewerbsrecht geschieht dies noch weit handgreiflicher, auf einer anderen, wenn man will niederen Ebene: Auch hier soll ja alles im Namen des Pluralismus geordnet werden; doch auch hier erscheint der Staat als ein keineswegs nur "formaler" Schiedsrichter. Was noch an geschäftlichem Verhalten als "lauter" angesehen wird, er bestimmt es in einer durchaus nicht wertneutralen Weise, sondern in politisch akzentuierter Fortentwicklung bestimmter etablierter Wettbewerbsvorstellungen. Damit egalisiert er letztlich laufend und wirkt einer Fort- oder Auseinanderentwicklung des Pluralismus nivellierend entgegen. Auch hier werden gewisse Wertvorstellungen, woher immer sie genommen werden, als Schablonen zum Gleichschneiden des pluralistischen Wildwuchses angewendet. Und was entscheidend ist, der Staat ist immer und überall, wenn auch immer nur am Rande, beschäftigt, er muß überall eingreüen, von der Religion bis zum Einzelhandel. Dieser emsigste aller Schiedsrichter kann dabei immer nur eines tun: ausgleichend wirken - d. h. angleichen. So wird der Pluralismus zum Machtpostulat, sodann durch die Gleichheits-

102

III. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

macht stillschweigend unterlaufen, in seinen Unterschieden aufgefüllt und zu einem großen Vorgang der Wert- und Interessenegalisierung er wird in sein völliges Gegenteil verkehrt. Der Pluralismus als Durchgangsstufe zur Gleichheit, als Hebel der Egalität - wäre dies keine List der Vernunft? d) Pluralismus - Machtlosigkeit der vielen Gleichen

Im wirtschaftlichen Bereich läßt sich besonders leicht Pluralismus erhalten und doch, gerade dadurch, nivellieren. Das Spiel der vielfachen ökonomischen Kräfte wird der Gleichheitsstaat ja, zumindest zunächst, belassen können; er egalisiert es nur von außen, drückt es auf eine einheitliche ökonomische Stufe herab. Spitzen werden gekappt, das wirtschaftlich-pluralistische Spiel als solches aber bleibt erhalten. Zwar können größere wirtschaftliche Machtpositionen nicht mehr aufgebaut, bedeutendere Reichtümer nicht mehr geschaffen werden; doch dies scheint ja der Idee des Pluralismus gar nicht zu widersprechen, wird sie doch im wesentlichen in der Vielfalt, nicht in der Unterschiedlichkeit der konkurrierenden Kräfte gesehen. Gerade im wirtschaftlichen Sektor bleibt also eine Vielfalt von Gleichen, aber wirtschaftlich und politisch Machtlosen erhalten, und gerade darin, in der Schaffung und Aufrechterhaltung einer solchen Ordnung, kann sich der Gleichheitsstaat in vermeintlichem Pluralismus bewähren. In Wahrheit zeigt sich hier wie auch sonst in der Pluralismusdiskussion eines: Sie beschäftigt sich nahezu ausschließlich mit einer Art von horizontalem Pluralismus, mit einer Vielfalt möglichst gleicher Kräfte, nicht aber mit einem vertikalen Pluralismus, der auch unterschiedliche Größenordnungen und Stärken in Kauf nehmen würde. Dieser gestufte Pluralismus wird sogar als die tödliche Gefahr für den eigentlich gewünschten, den Gleichheitspluralismus angesehen. Aus ihm aber zieht der Gleichheitsstaat, der ja zu seiner Herstellung und Erhaltung unbedingt und dauernd gebraucht wird, entscheidenden Machtgewinn.

10. Der Gleichheitsstaat als sparsame Staatsform Wirtschaftlich, mit rechtem Einsatz der Mittel auf das Ziel hin, muß jede Staatsgewalt handeln. In neuerer Zeit tritt immer mehr hinzu das Gebot der unbedingten Sparsamkeit, allzu viel darf die Herrschaft überhaupt nicht kosten. Eine derartige besondere wirtschaftliche Sensibilität bringt gerade das steigende Gleichheitsbewußtsein mit sich: Alle Bürger fühlen sich herangezogen zu den staatlichen Lasten und sind es auch wirklich; alle sind sie daher aufgerufen und bereit, der sparsamen

10. Der Gleichheitsstaat als sparsame Staatsform

108

Staatsform den Vorzug zu geben. Der Gleichheitsstaat verstärkt das ökonomische Bewußtsein, aber er befriedigt es auch, jedenfalls in der Theorie und in dem noch weit wichtigeren Herrschaftsschein. a) Reibungslosigkeit der Herrschaft über Gleiche

Optimale Gleichheit garantiert Reibungslosigkeit der Machtabwicklung. Im Steuerrecht wird über die Aufwendigkeit einer Verwaltung geklagt, welche allzu vielen Sondergestaltungen Rechnung zu tragen habe; das beste Heilmittel ist hier Egalisierung, Schematisierung, und wenn sie noch nicht voll durchgesetzt ist, so nur deshalb, weil man gerade die Sondergestaltungen - zu größerer Egalität benötigt. Jede Einzelfallprüfung im Verwaltungsrecht, etwa im Baurecht, kostet Verwaltungsaufwand. Die normative Egalisierung wird Sparsamkeit bringen. Der immer lauter ertönende Ruf nach der sparsamen Staatsgewalt - die man aber als ordnende Gewalt ja doch nicht missen kann - ist letztlich nichts anderes als der Ruf nach dem Gleichheitsstaat. In ihm verlieren zeitraubende, kostenaufwendige Beschwerde- und gerichtliche Verfahren in den meisten Fällen ihren Sinn, beruft man sich hier doch immer wieder und vor allem auf Sondergestaltungen, Privilegien, Ungleichheiten. Ein sparsamer Staat hat letztlich nur die Wahl: Entweder sich in liberale Abstinenz zurückziehen - das wollen nur wenige von denen, welche so laut nach der Sparsamkeit rufen; oder ausweichen in die einzige mögliche Form moderner Sparsamkeit: die Reibungslosigkeit der Gleichheit. b) Klare, einfache Zielvorgabe

Die Klarheit der Zielvorgabe, ein wesentliches Element aller Sparsamkeit, und, nicht zuletzt, ihre unbedingte Einhaltung, dies alles läßt sich optimal nur im Staate der größten Gleichheit verwirklichen. Daß der Staat der kommunalen Autonomie und des Föderalismus viel Geld kostet, ist bereits ein Gemeinplatz; richtig ist dies vor allem deshalb, weil in einem wesentlich gestuften, und damit in einem Ungleichheitsstaat zahllose Reibungen schon bei der Zielvorgabe auftreten, weil diese als eine einheitliche und damit billig erscheinende kaum vorstellbar ist. Nun mag die Ökonomie ein anderes lehren, daß nämlich Vielfalt und Flexibilität der Zielsetzungen, durch den Mechanismus des Marktes, letztlich weit billigere Produktion, Zielerreichung gestatten als jene einförmige Gleichartigkeit, welche in der Zentralverwaltungswirtschaft verwirklicht ist und dort so oft das Gegenteil von Sparsamkeit bringt. Doch hier unterscheiden sich eben Staatspolitik und Ökonomie: Für die

104

lII. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

erstere kommt es nicht auf das Wirkliche, sondern auf das demokratisch Wirksame an, auf jene Sparsamkeitskonzeption, an welche die vielen bereits Gleichen glauben können. Dies aber ist nicht die marktwirtschaftliche Kostenersparnis, sondern die staatsverordnete, staatstheoretisch begründete Sparsamkeit. Und nichts ist den Vielen leichter klarzumachen, als daß diese Form des Sparens durch klare Zielvorgaben in einer egalisierten Gemeinschaft gefördert wird. c) Erleichterung des Technologieeinsatzes

Unbestreitbar ist, daß eine egalisierte, ja nivellierte Gesellschaft leichter gewisse moderne, schematisierte Teclmologien zum Einsatz bringen kann als eine Gemeinschaft allzu ungleicher Bedürfnisse. Der nivellierende Gleichschaltungsprozeß in der modernen industriellen Massenproduktion ist unverkennbar. Dies hat auch bedeutsame Auswirkungen auf eine Staatlichkeit, welche sparen soll: Der beste Weg dazu ist gerade jener Einsatz der uniformierten Technologie, von der Datenverarbeitung bis hin zum Einheitsschulbuch für das ganze Land. Und durch diese Form des Sparens wird die Gewalt nicht etwa schwächer, sie wird sogar noch gestärkt: In ihrer Einförmigkeit ist sie aus der Sicht der politisch Herrschenden weit übersichtlicher, aus der Sicht der der Gewalt Unterworfenen dagegen wird sie, gerade in dieser Einheitlichkeit ihrer Erscheinungsformen, unentrinnbar, unbestreitbar, tabu. Die Sparsamkeit wird in ihrer Legitimationswirkung für die Macht geradezu zum Gerechtigkeitsersatz: Wo Maschinen optimal einsetzbar sind, scheint ja auch kein menschlicher Wille mehr zu herrschen. d) Die billige Selbstbewachung der Gleichen

Der Einsatz von Wächtern der Macht zur Stabilisierung der Herrschaft kostet den Staat am meisten. Sparsam wirtschaftet er dann, wenn er Militär, Polizei und Verwaltung aus diesen Funktionen möglichst weit zurückziehen kann. Kein Staat ist dazu besser in der Lage als der Gleichheitsstaat: Die bewaffnete Macht kann er, aus seinen eigenen Grundlagen heraus, an sich schon nicht einsetzen, allzu deutlich würde er sich hier gegen seinen eigenen "herrschaftslosen Herrschaftsschein" wenden; und gegen die egalisierte Bürgerrnasse sind auch die Waffen des Militärs in vielem stumpf geworden, sie werden nicht mehr auf Barrikaden, sondern durch den Generalstreik geschlagen. Der Rückzug der Polizei ist ebenfalls im Gange, und sei es auch auf Kosten manch lieb gewordener Sicherheiten. Er kann in diesem Staate leichter erfolgen, weil ja von vorneherein

10. Der Gleichheitsstaat als sparsame Staatsform

105

nicht jene größeren Ungleichheiten des Besitzes, des hemmungslosen Luxus geschützt werden müssen, der sich etwa nach außen manifestieren wollte. Vor allem aber kann der Gleichheitsstaat darin an Polizei und Verwaltung entscheidend sparen, daß er die Beherrschten selbst auf breiter Front zur kleinen Teilhabe an der Herrschaft einsetzt, zur Stabilisierung der Macht. In einer echten Gleichheitsordnung sind die Bürger ihre eigenen Bewacher, jeder von ihnen wird zusehen, schon im eigenen Interesse und ohne spezielle Staatsbezahlung, daß der Nebenbürger sich nicht über ihn erhebe. Hier ist nicht nur an jene feinen Formen des modernen Denunziantenturns zu denken, die man so häufig noch als Bürgersinn preist, oder an die Selbstordnung der Schlange stehenden Gleichen. Weit wichtiger ist für den Staat die Sparwirkung des Sozialzwanges, den die Gleichen untereinander ausüben, der jeden ins Abseits stellt, der "Besonderes" wünschen möchte: it's undecent to be different. Was aber unschicklich ist, braucht nicht verfolgt, nicht verboten zu werden. Die nächste Stufe dieser Bürgerbewegung für den sparsamen Staat ist dann die Bürgerwacht im Dienst des Staates, von der kostensparenden Armee der allgemeinen Wehrpflicht über die billige Privatmiliz und Stadtviertelpolizei bis zur staatsorganisierten oder. staatsgebilligten Bürgerdemonstration, deren Endpunkt der organisierte Volkszorn ist. Der große Obersatz ist stets einer, eine Maxime der sparsamen Gleichheit: Polizei und Verwaltung "lassen den Bürger gewähren", sie lenken seinen Einsatz für das gemeine Wohl; und gelenkt wird er ja letztlich immer, allerdings mit sehr sparsamen Kräften. Und stets bewirken diese eifrigen autonomen Wachbürger auch noch ein anderes: Sie verschleiern die Herrschaft, von der doch noch immer Einfältige glauben, man könne sie an der Zahl der Uniformierten erkennen. Die alte Staatsmaxime des Militär- und Polizeistaates lautete: Wer sparen muß, kann nicht herrschen; und verzweifelt kämpfte die Regierung mit den Ständen um jeden Taler. Auch hier sind die Herrschaftsinstrumente des Gleichheitsstaates weit feiner geworden, sie laufen zumindest in einer Doppelstrategie: Einerseits werden die Mittel in weit größerem Umfang noch als früher genommen, nur ohne große Diskussion, weil von Gleichen bei Gleichen erhoben. Auf der anderen Seite aber kann sparsame Herrschaft ausgeübt werden, indem die nivellierten Bürger selbst ihren Status überwachen, für immer weitere Nivellierung des Nebenbürgers sorgen. Wäre dies keine Machtpotenzierung?

106

IH. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

11. Der Gleichheitsstaat als Friedensordnung Die Erinnerung an die Schrecken der Kriege vergeht, doch die Macht des Friedenswortes besteht, aus vielen Gründen, von der Angst vor den Vernichtungswaffen bis zur Müdigkeit der satten Gesellschaft. Politische Chancen hat nur eine Macht, welche sich hier als Friedensordnung etablieren kann, und kaum eine Herrschaft ist dazu besser geeignet als der Gleichheitsstaat. a) Das zeigt sich schon im Grundsätzlichen. Die Egalität kennt eigentlich kein Freund-Feind-Verhältnis, damit aber auch nicht die kämpferische Politik in ihrem lästigen Sinn. Sie erscheint geradezu als unpolitisch-selbstverständlich, denn sie schlägt den Feind nicht nieder, sie adaptiert, egalisiert, integriert ihn. Sie hat die Kampfkategorie selbst in dem alten liberalen Verständnis des Gegensatzes zwischen Bürger und Staat überwunden, denn der Bürger steht eben nicht mehr im Namen seiner Freiheit gegen die Macht, er wird in diese im Namen der Gleichheit eingefügt; und der Endsieg der Gleichheit heißt Friedensordnung. b) Die vielen, kleinen, gleichen Bürger lassen den gefährlichsten aller Kriege nicht aufkommen, den Bürgerkrieg. In Gleichheit werden alle ihre zahllosen kleinen Aggressionen tagtäglich ausgeglichen. Der Bürger als Wächter, dies wurde bereits im vorstehenden dargelegt, läßt die äußeren Zeichen der Gewalt zurücktreten, es kommt zur inneren, zur unsichtbaren Macht. Diese aber erscheint geradezu als ein von unten, von innen kommender - Friede. Er führt die vielen Schwächeren zur Macht der demokratischen Staatlichkeit; wie könnte es hier Aggressionen und Kampf geben, sind nicht die Schwächeren in der Friedensordnung der Gleichheit - zufrieden? Und selbst die angeblichen Schwächen der Staatlichkeit werden ertragen im Namen dieser Friedlichkeit; nur der Gleichheitsstaat kann sich letztlich Schwäche bei seinen Bürgern leisten, weil er es ihnen ja predigt, daß er sie in Gleichheit sich selbst wesentlich überlasse. So wird Schwäche ihm nicht zum Vorwurf gemacht, sondern erneut zur Legitimation seiner Macht. e) Eine besondere Stärke der Gleichheit als einer solchen Friedensordnung liegt darin, daß sie sich nicht nur zuzeiten bewährt, sondern in den meisten und wichtigsten Abschnitten der nationalen Geschichte. In Perioden wirtschaftlichen Überflusses kommt es ja erfahrungsgemäß zu einem allgemeinen Quietismus der Sattheit, welcher in erster Linie Güterverteilung erstrebt. Die Beruhigung der Gleichheitsordnung ist dem ebenso konform wie die Egalität, die Grundsätze bereitstellt, nach denen ein solcher Reichtum zu verteilen ist. So kann es denn in einer derartigen Phase eigentlich nur eine, "glückliche" Aggression geben - zu noch mehr Gleichheit; und die deutsche Entwicklung nach 1969 ist dafür

11. Der Gleichheitsstaat als Friedensordnung

107

ein deutliches Beispiel. Kommt es umgekehrt zu Rezession und Mangelerscheinungen, so muß gerade dies alles verwaltet werden, und das kann nur in Gleichheit geschehen. Zeiten der Not haben noch immer eine Verstärkung der Kopfegalität gebracht, jeder Sinn für größeren, notwendig individualisierenden Reichtum geht verloren - bis zum Kopfgeld. In den fetten wie in den mageren Jahren ist es daher die Gleichheit, welche sich in der Herrschaft des Staates verstärkt. Nur Perioden raschen, ungeordneten Aufstiegs können Ungleichheiten bilden, ein abrupter Abstieg mag sie verstärken. Doch erfahrungsgemäß sind solche Perioden nicht die Regel; unter einer Wirtschaftspolitik, die alle Anstrengungen zu einer Verstetigung unternimmt, werden sie mehr und mehr zur Ausnahme werden. So ist denn selbst diese Stabilitätspolitik, in guten wie in schlechten Zeiten, noch ein Hebel zur stärkeren Gleichheit. d) Doch die eigentliche Kraft der Gleichheit als einer Friedensordnung liegt nicht im ökonomischen Erfolg, in der wirtschaftlichen Verteilung; sie bewährt sich vor allem in dem immer wieder in diesen Blättern betonten ethischen Charakter, jedenfalls im ethischen Anspruch der Egalität. Der große Frieden im Aggressivitätsabbau der Gleichheit, in der wenigstens scheinbaren Zwanglosigkeit des Herrschens, wird heute allgemein als ein großer staatsethischer Fortschritt im eigentlichen Sinn gefeiert. Die ganze Allgemeingültigkeit der ethischen Imperative scheint sich in dieser generalisierenden Gewaltlosigkeit wiederzufinden. Der kategorische Imperativ, Grundlage der gesamten Ethik seit dem deutschen Idealismus, wird hier zum "Gleichheitslied vom ewigen Frieden". e) Frieden und Gewaltlosigkeit sind immer noch in erster Linie Begriffe des internationalen Rechts, Egalisierungsversuche zwischenstaatlicher Beziehungen. Dort aber glaubt man, die neue Friedlichkeit vor allem durch die Anerkennung der souveränen Gleichheit aller Staaten erreichen zu können. Liegt es dann nicht nahe, von der Gleichheit dieselbe befriedende Wirkung im Inneren des Staates zu erwarten? Obwohl dort doch die Lage eine ganz andere ist: Denn der Friede unter den Staaten soll eben gegründet sein auf die Gleichheit der unterschiedlich Mächtigen - in der Übernahme dieses Begriffs in den Innenbereich des Staates kommt es zu einer totalen Mutation: Nun wird im Namen der Gleichheit die Egalisierung der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Machtverhältnisse zwischen den Bürgern gefordert. Doch dies hat eine Gleichheitstheorie noch nicht zur Kenntnis genommen, der es eben in erster Linie auf Friedensbewahrung ankommt, welche die Ambivalenz des Gleichheitsbegriffes zwischen internationalem und nationalem Recht völlig ignoriert. Sie sieht ihre Aufgabe in erster Linie in der Auf-

108

111. Die Gleichheit als Herrschaftsinstrument - Divide et impera

hebung der Konfliktsgrunde; was könnte hier stärker wirken als die Einebnung, das Ende der stets Konflikt schaffenden Gefälle? Die ethische Friedensordnung der Egalität erscheint so vielen heute als ein Zwang zu einer großen, im Grunde ja prästabilierten Harmonie, in der alle friedlich, weil gleich stark sein werden. In diesem ihrem Friedensanspruch wird die Gleichheit zur letzten Negation der Macht überhaupt - obwohl sie doch gerade diesen Zustand mit äußerster, intensivster Macht herstellen muß. Damit aber wächst ihr das Höchste zu an Machtverstärkung: die ethische Camouflage der Gewalt. 12. Der Gleicbheitsstaat - ein ganz neues Divide et impera Denn dies ist doch das Ergebnis aller vorstehenden Kapitel: Mag der Gleichheitsstaat sich noch so friedlich, noch so gewaltlos geben - er bewirkt eine ungeheuere Machtpotenzierung, gerade in der Machtverschleierung. Weit wächst er hinaus über die alte, stets bewährte Staatsmaxime des Teilens und Herrschens. Dies wird vor allem in einem doppelten Fortschritt über die alte Machtteilungsregel hinaus sichtbar:

a) Von der außenpolitischen Maxime zum System der Innenpolitik Divide et impera war, stets in der Geschichte, primär eine außenpolitische Regel. Es galt, vernichtende Koalitionen zu verhindern, und in diesem Sinne ist diese Maxime für Jahrhunderte zum Ausdruck der englischen Staatskunst geworden. Doch in ihr war, schon von Anfang an, weit mehr angelegt: eine innenpolitische Herrschaftsregel. Schon im römischen Imperium, das ebenfalls mit der außenpolitischen Teilungsregel groß werden konnte, wurde Divide et impera zugleich zum staatsinternen, staatsrechtlichen Organisationsprinzip, von der föderalen Ordnung der früheren Zeit über den imperialen Aufbau der autonomen Provinzen bis in die späten Degenerationsformen der Teilreiche. Hier bereits kam es zum entscheidenden Umschlag: von der überlegenheit über geteilte Feinde zur Herrschaft über egalisierte Bürger; von der Teilungsregel als Machtmaxime zum Divide als Regierungsform. In den internationalen Beziehungen mochte die Teilungsregel ein Ausdruck politischer Weisheit sein, die sich immer wieder bewährte; perfektionierungsfähig zu einer eigentlichen Theorie, zu einem System war sie nicht. Ganz anders im internen Recht. In der Außenpolitik Englands blieb sie über Jahrhunderte ein häufig geglücktes, stets höchst angelsächsisches Experiment; ins interne Recht übertragen, in der Französischen Revolution, wurde sie sogleich zum dauernden, lastenden,

12. Der Gleichheitsstaat - ein ganz neues Divide et impera

109

absoluten Herrschaftsinstrument, von der Departementsverfassung bis zur Gleichheit der Bürger vor den öffentlichen Lasten. Mit dem Eintritt in die niederen Sphären des Staatsrechts nimmt die systematische Perfektionierungsfähigkeit der Gleichheitsordnung entscheidend zu: Man hat es nunmehr beim Einsatz des Divide et impera mit überschaubaren Größen zu tun, mit einzelnen Bürger-Einheiten, die in einer ganz anderen Weise gleichzuschneiden und damit zu unterwerfen sind als dies im internationalen Bereich jemals gelingen kann. Letztlich läßt sich diese erste große Mutation vom Divide zur Gleichheit in der Formel zusammenfassen: Der Gleichheitsstaat setzt die Teilung ein, doch ihm geht es nicht um Gleichgewicht, sondern um Gleichheit. b) Von der Minderung der Gegenmacht

zur Unterwerfung der Gleichen

In diese Formel läßt sich die zweite Mutation der Divide-Regel zum Gleichheitsstaat fassen. "Teile und herrsche" erstrebte sicher, auch im außenpolitischen Raum, stets letztlich die Unterwerfung; doch eine solche Maxime konnte sich auch mit Schwächung der Gegenrnacht begnügen. Dem Staatsrecht, der Ordnung des Gleichheitsstaates kann dies nicht genug sein. Ihr ist Egalität ein Herrschaftsinstrument, sie setzt es zur Unterwerfung ein. Und hier geht es auch nicht mehr um die großen internationalen Hegemonien; der Hegemoniebegrüf hat im internen Recht keinen Platz, er ist zu schwach für die Herrschaftsnotwendigkeiten des Staates. Hier muß Gewalt bis ins einzelne ausgeübt werden, es genügt nicht die hegemoniale überlegenheit, die Beherrschung mit Kanonenbooten, das Imperium in den pragmatischen Angelegenheiten Krieg, Auswärtiges, Finanzen. Hier wird mehr verlangt als ein Zwingenkönnen zu jeder Zeit, als ein dauerndes Ausnützen - hier muß, virtuell jedenfalls, jederzeit der Wille der Herrschenden durchgesetzt werden. Diese viel totalere Herrschaft kann sich mit einer Teilung nicht begnügen, sie verlangt die Gleichheit. So ist denn der zweite entscheidende Fortschritt dieser: Es genügt nicht, Gegenrnächte zu verkleinern, es muß die wirkliche Gleichheit hergestellt werden, in möglichster mathematischer Annäherung. Damit wird der Gleichheitsstaat ein Ausdruck der alten Machtregel des Divide et impera, aber er bedeutet ihre höchste Potenzierung, letztlich transzendiert er sie, wird zu einem aliud: Sein Imperium beginnt nicht etwa nach der gelungenen glücklichen Teilung, es liegt in der egalisierenden Teilung selbst, bewährt sich tagtäglich in ihr, und deshalb muß es hier heißen: "Das Teilen aber höret nimmer auf." Zum ewigen Frieden führt der Weg über die ewige, die unablässige, allein wirkende teilende Gleichheit.

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt egalisierende Herrschaftsverstärkung mit rechtlichen Mitteln Der Gleichheitsgrundsatz ist, wie dargelegt, ein zentrales Organisationsinstrument des Staates und seiner Macht, welche auf diese Weise ganz wesentlich verstärkt wird. Der Gleichheitsstaat ist der perfektionierte moderne Machtstaat. Dies zeigt sich vor allem darin, daß die Gleichheit, ganz anders als die Freiheit, eine wesentliche Rechtskonformität aufweist: Die Rechtsidee, gerade die des liberalen Staates, steht nicht nur der Gleichheit näher als der Freiheit, sie beruht in gewissem Sinne auf der Egalität, entfaltet sich nur in ihr. Und alle Egalitätsformen, bis hin zur Nivellierung, finden im Recht ein besonders wirksames Instrument. Der Rückhalt des Rechtes aber ist, auch heute noch, eine ganz entscheidende Machtsteigerung. 1. Der Gegensatz von Freiheit und Rechtsidee Gleichheit als "stärkere Rechtsidee" Während die Gleichheit, wie im folgenden zu zeigen sein wird, eine wesentliche Rechtskonformität aufweist, steht die Freiheit mit der Grundidee gerade jenes Rechts in gewissen unauflöslichen Widersprüchen, welches sie im Liberalismus zu ihrer Befestigung hat einsetzen wollen. a) Die historische Entwicklung bereits zeigt immer wieder den wesentlichen Gegensatz, jedenfalls ein wie immer verstandenes Spannungsverhältnis von Freiheit und Recht. Die großen Rechtsordnungen, in denen die Rechtsidee ihren faßbaren Ausdruck in erster Linie gefunden hat, waren kaum je eigentliche Freiheitsordnungen. Für das römische Recht gilt dies ebenso wie für die Kodifikationen des 18. Jahrhunderts mit ihrer Wohlfahrtsstaatlichkeit; und die Rückkehr des römischen Rechts im Pandektismus des 19. Jahrhunderts war nicht so sehr eine Verstärkung der liberalen Ideen, sie stand vielmehr, schon in ihrem ganzen umfangreichen Rechtsmechanismus, deutlich im Gegensatz zu der sich entwickelnden explosiv-revolutionären oder kommerziellen Freiheit. Der große Aufbruch zum europäischen Liberalismus, die Französische

1. Der Gegensatz von

Freiheit und Rechtsidee

111

Revolution in ihren Anfangsstadien, sie erfolgte nicht im Namen des Rechts, sondern im Namen der Rechte; und dies ist ein entscheidender Unterschied. b) Das Recht als Herrschaftsinstrument ergibt sich nur von einer gewissen Steigerungsstufe der Normativierung an, am bedeutsamsten tritt es eben in der Idee der Kodifizierung, der rechtlichen Gesamtordnung eines Bereiches, in Erscheinung. Gerade die Kodifikation, in der die Rechtsidee sich soz. selbst erstmals voll bewußt und damit auch zur Herrschaftsform wird - sie hat an sich nichts wesentlich Freiheitliches, mag sie auch zunächst manch liberalisierenden Fortschritt bringen. Doch dies geschieht eben nicht im Namen einer wie immer aufgefaßten Freiheit; denn diese wird stets eine Sprengkraft entfalten, welche in einer Kodifikation in Ordnung aufgelöst, durch zahllose flankierende Regelungen eingeschränkt werden muß. Die große Kodifikation - und ebenso die " kleine " , das umfassende Gesetz - kennt die vielen zerkleinerten Freiheiten ihrer Tatbestände, nicht "die Freiheit". Der Bürger wird zur Rechtsmonade, zum entindividualisierten "A" und "B"; bis zu der unauswechselbaren Persönlichkeit, der Trägerin der "ganzen Freiheit", ist es weit. Am Kodifikationsphänomen zeigt sich: Die Freiheit ist weit eher rechtsdurchbrechend, rechtskorrigierend, als daß sie das Recht als eine große Herrschaftsmacht schafft. e) Im Freiheitsbegriff selbst liegt die begriffliche Unmöglichkeit seiner völligen Verrechtlichung, von "Freiheit als einheitlicher Rechtsgrundlage" ; denn Freiheit kann als solche nie systematisiert werden, sie müßte sich zum systematischen Recht der Freiheitsbeschränkung wandeln. Wenn überall Freiheit sein soll, so müssen ja zahllose juristische Konstruktionen gefunden, Schranken errichtet und umgestellt werden, dies alles aber ist eben nichts anderes als-Freiheitsbeschränkung, Kompetenz für den Staat, in Freiheiten einzugreifen. Damit war auch die Bewegung zur "systematischen Freiheit" zum grundsätzlichen Scheitern verteilt, mit der nach 1949 in der grundgesetzlichen Ordnung ein geschlossenes System wenigstens der grundrechtlichen Freiheiten erreicht werden sollte. Die Verfassungssystematik kann nicht auf Freiheitsrechten errichtet werden, weil eben ein Staat nicht auf Freiheit gebaut werden kann. Es sei denn auf eine Freiheit, wie sie der kleine, bereits egalisierte Bürger meint; dann aber ist die Gleichheit das Vorgängige, nicht die Freiheit. d) Kein Einwand dagegen ist das angelsächsische Recht, dem jahrhundertelang nachgesagt wurde, es sei ein echtes Recht der Freiheit. Daran ist etwas Wahres, wie immer man den Freiheitsbegriff fassen

112

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

mag, selbst im Sinne einer ungehemmten individuellen Entfaltungsfreiheit. Doch im englischen Recht konnte sich dies nur durchsetzen, weil es im wesentlichen ein punktuelles Gewohnheitsrecht war, sich in der Anwendung gewisser Regeln erschöpfte, damit hier und dort zwar Freiheiten beschränkte, jenseits jeder Schranke jedoch einen noch viel größeren und praktisch bedeutsameren Freiheitsraum beließ. Mit anderen Worten: Die weißen Flecke auf der Karte des Zusammenlebens, die Freiheiten, waren weit größer als die wenigen, herkömmlichen Punkte, welche das Fallrecht markierte. Hier zeigt sich eines: Die Freiheit kann Recht hervorbringen, eine Art von Ordnung aufrechterhalten, solange es nicht zu einer gewissen Verdichtungsstufe des Rechts gekommen ist; ist sie aber erreicht, so schlägt alle Freiheit in die notwendig schematisierende, vergleichende, rechtliche Gleichheit um, von deren besonderer Rechtskonformität im folgenden die Rede sein wird. Mit Sicherheit ist dieser Umschlag, dieser point of no return erreicht, wenn stärkeres Kodifikationsdenken einsetzt. Dann muß die Freiheit als Grundlage des Rechtes aufhören, und diese Grenze ist wohl auch in den angelsächsischen Ländern bereits überschritten. e) "Freiheit als Recht" verlangt im übrigen, daß es große Räume tatsächlicher Freiheit gebe, sehr viel (noch) Außerrechtliches, vom Recht noch nicht in Ordnung Erreichtes. Wenn jenseits der Zäune nicht sogleich die Grundstücke anderer Bürger, anderes Eigentum beginnt, dann sind diese Zäune auf Freiheit errichtet, Ausdruck echter Libertät, denn ihre Bedeutung erschöpft sich ja darin, Freiheit zu sichern. Dieses Bild erklärt auch, weshalb die amerikanische Rechtsordnung des vergangenen und des beginnenden 20. Jahrhunderts wirklich als eine Ordnung nicht nur in, sondern der Freiheit erscheinen konnte - hinter ihr stand stets der große weite Raum "des Westens", der unbegrenzten Möglichkeiten, der Ausdehnungsfähigkeit des potentiellen Freiheitsgegners in andere Bereiche. Dann aber mußte das Recht zwar einzäunen, nicht aber teilen. Dies alles führt doch wohl zu folgendem Ergebnis: Aus rechtlicher Sicht erscheint die Freiheit als eine Art von historischer Vorstufe der Gleichheit. Es gibt einen typischen "rechtlichen Freiheitszustand" - geringe Normdichte, große, vom Recht noch nicht erreichte Außenräume. Ist dieser Zustand überholt, durch normative Verdichtung oder durch das Schwinden der außerrechtlichen, natürlichen Freiheitsräume, so beginnt die zweite Zeit, die der Gleichheit. Und vieles spricht dafür, daß heute überall diese Gleichheitsstufe bereits erreicht ist. f) Historisch mag die Freiheit der Gleichheit im Rechte vorangehen. Dies bedeutet bereits letztlich den höheren Rang der Gleichheit, weil eben alles historisch "auf sie zuläuft". Und eine echte Priorität hat die

1. Der Gegensatz von Freiheit und Rechtsidee

113

Egalität gegenüber der Libertät von vorneherein in der Dogmatik: Gleichheit ist der Kernbegriff des objektiven, Freiheit nur der des subjektiven Rechts. Freiheit wird, ihrem Wesen nach, stets auf Anspruch hinauslaufen, gegen den Nebenbürger wie gegenüber dem Staat. Darin liegt ihre besondere Schwäche aus der Sicht der Rechtsidee: Denn diese subjektive Freiheit muß ja immer, soll sie überhaupt geltend gemacht werden, eine Stütze im objektiven Recht finden, das, jedenfalls logisch, vor ihr da ist, ihr an Geltungskraft überlegen bleibt. Das objektive Recht, die Rechtsordnung aber kann eben nicht auf Freiheit gegründet werden, weil dieses Recht unabhängig von Ansprüchen bestehen muß. Als eine ruhige, in sich ruhende Ordnung ist dieses objektive Recht wesentlich eine Form der Verteilung von Mächtigkeiten und Zuständigkeiten. Damit aber denkt das objektive Recht ganz wesentlich in den Kategorien von Gleichheit und Ungleichheit, nicht von Freiheit und Unfreiheit. Es verteilt und vergleicht und damit - egalisiert es ganz wesentlich, wenn es nicht ausnahmsweise inegalisiert. Das subjektive Recht - und damit alle Freiheit - kann kommen und gehen, das objektive Recht, sein Haupt und seine Stütze, damit aber die logisch aus der Rechtsdogmatik heraus vorgängige Gleichheit, sie muß bestehen. Subjektive Rechte und Freiheiten stehen, staatspolitisch betrachtet, zur Disposition der Entwicklung, sie gefährden nicht den Staat, allenfalls Gesellschaft und Kulturzustand, wenn sie sich abschwächen oder wandeln. Der Kern des objektiven Rechts, der Gleichheits- und Machtzuteilungsgedanke jedoch, muß stets unwandelbar erhalten bleiben. In Gleichheitskategorien müssen also Juristen stets notwendig denken, nicht in Kategorien der Freiheit. g) Es mag als eine Stärke der Freiheit erscheinen, daß sie sich auflösen lassen kann in viele kleinere "Freiheiten". Doch darin kommt auch eine dogmatische, ja eine ideelle Schwäche des Freiheitsbegriffs selbst im Recht zum Ausdruck:. Von "vielen Gleichheiten" hingegen wird nicht gesprochen - wie von ungefähr: Irgendwie ist die Gleichheit stets eine, sie tendiert auf eine große Zentralidee zu, der sie schrittweise angeglichen werden kann, der ja auch ihre vielfachen Einzelzustände schrittweise angenähert werden. Die Gleichheit hat daher als rechtlicher Begriff immer etwas Globales, Integrierendes, Freiheit etwas Aufspaltendes, Desintegrierendes. Und die Gleichheit ist darin nicht nur die große, sondern die größere Idee, daß sie es ja ist, die erst die vielen Freiheiten zusammenordnet und damit möglich macht. Freiheiten ohne Gleichheitsdenken sind unvorstellbar; umgekehrt aber kann es die Gleichheit auch ohne bedeutsame Freiheiten geben, weil die Gleichheitsidee eben auf einer weit höheren rechtlichen Ebene 8 Le1sner

114

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

angesiedelt ist als alle Freiheit. Die Gleichheit verlangt im Recht nur Minimalfreiheiten, die Umkehrung dieses Satzes gibt es nicht. Weil also die Gleichheit näher bei der Rechtsidee steht als die Freiheit, wird sich bei stärkerer Verrechtlichung, die ja die ganze neueste Zeit kennzeichnet, stets auch ein stärkerer Egalitätszug einstellen müssen, während die Freiheit aufgespalten und in Minimalfreiheiten zurückgedrängt wird. 2. Gleichheit als "Gerechtigkeit" Wie der Arzt selten von der Gesundheit spricht, so redet der Jurist nur wenig von der Gerechtigkeit - immer weniger. Doch wenn er sie nennt, so meint er meist nur eines: die Gleichheit.

a) Suum cuique - allen das Gleiche Gerechtigkeit ist zum formalen Begriff geworden, seit eine immer stärkere Wertentleerung im Recht stattgefunden hat. Solange religiöse, weltanschauliche oder doch soziale gemeinsame W ertvorstellungen da~ Recht prägen konnten, es mit einem Gerechtigkeitsmantel umgaben, konnten aus der Gerechtigkeitsidee selbst konkrete Lösungen für Einzelfälle, für ganz individuelle Situationen abgeleitet werden. Ehescheidung erschien als ungerecht in einem konkreten Fall - die Enteignung als Verstoß nicht nur gegen ein Grundrecht, sondern gegen die Gerechtigkeit selbst. Mit der zunehmenden Bestreitbarkeit all dieser materialen Wertgedanken, mit dem viel erörterten, gepriesenen und kritisierten Verfall der gemeinsamen Wertvorstellungen, letztlich der Wertideen als solcher, ist von der Gerechtigkeit nichts mehr übriggeblieben als eine formale Hülle, d. h. aber - Gleichheit. Deutlich kommt dies schon in der antiken Resignation einer Gerechtigkeit als suum cuique zum Ausdruck; in diesen zwei Worten liegt der ganze übergang von der früheren, werterfüllten, freiheitsgeladenen Gerechtigkeitsvorstellung zur späten, formalisierten, egalisierten - im Übergang vom "suum", dem individualisierten Eigenen, zum "cuique", der Forderung, daß jedem das Seine zuteil werden solle. Dies ist die Gerechtigkeitsentwicklung der Rechtsgeschichte: Vom suum cuique bleibt nur das cuique. Jeder hat dann das Seine, wenn jedem das Gleiche zugeteilt ist. Nur darin behält ja diese Gerechtigkeitsvorstellung noch irgendetwas - nicht Inhaltliches, sondern überhaupt nur Praktikables, Sinnhaftes: in der Zuteilung gleicher Güter, gleicher Macht an alle. Denn wenn man das "Seine" dazunehmen, ernstnehmen wollte, so wäre das suum cuique ein leerer, wenn nicht ein tautologischer Begriff: Hinter ihm stünde dann sogleich die eigentliche, drängende Frage, was denn nun das "Seine" sei, das jedermann in Anspruch nehmen könne. Gerade

2. Gleichheit als "Gerechtigkeit"

115

wer also aus der Gerechtigkeit noch irgendetwas mehr als reinen Formalismus ableiten will, der muß zur "Gerechtigkeit als Gleichheit" kommen. Eine neue List der Vernunft der Gleichheit: Ihr Gebot zu nivellieren erscheint als das einzig noch Sinnhafte, Werthafte, Praktikable der Gerechtigkeit und des Rechts. Gerade wer aufsteht gegen den leeren Positivismus, der muß dies eigentlich tun im Namen der Gleichheit. Welche politische Stoßkraft eine Gleichheit hat, die sich als Gerechtigkeit ausgeben kann, bedarf hier keiner Vertiefung. b) GZeichheitsverZetzung - der einzig deutliche Gerechtig keitsversto ß

Die Gleichheit als einzig praktikable Form der Gerechtigkeit - dies läßt sich noch weit besser belegen: Im Gleichheitsverstoß wird die Ungerechtigkeit besonders, wenn nicht überhaupt erstmals deutlich. Wann immer, in den Beratungsräumen von Gerichten oder Verwaltungen, letztlich das Wort fällt, dies oder jenes sei doch einfach ungerecht, könne weder Sinn des Gesetzes noch Wille der politisch Herrschenden sein - fast immer wird hier, sieht man näher zu, nur eines angesprochen: ein elementarer, evidenter Gleichheitsverstoß. Wenn eine Rechtsanwendung besonders große Unterschiede zwischen Bürgern hervorruft oder erhält, wie rasch ist man nicht bereit, darin dann eine "Ungerechtigkeit" zu sehen, weil das für alle gleiche Gesetz solches doch nicht gewollt haben könne; droht sich die Staatsgewalt geradezu übermächtig durchzusetzen gegenüber dem Bürger, so ist man leicht geneigt, in diesem größeren Machtabstand, letztlich in dieser Ungleichheit der Rechtsträger, einen Verstoß gegen die Gerechtigkeit selbst zu erblicken. Nicht die Freiheit als solche ist es also, die als Ausdruck der Gerechtigkeit erscheint, sie wird nur dann bemüht, wenn sie allzuweit zurückgedrängt wird, wenn die Freiheitsverletzung in Gleichheitsverstoß umschlägt. In diesem Gleichheitsverstoß wird eben die Rechtsverletzung, die Unsinnigkeit einer bestimmten Rechtsanwendung oder -auslegung, erst evident, sinnfällig in dem Vergleich mit all den anderen, gleichgelagerten Fällen. An der Verletzung der individuellen, höchst persönlichen Freiheit irgendeines Bürgers ist nichts " Ungerechtes" , warum sollte er sich nicht noch etwas weiter beugen können? Der Gleichheitsverstoß aber wird sogleich an der Schablone der "vielen anderen" deutlich, ja eindeutig, darin aber erst wirklich ungerecht. Die "Abweichung" hat eben etwas Quantitatives. und alle Evidenztheorien, wo immer sie im Recht auftreten, wirken stets nur letztlich überzeugend durch eine quantitativ feststellbare Abweichung. Wie nutzlos ist etwa das Bemühen der Gerichte, den doch so lastenden Zugriff der Abgabengewalt auf den Bürger mit den Waffen der Freiheit S·

116

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

abzuwehren - sie soll nur dann gebrochen sein, wenn in seinen Vermögensverhältnissen eine "grundlegende Veränderung" die Folge ist, wenn er also in den vollen wirtschaftlichen oder sozialen Ruin getrieben wird; dann erst reagiert das Freiheitskriterium mit Gerechtigkeitsmacht - d. h. erst, wenn die Freiheit vernichtet ist. Wie leicht ist dagegen die Feststellung des Verstoßes gegen die Steuergleichheit als Steuerungerechtigkeit, es genügt, die Schablonen einiger anderer Nebenbürger heranzuziehen; selbst der Jurist von mäßigem Verstande kann ohne jede philosophische Erwägung entscheiden. Denn es ist eben ein Gerechtigkeitsverstoß, eine "elementare Rechtsverletzung", die hier im Bruch der Gleichheit evident wird. Ungleichheit als Ungerechtigkeit korrigiert das Recht mit ungeahnter Schnelligkeit und Präzision - hier wirkt das Gerechtigkeitsurteil auch politisch voll überzeugend. Die Bewahrung von Individualität und Freiheitsspielräumen mit den Mitteln des Rechts führt nicht selten zu einem Ergebnis, das die vielen, bereits Gleichen als Ausdruck der Geheimnisjurisprudenz, als Zufallsprodukt, wenn nicht als typisch juristisches Kuriosum kopfschüttelnd registrieren. Die evidente Gleichheit hat immer die überzeugungskraft der Gerechtigkeit für sich, deren letztlich eben das Recht nicht entraten kann. c) "Soziale Gerechtigkeit": nichts als Gleichheit Wie weitgehend schließlich bereits Gleichheit und Gerechtigkeit, mit mächtiger politischer Wirkkraft, gleichgesetzt werden, zeigt das Wort von der "sozialen Gerechtigkeit". Dies sind doch nur zwei Worte für ein drittes - für die Gleichheit; und nicht nur im Munde von Gewerkschaftsvertretern und ihnen nahestehenden Politikern, sondern heute schon im allgemeinen Sprachgebrauch. Kaum ein größerer semantischer Sieg ist Predigern der Nivellierung gelungen, als diese verbal belegte Überzeugung der Gemeinschaft, daß eben der allzu große Unterschied" nicht nur gegen die Gleichheit oder die Sozialstaatlichkeit verstoße, daß er vielmehr schlechthin eine Gerechtigkeitsverletzung sei. Was ist auch schon "allzu groß" an Unterschieden? Je mehr eingeebnet wird, desto kleiner wird doch mit Notwendigkeit auch das "allzu Große". Und dieser semantische Triumph wird, gerade in letzter Zeit, noch größer: Es bedarf gar nicht mehr des Zusatzes des "Sozialen" - Gerechtigkeit selbst steht bereits für nichts anderes mehr als Gleichheit. Was man täglich in Gazetten lesen kann, verlangt keinen Beleg mehr... So kann denn der Gleichheitsstaat von sich nicht nur behaupten, er sei in höchster Weise rechtskonform, er umgibt sich mit der Weihe des besten Begriffs, den noch immer das Recht kennt - Gleichheit ist Gerechtigkeit.

3. Gleichheit - Verstärkung der Herrschaft durch Normativismus

117

3. Gleichheit - Verstärkung der Herrschaft durch Normativismus Das mächtigste moderne Herrschaftsinstrument ist die Norm. In ihr wirkt die Gleichheit in voller Rechtskonformität; im Normativismus intensiviert sich ihre Macht.

a) Norm als Gleichheit Jede Norm ist ja ihrem Wesen nach letztlich nichts als Gleichheit Herstellung von mehr oder weniger größeren Teilegalitäten nach der Schablone des gewählten Sachverhalts. Durch die Norm werden selbst die Ungleichheiten in die größere Gleichheit eingebaut, an ihr erst im Vergleich meßbar und erträglich. Die Steuergleichheit ist das große Oberprinzip, nur in ihrem Namen kann es überhaupt aufrechterhaltene kleinere Freiheitsräume, Steuerprivilegien, Sondergestaltungen geben, und auch sie müssen immer wieder der Gleichheit ihren TatbestandsTribut zahlen - auch sie sind eben nur durch Normen zu erhalten. Auf zwei Stufen wirkt die normative Egalitätsentscheidung: In der Norm gewordenen Gleichheitsentscheidung selbst, im Erlaß des rechtsändernden Gesetzes - und in seiner Anwendung, in der Subsumtion des Einzelfalles unter diese egalisierende Tatbestandskategorie. Denn in der Gesetzesanwendung wird ja die Gleichheitsidee des Gesetzgebers noch weiter fortgedacht, wie unten noch näher zu verdeutlichen ist. Ohne diese normativen Gleichheitsformen, in denen die Ungleichheiten begrenzt werden, kann es moderne Herrschaft überhaupt nicht geben. Normschaffung und Normanwendung sind ununterbrochene Gleichheits-, Angleichungsvorgänge, damit aber, als solche, Ausdruck der Gleichheitsherrschaft. Selbst in der Ausnahme, im Sondertatbestand, liegt wieder ein Streben nach Gleichheit; die Ausnahme ist ja nur eine Gleichheitsdurchbrechung auf niederer Stufe - ad maiorem superioris aequalitatis gloriam, zur Herstellung höherer Gleichheit. b) Normativismus - Selbstverstärkung der Gleichheit

Entscheidend ist nun: Durch das normative Recht verstärkt sich die Gleichheitsgewalt notwendig und ständig, das Recht wird letztlich zu nichts anderem, als zu einem Instrument der Gleichheitsverstärkung. Immer lauter ertönen, dies wurde bereits bemerkt, die Klagen über den lastenden, sich verdichtenden Normativismus, über das immer feinere Netz der Gesetze und Verordnungen, das der Bürger nicht mehr durchschauen könne, in dem sich Verwaltung und Gerichte Räume für neue, willkürliche Gewalt ausbauten. überzeugend ist in der Rechtslehre dargelegt worden, daß es hier etwas wie ein Parkinsonsches Gesetz des Normativismus gebe, daß mehr Gesetze notwendig immer noch mehr

118

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

Gesetze hervorbringen müßten. Doch man bliebe bei oberflächlicher Analyse stehen, wollte man hier nicht das eigentlich Wirksame in dieser Eigengesetzlichkeit erkennen: die Gleichheit, welche sich selbst verstärkt und das Netz der Normen verdichtet. Der "Fortschritt" von Gesetz zu Gesetz, von Verordnung zu Verordnung wird ja vor allem deshalb nötig, damit nicht für einen Bereich durch Gesetze Ungleichheiten geschaffen werden gegenüber dem anderen, der nicht entsprechend geregelt ist. Wenn die Errichtung und Erhaltung öffentlicher Kinderspielplätze geregelt ist, so muß dies bald auch für die privaten geschehen; werden besondere Bauvorschriften für bestimmte Werksanlagen erlassen, so kann es nicht lange dauern, bis alle derartigen Kategorien ihre Normierung gefunden haben. Viele sehen darin eine Bewährung der Freiheit, weil ja die Vielfalt der gesetzlichen Bestimmungen nur einem diene - der Schaffung und Aufrechterhaltung von Besonderheiten. In Wahrheit aber, und dies ist die große, wenig bemerkte Entwicklung der Gleichheitsmacht, verstärkt sich hier, insgesamt und zuletzt betrachtet, doch nur wiederum die Nivellierung. Denn die neuen Gesetze werden eben eingesetzt, um die noch nicht erfaßten Tatbestände einzubeziehen; je dichter das Netz der Gesetze wird, desto mehr Anknüpfungspunkte für neue Egalitäten werden sichtbar, die sogleich durch weitere gesetzliche Fäden egalisierend verbunden werden müssen. Unter Aufrechterhaltung mancher Besonderheit sicher, insgesamt aber doch in immer weitergehender Nivellierung; schon damit die vielen Gesetze nicht "allzu kompliziert seien" .... Darin bereits wird schließlich eine Ungleichheit und damit letztlich Ungerechtigkeit gesehen, daß der eine Bereich gesetzlich geregelt ist, während es für den anderen noch keine Normen gibt. Wenn es dazu kommt, dann ist die Gleichheitsgewalt schon weit vorgedrungen, im Namen der Gleichheit muß immer weiter normativiert werden. Und wie dies laufend geschieht, zeigen manche Klagen von Privaten oder Verbänden, sie hätten "ihr Gesetz" noch nicht, während es andere, vergleichbare Sektoren bereits erreicht hätten; fehlende Regelung erscheint als anstößige Ungleichheit. Mathematisches Denken könnte hier eine Gleichheitsverstärkung in geometrischer Proportion feststellen: Mit jedem Gesetz wird ein Vielfaches an Anknüpfungspunkten für neue Gesetze geschaffen, für die Herstellung neuer Gleichheiten; und da die Gleichheit gut ist - ein Zwang zu massiver, geometrisch fortschreitender Normativierung.

4. Der Richter - Hüter und Verstärker der Gleichheit

119

4. Der Richter - Hüter und Verstärker der Gleichheit a) NiveZlierung durch richterLiche RechtsfortbiLdung Die Gerichtsbarkeit ist die Fortsetzung des Normativismus im Einzelfall, zugleich die zentrale Rechtsinstanz, das persongewordene Recht. In der Aktivität des Richters setzen sich daher, ihm selbst meist unbewußt, alle jene Nivellierungstendenzen laufend fort, bis in den Einzelfall hinein, welche im Phänomen des Normativismus selbst angelegt sind. Die Nivellierung durch Gesetzesflut wird fortgetragen durch Einebnung in den zahllosen Kanälen des Rechtswegestaats. Zunächst ist es ja der Richter, der das Gesetzesnetz überhaupt wirksam werden läßt, der es laufend noch enger knüpfen und damit bereits jene normative Gleichheit verstärken muß, von der vorstehend die Rede war. Dies aber geschieht in einer typischen Gleichheitsatmosphäre: Das höchste Gesetz, das erste für den Richter, ist die Gleichheit, die gleichmäßige Anwendung des Gesetzes auf alle Bürger. Von dieser Grundstimmung aber ist nur ein Schritt in eine andere: die Herstellung der Gleichheit zwischen den Bürgern durch Anwendung des Gesetzes, in der egalisierenden, nivellierenden Interpretation. Zu ihr wird der Richter durch das gesamte System der Gerichtsbarkeit genötigt. Zwar entscheidet er den Einzelfall, doch er schafft das Präjudiz; dann aber muß er bei jeder Entscheidung an Konsequenzen denken, an zahlreiche oder zahllose Fälle, die auf Grund der Maximen seines Urteils "gleich" entschieden werden müssen. Deshalb also kann er nicht allzu sehr die Besonderheiten eines Einzelfalles herausstellen, weil daraus entweder der Vorwurf der gesetzesfreien Willkür erhoben würde, oder weil sonst aus seiner Entscheidung vielleicht "zu weitgehende Folgerungen" gezogen werden könnten, und zwar nicht einebnende, sondern entnivellierende: Es käme zu neuen "Ungleichheiten"; vor nichts aber hat die Gerichtsbarkeit größere Sorge. Deshalb muß in jedes Judizieren eine egalisierende Grundstimmung hineingetragen werden, die man, mit einern schönen Wort, Ausgewogenheit nennt. Am besten bewährt sie sich, wenn sie jedem nicht notwendig das Gleiche, jedem aber doch "irgendetwas" wenigstens beläßt, in diesem Sinne also bereits etwas von NiveIlierung bringt. Die nivellierende Auslegung liegt jeder Gerichtsbarkeit schon deshalb nahe, weil sie zugleich die wenigst arbeits aufwendige, die bequemste ist; und dies ist ein Wort in einer Zeit immer größerer überlastung der Gerichte. Ähnlich zu judizieren wie bisher schon, den heutigen Fall dem früheren anzugleichen, Entscheidungsketten zu bilden - das ist eine letztlich unwiderstehliche Versuchung angesichts zahlloser, stets unter-

120

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

schiedlich gelagerter Fälle, die sich unter der Zensur der höheren Gerichte nur noch verstärkt. Der Richter wird immer entindividualisieren, damit aber egalisieren müssen, soll seine Rechtsprechung unangreifbar werden in einer pluralistischen Gesellschaft, mit all ihren vielen gesellschaftlichen und politischen Pressionen. Was könnte er wirksamer dem allem entgegensetzen als den Nachweis, es sei in diesem Fall nicht anders entschieden worden, als in vielen, zahllosen anderen? Der Richter zieht sich damit nur in die stärkste soziale Festung zurück, in die der Gleichheit; hier wird ihm etwas von der politischen Schutzmacht der Egalität zuteil, hier genügt sein Wille ohne allzu schwierige Begründung - eben aus der Gleichheitsmacht heraus. Wenigen Richtern nur wird es bewußt sein, daß sie in dem, was sie als den Ausdruck der Gerechtigkeitsmathematik empfinden, nur Vollstrecker des politischen Gleichheitswillens sind; denn indem sie den einen Bürger genauso bescheiden, wie den anderen, obwohl doch sein Fall eigentlich "etwas" anders liegt, haben sie ein kleines großes Stück Freiheit der größeren Gleichheit geopfert.

b) Der schwächerenschützende Richter Die Herrschaft der politisch gewichtslos scheinenden Gleichheit durch die "politisch gewichtslose Gerichtsbarkeit", den "Pouvoir en quelque fa~on nul", der doch letztlich und auf Dauer die großen Ausschläge bewirkt - sie zeigt sich in zahllosen Phänomenen der täglichen Gerichtspraxis. Sie lassen sich vielleicht in einem Eindruck zusammenfassen: Es muß heute vor die Gerichte der egalitären Demokratie schon ein großer, ein massiver Unterschied gebracht werden, damit er anerkannt, richterlich bestätigt, nicht eingeebnet werde in Angleichung an die vielen anderen Fälle, die zahllosen anderen Bürger. Der "außerordentliche Fall", in dem sich doch sehr häufig Individualität und damit Freiheit bewährt, ist an sich nicht die eigentliche Domäne des Richters, nicht die Stärke seiner geistigen Leistungsfähigkeit. Der Richter ist vielmehr die Instanz der Angleichung in allem und jedem: Er gewährt vor allem den Schwächerenschutz in seinen vielfachen Formen, von der Räumung des Mieters bis zu der Kündigung des Arbeitnehmers; und er ist gerecht genug, die Schwächerenrollen auch gelegentlich zu vertauschen, anzuerkennen, daß der Vermieter der Schwächere geworden ist. Immer fühlt er sich, gerade als der "gerechte" Richter, als Ausgleichsinstanz, nicht zuletzt auch in jenem prozessualen Geschehen, in dem er stets dem schlechter beratenen Vertretenen mehr an Rat und Hilfe wird zuteil werden lassen, als dem anderen, welcher sich den bedeutenden Anwalt leisten kann.

4. Der Richter - Hüter und Verstärker der Gleichheit

121

Das ganze Recht des unlauteren Wettbewerbs, des gewerblichen Rechtsschutzes ist weithin zu einer Fonn richterlichen Schwächerenschutzes für Kleinunternehmer und Verbraucher geworden; und wenn es nach dem Willen politischer Gleichheitsfreunde geht, so soll sich dies immer noch weiter verstärken. Darüber hinaus breitet sich im ganzen Zivilrecht, ja im öffentlichen Recht jener Grundsatz von Treu und Glauben schwächerenschützend aus, der doch in den Anfängen der BGB-Judikatur überwiegend ganz anders verstanden worden war - als ein Zwang zur Konsequenz, als eine Absage an unmoralische Rechtsausübung. Wenn diese moralischen Werte zerbrochen sind, so bleibt eben nurmehr eines: die Reduktion der Werte auf die Gleichheit, und sie findet hier durch den Richter statt. Weitere justizielle Egalisierungsvorgänge laufen in jenen vielfachen Abwägungen ab, in denen ja immer nur die Einebnung allzu großer Unterschiede bewirkt wird; oder darin, daß sogenannten "Persönlichkeitswerten" der Vorrang gewährt wird vor Vermögenspositionen, wobei dann natürlich das Persönliche meist weit stärker egalisiert erscheint, als die wesentlich ungleiche Vermögenslage; oder schließlich darin, daß der "Rechtsfrieden" bewahrt werden soll, der ja in der Regel nur durch größere Ungleichheit gestört wird. c) Gerichtsbarkeit- Verstärkung und Verschleierung

der Gleichheitsmacht

Daß also durch die Gerichtsbarkeit laufend Nivellierung in großem Umfang und an allen Fronten erfolgt, wird sich kaum bestreiten lassen; doch wird hier wirklich Macht ausgeübt, ist diese justizielle Gleichschaltung der Bürger ein Machtinstrument des Gleichheitsstaates, das mit jener gezielten Bewußtheit eingesetzt werden kaIUl, ohne die es eigentliche politische Macht nicht geben kann? Der liberale Rechtsstaat hat dies immer geleugnet. Für ihn ist eben die Gerichtsbarkeit das völlig Gewichtslose, Machtlose, Ungezielte, in dem soz. die blinde Justitia ausgleicht, aber nicht wirkt. Schon der Marxismus hat diese Machtverniedlichung in der Majestät einer bewegungslosen Gerechtigkeitsgöttin kritisiert. Durch die starke Gesetzesbindung der Gerichtsbarkeit, die sich ja in den letzten Jahrzehnten mit der Zunahme des Normativismus notwendig verstärkt und dem Richter nur noch engen Raum zu eigener, konstruktiver Entscheidung läßt, wird die Justiz immer mehr zum verlängerten Ann des mächtigen Gleichheitsstaats. Dessen politische Entscheidung wird in den Urteilen zwar als zerkleinerte Herrschaft weitergegeben, doch dies ändert nichts daran, daß in ihrer Nivellierungswirkung Machtausübung bleibt. Die eigentlichen politischen Nivellierungsmotive des Gesetzgebers, der Herrschenden, mögen in solcher Einzelfallentscheidung zurück-

122

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

treten, nicht mehr diskutiert werden; doch in dieser Ausführung im Einzelfall geht die Herrschaftssubstanz des Gleichheitsstaates keineswegs verloren. Erreicht wird vielmehr eine neue, viel feinere Herrschaftsform, eine Einebnung in der "Justizförmigkeit der Herrschaft". Der politische, nivellierende Herrschaftswille wird verdeckt durch die Einzelfallentscheidung, die doch, so scheint es, von einer unpolitischen Instanz getroffen und niemals auf sozialgestaltende Gleichmacherei gerichtet sein kann. Daß es dem Gleichheitsstaat gelungen ist, sich auch hier durchzusetzen, diese tatsächlich subjektiv noch nahezu völlig unpolitische Justiz in sein Gleichheitswirken aufzunehmen, das ist eine seiner größten politischen Leistungen. Es findet hier die schönste, vollkommenste Machtverbrämung, Gewaltverschleierung statt, die sich ein harter Gleichheitswille wünschen kann, in der vornehmen Aktion der unbewußten richterlichen Helfer - die übrigens auch keinerlei Alternativen hätten, wäre ihnen ihr Wirken voll bewußt. Der Marxismus hat die "bürgerliche Klassenjustiz" angegriffen, den Richtern vorgeworfen, sie setzten ihre außerrechtlichen, gesellschaftlichen überzeugungen auch gegen den Willen der politischen Gewalten durch. Heute findet eher das Gegenteil statt, und in einer weit subtileren Weise: Mögen nun die Richter noch "bürgerliche Klassenjustiz" exerzieren wollen oder nicht, sie sind, ohne ihren Willen und meist ohne ihr Wissen, bereits eingespannt in eine große Machtmaschine des Gleichheitsstaates, sie betreiben Klassenjustiz mit umgekehrten Vorzeichen, justizielle Nivellierung wider Willen. Der höchst rechtsförmige Gesetzesstaat der Gleichheit erweist sich auch hier als die viel stärkere Macht gegenüber den schwächlichen Versuchen der bürgerlichen Notabel. Und er setzt nicht den einzelnen Richter ein, sondern die Justizmaschine als solche, sie aber und ihr Wirken überdauern gelegentliche Rückschläge, Restaurationen; sie werden auch dann noch weiter nivellieren, wenn eine politische Richtung für kürzere Zeit eine Entzerrung übersteigerter Gleichheiten versucht. Langfristigkeit und Unmerklichkeit und alle die vielen anderen Vorzüge des Gleichheitsstaates, treten kaum je so deutlich in Erscheinung wie in der justiziellen Nivellierung der Gesellschaft. 5. Die Verwaltung als Instrument des Gleichheitsstaates Die Verwaltung ist das Zentrum der Herrschaft, das erste Instrument der Herrschenden. So nimmt es nicht Wunder, daß hier egalisierende Formen besonders weit entwickelt worden sind; das neuere Verwaltungsrecht wird, gerade in seinen rechtsstaatlichen Ausprägungen, zum Hebel der Nivellierung.

5. Die Verwaltung als Instrument des Gleichheitsstaates

123

Hier wird übrigens die ganze Bedeutung der Wende vom früheren Staat der feudalen Ungleichheit zum Gleichheitsstaat deutlich: Jene selbe Exekutive war ja früher die Ungleichheitsgewalt par excellence: Sie verteilte Orden, Güter und Privilegien, ihr großes Ermessen war die große Gewalt zur Ungleichheit. Die Verrechtlichung der Exekutive ist der entscheidende rechtliche Durchbruch zur Egalität.

a) Egalität durch Legalität Die Legalität ist das große Programm dieser verwaltungsmäßigen Egalisierung. Ursprünglich sollte die Bindung der Administration an die Gesetze entscheidenden Freiheitsgewinn bringen; ihre eigentliche Wirksamkeit hat sie dagegen in der Verstärkung der Gleichheit gefunden. Die an sich doch frei gestaltende und insoweit zu Ungleichheiten tendierende Verwaltung wird durch die Legalität in gewisser Hinsicht in die oben beschriebene Rolle der Justiz gedrängt, in die der Herrschaftsverkleinerung, des Weiterdenkens der großen Gleichheitsgedanken der Politik im Einzelfall. Wenn immer ein Beamter Freiheit oder Eigentum eines Bürgers berührt - und was könnte er noch gestalten, ohne derartige Berührungen - es muß auf der Grundlage des Gesetzes geschehen, vor allem mit Blick auf seine Gleichheitswertungen, die doch die Regel sind. So wird die Bauverwaltung nur selten eine besondere Baugestaltung genehmigen, und immer mit dem typischen GleichheitsWiderwillen, weil sie ja besorgen muß, daß sich morgen zahllose andere Bürger darauf berufen werden, im Namen einer Gleichheit, welche die im Einzelfall gerechtfertigte Entscheidung ad absurdum führen würde. In allen Bereichen muß die Verwaltung mithelfen zu nivellieren, bis hin, nicht selten, zur Verödung, weil sie den Wertungen der nivellierenden Normen unterworfen ist, dem meist entschlossenen Gleichheitswillen der politisch Herrschenden und, nicht zuletzt, der einebnenden Zensurwirkung der Judikative, von welcher oben die Rede war. Die vielgepriesene Bindung der Verwaltung an die Gesetze wirkt also, letztlich, vor allem als ein großer Gleichheitsfilter, der vor die gesamte Staatstätigkeit gelegt ist: Die Verwaltung hat die alte königliche Freiheit des Landrats verloren, sie ist zur emsigen Gleichheitsverwirklichung geworden, in ihren vielen, ineinandergreifenden Instanzen zur echten Legalitätsmaschine. Ein Wort steht über ihr: Egalität durch Legalität. b) Egalitäre Machtverstärkung im modernen Verwaltungsrecht

Vielfache Beispiele für die egalitäre Machtverstärkung im Verwaltungsrecht lassen sich anführen: - Die Durchnormativierung des gesamten Verwaltungshandelns bewirkt an sich schon eine verstärkte Unterwerfung der Verwaltung

124

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt unter den politischen Willen. In der Vereinheitlichung und Straffung des Verwaltungshandeins, über die vielen, immer mehr schematisierten Tatbestände, wird die Machtausübung weit leichter und reibungsloser. Eine Verwaltung, die nicht streng gesetzesgebunden wäre, könnte man sich heute als eigentliches Machtinstrument kaum mehr vorstellen.

-

In der zunehmenden Verordnunggebung findet dies besonders deutlichen Ausdruck. Durch die Verordnungsgewalt wird die Gleichheit bis in die letzten Verästelungen hinein durchgesetzt; eine nähere Analyse dieser Rechtsverordnungen würde zeigen, daß sie vor allem eine Funktion erfüllen: Sie geben der Verwaltung Gleichheitsmaßstäbe an die Hand. Wesentlich daran ist, daß es die Verwaltung selbst ist, die sich hier egalisierend betätigt. Ihr Behördenapparat hat ein ganz anderes Gefühl für die Notwendigkeiten des reibungslosen Vollzugs der Macht gegenüber egalisierten Bürgern als etwa ein Parlament, in dem trotz allem immer wieder gesellschaftliche Ungleichheiten zu Ausnahmetatbeständen führen - die Verordnunggebung muß vom Gesetzgeber nach Zweck, Inhalt, Ausmaß beschränkt werden; darin wird eine rechtsstaatliche Garantie gesehen. Zu wenig ist jedoch erkannt, daß gerade auf diesem Wege der Verordnunggeber in Gleichheit gebunden wird; denn in aller Regel kann der Gesetzgeber ihm ja Ermächtigungen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung von Ungleichheiten in so allgemeiner Form kaum geben. Bedeutendere Ausnahmetatbestände müssen in den Gesetzen selbst geregelt werden. Die Verwaltung wird daher, gerade durch die strenge Kontrolle dieser Gesetzesabhängigkeit der Verordnungen, in besonderer Weise in die Gleichheit gezwungen - und sie geht diesen Weg durchaus nicht ungern, erleichtert er doch das Verwaltungshandeln.

-

In den Verwaltungsverordnungen, welche die eigentlichen "noch gesetzesfreien, internen" Räume der Verwaltung ordnen, feiert die Gleichheitsmacht einen weiteren Triumph: Hier geht es ja darum, eine "Verwaltung als selbständige Staatsgewalt" zu verhindern, eine Bürokratie über die Gleichheit an den Willen der politisch Herrschenden zu binden, ohne daß der Gesetzgeber bemüht werden muß. Verwaltungsverordnungen sind also keineswegs in erster Linie ein Ausdruck von "freiheitsbewährender Legalität ohne Gesetz"; in ihnen kommt vielmehr die egalisierende Unterwerfung der Verwaltung unter den politischen Willen der Spitze zum Ausdruck, der in der Ministerialverwaltung gebildet, jedenfalls formuliert wird. Und dieses Disziplinierungsinstrument genügt noch nicht; durch die Gleichheit wird die Freiheit der Verwaltung, in der sich ja etwas von der Freiheit des Bürgers wiederfinden würde, noch weiter einge-

5. Die Verwaltung als Instrument des Gleichheitsstaates

-

-

125

engt: Die Verwaltungsverordnungen werden derart unter den Gleichheitssatz gestellt, daß in ihrer Anwendung die freien Gestaltungsmöglichkeiten der Verwaltung häufig, wenn nicht in der Regel, auf Null herabsinken. Die Egalität wirkt hier als eine Durchsetzung der Legalität bis in die letzten Verwaltungsräume hinein. Nichts anderes drückt sich hier eigentlich aus, als das "Ende des Verwaltungsermessens im Namen der Gleichheit". Die Macht des "königlichen Ermessens", mit dem ja auch Ungleichheiten erhalten werden könnten, sie kann der Gleichheitsstaat nicht dulden. Überall drängt er deshalb die gesetzesunabhängigen Gestaltungsmöglichkeiten der Verwaltung zurück, vor allem in dem politisch besonders wichtigen Wirtschaftsverwaltungsrecht. Dazu wird die Gleichheit ganz offen und unmittelbar über die Kategorie der Selbstbindung der Verwaltung eingesetzt: Hat die Administration ihr Ermessen in einer bestimmten Richtung gebraucht, so kann sie vom Gleichheitsbürger gezwungen werden, diese Lösungen auch auf ihn, auf die vielen anderen Gleichen auszudehnen. Die liberale Staats- und Verwaltungsrechtslehre hat darin einen besonders bedeutsamen Sieg der rechtsstaatlichen Legalität, damit aber der Freiheit gesehen; die böse Verwaltungswillkür, welche man im Ermessen beargwöhnte, sollte hier noch weiter beschnitten, dem Bürger sollten neue Rechtswege erschlossen werden. In Wahrheit arbeitet sich hier nur die Egalität, wie so oft, durch einen Schein der Freiheit zu größerer freiheitsbeschränkender Macht durch: Das Recht des einen Bürgers, sich auf eine Ermessensentscheidung zu berufen, die einem anderen gegenüber ergangen ist, mag ihm zunächst einmal einen kleinen Freiheitsraum gewähren; global betrachtet aber wirkt hier nur eine mächtige, unübersehbare Nivellierung, und zwar mit den typischen Mitteln des Gleichheitsstaates: Ein kleiner Anstoß genügt, um alles gleichzuschalten. Und die Bürgerschaft selbst ist es, die, als ihre eigene Wächterin, über die Rechtswege diese Gleichheitsgewalt noch durchsetzt, gegen sich jedenfalls in dem Sinne, daß ihre Individualität damit immer weiter eingeschränkt wird. Das Ende der "besonderen Gewaltverhältnisse" ist ein weiterer Ausdruck dieser Entwicklung. Den besonderen Beamten-, Soldaten- oder Schülerstatus soll es nicht mehr geben, besondere Rechte soll der Staat diesen Personengruppen gegenüber nicht geltend machen können, man soll sie behandeln müssen wie "jeden anderen Bürger auch", im allgemeinen Gewaltverhältnis. Auch hier siegt wieder die Gleichheit im Namen der Freiheit: Die Zurückdrängung der besonderen Gewaltverhältnisse wurde erstrebt im Namen größerer Freiheit, welche dem Staat keine "rechtsfreien Räume" gestatten wollte; auch der Beamte sollte sich auf Grundrechte berufen dürfen, die

126

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt Post des Schülers nicht mehr ohne weiteres zensiert werden können. Doch das Ergebnis ist auch hier, letztlich, ein egalisierendes, nivellierendes, damit aber doch ein Freiheitsverlust: Denn der Staat darf zwar nun nicht mehr Beamte oder Gefangene "nach Belieben" behandeln, er hat aber auch nicht mehr das Recht, an Hochschüler oder gewisse Beamtenkategorien besondere Rechte zu verleihen, ihre Autonomien, ihre hergebrachten Grundsätze in besonderer Weise zu achten. Denn wenn alles "in gleicher Freiheit" zu behandeln ist, dann ist eben in erster Linie alles - gleichzumachen. Die vielgepriesene Aufhebung des "besonderen Gewaltverhältnisses" ist also nichts als der Ausdruck einer großen Egalisierung.

Der Gleichheitsstaat nimmt also durchaus in dieser egalisierten und egalisierenden Verwaltung das "Ende des Einzelfalles" im Namen der Egalität in Kauf, er verzichtet auf eine seiner großen früheren Prärogativen: die Majestät der Einzelfallentscheidung. Die Fürsten hatten gerade darin den höchsten Ausdruck ihrer Hoheit gesehen, daß sie im Einzelfall, ohne jede Kontrolle, Privilegien austeilen, Gnade vor Recht ergehen lassen - letztlich die Gleichheit durchbrechen konnten. "Ist dies nicht mein Weinberg, ärgert es dich, daß ich gut bin?" - Mit dieser Christusfrage wies der Herr die egalisierenden Forderungen seiner Weinbergarbeiter zurück. Der Gleichheitsstaat hat feinere Vorstellungen von der Macht; er normativiert und egalisiert alles, bis hin zum Gnadenerweis, der zum Rechtsanspruch sich wandelt. Doch gerade darin, und in dem gleichen Recht, auch alles zu verweigern, erhebt sich seine Macht weit höher. Die Machtmaximierung über die Atomisierung der Bürger in der Gleichheit ist eben, aus der Sicht der Herrschaft, mehr wert als die Majestät des gelegentlichen, von Gleichheitsfesseln befreiten Imperiums. Sie will ja auch nicht, wie die Fürsten, "von außen" regieren, sondern von innen heraus herrschen, durch und durch - in Gleichheit. Eine der größten Illusionen der liberalen Rechtsstaatlichkeit liegt darin, daß sie meint, mit jeder Zurückdrängung der Verwaltungsfreiheit Freiheit dem Bürger gewonnen zu haben. In Wahrheit hat sie nur mehr an lastender Gleichheitsmacht geschaffen. 6. "Machtkonzentration nach oben" durch Gleichheit Herrschaft ist nicht nur ein horizontales Problem, sie will nicht nur alles gleichmäßig erreichen; mindestens ebenso stellt sich hier die vertikale Frage: Am besten und stärksten ist jene Macht, die sich an der Spitze konzentrieren kann. Nur einige Bemerkungen mögen zeigen, wie die Gleichheit hier zum mächtigen Hebel der Machtverstärkung wirddurch Staatsorganisationsrecht.

6. "Machtkonzentration nach oben" durch Gleichheit

127

a) "Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse" gegen Föderalismus Die Egalität verstärkt den Zentralstaat, ein Gleichheitsstaat kann letztlich nie wirklich föderalisiert, er kann allenfalls dezentralisiert sein. Denn darin liegt ja der große Unterschied zwischen Regionalismus und Föderalismus: Die Regionen sind immer noch verselbständigte Verwaltungseinheiten, Gleichheitsinstrumente der Verfeinerung; untereinander sind sie, nach Organisation und Aufgabenstellung, bereits soweit egalisiert, daß sie auch nurmehr Gleichheit machtmäßig weitergeben können. Ganz anders die Einzelstaaten: Hier wirkt, nach Tradition, Größe, Leistungsfähigkeit, die große staatsrechtliche Unterschiedlichkeit; solange es Föderalismus gibt, ist der Gleichheitsstaat noch nicht perfekt. Die Einzelstaaten werden als heterogene, damit aber als wesentlich ungleiche Elemente der Staatsgewalt in Kauf genommen, ja postuliert. Von ihnen wird auch nicht notwendig erwartet, daß die Ergebnisse ihrer Gesetzgebungs- oder Verwaltungstätigkeit "reine Egalität" herstellen. So gilt noch immer in der Ordnung der Bundesrepublik Deutschland das Prinzip, daß der Gleichheitssatz prinzipiell zwischen den Ländern nicht anwendbar ist. Weder müssen sie gleiche Bauordnungen haben, noch ihre Schulferien am selben Tage beginnen lassen. Doch gerade hier bricht die Egalisierung ein, die Machtkonzentration an der Spitze des Zentralstaates: Nicht sie selbst geht gegen die Länder vor, diese Protagonisten der Ungleichheit, sie schickt gegen sie den freiheitssuchenden Bürger ins Feuer. Er beschwert sich im Namen der angeblichen "Ungleichheit der Lebensverhältnisse" darüber, daß die Schulen in einem Staate schwerer seien als im anderen; er hat als Beamter nicht geruht und gerastet, bis in jedem Land gleiche Besoldung gewährt - und damit dem Bund die Gesetzgebungskompetenz übertragen wurde. Das Prinzip der Zulässigkeit von Ungleichheiten in den Ländern, ist heute weithin schon nurmehr ein leeres Wort, wenn es nicht der Bund durch seine Gesetzgebung bereits aufgehoben hat. Gleichgeschaltet wurden und werden die Länder gerade durch das größte Freiheitsinstrument: durch die Grundrechte, in deren Namen jeder Bürger in Deutschland von jedem Land das Gleiche an Freiheit verlangt - in Wahrheit nur eines: das Gleiche. Und dies hatten die Länder bereits 1871 gefühlt und deshalb dem Zweiten Reich die Grundrechtskompetenz versagt.

b) Ministerialgewalt im Namen der Gleichheit Bei allen Bundes- und Landesinstanzen findet ein starker Konzentrationsvorgang statt innerhalb der wichtigsten Macht, der Regierungsgewalt der Exekutive. Durch die Ministerialgewalt wird alle Verwaltungsmacht nach oben gesaugt, trotz aller Kommunalisierung und Ver-

128

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

suchen dezentralisierender Gebietsreform. In der Ministerialspitze wird verwaltet im Einzelfall, heute bereits alles Wichtige irgendwie entschieden. Der Weg dahin aber, der große Machthebel der Ministerialgewalt das ist letztlich nur die Egalität. Gleiche Verwaltungsübung muß ja hergestellt werden durch zahlreiche Verwaltungsverordnungen, damit sich der Bürger nicht über das böse Einzelermessen beklage; aus seinem kleinen Freiheitsstreben wird die große, lastende "Gleichheit VOn der Spitze". Die Gesetze können dem Richter, vor allem dem Verwaltungsrichter, nicht ohne weiteres in seinem Ermessen, seiner richterlichen Beurteilung anvertraut werden; auch hier muß die egalisierende Ministerialmacht eingreifen, in einer immer mehr verfeinerten Verordnunggebung. Subventionen können nicht etwa auf niederer Stufe ausgereicht, sie müssen möglichst zentral verwaltet werden, damit die Gleichheit der Lebensverhältnisse gewahrt, "Ungerechtigkeiten", d. h. Inegalitäten, vermieden werden. Und die Ministerialgewalt des Bundes setzt sich hier sogar noch zugleich gegen die der Länder durch: Sie darf alle ihre großen und kleinen Töpfe deshalb verwalten, sie muß es, damit nicht innerhalb der Länder Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten durch die kleineren Ministerialgewalten geschaffen werden. In zahllosen gemischten Kommissionen von Bund und Ländern, in Landesministerkonferenzen auf der Dritten Ebene, in einer Vielzahl von Institutionen, welche weder dem einfachen Bürger, noch dem Spezialisten des Verwaltungsrechts mehr geläufig sind, wirkt in tagtäglicher Erosion im Grunde immer nur eines: die völlige Gleichschaltung der Länder, von Bund und Ländern und zugleich, über diese Bewegung, die Konzentration der Macht bei der Ministerialgewalt des Bundes. Alles geschieht im Namen jener Einheit der Lebensverhältnisse, die nur ein schönes Wort ist für die Nivellierung in der gesamten Republik. Gerade hier kann sich die Gleichheitsgewalt ja berufen auf die dauernden Egalitätsforderungen, welche durch die potenten Medien immer mehr verstärkt werden, die meist "überregional", d. h. aber mit notwendig nivellierenden Forderungen hervortreten. Wiederum aber wird nichts bereitwilliger hingenommen, vom Bürger wie von der Verwaltung, als dieses dauernde Gleichschalten; denn es erleichtert ja die Verwaltungsabläufe, welche die durch Gleichheit selbstbewußt gewordene Bürgerschaft in vielfacher Weise zu stören beginnt. Deshalb: durch Gleichheit zur "Komplikation des rechtebewußten Bürgers", VOn dort zur Forderung nach noch mehr Gleichheit, über mehr überwachungsgewalt an der Spitze.

6. "Machtkonzentration nach oben" durch Gleichheit

129

c) Rechtswegestaat als Zwang zur Machtkonzentration

Jeder Bürger glaubt heute zu wissen, daß Rechtswege Freiheitsgewinn bedeuten. Indem er den Richter bemüht, drängt er den bösen, mächtigen Staat zurück. In Wahrheit hat der Gleichheitsstaat auch mit dieser Freiheitsform schon seinen Frieden, aus ihr noch mehr Machtkonzentration an der Spitze gemacht. Der gestufte Rechtswegestaat, der immer weiter ausgebaute Instanzenzug ermöglicht die Konzentration typisch justizieller Macht an der Spitze der Judikative, bei den obersten Bundesgerichten. Die Vielfalt der Rechtsprechung wird immer mehr eingeebnet, nivelliert. Am deutlichsten ist es in der Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder zu einer völligen Aufsaugung jeder Selbständigkeit gekommen, damit zum Ende des selbständigen Landesverfassungsrechts: Die Landesverfassungsgerichte setzen in allen entscheidenden Fragen nurmehr die Urteilsketten des Bundesverfassungsgerichts getreulich fort. Doch noch in einer anderen Weise hat sich der G leichheitsstaa tauf diese Judikative eingestellt, sie zum machtkonzentrierenden Gleichheitsinstrument gemacht: durch seine weithin normativen, möglichst großflächigen Entscheidungen. Zwar kann der Richter heute auch die Norm kontrollieren, wiederum wird darin ein großer Freiheitsgewinn gesehen; doch er ist recht unvollkommen. Nur sehr selten wird eben doch vom Richter die Norm gebrochen, und meist gerade dann, wenn sie irgendetwas Inegalitäres bringt oder erhält. Im übrigen wirkt die Vermutung für die Gültigkeit des Gesetzes; je mehr der Staat in Gesetzesform vorgeht, desto weniger ist er kontrollabel. Sehr häufig werden damit die Gerichte zu nichts anderem mehr, als zu einer Form der Machtbestätigung des Gleichheitsstaates, die als solche unangreifbar ist. Denn was einmal ein oberstes Bundesgericht gebilligt hat, das ist in ganz anderer Weise außer Diskussion, als wenn es auch die höchste und mächtigste politische Macht verordnet hätte. Mit zunehmender Egalisierung aller Bereiche durch Gesetz und Verordnung schwächt sich ja auch die freiheitsbewahrende Kraft der Gerichte immer mehr ab. Dem Gesetz sind sie eben, in welcher Form immer, doch unterworfen; und ihre Aufgabe besteht dann vor allem darin, der Exekutive zu zeigen, wo sie noch nicht vollständig egalisiert hat. In letzter Konsequenz führt diese Entwicklung den Gleichheitsstaat zu dem Zwang der ganz großen, flächendeckenden Gleichheitsentscheidung; denn sie vor allem, sie letztlich allein ist ja unangreifbar, politisch wie insbesondere auch gerichtlich. Die kleinere Nivellierung, auch wenn sie in Gesetzesform erfolgt, wird vielleicht vom Richter noch zensiert; 9 Leisner

130

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

der großen, die man dann "sozialgestaltend" nennt, ihr gegenüber ist er machtlos, denn er würde ja mit solcher Zensur den "sozialen Frieden" gefährden, ganz offen zu einer Gewalt werden, die er aber politisch nicht ist. Das Mitbestimmungsurteil ist dafür ein Beispiel. Deshalb ist auch das Streben der Gerichte verständlich, über verfassungskonforme Interpretation gerade solche flächendeckende egalitäre Normen aufrechtzuerhalten, dem Gesetzgeber nirgends einen größeren "Ermessensspielraum" einzuräumen, als eben bei der Ausgestaltung der Gleichheit. In diesem gerichtlich sanktionierten Zwang zur großen Gleichheit liegt ein Aufruf, eine Notwendigkeit zur großen Aktion, damit aber zur politischen Machtkonzentration an der Spitze des Gleichheitsstaates. Nur sie kann freiheitlich-gerichtlicher Erosion entgegengehen.

7. tlffentliches Interesse als Gleichheitsinteresse Der Zentralbegriff der Verwaltungsmacht, der politischen staatlichen Herrschaft überhaupt, ist das öffentliche Interesse. In seinem Namen nur kann die Staatsgewalt eine eigene Organisation aufbauen, ihre Macht dem Bürger gegenüber durchsetzen. Die große Egalität des Gleichheitsstaates ist nicht nur ein herkömmliches Zentrum dieses öffentlichen Interesses, sie konstituiert vor allem jene besonders mächtigen Formen des interesse publicum, in dessen Namen der Staat der neuesten Zeit neue Macht ausübt. a) Die Gleichheit war es irgendwie immer, in deren Namen überhaupt von einem öffentlichen Interesse gesprochen werden konnte. Eine Beschränkung der Baugestaltung konnte doch nur durchgesetzt werden, weil einer unbegrenzten Vielzahl, virtuell allen insoweit gleichen Bürgern, ein Interesse am "Blick auf das Schöne" unterstellt werden konnte. Insoweit, in diesem vor allem ästhetischen Interesse, waren sie aber - gleich. Straßen und Brücken werden gebaut zum Gemeingebrauch, in seiner Ausübung ist wiederum der eine Bürger dem anderen grundsätzlich gleich, jedenfalls in der Chance, derartige Vergünstigungen in Anspruch nehmen zu können. Selbst die Landesverteidigung sollte und soll noch immer ja den Bürger in dem schützen, was irgendwie allen gemeinsam, allen aber gleich ist: die Freiheit, in der bisherigen Gemeinschaft ruhig weiterzuleben. In all dem mögen nun gewiß auch Ungleichheiten stecken, weil eben der Staat durch diese Veranstaltungen im öffentlichen Interesse zunächst einmal Freiheitsräume erschließt, von denen dann der Bürger unterschiedlichen Gebrauch machen kann: Der eine läßt mehr Fahrzeuge auf den Straßen fahren als der andere, der eine wird größeren Nutzen aus der obligatorischen Schule ziehen als sein Nebenbürger. Doch dies ist

7. Öffentliches Interesse als Gleichheitsinteresse

131

logisch schon ein zweiter Schritt; primär ist ein anderes: das prinzipiell gleiche Interesse aller, das allein den Ausgangspunkt des öffentlichen Interesses schaffen kann. Damit traf schon im "klassischen" Staats- und Verwaltungsrecht der Satz zu, daß öffentliches Interesse stets im wesentlichen Gleichheitsinteresse sein muß, nur aus zahllosen gleichen Interessenlagen von egalisierten Bürgern zu legitimieren ist. b) Doch von Anfang an gab es auch eine andere Form des öffentlichen Interesses, und sie verstärkt sich gerade in neuester Zeit, wird zum Zentrum dieses Begriffs: Gewisse private Interessen werden gebündelt, zum öffentlichen Interesse erklärt und sie stehen damit höher als andere private Belange. Auch der einzelne Private kann sich Ordnungsrnacht rufen, wenn er in besonders schwerwiegender Weise des Nachts im Schlafe gestört wird. Was die Polizei hier durchsetzt, ist privates Interesse im öffentlichen Interesse; auch wenn die Zahl der begünstigten Bürger überschaubar oder nur ganz klein ist - es liegt im öffentlichen Interesse, daß ihre primär privaten Belange gewahrt werden. Heute haben diese Formen des "privaten Interesses im öffentlichen Interesse" ganz andere, politisch entscheidende Dimensionen erreicht: Da ist der Verkehrslärm, der im privat-öffentlichen Interesse zu dämpfen ist; da ist der gesamte Umweltschutz, in dem nichts anderes zum Ausdruck kommt, als eine zahlenmäßig und politisch besonders mächtige Bündelung privater Interessen; da ist Arbeitsrecht und eine Mitbestimmung, die immer zunächst nur dem einzelnen Arbeitnehmer, der mehr oder weniger großen Belegschaft zugute kommen kann, damit aber einer Gruppe von Privaten. Durch ihre Bedeutung in der Gemeinschaft jedoch, ihre Wichtigkeit für die Erhaltung des "sozialen Friedens", erwachsen alle diese Schutzveranstaltungen der Staatlichkeit - und manchmal scheint sie sich darin ja geradezu zu erschöpfen - zu einem echten öffentlichen Interesse. Vom Bau- und Naturschutzrecht bis zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung - was bewirkt eigentlich der Staat noch anderes, als die Sicherung gebündelter privater Interessen im öffentlichen Interesse, und entspricht dies nicht seiner "modernen" Grundkonzeption, daß er eben in allem und jedem "Diener der Bürger", damit aber "höchst privat" werde, ein Hüter privater - Ungleichheiten? c) Doch er bleibt durchaus Hoheitsstaat, wird es immer mehr, auf einem Wege, der allein zu dieser Bündelung der privaten Interessen führen kann: auf dem der Gleichheit. Wie anders können nämlich diese vielen privaten Interessen nicht nur summiert, sondern integriert werden, wenn nicht dadurch, daß sie als grundsätzlich "gleiche" unterstellt werden? Oder sollte die Staatsgewalt einen neuen Feudalismus dadurch entstehen lassen, daß sie die mächtigen Interessen stärker schützt als die des kleinen Mannes, das potente Interesse des Konzerns zum öffent-

132

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

lichen erklärt, das der vielen kleinen Betriebe nicht? Davon kann in einer bereits weithin egalisierten Gesellschaft nicht mehr die Rede sein, und die Nivellierung verstärkt sich laufend über immer neue öffentliche Interessen, die aus zahllosen privaten Interessen gleicher Bürger zusammengesetzt sind. Hinter dem "öffentlichen Interesse" an der Erhaltung des Großbetriebs stehen die Arbeitsplätze seiner Bediensteten, Interessen der Verbraucher. Nur dadurch nämlich kommt jener Wesensunterschied zustande, zwischen privaten und öffentlichen Belangen, der allein eine Legitimation für die Durchsetzung des öffentlichen Interesses, für seinen Vorrang vor allem Privaten begründet: Das Öffentliche hat eben ein größeres Gewicht, weil in ihm mehr gleiche Bürger gesichert werden. Hier wirkt letztlich die numerische, quantitative Komponente des Gleichheitsstaats der Demokratie. In der Auslegung dessen, was öffentliches Interesse ist, wird praktisch tagtäglich das Gesetz des Vorrangs der großen Zahl angewendet: Sicher liegt das im öffentlichen Interesse, was eine unabsehbare Vielzahl interessiert, ja auch nur interessieren kann. In den Bürgerinitiativen wird dies auch ganz deutlich; je größer die Zahl ist, die hier in Aktion tritt, desto stärker wird die Vermutung, daß im öffentlichen Interesse gefordert werde, so daß auch im öffentlichen Interesse gehandelt werden muß. d) Im "privaten Interesse als öffentlichem Interesse" liegt sicher eine gewisse Gefahr für die Staatsgewalt: Ihre öffentlichen Machtäußerungen werden irgendwie kommensurabel dem privaten Interesse, mit ihm vergleichbar, ihm gegenüber abwägbar; und die liberale Rechtsstaatlichkeit beeilt sich, darin einen Freiheitsgewinn zu erblicken. Doch bei näherem Zusehen kann dieser scheinbare Machtverlust leicht ertragen werden, denn in ihm wirkt bereits neue Machtlegitimation des Gleichheitsstaates: Mit jener egalisierenden Beliebigkeit, deren höchster Ausdruck die Einladung eines Bundespräsidenten an wirklich willkürlich ausgesuchte gleiche Bürger ist, mit diesem selben hoheitsvollen Belieben kann er eben privates Interesse zu seinem, zum öffentlichen Interesse erheben und damit all seine Macht durchsetzen.

8. Gleichheit als Grundlage der typisierenden Staatsgewalt a) Das Phänomen der typisierenden Verwaltung ist in den letzten Jahren bereits deutlich erkannt worden. In der Steuerverwaltung vor allem, aber auch in anderen Bereichen, etwa im Bau- oder im Gewerberecht, bildet die Verwaltung in den ihr noch verbleibenden Entscheidungsräumen selbständige "Typen", nach denen sie Wohltaten und Eingriffe verteilt: "Dem Wissenschaftler" wird ein Arbeitszimmer zuge-

8. Gleichheit als Grundlage der typisierenden Staatsgewalt

133

standen, "dem Beamten" nicht, "die Familie mit zwei Kindern" hat "eigentlich" in einer soundso großen Wohnung sich aufzuhalten, dies oder jenes hat der Betrieb oder der einzelne Bürger für seine Versicherung normalerweise auszugeben. Sicher kann er auch anders handeln, doch dann hat er derartige Widerstände zu überwinden, daß er häufig, immer häufiger davon absehen wird. Dies alles ist ein bedeutendes Phänomen jener inneren Ermessensegalisierung, von welcher bereits die Rede war. Sie wird nahegelegt, wenn nicht erzwungen, durch die Einführung neuer Arbeitsmethoden, insbesondere durch die elektronische Datenverarbeitung. Für den Bürger wirkt sich all dies, mag es nun durch Gesetz oder Verwaltung ihm auferlegt werden, als ein mächtiger sanfter Zwang zur Selbstegalisierung aus. Er wird eben einfach davon absehen, größere Wohnbedürfnisse zu entfalten, selbst wenn er dies an sich nach seinem Einkommen könnte: Der Staat läßt sie sich so hoch bezahlen, daß derartiges von jenem "vernünftig Denkenden" nicht mehr erwartet werden kann, als welchen doch die Rechtsordnung den Einzelnen stets sich vorstellt. Auf diese Weise wird auch der sich selbst egalisierende Bürger immer weitergehend vom Recht geformt, geradezu vereinnahmt: Seine Wünsche und Bedürfnisse waren bislang vorwiegend außerrechtlich bestimmt, durch seinen Beruf, seine Bildung, seine familiäre Lage. Nun entwirft der Staat Berufsbilder, von dieser bereits im Verfassungsrecht anerkannten Kategorie schreitet er fort zu einer Art von Bildungsbild, zu Familienbildern und ähnlichem mehr. Die Freunde der Freiheit, auch hier getäuscht, sehen darin nichts als eine hervorragende Art zwangloser Gemeinschaftsplanung. In Wahrheit wirkt über derartige Typisierungen nur der Gleichheitsstaat, auf das gesamte Leben des Bürgers. Und nicht von ungefähr ist es gerade das Abgabenrecht, in dem diese Typisierung in besonderer Weise entfaltet, geradezu zum legitimierenden Rechtsprinzip geworden ist: Im steuermäßigen Rechnen in Mark und Pfennig wird eben jede Ungleichheit im Leben der Bürger faßbar, rechenbar, typisierbar, sie wird auf das Quantitative reduziert. Der größeren Familie werden mehr Quadratmeter zugestanden, dem geistig Arbeitenden ein gewisser Betrag für seine intellektuellen Bedürfnisse. Davon wird noch die Rede sein. b) In Rechtstheorie und Rechtsgeschichte ist immer betont worden, das Wesen des Rechts liege in der Verwandlung von Quantität in Qualität. Der Gleichheitsstaat sieht es anders: Er ist nur bestrebt, Qualität in Quantität aufzulösen, damit rechenbar, typisierbar, vergleichbar - und

134

IV. Die rechtskonforme Gleichheitsgewalt

angleichbar zu machen. Nirgends gelingt dies besser als in der steuerlichen Typisierung, hier ist dann jeder Bürger grundsätzlich und auch praktisch schon sehr weitgehend gleich, es werden nur auf seine Waagschale vielleicht einige Gewichte mehr gelegt, doch sie sind faßbar, entfernbar. Das Entscheidende an der Typisierung, wodurch sie zum mächtigen rechtlichen Herrschaftsinstrument wird, ist ihre leichte Veränderbarkeit, durch eine Umstellung der Daten; dies ist wirklich die "leichte Gewalt" - ein Strich wirkt für unzählige, für alle. Und nicht zuletzt: Ein "Typ" ist kein Mensch und schon deshalb leicht zu beherrschen, weil der Typ nie kämpfen kann um sein Recht, sondern immer nur der Einzelmensch. Der Typ als solcher ist nicht organisiert, nicht organisierbar, hier versagt alle Verbandsmacht vor dem großen Gleichheitsstaat. Er schneidet die Typen wie Retortenmenschen, sie werden ihm ebenso gehorchen, weil sie seine Geschöpfe sind, frei nach seinem Willen veränderbar. Den Bund der Steuerzahler mag es geben, den Bund der "XY-Quadratmeter-bewohnenden Steuerbegünstigten" gibt es nicht, gäbe es ihn, so würde er nur solange bestehen, als er selbst noch ein Herrschaftsinstrument des Gleichheitsstaates wäre; sonst würde man eben die Typisierung verändern.... 9. Der Zug zum öffentlichen Recht -

mehr Gleichheit

Daß die rechtlichen Beziehungen zwischen den Bürgern immer mehr vom öffentlichen Recht erlaßt, dem Privatrecht entzogen werden, ist eine seit langem festgestellte Entwicklung. Besonders deutlich war sie in der Mangelverwaltung der Nachkriegszeit, in Wohnungszwangswirtschaft, Devisenbewirtschaftung, Preis- und Nahrungsmittelkontrollen. Hier hat sich eine Abschwächung zwar vollzogen, doch die Tendenz bleibt ungebrochen: Es entwickeln sich nur neue Zwischenformen von privatem und öffentlichem Recht, Mischgebilde, wie etwa das Arbeitsrecht oder das Recht des gewerblichen Rechtsschutzes. Überall jedoch wirkt weiter eine gewaltige, steigende Publifizierung. In ihr liegt ein Vordringen der Staatsgewalt, aber auch, und besonders, ein Fortschritt des Gleichheitsstaates. Von der ausgleichenden Gerechtigkeit des Privatrechts führt, wie bereits dargelegt, der Weg in die verteilende Gerechtigkeit nur durch den Gleichheitsstaat, nur zu seinem größeren Machtgewinn. Wo immer ein neuer Bereich dem öffentlichen Recht unterstellt, dem privaten Belieben und seinem Ausgleich entzogen wird, muß notwendig und sogleich ein Denken in Gleichheitskategorien beginnen, ohne das diese neue

9. Der Zug zum öffentlichen Recht - mehr Gleichheit

135

Distribution nicht vorstellbar ist. Mehr öffentliches Recht bedeutet überall - mehr Gleichheit. Immer mehr Lebensbezüge zwischen den Bürgern werden ins öffentliche Recht gehoben, damit aber in einer weit perfekteren Ordnung verrechtlicht, eben der der Gleichheit. Diese Distributionsvorgänge aber, die ja irgendwie einheitlich kontrolliert werden müssen, werden notwendig immer komplexer; die sowjetische Ordnung mit ihrem höchst perfektionierten Rechtsdenken ist hierfür ein Beispiel. Was man bislang den Privaten überlassen hatte, das wird nun in die Verteilungsräume der Staatsgewalt einbezogen, von der Lieferung von Wasser und Energie bis hin zum Urlaub. Diese öffentliche Jurifizierung wird letztlich nur durch eines überhaupt praktikabel: durch eine Nivellierung seitens der staatlichen Verteilungsmacht. So wird denn das Phänomen der steigenden Publifizierung zu dem der wachsenden Distribution, deren Komplikation zum Zwang zur größeren Gleichheit. Denn eines vor allem unterscheidet die austauschende von der verteilenden Gerechtigkeit: Diese ist auf Gleichheit gegründet, jene nicht; der moderne Weg von der justitia commutativa zur justitia distributiva führt von der Freiheit zur Gleichheit. Die höchst rechtskonforme Gleichheit dringt also über vielfache Entwicklungen des Rechts, unter Einsatz unterschiedlicher Rechtskategorien, herrscherlich gegen die Freiheit des Bürgers vor. Sie ist ein typischer Rechtsbegriff, und kein besseres Mittel zur Befestigung ihrer Herrschaft könnte es geben als das des unbedingten juristischen Imperativs, hinter dem nicht nur die Macht der Strafe, sondern die des Sozialzwanges steht. Die große Macht des juristischen Imperatives ist - oder sollte doch sein - seine Unbestreitbarkeit. Der Gleichheitsstaat macht sie sich, in all den geschilderten und vielen anderen Formen, konsequent zunutze. Er kann es besonders leicht, ist er es doch selbst, der noch die Unbestreitbarkeit des Rechtes verstärkt und damit dieser Ordnung eine mächtigere Durchsetzbarkeit verleiht. Denn was wäre wohl bestreitbarer als Ungleichheit, was könnte leichter zum Tabu werden als eine große Gleichheit? Wer gegen die große, nivellierte Masse vorgeht, vergeht sich nicht nur an einer großen Macht, er wendet sich gegen Unbestreitbares, ein kleiner Hinweis auf die Gleichheit schlägt ihn zu Boden. Und dies will und bewirkt der Gleichheitsstaat: Er siegt mit einem einfachen, überzeugenden, mit einem rechtlich endgültigen Schlag.

V. Die Gleichheitsstufen - "Gleichheit vor dem Gesetz" und "Chancengleichheit" als Nivellierung Die Gleichheit des modernen Staates hat sich in Stufen entwickelt. Stufenförmig entfaltet sie sich auch in immer neuen Bereichen. Die drei wichtigsten Stufen sind: -

Die Gleichheit vor dem Gesetz: Das Gesetz gilt für jedermann, auf jeden wendet es der Richter gleichmäßig an.

-

Die Chancengleichheit: Jedem Bürger sollen gleiche Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden, die er in Freiheit nutzen oder verschenken kann.

-

Die materielle Gleichheit: Jedem Bürger soll möglichst der gleiche Anteil an den materiellen Gütern in der Gemeinschaft zuteil werden, ein gleicher Anteil an der politischen Macht.

Diese drei Gleichheiten werden in Staatslehre und Staatsrechtswissenschaft, aber auch im allgemeinen Bewußtsein, völlig unterschiedlich gewertet. Die Gleichheit vor dem Gesetz erscheint als eine Selbstverständlichkeit, als eine Errungenschaft des Rechtsstaates, ja jeder zivilisierten Gemeinschaft. Den Bürgern in der Demokratie ist sie etwas derart Natürliches, daß sie eigentlich gar nicht mehr als eine Gleichheit empfunden wird, als ein Recht, das durch ein besonderes Grundrecht geschützt werden müßte. Nur selten wird überhaupt noch erkannt, daß es sich hier um eine Form der Egalität handelt. Die Chancengleichheit geht schon erheblich weiter. Sie wird zum politischen Postulat und zum Stein des Anstoßes, sie steht noch immer in der Diskussion. Am vollsten hat sie sich im Bildungsbereich durchsetzen können, wenn auch nur schrittweise. Hier verläuft die Gleichheitsfront, die Chancengleichheit ist die Speerspitze der Egalität, durch sie dringt das Denken in Gleichheit in immer neue Bereiche vor. Die materielle Gleichheit dagegen wird von vielen mit Mißtrauen betrachtet, als Gleichmachungs-Gleichheit abgelehnt. Hier scheint eine Grenze überschritten, welche die Demokratie der freien Entfaltung vom Kommunismus trennt. Dies also ist der eigentümliche Zustand der heutigen Lehre von der Gleichheit: Eine ihrer Ausprägungen ist allgemein anerkannt, die zweite ist in Diskussion und im Vordringen, die dritte wird überwiegend abge-

1. Gleichheit vor dem Gesetz - eine nivellierende Machtentscheidung 137

lehnt. Und dies ist nun der Gegenstand der folgenden Betrachtung: Auf solche Weise dringt die Egalität ständig mächtig vor; denn diese drei Gleichheiten sind letztlich doch nur eine, drei Gesichter des einen Gedankens. In jedem von ihnen arbeitet bereits die Kraft der Nivellierung, und mit Notwendigkeit verstärkt sie sich von einer der drei Ausprägungen zur andern, bis zur endgültigen, möglichst vollen materiellen Egalität. Weil also die erste dieser Gleichheiten, die Gleichheit vor dem Gesetz, bereits voll anerkannt ist, läßt sich der Marsch in die volle Gleichheit zwar verzögern, nicht aber aufhalten. 1. Die Gleichheit vor dem Gesetz eine nivellierende Machtentscheidung Daß das Gesetz einheitlich und gleichmäßig auf jedermann angewendet werde, ist für die Allgemeinheit eine Selbstverständlichkeit, für die Rechtslehre eine notwendige dogmatische Folgerung aus dem Gesetzesbegriff: Gesetz kann überhaupt nur sein, was gleichmäßig für jedermann gilt. Die Vorstellung, daß hier eine nivellierende Gleichheitsentscheidung vorliegt, ist so weitgehend verlorengegangen, weil doch die Entwicklung zu zeigen scheint, daß auch die größten Unterschiede zwischen den Bürgern nach Reichtum und Macht durchaus mit der Gleichheit vor dem Gesetz vereinbar sind. Gerade jener große Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der doch den Kräftigen, Durchsetzungsfähigen die Ansammlung riesiger Reichtümer ermöglicht hat - gerade diese Staatsund Wirtschaftsordnung achtete nicht nur die Gleichheit vor dem Gesetz, sie beruhte geradezu auf ihr. Die Grundsatzkritik des Marxismus setzte denn auch gerade hier an: Die Gleichheit vor dem Gesetz sei nichts als eine Illusion, eine falsche Egalität. Sie zwinge zwar den reichen Fabrikanten wie den armen Arbeiter, sich vor dem mäßig begüterten Richter gegenüberzustehen, dessen Spruch zu achten. Doch diese Entscheidung treffe eben den Schwachen vernichtend, den Stärkeren überhaupt nicht, weil er sich hinter die Mauern seines gewaltigen Besitzes zurückziehen könne. Für den folgerichtigen Marxismus liegt der Vorwurf der Klassenjustiz, den er gegen jede liberale Ordnung erhebt, nicht nur darin, daß die Justiz etwa käuflich sei und zugunsten der herrschenden Bourgeoisie arbeite, er steckt tiefer: Die ganze Gesetzes- und Justizmaschine des bürgerlichen Staates muß schon deshalb notwendig die Ungleichheit zwischen den Menschen immer weiter verstärken, weil sie mit ihrer Gleichheit vor dem Gesetz lediglich eine formale Egalität herstellt. Der kleine Mann wird durch die Pflicht zur Beobachtung des Gesetzes niedergedrückt, der Große kann sich durch seine Güter praktisch freikaufen. So bedeutet

138 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen denn diese Gleichheit vor dem Gesetz in doppelter Hinsicht für den Marxismus Opium für das Volk: Es findet auf diese Weise eine ständige Machtverlagerung von den Schwächeren zu den Stärkeren statt, weil sie beide unter dem Joch des Gesetzes leben, es jedoch völlig ungleich drückt; und es wird auf diese Weise im Volk die Illusion wachgehalten, daß Gleichheit herrsche, obwohl doch nur ihr Schein gegeben ist. Dies also war die Gleichheitsillusion, welche der Marxismus entlarven wollte und immer weiter zu entlarven versucht, während die liberalen Kräfte hier eine Realität, wirkliche Egalität annehmen. Die eigentliche Gleichheitsillusion ist jedoch eine ganz andere, und ihr sind vor allem die Liberalen verfallen: In der Gleichheit vor dem Gesetz liegt eine Egalitätsentscheidung, in der bereits eine Tendenz zur gleichmachenden materiellen Egalität angelegt ist. Diese Gleichheitswirkungen entfalten sich in verschiedene Richtungen:

a) Volle Unterwerfung unter die Macht der numerisch Gleichen Zunächst liegt im Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz die Grundentscheidung, daß sich alle Bürger dem Gesetz in ganz gleicher Weise zu beugen haben, d. h. aber, in der Demokratie, der Entscheidung der numerischen Mehrheit. Die Mehrheitsentscheidung jedoch ist nichts anderes als Ausdruck der Machtgleichheit aller Bürger. Gegen die numerisch Gleichen gibt es also nirgends einen Widerstand. Gegen sie kann sich niemand auflehnen, etwa mit der Behauptung, er sei aufgrund seiner außerrechtlichen Macht stärker als andere. Wie groß auch sein Reichtum, sein Ansehen sein mag, prinzipiell ist er gleichgeschaltet, in den großen Gleichheitsrahmen eingefügt. Praktisch bedeutet dies vor allem eine Entscheidung für den rechtlich zum Gesetz gewordenen Willen gegen die außerrechtliche Macht, welche ja meist in besonderer Weise Ungleichheit schafft und erhält. Wieviel auch immer ein Bürger sich an wirtschaftlicher und sozialer Macht schaffen kann, all dies steht unter einem "Vorbehalt des Gleichheits-Gesetzes", das von einer Mehrheit von Gleichen beschlossen wird und daher an sich schon nivellierende Tendenz hat. Die Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet also, daß alles vom politischen Willen der gleichen Bürger beherrscht wird, daß es keine außerrechtlichen Räume mehr gibt, in denen sich irgendeine Trutzburg der Ungleichheit grundsätzlich halten könnte. Damit ist eine allgemeine Gleichheitsstimmung geschaffen, die in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden darf.

1. Gleichheit vor dem Gesetz - eine nivellierende Machtentscheidung 139

b) Vom Gewohnheitsrecht der Unterschiede

zum geschriebenen Recht der Gleichheit

Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet zwar an sich gleiche Anwendung aller Normen auf alle Bürger, praktisch jedoch hat sich das geschriebene Gesetz durchgesetzt. In der ganzen historischen Entwicklung war die Gleichheit vor dem Gesetz immer ein Sturmbock der Durchsetzung des geschriebenen Rechts gegenüber dem Gewohnheitsrecht. Denn nur die geschriebene Norm war ja in aller Regel so allgemein, daß jeder erwarten konnte, sie werde auch auf ihn angewendet werden. Und hier bereits zeigt sich, daß in der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, in der Gesetzesanwendung, eben mehr liegt als eine "prozessuale Gleichheit". Sie trägt vielmehr die Erwartung, daß das Gesetz auch "für jeden etwas bringen werde"; dies gerade aber war über Jahrhunderte hinweg in der feudal-aristokratischen Zeit beim Gewohnheitsrecht nicht der Fall. Das Gewohnheitsrecht war vielmehr in aller Regel Privilegierung einzelner Personen, Gruppen, Schichten. Egalitäres Gewohnheitsrecht läßt sich nur als seltene Ausnahme nachweisen. Das Vordringen des geschriebenen Gesetzes im Namen der Gleichheit aller vor dem Gesetz und der entsprechende Rückzug des Gewohnheitsrechts bedeuten also zugleich einen laufenden Abbau der unvordenklich begründeten, der traditionellen Privilegien, damit aber der Ungleichheit. Die neu este Zeit liefert ein überzeugendes Beispiel: Die sog. "Ordinarienuniversität" beruhte im wesentlichen auf Gewohnheitsrecht, sie war eine hierarchisierte Ordnung. Die Vergesetzlichung des Universitätsrechts hat hier eindeutig nivellierend gewirkt, doch erst durch sie wurde die Gleichheit "aller" Universitätsangehörigen vor dem Gesetz eine praktisch-politische Realität. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet also auf Dauer das Ende des Gewohnheitsrechts, damit aber der Formen herkömmlicher Ungleichheit und Privilegien. c) "Gleiche Chancen" vor dem Richter

Die Gleichheit aller vor dem Gesetz beugt Stark und Schwach, alle Bürger gleichmäßig unter die Norm, zwingt sie in prozessualer Gleichheit vor den Richter. Damit wird zunächst nur eine wiederum formale, eben die prozessuale Gleichheit hergestellt. Doch in ihr liegt weit mehr als nur eine Form der Diskussion, welche im übrigen die Ungleichheiten alle bestehen ließe. Dies zeigt sich schon im Prozeßrecht selbst. Es trägt vielfach Sorge dafür, daß die Gleichheit der Parteien vor dem Richter, der Ausdruck der Gleichheit aller vor dem Gesetz, auch tatsächlich eintrete: In der

140 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - NivelIierungen

Pflichtverteidigung, in der Gebührenfreiheit, in den Belehrungen seitens des Gerichts liegt überall ein ausgleichender, wenn nicht nivellierender Effekt. Mit vielfachen Mitteln soll erreicht werden, daß "auch der Schwache zu seinem Recht gelangt". Damit aber wird der Prozeß insgesamt eben doch zu einem Instrument der Angleichung der Positionen stärkerer und schwächerer Bürger in der Gemeinschaft. Besonders deutlich erweist sich dies in letzter Zeit in der Verstärkung des Amtscharakters auch des Zivilprozesses. Der Richter ist nunmehr verpflichtet, die Parteien aufzuklären, der wirtschaftlich oder intellektuell Stärkere wird damit um einen Teil der vorteilhaften Positionen gebracht, welche ihm sein Einfluß, seine finanziellen Möglichkeiten sichern. d) Rechtsprechung durch "einen Gleichen"

Die Justiz, die Hüterin der Gleichheit vor dem Gesetz, ist auch, jedenfalls in den kontinentaleuropäischen Demokratien, weder ein Königsnoch auch nur ein Lordrichterturn. Sie stellt sich dar als ein Beamtenrichterturn, mit Einsprengseln einer Volksjustiz, mit ihren Geschworenen und Schöffen. Dies aber ist bereits eine Art von justizieller Gleichheitsverkörperung und wird auch durchaus seit langem so empfunden: Nicht eine herausragende Gestalt, ein Vertreter der Aristokratie, jedenfalls aber der gesellschaftlichen Ungleichheit spricht Recht, sondern "einer von den vielen" oder "viele aus den vielen". Die Richter-Beamten sind vielleicht nicht Verkörperung des gesellschaftlichen Durchschnitts, doch sie gehören, wenigstens seit einigen Jahrzehnten, bereits zu der großen Zahl der Gleichen und immer gleicher Werdenden. Die Vertreter der Volksjustiz, Schöffen und Geschworene dagegen, sind bereits ganz bewußt als eine Institution der "prozessualen Gleichheit" entstanden, als Vertreter der vielen Nicht-Privilegierten, als ein Gegenpol zur Gerichtsbarkeit durch Ungleiche, durch aristokratische Kräfte. Hinter dem jahrhundertelangen Kampf um die Volksjustiz steht also nicht nur die Vorstellung, daß das "gesunde Volksempfinden" Recht sprechen solle, sondern vor allem die politische Entscheidung, daß Gleiche, Vertreter der vielen Gleichen, die Gleichheit vor dem Gesetz durch ihren Richterspruch bewähren sollten. Und gerade hier zeigt sich eben, daß der Prozeß mehr ist als eine formale Maschinerie, welche Privilegien wie Gleichheit gleichermaßen verstärken kann: Die formale Gleichheit tendiert zur inhaltlichen Gleichheit schon durch die Personen, welche über sie wachen. e) Erscheinen vor Gericht - ein Privilegsverlust

Nicht zuletzt aber geht ein starker Egalitätseffekt von der Justiz schon dadurch aus, daß im Namen der Gleichheit vor dem Gesetz Groß und Klein vor denselben Richter gezwungen werden, sich, wenig-

1. Gleichheit vor

dem Gesetz - eine nivellierende Machtentscheidung 141

stens in diesem Prozeß, auf einer Ebene voller Gleichheit gegenüberstehen müssen. Der Schwächste kann das Erscheinen, die Aussage, den Eid des Mächtigsten erzwingen; in diesen wenigen Stunden wenigstens, die aber so entscheidend sein können, gibt es Privilegien nicht mehr. Dies alles wirkt egalisierend, und weit über die kurze Zeit des Prozesses hinaus. Hier wird eine Gleichheitsstimmung durch die Justiz geschaffen, die man in dem Satz zusammenfassen könnte: "Das letzte Wort jedenfalls wird in der Gemeinschaft unter Gleichen gesprochen". Es war auch in der Vergangenheit schon stets weit mehr als ein Zeichen reiner Macht oder billiger Eitelkeit, wenn die Ungleichen, die Privilegierten versuchten, sich dem Erscheinen vor dem Richter, ja dem Prozeß unter Gleichen überhaupt zu entziehen. Damit wuchsen sie, als Standesherren, als Monarchen, ganz wesentlich über die große Zahl derer hinaus, welche durch die Gleichheit vor dem Gesetz eben doch nicht nur in formaler Hinsicht gleich geworden waren. So sind auch die heute eigentümlich anmutenden Restprivilegien des Staatsoberhaupts zu verstehen, an seinem Amtssitz vernommen zu werden: Es ist ein Relikt einer justiziellen Ungleichheit, das eben zeigt, daß die Gleichheit vor dem Richter eine politische Entscheidung und nicht nur eine formale Selbstverständlichkeit in einem Gesetzesstaat darstellt.

f) Von der Gleichheit vor dem Gesetz zur Gleichheit durch Gesetz

Doch die eigentliche, große Nivellierungswirkung geht von der Gleichheit vor dem Gesetz noch in eine andere Richtung aus: Zwar sagt diese Egalitätsform noch nichts darüber aus, wie das Gesetz inhaltlich beschaffen sein soll, von dem ja nur feststeht, daß es als solches, eben mit seinem Inhalt, gleichermaßen auf alle angewendet werden muß. An sich steht also die Gleichheit vor dem Gesetz nicht privilegierenden Gesetzen entgegen,_ denn auch heute finden sich ja in zahllosen Tatbeständen Ungleichbehandlungen, echte Privilegierungen, welche gerade über die Gleichheit vor dem Gesetz, eben durch die gleichmäßige Anwendung der Norm, durchgesetzt werden. Die Gleichheit vor dem Gesetz hat hier jedoch einen doppelten Boden: Rein formal betrachtet läßt sie jede Privilegierung zu und sichert sogar deren Durellsetzung. In Wahrheit aber liegt in ihr auch die Forderung nach dem "inhaltlich gleichen Gesetz", das eben keine oder doch nur möglichst wenige Privilegien kennt und durchsetzt. So ist denn diese Art der Gleichheit auch immer in der Geschichte verstanden worden: Die Gleichheit vor dem Gesetz ist die Forderung nach dem gleichen Gesetz, nach dem Gleichheitsgesetz. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet ja, schon von dem Wortlaut her, nicht etwa gleiche Behandlung des Bürgers durch den Richter oder die

142 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen

Verwaltung, sondern eine gleiche Stellung aller Bürger vor dem Gesetz. Dieses Gesetz aber normiert ihre Rechte und Pflichten. Was also läge näher, als daß der Bürger aus der Forderung "Gleichheit vor dem Gesetz" ableitet, dieses solle eben gleiche Rechte und gleiche Pflichten allen zuteilen? Für ihn ist das Gesetz der Ausdruck des Rechtes. Vor dem Recht aber ist er doch, so läßt sich leicht behaupten, nur gleich, wenn er gleiche Rechte und Pflichten hat. Hier zeigt sich die Macht der sprachlichen Formeln: Im juristischen Sprachgebrauch mag die Gleichheit vor dem Gesetz auf die Anwendungsgleichheit verengt sein. Der Bürger wird dies nur als eine Selbstverständlichkeit empfinden und in diesem Grundrecht, dessen Rang das Bundesverfassungsgericht so besonders betont, eben weit mehr sehen: eine notwendige Tendenz zum gleichen Gesetz, zum Ende der materiellrechtlichen Privilegien. Die historische Entwicklung zeigt denn auch, daß die Gleichheit des Bürgers nach Prozeßrecht immer nur ein erster Schritt zu seiner Egalität nach materiellem Recht war. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist eine Forderung an den Gesetzgeber, die an sich möglichen UngleichheitsTatbestände in engen Grenzen zu halten. Denn wenn dies nicht geschieht, so läuft ja auch die Anwendungsgleichheit letztlich leer: Wer so viel mehr materielles Recht besitzt als ein anderer Bürger, der ist eben auch vor dem Richter und der Verwaltung letztlich jenem nicht wirklich gleich. Die Egalität ist ein Prinzip, welches die prozessuale und die materiell-inhaltliche Gleichheit durchdringt und zu einer einheitlichen Gleichheit gestalten will. Dies sind keine abstrakten Theoreme, in der Wirklichkeit finden sich dafür zahllose Belege. Man denke nur an das Steuerrecht, in dem die Gleichheit vor dem Gesetz zuerst und mit besonderer Intensität durchgesetzt worden ist. Hier war und ist sie auch noch immer grundsätzlich auf die Anwendungsgleichheit beschränkt; der Steuergesetzgeber kann im übrigen privilegierende Tatbestände nach nahezu freiem Belieben schaffen. Doch in der Praxis und in der Steuerpolitik hat man eben die Gleichheit des Bürgers vor der Steuergewalt sehr bald schon anders verstanden: dahin, daß es möglichst wenige Steuerprivilegien geben solle, daß diese besonders überzeugender sachlicher Begründung bedürfen. In der politischen Diskussion um die Steuersätze wird immer wieder die Steuergleichheit in dem Sinne bemüht, daß die Lage der einzelnen Bürger und Schichten möglichst nivellierend angeglichen werden müsse. Auf anderen Rechtsgebieten ist ähnliches festzustellen, etwa im Wettbewerbsrecht. Überall wird damit argumentiert, daß eben der Bürger auch vor dem Richter und der Verwaltung nicht gleich sei, wenn seine Rechtspositionen allzu weit von denen anderer entfernt seien. Der materiellrechtlich Schwache, der wirtschaftlich Bedürftige

2. Die Chancengleichheit - Chance zur vollen Nivellierung

143

könne dann eben auch eine echte Anwendungsgleichheit auf sich selbst gar nicht mehr durchsetzen. Hier schließt sich der Kreis: Die Gleichheit vor dem Gesetz wird ganz offen zur Gleichheit des Gesetzes. 2. Die Chancengleichheit -

Chance zur vollen Nivellierung

Die Gleichheit vor dem Gesetz ist bereits eine Selbstverständlichkeit, ein rechtspolitisches Tabu. Die Idee der Chancengleichheit ist soweit noch nicht vorgedrungen, doch sie ist dabei, ebenso selbstverständlich zu werden. Und in ihr liegt eine noch viel stärkere Dynamik zur vollen, materiellen Gleichheit der Rechte und Pflichten, zur Nivellierung. Diese ist über die Gleichheit vor dem Gesetz in das öffentliche Bewußtsein allge~ein eingedrungen; über die Chancengleichheit setzt sie sich sektor al fort, in der vollen materiellen Gleichheit vollendet sie sich.

a) Die ökonomische und die moralische Begründung der Chancengleichheit Die beiden großen Räume, welche die Chancengleichheit bereits fest besetzt hat, von denen aus sie ins allgemeine Bewußtsein einwirkt, sind Bildung und Erziehung zum einen, Wettbewerb zum anderen. Kaum etwas ist im modernen Staat wichtiger als diese beiden Bereiche: Von Bildung und Erziehung hängt die Gesellschaft der Zukunft und damit alles im Staate ab. Wettbewerb ist die Zentralidee nicht nur der Marktwirtschaft, sondern jeder Ordnung, die auf Berufsfreiheit gegründet ist. Diese beiden Räume, der des Wirtschaftens wie der der Erziehung, sind an sich in einer liberal-freiheitlichen Staatsform ganz wesentlich antiegalitär geordnet: Wettbewerb geschieht, damit sich der Stärkere durchsetze, jedenfalls fehlt ihm die letzte Legitimation, wenn dies nicht möglich ist. Nicht anders steht es um Bildung und Erziehung: Hier wirken die natürlichen Unterschiede der geistigen Anlagen gegen die Gleichheit; die trotz aller Bemühungen notwendig hierarchischen Strukturen der Wissensvermittlung stehen einer letzten Egalisierung im Wege. Gerade deshalb setzt hier die Chancengleichheit an, deshalb wird sie hier zu einem mächtigen Hebel. Die Chancengleichheit wirkt über eine doppelte Begründung, welche gerade in diesen beiden Beispielen deutlich wird: -

Im Wettbewerb empfiehlt sie sich als eine notwendige Grundlage der Freiheit und damit des Wettbewerbs selbst: Wenn nicht jedermann jederzeit antreten kann, wenn in der Konkurrenz nicht gewisse Minimalchancen für jeden Wettbewerber gesichert werden, so kommt

144 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen

es zu immer stärkeren Zusammenschlüssen, zum Quietismus der Marktaufteilung, zu einem neuen Zünftewesen, damit aber geradewegs zum Ende des liberalen Wettbewerbs. Hier also erscheint eine gewisse Chancengleichheit zum Eintritt in den Wettbewerb und zur Betätigung in demselben als eine logische Systemnotwendigkeit, als eine unausweichliche Konsequenz der Freiheit, deren Ethos sie überzeugend zu begründen scheint. -

Auch im Erziehungsbereich spielt diese Freiheitsrechtfertigung der Chancengleichheit eine Rolle. Werden hier nicht jedermann gleiche Start- und Entwicklungschancen zuerkannt, so muß das Bildungssystem mit Notwendigkeit, so scheint es, bisherige soziale Mächtigkeit, den Einfluß von Reichtum und politischer Macht einer Oligarchie laufend verstärken. Dies aber führt dann doch notwendig weg von der Freiheit des einzelnen Bürgers; Erziehung ohne Chancengleichheit wird zum Instrument der Clan-Herrschaft. Dem kann man nun allerdings entgegenhalten, derartige Auswüchse seien nur zu befürchten, wenn es die reine Klassenschule als Privileg der Reichen, ohne jede Hilfe für sozial Schwächere gebe. Davon aber sei seit Beginn des Liberalismus nie die Rede gewesen; darüber hinaus verhindere die Prüfungsgleichheit derartige Oligarchisierungen. Daher sei es nicht notwendig, eine "volle Chancengleichheit" in dem Sinn etwa herzustellen, daß die sozial Schwächeren sogar zu Lasten der anderen besonders gefördert würden, daß das gesamte Erziehungssystem auf sie in vielfältigster Weise Rücksicht nehmen müsse, von völliger Freiheit von jedem Unterrichtsgeld bis zur speziellen Förderung von Kindern aus sozial schwächeren Schichten. Doch gerade dies wird nun im Erziehungsbereich über eine andere Legitimation durchgesetzt, welche noch weit mächtiger, nämlich moralisch für die Chancengleichheit wirkt: Kein Mensch "könne etwas dafür", so heißt es, in welchem Milieu er geboren werde. Daher sei es ungerecht und unmoralisch, ihn unter den Folgen dieser Zufälligkeit leiden zu lassen. Dem Staat obliege es im Namen der Chancengleichheit, jedem Bürger die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten; dazu aber gehöre in erster Linie die "gleiche Bildungschance". Auch hier ist es bereits zu einer rechtlichen, ja politischen Tabuisierung gekommen. Kaum irgendjemand wagt es noch, sich einer so verstandenen Chancengleichheit entgegenzustellen. Niemand möchte ja in die Lage dessen geraten, der Standesprivilegien einer vergangenen Periode verteidigt. Die herrschaftsbedingte Ungleichheit scheint wie eine Erbsünde auf den ja in der Tat völlig "unschuldigen" Jungbürgern zu lasten, jedermann ist gerne bereit, sie ihnen nach

2. Die Chancengleichheit - Chance zur vollen Nivellierung

145

Kräften abzunehmen. Hier lebt noch der Frühliberalismus, der jedem jungen Menschen den Marschallstab in den Tornister stecken möchte. Einer der höchsten Grundsätze nicht nur des liberalen, sondern jedes irgendwie freiheitlichen Staates scheint ja eindeutig diese Chancengleichheit zu tragen: das Leistungsprinzip. Der Erfolg nach Leistung in der Gemeinschaft - verlangt dies nicht, daß alle mit gleichen Startchancen antreten? Hat Leistung überhaupt noch einen ethischen Wert, wenn diese Chancengleichheit nicht besteht? Unter diesen Vorzeichen hat sich im letzten Jahrhundert die allgemeine Schulpflicht und die Schulgeld- und Lehrmittelfreiheit zu einem verstärkten Instrument der Egalisierung entwickelt. Milliarden werden, sozial gestaffelt, für Ausbildungsförderung ausgegeben, der Unterricht soll immer mehr eine Veranstaltung zur Förderung der sozial Schwächeren werden. In einer Demokratie, welche die Diskriminierung nach der Abstammung streng verbietet (Art. 3 Abs. 3 GG), wird laufend gegen dieses Gebot verstoßen, nach Abstammung gefragt und entsprechend differenziert - und dies gerade im Namen eben derselben Gleichheit. Nur selten wird hier noch, einigermaßen zögernd und ängstlich, nicht Widerspruch, sondern Vorbehalt laut: Volle Chancengleichheit lasse sich doch gar nicht herstellen, ein funktionierendes, gebildetes Elternhaus könne man eben demjenigen nicht ersetzen, dem es das Schicksal vorenthalten habe. Doch all dies wird ohne rechte überzeugungskraft vorgetragen und es führt, gerade umgekehrt, zu noch größeren Egalisierungsanstrengungen im Namen der Chancengleichheit; denn wenn schon eine volle Gleichheit der Lebenschancen nicht herzustellen ist, was an sich ja unbestritten ist, dann muß doch möglichst in dem ausgeglichen werden, was dem Staat ja in unendlichem Reichtum zur Verfügung steht: in Geld. So wird die Chancengleichheit zum großen Corriger la fortune des G leichheitsstaa tes. b) "Gleiche Chancen" als nivellierende Güterverteilung

Wie immer man zu einer so verstandenen und begründeten Chancengleichheit steht - eines läßt sich nicht leugnen: Hier wird weit mehr verlangt und geboten als die sog. formale Gleichheit vor dem Gesetz; es wird übergegangen in die entscheidende höhere Stufe der Egalität, in die materielle Gleichheit, in die Gleichmachungs-Gleichheit. Diese bedeutet, nach sozialutopistischer und kommunistischer Lehre, daß jedem Bürger möglichst gleiche Güter zugeteilt werden. Damit aber macht die Chancengleichheit bereits einen mächtigen Anfang: Chancen sind an 10 Leisner

146 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen

sich schon, in einer Marktwirtschaft, Güter, und zwar im wesentlichen auch von Geldwert. So werden denn heute ja auch verständlicherweise Studienplätze regelrecht "gehandelt". Wer Chancengleichheit bietet, hat schon ein erstes, vielleicht entscheidendes Stück materieller Gleichheit geschaffen. Mehr noch: Es gibt keine grundsätzliche Schranke, welche diesen Beginn voller Gleichheit, der in der Chancengleichheit liegt, von ihrem Endziel trennte. Mit anderen Worten: Die Chance kann an die Realisierung immer weiter angenähert werden, bis sie mit dieser nahezu zusammenfällt; es gibt eben die entfernte, die nähere, die ganz nahe Chance, bei der der Erfolg bereits ganz nahe ist, jedem in der Regel oder grundsätzlich zuteil wird. Ist einmal das Prinzip der Chancengleichheit akzeptiert, so braucht der egalisierende Staat die Chancen nur immer weiter zu verdichten, immer größer zu machen; damit steigt die Wahrscheinlichkeit des Erfolges, der ja in der Regel auch ein materieller ist, so stark an, daß letztlich Chance und Ergebnis zusammenfallen. Wenn etwa das Arbeiterkind gefördert werden soll, so kann dies mit mäßigen Geldmitteln geschehen, die noch keineswegs einen Erfolg gewährleisten oder alle Nachteile des Betreffenden ausgleichen. Doch von dort führt der Weg dann über Spezialunterricht, Spezialklassen, Befreiung vom Wehrdienst, Staatsrenten bis hin zu "Sozialpunkten" bei Examina - so lang und so weit, bis dem Geförderten ein gewisser Erfolg geradezu sicher ist, wenn er nicht völlig unbegabt erscheint. Die Chancengleichheit ist eben ein dynamischer, seinem ganzen Wesen nach grenzenloser Begriff, hier ist man unterwegs auf einen Erfolg hin, bis zum Greifen nahe. Deshalb steht auch hinter der Chancengleichheit eine besondere politische Wucht. Im Grunde braucht man die materielle volle Gleichheit, die sich ja nur in laufender Güterverteilung herstellen ließe, gar nicht mehr zu fordern, wenn die Chancengleichheit so ausgebaut wird, daß jeder Bürger es im Ergebnis materiell nahezu gleich weit bringt. Ein solcher Weg ist auch weit überzeugender als die reine, öde Verteilung, die immer wieder als ungerecht erscheinen muß; hier dagegen, auf dem Weg über die Chancengleichheit, scheint es ja stets nur das persönliche Verdienst zu sein, dem entsprochen wird, die Leistungsfähigkeit, die hier sich nur steigert. Es werden eben die realen Grundlagen jener "freien Entfaltung der Persönlichkeit" geschaffen, welche das Grundgesetz ja jedem Bürger ermöglichen will (Art. 2 Abs.l GG). Inzwischen aber wird im Namen dieser Chancengleichheit laufend und mächtig verteilt, egalisiert, nivelliert. Das wohl deutlichste Beispiel dafür ist die Ausbildungsförderung. Dem Sohn des weniger verdienenden Bürgers soll "dieselbe Chance" geboten werden wie dem sozial Stärke-

2. Die Chancengleichheit - Chance zur vollen Nivellierung

147

ren. In der Praxis wirkt sich dies jedoch so aus, daß der Staat für die Familie des sozial Schwächeren einen so hohen Zuschuß in Form von Ausbildungsförderung bezahlt, daß mit einem Mal diese Familie ebensogut oder gar noch besser steht als diejenige, in der die Eltern infolge ihrer höheren Leistungsfähigkeit auch mehr verdienen konnten. Chancengleichheit bedeutet eben immer bereits Güterverteilung: Da werden unentgeltliche Nachhilfestunden gezahlt, Reisen und Auslandsaufenthalte ermöglicht, aufwendige Bildungsgänge eröffnet - all das, was der besser bemittelte Bürger selbst zu tragen hat. Chancengleichheit ist also nichts anderes als eine Rechtfertigung - oder ein Vorwand - für massive nivellierende Subventionen des Staates. Dabei wird übrigens der Ausgangspunkt wieder aufgegeben: Leistungsgerechtigkeit durch gleiche Leistungschancen. Um dies zu erreichen, werden nun im Ergebnis vor allem diejenigen getroffen, welche sich im Berufsleben durch ihre Leistungsfähigkeit unterschieden und weiter nach oben gebracht haben. Denn derselbe Staat der Chancengleichheit gibt ja ihren Kindern sogar heute einen weitgehenden Rechtsanspruch auf Unterhalt und Ausbildung, dem sie aus eigener Tasche entsprechen müssen, während für die sozial Schwächeren der Staat soz. als Adoptivvater auftritt. Im Namen der Chancengleichheit nimmt der Staat also Nivellierung in Kauf, Herstellung materieller Gleichheit. Betrachtet man die sozialen Schichtunterschiede in der Gemeinschaft, so wird der Leistungsstärkere dadurch bestraft, daß er Nachkommenschaft hervorgebracht hat - sie wird über die Chancengleichheit der anderen für ihn zum sozialen Abstieg. Ob also materielle Gleichheit gesagt wird oder Chancengleichheit, ist letztlich nurmehr ein Streit um Worte. In der Chancengleichheit hat die volle materielle Gleichheit begonnen, und nichts trennt sie von ihrem vollen Gleichheits-Endziel. c) Chancengleichheit - unmöglich, willkürlich, widersprüchlich

Die Chancengleichheit ist für die Befürworter der vollen Gleichheit ein sehr wirkmächtiges Instrument, aus der Sicht der Gegner voller Nivellierung ein verhängnisvoller Begriff - vor allem deshalb, weil er tabuisiert, moralisiert und verschleiert. Eine Grundsatzkritik des Begriffes der Chancengleichheit wurde bisher, soweit ersichtlich, noch nicht versucht. Sie ist jedoch längst überfällig; jener Begriff der Chancengleichheit, welcher heute, vor allem im Staatsrecht, so bedenken- und manchmal gedankenlos verwendet wird, bezeichnet etwas weithin Unmögliches, etwas Willkürliches, etwas in sich Widersprüchliches, und er muß, einmal wirklich zu Ende gedacht, zu Folgerungen führen, welche auch seine wärmsten Befürworter nicht 10·

148 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen akzeptieren würden. Dies mag hier nur in wenigen Andeutungen dargestellt werden. Die Unmöglichkeit, welche in der Forderung nach Herstellung der Chancengleichheit liegt, tritt klar zutage. Im Bildungs- und Berufsbereich wird sehr vieles, vielleicht immer mehr Entscheidendes, durch Glück und Zufall entschieden. Diese allgemeine Erfahrungstatsache bedarf keiner Begründung. Wer hier gleiche Chancen herstellen will, etwa über Ausbildungen und Prüfungen, der wird, die gegenwärtige Entwicklung zeigt es ja deutlich, dahin gedrängt, immer mehr Bürgern möglichst gleichen Zugang zu Diplomen und damit angeblich "Chancen" zu eröffnen. In Wahrheit leistet er dadurch nur einer Entwicklung Vorschub: daß unter den vielen Gleichdiplomierten dann eben wiederum nach Zufall, Glück oder nach jenen Beziehungen ausgesucht wird, welche man auf diese Weise hatte vermeiden wollen. So ist die moderne Massenschule und Massenuniversität geradezu ein Instrument der nach ihrem Abschluß sofort einsetzenden verstärkten Patronage geworden; denn unter vielen Gleichqualifizierten wird man eben den Freund, den Sohn des Freundes bevorzugen. Unmöglich ist die Herstellung der Chancengleichheit auch in dem ent, scheidenden Punkt der familiären Abstammung, der sozialen Herkunft. Ein geistig hochstehendes, ein gebildetes, ein politisch mächtiges Elternhaus läßt sich eben im Ergebnis nicht ersetzen. Hier wird unendlich viE'1 Unwägbares, Atmosphärisches vermittelt, was sich später nie mehr auf, holen läßt, was keine geldliche Unterstützung wettmachen kann. Selbst wenn man die Weitergabe all dieser Werte für ein unzulässiges Privileg der betreffenden Jungbürger halten wollte, man könnte ihm nicht wirksam wehren. Unmöglich ist schließlich die Herstellung der Chancengleichheit auch noch aus einem anderen Grund: Sie setzt ja voraus, daß all dies, daß Elternhaus, Reichtum, Einfluß nichts anderes sind als Entwicklungschancen für jeden jungen Menschen. Die Erfahrung lehrt jedoch in zahllosen Fällen, daß gerade diese Einflüsse sich auf den jungen, an sich bildungswilligen Menschen nachteilig auswirken können. Wie oft war der Millionärssohn schon in der Vergangenheit ärmer daran als das Arbeiterkind, weil er durch eine verfehlte Erziehung, durch allzu frühen Reichtum, verdorben worden ist. Es ist nicht Aufgabe dieser Blätter, in diesem Sinne Nachweise zu führen; sie könnten nur durch komplizierte sozialstatistische Erhebungen im einzelnen erbracht werden. Doch es muß mit großem Nachdruck die völlig pauschale und durch nichts bewiesene Behauptung bestritten werden, daß die soziale Stellung des Elternhauses, gerade in der heutigen Welt, von vornherein ein Privileg, eine Chance bedeute. Manches deutet vielmehr darauf hin, daß das ideale Elternhaus das der Mittelklasse, des Lehrers, des Pastors oder ähnlicher sozialer

2. Die Chancengleichheit - Chance zur vollen Nivellierung

149

Gruppen ist, daß sich aus diesen Bereichen, vor allem aus Beamtenfamilien, am leichtesten erfolgreiche Bürger entwickeln. Damit aber wird die ganze pauschale Theorie von der Chancenungleichheit durch Besitz an sich schon widerlegt. Sie müßte weit differenzierter aufgebaut und begründet werden. In einem Zeitalter ausgebauter Sozialwissenschaften ist es unerträglich, daß derartige Globalbegriffe aus vergangener Zeit, wie etwa die Chancengleichheit, zur sozialen Umgestaltung eingesetzt werden, ehe sie bis ins einzelne auf ihre wissenschaftliche Tragfähigkeit untersucht sind. Davon kann aber heute noch nicht einmal in Ansätzen die Rede sein. Bis zum Beweis des Gegenteils muß daher der Begriff der Chancengleichheit als ein wissenschaftlich nicht gesicherter zurückgewiesen werden, und alles spricht dafür, daß er an sich nur Unmögliches postuliert. Willkürlich erscheint der heute leichthin verwendete Begriff der Chancengleichheit aus folgenden Gründen: Zunächst werden in einer stereotypen, aus der Sozialbewegung des 19. Jahrhunderts geborenen Weise als "Chancen" immer nur die soziale"Herkunft und die Vermögensverhältnisse der Eltern gesehen; hier, nur hier soll ausgeglichen werden. Der sozialen Wirklichkeit wird dies in keiner Weise gerecht. Man denke nur an zwei andere Gaben, welche die Natur dem Einzelnen in höchst unterschiedlicher Weise verleiht, welche echte Privilegien begründen, bei denen aber die meisten Sozialreformer nicht auf den Gedanken kommen, sie durch Chancengleichheit ausgleichen zu wollen: die körperliche Schönheit und die geistige Leistungsfähigkeit. Was die körperlichen Vorzüge anlangt, so bedarf es hier keiner Vertiefung. Jedermann erfreut sich derselben, bei sich und bei anderen, niemand versucht, den häßlichen Menschen durch Staatshilfen ebenso zu stellen wie den schönen, attraktiven; und doch liegen hier Unterschiede, die viel bedeutsamer für das Berufsleben, für den ganzen Erfolg eines Lebens sein können und in der Regel sogar sind, als in vielen Fällen Stellung und soziale Schichtzugehörigkeit des Vaters. Dies gilt nicht nur für Frauen. Und dabei handelt es sich wirklich um etwas völlig Unverdientes, während man im Falle der Weitergabe eines verdienten Vermögens an die eigenen Kinder doch immerhin noch die Auffassung vertreten kann, daß hier eben über die vom Staat ja nach dem Grundgesetz besonders zu schützende Familie nur die Leistung früherer Generationen genossen werden dürfe. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß derartiges weit besser moralisch als Privileg zu legitimieren ist als die reine körperliche Prästanz. Hier ist es willkürlich, nur den einen Komplex herauszugreifen, den anderen jedoch völlig unberücksichtigt zu lassen.

150 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen

Noch deutlicher wird all dies bei der geistigen Leistungsfähigkeit. Auch für sie "kann ja der Mensch im allgemeinen nichts". Er mag sie durch eigene Anstrengungen steigern, aber auch dies ist ihm ja vielleicht doch wieder weitgehend verliehen und damit ein ebenso unverdientes Privileg. Nur wer ganz radikal der marxistischen Milieutheorie folgt und jede Art von Begabung, Fleiß, Durchsetzungsvermögen als Ergebnis der Erziehung und des Elternhauses beurteilt, der allein kann versuchen, mit finanziellen Mitteln staatlicher Förderung hier den "Privilegienvorsprung der höheren Schicht" auszugleichen. Sind jedoch geistige Gaben und Persönlichkeitskraft davon weitgehend unabhängig verliehen, setzen sie sich auch ohne Rücksicht auf Abstammung und Herkunft durch, so werden sie von den meisten Vertretern der Chancengleichheit als natürliche Leistungsfähigkeit aufgefaßt, hier soll dann nicht ausgeglichen werden - warum eigentlich nicht? Und in der Tat beschreiten radikalere Sozial- und Erziehungsreformer auch bereits diesen Weg. Da sie davon ausgehen, daß die geistige Leistungsfähigkeit zwar ein natürliches Privileg sei, welches aber in der Gemeinschaft nicht ohne weiteres berechtigt sein könne, versuchen sie, dem durch staatliche Maßnahmen entgegenzuwirken, etwa durch den Nachhilfeunterricht für geistig weniger Bewegliche. Mit welch tönenden Worten auch immer man das umschreiben oder verdecken mag, dahinter steht nichts als der Versuch, die unterschiedlichen Intelligenzgrade, welche die Natur beim Menschen hervorbringt, auch noch nivellierend und im Namen der Chancengleichheit auszugleichen. Das geltende Erziehungsrecht bietet dafür, vor allem in der Praxis, manche Ansatzpunkte. Ob hier aus christlicher Barmherzigkeit, aus Klassenkampf oder einfach aus Chancengleichheit heraus gehandelt wird, bleibt sich gleich. Das Ergebnis ist immer eines: die Intelligenznivellierung im Namen der Chancengleichheit. Sie ist eine notwendige logische Konsequenz dieses Begriffes, soll er nicht willkürlich sein, nur gerade die Unterschiede der Besitzverhältnisse oder der Herkunft berücksichtigen. Wer hier schon moralisch handeln will, muß es ganz tun; soll ein Corriger la fortune eintreten, so darf es vor der intellektuellen fortune nicht Halt ma~en. Doch so denkt heute nur eine kleine Minderheit; im übrigen wird in unterschiedlicher geistiger Leistungsfähigkeit keine vom Staat auszu~ gleichende Verletzung der Chancengleichheit gesehen. Dann aber erweist sich die Herkunfts-Chancengleichheit als ein willkürlich herausgegriffe-ner Bereich aus dem Raum dessen, was eben Natur und Glück dem einzelnen Menschen an Unterschiedlichem in die Wiege gelegt haben. Die Willkür, welche aufgrund der sog. Chancengleichheit betrieben wird, besteht auch noch. in einem Zweiten: Nicht nur, daß der Begriff

2. Die Chancengleichheit - Chance zur vollen Nivellierung

151

der Chance und des Privilegs willkürlich bestimmt und meist auf die materielle Besserstellung der Eltern reduziert wird; ebenso willkürlich ist auch der Versuch, nunmehr mit vorwiegend finanziellen oder auch mit pädagogischen Mitteln auszugleichen. Denn es gibt keine gesicherten Erkenntnisse darüber, daß sich Herkunft durch Geld, fehlende Bildung im Elternhaus durch Nachhilfeunterricht ausgleichen lassen. Hier vollzieht sich eine große und äußerst bedenkliche Materialisierung des rechtlichen und sozialpolitischen Denkens, gerade im Namen eines immateriellen Idealismus: Angeprangert werden die unterschiedlichen Besitzverhältnisse, hergestellt werden soll die geistige echte Gleichheit. Was jedoch eingeleitet wird, ist ein materialistischer Vorgang: Die geistigen Chancen etwa, die der eine hat, werden beim anderen mit dem Gold des Staates aufgewogen. Damit kann es sogar noch dazu kommen, daß sich die Chancenungleichheit verstärkt, weil der vom Elternhaus her Benachteiligte mit den Mitteln des Staates weit weniger anzufangen weiß als ein anderer Bürger, dem gerade dies im Elternhaus vermittelt worden ist. Es kann nur als willkürlich angesehen werden, ohne ausreichende sozialpsychologische Erkenntnisse irgend ein vermeintliches Übel mit Geld oder Pädagogik zu bekämpfen, ohne daß auch nur im geringsten klar ist, ob hier die richtigen Mittel zum richtigen Ziel eingesetzt werden. Man mag ein solches Vorgehen aus machtpolitischen Erwägungen rechtfertigen, wenn es etwa darum geht, eine möglichst große Anzahl von Arbeiterkindern in Führungspositionen zu bringen, damit eine angebliche politische Unterlegenheit des Proletariats gebrochen werde. Es bedarf hier keines Nachweises, daß auch dies, selbst machtpolitisch, höchst problematisch wäre, weil es ja ein ständiger und laufender Vorgang sein müßte, andernfalls entstehen sogleich neue Oligarchien. Doch selbst wenn sich machtpolitisch die Chancengleichheit auf diese Weise rechtfertigen, wenn sich der Vorwurf der Willkür ihr gegenüber vermeiden ließe, so genügen doch die vorstehenden Darlegungen jedenfalls zu einem: Moralisch lassen sich die großen Anstrengungen zur Herstellung einer angeblichen Chancengleichheit überhaupt nicht rechtfertigen, weil die Grundlagen, auf denen sie erfolgen, brüchig und bestreitbar sind. Auf Annahmen, allenfalls Plausibilitäten aber läßt sich ein moralisches Förderungsgebäude nicht errichten, wie es heute im Namen der Chancengleichheit geschehen soll. Die Chancengleichheit ist jedoch, darüber hinaus, ein in sich weithin widersprüchlicher Begriff. Er wird ja in aller Regel von denjenigen Kräften verwendet und ins Spiel gebracht, welche den Einzelnen durch die Unterstützung der Gemeinschaft von den Nachteilen seiner sozialen Herkunft befreien wollen. Dies ist nur dann möglich, wenn Gemeinschaftsbezogenheit des Bürgers besonders stark unterstrichen

152 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen wird, wenn der Gemeinschaft deshalb die volle Kompetenz eines Corriger la fortune zufällt. Insoweit ist denn auch Chancengleichheit stets eine sozialistische und eine kommunistische Forderung gewesen. Dies alles setzt nun aber, bei vertiefter Betrachtung, voraus, daß man den einzelnen Menschen in einer sehr engen, dauernden Verflechtung mit der Gemeinschaft sieht. Liberale Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des Menschen wird als eine Utopie verworfen, als ein RobinsonTheorem, dem keine Wirklichkeit entspreche. Nur in der Gemeinschaft könne sich der einzelne Mensch entfalten, sie habe daher die Aufgabe, die Chancengleichheit herzustellen. Gerade dieselbe Chancengleichheit verfährt jedoch, im gleichen Atemzug, völlig umgekehrt: Sie isoliert zunächst einmal den Menschen von jeder Gemeinschaft, in die hinein er etwa geboren wird: Ihr Ansatzpunkt ist der neugeborene Bürger, der in diesem Augenblick natürlich allen anderen Neugeborenen gleich ist und für seine Herkunft, für das Milieu, in das er nun eingebettet wird, "nichts kann". Im Namen des dergestalt völlig gemeinschaftsabstrahierten Wesens wird dann die totale Einbindung in die Gemeinschaft gefordert, damit Egalität der Chancen hergestellt werde. Deutlicher kann der innere, ja der grundsätzliche Widerspruch der Chancengleichheitstheorie nicht zutage treten. Wenn der einzelne Mensch schon, gerade bei und nach seiner Geburt, sogleich die Gemeinschaft braucht, nur mit ihr und durch sie zu etwas wird, so ist doch an sich nicht einzusehen, warum dies dann sogleich und nur die staatliche, egalisierende Gemeinschaft sein sollte, warum der neugeborene Bürger nicht auch den Einflüssen seiner nächsten Umwelt, seiner Familie, seiner Herkunft, seines Milieus unterliegen dürfe. Entweder der Mensch ist ein animal sociale - dann sollte er es doch auch im Raume seines Milieus, seiner Familie sein können; oder er ist es an sich nicht, weil er ja "an nichts schuld ist" - dann ist auch nicht einzusehen, woher die weitere Gemeinschaft, der Staat, derartig weitgehende nivellierende Rechte nehmen sollte. Dann ist der Jungbürger eben ein isoliertes Wesen im Sinne des frühen Liberalismus, das allein seinen Weg findet, ohne Familie und ohne Staat. Dieser Widerspruch löst sich nur an einem Punkt auf: indem nämlich offenbar wird, daß die Chancengleichheit nur ein Verdeckungsbegriff ist, daß hinter ihr eine ganz andere wesentliche Grundentscheidung steht - für die staatliche Gemeinschaft, gegen jede kleinere Gemeinschaft, insbesondere gegen die Familie, ihr Erbrecht und damit gegen das Privateigentum als solches. Hier zeigen sich jene oben angekündigten weitreichenden Konsequenzen, welche der so harmlos und selbstverständlich wirkende Begriff der Chancengleichheit notwendig nach sich zieht. Sie sollen anschließend noch kurz verdeutlicht werden, denn die meisten, welche Chancengleichheit fordern oder anwenden, sehen diese

2. Die Chancengleichheit - Chance zur vollen Nivellierung

153

Konsequenzen nicht, die aber unausweichlich sind, denkt man die Chancengleichheit einmal zu Ende. d) ChancengleichheitEntscheidung gegen Familie und Eigentum Die systemverändernden Wirkungen einer konsequent eingesetzten Chancengleichheit lassen sich in folgender These zusammenfassen: Die Durchsetzung der Chancengleichheit bedeutet die Aushöhlung der Institutsgarantien der Familie, des Erbrechts und damit des Privateigentums. Soll Chancengleichheit nicht nur ein schönes Wort sein, so muß der Staat in ihrem Namen versuchen, jene Startungleichheiten zu beseitigen oder doch abzumildern, welche in erster Linie aus der Familienzugehörigkeit, aus der Abstammung der Bürger erwachsen. Die Familie ist die Trägerin der wichtigsten Bildung in frühen Zeiten, die ein ganzes Leben lang nachwirkt. Sie bestimmt die Erziehung und auch, in immer steigendem Maße, Nutzen und Intensität der vom Staat angebotenen Bildung; denn gerade angesichts laufend neuer pädagogischer Experimente wird die Familie zur großen Nachhilfeeinrichtung für die jungen Menschen. Weit darüber hinaus reichen jedoch noch die vielfachen familiären Beziehungen, welche den jungen Bürger während seiner ganzen Jugend begleiten, seinen Eintritt in das Berufsleben wesentlich prägen und ihm meist auch noch, darüber hinaus, jahrzehntelang beruflichen, gesellschaftlichen Erfolg ermöglichen. Je länger sich eine Gesellschaft im äußeren Frieden und ohne große innere Spannungen entwickeln kann, desto enger wird das Netz dieser Beziehungen geknüpft, desto stärker wird auch der Einfluß von Freundschaften und familiären Beziehungen. Selbst wenn sich also die familiären Bande durch die modernen soziologischen Entwicklungen abzuschwächen scheinen, so wird dies doch, wenigstens zum Teil, wieder ausgeglichen durch diese vielfachen gesellschaftlichen Verschränkungen, welche von Kritikern Verfilzungen genannt werden. Hier liegt die eigentliche Gefahr für die Chancengleichheit, dieser Vorsprung des einen, der eben auf die Stellung und die Beziehungen seiner Familie zurückgreifen kann, vor einem anderen, welcher ganz allein im Berufsleben seinen Platz erringen muß - diese Ungleichheiten lassen sich auch nicht durch staatliche Subventionen oder durch ein subventionierendes Bildungssystem für sozial Schwächere voll ausgleichen. Ein Staat der Chancengleichheit muß daher mit Notwendigkeit gegen die Familie selbst Front machen, die familiären Bindungen einschränken oder unterbrechen, denn es gibt keine andere Möglichkeit, diesen dau-

154 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen

ernden und mächtigen Grund der Chancenungleichheit zwischen den Bürgern zu beseitigen. So zeigt sich denn hier ein unauflöslicher Widerspruch zwischen einem angeblichen Gebot der Herstellung der Chancengleichheit und dem unbestrittenen Verfassungsauftrag an den Staat, Ehe und auch Familie unter seinen besonderen Schutz zu nehmen (Art. 6 Abs. 1 GG). Wer dies letztere auch nur einigermaßen ernst nimmt, muß auf die Herstellung der Chancengleichheit grundsätzlich verzichten. Denn welchen Sinn sollte es haben, über die Ehe hinaus auch eine Familie zu schützen, d. h. die Einbettung der jungen Bürger in einen kleinen, engen Verband mit all seinen Freundschaften und Verbindungen - wenn all diese Wirkungen der Zugehörigkeit zum engen Verband gerade nicht eintreten sollen, die wichtigsten nicht: die Freundschaften und Verbindungen für das Leben? Eine Rechtsordnung, welche sich zur Familie bekennt, anerkennt damit auch den familiären Vorsprung, das Recht der Eltern und Familienangehörigen, innerhalb eines mehr oder weniger großen, blutsmäßig bestimmten Verbandes ihre Beziehungen, ihre soziale Mächtigkeit auf die Nachkommen zu übertragen, ihnen hier den Start ins Leben zu erleichtern. Wer dem nicht folgt, degradiert die Familie zu einem reinen Ernährungsmechanimus auf einige Jahre. Daß die Väter des Grundgesetzes daran nicht gedacht haben, bedarf keiner näheren Begründung. Wenn also einerseits das Grundgesetz gerade die Verstärkung dieses Familienverbandes mit staatlicher Unterstützung ausdrücklich fordert, so muß es auf der anderen Seite eine weitgehende Chancenungleichheit in Kauf nehmen. Wirkt es dieser Ungleichheit dann systematisch und massiv entgegen, etwa durch Ausbildungsbeihilfen, so wird der Sinn einer Familie entwertet, die eben in der Schaffung von Chancenungleichheit geradezu ihr Wesen findet. Wie bei allen derartigen Gegensätzen kann man sicher nun versuchen, einen Ausgleich zu finden, den Staat verpflichten wollen, um so mehr mit Subventionen einzugreifen, je stärker er andererseits auch wiederum den Familienzusammenhalt stärkt. Doch zwei Grundsätze, die so diametral gegeneinander stehen, werden sich schwer, vielleicht überhaupt nicht harmonisieren lassen. In der praktisch-politischen Entwicklung, in der Staatspolitik überhaupt, ist jedenfalls heute die Chancengleichheit nichts anderes als eine eindeutige Absage an den Schutz des Staates für die Familie; die Entscheidung ist klar: Sie fällt gegen eine ausdrücklich verfassungsgarantierte Institution im Namen eines bestimmten nivellierenden Gleichheitsverständnisses. Nichts anderes gilt auch für das Erbrecht und das mit diesem engstens verbundene Privateigentum. Die grundsätzliche Kritik am Erbrecht

2. Die Chancengleichheit - Chance zur vollen Nivellierung

155

setzt ja gerade bei der Chancenungleichheit an, welche auf diese Weise in der Tat geschaffen und oft über Generationen hinaus fortgesetzt wird. Die ganze Kritik, die seit dem 19. Jahrhundert, vor allem von sozialistischer Seite, gegen das Erbrecht vorgetragen wird, hat im Grunde nur diese eine Begründung: Es wird hier Chancenungleichheit übertragen, geschaffen, vererbt. Das Erbrecht ist insoweit auch noch weit gefährlicher für diese Chancengleichheit als die Familie; diese stellt ja Chancenungleichheit meist nur für eine Generation her, Erbrecht bedeutet die fortgesetzte, potentiell unendliche Chancen ungleichheit. Hier gibt es Vorwirkungen und Nachwirkungen, welche die Inegalität noch weiter steigern: Der künftige Erbe wird schon aufgrund der Anwartschaft eine andere Position haben als seine Mitwettbewerber im Leben; wer etwas zu vererben hat, steht anders da als derjenige, dem nur Rente und Altenheim bleiben. So wirkt das Erbrecht mit Ausstrahlungen immer, notwendig über Generationen. Und wieder gerät der Staat in einen unauflöslichen Widerspruch, will er die Chancengleichheit im Namen der allgemeinen Egalität durchsetzen: Einerseits verpflichtet ihn die Verfassung dazu, das Erbrecht als Institution zu erhalten, d. h. im großen und ganzen in dem Umfang und Zustand, der aus den vergangenen Jahrhunderten überkommen ist. Bei einem loyalen Staatsverständnis sollten also nicht mehr als Randkorrekturen des Erbrechts stattfinden. Andererseits zwingt die Chancengleichheit nicht nur zu einer Abschwächung, sondern letztlich geradezu zu einer Abschaffung des Erbrechts, weil nur auf diese Weise Entstehen und Weiterwirken immer neuer Chancenungleichheiten verhindert werden können. Und wer auch hier wieder versuchen möchte, beide Begriffe in einer gewissen Ausgewogenheit zusammenzufassen, die Chancengleichheit als eine Korrektur des Erbrechts einzusetzen, der endet eben in dem Dilemma, das seit Generationen in der egalitären Demokratie herrscht: Es gibt kein rationales Kriterium, nach dem man das Erbrecht mit der Chancengleichheit zusammenbringen, harmonisieren könnte. Erbrecht ist nichts als eine Absage an Chancen in Gleichheit, Chancengleichheit letztlich nichts als die Negation des Erbrechts. Welcher von beiden Polen heute stärker, attraktiver wirkt, braucht nicht ausgeführt zu werden. Mit der Zurückdrängung des Erbrechts und der Familie wird letztlich auch das Zentralinstitut der marktwirtschaftlichen Ordnung getroffen, das Privateigentum. Seine engen, wesentlichen Verbindungen zum Erbrecht sind bekannt: Erbrecht ist nichts als fortgesetztes Privateigentum, Privateigentum verliert seinen eigentlichen Sinn, wenn es nicht weitergegeben werden kann. Aus diesem Grund sind ja in den deutschen Verfassungen von jeher Eigentum und Erbrecht zusammen institutionell garantiert worden.

156 V. "Gleichheit vor dem Gesetz", "Chancengleichheit" - Nivellierungen

Wer sich zur Chancengleichheit bekennt, muß diese Verbindung aufheben und damit das Privateigentum völlig denaturieren, aus ihm ein reines Einkommens-, ja ein Verzehrs-Eigentum machen. Diebstahl kann es dann eigentlich nicht mehr geben, sondern nurmehr Mundraub, denn alles was jemand besitzt, ist dann irgendwie zum "alsbaldigen Verzehr" bestimmt. Die Motivationskraft des Eigentums für menschliche Aktivität versagt, wenn es nicht weitergegeben werden darf; der Todesfall wird zur Globalenteignung. Das Privateigentum soll nach dem Bundesverfassungsgericht so erhalten bleiben, wie es durch das bürgerliche Recht und die gesellschaftlichen Anschauungen geformt worden ist. Beides ist also zu berücksichtigen, und da kann kein Zweifel bestehen, daß die Weitergabemöglichkeit des Eigentums grundsätzlich zu dessen Wesen gehört, weil sie vom Zivilrecht seit dem Anbeginn zivilisierter Rechtlichkeit stets anerkannt wurde. e) Chancengleichheit als Herrschaftsauftrag und Machtgewinn

Damit also wird die Chancengleichheit zu einem der mächtigsten Hebel einer vollständigen Systemveränderung und so zu einem Weg zu ganz neuer Macht des Staates. Er ist es ja, der über den Auftrag zur Herstellung der Chancengleichheit eine unbegrenzte Kompetenz erhält, Eigentum, Erbrecht und Familie zurückzudrängen, wenn nicht aufzuheben. Die Erfüllung dieses Auftrages bedeutet für ihn entscheidenden Machtgewinn, ganz neue und moralisch gestärkte Machtlegitimation: Im Namen der Chancengleichheit darf, muß er ja gegen die gefährlichsten Gegenrnächte vorgehen, welche sich von jeher der Staatsgewalt in den Weg gestellt haben: Ehe und Familie und das mächtige private Eigentum. Die ständig oligarchisierenden sozialen, privaten Mächte werden im Namen der Chancengleichheit gebrochen. Und hier zeigt sich die Chancengleichheit sogar noch dynamischer und mächtiger als die volle und reine Verteilungsgleichheit. Denn diese letztere könnte ja auch in einem Sinne verstanden werden, welcher die sozialen Mächte sogar noch verstärkt, die sich der Egalität letztlich entgegenstemmen: Im Namen der materiellen Verteilungsgleichheit könnte ja auch gefordert werden, jede einzelne Familie gleichzustellen, insoweit aber den Familienzusammenhang eben doch zu stärken. Die Chancengleichheit dagegen greift entschlossen die inegalitären Gegenkräfte an und drängt sie zurück. Lange Zeit ist dies nicht so recht sichtbar geworden. Die Chancengleichheit erschien geradezu als eine Entschuldigung in einer Ordnung der Inegalität, als eine Form der Randkorrektur. Doch dies kann ihrem Wesen als der angeblich wichtigsten Ausstrahlung eines der höchsten Verfassungsgrundsätze nicht gerecht werden. Wenn man Chancen-

2. Die Chancengleichheit - Chance zur vollen Nivellierung

157

gleichheit als Grundsatz aufstellt, läßt er sich auf Randkorrekturen, auf Abschwächungen des Eigentums- oder Familieneinflusses nicht beschränken. Hier wird und muß sich nach kurzer Zeit auch die normative Rangfrage stellen. Harmonisierungsformeln sind dabei nur Formelkompromisse. Wird aber die Chancengleichheit auch nur im Grundsatz bejaht, so muß sie mit einer gewissen Notwendigkeit zum höchsten sozialgestaltenden Prinzip werden, ihr Vordringen in den letzten J ahrzehnten zeigt dies deutlich. Dann aber ist sie Trägerin der Veränderung des politischen und nicht nur des sozialen Systems. Sie bedeutet den Auftrag zur unablässig fortschreitenden, schrittweisen Egalisierung im Namen der Moral und damit den Auftrag zum Einsatz massiver staatlicher Subventionsmacht in allen Bereichen. Zum anderen ist sie der Auftrag zur Zerstörung der sozialen Gegenrnacht von Ehe, Familie und Besitz. Damit wird die Chancengleichheit zum neuen Weg in die Macht. Von dieser Macht hat sie vor allem eines: die Beliebigkeit, mit der sie ansetzen, kompensieren und nivellieren kann. In ihrem Namen kann die fehlende Mutter durch Geld "ersetzt" werden, der nicht-intellektuelle Vater mag soziale Prüfungspluspunkte einbringen. Irgendetwas kann für irgendetwas anderes frei kompensierend gewährt werden, immer getragen von einem "moralischen" Imperativ, der inhaltlich nahezu unbestimmt ist. Bessere, stärkere Macht kann sich ein Gemeinwesen wie der Gleichheitsstaat nicht wünschen. In Rechtsanwendungsgleichheit und Chancengleichheit, diesen beiden ersten Stufen der Egalität, nähert sich die Gleichheitsgewalt ihrem idealen Herrschaftszustand, der dritten Stufe, der materiellen, der vollen Verteilungsgleichheit. Anders als die beiden ersten Stufen kann diese Endstufe nicht mit einem großen Wort proklamiert oder gefordert, sie muß auf vielen Wegen, Schritt für Schritt erreicht werden. Einige von ihnen sollen die folgenden Kapitel beschreiben. Auf ihnen ist die Herrschaftsgewalt seit langem, unablässig und oft unbemerkt, unterwegs zu ihrer großen machtlegitimierenden, machterleichternden, machtverstärkenden Gleichheit.

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht Die Steuergleichheit ist die wichtigste Ausprägung der Egalität im modernen Gemeinwesen. Der Steuerstaat ist eine besonders deutliche Form von "Macht durch Gleichheit"; hier vor allem verstärkt sich diese Gleichheitsmacht eigengesetzlich. 1. Steuergleichheit als Grundlage von Steuemormativismus und Steuerparlamentarismus a) Der modernen Steuer ist begrifflich die Gleichheit der Belastung und der Art der Erhebung eigen. Machtausübung ist hier, vielleicht hier allein, nur in Gleichheit möglich. Denn alle anderen freiheitsbeschränkenden Befehle werden im Einzelfall vom Bürger weit leichter auch dann hingenommen, wenn ihre Gleichheitslegitimation nicht sogleich evident ist. Häufig trägt ja ein Herrschaftsbefehl seine Legitimation soz. in sich - daß eben die besondere Lage auch die spezielle Anordnung verlange; wer besonders hoch bauen will, wird sich ohne weiteres auch anderen Regeln unterwerfen lassen müssen, ohne Blick auf denjenigen, welcher nur ein zweistöckiges Haus errichtet. Anders im Falle der Steuer: Sie verlangt zunächst schon einmal eine grundsätzliche Legitimation: Warum muß der Bürger überhaupt etwas für die Gemeinschaft bezahlen? Daß es Gemeinschaftsaufgaben gibt, die finanziert werden müssen, ist darauf noch keine unbedingt überzeugende Antwort. Die überzeugungskraft tritt erst dann hinzu, wenn es sich eben um "echte Gemeinschaftsbelange" handelt, d. h. aber solehe, die "allen gleichermaßen zugute kommen", so daß auch alle Opfer bringen müssen - aber in welchem Maße? Eben in dem der Gleichheit. So bedarf also die Steuer, anders als der freiheitsbeschränkende staatliche Befehl, sofort und unmittelbar der Legitimation aus der Gleichheit. Andernfalls erscheint sie nicht nur als Willkür, sondern als Raub. b) Deshalb ist auch das allgemeine Gesetz im modernen Staat die einzig mögliche Grundlage der Steuererhebung, weil eben nur die allgemeine Norm auch die Gleichheit verbürgt. Alle anderen staatlichen Machtäußerungen könnten, mehr oder minder, über die individuelle Anordnung erfolgen, jedenfalls über einen Befehl, der sich an eine

1. steuergleichheit -

Grundlage des Steuemonnativismus

159

kleinere, überschaubare Gruppe richtet - die Steuer nicht. Rechtsdogmatisch ausgedrückt: Maßnahmegesetze könnte es in jedem Bereich viel weitergehend geben als in dem der Abgaben; er ist in besonderer Weise sensibel für die Gleichheit, und nicht von ungefähr wurde ja die Grenze zulässiger Maßnahmegesetze, das Einzelfallgesetz, gerade am Beispiel der persönlichen Steuerprivilegien entwickelt, etwa an der gesetzlichen Freistellung des Reichspräsidenten von Hindenburg hinsichtlich seines Gutes Neudeck. Damit aber wird der Normativismus, mit all seiner sich selbst verstärkenden Kraft, zum typischen steuerlichen Herrschaftsinstrument der modernen Staatlichkeit. c) überspitzt könnte man formulieren: Das Steuergesetz hat den modernen Parlamentarismus geschaffen, damit aber die Demokratie unserer Zeit. Im Steuerstaat der Egalität verstärkt sich die einzige Gewalt, welche heute legitim erscheint: die Volksvertretung des Volkssouveräns, nur im Gleichheitsstaat kann er wirksam herrschen, und am besten hier wieder - durch die Steuern. Die Steuer ist eine parlamentskonforme Art der Machtausübung im Gleichheitsstaat, hier steigert sich die sonst so schwächlich erscheinende Kraft der Volksvertreter. Die gesamte neue re Verfassungsgeschichte zeigt die engen Beziehungen zwischen Volksvertretungsidee und Steuerstaat. Historisch betrachtet war sogar die steuerliche Volksvertretung noch vor dem Steuergesetz da - in den Steuerbewilligungsrechten der Stände seit dem Mittelalter. Es ist daher nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet: Über die Steuer hat die Gleichheit die Demokratie geschaffen. d) Das Steuergesetzgebungsverfahren ist in besonderer Weise gleichheits- und zugleich parlamentskonform, hier kann die Volksvertretung, wie kaum auf einem anderen Gebiet, als Gleichheitsinstanz die Legitimation ihrer Organisation erweisen und zugleich ihre Macht verstärken: -

Im Parlament ist die Gleichheit in Vielfalt repräsentiert, jeder Abgeordnete ist der Vertreter des ganzen Volkes, doch er wird von einer besonderen Gruppe desselben entsandt, die auch spezielle Interessen hat. Gerade er kann daher die große Steuergleichheit kombinieren mit jenen zahlreichen, durch die Vielfalt des sozialen Körpers geforderten Ausnahmen, die dann aber keine Durchbrechungen sind, sondern nur wiederum der höheren Gleichheit dienen. Die Volksvertretung ist deshalb in besonderer Weise glaubhaft als Steuergesetzgeber, weit mehr als eine autoritäre Herrschaftsinstanz oder die Ministerialbürokratie.

-

Die Steuer ist ein so schwerer, so odioser Eingriff, gerade in einer modernen, kommerzialisierten Welt, daß nur der Souverän hierzu

160

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht legitimiert ist, d. h. aber eine Gewalt, in welcher der Besteuerte sich selbst wiederfinden kann - nur das Parlament erfüllt heute diese Voraussetzung.

-

Im Steuergesetz gewinnt das Parlament eine spezielle Macht, weil es hier ganz besonders unmittelbar wirkt: Die meisten anderen Parlamentsgesetze sind heute nurmehr Ordnungsrahmen, welche von der Verwaltung erst ausgefüllt werden müssen oder vom Richter spezialisierend auf den Einzelfall anzuwenden sind und erst dadurch zum wirklichen Befehl werden. Im Steuergesetz dagegen wird ganz unmittelbar gestaltet, Rechtslagen werden tiefgreifend verändert, der Verwaltung bleibt hier wirklich vor allem das gleichheitsverstärkende Weiterdenken von Gedanken des Gesetzgebers. Hier herrscht wahrhaft "die politische Spitze, der Konvent der gleichen Vertreter der gleichen Bürger".

-

Im Steuergesetz liegt in besonderer Weise die Eskalation der Machtverstärkung begründet: Die Steuergesetzgebung kann nicht zur Ruhe kommen, hier gibt es keine säkularen Kodifikationen, keinen Zustand, in dem "für die nächsten Jahre nichts zu erwarten wäre". Auch die politische Ruhe, die wirtschaftliche Prosperität muß in neuen Steuernormen ihren Ausdruck finden. Glaubensbekenntnis des Liberalismus war es, daß der von ihm geschaffene reiche Staat immer weniger Gesetze brauche, weil er immer mehr kommerziellen Selbstentfaltungsraum belassen werde; im Steuerstaat kommt das Parlament nicht zur Ruhe, die Steuerreform ist, das hat die Finanzwissenschaft längst erkannt, eine der wenigen ewigen Aufgaben. Hier verstärkt sich auch die Macht, denn immer mehr neuerlich erfaßte Lebenssachverhalte verlangen nach immer neuen Normen, damit die Ausgangsgleichheit bewahrt werde. Wird eine Ausnahme geschaffen, so muß sie durch zahllose Unterausnahmen wieder zurückgebogen werden auf die letzte, die große Steuergleichheit.

So ist denn der Steuerstaat ganz wesentlich Steuerparlamentarismus, gerade hier kann das sonst oft so schwache Parlament zum wirklichen Machtzentrum werden.

2. Die Steuergleichheit als Herrschaftsinstrument der Verwaltung Die besondere Machtkonformität der Steuergleichheit und des durch sie konstituierten Steuerstaats zeigt sich darin, daß dies nicht nur ein parlamentskonformer, sondern ebenso ein verwaltungs-, ein bürokratiekonformer Begriff ist.

2. steuergleichheit als Herrschaftsinstrument der Verwaltung

161

a) Die Verwaltung wird am besten dort zum Herrschaftsinstrument, wo sie eine einheitliche ist, wo wirklich von "der" Administration die Rede sein kann. In einem vielfach kommunalisierten und föderalisierten Gemeinwesen wie der Bundesrepublik Deutschland ist dies nirgends so vollständig der Fall wie in der Steuerverwaltung. An jedem Punkt des Staates werden hier in der Tat dieselben Gesetze gleichmäßig vollzogen, die Steuerverwaltung wird zur Einheit und damit zum Machtinstrument durch die Gleichheit des Steuergesetzes, sie wird zum Modell der "Einheit der Verwaltung". b) In seiner Schematisierung ist das Steuerrecht heute noch immer, jedenfalls für den Spezialisten, eine der am leichtesten durch Verwaltungsmacht zu handhabenden Materien .Dem steht nicht der komplizierte Einzelfall entgegen, er wird, machtmäßig jedenfalls, durch die zahllosen anderen, schematisch zu lösenden mehr als ausgeglichen. Die Klagen über die Komplexität, die Überkompliziertheit des Steuerrechts kommen ja meist von den wenigen Ungleichen, auf deren Abgaben aber die Staatsgewalt nicht beruht. Die zahllosen Lohnempfänger jedoch sind unverhältnismäßig leicht zu überschauen und zu beherrschen, das an sich unerhört schwierige Problem, den Staat an jedem Güteraustausch durch die Umsatzsteuer partizipieren zu lassen, ist hier geradezu in einem verwaltungstechnischen Wunder gelöst worden. Die lauten Klagen über ein überkompliziertes Steuersystem, in dem sich zuviel Ungleichheiten erhielten, sollte daher die eigentliche Realität nicht vergessen lassen: daß all dies, jedenfalls machtmäßig gesehen, Randerscheinungen sind, daß die große politische Wirklichkeit ein Wunderwerk schematisierter Verwaltung zeigt - über eine voll durchgegesetzte Gleichheit. c) Das Steuerermessen der Verwaltung ist meist ganz erheblich. Doch es führt eben, gerade bei dieser Verwaltungsveranstaltung, nicht zu immer größerer Inegalität, sondern nur zur Verfeinerung der Gleichheit: In keinem anderen Verwaltungszweig konnte die Ermessensausübung derart schematisiert werden wie in der Steuerverwaltung. Für Spezialgestaltungen ist hier viel weniger Raum als etwa in einem Baurecht, das es eben mit Grundstücken zu tun hat, von denen jedes dem anderen irgendwo ungleich ist. In der Steuerverwaltung dagegen dominiert letztlich überall die Gleichheitswertung. Von Gesetz und Verordnungen her ist sie so mächtig, daß die Verwaltung nur zum gleichheitsverstärkenden Instrument werden kann. d) In keinem Verwaltungsbereich stehen der Bürokratie derart weitgehende Informationsmöglichkeiten zur Verfügung wie in dem der Steuer. Wie schwer hat es doch die Polizei, bis sie auch nur einen kleinen Zipfel von dem lüften kann, was das Privatleben des Bürgers zudeckt! 11 Lelsner

162

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

Ein Gesamtbild vom Leben eines Menschen kann sie sich kaum je machen. Nicht anders jener Strafrichter, der in wenigen Stunden, vielleicht in Minuten, ein Gesamtbild von einem Beschuldigten gewinnen soll, auf Grund dessen allein er doch eigentlich urteilen dürfte. Und wie anders der Steuerbeamte: Vor ihm liegt das gesamte Geschäftsleben eines Unternehmers, sehr viel vom Privatleben des Bürgers völlig offen. Er kann es nicht nur untersuchen, er muß es in seiner ganzen Totalität sehen. Hier allein kann die Bürokratie eines ihrer bedenklichen Ideale erreichen: das des Großen Bruders, der seine Neugierde in allen Einzelheiten befriedigen kann und sich bei seiner Entscheidung auf die mühesparende Gleichheit zurückziehen darf. Nur eine Form von Allverwaltungs-, von echtem Zentralverwaltungsstaat gibt es in der nicht-kommunistischen Ordnung: den Steuerstaat. e) Und schließlich ist hier ein bürokratisches Ideal verwirklicht: die völlige Gerichtsunabhängigkeit des Verwaltungsvollzuges. Was der Fiskus erreichen will, das braucht er meist nicht einmal selbst beizutreiben, er läßt es sich schon vorweg geben. Der allgemeine Rechtsgrundsatz unserer gesamten Ordnung, daß nämlich prinzipiell nicht vorgeleistet werde, ist hier schon in sein Gegenteil verkehrt; und das privatrechtliche Prinzip, daß man zu einer Leistung nur über den Richter komme, nur über ihn die erforderlichen Informationen über die Leistungsfähigkeit der Gegenseite erreiche, gilt ja ebenfalls nicht, obwohl es sich um Dauerschuldverhältnisse größten Ausmaßes handelt. Der Steuerstaat verweist mehr als jede andere Verwaltung, den Bürger auf das Dulden und Liquidieren, er ist, in sich selbst geschlossen, eine "volle Staatsgewalt", hier wird recht eigentlich die Verwaltung zur vorweggenommenen Justiz. Bei näherem Zusehen erfolgt all dies nur im Namen eines Prinzips: der Gleichheit. Die Vorauszahlungen der Einkommensteuer sind erforderlich, weil die Lohnsteuer jeweils sogleich abgeführt wird, die Informationsrechte sollen ja nur verhindern, daß sich ein Bürger irgendwelche Vorteile dem anderen gegenüber erschleiche, die harte, rasche Durchsetzung soll Vollstreckungsvorteile vermeiden. Und nachdem all dies jedermann, völlig gleich, trifft, wird es auch von allen letztlich nicht nur getragen, sondern sogar gebilligt. Nirgends hat man sich im Namen der Gleichheit an die Verwaltungsmacht so gewöhnt wie gerade hier. 3. Steuergerichtsbarkeit als Gleichheitsverstärkung Der unabhängige Richter ist, nach Meinung oder TIlusion der Liberalen, die große Instanz der Freiheit, er soll in ihrem Namen auch Individualität, Ungleichheit beschützen. Im Steuerrecht, der Herrschaftsaus-

3. Steuergerichtsbarkeit als Gleichheitsverstärkung

163

übung par excellence, findet eher das Gegenteil statt: Die Judikative wird besonders deutlich zur Gleichheitsverstärkung. a) Maßstab der richterlichen Kontrolle kann letztlich, im Steuerrecht jedenfalls, nur die Beachtung der Gleichheit sein, alles andere sind Randerscheinungen. Eine Untersuchung von höchstrichterlichen steuerrechtlichen Urteilen ergibt deutlich, daß der Verwaltung nur selten ein Zuviel an Nivellierung vorgeworfen, daß ihr vielmehr meist der Gleichheitsverstoß, also zuwenig Gleichheit, vorgehalten wird. In dieser "höchst technisierten" Materie, wo die Tatbestände so hart fixiert sind, bleibt dem Richter auch kaum eine andere Wahl. b) In der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte setzt sich dies eindrucksvoll fort: Außer der Steuergleichheit gibt es eigentlich keine Maxime, an welche der Steuergesetzgeber wirklich gebunden wäre; vor allem nicht jene Freiheit des Bürgers, die ja nur dann verletzt sein soll, wenn seine "Vermögensverhältnisse grundlegend verändert werden" also in einem völlig theoretischen Fall. Eine lohnende Aufgabe wäre es übrigens, die Auswirkungen dieser Judikatur, die der politischen Gewalt hier so großen Ermessensraum beläßt, auf andere Bereiche, insbesondere des öffentlichen Wirtschaftsrechts, zu untersuchen; es würde sich wohl zeigen, daß der gerade im Steuerverfassungsrecht entwickelte, besonders weite Ermessensraum für Gesetzgeber und Verwaltung, der praktisch nur durch die Gleichheit beschränkt wird, auch in anderen Sektoren zu größerem Staatsspielraum geführt hat. c) Wie weit die Rechtsprechung im Namen der Gleichheit hier bereits entindividualisiert, zum Gleichheitsinstrument geworden ist, zeigt sich vor allem in jener Judikatur des Bundesfinanzhofs, die in so vielen Fällen sogleich von der Exekutive übernommen, in Durchführungs- oder Rechtsverordnungen umgeformt wird. Dies ist nur möglich, weil die Erkenntnisse in zahlreichen Fällen bereits so abgefaßt sind, daß sie "normkonforme Rechtsinhalte" aufweisen. Der Richter als Gesetzgeber dieses Phänomen ist, hier ganz besonders, eine Gleichheitserscheinung: Das Urteil, von der Idee her der unauswechselbare Ausdruck der Einzelfallentscheidung, ist hier wesentlich bereits "in Konsequenzen gedacht", Ausdruck einer Gleichheit, welche sogleich zur Norm werden kann. Mit einiger Übersteigerung läßt sich wohl behaupten: Die Urteile des Obersten Finanzgerichts lassen sich vor allem in zwei große Kategorien einteilen - in Verordnungen in Urteilsform auf der einen Seite, in Fortsetzungen bisheriger Rechtsprechungsketten mit nur ganz unwesentlich randkorrigierendem Effekt zum anderen. In beiden Entscheidungsformen wirkt nur eines: die Gleichheit.

11·

164

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

4. Die Steuergewalt als einheitliche Macht In der Besteuerung ist die Verwaltung eng an den Willen des Gesetzgebers gebunden, der Richter gleichfalls, eben im Namen der Gleichheit. Die freiheitsschützende Funktion der Gewaltenteilung scheint also voll gewahrt, in derselben Intensität, mit der hier Machtausübung erfolgt. Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch eine gegenläufige Tendenz: Die der Machtintegration der drei Gewalten zu einem wirklichen Steuerstaat, gerade im Namen der Gleichheit. Wie dargelegt, findet hier ja eine Gewaltenverschränkung, weit über das sonst übliche hinaus, statt: Der Richter, jedenfalls die höchste Gerichtsbarkeit, wird gerade hier in besonderer Weise "gesetzgeberisch tätig", eben weil die schematische Steuergleichheit dies ermöglicht, wenn nicht verlangt. Der Verwaltung stehen spezielle Informations- und Exekutivbefugnisse zu, welche sonst dem Richter vorbehalten sind. Das Parlament wiederum greift nicht selten in Spezialnormierungen auf einen Bereich über, welcher eigentlich der Verwaltung allein zustehen sollte. Daher wird auch die Steuergewalt als besonderes Beispiel der Gewaltenverschränkung genannt. Mit Recht - hier bewährt sich die gewaltenintegrierende Katalysationskraft der Gleichheit: Indem jeder Pouvoir etwas von jedem anderen in sich trägt, ihn soz. bereits vorwegnimmt, wird jede der Gewalten zu einem zwar nicht vollen, aber doch weitgehenden Ausdruck der einen Steuergewalt; in der Gewaltenverschränkung entsteht nicht nur ein einheitlicher Pouvoir - hier ist wirklich "der" Steuerstaat Wirklichkeit. Möglich und notwendig wird dies, weil alle Träger der Staatsrnacht unter einem Prinzip stehen und dieses laufend durchsetzen: die Steuergleichheit. Die Gewaltenteilung schafft ja, ganz allgemein im Staatsrecht, gewisse Reibungsflächen zum einen, ein staatsherrschaftliches Niemandsland auf der anderen Seite; so ist es auch gewollt: Es sollen hier wirkliche Freiheitsräume bewahrt werden. Die Steuerherrschaft dagegen muß eine lückenlose sein, aus dem Begriff der Gleichheit heraus, deshalb kann es hier allzuviel an Gewaltenteilung nicht geben. Damit aber wird die Staatsgewalt in den Abgaben eine besonders lastende, eben in ihrer Einheitlichkeit. Die enge Gewaltenkooperation zeigt sich, ganz praktisch, schon in einem: in einer sonst nicht gewohnten Rücksicht, welche hier eine Gewalt auf die andere nimmt. Der Verwaltungsrichter blickt in erster Linie auf den einzelnen Bürger, er entscheidet leicht auch dann gegen den Staat, wenn hier bedeutende öffentliche Interessen getroffen werden; die Urteile zu Umweltschutz und Kernkraftwerken zeigen es deutlich. Ganz anders die Finanzgerichtsbarkeit - derartige "Staatsgefährdungen durch Urteile" wird es hier niemals geben, denn ein höchstes

5. Steuergleichheit als moralische Macht - Steuerstrafrecht

165

Gesetz respektiert stets die Finanzgerichtsbarkeit: Die Staatsfinanzen dürfen nicht gefährdet werden. Und der parlamentarische Gesetzgeber bereitet nicht selten einer Verwaltung Schwierigkeiten im Namen der Gleichheit der Bürger, er versagt ihr Informations- oder Durchsetzungsmacht im Namen der Grundrechte. Anders wiederum im Falle der Steuer: Die große fiskalische Staatsräson wird hier stets rechtzeitig zum Tragen gebracht, vor ihr weichen Ausschüsse und Plenum zurück. Die oft übergroße Sorge, den Staat ins Wanken zu bringen, führt zu einer Selbstverständlichkeit der Steuermacht, die sich immer unter Berufung auf den Finanzbedarf des Staates nicht nur halten, sondern verstärken wird. Immer häufiger findet sich der Zusatz ,,- gewalt" für Erscheinungsformen der Staatsmacht. Da spricht man von Auswärtiger Gewalt und Polizeigewalt, Personalgewalt und Enteignungsgewalt; und immer steht dahinter das Phänomen einer sich in gewissen Bereichen verstärkenden Gewaltenintegration, einer Gewaltenverschränkung, in der die Gewaltenteilung ihre freiheitsschützende Kraft langsam aber sicher verliert. Wenn überhaupt dieser Zusatz in einem Bereich Sinn hat, so in dem der Steuergewalt. Hier hat die Gleichheit über die Gewaltenteilung gesiegt; und hier ist es sogar zulässig, noch den Zusatz ,,- staat" hinzuzufügen: Ob es einen Bildungsstaat oder einen Sozialstaat geben kann, mag zweifelhaft sein. Der Steuerstaat aber ist ein realistischer, dogmatisch einwandfreier Begriff, weil sich hier die Phänomene der staatlichen Gewaltausübung in unerhörter Weise zusammenballen, und weil diese Machtäußerung wirklich im Zentrum der politischen Herrschaft stehtalles im Namen der Egalität.

5. Die Steuergleichheit als moralische Macht Das Steuerstrafrecht Gegen keine Machtäußerung des Staates wird so stillschweigend, hartnäckig und unablässig angekämpft wie gegen die Steuergewalt. Doch die Gewalt tut ihren Gegenzug. In keinem Bereich versucht sie sich mit so viel moralischem Anspruch zu umgeben wie in dem der Abgaben. Hier wird doch am häufigsten das Verhalten des Bürgers gegenüber dem Staat mit dem Wort "Moral" bezeichnet, seine Verfehlung als "Sünde" gebrandmarkt. Bis vor kurzem gab es wohl keinen Verwaltungsbereich, in dem die Mittel des Strafrechts mit gleicher Strenge zur Ahndung eines Fehlverhaltens eingesetzt wurden wie im Steuerbereich. Und vielleicht mußte und muß dies immer weiter mit solcher Unbedingtheit geschehen, weil die Vorstellungen in der Gesellschaft, jedenfalls in gewissen Kreisen, über den moralischen Unwertgehalt eines steuerlichen Fehlverhaltens keineswegs ungeteilt sind.

166

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

Die große Entpoenalisierungsbewegung der letzten Jahrzehnte hat das Steuerstrafrecht kaum erfaßt. Der Grund dafür liegt nicht so sehr darin, daß man hier zugleich das Ende aller Staatlichkeit hätte befürchten müssen, das Versiegen der Steuerströme. Vielmehr schützt das Steuerstrafrecht etwas ganz anderes, das eben nie gebrochen werden darf, weil es die Staatsgrundlage selbst bildet: die Gleichheit. Sonstiges kriminelles Unrecht wendet sich in aller Regel gegen andere Bürger; der Staat muß sie bis zu einem gewissen Grade schützen, doch er wird hier nicht allzu weit gehen, insbesondere, wenn es sich um "Ungleiche" handelt, welche sich eben in eine besondere Gefahrenzone soz. selbst begeben haben, etwa durch allzu vieles oder wenig geschütztes Gut. Nur dann wird der Staat schärfer zugreifen, wenn elementar gleiche Güter in Frage stehen, etwa Leben und Gesundheit; doch auch in letzterem Fall will er sich ersichtlich nicht allzu viel in den Streit der Bürger einmischen; er braucht es auch nicht, seine Herrschaftsgrundlagen sind hier so lange nicht bedroht, wie nicht allgemein Waffengewalt eingesetzt wird. Ganz anders bei Steuerhinterziehung: Hier negiert der Rechtsbrecher die Gleichheit, die vornehmste Form der Staatsgewalt. Hier droht deI anarchisierende Ketteneffekt. Milde kann der Gleichheitsstaat viel leichter dem Staatsfeind, dem Terroristen bezeigen; durch Polizei und Gerichte kann er ihn in Grenzen halten, "durch Geld" läßt sich hier, so scheint es doch, Repression abbauen. Und wer sich mit Bomben und Gewehren außerhalb der Gemeinschaft gestellt hat, bei dem bleibt immer noch die Chance der Rehabilitierung. Anders der Steuersünder: Er hat das eigentliche Zentrum der Macht erkannt und gebrochen, in dem der Staat wirklich verwundbar ist. Die Achillesferse der Gewalt läßt sich nur durch massiven Einsatz moralisierender Gewalt schützen, eben im Strafrecht. Hier bedarf es auch, anders als bei sonstigen Poenalisierungen, keiner aufwendigen überredung der Bürger, die doch sonst so rasch gegen jede Form der Repression sich wenden: Für das Steuerstrafrecht wird sich immer eine Mehrheit finden, wie hart es auch sein mag, denn es trifft ja in der Regel die wenigen, die ungleich sind oder ungleich werden wollen, die große Zahl der Arbeitnehmer wird ihm ohnehin nie verfallen. Daher wird das Steuerstrafrecht wie kein anderes getragen von einer echten "Sozialmoral", die hier zur Staatsschutzmoral wird. Andere Kriminelle wenden sich gegen ihresgleichen, gegen Private. Der Steuersünder ist der moderne Staatsverbrecher, er begeht die eigentliche Majestätsbeleidigung: den Angriff auf den Steuerstaat eben mit den Mitteln, mit welchen dieser Gewalt über ihn ausübt - in den unmerklichen, verschleierten kleinen Schritten.

6. Die ungezielte, unmerkliche Herrschaft der Steuergleichheit

167

Und deshalb sind auch die Steuererleichterungsparteien bisher nie etwas anderes gewesen als Formen der Anarchie. Soweit ist der Steuerstaat bereits vorgedrungen, so selbstverständlich ist er geworden. 6. Die ungezielte, unmerkliche Herrschaft der Steuergleichheit a) Die Steuer ist "kein Befehl, sondern eine Forderung". In ihr kommt, so scheint es doch, nicht ein herrschender Wille zum Ausdruck, sondern die Notwendigkeit einer Bedürfnisbefriedigung seitens des Staates. Sicher ist jedem klar, daß hier Mittel für Herrschaft beschafft werden, die Unmerklichkeit dieser Herrschaftsform bewährt sich dennoch: Dem Steuerbürger ist ja, im Augenblick der Erfüllung der Forderung, keineswegs bewußt, welche Herrschaftsveranstaltungen er nunmehr finanziert. Dies aber ist von entscheidender staatspsychologischer Bedeutung: In der Steuerunterworfenheit liegt nicht nur eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem unbekannten Verwendungszweck der Steuer, sondern auch eine Art von Steuerhoffnung: daß diese Mittel nicht etwa gegen die eigenen Interessen, sondern zu deren Schutz eingesetzt werden; und dies ist ein ganz wesentliches Motiv der Steuerzufriedenheit. In unmerklicher, verschleierter Weise aber kann der Gleichheitsstaat gerade damit durch die Steuern herrschen, daß er eben die Verwendungszwecke, meist erst nach der Erhebung, zu variieren vermag. Diese Zwecksetzungen erscheinen dann als Herrschaft, nicht die Erhebung der Steuer selbst; sie wird soz. aus dem gesamten Odium der Macht und ihrer Ausübung herausgenommen. Dies aber ist, wiederum psychologisch, von großer Bedeutung - der primäre Steuereffekt, der der Angleichung, ja Nivellierung durch die Erhebung der Abgaben, erscheint so als geradezu herrschaftslose Staatsveranstaltung. b) Nun nehmen allerdings die direkt und sichtbar sozialgestaltenden Steuern an Bedeutung wohl doch laufend zu, und unter ihnen wieder vor allem die Steuern mit deutlich fühlbarem Nivellierungseffekt, man denke nur an die Steuerentlastungen im Wohnungsbau. Hier wird das Herrschaftsziel durchaus klar: Es soll etwa möglichst jene "Normalfamilie" geben, welche Wohnungen von einer gewissen mäßigen Quadratmetergröße bezieht. Auf diese Weise ist es zu einer großen sozialen Nivellierung gekommen, selbst bei jenen, welche sich im Grunde mehr an Wohnraum, damit aber auch an Lebensqualität, leisten könnten. Doch auch dies und zahllose andere, ähnliche Gestaltungen werden, erstaunlicherweise, nicht eigentlich als Herrschaft empfunden. Selbst der Sozialgestaltungseffekt ist kaum bewußt. All dies tritt eben zurück hinter einem primären Ziel, das ein typischer Steuerzweck ist: der Ver-

168

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

stärkung der Egalität. Derartige Normierungen werden hingenommen, weil durch sie, angeblich oder wirklich, "Luxus" verhindert oder begrenzt wird, damit aber eine irgendwie doch skandalöse Form von Ungleichheit. Dem Gleichheitsstaat ist es auf diese Weise bereits gelungen, feste, harte Herrschaft als herrschaftslose Steuererhebung auszugeben, in der Ungezieltheit der Abgabenerhebung und darin, daß die Ziele eben hinter dem großen Zweck der größeren Gleichheit zurücktreten. 7. Die unaufschiebbare Gewalt des Steuerstaates Eine Gewaltausübung wird um so mächtiger, je drängender sie erscheint, je weniger sie Aufschub duldet. Von vorneherein kommen Zweifel nicht auf, und nachträgliche Diskussion hat immer etwas Schwächliches. Mehr noch: In der Unaufschiebbarkeit selbst liegt schon das Eingeständnis einer besonderen Bedeutung der Veranstaltung, damit aber ein wichtiger Ansatz der Legitimation der Macht. Dem Steuerstaat ist dies alles in hoher Perfektion gelungen: Er setzt die mächtigste politische Drohung ein, die doch ganz unpolitisch erscheint, Regierung und Opposition, alle Kräfte im Staate, alle denkenden Menschen überhaupt überzeugt: die drohende Haushaltslücke, damit die Beschwörung des Endes der staatlichen Gemeinschaft. Gegen die Notwendigkeit dieser Machtausübung, und damit gegen die Macht überhaupt, läßt sich also gar nichts Grundsätzliches mehr einwenden. Der Steuerimperativ ist damit der mächtigste, den es überhaupt gibt, und er ist es im Namen der Gleichheit: Wenn sich einer der Steuer entzieht, so können es - alle, dann aber wird die Haushaltslücke sogleich unerträglich. Die drängende Steuerherrschaft bewährt sich zugleich als Verschleierung der Macht. Der Staat, der mit solcher Unaufschiebbarkeit Mittel benötigt, geht es bei ihm letztlich nicht vielmehr um das überleben, als um eine "feudale" Herrschaftsausübung? Hat diejenige Macht überhaupt Herrschaftsspielraum, die sich stets bemühen muß, gerade noch die Haushaltslücke zu füllen? Und in der Tat ist es ja über die Theorie von den "weitgehend festgelegten Haushalten" zu einer weiteren Machtverschleierung gekommen: Dem Bürger scheint es, als vollziehe sich das gesamte Haushaltsgebaren des Staates, damit aber die Herrschaft, in festen, vorher bestimmten, jedenfalls nicht durch irgendeine Macht beliebig zu verändernden Bahnen. Dann aber - kann es sich hier überhaupt noch um Macht handeln?

8. steuerstaat - mehr Macht durch atomisierende Gleichheit

169

Die List des Gleichheitsstaates als Steuerstaat besteht hier darin: Er herrscht, unmerklich und langfristig, nicht nur durch die speziellen Ziele der Staatlichkeit, die er sich setzt und mit Steuern erreicht, sondern durch die Art der Steuererhebung als solche. Ihr ständiger, geradezu allgegenwärtiger, immer gleicher Einsatz gewöhnt den Bürger an die Macht, schwächt deren Merklichkeit ab. Das Drängende dieser Gewalt erscheint nur als ein weiterer Beweis dafür, daß hier die "bedürftige Herrschaftsmacht" am Werke ist, die jedoch eigentlich als solche nie gefährlich werden kann. Und doch liegt in ihrem Drängen nicht Schwäche, sondern weitere Stärke, Unbedingtheit, Diskussionslosigkeit. 8. Der Steuerstaat - Ausdruck der Machtverstärkung durch atomisierende Gleichheit Der Steuerstaat wirkt nicht nur egalisierend, er bewirkt dies durch Gleichheit, in der besonderen Form der Atomisierung der Bürgerschaft: Er schafft die Gleichheit der Isolierten. a) Die Steuerforderung richtet sich an den Einzelnen, wenn auch in voller Gleichheit, geht stets auf seine unauswechselbare Lage ein. Vergleiche ziehen und damit Gleichheit herstellen oder korrigieren - dies ist ein Monopol der Steuerverwaltung, welche allein die verschiedenen Daten hat; der Bürger genießt jenes Steuergeheimnis, das seine Freiheit sichern soll, er ist in ihm aber auch eingesperrt: Von den anderen isoliert, die ebenfalls, ihm gegenüber, das Steuergeheimnis geltend machen werden, kann er den eigentlichen Gleichheitsdialog nicht führen, die Egalitätsargumente nicht bringen. So wirkt sich das vielgepriesene Steuergeheimnis, in diesem Sinne wenigstens, sogar als ein Herrschaftsinstrument aus, es wendet sich gegen den Bürger. Deshalb schon braucht die Staatsgewalt keinen allzu großen Widerstand der Bürger im Namen der Gleichheit zu befürchten - der ja allein wirksam sein könnte - weil und solange es dieses Steuergeheimnis noch gibt. Hier wird die Steuerforderung zu einer Art von fiskalischer Isolationshaft. Diese Steueratomisierung verhindert auch, im Ergebnis, den wirksamen Zusammenschluß der Steuerbürger gegen den Gleichheitsstaat. Steuerzahlerbünde müssen sich, immer wieder, mit allgemeinerer Staatspolitik beschäftigen, weil sie durch das Steuergeheimnis am wirksamen Widerstand gegen den Gleichheitsstaat gehindert werden. Und sie sind, wie bereits dargetan, immer allgemeine, kaum je spezielle Steuervereinigungen gewisser "Tatbestandsbetroffener" - nur als solche aber hätten sie durchgehende Wirksamkeit. b) Nicht von ungefähr sind in der Französischen Revolution zu gleicher Zeit die Zwischengewalten beseitigt und es ist das große neue Prinzip

170

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

der Gleichheit vor den öffentlichen Lasten durchgesetzt worden. Eines ist ja ohne das andere nicht möglich: Die eigentliche Zwischengewalt wird, muß immer versuchen, nicht etwa ein verlängerter Arm einer zentralen Herrschaft zu sein, sondern zentrale Macht für einen bestimmten Bereich zu autonomisieren. Dazu gehört jedoch auch, ganz wesentlich, etwas, das heute im allgemeinen Bewußtsein fast verschüttet ist: . Echte Zwischengewalten haben insbesondere das Recht, öffentliche Lasten zwischen ihren Mitgliedern selbst, in autonomer Entscheidung zu verteilen. Reste davon sind nur noch in gewissen Beitragsfestsetzungskompetenzen erhalten geblieben. Die eigentliche große, gleiche Steuergewalt ist also mit der Existenz eines großen Netzes von Zwischengewalten völlig unvereinbar, weil sie dann nicht mehr, in allen wesentlichen Abgaben vor allem, auf den einzelnen Bürger durchgreifen kann. Dieser ist dann eigentlich ein Bürger der Zwischengewalten, nicht ein Gewaltunterworfener der zentralen Macht. Durch die Beseitigung der Zwischengewalten hat die Französische Revolution im Kern, im Grundsatz, das wesentlich aristokratische Prinzip der "Steuer-Innengestaltung" radikal zerstört; nun gibt es keine Städte, keine Stände mehr, welche an Stadtmauern Königen Tribute entrichten. Der Steuerbürger, die angeblich große Errungenschaft der modernen Staatlichkeit, ist in seiner Isolierung, seiner Atomisierung und damit Hilflosigkeit gegenüber dem Staat vielleicht der größte praktische Machtfortschritt gewesen, den - gerade auch noch die Revolution der Freiheit gebracht hat! Nicht mehr "Divide et impera" heißt die Maxime, sondern "Isoliere und herrsche"; dies ist weit wirksamer. Der größte aller Durchgriffe, der des Staates auf den einzelnen Bürger, er macht den Staat, um die berühmte Formulierung von Karl Barth abzuwandeln, zum Abgaben-Gott auf Erden: Alle Bürger, alle Menschen sind endlich "unmittelbar zu ihm". Und auch das "Unmittelbar-sein-zuGott" ist ja nicht nur ein Weg der göttlichen Liebe, sondern in erster Linie das Zeichen der Allmacht des ganz Anderen. c) Gegen diese lastende Macht werden immer wieder letzte Aufstände versucht, nicht nur im Steuerwiderstand, dem einzigen, was den isolierten Steuerbürgern noch bleibt, sondern auch in jener kollektiven Form, die doch das einzig wirksame Gegenmittel gegen den Steuerstaat der Gleichen zu sein scheint. Da werden Steuerparteien gegründet, die sich nicht zu Unrecht Bürger-Parteien nennen, wollen sie doch das Joch abschütteln oder wenigstens erleichtern, das sie gerade zum Bürger macht - die Abgaben. Große Verbände von Steuerzahlern entstehen, die nichts anderes mehr zusammenschließt als das gemeinsame Interesse an "weniger Macht" durch Steuern.

9. Nicht-Sachgebundenheit der Steuer als Herrschaftsbelieben

171

All diesen politischen Phänomenen hat man Utopismus vorgeworfen, oder doch eine egoistische Verengung der Politik auf das reine Steuerinteresse - im Grunde sehr zu Unrecht. Sie allein beschäftigen sich nämlich mit dem eigentlich Hochpolitischen, mit der Ausübung der modernen Gewalt durch die Steuern. Was nachher kommt, die Diskussion um die Verwendung der Abgaben, die Erregung über Politik in fernen Landen oder die unverständlichen Technologien - was ist es schon anderes als weithin ein Spiel medienmanipulierter Machtloser? Es war eine interessante Beschäftigung für englische Lords oder französische Großbourgeois, die ja auch diese größere Innen- und Außenpolitik noch wirksam bestimmen konnten. Dem atomisierten Steuerbürger bleibt eigentlich doch, will er gegen die neue Gewalt vorgehen, nurmehr eines: die kollektive Steuergegengewalt. Doch gerade sie ist auch bereits von der modernen Gleichheitsmacht gesteuert - versteuert; sie kann das eiserne Gesetz der Gleichheit, das die Steuer prägt, nicht nur nicht brechen, sie muß es sogar verstärken. So pflegen denn Steuerparteien mehr Steuergerechtigkeit, das heißt: Steuergleichheit zu verlangen; Steuerverbände fordern nicht selten jenen Abbau der Steuerbürokratie, der doch nur zu einem führen kann: zu noch mehr schematischer Steuererhebung, damit zu noch mehr Gleichheit. So wird denn gerade das, was der Ausdruck eines letzten, kollektiven und durchaus begreiflichen, machtkonformen Widerstandes gegen die neue Gewalt ist, umfunktioniert zu deren Verstärkung. 9. Die Nicht-Sachgebundenheit der Steuer Grundlage des Herrschaftsbeliebens Zum Wesen der modernen Steuer gehört, daß sie grundsätzlich nicht zweckgebunden ist. Sachgebundene Abgaben sind in den modernen Staatshaushalten enge Ausnahme; selbst wo sie mit Zweckbindung erhoben werden, ist diese noch regelmäßig so weit, daß der Staatsgewalt große Verwendungsfreiheit bleibt. Diese Zweckungebundenheit beruht auf der modernen Gleichheit und ist eine der wichtigsten Grundlagen neueren Herrschaftsbeliebens. a) Der solidarisierende Effekt der Nicht-Zweckgebundenheit der Steuer ist unverkennbar. Jeder Steuerbürger zahlt seinen Obolus grundsätzlich zugleich für alle Ziele, für die, welche er billigt, wie für diejenigen, welche er ablehnt, für Zwecke, die sich direkt gegen seine Interessen wenden. Geduldig hat er sein Scherflein in den Schoß der Mächtigen zu legen, die damit nur zu oft den friedlichen inneren Bürger-

172

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

krieg stillschweigend bezahlen, der aber unbemerkt abläuft - mit dem Geld des Bürgers wird nicht selten dessen eigener sozialer Abstieg finanziert. Doch dagegen gibt es überhaupt keinen Widerstand, weder rechtsstaatlich-gerichtlich noch politisch-parlamentarisch. Alles fällt ja zusammen in den großen Staatshaushalt, wird gedeckt durch und ausgegeben für das Interesse aller, das jedoch zum öffentlichen Interesse integriert wird. Dies kommt im letzten - nur aus Gleichheit: Da alle Bürger gleichermaßen zu allen Lasten herangezogen werden können, müssen sie auch gleich belastet werden, denn an irgendwelchen Zwecken sind sie ja alle interessiert. Logisch folgt hier allerdings ein Salto mortale dem anderen: Von der Gleichheit der Heranziehung für alle Zwecke wird auf die Gleichheit der Belastung, von dort wieder auf die voll herzustellende materielle Gleichheit der Bürger geschlossen - Gleichheiten, die miteinander im Grunde gar nichts zu tun haben, jedoch politisch in ihrer Verkettung überaus wirksam sind. Und im berühmten Wort von der "egalite devant les charges publiques" ist das politisch wirksamste Wörtchen listig vergessen worden: "devant toutes les charges publiques": vor allen öffentlichen Lasten, ohne Rücksicht auf den Zweck, der ohnehin im Dunkel bleibt. b) Dies hat zunächst für die Gewalt die angenehme Folge, daß sie Verwendungsfreiheit genießt. In dieser jedoch liegt geradezu das Wesen moderner Herrschaft. Sie ergeht sich nicht mehr im Einsatz von Waffen, man ist ja human; mit Geld wird gekauft, gestaltet, geherrscht, das Geld des einen wandert in die Taschen des anderen, in unbemerkter Gewaltausübung. Und die Transferuntersuchungen, wieder einmal ein letzter Bürgeraufstand gegen die Gleichheit - sie werden vor dem großen Herrschaftsbelieben bald Makulatur werden. Dem Bürger jedenfalls braucht die Staatsgewalt nicht Rechenschaft zu geben, wohin sein Obolus wandert; der "große Topf", in dem dann die Haushalts-Lose gemischt werden, bedeutet zunächst einmal etwas wie das große Herrschaftsgeheimnis über den Einnahmen des Staates. Und wenn schon jemand etwas dagegen grundsätzlich erinnern wollte, die Legitimation schwebt ebenfalls darüber: die Gleichheit. Denn all diese immensen Mittel, sie werden doch nur verwendet entweder zu echten gemeinsamen Aufgaben, wie Straßen und Landesverteidigung, oder aber zu einem, wogegen doch niemand etwas sich zu sagen getraut, zu noch mehr Gleichheit, überall Gleichheit. Die große, ungezielte Verwendung ist daher gedeckt durch die große, ungezielte Legitimation: die Egalität. c) Doch der Steuergewalt gelingt auf diese Weise, durch die zweckungebundene Steuer, noch ein weiterer entscheidender Fortschritt: die

9. Nicht-Sachgebundenheit der Steuer als Herrschaftsbelieben

173

Trennung der Einnahmenproblematik von der der Ausgaben; sie ist zum großen modernen Herrschaftsinstrument, ganz unbemerkt, geworden. Erst einmal einnehmen - dann Rechenschaft legen auf Heller und Pfennig, dies schien dem modernen, liberalen Staat ganz ungefährlich, der ja gleich nach der Französischen Revolution auch die perfekte Kontrolle der staatlichen Rechnungen durch seine unabhängigen Rechnungshöfe geschaffen hat, der in der Parlamentsdebatte des Haushalts zugleich mit den Ausgaben die allgemeine und besondere Politik der Regierung zu kontrollieren scheint. Doch all diese komplizierten Instrumente der Kontrolle bewirken eben nur eine einseitige Überwachung, die der Ausgaben. Ein anderes stellen sie nicht her, was aber entscheidend wäre aus der Sicht des Bürgers: die Verbindung zwischen Einnahmen und Ausgaben, das, womit die Französische Revolution begonnen hat: Die Bürger der Provinzen wollten wissen, wofür ihr Geld in Paris und Versailles im einzelnen verwendet wurde. Eben dies, und damit der eigentliche Grund des großen Aufstandes, ist aber schon im ersten Anfang unterdrückt worden: Die Einnahmen wollte man wohl genau aufzeichnen, über die Ausgaben Rechnung legen; die Einnahmen aber den Ausgaben zuordnen - niemals! Gerade diese Verbindung ist durch die Französische Revolution noch viel stärker und endgültiger unterbrochen worden als je in dem so verhaßten Ancien regime. Könige hatten Städten und Zwischengewalten manchmal noch sagen müssen, wofür sie diese oder jene Contribution verwendeten; der moderne, fortschrittliche Staat hat seine Rechnungen geteilt und hier ein vernichtendes Divide et impera durchgeführt. Von dem Bürger fordert er genauest berechnete Einnahmen, und er spricht mit seinen Vertretern über die Ausgaben mehr nie und nimmer! Alles andere ist Herrschaftsbelieben. Und deshalb findet sehr häufig die eigentliche Diskussion gar nicht statt, die bei der Erhebung zweckgebundener Einnahmen erfolgen müßte; deshalb werden die großen Debatten gar nicht geführt, die über die Erhebung neuer Steuern. Über all dies wird nur ganz global, soz. volkswirtschaftlich gesprochen, nicht aber in der sofortigen Zuordnung zum Zweck. Mehr Geld aber läßt sich immer global leichter verlangen, als wenn die Einzelrechnung aufgemacht und im einzelnen mit dem Bürger diskutiert werden müßte. Gegen das niederschmetternde Argument der Globalerhöhung bei ungezielten Steuern gibt es ja auch keinen Widerstand: "Sagt doch, wo sollte gespart werden?" Daß damit die unendlich dokumentierte und starke Staatsgewalt die Beweislast arrogant dem Bürger zuschiebt - das wird kaum bemerkt. Die Rechnungen des Staates aber bleiben getrennt. Zwischen ihnen steht die stärkste politische Wand, die es geben kann: die der Gleichheit, in deren Namen zunächst einmal für alle Zwecke gleichermaßen eingenommen wird, damit sodann beliebig ausgegeben werden könne.

174

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

10. Steuervielfalt - Maehtvielfalt Der moderne Gleichheitsstaat ist gegen die unübersehbare Steuervielfalt der feudalen Zeit angetreten im Namen einer Gleichheit, welche einfache Besteuerung verlangte. In 200 Jahren hat er ein neues Steuerdickicht geschaffen, das weit unübersichtlicher ist als die feudalen Gefälle und Sporteln - in demselben Maß ist seine Macht noch viel größer geworden als die der feudalen Herren; denn Steuervielfalt ist Machtpotenzierung, getrennt marschieren und vereint schlagen, in die Staatskasse, im Namen der Gleichheit. a) Im Abgabenrecht ist das schöne Wort vom Steuererfindungsrecht des Staates geprägt worden; es ist nichts als eine Form institutionalisierter Herrschaftsphantasie. Und gerade durch derartige Erfindungsrechte, durch den Anspruch auf Machtphantasie, unterscheidet sich der moderne Gleichheitsstaat vom Feudalregime, das in vielfachen traditionellen Bindungen stand. Gerechtfertigt können letztlich derartige Erfindungen nur werden durch ein ganz großes, höchst allgemeines Ziel: eben durch eine überall und stets von neuem herzustellende Gleichheit. So wie Ungleichheiten immer neu entstehen, müssen sie auch durch die reaktive Phantasie der Herrschenden immer von neuem gekappt und gebrochen werden - daher Steuererfindungsrecht. Und wenn dieses dann einmal weitergeht als die angeblichen oder wirklichen Ungleichheiten, dann ist eben der Gleichheitsmacht eine weitere eigenartige Prämie der Macht zugewachsen, die nur sie verdient. b) Steuervielfalt, Steuererfindung im Namen der Gleichheit sind ein besonders starkes Herrschaftsinstrument: -

Hier wird das Vertrauen abgebaut, in der Unübersichtlichkeit des Steuerlabyrinths wie in der jederzeitigen Möglichkeit, unvorhersehbare Abgaben der bisherigen Belastung hinzuzufügen. Vertrauen aber steht gegen Herrschaft, vor allem in einem Staat der Normen ist sie fast schon das einzige, was noch einige Freiheit, eine gewisse Ungleichheit bewahren kann: Hier wird dieses Vertrauen erschüttert, mehr noch - ignoriert.

-

Die Gleichheit kann hier sogar über sich hinauswachsen: Im Namen der höheren Gleichheit können, im Gestrüpp der Steuern, beliebige Ungleichheiten sogar durch Steuergestaltung hergestellt werden. Gewisse Gruppen können bei einer Abgabe entlastet werden, wenn sie durch eine andere um so stärker getroffen werden. Im Ergebnis entgeht die Steuergewalt damit ihrem einzigen Kontrollprinzip, dem der Gleichheit. Sie erwächst geradezu zum reinen Herrschaftsbelieben.

10. Steuervielfalt - Machtvielfalt

175

-

Die Vielfalt der Steuern erlaubt es, eine dieser Herrschaftsformen gegen die andere auszutauschen. Was der Staat beim Bürger mit allen Mitteln verhindern will, die Steuerflucht, ihm gelingt sie mühelos: Die Steuerflucht des Steuerstaates besteht darin, daß er von einer Abgabe in die andere beliebig fliehen kann, von der merklichen in die unmerkliche, von der odiosen in die weniger molestierende. Und dies letztere ist besonders wichtig in der parlamentarischen Demokratie mit ihrem Freiheits-Schein: Hier können gelegentlich sogar Erleichterungen gewährt werden, die im Steuergestrüpp an anderer Stelle leicht wieder, und noch mehr egalisierend, aufgehoben werden können. Eine Steuer, die als Massenabgabe unbeliebt zu werden droht, wie etwa die Erbschaftsteuer oder die Vermögensteuer, sie werden etwas zurückgenommen, durch Nichtabzugsfähigkeiten an anderer Stelle läßt sich leicht noch mehr einbringen. Wahre Macht ist eben elastisch und nimmt an der Stelle des geringsten Widerstandes.

-

Die Steuervielfalt begünstigt jene Kleingruppenbildung, die zur Machtdurchsetzung besonders geeignet ist, weil sich wenig zahlreiche Gruppen Betroffener nicht wirksam zur Wehr setzen werden. So können gewisse eng begrenzte steuerliche Tatbestände geschaffen werden, die zunächst zum Zwecke der Egalisierung kaum wirksam erscheinen; gegen ihre Einführung, gegen die entsprechenden Steuern oder Tarife wird daher niemand wirksam protestieren. Ist die Kategorie jedoch einmal geschaffen und akzeptiert, so kann sie zu jeder Zeit beliebig "aufgeblasen" und damit zur vernichtend egalisierenden Sozialgestaltung werden. Die Entwicklung der Vermögen-, mehr noch der Erbschaftsteuer ist hierfür ein lehrreiches Beispiel.

-

Dem Bürger, den parlamentarischen und den gerichtlichen Kontrollinstanzen, ist eine Zusammenschau der steuerlichen Belastungen heute weder allgemein noch im einzelnen Fall mehr wirklich möglich. Die Volksvertretung ist niemals hinreichend datenmäßig dokumentiert, sie kann auch den für die Nivellierung entscheidenden Einzelfall nicht berücksichtigen. Die Gerichte jedoch, welche auf diesen Einzelfall Rücksicht nehmen müßten, werden im Ergebnis schon dadurch ausgeschaltet, daß immer nur die Belastung durch die Einzelsteuer gerügt werden kann, nicht die Globalbelastung durch verschiedene Abgaben. Damit bleibt die eigentlich lastende Gleichheitsherrschaft der vielfachen Steuern - und dies ist das Wichtigste an diesem Punkt - ein echtes Geheimnis der Herrschenden, dadurch aber, wie jede Arkanmacht, ein besonders wirksames Herrschaftsinstrument.

176

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

11. Steuern - Machtstrategie und Gewöhnungseffekt a) Mehr als jede andere staatliche Machtäußerung in der modernen Zeit steht der Steuerstaat unter dem Zwang der Kontinuität. Diese muß sich allerdings keineswegs in einer deutlichen, bewußten oder gar gewollten Steuerpolitik, in einer echten Abgabenstrategie äußern. Die hier eigentlich herrschende Steuertechnik steht ja vor allem unter dem täglichen Zwang der Schließung der Haushaltslücken, und es wird ihr daher durchaus nicht immer möglich sein, bewußte Machtstrategie einzusetzen. Dennoch bleibt die Kontinuität, damit aber kommt es im Ergebnis doch zu einer letztlich höchst wirksamen, wenn auch oft unbewußten Herrschaftsstrategie: Werden allgemeinere Steuerentscheidungen getroffen, so sind sie in aller Regel nur schwer, gegen großen politischen Widerstand, rückgängig zu machen; auch die Opposition bleibt hier meist, wenn sie an die Macht kommt, gebunden. Die Veränderung der Grunddaten, der Rahmenbedingungen, wirkt also stets, gewollt oder nicht, machtstrategisch. Diese Strategie wider Willen ist erneut eine wahre List der Vernunft moderner Herrschaft, denn sie läßt sich kaum wirksam aufdecken, geschweige denn angreifen. Der Nivellierungseffekt derartiger Kontinuität ist unverkennbar; nur auf längere Sicht können ja kleinere Effekte sich wahrhaft egalisierend auswirken, ohne daß Widerstand entsteht. Ein besonderer Egalisierungsvorteil liegt dabei noch darin, daß Steuerentscheidungen um so kontinuierlicher zu sein pflegen, je stärker sie egalisierend wirken, daß sie politisch leichter jedoch rückgängig gemacht werden können, wenn es sich um die Aufrechterhaltung oder gar Schaffung von Ungleichheiten handelt. So sind Tarife, bei denen die Nivellierungswirkung im Vordergrund steht, weit schwerer veränderbar als Abschreibungsregelungen, welche nicht selten Ungleichheiten konservieren. b) Die sonst so traditionsskeptische, ja geschichtsfeindliche egalitäre Demokratie kann hier sogar ein ganz erstaunliches historisches Bewußtsein entwickeln. In den heutigen Abgaben denkt sie bereits an die Zukunft, durch die strenge Abgabenherrschaft des Heute bringt sie Werke hervor, um welche künftige Generationen dankbar sein werden; und wiederum steht alles unter dem großen Gedanken einer diesmal historischen Gleichheit: Künftige Generationen dürfen doch nicht stärker belastet werden als die gegenwärtige, daher darf - mit Ausnahme von Wahlzeiten - nicht allzu viel geschenkt, es muß streng und auf die Dauer regiert werden. c) Der Zwang zur langfristigen Steuerherrschaft bringt zugleich das Beste hervor, was sich die Macht wünschen kann: Die Abschwächung

12. Mit den kleinen Schritten der Steuer in die Macht

177

des Widerstandes gegen solche Formen der Herrschaft in einem beispiellosen Gewöhnungseffekt Im Steuerbereich haben sich wohl die stärksten Herrschaftsgewöhnungseffekte entwickelt, welche die moderne Zeit überhaupt kennt. In keinem anderen Bereich wären derartige kontinuierliche Entwicklungen, vor allem hin zur Egalisierung, möglich gewesen. Allein durch die Steuern sind in einem Jahrhundert Staat und Gesellschaft grundlegend verändert worden, und dies bedarf hier nicht des Beleges. Am erstaunlichsten ist der Herrschaftsgewöhnungseffekt gerade bei jener Klasse, welche man doch nach allen Theorien als die tatsächlich "herrschende" früher ansehen konnte und auch heute noch ansehen muß. Sie, die Trägerin des Kapitals, der wirtschaftlichen und weithin auch der politischen Macht, ist nicht durch Barrikaden und Geiselerschießungen um ihre Güter gebracht worden; sie hat sich ganz einfach an die wachsende Steuerlast gewöhnt, wenn sie es nicht selbst war, die sich ihres Reichtums in steigender Besteuerung als erste entäußern zu müssen glaubte. Die Begeisterung der Kriegszeit, das Bewußtsein, für das gemeine Wesen Opfer bringen zu müssen, ist nur ein besonders deutlicher Ausdruck für einen an sich laufenden und typisch steueregalitären Gewöhnungseffekt: Woran sich alle gewöhnen müssen, dagegen ist kein Widerstand zu erwarten, weil es keine Gruppe gibt, die hoffen könnte, dieser Flut zu entgehen, keine auch, welche noch zu befürchten hätte, daß sie bald von ihr eingeholt wird. Ein sehr starker Herrschaftswiderstand aber war zu aller Zeit jener eigentümliche "Macht-Befürchtungs-Widerstand". Hier gab und gibt es ihn gar nicht mehr; er wird ja von vorneherein durch die absolute Egalität der Steuerwirkung ausgeschaltet. So ist denn Egalität nicht ein Befehl zur Gewöhnung, Gleichheit ist vielmehr vorweggenommene Gewöhnung an Macht. Sie bringt etwas, was "eigentlich schon immer hätte sein sollen" und daher hingenommen wird, als gelte es schon von jeher. 12. Mit den kleinen Schritten der Steuer in die Macht Daß die kleinen Schritte die große Macht bringen, ist ein alter Ausdruck der Staatsweisheit. Daß die unmerkliche Gleichheitsgewalt hierzu besonders gerüstet ist, läßt sich gerade am Beispiel der Steuern zeigen. a) Die Gleichheit als oberste Herrschaftsmaxime läßt den Mächtigen gar keine andere Wahl: Sie müssen, zur eigentlichen Ausdehnung ihrer Macht, ständig die kleinen Schritte gehen, sonst scheitern sie alsbald am vernichtenden Widerstand der zahllosen Gleichen. Ihnen gegenüber kann Macht weder deutlich gezeigt, noch in großen Schlägen ohne wei12 Leisner

178

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

teres ausgedehnt werden, es sei denn, bei besonderen Gleichheitsan·· lässen. Der normale Weg der Machterweiterung muß dagegen in ganz kleinen Schritten gegangen werden, weil die Gleichen eben nur schwer etwas Lastendes, Ungleiches hinzunehmen bereit sind. Doch gerade im Abgabenbereich läßt sich dies beispielhaft bewirken, die Egalität selbst kommt sich hier zu Hilfe: Weil in ihrem Namen eben allen etwas genommen werden muß, bringt auch die kleinste Erhöhung viel Geld, großen Machtgewinn. Sogar zeitweise Ungleichheitseffekte werden dann hingenommen, das Beispiel des Übergangs des Steuersystems der Bundesrepublik von der Einkommensteuer auf die Umsatzsteuer, durch laufende Erhöhung der letzteren, zeigt es. In dieser egalitätsgeschaffenen Machtausübung der kleinen Schritte ergeht sich die Steuergewalt wirklich in reinem Herrschen. Und in all dem ist der Steuerstaat ja nur ein Modell für alle andere Staatlichkeit, die bei ihm tagtäglich die kleinen Schritte lernt. b) Kleine Schritte vermeiden Skandale. Kaum etwas aber kann der Herrschaft als solcher gefährlicher werden als der Skandal, vor allem der Macht der Gleichen: Denn hier ist der große Skandal, das plötzlich aufgedeckte unberechtigte Privileg, ein Majestätsverbrechen gegen die Grundlagen der Herrschaft. Doch davor schützt sich eben die Gleichheit selbst, vor allem die Steuergleichheit: Ihre Skandale sind immer klein. bleiben immer in .der Verwaltung. Den großen, den parlamentarischpolitischen Steuerskandal kann es doch begrifflich gar nicht geben, denn diese, die eigentliche Herrschaftsmaschine bewegt sich in den kleinen Schritten, auf den breiten Gleisen, dort gibt es kein großes Entgleisen in den Skandal. Die Herrschaftsskandale der Gleichheitsmacht bleiben daher auf dem Niveau der Boulevardpresse, sie erreichen keine staatsgrundsätzliche Dimension; hier werden nicht Kaisersöhne erschlagen, es wird allenfalls einer von allen als Steuersünder verhaftet; einer aber ist hier - das ist das Geheimnis der Gleichheit - nicht alle, sondern keiner. c) Gerade die Steuergleichheit ist es im übrigen, welche nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Notwendigkeit für viele kleine Schritte schafft: Stets muß ja die große Gleichheit bewahrt, deshalb aber müssen die vielen kleinen Ungleichheiten ausgeglichen werden, welche ganz notwendig durch die Anwendung des großen Egalitätsrasters geschaffen werden. Es ist also gar nicht notwendig so, daß in dem großen Hause der Gleichheit viele kleine Wohnungen für Ungleichheiten erhalten bleiben müssen - gerade die ganz große Schematik verlangt das stete Glätten der unzähligen kleinen Ungleichheitswellen, damit aber setzt sich die große Pauschalierung in zahllosen kleinen Schritten fort. Gegen diese Verwaltungsgleichheit der Steuer wird auch

12. Mit den kleinen Schritten der Steuer in die Macht

179

nie jemand etwas sagen; entweder er kennt die Lage des anderen nicht, oder er fürchtet die Aufdeckung eigener Defekte. In diese scheinbar einzelfallbezogene Verwaltungsgleichheit der Steuer lassen sich aber, durch Runderlasse und Durchführungsverordnungen, langfristig und wirksam allgemeine Herrschaftsformen einbauen, die dauernden kleinen Fluktuationen des Einzelfalls werden zum Hoch- oder besser zum Herunterschaukein der allgemeinen Gleichheit. d) Diese Steuerherrschaft der vielen kleinen Belastungen ist im Einzelschritt kaum fühlbar, nur der letzte Tropfen bringt die plötzliche Überlastung; und welche Steuer im einzelnen, welcher Steuerschritt es ist, das wird sich in aller Regel kaum sagen lassen, und es ist ja auch dann, wenn die wirtschaftliche Schwierigkeit oder Katastrophe eingetreten ist, bereits zu spät. Die überlastung, der Abstieg, der wirtschaftliche Zusammenbruch im Einzelfall erscheint als Konsequenz der Belastung aller und daher als etwas Notwendiges, ja Gerechtes. Und stets wird ja auch der Steuerstaat seine Hände irgendwie in Unschuld waschen können - Steuerverwaltung oder Steuerrichter belehren den Einzelnen, daß sein schlechtes Wirtschaften ihn überlastet hat, nicht die Herrschaft des Staates. So zieht sich denn die Steuerherrschaft geschickt hinter die Marktwirtschaft und ihre Freiheit - oder ihren Freiheitsschein - zurück. Ihre großen kleinen Eingrüfe erscheinen als eine der vielen "Daten", wohlverpackt in der Vielfalt marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, mit denen sie ihrem Wesen nach nichts zu tun haben, sind sie doch letztlich nichts anderes als harte staatliche Herrschaft - aber eben verbrämt durch den Schafspelz der freiheitlichen Marktökonomie, durch ihre Kategorien erfaßbar. Dies ist wahre Homöopathie der Macht, ja geradezu Akupunktur der Herrschaft. Was könnte heute wirksamer sein? e) Diese "vielen kleinen Schritte" der Abgabengewalt erhalten vor allem die Illusion individueller Freiheit, eine der wichtigsten Garantien gegen Auflehnung und Widerstand. Die große Freiheit des Einzelnen wird in viele steuerliche Tatbestandsräume aufgespalten, von der Wohnung bis zum Erbgang, vom Kraftfahrzeug bis zum täglichen Kauf. Und jeder dieser Räume wird langsam, aber sicher in die herrschaftliche Steuerzange genommen, zusammengedrückt. Doch da "überall etwas bleibt", etwas ganz individuell, unauswechselbar Erscheinendes, so wird das eigentliche Maß der Freiheitsbeschränkung nie wirklich sichtbar. Allenfalls merkt der Einzelne, daß ihn eine unsichtbare Schwere zu Boden drückt. So summieren sich die kleinen Bewegungen der Steuer12·

180

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

herrschaft zu einer Art von Schwerkraft der Macht, die jeden Bürger am Boden festhält, am Staate. 13. Mißbrauch und wirtschaftliche Betrachtungsweise tJberwindung der Norm im Namen der Gleichheit Die lastende Steuer wird angenommen als der beste Ausdruck des großen staatsgründenden Prinzips der Gleichheit, erscheint sie doch als diejenige Herrschaftsform, die am stärksten normierbar ist, damit aber die beste Sicherung gegen Herrschaftswillkür bietet. In Wahrheit befreit sie sich weithin auch von dieser Fessel, sie erzeugt viel von der "reinen Herrschaft", von der normfreien Furcht des Herrn. a) Nirgends ist soviel vom Rechtsrnißbrauch, von der illegalen Umgehung die Rede, wie im Steuerrecht. In allen anderen Rechtsbereichen ist dies nur ein allerletztes, fast schon theoretisches Herrschaftsinstrument des Staates, wenigstens in der liberal regierten Gemeinschaft, daß er irgendeiner Gestaltung die Rechtswirksamkeit versagen darf mit der Behauptung des Mißbrauchs. Im Abgabenrecht hat sich alles dabei beruhigt, daß das Damoklesschwert der Umgehung und des Mißbrauchs über jedem Bürger stets hängt, daß es ihn mit vernichtenden Effekten der Rückwirkung, ja des Strafrechts jederzeit bedroht. Hier sind die Grenzen aller Rechtssicherheit, jenes großen Wortes, das doch gerade für das Steuervertrauen so zentral ist. Man wende nicht ein, diese scharfen Sanktionen würden ja nicht bei der großen Zahl, würden ja doch nur in wenigen Fällen ergriffen, kaum je gegenüber den "vielen Kleinen"; gerade darin liegt ja ihre herrschaftliche und typisch egalisierende Macht: Der Lohnsteuerzahler hat hier nichts zu befürchten, er ist ja auch keine Gefahr für die Herrschaft mehr, er ist bereits klein geschnitten zum gefügigen Bürger. Wer sich aber erheben möchte, neue Freiheitsräume sich schaffen, der läuft in den immer engeren Palisaden der Mißbrauchsdrohungen, um der Umgehung zu entgehen - ins Labyrinth. Natürlich will die Steuergewalt ihre Furcht des Herrn nicht dort zeigen, wo bereits Unentrinnbarkeit geschaffen ist. Doch ihr gelingt in der Mißbrauchsdrohung das Hervorragende: der Einzeleingriff im Namen der Gleichheit, die Korrektur der gleichheitssichernden Normen im Namen der Egalität. Es fällt schwer, ein größeres und wahreres Paradox aufzuzeigen. Hier schreitet die neue Macht über die Norm hinweg, die sie legitimiert, sie zeigt wirkliche Herrschaft. Daß vor ihr immer noch schützend die Steuergerichtsbarkeit steht, ist für den Bürger ein schwacher Trost: Wenn ihre Hilfe ihn zeitlich überhaupt noch erreicht, so muß er befürchten, daß sie nur sehr

13. Mißbrauch und wirtschaftliche Betrachtungsweise

181

zurückhaltend gewährt wird, denn immerhin wird ihm ja Bruch der Gleichheit vorgeworfen; dann wird der Richter ihn leichter auch, über die Norm hinweg, schlagen, fühlt er sich doch als Institution der höheren Steuergleichheit. b) Auch die "wirtschaftliche Betrachtungsweise" des Steuerrechts, der Steuerverwaltung und -gerichtsbarkeit, hat keinen entscheidenden Widerstand in der Staatstheorie gefunden; auch sie ist zum Herrschaftsinstrument des Steuerstaates geworden, auch sie entfaltet, wie Mißbrauchs- und Umgehungstatbestände, eine Fernwirkung, die weit über den Einzelfall egalisierend hinausreicht. Hier muß es sich zwar der Bürger gefallen lassen, daß seinen vertraglichen Gestaltungen, seinem wirtschaftlichen Verhalten, die rechtliche Verbindlichkeit von demselben Staat mit der Steuerhand abgesprochen wird, der mit der anderen Hand, der des Zivil- oder Handelsrechts, gerade diese Gestaltungen zugelassen hat. Hier hat sich der besondere Steuerstaat von der allgemeinen Staatlichkeit abgelöst, als deren notwendiger Bestandteil und Kassenwart er doch sonst sich so gerne legitimiert. Hier wird Recht im Namen nackter Wirtschaftlichkeit gebrochen, hier erfolgt gerade das, was sonst die moderne Herrschaft dem Bürger allenthalben vorwirft und nicht gestattet: daß er sich im Namen des Gelderwerbs über andere, allgemeinere Interessen der Staatlichkeit, der Gemeinschaft hinwegsetze. Da hat nun der Staat, ganz allgemein, Rechtsformen geschaffen, welche dem Bürger sichere Freiheit garantieren sollen; es ist geschehen ohne Ansehen der Person, der Geschicklichkeit oder Ungeschicklichkeit der Gewaltunterworfenen. Einem gelingt es, sich eine Lücke, vielleicht ein staatliches Versehen zunutze zu machen. Und da fehlt es diesem Staat an der elementaren Noblesse zuzusehen und dann, später, normativ zu korrigieren, wieder für alle, wieder abstrakt. Was er vom Bürger jederzeit erwartet - ein "Dulde und liquidiere", er ist dazu nicht fähig, er muß sogleich liquidieren. Hier gibt es mit einem Mal nicht mehr den großen, sonst so oft gepriesenen Wert der Rechtssicherheit der Gesetzesbegriffe, der großen Kodifikationen, in deren Namen doch der Bürger sonst so viel Schwerfälliges und Eigenartiges in Kauf nehmen muß. Hier hört ganz einfach das Recht auf, auf das sich doch sonst der Staat so laufend stützt, es beginnt die reine Manchester-Ökonomie, nur in aller Regel eben zugunsten des Staates. An diesem Punkt endet auch die Einheit der Rechtsordnung, im Namen des Geldes, und die Rechtslehre hat es noch immer überwiegend geduldet, wenn nicht gar gebilligt machen wir den Juristen keinen Vorwurf, es zeigt sich hier ihr guter Instinkt für Macht: Hier würden sie ja auch auf das reine Herrschen stoßen.

182

VI. Der steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

In der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist letztlich die Gleichheit stärker als ihr vornehmster Ausdruck, die Norm. Hier beginnt die Herrschaft mit der schönsten ihrer Formeln: "Den Bürger behandeln, als wenn es wäre, wie ... " 14. "Der wesentlich ungleiche Steuerpartner Staat" - gedeckt durch die Gleichheit Der Steuerstaat ist der Schöpfer der Gleichheit, daher ist er an seine Schöpfung nicht gebunden. Dem Bürger gegenüber tritt er als der "ganz andere" auf, gesichert in seiner Machtausübung durch einen Kranz von verfahrensrechtlichen und materiellen Privilegien. Darunter sind Vorrechte, die weder praktisch unumgänglich sind, noch rechtlich oder auch nur moralisch gerechtfertigt erscheinen. Man denke nur an das Privileg der Nichtverzinsung vorausgezahlter und sodann zurückzuerstattender Steuern, das gegen elementare Rechtsbegriffe verstößt und zudem noch eine Prämie verzögerlicher Sachbehandlung darstellt. Dahin gehört auch das ganze System der Vorauszahlungen mit ihren Schuldvermutungen, wie sie sonst im Rechtsleben völlig unbekannt sind. An all dies hat man sich ruhig gewöhnt, obwohl hinter ihm nichts steht als jenes Geldbedürfnis, das jede Institution, jeder Mensch auf Erden ebenso hat. Doch darin steckt mehr als Gewöhnung, es läuft auch hier ein, wenn auch verdeckter, Gleichheitsmechanismus ab: Jener Staat, welcher die große Gleichheit zu verwirklichen hat, darf eben selbst als der wesentlich Ungleiche auftreten, damit noch mehr Gleichheit entstehe. Gerade weil die Bürger untereinander im laufenden Spiel der Gleichheit befriedigt werden, von ihm selbst, kann er sich über sie als der Privilegierte erheben. Ein ganz eigenartiges Gesetz kommt hier zum Tragen: Je stärker die belastete Seite egalisiert ist, desto weniger wird das Bedürfnis empfunden, die Belastungsgewalt selbst in die Gleichheit einzubeziehen. Es ist, als wenn es nur eine "gewisse Quantität an Egalität" geben müsse - ist sie erreicht, so werden die ganz großen Abstände und Unterschiede nicht mehr gefühlt; dieses große Gesetz, mit dem der Absolutismus die Oligarchie überwunden hat, der moderne Steuerstaat macht es sich zunutze. Ihm, der modernen Herrschaft, ist es gelungen, die Gleichheit ganz allein "horizontal zu wenden", den Steuerblick, das Steuermißtrauen der Bürger ganz wesentlich auf andere Bürger zu lenken, im Namen der Gleichheit. Die eigentlich ganz große Gleichheitsdimension, die Einebnung der vertikalen Ungleichheiten zwischen Staat und Bürger, mit der einmal die Freiheit so mächtig begonnen hat, sie geht hier nahezu

15. steuertypisierung - Nivellierung durch die Exekutive

183

völlig verloren. Je mehr horizontale Gleichheit unter den Bürgern besteht, desto weniger muß vertikale Gleichheit gegenüber den Herrschenden geschaffen, desto mehr kann an Macht ausgeübt werden, heute in der parlamentarischen Demokratie, morgen durch denjenigen, der an ihre Stelle tritt und ihren Herrschaftsapparat gerade im Abgabenrecht ungebrochen weiterlaufen läßt. 15. Steuertypisierung -

Nivellierung durch die Exekutive

a) Typisierende Verwaltung hat sich im Abgabenbereich weiter entwickelt als in irgendeinem anderen staatlichen Herrschaftsraum. Ihrem ganzen Wesen nach ist sie vor allem nivellierendes Herrschen: Der anwendende Steu€rbeamte, die Steu€rministerialverwaltung, sie denken vor allem die Gleichheitsgedanken des Steuergesetzgebers hier nivellierend fort. Da hat die eine Kategorie von Bürgern gerade noch ein Anrecht auf ein Arbeitszimmer, die andere nicht; diesem wird eine Schreibmaschine gegönnt, ein anderer hat für sie viel mehr zu zahlen, weil er sie steuerlich nicht absetzen kann. Dem einen wird mit Gästehaus und Boot ein Quäntchen Luxus allgemein ermöglicht, auch wenn im Grunde jedermann weiß, daß er es für sich selbst verwendet, der andere muß darauf verzichten. An sich sind dies alles ja noch Oasen der Ungleichheit, die aber nicht die Verwaltung beläßt, sondern die der Gesetzgeber noch duldet - im allgemeinen eben ad maiorem Oeconomiae gloriam, oder um dem Arbeitenden nicht auch noch den Hammer aus der Hand zu nehmen im Namen der Herrschaft. Doch kaum ist jenes Minimum an Ungleichheit gewährt - wie oft übrigens noch in ungerechter, ja moralisch anstößiger Weise - so greüt schon wieder die Nivellierung ein, in der besonderen Form der Verwaltungsegalität. Der Steuerbeamte, das vornehmste Instrument moderner Herrschaft, hat eben nicht den unauswechselbaren Einzelfall, den individuellen Freiheitsraum zu sehen, er muß schematisieren, egalisieren. So werden denn die gesetzgeberischen Ausnahmen, in denen sich doch eigentlich der Einzelfall einmal ganz frei sollte entfalten dürfen, sogleich wieder "in sich nivelliert". Denn nichts anderes ist diese typisierende Verwaltungsegalität. Die Regel bleibt eben die Regel, die Ausnahmen bestätigen sie hier nicht, sie werden selbst wieder zur feineren "Ausnahme-Regel". Typisch ist für die Typisierung, daß sie gerade dort eingreift, nivelliert, wo der Gesetzgeber an sich noch Raum für Ausnahmen, für Individualitätgelassen hat, politisch lassen mußte, weil sonst sein Steuerraster allzu lastend geworden wäre. Doch diese parlamentarische Frei-

184

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

heitsillusion vergeht ganz rasch in der Tagtäglichkeit der Erlasse, die zahllose nivellierende Sub-Normen hervorbringen, und was dann noch an Individuellem bleibt, das endet in der Behördenpraxis des konkreten Amtes. Und diese Egalisierung wird durchgeführt durch eine Personengruppe, die ihrerseits ein waches Gefühl für Egalität hat, ist sie doch durch eine sorgsam nivellierende Dienstrechts- und Besoldungsgesetzgebung bereits eingespannt in eine große Gleichheit. Die Betroffenen aber wenden sich nicht etwa gegen die Typisierung, sie begrüßen ihre Nivellierung noch dankbar, denn sie ist ja immerhin noch ein Rest von Verläßlichkeit - oder sie erscheint doch als solche. Hier also, in der Steuertypisierung, sieht man den großen Egalitätsmechanismus im Laufen: Zunächst werden, im Namen der ganz großen Gleichheit, die Normen gesetzt; sie lassen Räume der Freiheit, größere Bereiche inegalisierter Individualität. Doch in diesen Räumen greift dann eine ganz andere Gewalt, die Exekutive, ein, mit ihrer typischen Nivellierungswirkung. b) Mit rechtsstaatlichen Mitteln ist gerade im Abgabenbereich diese Egalisierung völlig unangreifbar. Hier wird im Namen der Gleichheit, also des an sich normerzwingenden Prinzips, Normfremdes zu Hilfe gerufen: das Außerrechtliche, die sozialen Typen. Die typisierende Steuerverwaltung schafft ja ihre Unter-Norm durch laufenden Rückgriff auf die" Wirklichkeit", auf die Berufsnotwendigkeiten und Lebensgewohnheiten einzelner Bürgergruppen; sie "weiß" eben, was der Lehrer noch braucht, was der Wissenschaftler brauchen darf, beurteilt den Appetit des Geschäftsmannes und das Trainingsbedürfnis des Berufssportlers. Hier überläßt ihr der Steuerrichter einen sehr weiten Beurteilungsspielraum, bei diesem Vorgang des Schöpfens aus der Wirklichkeit. Jener Staat, der im Gewerbezulassungsrecht sich so vorsichtig zurückhält in der Anerkennung von besonderen Berufsbildern, weil dies der Freiheit schaden, die wirtschaftliche Entwicklung einseitig festlegen könne - er läßt sie hier den Steuerbeamten ohne weiteres und ganz frei schaffen in einem Bereich, der für den Berufstätigen meist noch weit wichtiger ist. Der Vorgang der Verwaltungsnivellierung durch Typisierung ist also dieser: Die Staatsgewalt schöpft aus der Wirklichkeit irgendwelche nivellierende Kategorien, an sich völlig normfrei, und sie setzt diese dann zu "mehr Gleichheit" ein. So geschieht etwas, was im übrigen Verwaltungrecht, vor allem im Recht der eingreifenden Polizei, verpönt ist: Hoheitliche Befugnisse, Herrschaftsinstrumente werden allein durch den Zweck legitimiert. Kein politisch-parlamentarisches normgebendes Gremium hat festgelegt, was der oder jener Bürger "noch brauchen darf", welches Leben ihm angemessen ist - die Verwaltung weiß es,

15. steuertypisierung - Nivellierung durch die Exekutive

185

sie stellt es normfrei fest. Hier ist also normfreies Herrschen zum Zwecke der Gleichheit, aber nicht mehr gebunden durch die Gleichheit. So ist der Egalität in der Typisierung wieder dasselbe gelungen, wie schon in der wirtschaftlichen Betrachtungsweise: Im Namen ihrer großen Ziele überwindet sie ihre Bindungen, transzendiert sie ihre eigenen Mittel, die ihr, von einem bestimmten Punkt an, als Fessel erscheinen könnten. Die steuertypisierende Herrschaft ist die freie Macht, die normativ kaum begrenzbare, greift sie doch aus auf jenes Außerrechtliche, das sie aber selbst feststellt; hier ist sie nicht einmal an die Berufstraditionen gebunden, welche dem Ständestaat früherer Perioden noch herkömmliche Fesseln auferlegten. Sie wird hier zur freien Tatbestandsbildungsgewalt, sie bricht aus den Normen aus in die freie Natur des Außerrechtlichen; gleich jenem Ringer der Antike gewinnt sie wieder Kontakt zur belebenden Erde des Außerrechtlichen, neue Herrschaftskraft. c) Die Typisierung entfaltet überdies hier eine bedeutsame Doppelwirkung: Einerseits befreit sie die Exekutive von normativen Bindungen und schafft damit "reine Herrschaft" zum Zwecke der Gleichheitund welche Exekutive? Im wesentlichen die Erlaßgewalt, den Durchführungsverordnung-Geber, die Ministerialrnacht. Bei der nachgeordneten Steuergewalt jedoch wird das Gegenteil bewirkt, eine noch weit stärkere Bindung an Nivellierungsgedanken, eine Disziplinierung der Verwaltung unter der Herrschaftsmacht, welche besonders in der Ministerialgewalt in Erscheinung tritt. Denn auf der Ebene der Finanzämter, vielleicht schon der Oberfinanzdirektionen, gilt ja, gerade im Namen der Typisierung, das reine, harte Gleichheitsdenken nahezu widerspruchslos. Andere als Egalitätserwägungen werden hier nur selten mehr angestellt werden können, gerade weil Typisierung so weitgehend noch von oben, aus dem Ministerialbereich heraus, erzwungen wird. Behördenpolitik in Anerkennung besonderer Freiheitsräume, Individualitäten, hat hier kaum noch Sinn und einen im Laufe der Zeit immer geringeren Raum. Die Machtverstärkung zeigt also hier zwei Gesichter: zum einen die Entbindung der höheren Exekutive von jener Norm, welche Freiheit, Vertrauen sichern könnte; zum anderen die scharfe Disziplinierung innerhalb der Exekutive, damit aber lastende Machtverstärkung innerhalb der Staatsgewalt. Und dies entlastet wiederum auch die nachgeordneten Bereiche der Steuerverwaltung: Sie müssen weniger befürchten, daß sich der Bürger mit Anfragen, Eingaben, Beschwerden gegen ihre nivellierende Steueranwendung zur Wehr setzt; und wenn er es tut, so kann sogleich - nivellierend, vereinfachend, machtwirksam gebrochen werden. Typisierung ist nicht nur bequemere Verwaltung unten, son-

186

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

dern auch oben, sie ist der Anfang vom Ende wirksamer Beschwerden. Und daß der Steuerstaat damit sogar der parlamentarischen Kontrolle entgeht, die hier vielleicht noch für mehr Freiheit sorgen könnte, ist doch auch ein angenehmes Nebenergebnis der Machtverstärkung. 16. Gegen das Steuergeheimnis im Namen der Gleichheit

a) Herrschaft ist wesentlich indiskret, denn Geheimnis ist Herrschaft, das hat sich auch außerhalb Chinas verbreitet. Das kleine Geheimnis des Bürgers ist nicht nur ein Hort seiner Freiheit, es ist Instrument seiner Gegenrnacht wider den Staat. Will dieser vollständig herrschen, so muß er jedes Geheimnis aufbrechen, das politisch relevant werden könnte, und welches wäre dies nicht? Solche Indiskretion wirkt nicht nur herrschaftserleichternd, sie ist geradezu Herrschaftsersatz; denn viele Anstrengungen müssen nicht unternommen werden, wenn nur bekannt ist, was geschieht, wer Widerstand leisten könnte. Im Datenstaat als moderner Form der Herrschaft ist eine ungeheuere mechanisierte Egalisierung im Gange, zunächst noch scheinbar von außen, in den Formen, doch von dort aus rasch übergreifend in die sachlichen Entscheidungen, und sei es auch nur in der Datenpsychologie, die hier als Egalitätsmentalität entsteht. Daß sich mit Fragebogen das Selbstbewußtsein des Bürgers brechen läßt, weil er sich eingebunden fühlt in eine riesige, anonyme, vor allem aber gleiche, von oben beherrschte Masse, ist seit langem erkannt. Fragebogengewalt ist ja auch und vor allem darin Herrschaftsmacht, daß sie sich die Unterlagen für eine schematisierende, angleichende Behandlung gerade auf diesem Wege schafft.

All dies wirkt heute in sämtlichen Bereichen des Staates mit einem noch weithin unbekannten Thermiteneffekt. Am machtwirksamsten ist es potenziert in der Steuerverwaltung; doch - schützt hier nicht das Steuergeheimnis, ist es nicht Schranke des Gleichheitsstaates? b) Das Steuergeheimnis ist zwar auch seinerseits ein Herrschaftsinstrument, versperrt es dem Bürger doch nicht selten den Zugang zu Gleichheitsdaten, deren er bedürfte, um sich gegen die lastende Gleichheitsgewalt zu wenden. Immerhin stellt es einen wichtigen Schutz freiheitlicher Individualität dar, es hindert den Steuerstaat daran, seine ganze Herrschaftsmacht als allgemeine Staatlichkeit gegenüber dem Bürger zum Einsatz zu bringen. Deshalb ist seine Aufrechterhaltung auch von entscheidender freiheitssichernder Bedeutung: Wenn es zusammenbricht, wird jene Steuerstaatlichkeit, die ihre Herrschaftsinstrumente in diesem Bereich so besonders verfeinert hat, mit dieser ihrer

16. Gegen das Steuergeheimnis im Namen der Gleichheit

187

gesamten Mächtigkeit - zum Staat schlechthin; dadurch müßte es zu einer ungeheuren Machtpotenzierung kommen, daß Informationen und Mittel der Abgabengewalt für andere Zwecke eingesetzt werden. Daß allgemeine Datenbanken ein derartiges Übergreifen ermöglichen, ja begünstigen, ist sicher die berechtigte große Sorge der näheren Zukunft. Doch das Steuergeheimnis, eine der Grundfesten liberaler Freiheitlichkeit, ist keineswegs so sicher, wie es vielen scheinen mag. Nicht nur, weil seine Lockerung immer wieder, vor allem im Bereich des Beamtenrechts gefordert wird; nicht nur, weil es keinen verfassungsrechtlichen Schutz genießt, jeder einfachen Zufallsmehrheit im Parlament zum Opfer fallen kann; vor allem ist es wiederum die Gleichheit, welche die Legitimation des Steuergeheimnisses ganz grundsätzlich abschwächt. Daß auf weißer Weste alles gezeigt werden kann, ist noch kein entscheidender Grund gegen die Aufrechterhaltung der Steuerdiskretion; denn hier brechen sich Moralvorstellungen an einer tagtäglichen Wirklichkeit. Doch weit schwerer wiegt die Gleichheitsüberlegung: Je stärker die Bürger egalisiert sind, desto weniger haben sie voreinander zu verbergen, desto leichter wird es auch politisch, eine Lockerung oder gar Aufhebung des Steuergeheimnisses durchzusetzen. Der egalitäre Staat muß, seinem ganzen Wesen nach, indiskret sein, und seine große Gleichheit legitimiert immer weitere Indiskretionen. Wer wollte hier schon allein Widerstand leisten, hieße es doch sogleich, er habe vor den vielen anderen Gleichen Schlimmes zu verbergen. Selbst gruppenmäßiger Widerstand bricht sich an dieser Legitimation durch Gleichheit: Warum sollte denn ein Berufsstand, eine Gruppe etwas verbergen wollen, wenn sich andere dafür nicht einsetzen? Ist dies nicht sogleich ein Indiz dafür, daß Nivellierungsmaßnahmen gegen sie ergriffen werden müssen? Die eigentliche Gefahr droht dem Steuergeheimnis auch gar nicht im Verhältnis von Bürger zu Bürger; der Staat wird nur zu gern die Steuerzahler getrennt halten, er kann auch, schon aus wirtschaftlichen Gründen, nicht alle Konkurrentenlagen steuerlich offenlegen. Doch was ihm auf Dauer gelingen kann, ist die Lüftung des Steuergeheimnisses im gesamten Bereich der Staatlichkeit, vielleicht darüber hinaus bis in die berufsständischen Organisationen hinein. Dann aber wird ihm ein neuer Rundum-Zugriff auf den Bürger möglich. Strategen könnten hier Betrachtungen über eine Vernichtungsschlacht gegen die individuelle Freiheit anstellen, über eine Umklammerung durch die allseitige Staatsgewalt. Was im Einbruch der Steuergewalt begonnen hat, wird durch die Umfassung durch die allseitige Staatsgewalt zum Cannae der Freiheit. c) Typisierung und Indiskretion - dies sind nur zwei Seiten einer selben Machtmedaille. Sie nehmen den Bürger in Selbstegalisierungs-

188

VI. Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht

pflicht: Er richtet sein Leben auf sie ein; in "ständigem Hinleben auf die Steuergleichheit", auf das Schema, in das er eingespannt ist oder eingespannt werden möchte, kommt es zur Autonivellierung, um dem Datenmißtrauen des Staates gegen Herausragendes zu entgehen. Die Egalisierung führt zur staatlichen Indiskretion; dieser kann wieder nur durch - Selbsttypisierung begegnet werden. Der Bürger muß sich kleiner machen, damit ihn der Staat nicht erreiche, nicht "als Person ansehe". Deshalb beginnt er selbst die große Flucht aus der Steuer, aus der Herrschaft in die Gleichheit - und damit letztlich nur - in noch mehr Macht. Dies ist der Endzustand der Steuermacht: Der Bürger macht sich selbst noch kleiner als er ist, dann kommt er zur Macht in unauffälliger Gleichheit - gekrochen.

VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit die soziale Nivellierung 1. Leistungsfähigkeit -

ein allgemeiner Nivellierungsbegriff

In der modernen Steuerstaatlichkeit haben sich zahlreiche Herrschaftsbegriffe entwickelt, die in andere Bereiche der Staatlichkeit übernommen werden konnten und dort eine der Abgabengewalt vergleichbare Herrschaft begründet haben. Der wichtigste von ihnen ist der der Belastung nach Leistungsfähigkeit, der heute noch immer die zentrale "Steuerlegitimation" darstellen soll. Die These des folgenden ist: In der Leistungsfähigkeit liegt keine Spur von Legitimation, es sei denn die der Nivellierung. Belastung nach Leistungsfähigkeit beruht auf einem radikal egalitären Vorverständnis; sie verstärkt nicht nur die staatliche Herrschaft, sie ist selbst nichts als ein Begriff reinen Herrschens, purer Staatsgewalt. Leistungsfähigkeit ist als Legitimationsbegriff im Steuerrecht entwickelt worden, nachdem sich alle anderen Begriffe der Steuerlegitimation (Gegenleistung, Assekuranz u. ä. m.) nicht nur als ungenügend erwiesen hatten, sondern als generell ungeeignet, die harte Wirklichkeit eines hier ganz reinen Herrschens auch nur zu beschreiben. Im Steuerrecht selbst ist der Begriff heute steigender Kritik ausgesetzt; immer deutlicher wird erkannt: Die Behauptung, wer mehr habe, könne auch dem Staat mehr geben, legitimiert nicht. Noch nicht klar erkannt ist aber bisher, daß in dem Wort eine gewaltige Machtpotentialität steckt, und daß es heute, weit über alle Abgaben hinaus, auch in anderen Bereichen Geltung beansprucht, dort den Gleichheitsstaat beschreibt, ja konstituiert. Der wirtschaftlich Stärkere kann mehr an Belastung tragen, und weil er es kann, muß er mehr leisten - dies ist heute ein Prinzip nivellierender Sozialpolitik als solcher. Die Beitragsbemessung nach dem Einkommen in der Sozialversicherung beruht ebenso darauf wie die Forderung nach Sozialtarifen für kommunale Leistungen, die Gewährung einheitlicher Sockelbeträge bei Lohn- und Gehaltsrunden kann ebenso darauf zurückgeführt wevden wie die zahllosen nach dem Einkommen gestaffelten staatlichen Leistungen an die "sozial Schwächeren". Und die immer häufiger in Gesetzen auftretenden sog. Härteklauseln, welche

190 VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - soziale Nivellierung

die Härte des Regierens weniger abmildern als vielmehr erst eigentlich deutlich machen, sind wiederum nichts anderes als Ausprägungen der Belastung nach Leistungsfähigkeit. Der Begriff hat heute schon alle Vorteile eines echten Axioms: Er wirkt allgemein, unbewußt, unbedingt. In der Staatslehre wird er als solcher nicht unter den Staatsgrundprinzipien abgehandelt, obwohl er im Gleichheitsstaat ein solches geworden ist. Zur Begründung wird er nur nach Bedarf herangezogen, es ist nicht allgemein bewußt, daß er letztlich überall zugrunde liegt. Daher wird das Leistungsfähigkeitsaxiom auch gar nicht mehr diskutiert, es ist, als solches, der Kritik entzogen. Wer mehr hat, kann mehr geben - dies wirkt geradezu als Ausdruck einer ganzen Staats-, wenn nicht Lebensphilosophie von ungeistiger, naturalistischer, damit aber um so stärkerer überzeugungskraft. Wer über diesen Begriff nachdenkt, ihn kritisiert, trifft auf das Herrschaftszentrum des Gleichheitsstaates. 2. Die Pseudobegründung der Leistungsfähigkeit aus der Freiheit Scheinlegitimation aus Freiheit ist die größte Stärke des Gleichheitsstaates - hier zeigt sich dies besonders deutlich: Wer kann, der muß er braucht ja nur - nicht zu können ... Gewährt das Axiom von Belastung nach Leistungsfähigkeit nicht eine ganz große Freiheit, die "Freiheit, klein zu bleiben, damit immer weniger belastet zu werden"? Dies ist die Freiheit des Gleichheitsstaates: die Freiheit nach unten; mit eigentlichem Freisein hat sie nichts zu tun, denn dieses ist immer nach oben gerichtet, zur Ungleichheit, dahin, wo man größer wird als der Nächste. Unterschwellig wird für diese Pseudobegründung des Leistungsfähigkeitsaxioms aus der Freiheit sogar noch die Zustimmung des Belasteten selbst bemüht: Hat er nicht damit den stärkeren Eingriff "gebilligt", daß er eben größer hat werden wollen, hat er nicht damit rechnen müssen, und gerechnet, daß ihn jede Verstärkung seiner Position in größeren Staatszwang führt? Sind das nicht einfach - die Spielregeln der modernen Staatlichkeit? Doch auf diese Weise kann nicht etwa Sozialvertraglichkeit in einer neuen Version bemüht werden, als habe der Bürger nicht nur die Macht stillschweigend akzeptiert, sondern auch noch die immer stärkere Belastung. Mit Recht verweist die Staatslehre immer mehr derartige globale und implizite "Billigungen" in den Bereich der machtverschleiernden, unzulässigen Fiktionen; und dies wäre ja nichts anderes als ein riesiger, globaler Grundrechtsverzicht - je mehr ich Freiheit in Anspruch nehme, desto mehr muß ich an staatlichem Zwang dulden!

3. Leistungsfähigkeit - ein Begrüf rein faktischer Gewalt

191

Wer also den Grundsatz der Belastung nach Leistungsfähigkeit auch noch durch Freiheit rechtfertigen will, setzt im Grunde alles voraus: daß es gut und zulässig sei zu nivellieren, und daß der leistungsfähige Bürger dies auch noch einsehe und billige. 3. Leistungsfähigkeit - ein Begriff rein faktischer Gewalt a) Der Leistungsfähigkeitsgrundsatz besagt, daß demjenigen Bürger mehr genommen werden soll, der mehr geben kann. In diese SollensForm gekleidet erscheint der Satz als ein Rechtsprinzip. In Wahrheit ist er in erster Linie nur eines - eine Feststellung reiner Tatsächlichkeit: Je mehr vorhanden ist, desto mehr, desto leichter kann man es nehmen. Und da der Satz nicht in erster Linie einen Befehl aussprechen, sondern Befehle legitimieren soll, so kann man eben nur auf diese Faktizitäts-Begründung zurückgreifen, daß der Staat um so mehr nimmt, je mehr er findet, daß er also um so mehr Gewalt einsetzen darf, je mehr diese Macht ihn zu materiellem Gewinn führt. Was hier im Kleide eines Rechtsprinzips, einer großen staatstheoretischen Legitimation der Herrschaft geboten wird, läßt sich an Banalität, ja an Trivalität kaum überbieten. Es ist letztlich nichts als die Feststellung der Herrschaft, des Ablaufens des Machtmechanismus selbst; denn was wäre Macht auch anderes als eine Kraft, die sich dort und nur dort durchsetzt, wo eben etwas zu beherrschen, etwas zu holen, etwas zu bewirken ist. Es ist wirklich erstaunlich, daß die Rechtswissenschaft eine Tatsachenfeststellung, die doch nichts ist als reine Machtbeschreibung, und noch dazu auf einer intellektuell recht niederen Stufe, als ein Rechtsprinzip von höherer Bedeutung einsetzen zu können glaubt. Denn diese Staatsweisheit ist entweder nichts als eine reine Tautologie ~ geherrscht kann eben nur werden, soweit es etwas bringt; oder sie ist sogar Ausdruck einer echten Machtbrutalität - die Macht soll soviel nehmen, wie sie irgendwo erlangen kann. Daß dies alles mit dem Recht, mit Begründung, Ordnung, Beschränkung überhaupt nichts zu tun hat, sondern rein einen Tatsächlichkeitsmechanismus beschreibt, bedarf eigentlich keines weiteren Beleges. b) Als Rechtssatz ist das Prinzip der Belastung nach Leistungsfähigkeit von einer "Qualität", die mit den allgemeinen Rechtsprinzipien unvereinbar ist. Hier wird ja nicht nur etwa das Sein mit dem Sollen gleichgesetzt, zum Sollen erhoben; der Sprung ist noch größer: von der Möglichkeit zum Müssen, von der Möglichkeit, etwas zu nehmen, zu der Berechtigung, dies zu tun. Hier wird nicht so sehr ein tatsächlicher Zustand zur Norm erhoben; denn nur im Urwald mag es der Realität entsprechen, daß überall dort genommen wird, wo sich etwas findet. Es

192 VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - soziale Nivellierung

erfolgt vielmehr der viel gefährlichere Übergang von der Möglichkeit zum Müssen. Dies aber ist, es muß einmal hart ausgesprochen werden, staatsgrundsätzlich nichts anderes als die Glorifizierung der reinen Gewalt, als der Anreiz dazu, diese Gewalt systematisch einzusetzen und auszunützen. Hier verdecken komplizierte juristische Begriffe und Deduktionen nichts anderes als ein ganz primitives "Wer kann, der darf"der ungleiche, stärkere Staat darf den Bürgern soviel nehmen, wie sie haben, wenn er sie durch Gleichheit schwächer gemacht hat, damit sie noch stärker egalisiert werden. Moralphilosophen mögen darüber nachsinnen, was eine derartige Staatsmaxime unterscheidet von den selbstverständlichen und jahrhundertealten Gewohnheiten der Straßenräuber, die ja auch nur dort nehmen, wo etwas zu finden ist. c) Doch jenseits einer solchen, und wohl sehr berechtigten, staatsethischen Entrüstung bleibt staatsgrundsätzlich für den Gleichheitsstaat festzustellen: Daß es überhaupt möglich war, daß der Leistungsfähigkeitsgrundsatz als Begründung staatlicher und notwendig nivellierender Eingriffe, weit über die Steuer hinaus, eingesetzt wurde, dies zeigt nur eines: In der Gleichheit selbst wird die Gewalt nicht abgebaut, sondern in ganz grundsätzlicher, geradezu nackter Weise als solche herausgestellt, "legitimiert". Es ist, als könne die Staatsgewalt nur unter der Maske der Gleichheit ihr Gesicht der reinen Gewalt verbergen, es gegen alle anderen Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit schützen. Ein Staat, der nach dem Grundsatz der Belastung nach Leistungsfähigkeit vorgeht, beweist allerdings eindrucksvoll eines: daß er der Stärkere ist, und daß er es überall ist. Wo immer dieses Prinzip eingesetzt wird, erscheint die Existenzberechtigung des Staates besonders deutlich bewiesen - im Steuerstaat zuerst, in dessen Perfektionismus schon ein Ludwig XIV. erstmals den großen, absoluten Staat in Europa errichtet hat. Nehmen nach Leistungsfähigkeit - dies treibt die Macht an zur Allgegenwart, zum Zugriff an allen Ecken und Enden, und immer mit einer Tendenz: Es soll die kleine oder größere, mögliche oder schon tatsächliche Gegengewalt gebrochen oder erstickt werden, die der Bürger sich durch Leistung aufgebaut hat. Denn dies vor allem ist ja solche Leistungsfähigkeit: der Gegenbegriff zu jeder Leistung. Daß hinter dem Leistungsfähigkeitsprinzip nur eines steht: durch mehr Gleichheit zu mehr reiner Macht, zeigt sich deutlich, wenn man die herkömmlichen Begründungen dieses Prinzips näher analysiert.

4. Leistungsfähigkeit - "gleiche Merklichkeit der Herrschaft"

193

4. Belastung nach Leistungsfähigkeit "gleiche Merklicbkeit der Herrschaft" Die Maxime, daß der Staat nach der Leistungsfähigkeit den Bürger belasten müsse, wird häufig damit begründet, daß er verpflichtet sei, überall eine "gleiche Merklichkeit der Macht" herzustellen. Diese aber sei nur gewährleistet, wenn dem Leistungsstärkeren mehr genommen werde als dem Schwächeren; das soll insbesondere auf dem Wege der Progression durchgesetzt werden. Andernfalls, so argumentiert man, müsse die Leistung des Einzelnen zu einer Mauer gegen die Staatsgewalt werden, hinter der sich ein neuer Leistungsfeudalismus gegen die zentrale Macht aufbauen könne; denn diese Mauern des Besitzes oder des Einflusses schirmten den Bürger gegen die Staatsgewalt ab, machten ihn machtunempfindlich. Hier wird ein Zweifaches ganz deutlich: zum einen, daß Belastung nach Leistungsfähigkeit ganz wesentlich ein Nivellierungsbegriff ist; und zum anderen, daß diese Egalisierung auf Machtmaximierung hinausläuft. a) Das Postulat, daß die Staatsgewalt jedem Bürger gegenüber gleich merklich sein soll, läßt sich nur durch ein Gleichheits-Vorverständnis begründen. Denn wo steht denn geschrieben, daß der Staat jedem Bürger machtmäßig gleich nah kommen muß, daß seine Macht allen gegenüber gleicherweise merklich sein soll? Dies ergibt sich doch keineswegs aus dem Wesen der Staatsgewalt als solcher, sondern nur dann, wenn man in sie ein egalitäres Element von vorneherein legt. Ein solches mag im Begriff des Bürgers zu finden sein, der dann eben dadurch definiert wird, daß jeder, der diesen Namen trägt, nicht nur "unmittelbar zum Staat" ist, sondern auch mit seiner privaten Sphäre in gleichem Abstand um diese staatliche Sonne rotiert. Doch dann ist nichts anderes erfolgt, als daß man den Bürgerbegriff eben auch bereits durch ein egalitäres Vorverständnis belastet hat; und gerade dies ist ja seit der Französischen Revolution geschehen. Aus dem Begriff der Staatlichkeit oder der Staatsgewalt aber läßt sich ein derartiger gleicher Abstand der Gewaltunterworfenen zur Macht nicht begründen. Dies zeigt deutlich das Beispiel der aristokratisch strukturierten Staatlichkeit: Hier steht die vermeintliche oder wirkliche Elite näher und zugleich weiter entfernt von der Staatsgewalt als die anderen Gewaltunterworfenen, gewisse Äußerungen derselben sind für sie merklicher, andere wieder unmerklicher. Diese Elite ist es auch, welche die Merklichkeit der Staatsgewalt für die "Kleineren" erst vermittelt. Dies ist also ein ganz anderes System der Merklichkeit staatlicher Macht als das des Gleichheitsstaates: Seine "gleiche Machtmerklichkeit für alle", 13 Lelsner

194 VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - soziale Nivellierung welche das Prinzip der Belastung nach Leistungsfähigkeit begründen soll, ist nichts anderes als Ausdruck einer Gleichheit, mit der diese Staatlichkeit bereits begonnen hat, einer Egalität, die sich eben in dieser Belastung nach Leistungsfähigkeit fortsetzt. Leistungsfähigkeit kann man also von Gleichheit gar nicht isolieren, sie vermag keine Egalität zu begründen, weil sie ja selbst auf dieser aufruht. Darüber kann allerdings kein Zweifel bestehen: Wenn man ausgeht vom Postulat größtmöglicher Gleichheit, dann gibt es kaum ein besseres Instrument, derartiges herzustellen, als demjenigen mehr zu nehmen, der mehr hat und vermag. b) Der eigentliche Hintergrund der Lehre von der Notwendigkeit "gleicher Merklichkeit der Staatsgewalt" ist aber noch ein anderer: Dies ist ein rein machtpolitischer Lehrsatz, kein Prinzip des Rechts, sondern eine Regel wirksamer Machtausübung. Hier wird die Staatsgewalt nicht, wie in feudalen, aristokratischen Ordnungen, mit den Interessen gewisser Gruppen verbunden, sie wird vielmehr als solche, in reiner Form, den Gewaltunterworfenen gegenübergestellt. Geht man davon aus, so ist es selbstverständlich, daß jede Gegenrnacht verhindert werden muß, daß sich infolgedessen niemand in die Staatsferne einer geringeren Merklichkeit der Staatsgewalt soll flüchten können. Die Staatsgewalt, welche über allem steht, muß auch für alle gleich fühlbar bleiben, wie stark, d. h. aber: leistungsfähig sie auch sein mögen. Damit erweist sich die Regel von der Belastung nach der Leistungsfähigkeit als nichts anderes denn als das Postulat der absoluten Machtmaximierung gegenüber den Gewaltunterworfenen: Keiner von ihnen soll sich der Herrschaft entziehen können; und deshalb muß diese Leistungsfähigkeit auch auf alle Herrschaftsformen angewendet werden, weil sie für alle Macht, für die ganze Gewalt gelten muß, nicht nur für Sektoren derselben, etwa das Steuerrecht. Im letzten ist also dieses Leistungsfähigkeitsprinzip nichts anderes als die Umschreibung der Herrschaftsform des Gleichheitsstaates selbst, der Herrschaft durch Gleichheit. Gerade hier zeigt sich, welche gewaltige Macht in der Egalität steckt: Flächendeckend will sie alle Bürger erfassen, weil sie sich, im Gegensatz zu oligarchisch-aristokratischer Machtauffassung, nicht nur will behaupten können, sondern weil sie wirklich und aktiv zu herrschen beabsichtigt. Wo also das Leistungsfähigkeitsprinzip eingesetzt wird, zeigt sich ein ganz hochentwickeltes Selbstbewußtsein der Macht, die sich nicht behaupten, sondern wirken will, und zwar systematisch-allseitig, nicht schwerpunktmäßig. Hier sollen keine feudalen Zwingburgen errichtet 'werden, mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip

5. "Leichtere Durchsetzbarkeit gegenüber Leistungsfähigen"

195

werden, ganz im Gegenteil, alle Gegenburgen gebrochen, das ganze Land ist der Gleichheit in voller Herrschaftsunterworfenheit geöffnet. 5. "Leichtere Durchsetzbarkeit gegenüber Leistungsfähigen" ein Zeichen vorgängiger Egalisierung a) Es liegt nahe, das Prinzip der Leistungsfähigkeit damit begründen zu wollen, daß die für den Staat erforderlichen Leistungen erfahrungsgemäß leichter bei Leistungsfähigen beizutreiben seien als bei weniger potenten Bürgern. Dieser Praktikabilitätsgesichtspunkt könnte dafür sprechen, in dem Prinzip nichts anderes zu sehen als eine Erfahrungsmaxime reibungsloser Machtabwicklung. In Wahrheit läßt es sich so jedoch nicht erklären, sondern es zeigt sich auch hier wieder, daß der Grundsatz nur Ausdruck der bereits installierten Gleichheitsmacht, daß er ihr Instrument ist. Denn dadurch wäre eine Verminderung des Widerstandes gegen die Herrschaft ja letztlich gar nicht zu erreichen, daß man sich in erster Linie an die leistungsfähigeren Bürger wendet - das Gegenteil müßte notwendig eintreten: Sie als die sozial Stärkeren würden wirksamen Widerstand leisten. Widerstandsvermeidend wäre also genau das Gegenteil: stärkere Belastung der Schwächeren, weil sie weniger wirksam widerstehen können. Nur dann ist der Machtdruck wirksamer gegenüber den Leistungsfähigen, wenn diese bereits völlig "entfeudalisiert" sind, in einer vorgängig geschaffenen Gleichheitsordnung, in der sie sich verpflichtet fühlen wie alle anderen Bürger auch. Am Anfang muß also stets die Gleichheit, das allgemeine Gleichheitsgefühl stehen, erst dann kann damit gerechnet werden, daß der Belastungswiderstand bei den Leistungsfähigeren geringer ist, daß sich bei ihnen "leichter etwas holen läßt". Praktikabilitätserwägungen leichterer Durchsetzbarkeit können also nie am Anfang der Machtausübung nach Leistungsfähigkeit stehen, sie sind stets nur die Folge einer bereits weithin durchgesetzten Gleichheitsordnung. b) Und einer Egalitätsordnung, die sich gerade durch die Belastung nach Leistungsfähigkeit noch weiter verfestigt. Denn das Wort von der stärkeren Belastung nach Leistungsfähigkeit ist eben nicht nur eine Folge der Egalität, sondern zugleich auch ein Instrument zu ihrer Durchsetzung. Was wenig bemerkt wird: Es sagt letztlich gar nicht aus, was es wirklich meint - erweckt wird der Eindruck, als wolle man nur an stärkerer Leistungsfähigkeit partizipieren, sie als solche jedoch belassen. Doch hier gerade kommt es zum entscheidenden übergang in etwas ganz anderes, im Namen der Gleichheit: Das folgerichtig eingesetzte Leistungsfähigkeitsprinzip führt dazu, daß immer weniger Un-

196 VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - soziale Nivellierung terschiede in der Leistungsfähigkeit bestehen, denn es wirkt eben einebnend, die Steuerentwicklung zeigt es deutlich. Das Prinzip sagt ja nicht aus, daß jeder um soviel mehr belastet werden soll, als er leistungsstärker ist; vielmehr liegt in ihm die Möglichkeit einer viel weitergehenden Belastung der Stärkeren, damit aber der Durchbruch zu einem Prinzip, das letztlich mit der Leistungsfähigkeit gar nichts mehr zu tun hat: zur Progression. In der Leistungsfähigkeit steckt die Fähigkeit zur großen Mutation, vom Niederhalten der Bürger in Machtkonservierung bis hin zur Machtverstärkung durch weitere progressive Nivellierung. Hier erweist sich sehr deutlich, daß es keineswegs nur darum geht, eine "Herrschaft des geringsten Widerstandes" aufzubauen, daß man nicht nur dort holen will, wo man es am leichtesten findet; vielmehr soll die gesamte Sozialstruktur in einer Weise aktiv verändert werden, die dann nicht nur ein "leichteres Herrschen" ermöglicht, sondern ein vollständigeres, ein systematisches, wie es eben nur der Gleichheitsstaat kennt. Nicht praktikable Abwicklung, sondern echte Machtbegründung darum geht es beim Einsatz der Leistungsfähigkeit. 6. Belastung nach Leistungsfähigkeit - steigender Zoll für Ungleichheit - die Rückkehr des Assekuranzdenkens Der Grundsatz der Belastung nach Leistungsfähigkeit, der sich inzwischen längst ausgeweitet hat zu einem allgemeinen Prinzip der Belastung nach Belastbarkeit, sollte im Abgabenrecht ursprünglich die frühere hauptsächliche Rechtfertigung der Steuern ablösen: die Assekuranztheorie. Nach dieser Auffassung war die Steuer letztlich doch nur ein Kaufpreis, den der Einzelne der Gemeinschaft entrichtet - für eine Versicherung seines freien, ungehinderten privaten Lebens in ihr. Dem modernen Gleichheitsstaat konnte eine derartige Theorie nicht genügen, welche seine Herrschaftsordnung aufzulösen versuchte in eine kommerzielle Austauschbeziehung, in ein Tauschgeschäft "Geld gegen Sicherheit durch Macht". Er verlangte mehr, eben jene allgemeine Leistungsfähigkeitstheorie, die ihm Rechte gab zur Egalisierung, ohne die Verpflichtung, jeweils entsprechend größere und kleinere Freiheitsräume dem Einzelnen zu belassen. Doch eine eigentümliche Entwicklung führt nun dazu, daß einer nivellierten Bürgerschaft gegenüber sogar wieder das alte, gute Assekuranzdenken als Rechtfertigung der Staatlichkeit, der Herrschaft herangezogen werden kann. Wenn die Gleichheit das Grundprinzip des Gemeinschaftslebens ist, so wird jede Ungleichheit zur Anomalie im wahrsten

6. "Zoll für Ungleichheit" - Rückkehr zum Assekuranzdenken

197

Sinne des Wortes, zu einer sozialen Unebenheit, welche der besonderen Rechtfertigung, wenn nicht spezieller staatlicher Zulassung bedarf. Dann aber liegt es ganz nahe, daß die Gemeinschaft eine Art von Wegezoll erhebt für Ungleichheit, daß sie es sich besonders hoch bezahlen läßt, wenn ein Bürger anders oder höher leben will als der andere. So kann ja durchaus auch das Leistungsfähigkeitsprinzip verstanden werden; dann aber steht es doch eigentlich gar nicht mehr im Gegensatz zum Assekuranzdenken: Der Reiche, Mächtige muß mehr abgeben als der sozial Schwächere, weil er eben in seiner ungewöhnlichen, herausragenden Stellung in einer nivellierten Gemeinschaft von dieser nicht nur geduldet wird, sondern besonders gesichert werden muß. Diese sozialen Sicherungskosten aber werden um so höher, je stärker die Gleichheit anwächst. Je mehr also über das Leistungsfähigkeitsdenken nivelliert wird, desto mehr kann man vom ungleichen Bürger an Wegezoll der Freiheit verlangen, an Ungleichheitsversicherung. Dies ist auch durchaus nicht graue Staatstheorie, vielmehr lassen sich hier die alten Gedankengänge der Assekuranztheorie wieder aufnehmen: Die Gemeinschaft der Gleichen duldet den Luxus grundsätzlich nicht, wer ihn sich leistet, muß mit berechtigtem Sozialneid rechnen; wird er von den anderen Gleichen angegriffen, politisch oder kriminell, so bedarf er des ganz besonderen Schutzes der Gemeinschaft, der immer schwieriger wird, je mehr man sich über das allgemeine Niveau erhebt. In einem eigentümlichen Paradox wird der Stärkere immer schutzbedürftiger, weil er auf immer härteren Gleichheitswiderstand stößt. Die Aufrechterhaltung dieser speziellen Gleichheitsreservate - die muß er eben hoch bezahlen, wie ja auch in der modernen industrialisierten Marktwirtschaft der Luxusartikel unverhältnismäßig mehr kostet als die Befriedigung der platten, nivellierten Massenbedürfnisse. So findet die Leistungsfähigkeit wieder zurück zum Assekuranzdenken, verbindet sich mit ihm in einer einzigen egalitären Machtlegitimation. Und nicht nur Herrschaftsbegründung wird hier geleistet, es werden die Grundlagen der typisch egalitären Herrschaftsverstärkung bereits prinzipiell gelegt: Jener Gleichheitswiderstand, gegen den der Ungleiche sich durch höhere Leistungen "versichern" muß, er wächst eben keineswegs gleichmäßig mit dem Maße der Ungleichheit, er nimmt vielmehr weit rascher zu, in geometrischer Progression; jedenfalls läßt sich dies politisch leicht behaupten und durch die ja stets in einer Gleichheitsordnung berechtigten Reaktionen des kollektiven Sozialneides eindrucksvoll belegen. Damit aber leistet die Assekuranztheorie neuen Stils, aufbauend auf einer "recht verstandenen", egalitären Leistungsfähigkeit, gerade das, wozu sie früher kaum dienen konnte: die Legitimation der höchsten Steigerung des Leistungsfähigkeitsdenkens - der Progression.

198 VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - soziale Nivellierung 7. Die egalitäre Selbstverstärkung der Herrschaft durch das Leistungsfähigkeitsprinzip: die progressive Belastung

Die Steuerprogression war es, welche den großen Durchbruch zum Gleichheitsstaat erreicht hat und diesen immer weiter befestigt. Sie hat sich inzwischen gesteigert und erweitert zu einem ganz allgemeinen Denken in progressiver Belastbarkeit, wie es insbesondere in den zahllosen Transferleistungen des Staates an die sozial schwächeren Bürger täglich praktiziert wird. Mit der Progression erreicht der Gleichheitsstaat einen, wenn nicht überhaupt seinen Höhepunkt: Hier nivelliert er am stärksten, und hier wird sein Grundprinzip der Leistungsfähigkeit zur Selbstverstärkung der Herrschaft. a) Die größte Macht des Prinzips der Leistungsfähigkeit liegt in seinel eingängigen Unbestimmtheit. Daß derjenige mehr an die Gemeinschaft zu leisten habe, welcher mehr besitzt oder mehr vermag, dies mag an sich geradezu als eine Forderung der Gerechtigkeit erscheinen, niemand wird ihm widersprechen. Die entscheidende List der Gleichheit liegt aber darin, daß der Grundsatz eben nichts darüber aussagt, um wieviel mehr denn der Stärkere jeweils zu leisten habe. So konnte denn hier, politisch zwar nicht unbemerkt, aber doch in seinen eigentlichen Auswirkungen auch nicht annähernd erkannt, eine Wende erfolgen, die man wieder einmal nur kopernikanisch nennen kann: der übergang von der einfach-verhältnismäßigen zur progressiven Belastung bei steigender Leistungsfähigkeit. Dieser übergang gelang in jener Welt der späten Gründerzeit und der jugendstilhaften Staatsromantik, in der sich die herrschende Schicht so grenzenlos reich dünkte - und es war - daß sie dem Staat diesen kleinen Obolus geradezu als Wegezoll ihres Glücks glaubte entrichten zu müssen; sie ist daran zugrunde gegangen. Denn nun brach alsbald der eigentliche Inhalt des Leistungsfähigkeitsdenkens durch: Es geht nicht darum, daß der Staat gleichmäßig teilnehmen soll am Erfolg des Bürgers, sondern um weit mehr - um Veränderung, Nivellierung des Herrschaftssubstrats, um Herrschaft. Nunmehr wurde die Gleichheit mit ihrer Leistungsfähigkeit wirklich erst herrschaftsbewußt: Sie nahm den Grundsatz ernst, daß nicht Güter Steuern zahlen, sondern Menschen; das erscheint als Selbstverständlichkeit, doch darin liegt ein tiefes Herrschaftsprinzip aller Abgaben- und staatlichen Belastungsgewalt: Wären es Güter, wäre es Reichtum, der belastet würde, so könnte nichts die Progression rechtfertigen. So aber wird all dies einzelnen Menschen zugerechnet, dem Bürger, der ja ein Herrschaftsobjekt ist; und dann wird die Abgabe zum Herrschaftsinstrument, weil es eben letztlich nicht darum geht, dem Staat Geld zuzuführen, sondern die Bürger gleich zu machen, sie aus jener großen Kapi-

7. Egalitäre Selbstverstärkung durch progressive Belastung

199

talkraft zu drängen, die stets Staatsunabhängigkeit, Freiheit, ja Antistaatlichkeit bedeutet hat. Im Namen der Leistungsfähigkeit sollen nicht Staatszinsen von privatem Kapital erhoben werden, es läuft ein Unterwerfungsvorgang von Menschen unter staatliche Gewalt ab. Und in der Unbestimmtheit des Leistungsfähigkeitsgrundsatzes, der jede beliebige Progression prinzipiell gestattet, darin wird die Gleichheit zu einer Selbstverstärkung der Macht, prinzipiell grenzenlos, bis hin zur völligen Nivellierung. b) Dies ist die große Stärke der Progression im Leistungsfähigkeitsdenken: Sie gleicht den Mehrwert der Freiheit nicht nur aus, sie überholt auf Dauer all das, was man den Prämiengewinn der Freiheit nennen kann. Die marxistische Theorie vom ökonomischen Mehrwert, der dem Kapitalisten zufällt, ist ja nur ein Teil einer viel weiter zu entfaltenden Mehrwertlehre. Für den Bereich der politischen Macht ist etwas Entsprechendes, die Prämien der Macht, eindrucksvoll nachgewiesen worden, jene Selbstverstärkung der Herrschaft, die der Besitz der Mächtigkeit in vielfacher Weise gewährt, auch und vor allem in der parlamentarischen Demokratie. Doch auch dies ist nur ein Unterphänomen einer weit größeren Erscheinung: Es gibt etwas wie eine Prämie der Freiheit schlechthin, einen Mehrwert der erreichten Libertät, der angesammelten Möglichkeiten. Dem, der hat, wird eben ganz allgemein leicht gegeben, das gilt für Macht, Einfluß, Kapital, es gilt für jeden Freiheitsraum in der Gemeinschaft. In jedem erreichten Stück Bürgerfreiheit liegt die Kraft und damit die Tendenz zu seiner Verstärkung, zur Schaffung eines größeren Freiheitsraumes. Deshalb muß der Staat, um das Gleichgewicht stets zu halten, gegensteuern mit den allgemeinen Prämien seines Machtbesitzes. Und nirgends ist er darin wirksamer, als in der egalitären Progression der Belastungen nach Leistungsfähigkeit. Dies ist das deutlichste Zeichen des egalitären Mehrwerts, der der Staatsgewalt stets zufließt; und er verstärkt sich eben, dies liegt im Prinzip der Progression, schneller als jeder kapitalistische Mehrwert, als jede Zunahme der Freiheit. In der Progression hat damit die Egalität die Libertät grundsätzlich und endgültig überholt. c) Die Progression ist auch darin ein besonders günstiges Herrschaftsinstrument der Gleichheit, daß sie nicht nur einzelne Spitzen abbricht, sondern eine allgemeine, nahezu bruchlose Einebnung bewirkt. Ganz folgerichtig ist es dem modernen Gleichheitsstaat von Anfang an nicht darum gegangen, im Namen der Leistungsfähigkeit Spitzen zu "kappen". Er hätte dadurch vielleicht gewisse private Gegenmächte, neue Formen der Zwischengewalten von Kapitalisten oder anderen Mächtigen, brechen können; doch hier hätte letztlich die Gleichheitslegitimation

200 VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - soziale Nivellierung versagt, die Herrschaft wäre als lastender Eingriff offenbar, odios geworden. Ein derartiges Vorgehen, ein solches Brechen großer Bürgerzwingburgen in der modernen Gemeinschaft - es wäre auch nichts anderes gewesen, als der Ausdruck eines überholten Herrschens mit großen Schlägen, wie es die Feudalzeit kennen mochte. Der Staat der Progressionen kennt keine derartigen Kraftakte, ihm ist an bruchlosen übergängen gelegen. Deshalb wird er auch immer versuchen, sich von stufenmäßig wirkenden Steuertarifen zu entfernen, denn sie sind mit dem Odium der Ungleichheit belastet. Seine Kurve progressiver Belastungen mag noch so steil steigen, wichtig ist, daß dies kontinuierlich geschieht, damit die Unmerklichkeit gewahrt bleibe - und all dies liegt ja in einem wohlverstandenen Grundsatz wirklich progressiver Belastung. Der Sinn des Gleichheitsstaates ist erst dann verwirklicht, wenn diese Ordnung gar keine großen feudalen Gegenspieler mehr findet, keine Kanonenbarone oder andere Kapitalisten, welche so mächtig wären, daß ihr politischer Einfluß durch Spezialgestaltungen gebrochen, auf Gleichheit reduziert werden müßte. Das eigentliche System der Leistungsfähigkeits-Gleichheit muß in der Progression soz. gewichtslos rollen; reibungslos und wie von selbst muß die immer größere Abflachung privater Mächtigkeit erreicht werden. Alle Täler müssen ausgeglichen werden, und eines Tages werden alle Stufentarife im gleitenden Spektrum der Progression verschwinden. Den Gleichheitsstaat braucht gelegentliche kapitalistische Mächtigkeit nicht zu beunruhigen; denn am Ende wird doch die große Gleichheit stehen - mit der Notwendigkeit der Progression.

8. Durch Leistungsfähigkeitsdenken zur Bedürfnisbeherrschung durch den Staat Der Staat herrscht nicht nur darin, daß er dem Bürger im Namen der Leistungsfähigkeit Werte entzieht, ihn stärker belastet, sondern auch dadurch, daß er ihm Güter und Entfaltungsräume seiner Freiheit beläßt - aber gleiche Räume. Damit wird er zum Herrn der Bedürfnisse, welche jeder Bürger befriedigen darf, er erschließt sich einen gerade heute entscheidenden Raum der Macht. Das gesamte Denken in Kategorien der Leistungsfähigkeit beruht ja, irgendwie, auf einer Vorstellung von "elementaren Bedürfnissen", welche jedermann in der Gemeinschaft befriedigen darf. Im Namen der Egalisierung sind diese Bedürfnisse immer höher geschraubt worden, für alle. Heute gehört dazu bereits die größere Wohnung, das schönere Fahrzeug. Der Gleichheitsstaat ist der Garant all dieser Bedürfnisse für jedermann, oder doch für den allergrößten Teil der Bürgerschaft. Dies

8. Egalitäre Bedürfnisbeherrschung durch den Staat

201

wird ihm denn auch immer mehr fordernd abverlangt, nicht mit vorsichtigen Anträgen, sondern in politischer Drohung. Wenn er es schon nicht selbst ist, der solche Bedürfnisse befriedigt - und bei immer zahlreicheren wird er selbst zum Garanten, man denke nur an das neue "Recht auf Wohnung" - so hat er doch durch seine gesamte Steuer- und Belastungspolitik dafür zu sorgen, daß ihre Erfüllung in der Leistungsfähigkeit des Einzelnen liege. Belastung nach Leistungsfähigkeit - eigentlich ist dies nichts mehr anderes als eine Belastung nach nivellierten Bedürfnissen. Sicher kann hier der Staat nicht alles diktieren, vieles wird ihm von der technischen Entwicklung aufgezwungen, durch die selbstverständliche Forderung der egalisierten Masse. Und doch wächst dem Staat, dem Herrn über die egalisierte Leistungsfähigkeit, damit auch eine große Herrschaftsmacht zu: Soviel wie er an privater Leistungsfähigkeit dem Bürger noch beläßt, soviel kann dieser zur Bedürfnisbefriedigung einsetzen; durch den Rahmen seiner Belastungen und Abgaben bestimmt er den Lebensstandard in der Gemeinschaft, den Lebenszuschnitt ihrer Schichten und Gruppen. Mit den Mitteln, welche er dem privaten Konsum noch zugesteht, bestimmt er wiederum die Investitionen und Produktionen, und all dies in der großen Gleichmäßigkeit der großen Zahl. Damit erst wird die Bestimmung der Leistungsfähigkeit durch den Staat zum Herrschaftsinstrument, daß es eben nicht Einzelne sind, denen hier etwas gestattet oder verboten wird, daß dies auch nicht unmittelbar erfolgt, sondern daß durch die Steuerung zahlloser privater Leistungsfähigkeiten, letztlich durch die Konsumsteuerung, eine riesige globale Investitionskontrolle ausgeübt werden kann. Natürlich ist dies nicht ein Herrschen in Einzelanordnungen, sondern Machtausübung durch das Setzen von Rahmenbedingungen. Doch dies gerade sind die modernen Formen der Machtausübung, die sich hier zeigen, von der Kontrolle der Leistungsfähigkeit über das Rahmendiktat der Bedürfnisse: Geherrscht wird nicht mehr in einzelnen Befehlen, sondern im Ziehen unüberschreitbarer Grenzen, innerhalb deren etwas von Freiheit bleibt. Leistungsfähigkeit - das ist letztlich ja ein Gewährenlassen, ein Noch-Gestatten. Und dies sind Formen moderner Gleichheitsordnung, ebenso weich und flexibel wie unentrinnbar. So sehr hat man sich bereits daran gewöhnt, staatliche Herrschaft nunnehr im harten zupackenden Einzeldirigismus zu sehen, daß diese doch viel stärkeren Herrschaftsformen bereits als Freiheit erscheinen.

202 VII. Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - soziale Nivellierung 9. Von der unterschiedlichen Leistung zur gleichen Leistungsfähigkeit a) Die Leistungsfähigkeit hat sich geradezu, wie bereits gesagt, zum Gegenbegriff des Leistungsprinzips entwickelt. In seinem Namen wird Ungleichheit nicht nur hervorgebracht, sondern auch staatsethisch legitimiert. Der Gleichheitsstaat kann es als Grundlage der Gemeinschaft nicht anerkennen, er muß, aus seinen Prämissen heraus, stets alles tun, um das Leistungsprinzip zu relativieren oder gar grundsätzlich in Frage zu stellen. Und dazu eignet sich nichts besser als eine entschlossene Anwendung des Egalitätsgedankens: So einfach dies zu sein scheint - es ist doch stets plausibel: Wenn die Bürger alle so grundsätzlich gleich sind, so kann es doch derartige Leistungsunterschiede von Rechts wegen eigentlich gar nicht geben, wie sie das Leistungsprinzip anerkennen will. Dann gibt es eben nicht Leistung, sondern Leistungsfähigkeit - ein sehr feiner Unterschied! Im Begriff der Leistung würde ja liegen, daß ihr Ergebnis dem Einzelnen endgültig zugute kommen darf, nicht von der Gemeinschaft eingezogen werden kann. Leistungsfähigkeit dagegen ist von Anfang an ein Gemeinschaftsbegriff, mehr noch: Hier wird die ethische Bedeutung der Leistung relativiert, sie erscheint nurmehr als die Möglichkeit, dem Staat von dem wie immer Erworbenen etwas zu überlassen. Und deshalb ist im Gleichheitsstaat viel von Leistungsfähigkeit die Rede. b) Dahinter steht dann auch das tiefere Bemühen des Gleichheits·· staates, in kollektivierendem Denken die Leistung des Einzelnen zu ent·· werten: Da alle Bürger gleich sind, kann der Einzelne ja diese seine angeblich so große individuelle Leistung nur auf der Grundlage der Leistung anderer erbracht haben, so daß in jeder Individualleistung letztlich wesentlich Kollektivleistung steckt. Der Gleichheitsstaat ist auch hier ganz folgerichtig: Er geht ja aus von der Umwelt- und Erziehungsbedingtheit der individuellen Leistung und hält sich daher für berechtigt, wenn nicht für verpflichtet, mit einem großen Corriger la fortune laufend einzugreifen. Diese selbe Umweltbedingtheit aller Leistungen berechtigt ihn dann aber auch, um so mehr an Leistungsgewinn abzuschöpfen, wenn Größeres entstanden ist; denn hier spricht doch alle Vermutung dafür, daß es nur auf dem Rücken der vielen anderen Gleichen hat entstehen können. c) All diese Deduktionen mögen bestreitbar erscheinen, als ein Ausdruck marxistischer Staatslehre abgelehnt werden. Entscheidend ist ein anderes: Der Gleichheitsstaat verschreibt sich dieser Ideologie immer, ob er nun auf Marxismus gegründet ist oder nicht, ganz wesentlich schon

9. Unterschiedliche Leistung - gleiche Leistungsfähigkeit

203

darin, daß er eben nach Leistungsfähigkeit belastet und besteuert. Denn auch der umgekehrte Weg ist wirksam: Es muß nicht zuerst, wie es die kommunistische Staatlichkeit versucht, in der Gemeinschaft die überzeugung durchgesetzt werden, daß der Einzelne nur im Kollektiv zu Leistungen befähigt sei, um ihn dann nivellieren zu können. Je mehr der Bürger, ohne jede nähere Begründung, nach Leistungsfähigkeit behandelt und besteuert wird, desto mehr wächst in der Gemeinschaft die Überzeugung, daß an dieser laufenden Staatspraxis der Gleichheit etwas von Gerechtigkeit sein müsse, und diese wird und kann man dann nur in einem finden: eben darin, daß es letztlich gar keine Leistung, sondern nur Leistungsfähigkeit in der Gemeinschaft gibt, so daß auch entsprechend schwerer belastet werden kann. So bringt denn jede laufende nivellierende Praxis sogleich auch ihre kleine Staatslehre im Gehirn des Bürgers hervor, am wirksamsten dann, wenn sie ganz undoktrinär, unideologisch auftritt, wie etwa in der scheinbaren" Technik" des Steuerrechts. Dann wird aus dem so einfachpraktikabel erscheinenden technischen Prinzip, daß man doch holen solle, wo etwas sei, letztlich die ganz große egalitäre Staatstheorie, daß es individuelle Leistung überhaupt nicht mehr gebe, weil alle Bürger gleich seien; daß letztlich alle Leistung eine kollektive sei. Denn nichts anderes ist das große Ende des ganz kleinen Beginnes der Belastung nach Leistungsfähigkeit. Auf diese Weise versperrt der Gleichheitsstaat dem Einzelnen, moralisch und politisch, den einzigen Ausweg aus seinen Kreisen: den Weg in die größere individuelle Leistung. Nur sie könnte ihn selbst überzeugen, ihn dem Staat gegenüber selbstbewußt machen, nur sie könnte Ungleichheiten überzeugend in der Gemeinschaft begründen. Doch ein Staat, der es sich fast ein Jahrhundert lang bereits hat erlauben können, größere Leistung mit hartem Zugreifen zu honorieren, eine solche Gemeinschaft hat überall ihre Gleichheit durchgesetzt, den Bürger nicht nur kleiner gemacht, sondern auch angewiesen auf andere, vor allem aber auf den, der alle gleichen anderen repräsentiert: auf den Staat. Und darin liegt wohl der größte Herrschaftserfolg des Gleichheitsstaates, daß er dem Bürger den Stolz auf die eigene Leistung hat nehmen können. Das Ende würde dann heißen: Leistung - das gibt es nurmehr an den Staat oder durch den Staat ... In diesen Kapiteln war von der Nivellierung durch die Staatlichkeit die Rede, in ihren vielfachen Formen, von der Chancengleichheit des Bildungsstaates bis zum Sozialstaat der progressiven Belastung. Nun soll an den drei bedeutendsten Beispielen - Verbände, Tarifparteien, Medien - gezeigt werden, wie sich die Gleichheitsgewalt "gesellschaftlicher Instanzen" bedient, wie sich die Nivellierung über die eigentliche Staatsmacht hinaus in Gesellschaftsherrschaft fortsetzt und vollendet.

VIII. Der Verbändestaat als Herrschaftsordnung der Gleichheit 1. Verbandlichkeit - ein Bestandteil der Herrschaftsordnung a) Herrschaft durch Verbände

Die Worte "Staat" oder "Staatlichkeit" werden heute mit einer gewissen undogmatischen Leichtigkeit, einer ganzen Reihe von Begriffen hinzugefügt, welche das Wesen des gegenwärtigen Regimes der Bundesrepublik ausmachen sollen. Da gibt es den Sozialstaat und den Steuerstaat, den Richterstaat und den Gewerkschaftsstaat. Wenn es gewisse Instanzen sein sollen, deren Wirken die heutige Staatlichkeit besonders kennzeichnet, so hat eine solche Verbindung zur "x-Staatlichkeit" eigentlich nur dann Sinn, wenn wenigstens drei Voraussetzungen erfüllt sind. -

Der Staat bedarf dieser Instanzen, ohne sie kann er seine Herrschaft nicht eigentlich ausüben.

-

Der betreffenden Instanz werden einzelne Befugnisse staatlicher Herrschermacht übertragen, oder sie wird, in größeren Bereichen, in die Herrschaftsorganisation des Staates inkorporiert.

-

Jene Instanzen, deren Wirken die Staatlichkeit charakterisieren soll, entfalten auch aus sich selbst heraus, ohne Rücksicht darauf, wieviel ihnen an eigentlicher Staatsgewalt übertragen ist, staatsanaloge, staatsähnliche Herrschaftsmacht.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so werden diese Instanzen und ihre führenden Träger Teile der Herrschaftsgewalt, nicht nur in einem soziologischen oder politologischen, sondern auch in einem staatsrechtlichen Sinn, mag dieser auch zur Zeit von der Verfassung nicht ausdrücklich anerkannt werden, in der Gesetzgebung noch nicht systematisch zum Ausdruck kommen. In diesem Sinne ist heute die Bundesrepublik Deutschland, sind die meisten westlichen Staaten von echter Verbändestaatlichkeit getragen. Wenn daher auf diesen Blättern immer wieder von "den Herrschenden" die Rede ist, so kann sich dies nicht ausschließlich auf die Staatsorgane im engeren Sinne beschränken; einzubeziehen sind vielmehr zumindest jene verbandlichen Herrschaftsformen, die in enger, notwendiger Ver-

1. Verbandlichkeit -

ein Bestandteil der Herrschaftsordnung

205

bindung zur staatlichen Herrschaft stehen, diese ergänzen oder geradezu ersetzen. Eine Analyse des Gleichheitsstaates wäre daher unvollkommen, wollte sie nicht diese Erscheinungen des politischen Lebens mit einbeziehen, sie darauf untersuchen, ob sie nivellierende Wirkungen der Staatlichkeit unterstützen oder dieser entgegenwirken. Im folgenden wird sich zeigen: Die echte Verbändestaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland sollte eigentlich, wenigstens zum Teil, der Egalisierung entschieden entgegenwirken; im Ergebnis bewirkt sie jedoch eine ganz wesentliche Verstärkung derselben. b) Verbände -Hilfsorgane der Demokratie

Daß es in diesem Sinne heute eine Verbändestaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland gibt, ist weit mehr als eine soziologische Feststellung, es ist eine institutionell begründete Wirklichkeit. Die Verbände haben sich nicht etwa, wie es so oft im Schrifttum anklingt, irgendwie "an der Verfassung und den Gesetzen vorbei" in die Verfassungswirklichkeit hineingeschlichen, den Staat, seinen Grundprinzipien entgegen, besetzt. Die parlamentarisch-demokratische Staatlichkeit benötigt vielmehr derartige Institutionen unumgänglich; sie kann überhaupt nicht funktionieren, wenn sich die Vertretung des Volkssouveräns auf die Parlamente beschränkt, sich nicht fortsetzt in die zahlreichen Verästelungen moderner Verbände. Ein Blick auf die wichtigsten Sektoren moderner Staatlichkeit, insbesondere auf die herkömmlichen "Gewalten" des Staates, zeigt dies eindrucksvoll: -

Das Parlament ist heute schlechthin arbeitsmäßig überfordert und der informationsmäßig weit überlegenen Exekutive ausgeliefert, wenn ihm nicht die Verbandslobby laufend zuarbeitet. Die tägliche Praxis zeigt dies jedem Parlamentarier: Im Plenum, vor allem aber im Ausschuß, lebt er von Verbandsinformationen, Verbandsentwürfen, Verbandsforderungen. Indem er sich diese zu eigen macht, damit die Verbandlichkeit in die Staatlichkeit transformiert, kann er sich als Politiker profilieren, seine Gremien arbeitsfähig erhalten. Kritik gegen derartige Praktiken ist völlig abwegig; die Verbände sind die eigentlichen Hilfsorgane des Parlaments, hier vor allem schöpft der Vertreter des Volkssouveräns aus dem Vollen der Basis, hier reicht die "Gesellschaft" nun wirklich einmal an ihn heran. Daß dies nicht immer unmittelbar in der Wirkung von Verband zu Parlament geschieht, sondern vielfach durch Parteien und andere Verbände vermittelt wird, ändert nichts an der staatsrechtlich eindeutigen Situation, welche durch die Verbände als parlamentarische Hilfsorganisationen geprägt ist. Keine Parlamentsreform kann auch nur einen

206

VIII. Der Verbändestaat als Herrschaftsordnung der Gleichheit kleinen Teil dessen bewirken, was diese Verbandsarbeit täglich leistet. Und wenn sie im politischen Vorfeld angegriffen wird, so führt dies im Ergebnis nicht zu ihrer Beseitigung, sondern lediglich zur Institutionalisierung solcher Praktiken, etwa in der - an sich höchst zweifelhaften - "Registrierung der Lobby". Als ob stets gut nur wäre, der Staatlichkeit nur hilfreich, was institutionell verfestigt ist! Es wäre wohl eines Nachdenkens wert, ob die Demokratie einen der wenigen lebendigen Ströme, welche wirklich vom Volk in die Macht führen, nun sogleich wieder in gesetzliche Ufer zementieren sollte. Doch im Grunde hat sich an dieser Verbandlichkeit als Helferin des Parlaments nichts geändert, es kann sich nichts ändern; und mit der neueren Form der parlamentarischen Anhörung ist nur einer Wirklichkeit entsprochen worden, allerdings in einer Form, welche in Verbandsnotablierung zu erstarren droht.

-

In kaum einer anderen Lage ist, trotz ihres Datenvorsprunges, die Exekutive. Auf der Ministerialebene sind die Verbandsvertreter ihre ständigen Gesprächspartner. Der Verordnunggeber geht, in gesetzlich verfestigter oder in ganz flexibler Form, zu Anhörungen über wie der Vertreter des Volkssouveräns im Parlament. Auch die größere Einzelentscheidung bedarf der informativen Vorbereitung durch den Verbändekontakt, der Widerstand der Betroffenen kann nur auf diese Weise ausgelotet werden. Das ständige Reden von der Macht der Ministerialbürokratie sollte ergänzt werden: Die eigentliche Macht in diesem Bereich ist heute die der Ministerial-VerbändeBürokratie. Und diese Art der Machtausübung ist keineswegs auf die Exekutivspitze beschränkt, sie setzt sich bei den nachgeordneten Verwaltungsinstanzen fort, wo auch die kleinere Verbandlichkeit zu Wort kommt. Der Exekutive gegenüber, auf all ihren Stufen, mag eine andere Wirkungsweise der Verbandlichkeit im Vordergrund stehen als gegenüber dem Parlament. Ist dort vor allem die politische Repräsentativität von Bedeutung, so steht bei dem Kontakt mit der vollziehenden Gewalt jene Sachkunde im Vordergrund, welche in den Verbänden in anderer, interessenbetonter Weise vorhanden ist als in der staatlichen Bürokratie. Doch hier kann sich die Staatsgewalt gerade eines zunutze machen: Die besondere Intensität interessenvertretender Sachkunde, welche die "objektivere" Sachlichkeit der Verwaltung ergänzt. So sind denn die Verbände ebenso unentbehrliche Hilfsorgane der Verwaltung wie der Parlamente.

-

Zuwenig beachtet wird gemeinhin die Verbandsbedeutung im Bereich der Gerichtsbarkeit; doch auch hier sind diese Institutionen für das Funktionieren gerade der modernen Justiz unentbehrlich, welche sich nicht nur als Einzelfallentscheidung, sondern zugleich als konstruktive, im weiteren Sinne politische Fortbildung des

1. Verbandlichkeit - ein Bestandteil der Herrschaftsordnung

207

Rechts versteht. Ohne die systematisch angestrengten Verbandsprozesse müßte diese Rechtsfortbildung noch viel weitergehend dem Zufall überlassen bleiben als schon heute, die Rechtssicherheit für den Bürger würde sich auf diese Weise abschwächen; die Gerichtsbarkeit, auch in ihren höchsten Bereichen, könnte noch weniger als eine "Gewalt" wirken, als die sie doch in der modernen parlamentarischen Demokratie unabdingbar ist. Hinzukommt die gesamte Verbandsadvokatur, die laufende und systematische Beratung der Mitglieder, die Sammlung und Ordnung des Rechtsprechungsmaterials für zukünftige Prozesse. Dies alles ist ein wichtiger Beitrag zu einer flächendeckenden, systematischen Justiz, wie sie der Rechtsstaat in seinem Herrschaftssystem benötigt. Diese Voraussetzung ist also heute bereits sicher erfüllt: Die Verbände sind unentbehrliche Hilfsorgane aller Staatsgewalt. Erst über sie kommt es zu einer allgegenwärtigen Gewaltausübung, von der Basis zu den Herrschenden und zurück. c) Die "originäre" Verbandsmacht als Reservedemokratie

Die vielfachen Formen, in denen der moderne Staat die Verbände mit Herrschaftsbefugnissen aller Art betraut, vom herkömmlichen Eingriff bis zur neueren Verteilungsherrschaft, sind häufig analysiert worden und bedürfen hier keiner näheren Darstellung. Da ist die Herrschaftsträgerschaft der Verbände in zentralen Bereichen des heutigen Staates, etwa in der Arbeits- oder Sozialversicherungsverwaltung; da kann erinnert werden an die vielfachen Formen direktiver Mitbestimmung, durch welche die Berufsverbände der Beamten und staatlichen Angestellten bestimmenden Einfluß auf den Staat nehmen, etwa in Verwaltungsräten von Post und Bahn, in den Versammlungen und Senaten der Universitäten; und da ist schließlich nicht zuletzt das unübersehbare Geflecht von Kontrollgremien und Beiräten, in denen Vertretungsgewicht und Sachverstand der Verbände nicht selten mitentscheidendes Gewicht gewinnen. In all dem hat man vor allem die heutige Bedeutung der Verbände sehen, sie deshalb als Staatsorgane im weiteren Sinne betrachten und disziplinieren wollen. Doch zu wenig wird erkannt, daß dieser Einbau der Verbände in das staatliche Herrschaftssystem eigentlich nur die Folge ihrer sachlichen Kompetenz und ihrer "demokratischen" Vertretungsmacht ist; daß diese Stellung als "beliehene Unternehmer" in einem weiteren Sinn gar nicht der Grund der Verbandsmacht ist, sondern nur Anerkennung ihrer originären Gewalt. Nicht selten war es politische Zufälligkeit, die zu derart dezentralisierendem Einbau der Verbände in die Staatlichkeit geführt hat, wie etwa beim Aufbau der Ar-

208

VIII. Der Verbändestaat als Herrschaftsordnung der Gleichheit

beitsverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland. Fast immer handelt es sich dabei nur wn die staatliche Anerkennung von Funktionen und Kompetenzen, welche die Verbände eben an sich besitzen und ausüben. Dieser Einbau in die Staatsorganisation, ihre Anerkennung, mag ein Indiz für ihre herrschaftliche Mächtigkeit darstellen, diese auch immer weiter durch Institutionalisierung steigern. Die Quelle von all dem aber liegt letztlich außerhalb derartiger mehr oder weniger zufälliger Gestaltungen, ist unabhängig von ihnen: Es ist jene Reservedemokratie, jene Fortsetzungsdemokratie, ohne welche der parlamentarische Staat, wie oben dargelegt, überhaupt nicht mehr funktionsfähig wäre. Was heute als Beweis für die Verbändestaatlichkeit angesehen wird, sind nur die äußeren, häufig zufälligen Erscheinungsformen einer weit größeren inneren Mächtigkeit. d) Staatsähnlichkeit der Verbandsherrschajt

Auch die Voraussetzung der Staatsähnlichkeit der Verban