Bei Verträgen über Massengüter setzt die Vertragsfreiheit als Funktionsbedingung einen wirksamen Wettbewerb auf der Mark
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German Pages 1006 [1008] Year 2015
Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Aufgabenstellung
Teil 1: Einleitung
A. Die Privatrechtsordnung zwischen dem Schutz der individuellen Selbstbestimmung und der Beförderung von Gemeinwohlinteressen
I. Individuelle Selbstbestimmung als Grundidee der Privatrechtsordnung
1. Das Prinzip der Selbstbestimmung
2. Privatautonomie als Ausprägung des Prinzips der Selbstbestimmung
II. Unterscheidung zwischen Vertragsfreiheit, Vertragsgerechtigkeit und Sozialmodellen
1. Formale und materiale Konzeptionen der Vertragsfreiheit
2. Vertragsgerechtigkeit
3. „Sozialmodelle“ privater Macht und ihre rechtliche Rezeption
a) Zum Begriff des Sozialmodells
b) Gesellschaftswissenschaftliche Grundbegriffe privater Macht
aa) Kausale Machtbegriffe
bb) Modale Machtbegriffe
cc) Bewertende Einordnung
dd) Ambivalenz wirtschaftlicher Macht
4. Zwingendes Privatrecht als Ausdruck des jeweiligen Sozialmodells
a) Zwingende Regelungen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht
b) Unterschiedliche Ausprägungen zwingenden Vertragsrechts
III. Zum Verhältnis von Individualwohl und Gemeinwohl
1. Zur Begrifflichkeit
2. Gemeinwohl
a) Überpositive und normative Bedeutung
b) Überblick über das ökonomische Verständnis von „Gemeinwohl“
aa) Neoklassische Wettbewerbstheorie
bb) Wohlfahrtsökonomie
cc) Freiheitliches Verständnis von Gemeinwohl
dd) Neue Institutionenökonomik
ee) Vorläufiges Ergebnis
3. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse
a) Legalausnahme von den Wettbewerbsvorschriften
b) Paradigma: Universaldienstleistungen
4. Leistungen der Daseinsvorsorge zwischen Wettbewerb und Gemeinwohl
a) Begriff
b) Historische Sicht
c) Privatisierung und Liberalisierung
IV. Zwischenergebnis
B. Wichtige Grundbegriffe
I. Individual- und Institutsschutz (Institutionenschutz)
II. Wettbewerbsrecht (Kartellrecht) und Lauterkeitsrecht
III. Regulierungsrecht
1. Marktregulierung
2. Regulierung der Sektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen
3. Unterscheidung zwischen Wettbewerbsregulierung und sonstiger gemeinwohlorientierter Regulierung
IV. Wettbewerbsbeschränkung
V. „Public enforcement“ und „private enforcement“
VI. Verbraucher und Marktgegenseite
VII. Wettbewerbsbeschränkende Verträge und Folgeverträge
VIII. Formale und materiale Freiheit
C. Einwände gegen ein freiheitlich-materiales Verständnis des wirtschaftsrelevanten Privatrechts
I. Die wirtschaftswissenschaftliche Sicht („more economic approach“)
II. Juristische Kritik am Schutz materialer Selbstbestimmung
D. Eingrenzungen der thematischen Reichweite
I. Kontrolle privater wirtschaftlicher Macht
II. Verstöße gegen die Kartell- und Missbrauchsverbote
III. Wettbewerbsfördernde Regulierung der Netzsektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen
IV. Preiskontrolle der (Folge-)Verträge
V. Untersuchung aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
VI. Untersuchung aus unionsrechtlicher und nationaler Perspektive
Teil 2: Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands und der Europäischen Union
A. Wirtschaftsverfassung und Sozialmodell des Privatrechts
B. Ökonomisches und rechtswissenschaftliches Verständnis von Wirtschaftsverfassung
C. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union
I. Von der wirtschaftlichen zur sozialen Integration
II. Systementscheidung des früheren EG-Vertrages für eine freie Marktwirtschaft
III. Auswirkungen des Lissabon-Vertrages auf die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union
1. Errichtung einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft
2. Sicherung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs
3. Garantie einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb
4. Politische Stärkung sozialer Zwecke durch den Vertrag von Lissabon
D. Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands
I. Relative wirtschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes
II. Soziale Marktwirtschaft
E. Schutz der Selbstbestimmung im deutschen und im europäischen Verfassungsrecht
I. Das Grundgesetz
II. Das Unionsrecht
F. Gewährleistungsverantwortung des Staates für die Versorgung mit Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen
I. Grundrechtliche Gewährleistung der Versorgung mit Gütern der Daseinsvorsorge
II. Regulierungsverantwortung für die Netzebene
III. Rekommunalisierung
1. Wasserversorgung
2. Energieversorgung
3. Reichweite der Garantie kommunaler Selbstverwaltung
G. Zwischenergebnis – Sicherung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs
Teil 3: Vertragstheorien
A. Wechselseitiger Bezug von Vertragsrechtsordnung und Wettbewerbswirtschaft
I. Koordinierung individueller Freiheiten über den Preismechanismus des Marktes
II. Sicherung der Wettbewerbsprozesse durch privatrechtliche Institute
III. Begrenzung privatrechtlicher Institute durch die Wettbewerbsordnung
IV. Zwischenergebnis und Ausblick
B. Geltungsgründe des Vertrages zwischen formaler Selbstbestimmung und überindividuell-objektiven Zwecken
I. Das liberale Verständnis des Vertrages im Bürgerlichen Gesetzbuch des Jahres 1900
1. Primat rechtlich-formaler Freiheit und Gleichheit der Bürger
2. Überwiegen dispositiven Vertragsrechts
3. Defizite beim Schutz des wirtschaftlich Schwächeren
4. Zwischenfazit
II. Erste sondergesetzliche Regelungen zur Kompensation vertraglicher Ungleichgewichte
III. Historische Entwicklung der privatrechtlichen Behandlung wirtschaftlicher Macht
1. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur „Kartellfrage“
a) Positive Bewertung wirtschaftlicher Macht
b) Die Entscheidung zum „Sächsischen Holzstoffkartell“
c) Verbot des „Monopolmissbrauchs“
d) Ökonomische und rechtspolitische Gründe für die positive Bewertung wirtschaftlicher Macht
2. Die Kartellverordnung des Jahres 1923 und ihre Rezeption in der Rechtsprechung
a) Statuierung einer Ex-post-Missbrauchskontrolle
b) Die „Benrather-Tankstellen-Entscheidung“ des Reichsgerichts
3. Die Kontrolle einseitiger Vertragsgestaltungsmacht über § 315 BGB
4. Die „Krise des Vertragsrechts“ – am Beispiel allgemeiner Geschäftsbedingungen
IV. Der Vertrag als Mittel einer gesellschaftlich richtigen Ordnung?
1. „Sozialautonomie“ statt „Privatautonomie“
2. Das wirtschaftspolitische Konzept der „mixed economy“
3. Schutz vor Diskriminierungen im Privatrechtsverkehr
V. Von der „Krise des Vertragsrechts“ zur „Krise des Sozialschutzes“
VI. Ein Seitenblick auf das Europäische Privatrecht
VII. Zwischenergebnis und Bewertung
C. Der Vertrag als Mittel zur Erzielung überindividueller Gerechtigkeit
I. Problemstellung: Individual- oder Institutsschutz?
II. Das Konzept objektiver Richtigkeit des Vertrages (Schmidt-Rimpler 1941)
III. Subjektive Richtigkeitsgewähr des Vertragsschlusses (Schmidt-Rimpler 1974)
IV. Das Sozialstaatsprinzip als Quelle überindividueller Vertragsgerechtigkeit?
1. Die Bürgschafts-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
2. Europäisches Privatrecht
D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit
I. Unterscheidung zwischen monistischen und dualistischen Ansätzen
II. Unzulänglichkeit einer rein instrumental-formal verstandenen Vertragsfreiheit
III. Keine Ausrichtung des Vertrages auf heteronome Gerechtigkeitsvorstellungen
1. Verstoß gegen den Grundsatz der individuellen Selbstbestimmung
2. Fehlen materieller Kriterien für eine Richtigkeitskontrolle im Einzelfall
IV. Funktionaler Zusammenhang zwischen materialer Vertragsfreiheit und prozeduraler Vertragsgerechtigkeit
1. Subjektive Richtigkeitschance des Vertragsmechanismus
2. Der Vertrag als Institut eines selbstbestimmten Interessenausgleichs
V. Wettbewerb als Voraussetzung materialer Vertragsfreiheit und prozeduraler Vertragsgerechtigkeit
E. Schutz der Privatautonomie durch öffentliches Recht oder durch Privatrecht?
F. Zwischenergebnis – Schutz chancengleicher Selbstbestimmung
Teil 4: Wettbewerbstheorien
A. Schutz vor wirtschaftlicher Macht oder Herstellung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt?
B. Grundbegriffe
I. Wettbewerbsrecht als „praktizierte Wettbewerbspolitik“
1. Wettbewerbspolitik
2. Wettbewerbstheorie
3. „Positive“ und „normative“ Theorie der Regulierung
II. Marktversagen aus ökonomischer und juristischer Sicht
1. Die ökonomische Sicht
2. Die juristische Sicht
III. Die Eigengesetzlichkeit des Rechts gegenüber der Wirtschaft
1. Zielkonflikte zwischen einem rechtlichen und einem ökonomischen Verständnis des Wettbewerbsschutzes
2. Rechtssicherheit, Justiziabilität und Vorhersehbarkeit
3. Interpretation des Rechts mit Hilfe der Ökonomie
IV. Wettbewerbsfunktionen
1. Selbststeuerungseigenschaften wettbewerblich organisierter Märkte (ökonomische Wettbewerbsfunktionen)
2. Schutz der material-chancengleichen Vertragsfreiheit gegen unangemessene oder unbillige Beeinträchtigungen (gesellschaftliche Wettbewerbsfunktionen)
3. Zielkonflikte zwischen Freiheits- und Wohlfahrtsfunktionen („trade offs“)
V. Aufgabenstellung: Auflösung des Zielkonflikts zwischen Ökonomie und Recht aus zivilistischer Sicht
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
I. Inhalt und Art der Darstellung
II. Klassische dynamische Wettbewerbstheorie
1. Historische Einordnung
2. Das System der „natürlichen Freiheit“
3. Die Bedeutung von Märkten für die Preisbildung (Preismechanismus)
4. Vertragsfreiheit als Voraussetzung des wettbewerblichen Preismechanismus
5. Bewertung
III. Neoklassische Gleichgewichtstheorie und Wohlfahrtsökonomie
1. Problem: Stellenwert wirtschaftlicher Freiheit
2. Theoretische Grundstruktur der Neoklassik
a) Knappheit der Ressourcen
b) Präferenzautonomie
c) Methodologischer und normativer Individualismus
d) Verhaltensmodell des „homo oeconomicus“
aa) Grundannahmen
bb) Eigennutzentheorem (Konzept der Nutzenmaximierung)
cc) Individuelle Rationalität
dd) Nutzenfunktion
3. Wohlfahrtsökonomie
a) Problemstellung
b) Utilitaristische Wohlfahrtsökonomie
c) Pareto-Kriterium
aa) Grundaussagen
bb) Rechtfertigung idealer Austauschverträge aus dem Nutzen aller Vertragsparteien
cc) Bewertung
d) Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium
aa) Grundaussagen
bb) Bewertung
e) Wohlfahrtsstandard
aa) Problemstellung
bb) Gesamtwohlfahrtsstandard
cc) Konsumentenwohlfahrtsstandard
dd) Praktische Relevanz
ee) Bewertung
4. Effizienzkonzepte
a) Unterscheidung zwischen positiver und normativer Effizienz
b) Allokative (Pareto-)Effizienz
c) Produktive Effizienz („economies of scale“ und „economies of scope“)
d) Dynamische Effizienz (Innovationen)
aa) Herausragende wettbewerbstheoretische Relevanz
bb) Begrenzte modelltheoretische Erfassbarkeit
cc) Dynamische Effizienz und Marktmacht
e) „Längerfristige“ Betrachtung von Marktprozessen versus „kurzfristiger“ Schutz vor Ausbeutung
5. Anwendung der Effizienzkonzepte auf die Analyse von Märkten (Neoklassische Preistheorie)
a) Pareto-Effizienz und Marktwirtschaft
b) Vollkommene Konkurrenz als Situation ohne Ausbeutungspotenzial
c) Marktmacht als Aufgreiftatbestand zur Kontrolle des Marktverhaltens von Unternehmen
6. Zusammenfassung und Gesamtbewertung
IV. Wirtschaftliche Macht als ambivalentes Phänomen – die Theorien der Workable Competition
1. Die Vorläufermodelle der „monopolistischen“ bzw. „unvollkommenen“ Konkurrenz
2. „Industrial Organization“ (Harvard School)
a) Traditionelle Industrieökonomik
b) Neue Industrieökonomik und Spieltheorie
3. Workable Competition als Second-best-Lösung (Clark)
a) Ablösung des neoklassischen Konzepts vollkommener Konkurrenz
b) Theorie des Zweitbesten
4. Theory der Effective Competition (wirksamer Wettbewerb)
a) Wettbewerb als Prozess der „Bahnbrecher“ und der „Nachahmer“ (Arndt)
b) Wettbewerb als dynamischer Prozess
5. Konzept der optimalen Wettbewerbsintensität (Kantzenbach)
a) Zielkonflikt zwischen Freiheitsschutz und wohlfahrtsökonomischer Effizienzorientierung
b) Wettbewerbspolitische Relevanz und Kritik
c) Zu den Markttests
6. Bewertung
V. Vernachlässigung der negativen Wirkungen wirtschaftlicher Macht durch freiheitlich-formale Markt-und Wettbewerbstheorien
1. Analyse dynamischer Markt- und Wettbewerbsprozesse
2. Das Wissensproblem (von Hayek)
a) Grundlagen
b) Bewertung
3. Das systemtheoretische Konzept der Wettbewerbsfreiheit (Hoppmann)
a) Von einem materialen zu einem formalen Freiheitsverständnis
b) Bewertung
VI. Die Chicago School zwischen Wohlfahrtsökonomie und Laissez-faire
1. Unterscheidung zwischen positiven und normativen Ansätzen
2. Wettbewerbstheoretische Grundannahmen
3. Wettbewerbspolitische Empfehlungen
4. Zusammenfassung und Bewertung
a) Positive Einschätzung wirtschaftlicher Macht
b) Unvereinbarkeit mit der geltenden Wirtschaftsverfassung
c) Formales Verständnis der Vertragsfreiheit
VII. Trennung kompetitiver und antikompetitiver Macht durch die Post-Chicago-Economics
1. „Post Chicago“ als Sammelbecken verschiedener Denkrichtungen
2. Kritik an der Chicago School
a) Vernachlässigung dynamischer Effizienz
b) Realitätsferner Glaube an die Funktionsfähigkeit der Märkte
c) Grenzen der Rationalitätsannahme
3. Bewertung von „Post Chicago“
D. Schutz individueller Freiheit vor antikompetitiver Macht durch eine staatliche Wettbewerbsordnung – Ordoliberalismus und Neue Institutionenökonomik
I. Ordoliberalismus (Freiburger Schule)
1. Wirtschaftliche Macht als Ausgangsproblem
2. Die ordoliberale Theorie der vollständigen Konkurrenz
3. Zum Werk Walter Euckens
a) Begründung der Ordnungsökonomik
b) „Die Grundlagen der Nationalökonomie“
aa) Wirklichkeitsbasierte Modellbildung
bb) Marktformen und wirtschaftliche Macht
cc) Ordnung der Wirtschaft durch eine Wirtschaftsverfassung
c) „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“
aa) Ordnung individueller Freiheiten durch ein Wettbewerbsrecht
bb) Schutz material-chancengleicher Wirtschaftsfreiheit
cc) Begründer der Ordnungsökonomik
dd) Prinzipien der Wettbewerbsordnung
ee) Als-ob-Wettbewerbsprinzip als Kontrollmaßstab
d) Objektives oder subjektives Freiheitskonzept?
4. Zum Werk Franz Böhms
a) Unterscheidung zwischen dem frühen und dem späten Böhm
b) „Wettbewerb und Monopolkampf“
aa) Zielsetzung
bb) Ambivalenz wirtschaftlicher Macht
cc) Wettbewerbsschutz zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht
c) Vorrang einer „Ordnung der Wirtschaft“ (1937) vor individuellen Freiheitsrechten
d) Zwischenergebnis
e) Schriften von 1945 bis 1950: zwischen Individual-und Institutsschutz
f) Das rechtliche Konzept der „Privatrechtsgesellschaft“ als Ausdruck eines material-chancengleichen Freiheitsverständnisses
5. Institutionelles Verständnis des Wettbewerbs und Schutz material-chancengleicher Selbstbestimmung – am Beispiel subjektiver Anspruchsberechtigungen
6. Zur Begrifflichkeit: Paläoliberal – Neoliberal – Ordoliberal
II. Die Neue Institutionenökonomik als privatrechtskonforme Theorie zur Abwägung komplementärer Freiheitsbereiche?
1. Einführung
2. Modifizierung der Modellannahmen der Neoklassik
a) Realitätsnähere Beurteilung menschlichen Verhaltens
b) Begrenzte Informationen und begrenzte Kapazitäten zur Informationsverarbeitung („bounded rationality“)
c) Eigennutzentheorem: Nutzenbefriedigung statt Nutzenmaximierung
3. Insbesondere: Das Problem opportunistischen Verhaltens von Vertragspartnern
4. Konsensbasierte Erklärung des Wettbewerbsrechts
III. Die Verhaltensökonomik als Verfeinerung oder als Widerlegung der Neuen Institutionenökonomik?
1. Grundlagen
2. Verhaltensanomalien
3. Bewertung der verschiedenen Verhaltensmodelle
E. Zwischenergebnis – Vorzugswürdigkeit eines modernen Ordoliberalismus
Teil 5: Schutzzwecke des Wettbewerbsrechts und ihre Operationalisierung
A. Problemstellung
B. Der „more economic approach“ zum europäischen Wettbewerbsrecht
I. Einführung
II. Grundlinien des „more economic approach“
1. Änderung des wettbewerbspolitischen Leitbilds
2. Leitlinien der Kommission
a) Negative Auswirkungen auf den Markt als Beurteilungsmaßstab
b) Verbraucherschaden als Tatbestandsmerkmal?
c) Marktstruktur als Wettbewerbskriterium – zur Relevanz wirtschaftlicher Macht
III. Systematisierung und Kritik
1. Unterscheidung zwischen anwendungsbezogener und normativer Sichtweise
2. Ermittlung einer Wettbewerbsbeschränkung durch Abwägung marktbezogener Freiheiten
a) Offenhaltung der Märkte und Schutz der material-chancengleichen Selbstbestimmung
b) Notwendigkeit eines wertenden Ausgleichs gegenläufiger Freiheitsrechte
c) Vorrang rechtlicher Wertungen
d) Ausgleich wirtschaftlicher Freiheitsrechte durch funktionsfähige Märkte
e) Zum Abwägungsmaßstab
C. Schutzrichtung der Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen
I. Sicherung gegenseitiger Unabhängigkeit und Wahlfreiheit der Marktteilnehmer
1. Vorrang der individuellen Freiheit vor der allgemeinen Wohlfahrt
2. Bestätigung der drittschützenden Intention der Wettbewerbsregeln durch § 33 GWB
II. Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen gem. Art. 101 AEUV
1. Wettbewerbsbeschränkung gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV
a) Zur Begrifflichkeit
b) Unwertgehalt und Ausrichtung auf den Grundsatz des Als-ob-Wettbewerbs
c) Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung
d) Bewirkte Wettbewerbsbeschränkung
e) Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung
2. Rechtfertigung einer Wettbewerbsbeschränkung gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV
3. Die „Courage-Rechtsprechung“ als „materiale Folgevertragskonstellation“
a) Indizien für ein materiales Freiheitsverständnis – die Entscheidung „Courage“ (Teil 1)
b) Kein Nachweis eines Verbraucherschadens bei bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen
4. Rechtsprechung des BGH – die Entscheidung „ORWI“ (Teil 1)
III. Das Verbot von Ausbeutungsmissbräuchen
1. Abgrenzung vom Verbot von Behinderungsmissbräuchen
a) Das Verbot von Behinderungsmissbräuchen als abstrakter Gefährdungstatbestand zum Schutz der material-chancengleichen Selbstbestimmung der Marktteilnehmer
b) Anwendungsbereich
c) Zur Rechtsprechung des EuGH
d) Zwischenergebnis
2. Zweck des Verbots von Ausbeutungsmissbräuchen: Schutz der material-chancengleichen Vertragsfreiheit der Marktgegenseite
3. Kontrollmaßstab: Hypothetischer Wettbewerbspreis
a) Grundsatz des Als-ob-Wettbewerbs
b) Juristisches Kontrollkonzept zum Schutz vor unangemessener Ausbeutung
c) Inhaltliche Konkretisierung
4. Methodenpluralität
a) Vergleichsmarktmethode („Benchmarking“)
b) Kosten- und Gewinnkontrolle
c) Kumulative Anwendung der Methoden
5. Wertungsgleichklang mit der regulierungsrechtlichen Entgeltkontrolle – zur Entbehrlichkeit eines Erheblichkeitszuschlags
a) Vermeidung einer unzulässigen Preisregulierung?
b) Übertragbarkeit der normativen Wertungen des Regulierungsrechts
c) Vergleich mit dem Kartellverbot
d) Behebung rechtstatsächlicher Unsicherheiten („Unsicherheitsfaktor“)
IV. Wettbewerbstheoretische Einwände gegen eine kompetitive Ausbeutungskontrolle – am Beispiel des § 29 GWB
V. Das Wettbewerbsrecht zwischen Individual- und Institutsschutz
D. Der von den Wettbewerbsregeln geschützte Personenkreis
I. Unterscheidung zwischen „primären“ und „sekundären“ subjektiven Rechten
II. Das subjektive Recht als elementarer Bestandteil einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung
III. Zusammenhang zwischen objektiver Schutzebene und subjektiver Sanktionsebene
IV. Rückschluss von der Sanktionsebene auf den objektiven Schutzbereich – § 33 GWB als Beispiel
V. Folgerungen
E. Zwischenergebnis – „Personalistischer Schutzzweck“ des Wettbewerbsrechts
Teil 6: Technische, ökonomische und rechtliche Grundlagen der Regulierung der Netzsektoren
A. Technische Grundlagen der Netzindustrien
I. Energie
II. Telekommunikation
III. Eisenbahnen
B. Ökonomische Regulierungsgründe
I. Problemstellung
II. Wettbewerbstheoretische Begründungsansätze
1. Neoklassische Wohlfahrtsökonomie
2. Workable Competition
3. Systemtheorie
4. Chicago School of Economics
5. Ordoliberalismus und Ordnungsökonomik
6. Neue Institutionenökonomik
III. Insbesondere: Natürliche Monopole
1. Größen- und Verbundvorteile
2. Irreversibilität als Voraussetzung des natürlichen Monopols?
3. Negative Wohlfahrtswirkungen eines natürlichen Monopols
4. Statische versus dynamische Effizienz
IV. Weitere Regulierungsgründe
1. Sonstige qualifizierte Marktzutrittsschranken
2. Vertikale Integration
3. Externe Effekte
4. Netzwerkeffekte
5. Opportunistisches Verhalten und Hold-up-Problematik
6. Asymmetrische Information
C. Normative Regulierungsgründe
I. Sicherung des Gemeinwohls
II. Sicherung der material-chancengleichen Selbstbestimmung
D. Auflösung von Zielkonflikten
E. Zwischenergebnis: Primat der Wettbewerbsförderung
Teil 7: Schutzzwecke des Regulierungsrechts und ihre Operationalisierung
A. Stand der Marktöffnung
I. Problemstellung
II. Energie
III. Telekommunikation
IV. Eisenbahnen
B. Wege einer sektorspezifischen Regulierung
I. Domestizierung von Marktmacht durch potenziellen Wettbewerb
1. Theorie der Contestable Markets
2. Bedeutung für die allgemeine Wettbewerbstheorie
3. Bedeutung für die Regulierungstheorie – disaggregierte Regulierung der Netze
II. Domestizierung von Marktmacht durch intermodalen Wettbewerb
III. Formen der Wettbewerbsförderung auf Netz-und Diensteebene
1. Netzwettbewerb
a) Infrastrukturwettbewerb der Netze
b) Ausschreibungswettbewerb
2. Wettbewerb in Netzen
3. Beispiel: Die Ladder-of-Investment-Theorie des Telekommunikationsrechts
C. Grundlagen des Zugangskonzepts
I. Wettbewerbsförderung in wettbewerbsfähigen Marktstufen („Contestable Markets“)
II. Zum Begriff des Zugangs
1. Zugang als Anspruch auf Netznutzung
2. Anspruch auf physischen Netzanschluss
III. Identifizierung und Regulierung unerlässlicher Infrastrukturen/Marktsegmente
1. „Disaggregierter Regulierungsansatz“
2. Ermittlung der zu regulierenden Infrastrukturen/ Marktsegmente
3. Symmetrische oder asymmetrische Regulierung
4. Beseitigung der antikompetitiven Effekte unerlässlicher Infrastrukturen durch Regulierung
IV. Zu regulierende Märkte
1. Energie
2. Telekommunikation
3. Eisenbahnen
V. Netzzugang durch zivilrechtlichen Vertrag
1. Energiewirtschaftsrecht
2. Telekommunikationsrecht
3. Eisenbahnregulierungsrecht
D. Regulierungsinstrumente
I. Regulierung als sektorspezifisches Wettbewerbsrecht
II. Gemeinwohlorientierte Regulierungsinstrumente
III. Wettbewerbsfördernde Regulierungsinstrumente
1. Zugangsregulierung
a) Zweck: Sicherung der material-chancengleichen Vertragsfreiheit
b) Zugangsverpflichtete
c) Schutz der Endkunden durch abstrakte Gefährdungstatbestände
d) Einschränkungen des Zugangsanspruchs
e) Inhalt des Zugangsanspruchs
2. Entgeltregulierung
a) Kontrollmaßstäbe und Kontrollmethoden
b) Effiziente Kosten und angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals
c) Kostenkontrolle und preis- bzw. anreizbasierte Regulierung
aa) Kostenregulierung
bb) Anreizregulierung
cc) Bewertung
d) Zeitpunkt der Entgeltkontrolle
aa) Ex-ante- und Ex-post-Kontrolle
bb) Kein Erheblichkeitszuschlag bei der Ex-post-Kontrolle
cc) Unterschiedliche Ausgestaltung der Regulierungsgesetze
3. Entflechtungsregulierung
IV. Zivilrechtliche Rechtsbehelfe
1. Energiewirtschaftsrecht
2. Telekommunikationsrecht
3. Eisenbahnregulierungsrecht
E. Zwischenergebnis – Multifunktionalität des Regulierungsrechts
Teil 8: Schutz vor Wettbewerbsbeschränkungen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht
A. Problemstellung
B. Theorien der Abgrenzung
1. Subjektstheorie
2. Modifizierte Subjektstheorie
3. Subjektions-/Subordinationstheorie
4. Interessentheorie
C. Zur Einordnung des Wettbewerbsrechts
I. Schutz materialer Selbstbestimmung versus überindividuelle Gemeinwohlziele
II. Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand als Beispiel
D. Zur Einordnung des Regulierungsrechts
E. Unterscheidung zwischen materiellen Tatbeständen und Rechtsbehelfen
F. Die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht als Kollisionsregelung am Beispiel der „Flucht ins Gebührenrecht“
G. Zwischenergebnis – Wettbewerbsrecht und wettbewerbsfördernde Regulierung als Mischgesetze mit privatrechtlichem Kern
Teil 9: Schutz- und Verbotsgesetze des Wettbewerbs-und Regulierungsrechts
A. Problemstellung
B. Die „Privatisierung“ des Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen
I. „Public enforcement“ und „private enforcement“
II. Entwicklung des „private enforcement“
1. Das Kartellverbot
2. Marktmachtmissbrauch als gesetzliches Verbot
3. Die Durchführungs-Verordnung (EG) Nr. 1/2003
a) System der Legalausnahme vom Kartellverbot
b) Dezentrale Durchsetzung des Wettbewerbsrechts
c) Vorrang des Unionsrechts bei wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen
4. Regelungsvorschläge der Kommission für eine Verstärkung des „private enforcement“
a) Ashurst-Studie aus dem Jahr 2004
b) Grünbuch der Kommission aus dem Jahr 2005
c) Weißbuch der Kommission aus dem Jahr 2008
d) Richtlinienvorschlag für wettbewerbsrechtliche Schadensersatzklagen nebst Mitteilung und Arbeitsunterlage aus dem Jahr 2013
e) Empfehlung der Kommission zu Kollektivklagen aus dem Jahr 2013
5. Angleichung des deutschen an das europäische Wettbewerbsrecht
III. Rechtsprechung des EuGH zum „private enforcement“
1. Die Entscheidung „Courage“ (Teil 2)
a) Problemstellung
b) Berechtigung zur Geltendmachung der Vertragsnichtigkeit
c) Berechtigung zur Geltendmachung von Schadensersatz
d) „passing-on defense“
e) Individualschutz durch Prävention?
f) Private Durchsetzung des Regulierungsrechts
2. Die Entscheidung „Manfredi“ (Teil 1)
a) Sachverhalt
b) Wettbewerbsrecht als Bestandteil der öffentlichen Ordnung der Union
c) Berechtigung zur Geltendmachung von Schadensersatz
d) Nichtigkeit wettbewerbsbeschränkender (Folge-)Verträge
e) Zusammenfassende Bewertung
3. Die Entscheidung „T-Mobile-Netherlands“
4. Die Entscheidung „Otis“
IV. Zielkonflikte zwischen „private enforcement“ und „public enforcement“ – am Beispiel der Akteneinsicht in Kronzeugenunterlagen
1. Problemstellung
2. „Public enforcement“ durch Geldbußen
a) Zwecke von Geldbußen
b) Reduzierung/Erlass von Geldbußen bei Kronzeugen
3. Einsicht in Kronzeugenunterlagen der nationalen Kartellbehörden – die Entscheidungen „Pfleiderer“ und „Donau Chemie“
a) Die Entscheidung „Pfleiderer“
b) Folgeentscheidungen
c) Die Entscheidung „Donau Chemie“
4. Einsicht in Unterlagen der Kommission
a) Problemstellung
b) Entscheidung des EuG „CDC Hydrogen Peroxide“
c) Entscheidung des EuG „EnBW“
5. Primat des „private enforcement“
6. Dogmatische Folgerungen
a) Verhängung von „multiple damages“
b) Gesamtschuldnerinnenausgleich
V. Sicherung der materialen Selbstbestimmung durch „public enforcement“
C. Vorschriften des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts als deliktsrechtliche Schutzgesetze
I. Ermittlung des Schutzzwecks wettbewerbsrechtlicher Vorschriften als „Problem interdisziplinärer Wissenschaft“
II. Vorschriften des Wettbewerbsrechts
1. Meinungsstand vor der 7. GWB-Novelle
a) Restriktive Interpretation des Schutzgesetzerfordernisses
b) Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen
c) Missbrauch von Marktmacht
d) Besondere Missbrauchstatbestände
2. Aktuelle Rechtslage
a) „Unterlassungsanspruch, Schadensersatzpflicht“ gem. § 33 GWB 2005
b) Die ORWI-Entscheidung des BGH (Teil 2)
aa) Reichweite des „Betroffenheitsmerkmals“
bb) Klagebefugnis mittelbar Kartellbetroffener
cc) Klagebefugnis und „passing-on defense“
dd) Das Betroffenheitskriterium als Konkretisierung des Schutzgesetzerfordernisses
c) § 33 GWB als subjektiv-rechtliche Entsprechung des Tatbestands wettbewerbsschützender Normen
III. Vorschriften des Regulierungsrechts
1. Energiewirtschaftsrecht
2. Telekommunikationsrecht
3. Eisenbahnregulierungsrecht
IV. Folgevertragspartner als deliktsrechtlich „Betroffene“
1. Anspruchsberechtigung
2. Wechselwirkungen zwischen Delikts- und Vertragshaftung
3. Kein allgemeiner Anspruch auf Vertragsauflösung
V. Zwischenergebnis
D. Inhaltskontrolle von Folgeverträgen
I. Die Folgevertragsdiskussion als Ausdruck eines veralteten Vertragsverständnisses
II. Unterschiede zwischen einer vertragsrechtlichen und einer deliktsrechtlichen Anpassungslösung
III. Idealkonkurrenz zwischen deliktischen und vertraglichen Rechtsbehelfen
IV. Rechtslage und Meinungsspektrum zum Wettbewerbsrecht
1. Tatbestände gegen Marktmachtmissbräuche
a) Unionsrechtliches Missbrauchsverbot gem. Art. 102 AEUV
b) Deutsche Missbrauchsverbote gem. den §§ 19, 29 GWB
2. Tatbestände gegen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen
a) Unionsrechtliches Kartellverbot gem. Art. 101 AEUV
bb) Deutsches Kartellverbot gem. den §§ 1, 2 GWB
V. Inhaltskontrolle von Kartell-Folgeverträgen nach Unionsrecht
1. Problemstellung
2. Erstreckung der Verbotswirkung auf Folgeverträge – die Entscheidung „Manfredi“ (Teil 2)
VI. Inhaltskontrolle von Kartell-Folgeverträgen nach deutschem Recht
1. Unionsrechtskonforme Interpretation
2. Missbilligung von Folgeverträgen gem. § 134 BGB
a) Voraussetzungen eines Verbotsgesetzes
b) Verbot von Folgeverträgen
aa) Reichweite des Tatbestands gegen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen
bb) Die Courage-Rechtsprechung des EuGH
cc) Nichtigkeit der Folgeverträge als Spiegelbild der deliktischen Anspruchsberechtigung
dd) Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Justiziabilität
c) Bestätigung des Verbots antikompetitiver Folgeverträge durch Straf- und Bußgeldtatbestände
3. Zwischenergebnis
VII. Rechtsfolgen wettbewerbsbeschränkender Folgeverträge
1. Normzweckvorbehalt
2. Teilnichtigkeit der Folgeverträge als Regelfall
a) Relevante Interessen
b) Interessen der Folgevertragspartner
c) Einwände gegen eine Teilnichtigkeitslösung
aa) Fehlende Praktikabilität?
bb) Unzureichende Abschreckung?
cc) Unzumutbare Beeinträchtigung der Rechtssicherheit?
3. „Absolute“ Teilnichtigkeit und „relative“ Anfechtbarkeit
4. Geltungserhaltende Reduktion oder ergänzende Vertragsauslegung?
VIII. Tatbestände des Regulierungsrechts als Verbotsgesetze
1. Energiewirtschaftsrecht
a) Ex-ante-Regulierung von Netzzugang und Netzentgelten gem. den §§ 17 ff., 20 ff. EnWG
b) Ex-post-Missbrauchsverbot gem. § 30 EnWG
2. Telekommunikationsrecht
a) Ex-ante-Entgeltregulierung gem. den §§ 31 ff. TKG
b) Ex-post-Missbrauchsverbote gem. den §§ 28, 42 TKG
aa) Anwendungsbereich
bb) Allgemeines Missbrauchsverbot des § 42 TKG
cc) Besonderes Missbrauchsverbot des § 28 TKG
3. Eisenbahnregulierungsrecht
IX. Zwischenergebnis
E. Harmonisierung vertraglicher und deliktischer Rechtsbehelfe
I. Kumulation vertraglicher und deliktischer Ansprüche
II. Innenausgleich zwischen den Anspruchsberechtigten verschiedener Marktstufen
III. Einwände gegen eine Gesamtgläubigerschaft
Teil 10: Wertungsharmonisierende Interpretation zivilistischer Preiskontrollvorschriften
A. Von der Kapitulation gegenüber wirtschaftlicher Macht zu einem kompetitiven Vertragsrecht
I. Die „Leiden des Privatrechts“
II. Harmonisierende Interpretation des Wettbewerbs-und Regulierungsrechts mit dem Vertragsrecht
B. Sittenwidrigkeit wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen
I. Verweis auf Wertungen des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts
II. Schutz des wirtschaftlichen ordre public als Ausprägung der guten Sitten
III. Tatbestand des Verbots sittenwidriger Rechtsgeschäfte
IV. Rechtsfolgen
C. Kontrolle einseitiger Gestaltungsmacht gem. § 315 Abs. 3 BGB am Beispiel von Energiepreisen
I. Billigkeitskontrolle von Energiepreisen
1. Problemstellung
2. Preiskontrolle direkt/analog § 315 Abs. 3 BGB
3. AGB-Kontrolle von Preisanpassungsklauseln in Sonderverträgen
II. Gleichklang der Kontrollmaßstäbe und -methoden
1. Monopolpreiskontrolle
2. Kontrolle rechtlicher Bestimmungsmacht
3. Keine Unterscheidung zwischen Anfangspreis und Preiserhöhungen
4. Kontrollmethoden
5. Darlegungs- und Beweislast
Teil 11: Wesentliche Ergebnisse
Literaturverzeichnis
Sachverzeichnis
JUS PRIVAT UM Beiträge zum Privatrecht Band 196
Jochen Mohr
Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbsund Regulierungsrecht Domestizierung wirtschaftlicher Macht durch Inhaltskontrolle der Folgeverträge
Mohr Siebeck
Jochen Mohr, geboren 1969; kaufmännische Berufsausbildung; Studium der Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin; Referendariat am Kammergericht Berlin; Promotion im Jahr 2002 an der Freien Universität Berlin; danach Rechtsanwalt in Berlin, Stuttgart und Dresden; von 2008 bis 2013 zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Regulierungsrecht der Freien Universität Berlin; 2014 Habilitation ebenda in den Fächern Bürgerliches Recht, Wettbewerbsrecht, Energierecht, Regulierungsrecht und Arbeitsrecht; seit Februar 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Kartellrecht, Energierecht und Arbeitsrecht an der Technischen Universität Dresden; seit 2015 Direktor des Instituts für Kartell-, Energie- und Telekommunikationsrecht in Dresden.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. e-ISBN PDF 978-3-16-153709-7 ISBN 978-3-16-153513-0 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, auf alte rungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Otters weier gebunden.
Vorwort Mit der Teilunwirksamkeit von Folgeverträgen, die antikompetitiv überhöhte Preise enthalten, widmet sich die vorliegende Untersuchung einem seit Jahrzehnten kontrovers diskutierten Thema auf der Schnittstelle zwischen dem allgemeinen Privatrecht, dem Wettbewerbsrecht (Kartellrecht) und dem Recht der wettbewerbsfördernden Regulierung der Netzsektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen (Regulierungsrecht). In einem vielbeachteten Text aus dem Jahr 2006 sprach Karsten Schmidt dem Schutz vor privaten Wettbewerbsbeschränkungen die Bedeutung einer „Nagelprobe des Zivilrechts“ zu (AcP 206 [2006], 169 ff.). Das Wettbewerbsrecht und das Regulierungsrecht können das Privatrecht aber nur dann von der anspruchsvollen Aufgabe der zutreffenden Behandlung des ambivalenten Phänomens „private Macht“ entlasten, wenn sie ebenso wie das Privatrecht zuvörderst der chancengleichen Selbstbestimmung der Marktteilnehmer und keinem vage konturierten überindividuell-objektiven Institutsschutz verpflichtet sind. Vor diesem Hintergrund setzt sich die Untersuchung zum Ziel, die gemeinsamen rechtlichen und ökonomischen Grundlagen des wirtschaftsbezogenen Privatrechts, des Wettbewerbsrechts und des Regulierungsrechts herauszuarbeiten, um die Bürger effektiv vor privaten Wettbewerbsbeschränkungen zu schützen, indem ihnen nicht nur deliktische, sondern auch vertragliche Rechtsbehelfe an die Hand gegeben werden. Sie will damit zugleich einen Beitrag dazu leisten, die gesellschaftspolitische Aufgabe eines freiheitsschützenden Wettbewerbs wieder mehr in den Blickpunkt zu rücken; denn ohne eine an den Funktionsbedingungen einer wettbewerblichen Marktwirtschaft ausgerichtete Domestizierung privater Machtpositionen steht nicht selten auch die politische Chancengleichheit nur auf dem Papier. Die Untersuchung wurde im Wintersemester 2013/2014 von den Mitgliedern des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Zum Zwecke der Veröffentlichung wurde der Text überarbeitet und um Nachweise bis zum Sommer 2014 ergänzt. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte deshalb die Richtlinie 2014/104/EU vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach na tionalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl.EU Nr. L 349/1 vom 5.12.2014). Schon weil die Richtlinie in zentralen Aussagen auf dem
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Vorwort
ursprünglichen Kommissionsvorschlag beruht (Pressemitteilung der EU-Kommission v. 10.11.2014, IP/14/1580), sind die Ergebnisse der Untersuchung etwa zum generellen Verhältnis von „public enforcement“ und „private enforcement“ weiterhin aktuell. Die Untersuchung entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsches und Europäisches Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Regulierungsrecht der Freien Universität Berlin. Sie wurde betreut von meinem verehrten akademischen Lehrer Univ.-Prof. em. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dres. h. c. Franz Jürgen Säcker, dem ich für seine nachhaltige Unterstützung besonders herzlich danken möchte. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Univ.-Prof. Dr. Gregor Bachmann für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie Herrn Univ.-Prof. em. Dr. Ingo Schmidt für das wirtschaftswissenschaftliche Sondergutachten. Wesentlich zum Gelingen beigetragen hat das fruchtbare Diskussionsklima am Institut. Pars pro toto benennen möchte ich die instruktiven Gespräche mit Herrn Prof. Dr. Kurt Markert, M.C.J. (NYU), Direktor beim Bundeskartellamt a. D. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Frau Dr. Annegret Groebel, Direktorin bei der Bundesnetzagentur, für den erhellenden Austausch über die ökonomischen Grundlagen der Regulierung der Netzsektoren. Herzlichst danken möchte ich last but not least meinem Doktorvater Univ.-Prof. a. D. Dr. Klaus Adomeit, der meinen wissenschaftlichen Werdegang seit vielen Jahren tatkräftig und mit Wohlwollen begleitet. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Institut für Kartell-, Energieund Telekommunikationsrecht der Technischen Universität Dresden haben mich mit großem Engagement bei den Korrekturarbeiten unterstützt. Ein besonderer Dank gilt Frau Isabel Bürger und Herrn Marvin Kalina für die akribische Vervollständigung des Sachregisters. Danken möchte ich schließlich dem Förderungs- und Beihilfefonds der VG Wort für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieser Untersuchung. Ich widme die Untersuchung meiner Frau Sondra, meinem Sohn Leonard sowie im Andenken meinen lieben Eltern Elise und Alfred. Dresden und Berlin, im Oktober 2014
Jochen Mohr
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIII
Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Teil 1: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 A. Die Privatrechtsordnung zwischen dem Schutz der individuellen Selbstbestimmung und der Beförderung von Gemeinwohlinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 B. Wichtige Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 C. Einwände gegen ein freiheitlich-materiales Verständnis des wirtschaftsrelevanten Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . 75 D. Eingrenzungen der thematischen Reichweite . . . . . . . . . . . 80
Teil 2: Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 A. Wirtschaftsverfassung und Sozialmodell des Privatrechts . . . . 87 B. Ökonomisches und rechtswissenschaftliches Verständnis von Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 C. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union . . . . . . . 91 D. Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands . . . . . . . . . . . . . 103 E. Schutz der Selbstbestimmung im deutschen und im europäischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 109 F. Gewährleistungsverantwortung des Staates für die Versorgung mit Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen . . . . . . . 116 G. Zwischenergebnis – Sicherung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Teil 3: Vertragstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 A. Wechselseitiger Bezug von Vertragsrechtsordnung und Wettbewerbswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
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Inhaltsübersicht
B. Geltungsgründe des Vertrages zwischen formaler Selbstbestimmung und überindividuell-objektiven Zwecken . . 136 C. Der Vertrag als Mittel zur Erzielung überindividueller Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 E. Schutz der Privatautonomie durch öffentliches Recht oder durch Privatrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 F. Zwischenergebnis – Schutz chancengleicher Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Teil 4: Wettbewerbstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 A. Schutz vor wirtschaftlicher Macht oder Herstellung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt? . . . . . . . . . . . . . . . . 206 B. Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht . . . . . . . . . . 229 D. Schutz individueller Freiheit vor antikompetitiver Macht durch eine staatliche Wettbewerbsordnung – Ordoliberalismus und Neue Institutionenökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 E. Zwischenergebnis – Vorzugswürdigkeit eines modernen Ordoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Teil 5: Schutzzwecke des Wettbewerbsrechts und ihre Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 B. Der „more economic approach“ zum europäischen Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 C. Schutzrichtung der Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 D. Der von den Wettbewerbsregeln geschützte Personenkreis . . . 503 E. Zwischenergebnis – „Personalistischer Schutzzweck“ des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514
Teil 6: Technische, ökonomische und rechtliche Grundlagen der Regulierung der Netzsektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 A. Technische Grundlagen der Netzindustrien . . . . . . . . . . . . 515 B. Ökonomische Regulierungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 C. Normative Regulierungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 D. Auflösung von Zielkonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 E. Zwischenergebnis: Primat der Wettbewerbsförderung . . . . . . 545
Inhaltsübersicht
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Teil 7: Schutzzwecke des Regulierungsrechts und ihre Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 A. Stand der Marktöffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 B. Wege einer sektorspezifischen Regulierung . . . . . . . . . . . . 569 C. Grundlagen des Zugangskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 D. Regulierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 E. Zwischenergebnis – Multifunktionalität des Regulierungsrechts 637
Teil 8: Schutz vor Wettbewerbsbeschränkungen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht . . . . . . . . . . . . 638 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 B. Theorien der Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 C. Zur Einordnung des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . 645 D. Zur Einordnung des Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . 650 E. Unterscheidung zwischen materiellen Tatbeständen und Rechtsbehelfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 F. Die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht als Kollisionsregelung am Beispiel der „Flucht ins Gebührenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 G. Zwischenergebnis – Wettbewerbsrecht und wettbewerbsfördernde Regulierung als Mischgesetze mit privatrechtlichem Kern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
Teil 9: Schutz- und Verbotsgesetze des Wettbewerbsund Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 B. Die „Privatisierung“ des Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 659 C. Vorschriften des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts als deliktsrechtliche Schutzgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 D. Inhaltskontrolle von Folgeverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . 754 E. Harmonisierung vertraglicher und deliktischer Rechtsbehelfe . 806
Teil 10: Wertungsharmonisierende Interpretation zivilistischer Preiskontrollvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . 812 A. Von der Kapitulation gegenüber wirtschaftlicher Macht zu einem kompetitiven Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 812 B. Sittenwidrigkeit wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen . 817
X
Inhaltsübersicht
C. Kontrolle einseitiger Gestaltungsmacht gem. § 315 Abs. 3 BGB am Beispiel von Energiepreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824
Teil 11: Wesentliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIII
Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Teil 1: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 A. Die Privatrechtsordnung zwischen dem Schutz der individuellen Selbstbestimmung und der Beförderung von Gemeinwohlinteressen 7 I. Individuelle Selbstbestimmung als Grundidee der Privatrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Das Prinzip der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Privatautonomie als Ausprägung des Prinzips der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 II. Unterscheidung zwischen Vertragsfreiheit, Vertragsgerechtigkeit und Sozialmodellen . . . . . . . . . . . . 18 1. Formale und materiale Konzeptionen der Vertragsfreiheit . 18 2. Vertragsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. „Sozialmodelle“ privater Macht und ihre rechtliche Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 a) Zum Begriff des Sozialmodells . . . . . . . . . . . . . . 22 b) Gesellschaftswissenschaftliche Grundbegriffe privater Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 aa) Kausale Machtbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . 23 bb) Modale Machtbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . 25 cc) Bewertende Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . 27 dd) Ambivalenz wirtschaftlicher Macht . . . . . . . . . 28 4. Zwingendes Privatrecht als Ausdruck des jeweiligen Sozialmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 a) Zwingende Regelungen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
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Inhaltsverzeichnis
b) Unterschiedliche Ausprägungen zwingenden Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 III. Zum Verhältnis von Individualwohl und Gemeinwohl . . . . 36 1. Zur Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 a) Überpositive und normative Bedeutung . . . . . . . . . 38 b) Überblick über das ökonomische Verständnis von „Gemeinwohl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 aa) Neoklassische Wettbewerbstheorie . . . . . . . . . 43 bb) Wohlfahrtsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 cc) Freiheitliches Verständnis von Gemeinwohl . . . . 47 dd) Neue Institutionenökonomik . . . . . . . . . . . . 48 ee) Vorläufiges Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) Legalausnahme von den Wettbewerbsvorschriften . . . 51 b) Paradigma: Universaldienstleistungen . . . . . . . . . . 52 4. Leistungen der Daseinsvorsorge zwischen Wettbewerb und Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 b) Historische Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 c) Privatisierung und Liberalisierung . . . . . . . . . . . . 54 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 B. Wichtige Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 I. Individual- und Institutsschutz (Institutionenschutz) . . . . . 56 II. Wettbewerbsrecht (Kartellrecht) und Lauterkeitsrecht . . . . . 58 III. Regulierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Marktregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Regulierung der Sektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3. Unterscheidung zwischen Wettbewerbsregulierung und sonstiger gemeinwohlorientierter Regulierung . . . . . 63 IV. Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 V. „Public enforcement“ und „private enforcement“ . . . . . . . 66 VI. Verbraucher und Marktgegenseite . . . . . . . . . . . . . . . . 68 VII. Wettbewerbsbeschränkende Verträge und Folgeverträge . . . 70 VIII. Formale und materiale Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Inhaltsverzeichnis
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C. Einwände gegen ein freiheitlich-materiales Verständnis des wirtschaftsrelevanten Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 I. Die wirtschaftswissenschaftliche Sicht („more economic approach“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Juristische Kritik am Schutz materialer Selbstbestimmung . . 77 D. Eingrenzungen der thematischen Reichweite . . . . . . . . . . . . . 80 I. Kontrolle privater wirtschaftlicher Macht . . . . . . . . . . . . 80 II. Verstöße gegen die Kartell- und Missbrauchsverbote . . . . . 81 III. Wettbewerbsfördernde Regulierung der Netzsektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen . . . . . . . . 82 IV. Preiskontrolle der (Folge-)Verträge . . . . . . . . . . . . . . . 83 V. Untersuchung aus rechtswissenschaftlicher Perspektive . . . . 85 VI. Untersuchung aus unionsrechtlicher und nationaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Teil 2: Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 A. Wirtschaftsverfassung und Sozialmodell des Privatrechts . . . . . . 87 B. Ökonomisches und rechtswissenschaftliches Verständnis von Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 C. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union . . . . . . . . . 91 I. Von der wirtschaftlichen zur sozialen Integration . . . . . . . 92 II. Systementscheidung des früheren EG-Vertrages für eine freie Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 III. Auswirkungen des Lissabon-Vertrages auf die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union . . . . . . . . 96 1. Errichtung einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2. Sicherung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs . . . 99 3. Garantie einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Politische Stärkung sozialer Zwecke durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 D. Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . 103 I. Relative wirtschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes . 104 II. Soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
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Inhaltsverzeichnis
E. Schutz der Selbstbestimmung im deutschen und im europäischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I. Das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 II. Das Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 F. Gewährleistungsverantwortung des Staates für die Versorgung mit Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen . . . . . . . . . 116 I. Grundrechtliche Gewährleistung der Versorgung mit Gütern der Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 II. Regulierungsverantwortung für die Netzebene . . . . . . . . 122 III. Rekommunalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Wasserversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Energieversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Reichweite der Garantie kommunaler Selbstverwaltung . . 127 G. Zwischenergebnis – Sicherung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Teil 3: Vertragstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 A. Wechselseitiger Bezug von Vertragsrechtsordnung und Wettbewerbswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 I. Koordinierung individueller Freiheiten über den Preismechanismus des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 II. Sicherung der Wettbewerbsprozesse durch privatrechtliche Institute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 III. Begrenzung privatrechtlicher Institute durch die Wettbewerbsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 IV. Zwischenergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 B. Geltungsgründe des Vertrages zwischen formaler Selbstbestimmung und überindividuell-objektiven Zwecken . . . . . . . . . . . . . . . 136 I. Das liberale Verständnis des Vertrages im Bürgerlichen Gesetzbuch des Jahres 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Primat rechtlich-formaler Freiheit und Gleichheit der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Überwiegen dispositiven Vertragsrechts . . . . . . . . . . . 141 3. Defizite beim Schutz des wirtschaftlich Schwächeren . . . 143 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Erste sondergesetzliche Regelungen zur Kompensation vertraglicher Ungleichgewichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Inhaltsverzeichnis
XV
III. Historische Entwicklung der privatrechtlichen Behandlung wirtschaftlicher Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur „Kartellfrage“ 148 a) Positive Bewertung wirtschaftlicher Macht . . . . . . . 148 b) Die Entscheidung zum „Sächsischen Holzstoffkartell“ 148 c) Verbot des „Monopolmissbrauchs“ . . . . . . . . . . . . 153 d) Ökonomische und rechtspolitische Gründe für die positive Bewertung wirtschaftlicher Macht . . . . . . . 154 2. Die Kartellverordnung des Jahres 1923 und ihre Rezeption in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Statuierung einer Ex-post-Missbrauchskontrolle . . . . 155 b) Die „Benrather-Tankstellen-Entscheidung“ des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3. Die Kontrolle einseitiger Vertragsgestaltungsmacht über § 315 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4. Die „Krise des Vertragsrechts“ – am Beispiel allgemeiner Geschäftsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 IV. Der Vertrag als Mittel einer gesellschaftlich richtigen Ordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. „Sozialautonomie“ statt „Privatautonomie“ . . . . . . . . . 163 2. Das wirtschaftspolitische Konzept der „mixed economy“ . 167 3. Schutz vor Diskriminierungen im Privatrechtsverkehr . . . 168 V. Von der „Krise des Vertragsrechts“ zur „Krise des Sozialschutzes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 VI. Ein Seitenblick auf das Europäische Privatrecht . . . . . . . . 170 VII. Zwischenergebnis und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . 173 C. Der Vertrag als Mittel zur Erzielung überindividueller Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 I. Problemstellung: Individual- oder Institutsschutz? . . . . . . 175 II. Das Konzept objektiver Richtigkeit des Vertrages (Schmidt-Rimpler 1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 III. Subjektive Richtigkeitsgewähr des Vertragsschlusses (Schmidt-Rimpler 1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 IV. Das Sozialstaatsprinzip als Quelle überindividueller Vertragsgerechtigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1. Die Bürgschafts-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2. Europäisches Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
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Unterscheidung zwischen monistischen und dualistischen Ansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 II. Unzulänglichkeit einer rein instrumental-formal verstandenen Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 III. Keine Ausrichtung des Vertrages auf heteronome Gerechtigkeitsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Verstoß gegen den Grundsatz der individuellen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Fehlen materieller Kriterien für eine Richtigkeitskontrolle im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 IV. Funktionaler Zusammenhang zwischen materialer Vertragsfreiheit und prozeduraler Vertragsgerechtigkeit . . . . 196 1. Subjektive Richtigkeitschance des Vertragsmechanismus . . 196 2. Der Vertrag als Institut eines selbstbestimmten Interessenausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 V. Wettbewerb als Voraussetzung materialer Vertragsfreiheit und prozeduraler Vertragsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . 198 E. Schutz der Privatautonomie durch öffentliches Recht oder durch Privatrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 F. Zwischenergebnis – Schutz chancengleicher Selbstbestimmung . . . 204
Teil 4: Wettbewerbstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 A. Schutz vor wirtschaftlicher Macht oder Herstellung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 B. Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 I. Wettbewerbsrecht als „praktizierte Wettbewerbspolitik“ . . . 207 1. Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Wettbewerbstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. „Positive“ und „normative“ Theorie der Regulierung . . . 211 II. Marktversagen aus ökonomischer und juristischer Sicht . . . . 213 1. Die ökonomische Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. Die juristische Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Die Eigengesetzlichkeit des Rechts gegenüber der Wirtschaft . 218 1. Zielkonflikte zwischen einem rechtlichen und einem ökonomischen Verständnis des Wettbewerbsschutzes . . . 218 2. Rechtssicherheit, Justiziabilität und Vorhersehbarkeit . . . 219 3. Interpretation des Rechts mit Hilfe der Ökonomie . . . . . 219
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IV. Wettbewerbsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Selbststeuerungseigenschaften wettbewerblich organisierter Märkte (ökonomische Wettbewerbsfunktionen) . . . . . . 221 2. Schutz der material-chancengleichen Vertragsfreiheit gegen unangemessene oder unbillige Beeinträchtigungen (gesellschaftliche Wettbewerbsfunktionen) . . . . . . . . . 224 3. Zielkonflikte zwischen Freiheits- und Wohlfahrtsfunktionen („trade offs“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 V. Aufgabenstellung: Auflösung des Zielkonflikts zwischen Ökonomie und Recht aus zivilistischer Sicht . . . . . . . . . . 227 C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht . . . . . . . . . . . . 229 I. Inhalt und Art der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 II. Klassische dynamische Wettbewerbstheorie . . . . . . . . . . 231 1. Historische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Das System der „natürlichen Freiheit“ . . . . . . . . . . . . 233 3. Die Bedeutung von Märkten für die Preisbildung (Preismechanismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 4. Vertragsfreiheit als Voraussetzung des wettbewerblichen Preismechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 5. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 III. Neoklassische Gleichgewichtstheorie und Wohlfahrtsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Problem: Stellenwert wirtschaftlicher Freiheit . . . . . . . . 240 2. Theoretische Grundstruktur der Neoklassik . . . . . . . . 242 a) Knappheit der Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 b) Präferenzautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 c) Methodologischer und normativer Individualismus . . 247 d) Verhaltensmodell des „homo oeconomicus“ . . . . . . . 249 aa) Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 bb) Eigennutzentheorem (Konzept der Nutzenmaximierung) . . . . . . . . 251 cc) Individuelle Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . 252 dd) Nutzenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 3. Wohlfahrtsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 a) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 b) Utilitaristische Wohlfahrtsökonomie . . . . . . . . . . . 256 c) Pareto-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 aa) Grundaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 bb) Rechtfertigung idealer Austauschverträge aus dem Nutzen aller Vertragsparteien . . . . . . . 257 cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
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d) Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium . . . . . . . . . 261 aa) Grundaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 e) Wohlfahrtsstandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 aa) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 bb) Gesamtwohlfahrtsstandard . . . . . . . . . . . . . 267 cc) Konsumentenwohlfahrtsstandard . . . . . . . . . . 268 dd) Praktische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 ee) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 4. Effizienzkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Unterscheidung zwischen positiver und normativer Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Allokative (Pareto-)Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Produktive Effizienz („economies of scale“ und „economies of scope“) . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 d) Dynamische Effizienz (Innovationen) . . . . . . . . . . 276 aa) Herausragende wettbewerbstheoretische Relevanz 276 bb) Begrenzte modelltheoretische Erfassbarkeit . . . . 277 cc) Dynamische Effizienz und Marktmacht . . . . . . 278 e) „Längerfristige“ Betrachtung von Marktprozessen versus „kurzfristiger“ Schutz vor Ausbeutung . . . . . 279 5. Anwendung der Effizienzkonzepte auf die Analyse von Märkten (Neoklassische Preistheorie) . . . . . . . . . . 280 a) Pareto-Effizienz und Marktwirtschaft . . . . . . . . . . 280 b) Vollkommene Konkurrenz als Situation ohne Ausbeutungspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . 282 c) Marktmacht als Aufgreiftatbestand zur Kontrolle des Marktverhaltens von Unternehmen . . . . . . . . . 284 6. Zusammenfassung und Gesamtbewertung . . . . . . . . . . 284 IV. Wirtschaftliche Macht als ambivalentes Phänomen – die Theorien der Workable Competition . . . . . . . . . . . . 288 1. Die Vorläufermodelle der „monopolistischen“ bzw. „unvollkommenen“ Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. „Industrial Organization“ (Harvard School) . . . . . . . . 290 a) Traditionelle Industrieökonomik . . . . . . . . . . . . . 290 b) Neue Industrieökonomik und Spieltheorie . . . . . . . 293 3. Workable Competition als Second-best-Lösung (Clark) . . 294 a) Ablösung des neoklassischen Konzepts vollkommener Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 b) Theorie des Zweitbesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 4. Theory der Effective Competition (wirksamer Wettbewerb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
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a) Wettbewerb als Prozess der „Bahnbrecher“ und der „Nachahmer“ (Arndt) . . . . . . . . . . . . . . 299 b) Wettbewerb als dynamischer Prozess . . . . . . . . . . . 301 5. Konzept der optimalen Wettbewerbsintensität (Kantzenbach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 a) Zielkonflikt zwischen Freiheitsschutz und wohlfahrtsökonomischer Effizienzorientierung . . . . . . . . . . . 303 b) Wettbewerbspolitische Relevanz und Kritik . . . . . . . 307 c) Zu den Markttests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 6. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 V. Vernachlässigung der negativen Wirkungen wirtschaftlicher Macht durch freiheitlich-formale Marktund Wettbewerbstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 1. Analyse dynamischer Markt- und Wettbewerbsprozesse . . 315 2. Das Wissensproblem (von Hayek) . . . . . . . . . . . . . . 317 a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 3. Das systemtheoretische Konzept der Wettbewerbsfreiheit (Hoppmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 a) Von einem materialen zu einem formalen Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 VI. Die Chicago School zwischen Wohlfahrtsökonomie und Laissez-faire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 1. Unterscheidung zwischen positiven und normativen Ansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 2. Wettbewerbstheoretische Grundannahmen . . . . . . . . . 332 3. Wettbewerbspolitische Empfehlungen . . . . . . . . . . . . 334 4. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . 336 a) Positive Einschätzung wirtschaftlicher Macht . . . . . . 336 b) Unvereinbarkeit mit der geltenden Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 c) Formales Verständnis der Vertragsfreiheit . . . . . . . . 337 VII. Trennung kompetitiver und antikompetitiver Macht durch die Post-Chicago-Economics . . . . . . . . . . . . . . . 339 1. „Post Chicago“ als Sammelbecken verschiedener Denkrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 2. Kritik an der Chicago School . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 a) Vernachlässigung dynamischer Effizienz . . . . . . . . 342 b) Realitätsferner Glaube an die Funktionsfähigkeit der Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 c) Grenzen der Rationalitätsannahme . . . . . . . . . . . . 344
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3. Bewertung von „Post Chicago“ . . . . . . . . . . . . . . . . 344 D. Schutz individueller Freiheit vor antikompetitiver Macht durch eine staatliche Wettbewerbsordnung – Ordoliberalismus und Neue Institutionenökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 I. Ordoliberalismus (Freiburger Schule) . . . . . . . . . . . . . . 347 1. Wirtschaftliche Macht als Ausgangsproblem . . . . . . . . 348 2. Die ordoliberale Theorie der vollständigen Konkurrenz . . 351 3. Zum Werk Walter Euckens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 a) Begründung der Ordnungsökonomik . . . . . . . . . . 354 b) „Die Grundlagen der Nationalökonomie“ . . . . . . . . 355 aa) Wirklichkeitsbasierte Modellbildung . . . . . . . . 355 bb) Marktformen und wirtschaftliche Macht . . . . . . 356 cc) Ordnung der Wirtschaft durch eine Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 357 c) „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ . . . . . . . . . . . 358 aa) Ordnung individueller Freiheiten durch ein Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 bb) Schutz material-chancengleicher Wirtschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 cc) Begründer der Ordnungsökonomik . . . . . . . . . 361 dd) Prinzipien der Wettbewerbsordnung . . . . . . . . 362 ee) Als-ob-Wettbewerbsprinzip als Kontrollmaßstab . 363 d) Objektives oder subjektives Freiheitskonzept? . . . . . 364 4. Zum Werk Franz Böhms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 a) Unterscheidung zwischen dem frühen und dem späten Böhm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 b) „Wettbewerb und Monopolkampf“ . . . . . . . . . . . . 370 aa) Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 bb) Ambivalenz wirtschaftlicher Macht . . . . . . . . . 371 cc) Wettbewerbsschutz zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 c) Vorrang einer „Ordnung der Wirtschaft“ (1937) vor individuellen Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . . . 376 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 e) Schriften von 1945 bis 1950: zwischen Individualund Institutsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 f) Das rechtliche Konzept der „Privatrechtsgesellschaft“ als Ausdruck eines material-chancengleichen Freiheitsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 5. Institutionelles Verständnis des Wettbewerbs und Schutz
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material-chancengleicher Selbstbestimmung – am Beispiel subjektiver Anspruchsberechtigungen . . . . . . . . . . . . 388 6. Zur Begrifflichkeit: Paläoliberal – Neoliberal – Ordoliberal 393 II. Die Neue Institutionenökonomik als privatrechtskonforme Theorie zur Abwägung komplementärer Freiheitsbereiche? . 396 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 2. Modifizierung der Modellannahmen der Neoklassik . . . . 400 a) Realitätsnähere Beurteilung menschlichen Verhaltens . 400 b) Begrenzte Informationen und begrenzte Kapazitäten zur Informationsverarbeitung („bounded rationality“) . 401 c) Eigennutzentheorem: Nutzenbefriedigung statt Nutzenmaximierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 3. Insbesondere: Das Problem opportunistischen Verhaltens von Vertragspartnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 4. Konsensbasierte Erklärung des Wettbewerbsrechts . . . . . 406 III. Die Verhaltensökonomik als Verfeinerung oder als Widerlegung der Neuen Institutionenökonomik? . . . . . . . 408 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 2. Verhaltensanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 3. Bewertung der verschiedenen Verhaltensmodelle . . . . . . 412 E. Zwischenergebnis – Vorzugswürdigkeit eines modernen Ordoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Teil 5: Schutzzwecke des Wettbewerbsrechts und ihre Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 B. Der „more economic approach“ zum europäischen Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 II. Grundlinien des „more economic approach“ . . . . . . . . . . 422 1. Änderung des wettbewerbspolitischen Leitbilds . . . . . . 422 2. Leitlinien der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 a) Negative Auswirkungen auf den Markt als Beurteilungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 b) Verbraucherschaden als Tatbestandsmerkmal? . . . . . 428 c) Marktstruktur als Wettbewerbskriterium – zur Relevanz wirtschaftlicher Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 III. Systematisierung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
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1. Unterscheidung zwischen anwendungsbezogener und normativer Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 2. Ermittlung einer Wettbewerbsbeschränkung durch Abwägung marktbezogener Freiheiten . . . . . . . . . . . . 435 a) Offenhaltung der Märkte und Schutz der materialchancengleichen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . 435 b) Notwendigkeit eines wertenden Ausgleichs gegenläufiger Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . 438 c) Vorrang rechtlicher Wertungen . . . . . . . . . . . . . . 439 d) Ausgleich wirtschaftlicher Freiheitsrechte durch funktionsfähige Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 e) Zum Abwägungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 C. Schutzrichtung der Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen . 449 I. Sicherung gegenseitiger Unabhängigkeit und Wahlfreiheit der Marktteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 1. Vorrang der individuellen Freiheit vor der allgemeinen Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 2. Bestätigung der drittschützenden Intention der Wettbewerbsregeln durch § 33 GWB . . . . . . . . . . . . . 454 II. Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen gem. Art. 101 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 1. Wettbewerbsbeschränkung gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV . . 455 a) Zur Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 b) Unwertgehalt und Ausrichtung auf den Grundsatz des Als-ob-Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 c) Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . 461 d) Bewirkte Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . 464 e) Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . 466 2. Rechtfertigung einer Wettbewerbsbeschränkung gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 3. Die „Courage-Rechtsprechung“ als „materiale Folgevertragskonstellation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 a) Indizien für ein materiales Freiheitsverständnis – die Entscheidung „Courage“ (Teil 1) . . . . . . . . . . . 475 b) Kein Nachweis eines Verbraucherschadens bei bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen . . . . . . . . 477 4. Rechtsprechung des BGH – die Entscheidung „ORWI“ (Teil 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 III. Das Verbot von Ausbeutungsmissbräuchen . . . . . . . . . . . 479 1. Abgrenzung vom Verbot von Behinderungsmissbräuchen . 481 a) Das Verbot von Behinderungsmissbräuchen als
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abstrakter Gefährdungstatbestand zum Schutz der material-chancengleichen Selbstbestimmung der Marktteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 b) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 c) Zur Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . 484 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 2. Zweck des Verbots von Ausbeutungsmissbräuchen: Schutz der material-chancengleichen Vertragsfreiheit der Marktgegenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 3. Kontrollmaßstab: Hypothetischer Wettbewerbspreis . . . . 487 a) Grundsatz des Als-ob-Wettbewerbs . . . . . . . . . . . 487 b) Juristisches Kontrollkonzept zum Schutz vor unangemessener Ausbeutung . . . . . . . . . . . . . . . 488 c) Inhaltliche Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 490 4. Methodenpluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 a) Vergleichsmarktmethode („Benchmarking“) . . . . . . 492 b) Kosten- und Gewinnkontrolle . . . . . . . . . . . . . . 493 c) Kumulative Anwendung der Methoden . . . . . . . . . 494 5. Wertungsgleichklang mit der regulierungsrechtlichen Entgeltkontrolle – zur Entbehrlichkeit eines Erheblichkeitszuschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 a) Vermeidung einer unzulässigen Preisregulierung? . . . 494 b) Übertragbarkeit der normativen Wertungen des Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 c) Vergleich mit dem Kartellverbot . . . . . . . . . . . . . 496 d) Behebung rechtstatsächlicher Unsicherheiten („Unsicherheitsfaktor“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 IV. Wettbewerbstheoretische Einwände gegen eine kompetitive Ausbeutungskontrolle – am Beispiel des § 29 GWB . . . . . . 498 V. Das Wettbewerbsrecht zwischen Individual- und Institutsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 D. Der von den Wettbewerbsregeln geschützte Personenkreis . . . . . 502 I. Unterscheidung zwischen „primären“ und „sekundären“ subjektiven Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 II. Das subjektive Recht als elementarer Bestandteil einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . 506 III. Zusammenhang zwischen objektiver Schutzebene und subjektiver Sanktionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 IV. Rückschluss von der Sanktionsebene auf den objektiven Schutzbereich – § 33 GWB als Beispiel . . . . . . . . . . . . . . 512 V. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
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E. Zwischenergebnis – „Personalistischer Schutzzweck“ des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
Teil 6: Technische, ökonomische und rechtliche Grundlagen der Regulierung der Netzsektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 A. Technische Grundlagen der Netzindustrien . . . . . . . . . . . . . . 515 I. Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 II. Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 III. Eisenbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 B. Ökonomische Regulierungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 II. Wettbewerbstheoretische Begründungsansätze . . . . . . . . . 522 1. Neoklassische Wohlfahrtsökonomie . . . . . . . . . . . . . 523 2. Workable Competition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 3. Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 4. Chicago School of Economics . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 5. Ordoliberalismus und Ordnungsökonomik . . . . . . . . . 525 6. Neue Institutionenökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 III. Insbesondere: Natürliche Monopole . . . . . . . . . . . . . . . 526 1. Größen- und Verbundvorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 2. Irreversibilität als Voraussetzung des natürlichen Monopols? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 3. Negative Wohlfahrtswirkungen eines natürlichen Monopols . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 4. Statische versus dynamische Effizienz . . . . . . . . . . . . 530 IV. Weitere Regulierungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 1. Sonstige qualifizierte Marktzutrittsschranken . . . . . . . . 532 2. Vertikale Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 3. Externe Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 4. Netzwerkeffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 5. Opportunistisches Verhalten und Hold-up-Problematik . . 535 6. Asymmetrische Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 C. Normative Regulierungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 I. Sicherung des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 II. Sicherung der material-chancengleichen Selbstbestimmung . . 540 D. Auflösung von Zielkonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
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E. Zwischenergebnis: Primat der Wettbewerbsförderung . . . . . . . . 545
Teil 7: Schutzzwecke des Regulierungsrechts und ihre Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 A. Stand der Marktöffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 II. Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 III. Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 IV. Eisenbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 B. Wege einer sektorspezifischen Regulierung . . . . . . . . . . . . . . 569 I. Domestizierung von Marktmacht durch potenziellen Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 1. Theorie der Contestable Markets . . . . . . . . . . . . . . . 570 2. Bedeutung für die allgemeine Wettbewerbstheorie . . . . . 572 3. Bedeutung für die Regulierungstheorie – disaggregierte Regulierung der Netze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 II. Domestizierung von Marktmacht durch intermodalen Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 III. Formen der Wettbewerbsförderung auf Netzund Diensteebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 1. Netzwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 a) Infrastrukturwettbewerb der Netze . . . . . . . . . . . 575 b) Ausschreibungswettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . 576 2. Wettbewerb in Netzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 3. Beispiel: Die Ladder-of-Investment-Theorie des Telekommunikationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 580 C. Grundlagen des Zugangskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 I. Wettbewerbsförderung in wettbewerbsfähigen Marktstufen („Contestable Markets“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 II. Zum Begriff des Zugangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 1. Zugang als Anspruch auf Netznutzung . . . . . . . . . . . 585 2. Anspruch auf physischen Netzanschluss . . . . . . . . . . . 587 III. Identifizierung und Regulierung unerlässlicher Infrastrukturen/Marktsegmente . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 1. „Disaggregierter Regulierungsansatz“ . . . . . . . . . . . . 587 2. Ermittlung der zu regulierenden Infrastrukturen/ Marktsegmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 3. Symmetrische oder asymmetrische Regulierung . . . . . . 593
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4. Beseitigung der antikompetitiven Effekte unerlässlicher Infrastrukturen durch Regulierung . . . . . . . . . . . . . . 595 IV. Zu regulierende Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 1. Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 2. Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 3. Eisenbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 V. Netzzugang durch zivilrechtlichen Vertrag . . . . . . . . . . . 603 1. Energiewirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 2. Telekommunikationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 3. Eisenbahnregulierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 D. Regulierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 I. Regulierung als sektorspezifisches Wettbewerbsrecht . . . . . 608 II. Gemeinwohlorientierte Regulierungsinstrumente . . . . . . . 608 III. Wettbewerbsfördernde Regulierungsinstrumente . . . . . . . 611 1. Zugangsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 a) Zweck: Sicherung der material-chancengleichen Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 b) Zugangsverpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 c) Schutz der Endkunden durch abstrakte Gefährdungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 d) Einschränkungen des Zugangsanspruchs . . . . . . . . 614 e) Inhalt des Zugangsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . 615 2. Entgeltregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 a) Kontrollmaßstäbe und Kontrollmethoden . . . . . . . . 616 b) Effiziente Kosten und angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 c) Kostenkontrolle und preis- bzw. anreizbasierte Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 aa) Kostenregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 bb) Anreizregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 d) Zeitpunkt der Entgeltkontrolle . . . . . . . . . . . . . . 627 aa) Ex-ante- und Ex-post-Kontrolle . . . . . . . . . . . 628 bb) Kein Erheblichkeitszuschlag bei der Ex-post-Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 cc) Unterschiedliche Ausgestaltung der Regulierungsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 3. Entflechtungsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 IV. Zivilrechtliche Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 1. Energiewirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 2. Telekommunikationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634
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3. Eisenbahnregulierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 E. Zwischenergebnis – Multifunktionalität des Regulierungsrechts . . 636
Teil 8: Schutz vor Wettbewerbsbeschränkungen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht . . . . . . . . . . . . 637 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 B. Theorien der Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 1. Subjektstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 2. Modifizierte Subjektstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 3. Subjektions-/Subordinationstheorie . . . . . . . . . . . . . 642 4. Interessentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 C. Zur Einordnung des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 644 I. Schutz materialer Selbstbestimmung versus überindividuelle Gemeinwohlziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 II. Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand als Beispiel . . 647 D. Zur Einordnung des Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 649 E. Unterscheidung zwischen materiellen Tatbeständen und Rechtsbehelfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 F. Die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht als Kollisionsregelung am Beispiel der „Flucht ins Gebührenrecht“
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G. Zwischenergebnis – Wettbewerbsrecht und wettbewerbsfördernde Regulierung als Mischgesetze mit privatrechtlichem Kern . . . . . . 655
Teil 9: Schutz- und Verbotsgesetze des Wettbewerbsund Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 B. Die „Privatisierung“ des Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen 658 I. „Public enforcement“ und „private enforcement“ . . . . . . . 658 II. Entwicklung des „private enforcement“ . . . . . . . . . . . . . 662 1. Das Kartellverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
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2. Marktmachtmissbrauch als gesetzliches Verbot . . . . . . . 663 3. Die Durchführungs-Verordnung (EG) Nr. 1/2003 . . . . . 663 a) System der Legalausnahme vom Kartellverbot . . . . . 664 b) Dezentrale Durchsetzung des Wettbewerbsrechts . . . 665 c) Vorrang des Unionsrechts bei wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . 666 4. Regelungsvorschläge der Kommission für eine Verstärkung des „private enforcement“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 a) Ashurst-Studie aus dem Jahr 2004 . . . . . . . . . . . . . 667 b) Grünbuch der Kommission aus dem Jahr 2005 . . . . . 669 c) Weißbuch der Kommission aus dem Jahr 2008 . . . . . 669 d) Richtlinienvorschlag für wettbewerbsrechtliche Schadensersatzklagen nebst Mitteilung und Arbeitsunterlage aus dem Jahr 2013 . . . . . . . . . 670 e) Empfehlung der Kommission zu Kollektivklagen aus dem Jahr 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 5. Angleichung des deutschen an das europäische Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 III. Rechtsprechung des EuGH zum „private enforcement“ . . . . 676 1. Die Entscheidung „Courage“ (Teil 2) . . . . . . . . . . . . . 676 a) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676 b) Berechtigung zur Geltendmachung der Vertragsnichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 c) Berechtigung zur Geltendmachung von Schadensersatz 679 d) „passing-on defense“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 e) Individualschutz durch Prävention? . . . . . . . . . . . 682 f) Private Durchsetzung des Regulierungsrechts . . . . . . 683 2. Die Entscheidung „Manfredi“ (Teil 1) . . . . . . . . . . . . 684 a) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 b) Wettbewerbsrecht als Bestandteil der öffentlichen Ordnung der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 c) Berechtigung zur Geltendmachung von Schadensersatz 685 d) Nichtigkeit wettbewerbsbeschränkender (Folge-)Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 e) Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . 691 3. Die Entscheidung „T-Mobile-Netherlands“ . . . . . . . . . 692 4. Die Entscheidung „Otis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 IV. Zielkonflikte zwischen „private enforcement“ und „public enforcement“ – am Beispiel der Akteneinsicht in Kronzeugenunterlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696 2. „Public enforcement“ durch Geldbußen . . . . . . . . . . . 697
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V.
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a) Zwecke von Geldbußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 b) Reduzierung/Erlass von Geldbußen bei Kronzeugen . . 700 3. Einsicht in Kronzeugenunterlagen der nationalen Kartellbehörden – die Entscheidungen „Pfleiderer“ und „Donau Chemie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 a) Die Entscheidung „Pfleiderer“ . . . . . . . . . . . . . . 702 b) Folgeentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706 c) Die Entscheidung „Donau Chemie“ . . . . . . . . . . . 708 4. Einsicht in Unterlagen der Kommission . . . . . . . . . . . 710 a) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 b) Entscheidung des EuG „CDC Hydrogen Peroxide“ . . 713 c) Entscheidung des EuG „EnBW“ . . . . . . . . . . . . . 715 5. Primat des „private enforcement“ . . . . . . . . . . . . . . . 718 6. Dogmatische Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 a) Verhängung von „multiple damages“ . . . . . . . . . . . 721 b) Gesamtschuldnerinnenausgleich . . . . . . . . . . . . . 723 Sicherung der materialen Selbstbestimmung durch „public enforcement“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
C. Vorschriften des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts als deliktsrechtliche Schutzgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 I. Ermittlung des Schutzzwecks wettbewerbsrechtlicher Vorschriften als „Problem interdisziplinärer Wissenschaft“ . . 728 II. Vorschriften des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 730 1. Meinungsstand vor der 7. GWB-Novelle . . . . . . . . . . . 730 a) Restriktive Interpretation des Schutzgesetzerfordernisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730 b) Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen . . . . . . 733 c) Missbrauch von Marktmacht . . . . . . . . . . . . . . . 735 d) Besondere Missbrauchstatbestände . . . . . . . . . . . . 736 2. Aktuelle Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 a) „Unterlassungsanspruch, Schadensersatzpflicht“ gem. § 33 GWB 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 b) Die ORWI-Entscheidung des BGH (Teil 2) . . . . . . . 737 aa) Reichweite des „Betroffenheitsmerkmals“ . . . . . 737 bb) Klagebefugnis mittelbar Kartellbetroffener . . . . 738 cc) Klagebefugnis und „passing-on defense“ . . . . . . 739 dd) Das Betroffenheitskriterium als Konkretisierung des Schutzgesetzerfordernisses . . . . . . . . . . . 742 c) § 33 GWB als subjektiv-rechtliche Entsprechung des Tatbestands wettbewerbsschützender Normen . . . . . 744 III. Vorschriften des Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 744
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1. Energiewirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 2. Telekommunikationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 3. Eisenbahnregulierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 IV. Folgevertragspartner als deliktsrechtlich „Betroffene“ . . . . . 748 1. Anspruchsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748 2. Wechselwirkungen zwischen Delikts- und Vertragshaftung 749 3. Kein allgemeiner Anspruch auf Vertragsauflösung . . . . . 751 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 D. Inhaltskontrolle von Folgeverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 I. Die Folgevertragsdiskussion als Ausdruck eines veralteten Vertragsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 II. Unterschiede zwischen einer vertragsrechtlichen und einer deliktsrechtlichen Anpassungslösung . . . . . . . . . . . . . . 755 III. Idealkonkurrenz zwischen deliktischen und vertraglichen Rechtsbehelfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756 IV. Rechtslage und Meinungsspektrum zum Wettbewerbsrecht . 760 1. Tatbestände gegen Marktmachtmissbräuche . . . . . . . . . 760 a) Unionsrechtliches Missbrauchsverbot gem. Art. 102 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 b) Deutsche Missbrauchsverbote gem. den §§ 19, 29 GWB 762 2. Tatbestände gegen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 a) Unionsrechtliches Kartellverbot gem. Art. 101 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 bb) Deutsches Kartellverbot gem. den §§ 1, 2 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 V. Inhaltskontrolle von Kartell-Folgeverträgen nach Unionsrecht 767 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 2. Erstreckung der Verbotswirkung auf Folgeverträge – die Entscheidung „Manfredi“ (Teil 2) . . . . . . . . . . . . . 768 VI. Inhaltskontrolle von Kartell-Folgeverträgen nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 1. Unionsrechtskonforme Interpretation . . . . . . . . . . . . 773 2. Missbilligung von Folgeverträgen gem. § 134 BGB . . . . . 773 a) Voraussetzungen eines Verbotsgesetzes . . . . . . . . . 773 b) Verbot von Folgeverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 aa) Reichweite des Tatbestands gegen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen . . . . . . . . . . . 775 bb) Die Courage-Rechtsprechung des EuGH . . . . . . 776 cc) Nichtigkeit der Folgeverträge als Spiegelbild der deliktischen Anspruchsberechtigung . . . . . . 777
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dd) Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Justiziabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 c) Bestätigung des Verbots antikompetitiver Folgeverträge durch Straf- und Bußgeldtatbestände . . . . . . . . . . . 779 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 VII. Rechtsfolgen wettbewerbsbeschränkender Folgeverträge . . . 782 1. Normzweckvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 2. Teilnichtigkeit der Folgeverträge als Regelfall . . . . . . . . 786 a) Relevante Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786 b) Interessen der Folgevertragspartner . . . . . . . . . . . . 787 c) Einwände gegen eine Teilnichtigkeitslösung . . . . . . . 788 aa) Fehlende Praktikabilität? . . . . . . . . . . . . . . . 788 bb) Unzureichende Abschreckung? . . . . . . . . . . . 788 cc) Unzumutbare Beeinträchtigung der Rechtssicherheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789 3. „Absolute“ Teilnichtigkeit und „relative“ Anfechtbarkeit . 789 4. Geltungserhaltende Reduktion oder ergänzende Vertragsauslegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 VIII. Tatbestände des Regulierungsrechts als Verbotsgesetze . . . . 793 1. Energiewirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 a) Ex-ante-Regulierung von Netzzugang und Netzentgelten gem. den §§ 17 ff., 20 ff. EnWG . . . . . . 793 b) Ex-post-Missbrauchsverbot gem. § 30 EnWG . . . . . . 795 2. Telekommunikationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 a) Ex-ante-Entgeltregulierung gem. den §§ 31 ff. TKG . . . 797 b) Ex-post-Missbrauchsverbote gem. den §§ 28, 42 TKG . 799 aa) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 bb) Allgemeines Missbrauchsverbot des § 42 TKG . . . 800 cc) Besonderes Missbrauchsverbot des § 28 TKG . . . 801 3. Eisenbahnregulierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 IX. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 E. Harmonisierung vertraglicher und deliktischer Rechtsbehelfe . . . 804 I. Kumulation vertraglicher und deliktischer Ansprüche . . . . . 804 II. Innenausgleich zwischen den Anspruchsberechtigten verschiedener Marktstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 III. Einwände gegen eine Gesamtgläubigerschaft . . . . . . . . . . 808
XXXII
Inhaltsverzeichnis
Teil 10: Wertungsharmonisierende Interpretation zivilistischer Preiskontrollvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . 811 A. Von der Kapitulation gegenüber wirtschaftlicher Macht zu einem kompetitiven Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 I. Die „Leiden des Privatrechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 II. Harmonisierende Interpretation des Wettbewerbsund Regulierungsrechts mit dem Vertragsrecht . . . . . . . . . 815 B. Sittenwidrigkeit wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen . . . 816 I. Verweis auf Wertungen des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816 II. Schutz des wirtschaftlichen ordre public als Ausprägung der guten Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 III. Tatbestand des Verbots sittenwidriger Rechtsgeschäfte . . . . 821 IV. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 C. Kontrolle einseitiger Gestaltungsmacht gem. § 315 Abs. 3 BGB am Beispiel von Energiepreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 I. Billigkeitskontrolle von Energiepreisen . . . . . . . . . . . . . 824 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 2. Preiskontrolle direkt/analog § 315 Abs. 3 BGB . . . . . . . 825 3. AGB-Kontrolle von Preisanpassungsklauseln in Sonderverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826 II. Gleichklang der Kontrollmaßstäbe und -methoden . . . . . . 827 1. Monopolpreiskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 2. Kontrolle rechtlicher Bestimmungsmacht . . . . . . . . . . 828 3. Keine Unterscheidung zwischen Anfangspreis und Preiserhöhungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 4. Kontrollmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830 5. Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830
Teil 11: Wesentliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929
Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort ABl. Amtsblatt ABl.EG Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ABl.EU Amtsblatt der Europäischen Union Abs. Absatz AcP Archiv für civilistische Praxis am Ende a. E. Änd. Änderung Gesetz zur Änderung ÄndG AEG Allgemeines Eisenbahngesetz AER The American Economic Review (Zeitschrift) AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung der Bekanntmachung vom 9.5.2008 (ABl.EU Nr. C 115/47) alte Fassung a. F. AfP Archiv für Presserecht (Zeitschrift) Aktiengesellschaft; Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift); AG Amtsgericht allgemeine Geschäftsbedingungen (Allgemeine GeschäftsAGB bedingungen) AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz ALJ (Antitrust L. J) Antitrust Law Journal (American Bar Association) Anm. Anmerkung Annu. Rev. Psychol. Annual Review of Psychology (Zeitschrift) AöR Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) AP Arbeitsrechtliche Praxis, Nachschlagewerk des Bundes arbeitsgerichts APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte (Zeitschrift) ARegV Verordnung über die Anreizregulierung der Energieversorgungsnetze (Anreizregulierungsverordnung) ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Art. Artikel AT Allgemeiner Teil Aufl. Auflage Az. Aktenzeichen BAG Bundesarbeitsgericht BB Betriebsberater (Zeitschrift) BBahnG Bundesbahngesetz
XXXIV
Abkürzungsverzeichnis
BBiG Berufsbildungsgesetz Bd. Band BDI Bundesverband der deutschen Industrie e. V. Rechtsprechungssammlung in Beck Online (RechtspreBeckEuRS chung des EuGH, EuG und EuGöD) BeckOK-BGB Beck’scher Online Kommentar BGB, hrsg. v. Bamberger, Roth, Std. 1.8.2013 BeckOK-VwGO Beck’scher Online-Kommentar VwGO, hrsg. v. Posser, Wolff, Std. 1.1.2013 Rechtsprechungssammlung in Beck-Online (Jahr und BeckRS Nummer) Beck’scher TKG- Beck’scher TKG-Kommentar, Telekommunikationsgesetz Kommentar hrsg. von Geppert, Schütz, 4. Aufl. 2013 Beih Beiheft Bekl. Beklagter BerG Berufungsgericht BerlKommEnR Berliner Kommentar zum Energierecht, herausgegeben von Säcker Berliner Kommentar zum Telekommunikationsgesetz, BerlKommTKG 2. Aufl. 2009, herausgegeben von Säcker (in der 3. Aufl.: Säcker, TKG) Beschl. Beschluss BEVVG Gesetz über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des Bundes BGB Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2.1.2002 (BGBl. I S. 42, berichtigt S. 2909; 2003 I S. 738) BGB-AT Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs Bundesgesetzblatt Teil 1 und Teil 2 BGBl. I, II BGH Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BGHZ BJ Bell Journal of Economics and Management Science BKartA Bundeskartellamt Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunika BNetzA tion, Post und Eisenbahnen BR-Drucks. Deutscher Bundesrat Drucksachen BT Besonderer Teil; Bundestag BT-Drucks. Deutscher Bundestag Drucksachen Bundesnetzagentur Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunika tion, Post und Eisenbahnen BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwG Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE bzw. beziehungsweise B2C Business to Consumer Cal. L. Rev. California Law Review (Zeitschrift) CCZ Corporate Compliance Zeitschrift (Zeitschrift zur Haftungsvermeidung im Unternehmen)
Abkürzungsverzeichnis
XXXV
Chapt. Chapter CJ of Econ. Canadian Journal of Economics CMLR Common Market Law Review (Zeitschrift) Cognitive Psychology (Zeitschrift) Cogn. Psychol. Columbia L. Rev The Columbia Law Review (Zeitschrift) Columb. Bus. L. Rev The Columbia Business Law Review (Zeitschrift) Europäische Kommission (EU-Kommission) COM CPI Competition Policy International DB Der Betrieb (Zeitschrift); Deutsche Bahn Deutsche Bahn AG DB AG DCESL Draft Common European Sales Law DCFR Draft Common Frame of Reference, Outline Edition, 2009 ders. derselbe Dez. Dezember DG Directorate General (Generaldirektion; GD) d. h. das heißt Die Justiz Zeitschrift; Amtsblatt des Justizministeriums BadenWürttemberg dieselben dies. Deutscher Juristentag DJT DNotZ Deutsche Notar-Zeitung (Zeitschrift) DÖV Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) DStR Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) DStR-Beih Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Beiheft DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) DZWiR Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht (Zeitschrift) E Entwurf EAGCP Economic Advisory Group on Competition Policy European Competition Law Review (Zeitschrift) ECLR ECN European Competition Network Econ. J. The Review of Economic Studies; Economic Journal erneuerbare Energien EE EE-Strom Strom aus erneuerbaren Energien EEG Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuer bare-Energien-Gesetz) EEG 2012 Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuer bare-Energien-Gesetz) i.d.F vom 17.8.2012 EG Europäische Gemeinschaft; Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EG-Vertrag) i. d. F. vom 2.10.1997 (Abl.EG Nr. C 340/1) EGBGB Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl; Vertrag EGKS über die EGKS EGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EIBV Verordnung über den diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahninfrastruktur und über die Grundsätze zur Erhebung von Entgelt für die Benutzung der Eisenbahn
XXXVI
Abkürzungsverzeichnis
infrastruktur (Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung) Einl. Einleitung Economic Journal EJ ELJ European Law Journal ebd. ebenda endg. endgültig engl. englisch(es) Entsch. Entscheidung Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (EnergieEnWG wirtschaftsgesetz) EnWZ Zeitschrift für das gesamte Recht der Energiewirtschaft Erg. Ergänzung ERG European Regulators Group Ergl. Ergänzungslieferung Erman/Bearbeiter Erman, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, hrsg. von H. P. Westermann, Grunewald, Meier-Reimer ERPL European Review of Private Law (Zeitschrift) ET Energiewirtschaftliche Tagesfragen (Zeitschrift) et cetera (und so weiter) etc. EU Europäische Union EuG Europäisches Gericht Erster Instanz EuGH Gerichtshof der Europäischen Union EuR Europarecht (Zeitschrift) EuR-Bei Europarecht (Zeitschrift) Beiheft EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EWeRK Institut für Energie- und Wettbewerbsrecht in der kommunalen Wirtschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG Vertrag zur Gründung der Europäischen WirtschaftsgeEWGV meinschaft vom 25.3.1957 (BGBl. II S. 766) EWS Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) und die folgende Dokumentenseite f. FA Finanzarchiv ff. und die folgenden Dokumentenseiten FIW Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V., Köln FIW-Schriftenreihe Schriftenreihe des Forschungsinstituts für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V., Köln FK Jaeger/Pohlmann/Rieger/Schroeder (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Loseblatt, 78. Lieferung Juni 2013 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar FKVO 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“) ABl.EU Nr. L 24/1 v. 29.1.2004 FN-EU Frankfurter Newsletter zum Recht der Europäischen Union FS Festschrift
Abkürzungsverzeichnis
XXXVII
FTTH Fibre To The Home G. Gesetz GA Generalanwalt beim Gerichtshof der Europäischen Union Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die GrundGasGVV versorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Gas aus dem Niederdrucknetz (Gasgrundversorgungsverordnung) GasNEV Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzentgeltverordnung) Verordnung über den Zugang zu Gasversorgungsnetzen GasNZV (Gasnetzzugangsverordnung ) GEMA Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte GewArch Das Gewerbearchiv (Zeitschrift) GewO Gewerbeordnung GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH GMH Gewerkschaftliche Monatshefte (1950 bis 2004) (Zeitschrift) Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes GmS-OGB GRC Charta der Grundrechte der Europäischen Union grds. grundsätzlich GroßKommUWG Großkommentar zum UWG GRUR Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) GRUR Int. Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil (Zeitschrift) GRUR-Prax Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht – Praxis im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht GS Gedächtnisschrift GVG Gerichtsverfassungsgesetz GVO Gruppenfreistellungsverordnung GVV Verordnung über die Grundversorgung (mit Strom oder Gas) Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen GWB GWB-E Entwurf eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen GWR Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) h. A. herrschende Ansicht Harv. J. L. & Publ. Pol. Harvard Journal of Law and Public Policy Hb. Halbband HdbVerfR Handbuch des Verfassungsrechts HFR Humboldt Forum Recht (Internet-Zeitschrift) HJB Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschafts politik Hrsg. Herausgeber hrsg. herausgegeben Hs. Halbsatz HStR Handbuch des Staatsrechts Hum. Percep. Perf. Human Perception and Performance
XXXVIII i. d. i. d. F. i. E. ifo
Abkürzungsverzeichnis
in der in der Fassung im Erscheinen; im Ergebnis ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V. Ind. L. J. Indiana Law Journal insbesondere insb. IR InfrastrukturRecht – Energie, Verkehr, Abfall, Wasser (Zeitschrift) im Sinne i. S. i. S. d. im Sinne des i. V. in Verbindung JBl. Juristische Blätter (österreichische Zeitschrift) JBNSt. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik (Journal of Economics and Statistics) Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie JbRSoz J. Econ. Behav. & Org. Journal of Economic Behavior and Organization Journal of Economic Literature J. Econ. Lit J. Econ. Persp. Journal of Economic Perspectives Journal of Experimental Psychology J. Exp. Psychol. JfS Jahrbuch für Sozialwissenschaft JITE Journal of Institutional and Theoretical Economics JJZ Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler J. L. Econ. Journal of Law & Economics J. L. Econ. & Org. Journal of Law, Economics, and Organization JMCB Journal of Money, Credit and Banking J. Market. Journal of Marketing Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie JNPÖ JPE Journal of Political Economy Yale Journal on Regulation JREG JRP Journal für Rechtspolitik JRSS Journal of Royal Statistical Society Jahrbuch für Sozialwissenschaften JSW Jura (JURA) Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juris Juristische Datenbank Juris JurisPR Juristische Datenbank Juris - Praxisreport JurisPR-HaGesR Juristische Datenbank Juris – Praxisreport Handelsund Gesellschaftsrecht JuS Juristische Schulung (Zeitschrift) JZ Juristenzeitung (Zeitschrift) Kap. Kapitel KartellVO Verordnung gegen den Missbrauch privater Machtstellungen vom 2.11.1923 KartG Kartellgesetz (Österreich) KeL Kosten effizienter Leistungsbereitstellung KG Kammergericht; Kommanditgesellschaft KJ Kritische Justiz (Zeitschrift) KKOWiG Karlsruher Kommentar zum OWiG
Abkürzungsverzeichnis
Kl. KOM KommJur krit. KritV
XXXIX
Kläger Europäische Kommission (EU-Kommission) Der Kommunaljurist (Zeitschrift) kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift) K&R Kommunikation und Recht (Zeitschrift) lit. litera (Buchstabe) LG Landgericht Lindenmaier-Möhring Kommentierte BGH-Recht LM sprechung LMK Lindenmaier-Möhring Kommentierte BGH-Recht sprechung (beck Fachdienst Zivilrecht – LMK) LS Leitsatz Law & Society Review (Zeitschrift) LSR Ltd. Limited Company m. E. meines Erachtens Mich. L. Rev. The Michigan Law Review (Zeitschrift) MMR MultiMedia und Recht (Zeitschrift) MünchArbR Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, hrsg. v. Wlotzke, Richardi, Wißmann, Oetker, 3. Aufl. 2009 MünchKommBGB Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, hrsg. v. Säcker, Rixecker, Oetker, 11. Bände, 6. Aufl. 2012 und 2013 MünchKommEUWettbR Münchner Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), hrsg. von Hirsch, Montag, Säcker, Band 1, 2007 MünchKommGWB Münchner Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), hrsg. von Hirsch, Montag, Säcker, Band 2, 2008 MünchKommVVG Münchener Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, hrsg. v. Langheid, Wandt, 3 Bände, 2010 Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, hrsg. v. MünchKommZPO Rauscher, Wax, Wenzel, 3 Bände, 4. Aufl. 2012 m. w. N. mit weiteren Nachweisen n. F. neue Fassung NJW Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NJW-RR NJW-Rechtsprechungs-Report, Zivilrecht (Zeitschrift) No. Number Nr. Nummer Netzwirtschaften und Recht (Zeitschrift) N&R NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ NVwZ-RR Rechtsprechungs-Report Verwaltungsrecht (Zeitschrift) NWVBl Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) NZA Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht (seit 1992: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht) NZBau Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht
XL
Abkürzungsverzeichnis
NZG Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht NZKart Neue Zeitschrift für Kartellrecht NZS Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Züricher Zeitung NZZ o. ä. oder ähnlich OK Online-Kommentar OLG Oberlandesgericht ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Orientierungen Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Orig. Original OVG Oberverwaltungsgericht OWiG Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuches Psychological Bulletin (Zeitschrift) Psychol. Bul. Qual Quant Quality & Quantity – International Journal of Methodology Quart. J. Econ The Quarterly Journal of Economics RabelsZ Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RBerG Rechtsberatungsgesetz RdA Recht der Arbeit (Zeitschrift) RdE Recht der Energiewirtschaft (Zeitschrift) RefE Referentenentwurf Rev. Econ. Stud The Review of Economic Studies (Zeitschrift) Rev. Ind. Org. The Review of Industrial Organization (Zeitschrift) RG Reichsgericht RGBl. Reichsgesetzblatt RGRK Das Bürgerliche Gesetzbuch, Kommentar, hrsg. von Mitgliedern des Bundesgerichtshofes, 12. Aufl. 1974–2000 RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen RhPfVerfGH Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz Recht der Internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) RIW RJE Rand Journal of Economics RL Richtlinie Rn. Randnummer Rom-II VO Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht S. Seite SchiedsVZ Neue Zeitschrift für Schiedsverfahren Schmollers Jahrbuch Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft Schulze Bürgerliches Gesetzbuch, Handkommentar, 7. Auflage 2012, hrsg. v. Schulze, Dörner, Ebert, Hoeren, Kemper, Saenger, Schreiber, Schulte-Nölke, Staudinger Sec. Section SIEC Significant Impediment to Effective Competition
Abkürzungsverzeichnis
SJZ Slg. SMP sog. Stan. L. Rev. Staudinger
XLI
Süddeutsche Juristenzeitung Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Significant Market Power sogenannt The Stanford Law Review (Zeitschrift) J. von Staudinger – Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen Std. Stand StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StromGVV Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Elektrizität aus dem Niederspannungsnetz (Stromgrundversorgungsverordnung) StromNEV Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen (Stromnetzentgeltverordnung) StromNZV Verordnung über den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen (Stromnetzzugangsverordnung) Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik SZVS TAL Teilnehmeranschlussleitung TB Teilband; Tätigkeitsbericht TK Telekommunikation(s) TKG Telekommunikationsgesetz i.d.F vom 3.5.2012 TKMR TeleKommunikations- und MedienRecht (Zeitschrift) TKV Telekommunikations-Kundenschutzverordnung Transparenz-VO Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30. 5. 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission und andere; unter anderem u. a. Uabs. Unterabsatz Univ. of Pennsylvania University of Pennsylvania Law Review (Zeitschrift) L. Rev. Urt. Urteil US/USA United States of America u. U. unter Umständen UWG Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb v. vom Vahlens Kompendium Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik Var. Variante Verf. Verfasser Vergaberecht (Zeitschrift für das gesamte Vergaberecht) VergabeR Vertikal-GVO Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. 4. 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, ABl.EG 2010 L 102/1
XLII Vertikal-GVO 1999
Abkürzungsverzeichnis
Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen VerwArch Das Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) VG Verwaltungsgericht vergleiche vgl. VO (Rechts-)Verordnung VO Nr. 1/2003 Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln vom 16.12.2002 (ABl.EG Nr. L 1/1 v. 4.1.2003), zuletzt geändert durch VO v. 25.9.2006 (ABl.EG Nr. L 269/1) Vor./Vorbem. Vorbemerkungen VuR Verbraucher und Recht (Zeitschrift) VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer VVG Gesetz über den Versicherungsvertrag VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz Weltwirtschaftliches Archiv (Zeitschrift) WA WBl. Wirtschaftsrechtliche Blätter (österreichische Zeitschrift) WD Wirtschaftsdienst (Zeitschrift) WiB Wirtschaftsrechtliche Beratung (Zeitschrift) WiSt Wirtschaftswissenschaftliches Studium (Zeitschrift) wistra Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht WiStrG Gesetz zur weiteren Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts (Wirtschaftsstrafgesetz 1954) WiVerw Gewerbearchiv Themenheft Wirtschaft und Verwaltung (Zeitschrift) Wertpapiermitteilungen (Zeitschrift) WM wobl wohnrechtliche blätter (österreichische Zeitschrift) WpHG Gesetz über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandels gesetz) WRP Wettbewerb in Recht und Praxis (Zeitschrift) WuM Wohnungswirtschaft und Mietrecht (Zeitschrift) WuW Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift) WuW BGH WuW Entscheidungssammlung Bundesgerichtshof WuW/E WuW-Entscheidungssammlung zum Kartellrecht WuW/E DE-R WuW Entscheidungssammlung Deutschland Rechtsprechung WuW/E EU-R WuW Entscheidungssammlung Europäische Union Rechtsprechung WuW Entscheidungssammlung Oberlandesgerichte WuW/E OLG WuW/E KRInt WuW Entscheidungssammlung Kartellrecht International Yale Rev. The Yale Review (Zeitschrift) ZEuP Zeitschrift für europäisches Privatrecht ZEV Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge ZfA Zeitschrift für Arbeitsrecht
Abkürzungsverzeichnis
ZfBR
XLIII
Zeitschrift für deutsches und internationales Bau- und Vergaberecht ZfE Zeitschrift für Energiewirtschaft Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und ZfVSV Verwaltung ZfW Zeitschrift für Wirtschaftspolitik Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik zfwu ZGR Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht ZGS Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht ZHR Ziff. Ziffer ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zit. zitiert ZNER Zeitschrift für Neues Energierecht ZPO Zivilprozessordnung ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZS Zivilsenat Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte ZSR-GA (Germanistische Abteilung) zum Teil z. T. ZUM Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht ZUM-RD Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht – Rechtsprechungsdienst zust. zustimmend ZVglRWiss. Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft ZVP Zeitschrift für Verbraucherpolitik ZWeR Zeitschrift für Wettbewerbsrecht
Aufgabenstellung Diese Untersuchung behandelt das Zusammenspiel des marktbezogenen Vertragsrechts mit dem Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen1 und dem sektorspezifischen Regulierungsrecht 2 am Beispiel der Inhaltskontrolle von Folgeverträgen. Als Folgeverträge wollen wir – zunächst im Sinne einer Arbeitshypothese – solche Vereinbarungen zwischen Unternehmen und Personen der Marktgegenseite ansehen, deren Inhalt durch einen Verstoß gegen die Vorschriften des Wettbewerbs- oder Regulierungsrechts beeinträchtigt worden ist.3 Das Verhältnis zwischen „Gesetzesverstoß und Vertrag“4 stellt einen zentralen Problemkreis der privaten Durchsetzung des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts durch Individualgeschädigte („private enforcement“) dar.5 Im Fokus der Diskussion über die dogmatischen Grundlagen und die konkrete Reichweite einer Klagebefugnis Privater standen bislang deliktsrechtliche Fragestellungen. Kontrovers erörtert wurde etwa die Anspruchsberechtigung mittelbar von einem Wettbewerbsverstoß betroffener Personen, die damit zusammenhängende Zulässigkeit eines Schadensabwälzungseinwands des Wettbewerbsverletzers 1 „Kartellrecht“;
im Folgenden mit dem unionsrechtlichen Sprachgebrauch auch benannt als „Wettbewerbsrecht“. Unter einem „Kartell“ wird gemeinhin eine spezifische Erscheinungsform von Wettbewerbsbeschränkungen verstanden, namentlich wettbewerbsbeschränkende Hardcore-Vereinbarungen im Horizontalverhältnis (Grützner/Jakob, Compliance, Stichwort: Kartell). Das Wettbewerbsrecht („Kartellrecht“) ist wiederum vom Recht der marktbezogenen Lauterkeit („Lauterkeitsrecht“) zu unterscheiden; dazu Harte-Bavendamm/ Henning-Bodewig/Glöckner, Vorbem. Rn. 1 ff. Hardcore-Kartelle werden auch als „klassische“ oder „geheime“ Kartelle benannt; hierzu zählen etwa Preisabsprachen, Quotenabsprachen sowie Kunden- und Gebietsabsprachen; vgl. Engelsing, ZWeR 2006, 179, 184. 2 Genauer: die Regulierung der Netzsektoren Energie, Telekommunikation und (Bundes-)Eisenbahnen. 3 Folgeverträge sind somit sowohl von den (Kartell-)Verträgen im engeren Sinne abzugrenzen, die den Wettbewerbsverstoß selbst zum Inhalt haben, als auch von sog. Ausführungsverträgen. Siehe dazu Teil 1 B. VII. 4 Vgl. MünchKommBGB/Armbrüster, § 134 BGB Rn. 1: § 134 BGB gebe „den vom BGB zugrunde gelegten Prinzipien über das Verhältnis zwischen gesetzlicher und rechtsgeschäftlicher Regelung Ausdruck.“ Siehe auch den Titel der Arbeit von Paul aus dem Jahr 2010: Gesetzesverstoß und Vertrag. 5 „Private enforcement“ bezeichnet allgemein die private Kontrolle der Einhaltung gesetzlicher oder privatautonom eingegangener Verpflichtungen; vgl. Bachmann, Private Ordnung, S. 2. Als Schlagwort des Jahrzehnts wurde das „private enforcement“ des Wettbewerbsrechts bezeichnet von K. Schmidt, ZWeR 2007, 394, 397.
2
Aufgabenstellung
(„passing-on defense“), 6 sowie auf dogmatisch vorgelagerter Ebene das allgemeine Verhältnis zwischen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung und der Rechtsdurchsetzung durch Behörden („public enforcement“), wie es im Wettbewerbsrecht aktuell für das Akteneinsichtsrecht in sog. Kronzeugenanträge in Rede steht.7 Demgegenüber wurden die Beiträge, die ein wettbewerbliches, d. h. „kompetitives Vertragsrecht“8 zur Effektuierung des „private enforcement“ leisten kann, bis dato nicht ausreichend gewürdigt,9 obwohl die Teilnichtigkeit wettbewerbsbeschränkender Verträge deutliche Parallelen zur deliktischen Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer aufweist.10 Quasi spiegelbildlich steht die Rechtswissenschaft den wettbewerbsrechtlichen Grundlagen des Privatrechts, insbesondere den daraus abzuleitenden dogmatischen Folgerungen, distanziert gegenüber,11 wohl auch, weil sich die Entwicklung des Wettbewerbsrechts in Deutschland weitgehend außerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuchs vollzogen hat, und nicht wie etwa im „Common Law“ durch eine Anpassung von Generalklauseln an die Erfordernisse einer für alle Bürger freien und chancengleichen Wettbewerbswirtschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 TKG.12 Die vorliegende Untersuchung will diese Lücke am Beispiel der Inhaltskontrolle von Verträgen zwischen Wettbewerbsverletzern und Drittbetroffenen der nachfolgenden Markstufe mit antikompetitiv überhöhten Preisen schließen. Die zivilistische Dogmatik tut sich schwer, das Äquivalenzverhältnis formalprivatautonom vereinbarter Hauptleistungspflichten auf seine inhaltliche Angemessenheit hin zu überprüfen, auch wenn ein praktisches Bedürfnis hieran seit Langem anerkannt ist, wie die Inhaltskontrolle von Kreditverträgen nach 6 Die Zulässigkeit einer „passing-on defense“ wird als zentrales Problem eines effektiven „private enforcement“ angesehen; vgl. Bulst, ZWeR 2012, 70, 71; Baudenbacher/Basedow, Entwicklungen im Kartellrecht, 353, 366; siehe auch bereits Flume, WuW 1956, 457, 464. In der rechtsökonomischen Literatur wird als „passing-on“ allgemein ein Verhalten bezeichnet, bei dem eine Person (etwa der Verkäufer) bestimmte Kostenpositionen (etwa die Kosten der Nacherfüllung einer mangelhaften Kaufsache) an eine andere Person weitergibt (indem sie etwa die Kosten einer möglichen Mängelhaftung in den Kaufpreis einkalkuliert); vgl. dazu Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361; Bechtold, Zwingendes Vertragsrecht, S. 45; Fornasier, Freier Markt, S. 140 ff. 7 Vgl. EuGH v. 6.6.2013 – C-536/11, EuZW 2013, 586 – Donau Chemie. 8 Begriff nach MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 32; ders., JJZ 2013, S. 9, 20. Den Begriff verwendet ebenfalls Micklitz, Gutachten A zum 69. DJT 2012, S. A 58. Siehe auch Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, Rn. 1764. Zur Diskussion im 19. Jahrhundert vgl. Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 13 ff. und öfter. 9 Die Problematik auf den Punkt bringt der Titel eines Beitrages von K. Schmidt in AcP 206 (2006), 169 ff.: „Wirtschaftsrecht: Nagelprobe des Zivilrechts – Das Kartellrecht als Beispiel“. 10 Vgl. zum Wettbewerbsrecht die Monopolkommission, Sondergutachten 41, S. 37 ff.; Fuchs, WRP 2005, 1384, 1394; Leib, Kartellrechtliche Durchsetzungsstrategien, S. 19. 11 Siehe Ludwigs, Effizienzanforderungen, S. 30, 115 ff. 12 Hinweis bei Grundmann/Renner, JZ 2013, 379, 388 m. w. N.; siehe auch Neumann/ Koch, Telekommunikationsrecht, Kap. 1 Rn. 93.
Aufgabenstellung
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§ 138 Abs. 1 BGB zeigt.13 Der BGH geht grundsätzlich erst dann von einem rechtlich relevanten „auffälligen“ Missverhältnis aus, wenn die eine Leistung nur die Hälfte wert ist als die andere, bzw. die empfangene Leistung den Wert der eigenen Leistung um 100 % übersteigt.14 Das gilt auch dann, wenn eine der Vertragsparteien ein wirtschaftliches Übergewicht hat. Dass das Privatrecht – ebenso wie ein öffentliches Wirtschaftsrecht – nicht ohne die Wertungen des Wettbewerbs- und in besonders vermachteten Sektoren auch des Regulierungsrechts auskommt, zeigt sich jedoch an dem Umstand, dass die vom BGH als Vergleichsbasis herangezogenen Marktpreise nicht nur die Folge eines wirksamen Wettbewerbs sein können, sondern auch das genaue Gegenteil desselben, also das Ergebnis einer Wettbewerbsbeschränkung. Sind sich etwa alle Anbieter eines Gutes infolge einer Kartellvereinbarung einig, einen bestimmten Preis nicht zu unterschreiten, oder hat ein Unternehmen am Markt eine derart starke Stellung, dass es sich de facto unabhängig von seinen Wettbewerbern verhalten und deshalb antikompetitiv überhöhte Preise verlangen kann, kann der tatsächliche Marktpreis nicht zur Bestimmung der Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung herangezogen werden.15 Relevanter Maßstab kann vielmehr nur ein Preis sein, wie er bei hypothetisch wirksamem Wettbewerb verlangt werden könnte. Ein Meilenstein für die Harmonisierung der Wertungen des Vertrags- und des Wettbewerbsrechts16 war die Ausgestaltung des Tatbestands gegen Marktmachtmissbräuche in § 19 GWB durch die 6. GWB-Novelle als gesetzliches Verbot; denn dies geschah in Kenntnis der jahrzehntealten Diskussion über die Zulässigkeit und Grenzen einer materiellen Äquivalenzkontrolle im Privatrecht.17 Im Rahmen der 7. GWB-Novelle des Jahres 2005 hat der Gesetzgeber sodann die bis dato geltende Unterscheidung zwischen einer horizontal und einer vertikal wettbewerbsbeschränkenden Zusammenarbeit aufgehoben.18 13 Diese Rechtsprechung wurde durch Einführung der Regelungen über Verbraucherkredite (Verbraucherkreditgesetz von 1990, seit 2002 die §§ 491 ff. BGB) nicht obsolet; vgl. MünchKommBGB/Armbrüster, § 138 BGB Rn. 118. 14 Vgl. BGH v. 12.3.1981 – III ZR 92/79, NJW 1981, 1206. 15 Säcker, JJZ 2013, S. 9, 14 ff.; Mankowski/Schreier, AcP 208 (2008), 725, 745. 16 Sowie des Regulierungsrechts als sektorspezifischer Ausprägung des Wettbewerbsrechts; vgl. zu dem hiermit zusammenhängenden Begriff der „Wettbewerbsbeschränkung“ Teil 1 B. IV. 17 BGBl. 1998 S. 2346; vgl. Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Götting, § 19 GWB Rn. 101; Teil 9 B. 18 Ausführlich I. Schmidt, WD 2005, 536, 537. Unter einer horizontalen Zusammenarbeit versteht man eine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise zwischen Unternehmen derselben Marktstufe, die tatsächlich oder potenziell in einem Wettbewerbsverhältnis stehen; vgl. Kommission, Horizontalleitlinien, Rn. 1; Immenga/Mestmäcker/Ellger, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 484. Eine vertikale Zusammenarbeit bezieht sich auf das Verhältnis von Wettbewerbsteilnehmern, die auf verschiedenen Produktions- oder Vertriebsstufen stehen. Derartige Vereinbarungen enthalten häufig Abreden, die über die eigentliche Leistungserbringung hinausgehende Bindungseffekte aufweisen. Aus solchen Bindungen resultierende Wettbe-
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Aufgabenstellung
Wenn jedoch vertikale Vereinbarungen wie Vertriebsbindungen unmittelbar dem Anwendungsbereich des Kartellverbots unterstellt sind, können sie nicht mehr „nur“ als Folgeverträge gelten.19 Darüber hinaus wurde das allgemeine wettbewerbsrechtliche Verbot von Ausbeutungsmissbräuchen 20 in der „GWB-Novelle 7a“ des Jahres 2007 um § 29 GWB als sektorspezifischen Missbrauchstatbestand für die Energiewirtschaft ergänzt, um der hohen Bedeutung der Versorgung mit Energie für Freiheit und Wohlstand der Verbraucher und die Prosperität der Wirtschaft Rechnung zu tragen.21 Die normativen Änderungen des Wettbewerbsrechts machen es notwendig, die Vorgaben für eine zivilistische Preiskontrolle mit denjenigen des Wettbewerbs- und des Regulierungsrechts zu harmonisieren, um auf diesem Wege zu einem teleologisch stimmigen kompetitiven Vertragsrecht zu gelangen.22 Durch eine derartige Harmonisierung kann nicht nur das „private enforcement“ zum Wettbewerbsrecht effektuiert werden, indem es von praktisch lähmenden Fragen wie der Zulässigkeit und Reichweite einer „passing-on defense“ entlastet wird. Es kann auch der Blickwinkel dafür geschärft werden, dass die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts und des Regulierungsrechts als seiner sektorspezifischen Ausprägung nicht allein den staatlichen Behörden obliegt, sondern durch die Marktteilnehmer selbst erfolgen kann. Schließlich kann das Vertragsrecht von der Aufgabe entlastet werden, wirtschaftliche Machtpositionen von Unternehmen auf ihre missbräuchliche Ausübung hin zu überprüfen, da dies die Aufgabe des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts ist. Diese Rechtsbereiche stellen sicher, dass Vertragsverhandlungen in einen von wirksamem Wettbewerb geprägten Entscheidungskontext eingebettet und in diesem Umfang von den Problemen einer einzelfallbezogenen Kompensation wirtschaftlicher Machtpositionen enthoben sind.23 werbsbeschränkungen treten grundsätzlich nicht im Vertikalverhältnis selbst auf, sondern entweder im Horizontalverhältnis zwischen den Herstellern („Interbrand-Wettbewerb“) oder im Horizontalverhältnis zwischen den Händlern desselben Produkts („Intrabrand-Wettbewerb“); vgl. Glöckner, Kartellrecht, Rn. 384 ff.; Krüger, Durchsetzung des Kartellverbots, S. 35 ff. 19 In der Erstreckung des Kartellverbots auf vertikale Vereinbarungen sieht K. Schmidt, in: FS Möschel, 2011, S. 559, 568 ff., insb. S. 578 eine wesentliche Verschärfung des „private enforcement“ durch vertragsrechtliche Rechtsbehelfe, auch wenn dies – insoweit entgegen K. Schmidt – nicht als Argument gegen die Erstreckung des Verbotsbereichs des „Kartellverbots“ auf Folgeverträge dienen kann, vgl. Teil 9 D. 20 Normiert (nach neuer Zählung gemäß der 8. GWB-Novelle) in § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB. 21 Gesetz zur Bekämpfung von Preismissbrauch im Bereich der Energieversorgung und des Lebensmittelhandels, BGBl. I, S. 2966. Die Vorschrift soll dazu beitragen, noch fortbestehende tatsächliche Defizite bei der kompetitiven Öffnung der den Energieversorgungsnetzen vor- und nachgelagerten, nicht regulierten Märkte zu kompensieren; siehe Säcker, N&R 2009, 78, 79; Lohse, in: FS Kreutz, 2010, S. 715; Koleva, Preismissbrauchskontrolle, S. 32 ff. 22 So schon die Forderung von Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235 ff. 23 So bereits überzeugend G. P. Calliess, JJZ 2000, S. 85, 104 f.
Aufgabenstellung
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Mit dem Verhältnis von Vertragsrecht, Wettbewerbsrecht und Regulierungsrecht im Allgemeinen sowie der (teilweisen) Unwirksamkeit von Folgeverträgen im Besonderen bewegt sich unsere Untersuchung in einem komplexen, von der geltenden Wirtschaftsverfassung nur abstrakt vorstrukturierten Spannungsfeld rechtlicher und ökonomischer Theorien von Wettbewerb, Markt und Vertrag.24 Das gilt namentlich für die Diskussion über die Schutzzwecke des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts, die je nach Problemlage scheinbar wahllos zwischen Individual- und Institutionsschutz zu changieren scheint. 25 Aus diesem Grunde ist eine gründliche Erörterung der ökonomischen Grundlagen dieser Rechtsgebiete und ihrer normativen Rezipierung unabdingbar. Die Arbeit folgt insoweit der von Franz Böhm in seinem Werk „Wettbewerb und Monopolkampf“ begründeten Tradition, „das Lehrgebäude der klassischen Wirtschaftsphilosophie [soweit rechtlich möglich] in die Sprache der Rechtswissenschaft zu übersetzen“.26 Um das dogmatische Verständnis des Zusammenspiels zwischen Vertragsrecht, Wettbewerbsrecht und Regulierungsrecht zu erleichtern, wollen wir uns zunächst einen Überblick über funktionelle Verknüpfungen verschaffen. So hat sich das Wettbewerbsrecht in den letzten Jahrzehnten zu einer ökonomisch fundierten Spezialmaterie mit eigenem Fachvokabular entwickelt, in der sich der „allgemeine Privatrechtler“ nicht mehr so recht zu Hause fühlt. 27 Beim Regulierungsrecht ist eine noch stärkere Entfremdung vom allgemeinen Privatrecht zu beobachten, weil es eine zu vielen Missverständnissen Anlass bietende „bipolare Struktur“ zwischen Wettbewerbsorientierung und sonstiger Gemeinwohlorientierung aufweist.28 Anknüpfend an diese besondere Gemeinwohlorientierung – Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen sind nach klassisch-deutschem Verständnis der Daseinsvorsorge zuzurechnen 29 – wird das Regulierungsrecht häufig insgesamt dem öffentlichen Recht zugeordnet,30 was in Bezeichnungen wie „Recht der Regulierungsverwaltung“ zum Ausdruck kommt.31 Diese Begrifflichkeit ist einleuchtend, wenn damit die beson24 Im Folgenden werden wir neben den Begriffen „Wirtschaftswissenschaften“ und „Ökonomie“ auch denjenigen der „Ökonomik“ (als der Methode zum Gegenstand der Ökonomie) verwenden. 25 Zu den Begriffen „Institut“ und „Institution“ siehe unten Teil 1 B. I. 26 Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. IX (Vorwort). 27 Ebenso bereits Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 47. 28 Masing, Gutachten D zum 66. DJT 2006, S. 4 4; BerlKommEnR/Säcker, Bd. 1 Einl. A. Rn. 30. Paradigmatisch für die dogmatische Unsicherheit ist die Untersuchung von Ludwigs, Effizienzanforderungen, S. 191, wonach der Grundsatz des Als-ob-Wettbewerbs im Regulierungsrecht nicht greifen könne, da es sich um einen rein negativen Ansatz zur Bestimmung der Grenzen wettbewerbswidrigen Verhaltens handle, wohingegen das Regulierungsrecht positiv einen bestimmten Entgeltmaßstab vorgeben müsse. 29 Zu diesem Begriff siehe Teil 1 A. IV. 30 Jüngst Ludwigs, Effizienzanforderungen, S. 30, 115 ff. 31 So Masing, Die Verwaltung 36 (2003), 1; ders., Gutachten D zum 66. DJT 2006, S. 39 und
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Aufgabenstellung
deren rechtlichen Bindungen und verfahrensmäßigen Vorgaben adressiert werden sollen, die für die Durchsetzung des Regulierungsrechts durch spezifische Fachbehörden bestehen.32 Dasselbe gilt für den überindividuell-objektiven Zwecken verpflichteten Teil des Gesamtkomplexes „Regulierungsrecht“, wie der Schutz von Umwelt und Klima durch das Recht der erneuerbaren Energien auch „gegen den Markt“.33 Zu diskutieren ist seine Zuordnung zum öffentlichen Recht demgegenüber für Bereiche mit wettbewerbsfördernder Zielsetzung wie die klassische Netzzugangs-, Netzentgelt- und Netzentflechtungsregulierung, die auf besonders von Vermachtung betroffenen Märkten einen Wettbewerbsprozess imitieren und dauerhaft sichern soll, um so die Funktionsbedingungen für eine chancengleiche Selbstbestimmung von Wettbewerbern und Verbrauchern herzustellen.
öfter; Trute/Broemel, ZHR 170 (2006), 706, 707; Ruffert, AöR 124 (1999), 237, 244 ff.; Säcker/ Becherer/Mielke, § 37 TKG Rn. 1: es handle sich beim Telekommunikationsrecht um einen „Sondertypus des öffentlichen Rechts“. 32 Ebenso Knauff, VerwArch 98 (2007), 382, 383 f.; v. Danwitz, DÖV 2004, 977, 980. 33 Sehr kritisch die Monopolkommission, Sondergutachten 65.
Teil 1
Einleitung A. Die Privatrechtsordnung zwischen dem Schutz der individuellen Selbstbestimmung und der Beförderung von Gemeinwohlinteressen I. Individuelle Selbstbestimmung als Grundidee der Privatrechtsordnung Auf der Basis der Entscheidung für die rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit der Bürger sowie für die Möglichkeit zur selbstbestimmten Wahl von Handlungszielen unter Einschluss der zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Mittel hat das die Selbstbestimmung der Individuen sichernde Bürgerliche Recht in Deutschland auch eine gesellschaftsprägende Funktion.1 Franz Böhm hat diesen Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Gemeinwohlorientierung mit dem Begriff der „Privatrechtsgesellschaft“ umschrieben. 2 Hierin kommt beispielhaft der grundlegende Konflikt zwischen „autonomer Selbstgestaltung“ und „heteronomer Bindung“ zum Ausdruck, der das gesamte Privatrecht durchzieht.3 1. Das Prinzip der Selbstbestimmung Wesentliche Prinzipien aller modernen Privatrechtsordnungen sind die rechtlich geschützte persönliche Selbstbestimmung („Privatautonomie“) 4 und korrespondierend die Verantwortung für das eigene Handeln und dessen Folgen
1 Canaris, in: FS Lerche, 1993, S. 873, 874; MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 36. Die – zutreffende – Erkenntnis von der gesellschaftsprägenden Funktion des Privatrechts gab Kritikern eines freiheitlichen Verständnisses von Privat- und Wirtschaftsrecht einen ungewollten „Angriffspunkt“, indem sie durch Uminterpretation der Begrifflichkeiten zu einem diametral entgegengesetzten „aufsichtsrechtlichen“, „gemeinwohlinduzierten“ Verständnis gelangten; vgl. Nörr, in: FS Link, 2003, S. 911, 917. 2 Böhm, ORDO 1966 (17), 75 ff.; siehe dazu auch den von Riesenhuber herausgegebenen Tagungsband zur „Privatrechtsgesellschaft“ aus dem Jahr 2007. Ausführlich Teil 4. D. I. 4. f). 3 Adomeit, in: FS Kelsen, 1971, S. 9 ff. 4 Siehe zur Selbstbestimmung als „zivilistischem Leitbild“ Bachmann, Private Ordnung, 193 ff., 223; Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 147.
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Teil 1: Einleitung
(„Selbstverantwortung“5). 6 Mit dieser Feststellung wird freilich noch keine Aussage darüber getroffen, weshalb das Zivilrecht der individuellen Selbstbestimmung einen derart zentralen Platz zuweist, worin mit anderen Worten die „innere Kraft“ liegt, die der Idee „Selbstbestimmung“ zugrunde liegt.7 Dies ist keineswegs so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, werden doch den Begriffen „Selbstbestimmung“ bzw. „Autonomie“8 sehr unterschiedliche Inhalte zugeschrieben, was in jüngerer Zeit durch mehrere Forschungsarbeiten nachgewiesen wurde.9 Für eine Untersuchung des Verhältnisses von Vertragsrecht und Wettbewerbsrecht (inklusive dessen sektorspezifischer Ausprägung der wettbewerbsfördernden Regulierung der Netzwirtschaften) ist besonders interessant, ob diese Rechtsgebiete, soweit sie sich überschneiden, auf denselben Prinzipien und darauf aufbauend auf vergleichbaren Schutzmodellen beruhen. Während der zweitgenannte Aspekt einem späteren Teil der Untersuchung vorbehalten bleibt, wollen wir uns nachfolgend zwei zentrale Geltungsgründe des Selbstbestimmungsprinzips vor Augen führen, da diese sowohl für das zutreffende Verständnis eines freiheitlichen Privatrechts als auch eines Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen relevant sind.10 Dabei ist zwischen ethischen und ökonomischen (utilitaristischen) Ansätzen zu differenzieren, wie sie paradigmatisch in den ideal-perfektionistischen Autonomiebegriffen von Immanuel Kant und John Stuart Mill zum Ausdruck kommen.11 Für Kant gründete die Autonomie des Individuums in eigenen Angelegenheiten in der ethischen Einsicht, dass der Mensch sich auf der Grundlage seines freien Willens ein moralisches Gesetz geben und danach handeln könne.12 Im Mittelpunkt seines Autonomiekonzepts stand somit die Unabhängigkeit des in5 Zum Grundsatz der Selbstverantwortung vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 279; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 77 ff.; Leistner, Richtiger Vertrag, S. 178; Schulze, Die Naturalobligation, S. 359 ff.; MünchKommBGB/Roth/Schubert, § 242 BGB Rn. 463; speziell zum Anfechtungsrecht MünchKommBGB/Armbrüster, § 121 BGB Rn. 1. Ausführlich die Beiträge in Riesenhuber (Hrsg.), Selbstverantwortung. 6 Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 24 f. 7 Bachmann, Private Ordnung, S. 174. 8 Der aus dem Griechischen stammende Begriff Autonomie bedeutet Selbstgesetzgebung im Sinne einer Freiheit vor Fremdbestimmung (der Heteronomie), vgl. Brugger, Philosophisches Wörterbuch, Stichwort: Autonomie. 9 Siehe – auch zum Folgenden – Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 5 ff.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 65 ff.; Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 13 ff.; Bachmann, Private Ordnung, S. 174 ff. 10 Im Zuge der versuchten „Rekonstruktion“ des Wirtschafts- und Arbeitsrechts in den 1970er und 1980er Jahren wurde diesen philosophischen Ansätzen die Legitimation zur Erklärung des geltenden Rechts abgesprochen; siehe Wiethölter, JbRSoz 8 (1982), 38, 44. Diese Ansicht basierte freilich auf der primär rechtspolitischen Intention einer „Wende zur gesellschaftlichen Praxis“, weniger auf einer Analyse des Rechtsrahmens und seiner Geltungsgründe. 11 Vgl. zur „Autonomie als Idealkonzept“ Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 6 ff. 12 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 33 ff.; vgl. dazu Ohly, „Volenti non fit
A. Individuelle Selbstbestimmung und Gemeinwohl
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dividuellen Willens von äußeren Einflüssen.13 Als obersten moralischen Grundsatz für die ethisch-individualistische Selbstgesetzgebung hat Kant den sog. kategorischen Imperativ formuliert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“.14 Da die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung für Kant „Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“15 ist, ergibt sich aus dem kategorischen Imperativ zugleich die Forderung, der Mensch sei ein „Zweck an sich selbst“,16 weshalb er auch jeden anderen Menschen als Zweck, nicht als Mittel behandeln müsse.17 Auf juristische Fragestellungen angewandt folgt hieraus die berühmte Defini tion des Rechts als „Inbegriff der Bedingungen [. . .], unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.18 Aus der Anerkennung der privaten Autonomie des Menschen als vernunftbegabtem Wesen folgt für Kant also – dies ist für unsere Untersuchung zentral – keine grenzenlose Freiheit des Einzelnen, sondern die Einsicht in eine innere Beschränkung individueller Autonomie im Verhältnis zu gleichgeordneten Personen durch deren Autonomie.19 Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Kant, wenn auch auf anderem Begründungsweg, kommt John Stuart Mill. Dieser will die individuelle Freiheit ebenfalls vor staatlichem Zwang und gesellschaftlichen Konventionen schützen. Demgemäß dürfe die individuelle Freiheit grundsätzlich nur zum Schutz anderer Individuen beschränkt werden.20 Mill wendet sich damit (für seine Zeit re-
iniuria“, S. 67; Höffe/ders., Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 10 ff.; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 120, 136 f., 142. 13 Ebenso Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 61; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 67. 14 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 51; siehe zu Schwächen dieser Konzeption Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie II, S. 98 ff. 15 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 69. 16 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 63 f. 17 Kant hat damit ein Denken vorbereitet, das einen staatlichen Schutz der Würde des Menschen ermöglichte; vgl. dazu sowie zur Geltung dieser Konzeption in einer pluralistischen Gesellschaft von Münch/Kunig/Kunig, Art. 1 GG Rn. 19 f. a. E. und 20. 18 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 337; dazu schon Raiser, JZ 1958, 1, 2. Das Recht war hiernach von der „Moral“ als Bündelung derjenigen inneren „ethischen“ Pflichten zu unterscheiden, die den menschlichen Handlungen keine Gesetze, sondern nur Maximen vorgeben; vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 352 f.; Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie II, S. 100. 19 Popper, Offene Gesellschaft II, S. 54 f.: Das „Paradoxon der Freiheit [. . .] wurde von Kant gelöst; er forderte die Einschränkung der Freiheit jedes einzelnen, aber nicht in einem höheren Grade, als notwendig ist, um ein gleiches Ausmaß an Freiheit für alle zu sichern.“ Siehe auch Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 4 4 mit Fn. 45; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 72 f. Nach Renner (Zwingendes transnationales Recht, S. 32) ist diese Begründung in der geltenden Wirtschaftsordnung durch (wirtschafts-)verfassungsrechtliche Erwägungen zu ersetzen. 20 Mill, Über die Freiheit, S. 102 ff.
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Teil 1: Einleitung
volutionär) gegen paternalistische staatliche Schutzkonzepte.21 Anders als Kant begründet er die Selbstbestimmung aber nicht nur freiheitlich, sondern auch utilitaristisch: 22 Die Freiheit des Individuums resultiere zum einen aus der Würde des Menschen, die untrennbar mit dessen Individualität verknüpft sei. Zum anderen führe die Gewährleistung individueller Freiheit zu einer Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Auch heute noch wird der individuellen Autonomie zuweilen eine eher instrumentelle Bedeutung für das ökonomische Ziel der Herstellung effizienter (Markt-)Ergebnisse zugesprochen, neben anderen Voraussetzungen wie eine stabile Marktordnung.23 Horst Eidenmüller verweist zur Illustration auf die rechtliche Gewährung von Vertragsfreiheit: 24 Individuen schlössen nur dann einen Vertrag, wenn sie sich beide subjektiv einen Vorteil von der Transaktion versprächen, wenn sie also auf der Grundlage ihrer eigenen Präferenzen – die sich von denjenigen anderer Menschen unterscheiden könnten – davon ausgingen, dass sie hinterher besser dastünden als vorher. Würde nun die Vertragsfreiheit mit der Begründung begrenzt, die Individuen hätten die „falschen“ Präferenzen, unterbliebe dadurch eine potenziell pareto-superiore, da für alle Vertragsparteien vorteilhafte Transaktion. Wir werden auf das Pareto-Kriterium noch mehrfach zurückkommen. Die utilitaristische Begründung der individuellen Autonomie war für die Entwicklung der modernen Ökonomie von großer Bedeutung.25 Nach dem Grundsatz der Präferenzautonomie soll jeder selbst über die für ihn vorteilhafte individuelle Ordnung entscheiden.26 Die Präferenzautonomie hat somit – sofern sie nicht nur als Modellannahme verwandt wird, sondern auch als normativer Maßstab dienen soll – eine freiheitssichernde und freiheitsverbürgende Bedeutung,27 wobei die individuelle Freiheit ihre Grenzen in der Wettbewerbsund Vertragsrechtsordnung findet, die der Selbstbestimmung aller Bürger verpflichtet ist.28 Schon aus diesem Grunde kann ein (normativ verstandener) Grundsatz der Präferenzautonomie nicht unbegrenzt gelten, 29 indem die individuelle Freiheit dazu benutzt wird, die Freiheit eines anderen faktisch aufzuheben (sog. Freiheitsparadoxon 30). Eidenmüller spricht erläuternd von „negativen 21
Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 68. Mill, Über die Freiheit, S. 76 ff. Siehe auch Eidenmüller, Effizienz, S. 329 ff.; insoweit a. A. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 69 mit Fn. 35, der allein eine utilitaristische Begründung zu erkennen vermag. 23 Siehe Eidenmüller, Effizienz, S. 333. 24 Nochmals Eidenmüller, Effizienz, S. 333. 25 Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 69, der aber nur den normativen Aspekt hervorhebt. 26 Vgl. Bachmann, Private Ordnung, S. 175. 27 Eidenmüller, Effizienz, S. 332. 28 Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 4 4 mit Fn. 45. 29 Zum kategorischen Imperativ Kants vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 420 ff.; Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie II, S. 98 ff.; siehe zur Präferenzautonomie an dieser Stelle nur Eidenmüller, Effizienz, S. 335 ff.; Bachmann, Private Ordnung, S. 175 f. 30 Eucken, ORDO 2 (1949), 1, 7; Fikentscher, Die Freiheit und ihr Paradox, 1997; siehe 22
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externen Präferenzen“, die sich auf die (qua Wertentscheidung) unantastbaren Freiheitsbereiche anderer beziehen.31 Im Schrifttum wird zur Erklärung dieser stark marktliberalen Sicht auch auf die vertragstheoretischen Gesellschaftsmodelle von Thomas Hobbes und John Locke verwiesen,32 wobei diese Modelle aber primär anderen Zwecken dienen sollten und deshalb vorliegend nicht näher beleuchtet werden.33 So einleuchtend die theoretische Erkenntnis von der inneren Beschränkung individueller Freiheitsrechte durch die Freiheitsbereiche anderer Menschen sein mag, so schwierig ist ihre praktische Umsetzung. Sie zwingt nämlich dazu, die Freiheitsbereiche der Individuen bei einer Kollision gegeneinander abzugrenzen. Es ist mit anderen Worten zu entscheiden, unter welchen konkreten Voraussetzungen eine Freiheit ihre immanente Schranke durch die Freiheitsrechte anderer Personen findet.34 Hier kommt man nicht ohne Wertungen aus, die sich aus dem Konzept der Selbstbestimmung nicht ableiten lassen.35 Die Einschränkung der Selbstbestimmung einer Person kann vielmehr je nach zu regelndem Konflikt auf emotional-intuitive Sachverhalte („Werte“), auf utilitaristische Beweggründe oder auch auf (selbst-)paternalistische Gesichtspunkte gestützt werden.36 Im wirtschaftlichen Bereich ist insbesondere die geltende Wirtschaftsverfassung entscheidend. Bereits die vorstehende, skizzenhafte Schilderung zweier wirkungsmächtiger philosophischer Konzepte der Selbstbestimmung hat gezeigt, dass die rechtliche Zuerkennung privater Autonomie nicht die Funktion haben kann, die individuellen Interessen möglichst grenzenlos zur Geltung zu bringen.37 Sie soll vielmehr dazu dienen, die Entfaltung der eigenen Bedürfnisse und Interessen zu legitimieren, ohne die gleichen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten anderer Personen substantiell zu behindern.38 Gerade auf die Freiheitsphilosophie Kants auch Baudenbacher, ZHR 144 (1980), 145, 154; Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 212; Keßler, WRP 1990, 73, 78; Eppe, WRP 2005, 808, 810; Möslein, Dispositives Recht, S. 170; Fornasier, Freier Markt, S. 16 f. Zum Paradoxon der Freiheit in der Staatstheorie vgl. Popper, Offene Gesellschaft I, S. 147 f.; ders., Offene Gesellschaft II, S. 54 f. 31 Eidenmüller, Effizienz, S. 335 f.; Bachmann, Private Ordnung, S. 104. 32 Vgl. Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 37. 33 Vgl. Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie II, S. 43 ff. (zu Hobbes) und S. 63 ff. (zu Locke). 34 Wilhelmi, Risikoschutz durch Privatrecht, 13 ff.; siehe zum Deliktsrecht auch Mohr, Jura 2013, 567 ff. 35 Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie II, S. 99 f.; zur Nichtberücksichtigung von „bösartigen“ externen Präferenzen qua Werturteil („normativ“) Bachmann, Private Ordnung, S. 175 mit Fn. 9 ; zum Wettbewerbsrecht vgl. von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 9 05, 954. 36 Bachmann, Private Ordnung, S. 177. 37 Pointiert zum Privatrecht Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 49: subjektive Rechte seien „keine Kriegswaffen“; zur entsprechenden Kritik Otto von Gierkes am BGB des Jahres 1900 siehe unter Teil 3 B. I. 3. 38 Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 50. Im wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen
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Teil 1: Einleitung
beriefen sich in Deutschland ab dem 19. Jahrhundert jedoch auch Vertreter eines extremen Individualismus, um eine weitgehend schrankenlose Autarkie der Individuen im wirtschaftlichen Bereich zu begründen. Sie rekurrierten dabei nicht so sehr auf den „kategorischen Imperativ“ als vielmehr auf die Aussage, der Mensch dürfe nicht als Mittel missbraucht werden, er sei ein „Zweck an sich selbst“. Auf dieser Grundlage wurde ein Menschen(leit-)bild entwickelt, das diesen durchweg als selbstständig, vernünftig und eigenverantwortlich beschreibt, weshalb er über das Zur-Verfügung-Stellen eines allgemeinen Rahmens für marktliche Transaktionen hinaus keiner staatlichen Hilfestellung zur chancengleichen Entfaltung seiner wirtschaftlichen Freiheiten benötige.39 Menschen seien nach außen abgeschlossene Einzelwesen, deren Verhältnis zu ihren Mitmenschen auf natürliche Weise in eine harmonische Balance gerate.40 Theoretisch untermauert wurde diese These durch die liberale Wettbewerbstheorie Adam Smiths, wonach wettbewerblich strukturierte Märkte wie von einer „unsichtbaren Hand geleitet“ bestmöglich zum Wohlstand der Gesamtgesellschaft beitragen.41 Der Wettbewerb wurde dabei im Sinne Smiths als staatlich unreglementierter Prozess ohne künstliche Schranken wie Zünfte verstanden. Wir werden hierauf in Zusammenhang mit der Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 zurückkommen, in dem die vorbenannte Sichtweise deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Mit Karl-Nikolaus Pfeifer lässt sich festhalten, dass der ethische Individualismus Kants am Ende des absolutistischen Zeitalters und zu Beginn der Industrialisierung eine „den Eigennutz betonende Schlagseite“ erhalten hat, „die insbesondere den Interessen des wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertums dienlich war“; denn eine Gleichheit der Chancen führt nicht notwendig auch zu gleich guten Ergebnissen, wenn die Individuen von ungleichen tatsächlichen Voraussetzungen ausgehen.42 Aus heutiger Sicht ist deshalb offenkundig, dass eine rechtlich gewährleistete Chancengleichheit nicht immer ausreicht, um beim Abschluss von Verträgen die Chance auf einen beiderseitig angemessenen Interessenausgleich zu gewährleisten, wenn einzelne Individuen aufgrund tatsächlicher Umstände über eine signifikant größere (wirtschaftliche) Macht verfügen als andere. In diesen Fällen kann sich die Rechtsordnung nicht darauf zurückziehen, allein für die notwendige Offenheit der Märkte zu sorgen (im Sinne rechtlich-formaler Chancengleichheit), sondern muss das Verhalten der marktmächtigen Rechtssubjekte im Einzelfall einer inhaltlichen Kontrolle anhand der Unternehmen folgt hieraus u. a. das wettbewerbsrechtliche Konzept des Verbots eines Behinderungsmissbrauchs; vgl. dazu in Abgrenzung zum Ausbeutungsmissbrauch Teil 5 C. III. 39 Nachweise bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 482. 40 So die Bewertung Pfeifers, Individualität im Zivilrecht, S. 36 f. 41 Siehe in Teil 4 C. II. 42 Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 37; soweit Pfeifer darauf abstellt, dass diese Sichtweise aus utilitaristischen Theorien abgeleitet werden könne, ist dies jedoch zweifelhaft.
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Grundprinzipien der Wirtschaftsordnung unterziehen. Welches diese Grundprinzipien sind, ist Gegenstand der unterschiedlichsten (Wettbewerbs-)Theo rien. Folglich werden auch die Ziele und die konkreten Voraussetzungen einer Inhaltskontrolle unterschiedlich begründet. In jüngerer Zeit hat John Rawls43 versucht, die von ihm als solche erkannten Schwächen liberaler Modelle, die jedenfalls nach der geschichtlichen Erfahrung ein individuell egoistisches, auf „negative externe Effekte“44 abzielendes Verhalten begünstigt haben, durch eine Anreicherung mit materialen Gerechtigkeits aspekten zu beheben. Sein Konzept der Gerechtigkeit geht von einer fairen gleichen Ausgangssituation der Individuen aus, die von natürlichen oder gesellschaftlichen Zufällen abstrahiert, da die Ausgangslage von den Individuen selbst durch „Gesellschaftsvertrag“ unter einem „Schleier der Unwissenheit“ bestimmt werde.45 Höchster gesellschaftlicher Wert sei deshalb der Grundsatz gleicher Rechte, Freiheiten und Chancen, wobei Ungleichheiten insoweit zugelassen werden, als sie zur Beseitigung von starken Unterprivilegierungen erforderlich seien.46 Über diese Gewährleistungen hinaus gebe die Gesellschaft den Individuen keine Ziele vor, es existiere kein allgemein gültiges Prinzip des „Guten“. Vielmehr ermögliche der Staat seinen Bürgern, ihre eigenen Ziele zu bilden und zu verwirklichen. Durch die Bindung an Gerechtigkeitserwägungen wird der Mensch bei Rawls also nicht nur als individueller Nutzenmaximierer betrachtet, sondern er ist durch seinen freiwilligen Beitritt zur Gesellschaft zu einem „sozialen Wesen“ geworden.47 Die Grundaussagen von Rawls48 sind heute ein zentraler Bestandteil des Konzepts eines „normativen Individualismus“, wie er etwa von der Ordnungsökonomik in Tradition des deutschen Ordoliberalismus vertreten wird.49 Sie finden aber auch in den Grundrechten eine Stütze, soweit diese einerseits verhindern, dass der Einzelne einer vagen Gemeinschaftsethik unterworfen wird, und andererseits seine Einbindung in ein soziales Gefüge bekräftigen (paradigmatisch: Art. 14 Abs. 1 und 2 GG). Leitbild des Grundgesetzes ist mit dem BVerfG nicht das selbstherrliche, sondern das gemeinschaftlich gebundene ei43 Rawls, A Theory of Justice; die Theorie wurde neu formuliert und erweitert in dem Werk Justice as Fairness. 44 In der Ökonomie sind externe Effekte Einwirkungen einer Wirtschaftseinheit auf eine andere, die nicht über den Markt erfolgen. Standardbeispiel ist die Umweltverschmutzung, vgl. Bartling, Leitbilder der Wettbewerbspolitik, S. 16 f.; Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 53. 45 Rawls, A Theory of Justice, S. 136 ff.: „Veil of ignorance“. 46 Rawls, A Theory of Justice, S. 83 ff. und 95 ff. 47 So die überzeugende Bewertung von Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 39. 48 Rawls selbst hat seine Theorien in Auseinandersetzung mit Kritik und neuen Erkenntnissen laufend angepasst und in spezifischen Ausprägungen auch verändert. 49 Vgl. Homann/Kirchner, JNPÖ 1995, 189 mit Fn. 3 und 197; Kirchner, in: FS Ingo Schmidt, 1997, S. 39, 42.
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genständige Individuum.50 Diese Formel bringt zum Ausdruck, dass sich das Individuum in einer freiheitlichen Werteordnung weder einem Kollektiv unterordnen muss, noch in seinem Bestreben geschützt wird, sich als Person über andere zu stellen, indem es seine individuellen Freiheiten unangemessen („unbillig“, „systemwidrig“) zu Lasten der Freiheitsbereiche anderer ausübt.51 Der Mensch ist vielmehr auf Gemeinschaft mit anderen Individuen angewiesen und gelangt oftmals nur durch diese zur vollen Entfaltung seiner Anlagen.52 Dies zeigt sich besonders deutlich in einer arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung, wo sich der Verkehr und Erwerb von Gütern und Dienstleistungen regelmäßig durch Austauschverträge vollzieht.53 Auch innovative Tätigkeiten entfalten sich regelmäßig erst in Zusammenwirken mit anderen Personen, deren Erfahrungen und Einsichten der Einzelne übernehmen und weiterentwickeln kann.54 2. Privatautonomie als Ausprägung des Prinzips der Selbstbestimmung Die Selbstbestimmung ist im Privatrecht somit nicht nur ein willkürlich gesetztes Rechtsprinzip, sondern bildet über den Grundsatz der Privatautonomie einen wesentlichen, in Deutschland im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen auch verfassungsrechtlich gesicherten Bestandteil einer freiheitlichen und so zialen Grundordnung; 55 denn Selbstbestimmung und Präferenzautonomie hängen untrennbar mit der Würde des Menschen und seiner Personalität zusammen.56 Zugleich unterliegt die Selbstbestimmung faktisch und normativ Restriktionen, die aus der Einbindung des Individuums in die staatliche Gemeinschaft resultieren. Worin diese Bindungen im Ausgangspunkt begründet sind, in einem überindividuell-entindividualisierten Gemeinwohl oder in einem chancengleichen und fairen Miteinander gleichberechtigter Rechtssubjekte,57 wird uns noch beschäftigen. Die Privatautonomie räumt den Bürgern die Befugnis ein, ihre Rechtsverhältnisse grundsätzlich nach dem eigenen Willen zu gestalten.58 Die mit ihr gewährte positive private Gestaltungsmacht wird ergänzt durch einen verhaltens50 BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7, 15 – Investitionshilfe; BVerfG v. 23.5.1980 – 2 BvR 854/79, BVerfGE 54, 143, 146 – Taubenfütterungsverbot. 51 Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 4 4. 52 Zippelius, Einführung in das Recht, 3. Aufl. 2000, S. 1 ff. 53 Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. 54 Zur Philosophie Thomas von Aquins siehe Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 66. Zum Markt als Mittel zur Generierung von Wissen, das ansonsten verstreut und damit unentdeckt bliebe, vgl. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, S. 49 ff. 55 Thüsing, RdA 2005, 257, 258; siehe noch Teil 2 E. 56 Eidenmüller, Effizienz, S. 332; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 70. 57 Paradigmatisch Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 4 4 (Gemeinwohl) und S. 47 (konkretisiert als „Miteinander gleichberechtigter Subjekte“). 58 Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 18.
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bezogenen Freiraum als Schutz vor Folgenzurechnung und Haftung,59 wie er sich besonders deutlich im klassisch-deliktsrechtlichen Grundsatz einer Haftung nur für rechtswidrige und verschuldete Verletzungen geschützter Rechtsgüter und Rechte Bahn gebrochen hat. 60 Die Privatautonomie konstituiert sich in spezifischen Wirkbereichen wie der Vertragsfreiheit, 61 der Eigentumsfreiheit, der Testierfreiheit und der Vereinigungsfreiheit. 62 In der vorliegenden Untersuchung wollen wir uns vor allem mit dem „vollentgeltlichen schuldrechtlichen Austauschvertrag“ als Kern des „wirtschaftsbezogenen Vertragsrechts“ und damit zusammenhängend mit der „wirtschaftlichen Vertragsfreiheit“ befassen. 63 Diese ist in einer arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung das wichtigste Mittel, um die eigenen Interessen zu verwirklichen. Sie enthält neben der Abänderungsund Aufhebungsfreiheit sowie der Formfreiheit die Freiheiten des Abschlusses oder Nichtabschlusses sowie der Gestaltung von privatrechtlichen Verträgen. 64 Die in § 241 Abs. 1 BGB angelegte Vertragsgestaltungsfreiheit (Inhaltsfreiheit) ist neben der Vertragsbegründungsfreiheit (Abschlussfreiheit) die praktisch wichtigste Ausübungsform der Vertragsfreiheit. 65 So wäre die Vertragsfreiheit allein mit der Gewährleistung der Vertragsbegründungsfreiheit nur unvollständig verbürgt, da es den Vertragsparteien nicht primär auf die Eingehung irgendeiner rechtlichen Bindung ankommt, sondern auf die damit bezweckte Verwirklichung ihrer individuellen Interessen.66 Hierzu ermöglicht es die Rechtsordnung den Bürgern, auch den Inhalt von privaten Verträgen im Rahmen struktureller Normen, welche die Bedingungen des Vertragsschlusses 59 Riesenhuber/Picker,
Privatrechtsgesellschaft, S. 208, 214. die „kleine Generalklausel“ des § 823 Abs. 1 BGB; dazu Mohr, Jura 2013, 567 ff. Hierin liegt zugleich ein normativer Ausgleich zwischen den Prinzipien der Freiheit und der Selbstverantwortung, vgl. Riesenhuber/ders., Selbstverantwortung, S. 1, 3; ausführlich Riesenhuber/Schaub, ebenda, S. 281 ff. Siehe zur konstituierenden Bedeutung der Haftung für die Wettbewerbsordnung schon Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 279. 61 Diese ist gesetzlich nicht besonders normiert, wird aber u. a. von § 311 Abs. 1 BGB vorausgesetzt; vgl. MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 2. 62 Busche, Kontrahierungszwang, S. 46; Paulus/Zenker, JuS 2001, 1. 63 Böhm, WuW 1956, 173, 178; ders, ORDO 17 (1966), 75, 94 ff.; siehe auch Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 52 ff.; Mestmäcker, in: FS Böhm, 1995, S. 111, 124; Säcker, BB 1967, 681, 684; MünchKommEUWettbR/Säcker, Einl. Rn. 13. 64 Larenz, Schuldrecht-AT, unter § 4 a; Ehmann/Emmert, SAE 1997, 253, 263; Rittner, JZ 2011, 269, 270; vgl. auch Kaiser, Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung, S. 2. Korrespondierend kann sich eine Einschränkung der Vertragsfreiheit durch zwingendes Recht auf die Abschlussfreiheit (Kontrahierungszwänge), die Formfreiheit (Formzwänge) oder auf die Inhaltsfreiheit (Beschränkung der Gestaltungsspielräume der Vertragsparteien im Rahmen der ursprünglichen Festlegung oder der späteren Abänderung des Vertragsinhalts) beziehen. Vgl. Fornasier, Freier Markt, S. 19. 65 Instruktiv MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 24 ff. 66 Zu den Interdependenzen von Abschluss- und Inhaltsfreiheit im Rahmen von Kontrahierungszwängen Kilian, AcP 180 (1980), 47, 77; zum Energiewirtschaftsrecht Busche, Kontrahierungszwang, S. 609 und 612. Wir werden hierauf in Zusammenhang mit dem Regulierungsrecht zurückkommen. 60 Vgl.
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vorgeben, zusammen mit ihren Vertragspartnern grundsätzlich frei zu bestimmen. 67 Vertragslücken können durch Rückgriff auf dispositives Vertragsrecht geschlossen werden, das unter diesem Gesichtspunkt eine auf Zweckmäßigkeitserwägungen beruhende „Rechtsverkehrserleichterungsfunktion“ hat. 68 Soweit kein dispositives Recht vorhanden ist, können ungewollte Vertragslücken gem. § 157 BGB durch eine ergänzende Vertragsauslegung geschlossen werden, sofern der jeweilige Umstand zu einer gravierenden Verschiebung der Wertungsgrundlage des Vertrages führt. 69 Die ergänzende Vertragsauslegung ist insbesondere anwendbar, wenn eine Vertragsklausel außerhalb allgemeiner Geschäftsbedingungen70 nicht auf der Unvollständigkeit der Erklärungen der Parteien beruht, sondern auf ihrer Teilunwirksamkeit.71 Wie wir noch sehen werden, erfolgt die normative Interessenabwägung dabei ohne Ansehung eines intellektuellen oder wirtschaftlichen Übergewichts einer Vertragspartei; unangemessene bzw. unbillige (wettbewerbsbeschränkende) Vertragsklauseln werden durch die ergänzende Vertragsauslegung also weder perpetuiert noch verstärkt, sondern jedenfalls im Ergebnis teleologisch reduziert.72 Mit der Gestaltungsfreiheit eng verbunden ist das Regelungsprinzip der Typenfreiheit, wonach die Parteien im Schuldrecht bestehende Vertragstypen abwandeln und neue kreieren können,73 wie etwa den Franchisevertrag.74 Gleichwohl enthebt die Vertragsinhaltsfreiheit nicht von der Aufgabe, eine vertragliche Regelung einem oder mehreren Vertragstypen zuzuordnen, da zu klären ist, ob das Gesetz für Teile der Vereinbarung dispositive Vorschriften vorsieht, sofern diese von den Parteien unterschiedlich interpretiert werden.75 Auch müssen die Kriterien für eine AGB-Inhaltskontrolle ermittelt werden, da sich diese maßgeblich am dispositiven Gesetzesrecht orientieren (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB).76 67
Vgl. MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 24. Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2009, S. 507; ökonomische Begründung bei Bachmann, Private Ordnung, S. 52 und 122; die Lückenschließungsfunktion greift nur insoweit, als für eine Regelungsfrage entsprechende Auffangregelungen vorgesehen sind. 69 Säcker, in: FS Westermann, 2008, S. 617, 623 und öfter. Siehe zur umstrittenen dogmatischen Herleitung der ergänzenden Vertragsauslegung Erman/Armbrüster, § 157 BGB Rn. 15 m. w. N. 70 Dazu EuGH v. 15.3.2012 − C-453/10, NJW 2012, 1781 Rn. 30 – Pereničová und Perenič; EuGH v. 14.6.2012 − C-618/10, NJW 2012, 2257 Rn. 62 f.– Banco Español de Crédito. 71 Erman/Armbrüster, § 157 BGB Rn. 18. Insoweit kann weiterhin auf die Rechtsprechung des BGH zu allgemeinen Geschäftsbedingungen zurückgegriffen werden; vgl. BGH v. 1.2.1984 – VIII ZR 54/83, NJW 1984, 1177. 72 So Säcker, in: FS Westermann, 2008, S. 617, 636. 73 Vgl. MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 24; vgl. zur Notwendigkeit eines Vertrages zwischen den Parteien zur Begründung eines Schuldverhältnisses statt anderer Köhler, BGB-AT, § 13 Rn. 2. 74 Dazu C. Möller, AcP 203 (2003), 319 ff. 75 C. Möller, AcP 203 (2003), 319, 327. 76 Vgl. C. Möller, AcP 203 (2003), 319, 328. Zum Verhältnis von § 138 BGB und § 307 BGB siehe MünchKommBGB/Armbrüster, § 138 BGB Rn. 5. 68
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Die AGB-Inhaltskontrolle zeigt, dass dispositive Vorschriften nicht nur als Ersatzordnung fungieren, falls die Vertragsparteien nicht wirksam etwas Abweichendes vereinbart haben, sondern nach dem Willen des Gesetzgebers auch eine Leitbildfunktion („Ordnungsfunktion“) für die inhaltlich richtige Ausgestaltung von Verträgen haben können,77 womit allerdings noch keine Aussage darüber getroffen ist, was die jeweils richtige Regelung ist.78 Weitere Grenzen der Vertragsinhaltsfreiheit folgen aus den §§ 134, 138, 315 BGB für Verstöße gegen zwingendes Recht, die guten Sitten oder bei einer unbilligen Ausübung einseitiger Vertragsgestaltungsräume.79 Die Vertragsfreiheit wird ergänzt durch den ungeschriebenen Grundsatz der vertraglichen Bindungswirkung („pacta sunt servanda“) 80 als spezifischem Ausdruck des Selbstveranwortungsgrundsatzes, 81 da Verträge die ihnen zugedachte Aufgabe, eine stabile Ordnung zu gewährleisten, nur erfüllen können, wenn sie auch rechtlich verbindlich sind.82 Die dogmatische Begründung der Einschränkung der Privatautonomie durch die Bindung an rechtsgeschäftliche Erklärungen (das gegebene Wort83) ist streitig: Während einige sie aus den Erfordernissen des Verkehrs- und Vertrauensschutzes, also aus übergeordneten Gemeinwohlerwägungen ableiten wollen, 84 stellen andere auf die Kompetenz zur Ingeltungsetzung von Rechtsfolgen nur in Übereinstimmung mit dem Vertragspartner, also auf eine immanente Begrenzung der Vertragsfreiheit ab. 85 Dieser Streit lässt sich letztlich auf den Umstand zurückführen, dass das Institut des Austauschvertrages mit den Prinzipien der Selbstbestimmung und der vertraglichen Bindung auf einem immanenten Widerspruch basiert; denn der Vertrag dient nicht nur der Verwirklichung der individuellen Selbstbestimmung, sondern trägt auch zu deren Beschränkung im Wege der Selbstbindung bei. 86 77 MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 26. Der Begriff „Leitbild“ geht der Sache nach zurück auf Raiser, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 293 f. Ausführlich zur „Leitbildfunktion“ des dispositiven Rechts Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2009, S. 3, 212 ff. und öfter. 78 So Bachmann, Private Ordnung, S. 122. 79 Vgl. MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 24 f. 80 Vgl. Bachmann, JZ 2008, 11. 81 Riesenhuber/ders., Selbstverantwortung, S. 1, 9; ausführlich Ohly, „Volenti non fit iniuria“, S. 77 ff. 82 Vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 279; Leistner, Richtiger Vertrag, S. 178. 83 Bachmann, Private Ordnung, S. 57. 84 Vgl. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen, S. 66 ff.; siehe auch Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 29 f.; Stathopoulos, AcP 194 (1994), 543, 545 zum antiken griechischen Recht. 85 Vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 279; Thüsing, RdA 2005, 257, 259; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, S. 57: die Selbstbindung durch rechtsgeschäftliche Geltungserklärungen sei ein wesensnotwendiges Element der Selbstbestimmung. 86 Vgl. Rittner, AcP 188 (1988), 101, 127; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 279; Leistner, Richtiger Vertrag, S. 182; MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 12.
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Im vorstehend geschilderten Verhältnis von Selbstbestimmung und Selbstbindung offenbart sich beispielhaft der fundamentale Gegensatz zwischen rechtlich-formaler und faktisch-materialer Freiheit („Privatautonomie“), der die gesamte (Privat-)Rechtsordnung durchzieht. Flume hat diesen Gegensatz mit der Formulierung umschrieben, es sei „das ewige Dilemma der Privatautonomie, dass diese immer wieder durch ungleiche Machtverteilung infrage gestellt“ werde.87 Aus diesem Grunde muss die Rechtsordnung in Konkretisierung ihrer Wirtschaftsverfassung entscheiden, welche Beeinträchtigungen der Entscheidungsfreiheit bei wertender Betrachtung so gravierend sind, dass sie Einfluss auf die Gültigkeit vertraglicher Regelungen haben sollen. 88 Hierauf werden wir in Zusammenhang mit den Theorien des Vertrages zurückkommen.
II. Unterscheidung zwischen Vertragsfreiheit, Vertragsgerechtigkeit und Sozialmodellen Wie wir gesehen haben, rezipiert die Rechtsordnung die Idee individueller Selbstbestimmung durch den Grundsatz der Privatautonomie. In einer arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung vollzieht sich der Erwerb von Gütern freilich nicht durch eigene Arbeit, sondern durch den Abschluss von Austauschverträgen mit anderen. Dies begründet die Notwendigkeit, mehrere individuelle Freiheiten miteinander auszugleichen. In diesem Zusammenhang gilt es zu unterscheiden zwischen der rechtlich gewährleisteten Vertragsfreiheit, dem ethischen Postulat der Vertragsgerechtigkeit und dem politisch wirksamen Sozialmodell. 1. Formale und materiale Konzeptionen der Vertragsfreiheit Wie wir gesehen haben, bezieht sich die Vertragsfreiheit auf die Möglichkeit, die eigenen Rechtsverhältnisse selbstbestimmt zu gestalten. 89 Damit ist allerdings noch keine Aussage darüber getroffen, welche konkreten Voraussetzungen und Grenzen der Freiheit zum Abschluss und zur inhaltlichen Gestaltung von Verträgen zu setzen sind, um Individuen die Chance zu geben, ihre Präferenzen eigenbestimmt in den Verhandlungsprozess einzubringen und nicht von rechtlich oder faktisch nachteiligen Vertragswirkungen belastet zu werden, die nicht auf ihrer selbstbestimmten Entscheidung beruhen.90 Ebenso wie im Rahmen anderer Rechtsinstitute wie des Verbots unlauteren Wettbewerbs gem. § 3 Abs. 1 UWG91 und des in Art. 101 AEUV bzw. in den §§ 1 bis 3 GWB geregelten Kar87
Flume, in: FS Deutscher Juristentag, 1960, S. 135, 145. Zöllner, AcP 196 (1996), 24 f. und 28. Vgl. zur Verbindung von Wirtschaftsverfassung und Privatrechtsdogmatik Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 546. 89 Bork, BGB-AT, Rn. 660. 90 So generell auch Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 28. 91 Ausführlich Sosnitza, Wettbewerbsbeschränkungen durch die Rechtsprechung, S. 234 88 So
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tellverbots92 zeigt sich vielmehr ein Spannungsverhältnis zwischen formalen und materialen Grundkonzeptionen.93 In einer ersten Annäherung bezieht sich die formale Vertragsfreiheit auf die rechtliche Kompetenz zum eigenbestimmten Vertragsschluss, während die materiale Vertragsfreiheit das Ausmaß der tatsächlich freien, unbeeinflussten Entscheidungsfreiheit betrifft. Beide Freiheitsbegriffe stehen aber nicht beziehungslos nebeneinander; denn selbst wenn man ein formales Verständnis der Freiheit in den Vordergrund rückte, offenbarte sich das Dilemma, dass die Vertragsfreiheit von tatsächlichen Voraussetzungen abhängt, die sie nicht allein schaffen kann.94 Beschränkungen der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit können auf verschiedenen Ursachen beruhen, die deshalb auch einer differenzierten Betrachtung bedürfen: 95 So kann bereits die Freiwilligkeit der Entscheidung beeinträchtigt sein, sei es durch psychologischen Druck oder durch wettbewerbs widrige Marktstrukturen und Verhaltensweisen („wirtschaftliche Macht“). Darüber hinaus kann zwischen den Parteien ein Informationsgefälle bestehen, weshalb es der besser informierten Partei gelingt, mit der schlechter informierten Partei einen für diese nachteiligen Vertrag abzuschließen. Schließlich kann ein Vertragsschluss auch auf einer fehlerhaften Einschätzung einer Vertragspartei über die eigenen Präferenzen, ihre eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder die Nützlichkeit von Investitionen beruhen.96 Die Rechtsordnung greift die beschriebenen Hindernisse in dieser Allgemeinheit nicht auf.97 Vielmehr sind die einzelnen Rechtsbereiche von teilweise divergierenden Konzepten einer Kompensation tatsächlicher Ungleichgewichte gekennzeichnet. Diese Konzepte hängen auch mit den jeweils befürworteten gesellschaftstheoretischen und ökonomischen Ordnungsmodellen zusammen. 2. Vertragsgerechtigkeit Die Vertragsgerechtigkeit bezieht sich auf das Problem des normativ angemessenen („richtigen“) vertraglichen Interessenausgleichs.98 Sie bildet damit eine und öfter, wonach private Verbandsempfehlungen im Lauterkeitsrecht auch dem Zweck dienten, den Normgeber im Wege der „Öffentlichkeitsarbeit“ unter Berufung auf vermeintlich wichtige Rechtsgüter zu einer „Außenseiterbekämpfung“ zu bewegen; nachdrücklich Säcker, WRP 2004, 1199, 1222. 92 Dazu Reuter, AcP 189 (1989), 199, 216. 93 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 276 und öfter. 94 So Möslein/Renner, Private Macht, unter II. 95 Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191, 1204; Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 10 f. 96 Siehe zum ökonomischen Prinzip der „begrenzten Rationalität“ van Aaken, in: Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 112 ff. 97 Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 11. 98 Barnert, Formelle Vertragsethik, S. 28 f.
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spezifische Ausprägung der noch zu schildernden Diskussion um gemeinwohlindizierte Schranken privater Freiheiten. Seit Aristoteles wird in der europäischen Rechtsphilosophie zwischen den Grundformen der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit als Vorgaben für die staatliche Normsetzung unterschieden.99 Als allgemeingültige Prinzi pien sind diese nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Rechtsordnung bedeutsam.100 Austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit unterscheiden sich vor allem nach der Verschiedenheit des Verhältnisses der Beteiligten und der Handhabung des Gleichheitssatzes.101 Während sich bei der austeilenden Gerechtigkeit eine verteilende Instanz und mehrere Rechtssubjekte in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung begegnen, stehen sich im Anwendungsbereich der ausgleichenden Gerechtigkeit mehrere Personen in rechtlicher Gleichordnung gegenüber. Die austeilende Gerechtigkeit bezieht sich also auf die Verteilung von Zuwendungen „in Ansehung der Person“, wohingegen die persönlichen Gegebenheiten der Rechtssubjekte im Rahmen der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht zum Tragen kommen. Bei der Anwendung des Gleichheitssatzes als der wohl grundlegendsten aller Verteilungsregeln kann es bei der austeilenden Gerechtigkeit mit anderen Worten auf Besonderheiten in der Person der Beteiligten ankommen, während es bei der ausgleichenden Gerechtigkeit allein um den (formal und/oder material) freiwilligen oder unfreiwilligen Austausch von Gütern oder Leistungen geht. Demgemäß hat die austeilende Gerechtigkeit ihren angestammten Platz eher im öffentlichen Recht, während die ausgleichende Gerechtigkeit nach ihrer Grundstruktur im Privatrecht ansässig ist, da sie sich auf die intersubjektiv richtige Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung bezieht.102 Allerdings wollen „moderne“ Ansätze auch im Privatrecht verstärkt Gesichtspunkte der austeilenden Gerechtigkeit zur Geltung bringen; 103 darauf ist zurückzukommen. Die aristotelischen Gerechtigkeitskriterien sind relative Wertmaßstäbe. Die zu ihrer Ausfüllung notwendigen Kriterien müssen deshalb – über eine rechtsphilosophische Herleitung hinaus – der jeweiligen Staats- und Wirtschaftsform entnommen werden.104 Der für Verteilungen wie für Kompensationen notwendige Maßstab kann also nur auf normativem Wege ermittelt werden.105 Für den (freiwilligen oder unfreiwilligen) Austausch von Gütern ist eine gerechte Ausgleichsregelung zu finden, die insbesondere die Problematik der Gleichwertig99
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130 b ff. Adomeit, NJW 1998, 3259; a. A. Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, S. 55 ff., insb. S. 85. 101 Siehe dazu bereits Mohr, Schutz vor Diskriminierungen, S. 37 ff.; Mohr, in: FS Adomeit, 2008, S. 477, 484 f. 102 Radbruch, Rechtsphilosophie, 36 und 152 f.; Zöllner, NJW 1990, 1, 5. 103 Vgl. Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 167 f. und öfter. 104 Canaris, iustitia distributiva, S. 16 ff. und 24. 105 Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie I, S. 84. 100
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keit (also des Äquivalenzverhältnisses) zu lösen vermag.106 Wert und Gegenwert der Leistung hängen hierbei auch von der autonomen oder heteronomen Verfasstheit der Wirtschaftsordnung ab.107 Die ausgleichende Gerechtigkeit steht einer marktwirtschaftlichen Grundordnung nahe, auch wenn hieraus noch keine Vorgaben für die Ausgestaltung der Ordnung im Einzelnen zu entnehmen sind; denn nur eine Marktwirtschaft gewährleistet, dass sich die Bedingungen des Leistungsaustauschs vornehmlich mit Blick auf den Leistungsgegenstand herausbilden.108 Welchen Preis ein Gut am Markt erzielen kann, hängt zuvörderst von Angebot und Nachfrage ab, sofern keine Liebhaberinteressen oder ähnliche Gesichtspunkte zum Tragen kommen. Dabei kommt dem Wettbewerb die zentrale Aufgabe zu, die gegenseitige Unabhängigkeit und Wahlfreiheit der Vertragspartner zu sichern, damit der sich im Vertrag manifestierende intersubjektive Interessenausgleich nicht durch den Missbrauch von (wirtschaftlicher) Macht verzerrt wird.109 Ist eine Störung zu befürchten, erlangt der Staat somit eine Rechtfertigung zum Eingriff auch in das individuell festgelegte Vertragsgefüge,110 der sich – wie wir noch sehen werden – nicht auf die Vertragskonditionen beschränken muss, sondern sich auch auf das Leistung-Gegenleistungsverhältnis beziehen kann. Die austeilende Gerechtigkeit ist ebenfalls anhand weiterführender (Verteilungs-)Regeln auszuformen, da ihr selbst kein entsprechender Maßstab entnommen werden kann. Im Ausgangspunkt kann man zwischen der Verteilung von Rechten und derjenigen von Sachgütern unterscheiden: 111 Art. 3 Abs. 1 GG enthält den fundamentalen Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Die Vorschrift gewährleistet damit die individuelle Entfaltung der Persönlichkeit, da diese nur bei einer rechtlichen Gleichheit der Bürger realisiert werden kann.112 Während im Rahmen der Rechtsgleichheit somit enge Grenzen für eine Differenzierung bestehen, kann sich die Verteilung von Sachgütern an den unterschiedlichsten Regeln orientieren. Hierzu gehören die Leistungs-, die Bedarfs-, die Chancen- und die Verfahrensgerechtigkeit.113 Im Bereich der Auferlegung von Lasten werden diese Prinzipien noch durch die Besitzstandsgerechtigkeit ergänzt (Vertrauensschutz114). Sofern Aussagen dieser Grundsätze 106 Im europäischen Arbeitsrecht ist diese Problematik augenfällig bei der Frage des gleichen Lohnes für gleiche oder gleichwertige Arbeit, sofern besonders geschützte Personengruppen betroffen sind, vgl. Art. 157 Abs. 1 AEUV. 107 Busche, Kontrahierungszwang, S. 30 ff. 108 Canaris, iustitia distributiva, S. 17. 109 Säcker, BB 1967, 681, 683. 110 Private Macht dient der Rechtsordnung somit als eine Art „Auffangtatbestand“, vgl. Möslein/Bachmann, Private Macht, unter V: Aufgreifkriterium. 111 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 354. 112 Busche, Kontrahierungszwang, S. 278 f.; von Münch/Kunig/Boysen, Art. 3 GG Rn. 24 ff. 113 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 352 ff. und 361. 114 Zum Grundsatz des Vertrauensschutzes als Ausprägung der Rechtssicherheit siehe
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kollidieren, sind sie durch den Gesetzgeber in einen sachgerechten Ausgleich zu bringen. Welche Verteilungs- und Beurteilungsgrundsätze einer Regelung rechtspolitisch zugrunde gelegt werden, ist Gegenstand der unterschiedlichsten Gerechtigkeitstheorien.115 Diese sollen uns im Folgenden in dieser Allgemeinheit nicht weiter beschäftigen. Im Zentrum der Betrachtung wird vielmehr der Ausgleich privater Interessenkonflikte stehen, sofern diese durch wirtschaft liche Machtpositionen beeinflusst werden. 3. „Sozialmodelle“ privater Macht und ihre rechtliche Rezeption a) Zum Begriff des Sozialmodells Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit sind vom „Sozialmodell“116 bzw. dem „Rechtsparadigma“117 zu unterscheiden, das dem Recht zugrunde liegt. Diese schillernden Begriffe beziehen sich zum einen auf die grundlegenden Vorstellungen des Normgebers von der gesellschaftlichen Wirklichkeit,118 zum anderen auf seine weltanschaulich-politische Haltung, wie sie plakativ in der Gegenüberstellung von „liberalem Marktmodell“ und „Sozialstaatsmodell“ zum Ausdruck kommt. Der Begriff „Sozialmodell“ umfasst in diesem Sinne also gleichzeitig Diagnose und normativen Therapieansatz.119 Er adressiert nach Heinz-Dieter Assmann „die Transformierbarkeit von Sozialverhältnissen in Rechtsverhältnisse und [. . .] die Gestaltbarkeit von Sozialverhältnissen über Recht; genauer: [. . .] die Bedingungen der Möglichkeit beider Vorgänge, über die sich zahlreiche Theorien an unterschiedlichen Ansatzpunkten streiten“.120 Die weltanschaulich-politische Haltung des Normgebers bzw. Norminterpreten kann das Verständnis des Vertrages beeinflussen,121 doch kann man aufgrund der Vielzahl der Gesellschaftstheorien, die sich sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht überlagern und nicht selten widersprechen, regelmäßig keine eindeutige Korrelation zwischen einem bestimmten Sozialmodell und einem bestimmten Verständnis der inneren Geltungsgründe vertraglicher Maunz/Dürig/Grzeszick, Art. 20 GG Rn. 69 ff.; speziell zum Wettbewerbsrecht Mohr, ZWeR 2011, 383 ff. 115 Vgl. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit. 116 Wieacker, Sozialmodell; krit. Zöllner, Privatrechtsgesellschaft, S. 30; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 289 Fn. 47; Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 743 f. 117 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 468 ff.: Der Begriff beziehe sich auf die „impliziten Bilder von der eigenen Gesellschaft, die der Praxis der Rechtssetzung und Rechtsanwendung eine Perspektive [. . .] geben“; dagegen Canaris, AcP 200 (2000), 273, 289 Fn. 47: „erstaunlich unreflektiert“. 118 So Singer, in: 200 Jahre Humboldt-Universität, 2010, S. 981, 983. 119 So Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309, 313; siehe auch die präzisierende Auslegung durch Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 52 ff. mit Fn. 91. 120 Assmann, Mixed economy, S. 5 (im Original z. T. kursiv gedruckt); siehe auch ebenda S. 150. 121 Das betont Lieb, DNotZ 1989, 274.
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Regelungen im Sinne einer strikten Kausalität feststellen.122 Gleichwohl lassen sich der Diskussion verschiedene Idealtypen gesellschaftswissenschaftlicher Paradigmen privater Macht entnehmen (Sozialmodelle), die sich modellhaft auch in der historischen Entwicklung wiederfinden.123 Die Analyse der „So zialmodelle“ trägt deshalb durchaus zum besseren Verständnis der Rechtsentwicklung bei. b) Gesellschaftswissenschaftliche Grundbegriffe privater Macht In unserer Untersuchung befassen wir uns mit der Inhaltskontrolle von Verträgen, die antikompetitiv überhöhte Preise enthalten, also mit einer spezifischen Ausprägung des gesellschaftlichen Phänomens „wirtschaftliche Macht“ und den darauf beruhenden Verhaltensweisen. Für dessen Behandlung enthält das Wettbewerbsrecht detaillierte Vorschriften, die an den Abschluss einer Vereinbarung zwischen Unternehmen (Art. 101 AEUV, §§ 1, 2 GWB), den Missbrauch einer alleinigen oder gemeinsam marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV, §§ 18, 19, 20, 29 GWB), den ökonomischen Umstand eines natürlichen Monopols (§§ 20 ff. EnWG, §§ 14 ff. AEG) oder eine marktmächtige Stellung auf einem als regulierungsbedürftig anzusehenden Markt (§§ 9 ff. TKG) anknüpfen. All diesen Normen liegt ein bestimmtes Verständnis unternehmerischer Marktmacht zugrunde, das man in Anlehnung an die gesellschaftswissenschaftliche Begrifflichkeit als im weiteren Sinne „kausal“ bezeichnen kann.124 Demgegenüber eignen sich die sog. modalen Machtbegriffe aufgrund ihrer Unbestimmtheit nur schwer für eine konkrete juristische Falllösung. Sie haben jedoch den Blick dafür geschärft, dass private Macht in einer pluralistischen Gesellschaft nicht per se nachteilig, sondern ein ambivalentes Phänomen ist. aa) Kausale Machtbegriffe In den Gesellschaftswissenschaften werden – wie Moritz Renner herausgearbeitet hat – unterschiedliche Machtbegriffe vertreten, die zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise in der Jurisprudenz wirksam geworden sind.125 Diese lassen sich überblickshaft in kausal-enge und modal-weite Machtbegriffe unterscheiden. Ein kausaler, auf die Beziehung zwischen zwei Rechtssubjekten bezogener Machtbegriff wurde von Max Weber vertreten, nach dem Macht „die Chance eines Menschen oder einer Mehrzahl solcher“ sein soll, „den eigenen Willen in einem Gemeinschaftshandeln auch gegen den Widerstand anderer dran Beteiligter durchzusetzen“.126 Auch wenn private Machtpositionen 122
Canaris, AcP 200 (2000), 273, 291. Private Macht, unter III. 124 Ebenso Möslein/Bachmann, Private Macht, unter III. 2. b). 125 Möslein/Renner, Private Macht, unter III. 2. 126 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 631, und weiter: „,Oekonomisch bedingte‘ 123 Möslein/Renner,
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auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden könnten, sei das Phänomen der ökonomischen Macht in einer marktwirtschaftlichen Grundordnung das zentrale Problem.127 Da Weber eine allgemeine Erfassung ökonomischer Macht – wohl auch dem Stand der ökonomischen Forschung seiner Zeit geschuldet – für nicht durchführbar erachtete, konzentrierte er sich auf den Begriff der Herrschaft, worin er die „Machtausübung kraft Autorität“ im Gegensatz zur „Machtausübung kraft Interessenkonstellation“ erblickte, auch wenn beide Arten der Machtausübung fließend ineinander übergehen könnten.128 Webers Fokussierung auf autoritäre Herrschaftsverhältnisse hatte zur Folge, dass für ihn auch der allgemeine Machtbegriff über eine unmittelbare Interak tion von Machtausübendem und Machtunterworfenem bestimmt wurde.129 Sowohl im Bereich der autoritären Macht als auch der wirtschaftlichen Macht stand somit die einseitige Durchsetzung von Interessen in konkreten sozialen Beziehungen im Vordergrund. Damit war für Weber „gesellschaftliche Macht“ kausal und interaktionsbezogen.130 In der nationalökonomischen Diskussion stellte sich alsbald heraus, dass ein enger kausal-interaktionsbezogener Machtbegriff die Phänomene der ökonomischen Macht nicht in allen ihren Ausprägungen erfassen kann. Demgemäß fragte Eugen von Böhm-Bawerk als Vertreter der sog. historischen Schule der Nationalökonomie schon 1914 in seinem Aufsatz „Macht oder ökonomisches Gesetz“, ob sich die Preisbildung auf Märkten tatsächlich allein durch individuelle Machtausübung erklären lasse oder auch vom Verhältnis von Angebot und Nachfrage abhinge.131 Die Gegenüberstellung von Macht und ökonomischem Gesetz wurde später von Walter Eucken als irreführend identifiziert, da wirtschaftliche Machtstellungen jeder ökonomischen Ordnung inhärent seien, sofern es sich nicht um die – von ihm bevorzugte – vollständige Konkurrenz handle.132 Auch nach Eucken war die Wirksamkeit von Macht somit auf das kausale Handeln der Marktbeteiligten zurückzuführen. Eucken ging jedoch insoweit über Weber hinaus, als er den Machtbegriff aus der direkten Interaktion zweier
Macht ist natürlich nicht identisch mit ‚Macht‘ überhaupt. Die Entstehung ökonomischer Macht kann vielmehr umgekehrt Folge der aus anderen Gründen vorhandenen Macht sein. Macht wird aber ihrerseits nicht nur zu ökonomischen (Bereicherungs-)Zwecken erstrebt. Sondern Macht, auch ökonomische, kann ‚um ihrer selbst willen‘ gewertet werden und sehr häufig ist das Streben nach ihr mitbedingt durch die ‚soziale Ehre‘, die sie bringt“. 127 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 632: Problem der „Klassenlage“. 128 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 604. 129 So die überzeugende Interpretation von Möslein/Renner, Private Macht, unter III. 130 Möslein/Renner, Private Macht, unter III. 2. 131 Von Böhm-Bawerk, ZfVSV, Bd. XXIII, 205 ff. 132 Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, S. 305 ff.; die Fixierung auf vollständige Konkurrenz ist in den Wirtschaftswissenschaften seit Langem überwunden; vgl. Teil 4 C. IV.
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Marktakteure herauslöste und die Marktstruktur als Ganze mit in die Analyse einbezog, also auch überindividuelle Gesichtspunkte berücksichtigte.133 Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht wurde für das Privatrecht vor allem von Franz Böhm, ebenfalls ein Vertreter der sog. ordoliberalen Schule, herausgearbeitet.134 Nach überzeugender Ansicht Böhms ist eine wirtschaftliche Machtkonzentration auch deshalb zu vermeiden, weil sie sich häufig zugleich im gesellschaftlich-politischen Bereich auswirkt; dies ist die sog. „Interdependenz der Ordnungen“.135 Böhm wollte hiermit aber keiner gesellschaftstheoretischen Rekonstruktion der marktwirtschaftlichen Ordnung und ihrer Institutionen wie Vertrag und Wettbewerb in Richtung einer Zentral- oder Gruppensteuerung von Wirtschaft und Gesellschaft das Wort reden. Dies zeigen insbesondere die Arbeiten des „späten Böhm“, in denen er nachdrücklich den Eigenwert der individuellen Selbstbestimmung betonte.136 Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass es die ordoliberale These von der „Interdependenz der Ordnungen“, ebenso wie Ausdrücke wie „private Planung“ und „Selbststeuerung“, den Kritikern einer marktwirtschaftlichen Ordnung später leicht machen sollten, diese mit neuen Inhalten zu „rekonstruieren“137 bzw. „emanzipatorisch anzuwenden“.138 bb) Modale Machtbegriffe Ein wesentlicher Begründer eines „modalen“, d. h. von unmittelbar kausalen Handlungsbeziehungen zwischen Machtausübendem und Machtunterworfenem abstrahierenden Machtbegriffs war Niklas Luhmann. Für Luhmann war Macht nicht allein „Kausalität unter ungünstigen Umständen“, sondern ein „symbolisch generiertes Kommunikationsmedium“, das der Reduktion von Unsicherheiten in der Kommunikation diene.139 Macht wird nach diesem Konzept also nicht nur in Kausalbeziehungen ausgeübt, sondern auch dadurch, dass die Selektionsmöglichkeiten eines Marktakteurs von vornherein denjenigen einer anderen Person angeglichen werden, etwa weil Ersterer ebenso wie Letztere handeln will, auch wenn er im Nachhinein erfährt, dass es ohnehin keine andere Möglichkeit gegeben hätte.140 Nach dieser Sichtweise bestimmt das Phänomen Macht, welche Kommunikation zwischen den Beteiligten überhaupt möglich ist, weshalb es sich nicht um einen Sonderfall, sondern um ein „reguläres 133 Möslein/Renner,
Private Macht, unter III. 2. Böhm, ORDO 17 (1966), 75 ff.; ausführlich zu Böhm unter Teil 4 D. I. 4. 135 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 14; Böhm, ORDO 17 (1966), 75, 121 ff.; dazu Möslein/Renner, Private Macht, unter III. 136 Siehe Teil 4 D. I. 4. f). 137 So der Befund von Nörr, in: FS Link, 2003, S. 911, 917. 138 Begrifflichkeit nach Renner, KritV 2010, 67, 70. 139 Luhmann, Macht, S. 2 f., 13. 140 Luhmann, Macht, S. 12. 134
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gesellschaftliches Phänomen“ handelt.141 Indem Macht eine Festlegung von Kommunikationsbeziehungen beschreibe, sei sie modal, da sie auch durch ihre Nicht-Ausübung wirksam werde.142 Der Machtbegriff Luhmanns geht somit über denjenigen von Weber hinaus, da er auf eine strikte Kausalitätsbeziehung verzichtet. Gleichwohl vollzieht sich Macht bei Luhmann immer noch in konkreten Kommunikationsbeziehungen.143 Sein Machtbegriff wird von Renner deshalb als „modal-interaktionsbezogen“ bezeichnet.144 Da Machtbeziehungen in jedem Kommunikationsakt wirksam würden, können sie nach Luhmann in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr durch traditionelle Wirkungsmechanismen begrenzt werden, sondern bedürfen einer umfassenden „Juridifizierung“ und „Politisierung so zialer Beziehungen“ oder einer „Integration von Machtstrukturen“ in „formale Organisationen“.145 Damit lässt sich der Machtbegriff Luhmanns nur schwer in konkreten juristischen Fragestellungen fruchtbar machen. Er zeigt jedoch bereits deutlich die Ambivalenz der Macht, die nicht per se gut oder schlecht ist, sondern situativ unterschiedlich zu bewerten sein kann. Das Wettbewerbs- und das Regulierungsrecht haben dafür eine hochkomplexe Dogmatik zur „Regulierung der Selbstregulierung“ entwickelt,146 auf die wir im Folgenden noch eingehen werden, soweit es die Kontrolle antikompetitiv überhöhter Preise betrifft. Einen noch anspruchsvolleren und weiteren, da „modal-strukturbezogenen“ Machtbegriff vertrat Michel Foucault, wobei dieser nicht primär zur Lösung privatrechtlicher Sachverhalte gedacht war.147 Im Gegensatz zum „juridisch-politischen“ Machtbegriff, den Foucault in frühen Schriften noch selbst vertreten hatte, entwickelte er später ein „strategisch-produktives Verständnis von Macht“.148 Zwar lege die historische Repräsentation von Macht in den Staatsgewalten eine Beschäftigung mit diesen nahe, doch sei in der gesellschaftlichen Realität die Ausübung von Macht – wie sich am Beispiel der Sexualität zeige – außerhalb von Rechtsformen erheblich wirksamer.149 Machtbeziehungen sind nach Foucault gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv, da sie sich nicht notwendig auf die Interaktion von individuellen Subjekten zurückführen ließen.150 141
Luhmann, Macht, S. 13 und 17. Private Macht, unter III. 2. 143 Luhmann, Macht, S. 19: „Handlungsbezug“. 144 Möslein/Renner, Private Macht, unter III. 2. 145 So – auch zu den Begrifflichkeiten – Luhmann, Macht, S. 98 ff. 146 Bachmann, Private Ordnung, S. 155. 147 Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 101 ff.; siehe auch Defert/Ewald (Hrsg.), Michel Focault, Analytik der Macht, S. 220 ff. und 240 ff.; vgl. dazu Möslein/Renner, Private Macht, unter III. 2. 148 Vgl. Möslein/Renner, Private Macht, unter III. 2. 149 Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 113. 150 Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 116. 142 Möslein/Renner,
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Macht werde nicht allein von den (Markt-)Akteuren ausgeübt, sondern es würden diese vielmehr auch selbst von den Machtbeziehungen konstituiert, da sich jedes Denken und Handeln in Machtstrukturen vollziehe.151 Damit zeigte Foucault ebenso wie Luhmann, dass Machtbeziehungen zwar durchaus negative und repressive Wirkungen haben, sie allerdings auch ein Ausdruck des von verschiedenen „Kräften“ bewegten Zusammenspiels ökonomischer und kognitiver Beziehungen in einer pluralistischen Gesellschaft sein können, die sich wechselseitig zu einer „Gesamtdispositive der Macht“152 befruchten.153 cc) Bewertende Einordnung Die vorstehend umrissenen Machtbegriffe lassen sich mit Moritz Renner näherungsweise bestimmten „Strömungen des ideengeschichtlichen Zeitgeistes“ zuordnen, die auch in der Rechtsetzung und Rechtsprechung wirksam geworden sind: 154 So war etwa im Wettbewerbsrecht der Ordoliberalismus über viele Jahre die vorherrschende Sichtweise. In jüngerer Zeit ist jedoch eine gewisse Akzentverschiebung zu institutionenökonomischen Ansätzen erkennbar, die private Macht zuvörderst unter dem Gesichtspunkt der Transaktionskosten beschreiben.155 Als Beispiel kann die AGB-Kontrolle dienen.156 Andere wollen private Macht allein mit Blick auf die Auswirkungen auf das Marktgeschehen bewerten, weshalb sie sich von kausalen Machtbegriffen weitgehend lösen. Insbesondere seit den 1970er Jahren hat der modal-strukturbezogene Machtbegriff auch Einzug in den privatrechtlichen Diskurs gehalten („strukturelle Gewalt“), ohne dass er grundlegende Änderungen des Verständnisses von rechtlichen Machtbeziehungen etwa im primär auf die Kontrolle wirtschaftlicher Macht ausgerichteten Wettbewerbsrecht bewirkte.157 Während die Begründung einer allgemeinen Inhaltskontrolle von Verträgen mit der „strukturellen Unterlegenheit“ einer Vertragspartei in der Bürgschaftsentscheidung des BVerfG im Nachhinein als eher ungenaue, die Parallelen zur Inhaltskontrolle nach § 138 Abs. 2 BGB verschleiernde Wortwahl angesehen werden kann,158 hat diese Rhetorik neuerdings wieder im Recht des Schutzes vor Diskriminierungen Anhänger gefunden, was prima facie nicht unbedingt für die rechtspolitische Differenziertheit und dogmatische Genauigkeit der propagierten Lösungen spricht.159 151 Möslein/Renner,
Private Macht, unter III. 2. Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 116. 153 So die überzeugende Bewertung von Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. 154 Möslein/Renner, Private Macht, unter III. 3. 155 Möslein/Bachmann, Private Macht, unter III. 2 b); Möslein/Renner, a. a. O., III. 3. 156 Vgl. MünchKommBGB/Wurmnest, § 307 BGB Rn. 40 ff. 157 Vgl. näher Adomeit, NJW 1994, 2467 ff. 158 Siehe in zeitlichem Zusammenhang mit der Bürgschaftsentscheidung Adomeit, NJW 1994, 2467, 2468, der die unglückliche sprachliche Parallele zum Begriff der „strukturellen Gewalt“ aufzeigte. 159 Dazu – im Ergebnis zu Recht krit. – Renner, KritV 2010, 53, 55 f. 152
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dd) Ambivalenz wirtschaftlicher Macht Wie wir im Rahmen der Schilderung gesellschaftswissenschaftlicher Theorien des Phänomens Macht gesehen haben, wird private Macht heute zu Recht als komplexes Phänomen gedeutet, die in ihren vielfältigen Ausübungsformen eine pluralistische Gesellschaft (mit) auszeichnet, im Falle ihres Missbrauchs aber auch gefährden kann. Dieser Befund spiegelt sich in der rechtlichen und ökonomischen Analyse wirtschaftlicher Macht wider, um die es in dieser Untersuchung geht. Auch wirtschaftliche Macht ist hiernach nicht per se gut oder böse, sondern eine komplexe Erscheinung, die einer ebenso differenzierten Regelung bedarf.160 Aus diesem Grunde sollte eine Rechtsordnung wirtschaftliche Macht nicht generell bekämpfen, wie dies noch den unrealistischen Prämissen des neoklassischen Modells „vollkommener Konkurrenz“ sowie in gewissen Anklängen auch dem frühen Ordoliberalismus und dem von ihm bevorzugten Konzept der „vollständigen Konkurrenz“ entsprach.161 Zwar kann wirtschaftliche Macht einerseits zur Ausbeutung von anderen Marktteilnehmern benutzt werden, anderseits aber auch zur Generierung produktiver und dynamischer Effizienzen sowie zur Hervorbringung von Innovationen.162 Ohne temporäre Machtpositionen von Unternehmen entstehen weder freie Wettbewerbsprozesse163 noch wohlfahrtsökonomisch zu bestimmende dynamische Effizienzen. Ein dynamischer Wettbewerb ist vielmehr ein sozialer Prozess der Neubildung und Erosion von Machtvorsprüngen von Unternehmen gegenüber ihren Wettbewerbern, die aus der größeren Fähigkeit zur Beherrschung ihrer Umwelt folgen, etwa durch Einführung oder Verbesserung eines neuen Produktionsverfahrens, wodurch Produkte preiswerter als bislang angeboten werden, um hierdurch letztlich zu mehr Geschäftsabschlüssen mit der Marktgegenseite zu kommen.164 Vor diesem Hintergrund geben die Größe oder der Marktanteil eines Unternehmens (vgl. § 18 Abs. 3 GWB) für sich allein keine Handhabe für das Eingreifen einer (wettbewerbs-)rechtlichen Missbrauchsaufsicht, etwa durch eine missbrauchsunabhängige Entflechtung von Unternehmen.165 Folge160
Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12; Möslein/Bachmann, Private Macht, unter V. eine Gleichsetzung von Marktbeherrschung und materieller Wettbewerbsbeschränkung auch Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz, S. 70. Dagegen Schmidtchen, ORDO 39 (1988), 111, 124: „Biedermeierweltbild von Wettbewerb“, der jedoch zu Recht darauf hinweist, dass das Modell der vollkommenen Konkurrenz dem ökonomischen Kenntnisstand zur Zeit seiner Entwicklung entsprach (S. 126); demgemäß wurde es später durch Vertreter des Ordoliberalismus selbst modifiziert, vgl. Teil 4 D. I. 4. f). 162 Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. Siehe zum Schutz vor Ausbeutung als Leitmotiv eines (zivilistisch zu verstehenden) „Gruppenwohls“ Bachmann, Private Ordnung, S. 193 ff.; Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 47. 163 Schmidtchen, ORDO 39 (1988), 111, 124; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 54. 164 Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerb, S. 10 f. 165 Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 5 4; Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. Nicht näher behandelt wird die Diskussion um eine missbrauchsunabhängige Entflechtung von „system161 Für
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richtig knüpfen die wettbewerbs- und regulierungsrechtlichen Missbrauchsverbote nicht bereits an das Innehaben wirtschaftlicher Macht an (auch wenn diese zu einer Marktbeherrschung führt166), sondern erst an deren missbräuchliche Ausübung zu Lasten der Wettbewerber und der Marktgegenseite bzw. an besondere Marktversagenstatbestände, die eine Ex-ante-Regulierung von Unternehmen zum Schutz der materialen Selbstbestimmung anderer Marktteilnehmer notwendig machen. Für diese Ambivalenz wirtschaftlicher Machtpositionen hat Erich Hoppmann – insoweit überzeugend – die begriffliche Unterscheidung zwischen „kompetitiver Macht“ und „restriktiver Macht“ eingeführt.167 Wirtschaftliche Macht ist also bei ökonomisch rationaler und ideologisch unvoreingenommener Betrachtung weder mit einem Makel behaftet noch generell zu eliminieren,168 sondern muss durch die Rechtsordnung an einer missbräuchlichen Ausübung zum Nachteil Dritter gehindert werden.169 In der ökonomischen und rechtlichen Akzeptanz von kompetitiven Machtpositionen liegt deshalb keine besondere Haftungsprivilegierung,170 sondern eine angemessene Reaktion auf die Ambivalenz wirtschaftlicher Macht, die im Rahmen eines „Leistungswettbewerbs“171 positive Effekte für die allgemeine Wohlfahrt der Gesellschaft generieren kann und deshalb (nur) insoweit zu fördern anstatt zu untersagen ist. Höchst problematisch ist allerdings die konkrete Unterscheidung von kompetitiver und antikompetitiver Macht. Dies ist Gegenstand der verschiedensten Wettbewerbs- und Regulierungstheorien, auf die wir noch eingehen werden. Die entsprechenden Ausführungen werden zeigen, dass der bislang eher intuitive als wissenschaftlich fundierte Umgang mit dem komplexen Phänomen wirtschaftlicher Macht in der Privatrechtswissenschaft einer kritischen Revision bedarf, die sich nach hier vertretener Ansicht in einer wertungsharmonisierenden Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln zeigen muss. 4. Zwingendes Privatrecht als Ausdruck des jeweiligen Sozialmodells a) Zwingende Regelungen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht Dogmatisch äußern sich die unterschiedlichen Sozialmodelle, die der Privatrechtsordnung zugrunde liegen, vor allem in der Reichweite und Ausgestaltung
relevanten Großunternehmen“ im Wettbewerbsrecht; vgl. Zimmer/Rengier, ZWeR 2010, 105, 111 ff.; Meessen, WuW 2010, 6, 13 ff.; Teil 4 C. IV. 1. und 2. 166 Zur Marktbeherrschung durch Kartelle Lukes, Kartellvertrag, S. 135. 167 Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerb, S. 10 f. 168 Pointiert Schmidtchen, ORDO 39 (1988), 111, 124 ff. 169 So Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. 170 So aber Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 465. 171 Dazu Teil 5 B. III. 2. b).
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des die Privatautonomie beschränkenden zwingenden Privatrechts; 172 denn die volle Dispositivität einer Rechtsnorm bedarf in einer auf der Idee der Selbstbestimmung aufbauenden Rechtsordnung keiner besonderen Rechtfertigung.173 In der Gegenüberstellung von zwingendem Recht und privatautonomer Handlungsfreiheit spiegelt sich zugleich die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Leitdifferenz der Moderne wider,174 wie sie bereits von Georg Friedrich Wilhelm Hegel mit dem Auseinandertreten des „Systems der politischen Repräsentation“ und des marktgesteuerten „Systems der Bedürfnisse“ beobachtet worden ist.175 Diese fand ihre rechtliche Ausprägung historisch im Gegensatz von öffentlichem Recht und Privatrecht.176 Eine strikte Differenzierung von öffentlichem und privatem Recht – im Sinne eines gegenüber politischen Zwecken abgegrenzten Bereichs bürgerlicher Freiheit – gilt heute allerdings als überwunden, auch wenn dadurch auf den ersten Blick ein Stück (scheinbarer) dogmatischer Klarheit verloren geht.177 So wirkt die Verfassung vielfältig auf das Privatrecht ein, sei es durch Vorgaben an den Gesetzgeber zur Ausgestaltung des Privatrechts oder bei der Interpretation zivilistischer Generalklauseln wie der §§ 138, 242, 823, 826 BGB.178 Es ginge jedoch zu weit, das Zivilrecht angesichts dieser unbestrittenen öffentlich-rechtlichen Durchdringung und der auch staatsenlastenden Funktion privater Regelbildung,179 wie sie etwa für die der Daseinsvorsorge zuzuordnenden Sektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen prägend ist,180 insgesamt im öffentlichen Recht aufgehen zu lassen, wie dies etwa von Wirtschaftsrechts- und Steuerungstheoretikern proklamiert wird.181 Wir werden hierauf noch zurückkommen. 172 Renner, KritV 2010, 67, 70. Dasselbe gilt für das dispositive Privatrecht, soweit diesem eine „Leitbildfunktion“ für einen chancengleichen privaten Interessenausgleich zugesprochen wird. 173 Bachmann, JZ 2008, 3. 174 Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 17. 175 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 3. Neuaufl. 1993, §§ 182 ff. und §§ 257 ff. 176 Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, S. 41 ff. 177 Vgl. Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 18; Bachmann, Private Ordnung, S. 413 ff. 178 Vgl. Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff.; dabei ist es aus zivilistischer Sicht nur von begrenztem Erkenntnisgewinn, ob man diese als „mittelbare Drittwirkung“ bezeichnet oder mit einer „Schutzpflicht des Staates“ begründet; vgl. MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 54 ff., insb. Rn. 66: es handle sich im Wesentlichen nur noch um ein Formulierungsproblem. 179 Bachmann, Private Ordnung, S. 60. 180 Zur privatrechtlichen Einordnung von Energielieferverträgen trotz staatlicher Abschluss- und Inhaltsschranken siehe Theobald/Theobald, Energiewirtschaftsrecht, S. 154. 181 Aus „wirtschaftstheoretischer“ Sicht vgl. Wiethölter, in: FS Böhm, 1965, S. 41, 48; aus „steuerungstheoretischer“ Perspektive Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/HoffmannRiem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, S. 161, 272 ff.; ebenso auf den ersten Blick Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 19, wonach
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Den vorbenannten Theorien ist es – wie wir noch sehen werden – bis heute nicht gelungen, jenseits einer generellen Disponibilität individueller Freiheiten für staatlich-bevormundende Regulierung einen – auch verfassungsrechtlich gebotenen – Freiraum der Individuen vor staatlicher Steuerung bzw. Umverteilung fassbar zu machen.182 Gleichwohl ist auch weiterhin an der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht festzuhalten. Für das Privatrecht gewinnt diese Differenzierung eine besondere Legitimität aus dem Umstand, dass das Ideal des privatrechtlichen Interessenausgleichs auf der bewussten, aufgeklärten und freiwilligen Zustimmung der Individuen aufbaut.183 Demgegenüber bedarf die Geltung von Regelungen, die nicht oder nur unvollkommen von der Zustimmung aller Betroffenen getragen werden, einer zusätzlichen Rechtfertigung, die sich nicht aus den kollidierenden Freiheitsbereichen selbst ableiten lässt. Diese Legitimation wird für privatrechtliche Sachverhalte zu Recht in einem Verbot der Ausbeutung gesehen.184 Nicht jede zwingende Vorschrift, die in diesem Sinne auf Zustandekommen, Inhalt und Wirksamkeit von Rechtsgeschäften Einfluss nimmt, ist jedoch insgesamt dem öffentlichen Recht bzw. insgesamt dem privaten Recht zuzuordnen.185 So ist der staatliche Schutz vor Ausbeutung eine genuin privatrechtliche Aufgabe, soweit es um den Schutz der materialen Freiheit der von dem mächtigen Unternehmen Abhängigen geht. 186 Hierin liegt mit Franz Jürgen Säcker sogar die zentrale Aufgabe des Privatrechts, die deshalb keiner zusätzlich öffentlich-rechtlichen Legitimierung bedarf.187 Auch wenn es kaum möglich sein dürfte, eine abschließende Typologie zwingenden Privatrechts festzulegen,188 wird man deshalb auf den ersten Blick alle Vorschriften, die der Sicherstellung eines material-selbstbestimmten Interessenausgleichs dienen, dem Privatrecht zuordnen können. Demgegenüber sind vertragsrechtliche Regelungen, die aus überindividuell-objektiven Zwecken Zustandekommen, Inhalt und Wirksamkeit privater Absprachen beeinflussen, nach hier vertretener Ansicht dem öffentlichen Recht die Normen des zwingenden Rechts die Bedingungen festlegten, unter denen „privatvertragliche Dispositionen den Vorgaben des Gesetzgebers weichen müssen“ und damit „den Raum des freien marktwirtschaftlichen Austauschs“ umgrenzten und ihn „für politische Interventionen“ öffneten; siehe auch S. 24: zwingende Normen ermöglichten eine „Rekonstruktion politischer Zwecksetzungen in einem Rechtsgebiet, das über den Vertragsmechanismus eng an die Funktionslogik des Wirtschaftssystems gekoppelt“ sei. Auf S. 26 ff. stellt Renner dann jedoch heraus, dass die Festlegung der inneren Grenzen des Vertrages durch zwingende Rechtsnormen auch dem Privatrecht zugeordnet werden könne. 182 Ebenso Bachmann, Private Ordnung, S. 415. 183 Bachmann, Private Ordnung, S. 193 ff. 184 Überzeugend Bachmann, Private Ordnung, S. 415 und öfter. 185 Grundlegend Ehrlich, Das zwingende und nichtzwingende Recht, S. 256 ff.; ihm folgend Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 33. 186 MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 62. 187 So überzeugend MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 63. 188 Bachmann, JZ 2008, 11, 13 ff.
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zuzuordnen. Diese Dichotomie setzt freilich ein bestimmtes Verständnis der inneren Geltungsgründe des Vertrages und der Vertragsfreiheit voraus, das es noch näher zu begründen gilt. Festhalten lässt sich an dieser Stelle jedoch schon, dass sich die Unterscheidung zwischen zwingendem und dispositivem Recht nicht in derjenigen zwischen öffentlichem und privatem Recht spiegelt.189 b) Unterschiedliche Ausprägungen zwingenden Vertragsrechts Gemeinhin wird die historische Entwicklung des Verständnisses von „Freiheit und Bindung in der Wirtschaft“190 in ein idealtypisches Mehrphasen-Modell unterteilt, dem wir uns – bei aller mit Pauschalierungen verbundenen Unschärfe – zur besseren Veranschaulichung anschließen wollen: 191 Das Bürgerliche Gesetzbuch folgte zunächst einem vorwiegend formalen Verständnis von Freiheit, trotz der hieran schon vor seinem Inkrafttreten geäußerten Kritik.192 Die Probleme privater Macht wurden – abgesehen von vereinzelten zwingenden Regelungen – vor allem im Rahmen einer richterlichen Billigkeitskontrolle bei der Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln problematisiert (§§ 138, 315 und 242 BGB), wenn auch mit aus heutiger Sicht unzulänglichen Ergebnissen.193 Paradigmatisch war die noch zu schildernde Rechtsprechung des RG zur Kontrolle wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen, die sich nicht zu einem prinzipiellen Kartellverbot durchringen konnte, sondern nur offenkundig unzulässige Praktiken und Wirkungen der Kartelle bekämpfte.194 Ein wesentlicher Wendepunkt zur Entwicklung eines modernen Privatrechtsverständnisses lag in der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie des Ordoliberalismus, der entgegen dem damals vorherrschenden kollektivistischen Zeitgeist, wie er etwa im politischen Programm der Gemeinwirtschaft zum Ausdruck kam,195 auf die Gefahren aufmerksam machte, die von einer Vermachtung von Märkten für die individuelle Vertragsfreiheit und damit für die Gesellschaft im Ganzen ausgehen.196 Aufgrund der Rezeption ordoliberalen Gedankenguts nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bekämpfung eines Missbrauchs privater Machtpositio nen im wirtschaftlichen Wettbewerb als zentrales Anliegen der deutschen und zunehmend auch der europäischen Wirtschaftspolitik anerkannt. Dieses Anlie189
Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 27. So der Titel der von Jenkins herausgegebenen Festschrift für Gemper, 2006. 191 Micklitz/G. P. Calliess, Verbraucherrecht, S. 65 ff.; Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309, 313; krit. Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191 ff. 192 Siehe unten Teil 3 B. I. 3. 193 Möslein/Renner, Private Macht, unter II. 194 Berühmt ist die Entscheidung zum sächsischen Holzstoffkartell in RGZ 38, 155; siehe auch Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 8 ff. Dazu ausführlich unter Teil 3 B. III. 1. b). 195 Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 4 ff.; ders., Leiden des Privatrechts, S. 28 f. 196 Böhm, Das Problem der privaten Macht, Die Justiz III (1927/1928), 324, 330: Bei der Monopolfrage gehe es „um die Erscheinung der privaten Macht und des privaten Zwangs in großem Stile und um ihre rechtliche Einordnung in das System des geltenden Rechts“. 190
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gen mündete nach langem rechtspolitischem Ringen in den Erlass des vom damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard erstrittenen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) 197 und der Wettbewerbsvorschriften des EWG-Vertrages, ebenfalls aus dem Jahr 1958. Ordoliberales Gedankengut hielt – was heute zuweilen nicht mehr im Blick zu sein scheint – mit der AGB-Kon trolle freilich auch Eingang in das Bürgerliche Recht.198 Das besondere Interesse des Ordoliberalismus an allgemeinen Geschäftsbedingungen mag daran gelegen haben, dass sich marktmächtige Unternehmen und Kartelle schon früh dieses Instruments bedient hatten, um ihre Interessen zu Lasten der Vertragspartner durchzusetzen.199 Mit dem Erstarken des Wohlfahrtsstaates machte es sich die Privatrechtswissenschaft seit den 1970er-Jahren verstärkt zur Aufgabe, den Übergang von einem formal-freiheitlichen zu einem material-sozialen Rechtsstaat auch im Privatrecht durch eine inhaltliche Inpflichtnahme der Vertragsfreiheit für soziale Gerechtigkeitsvorstellungen nachzuvollziehen.200 Neben der Lösung der „sozialen Frage“ als einem der drängenden Anliegen des „sozialdemokratischen 20. Jahrhunderts“201 sollte dadurch auch der „sozial gebändigte Kapitalismus“ westdeutscher Prägung als das bessere Gesellschaftsmodell gegenüber der staatlichen gelenkten Wirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik positioniert werden.202 Vor diesem rechtlichen und soziologischen Hintergrund vertrat Franz Wieacker die Ansicht, dass das Privatrecht nicht nur einem „Sozialmodell“ der formalen Gleichheit, sondern auch einem solchen der „sozialen Gerechtigkeit“ und damit einer material-gerechtigkeitsbezogenen Privatautonomie dienen müsse,203 gleichsam als „Spielbein“ neben dem „Standbein“ der Vertragsfreiheit, 204 um auf diesem Wege „Fehlentwicklungen aus dem Gebrauch der Freiheit“ entgegenwirken zu können.205 Die Ausbildung eines überindi viduell gemeinwohlbezogenen „sozialen Privatrechts“ sei das Ergebnis einer 197 Mestmäcker, WuW 2008, 6 ff.; siehe auch Riesenhuber/ders., Selbstverantwortung, S. 1, 3, wonach das Wettbewerbsrecht im Verständnis Erhards ein Ausdruck des Selbstverantwortungsgrundsatzes war. 198 Möslein/Renner, Private Macht, unter II.; siehe auch Bachmann, Private Ordnung, S. 53. 199 Siehe zu den Schutzzwecken der AGB-Kontrolle Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen, einseitig gestellte Vertragsbedingungen und die allgemeine Rechtsgeschäftslehre, S. 540 ff. 200 V. Hippel, Verbraucherschutz, 1974; K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, 1976; Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem, 1981. 201 Dahrendorf, Die Chancen der Krise, S. 17 und öfter; nach Reichold (JJZ 1992, S. 63, 65) hatte das Verständnis des 20. Jahrhunderts als „sozialdemokratisch“ u. a. zur Folge, dass jeder gesetzgeberischen Reform des Privatrechts automatisch das Attribut „sozial“ angeheftet worden ist, um dadurch politische Akzeptanz zu gewinnen. 202 G. P. Calliess, JJZ 2000, S. 85, 87. 203 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 514 ff. 204 Stürner, JZ 1996, 741, 743. 205 Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt Universität, 2010, S. 981, 990.
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„fortschreitenden Demokratisierung von Recht und Gesellschaft, einer auch die privatrechtlichen Beziehungen prägenden Orientierung an Menschenrechten und der Wertordnung des Grundgesetzes, das sich in Art. 20 Abs. 1 [GG] ausdrücklich zu seiner sozialstaatlichen Verpflichtung“ bekenne.206 Vor diesem Hintergrund erschien es den Vertretern dieser Ansicht nur folgerichtig, den ausgreifenden „Schutz des Schwächeren“207 im Privatrecht als Erscheinungsform des Sozialstaatsprinzips zu begreifen.208 Dogmatische Folge dieser auch sozialwissenschaftlich begründeten Materialisierung des Privatrechts war die Forderung, das parteidispositive Recht nicht nur durch marktkonstitutiv-dispositives, sondern zunehmend durch marktkompensatorisch-zwingendes (soziales) Vertragsrecht zu ersetzen.209 Demgemäß sollte etwa das Verbraucherschutzrecht nicht mehr nur dem Ausgleich von wirtschaftlichen, situativen oder intellektuellen Ungleichgewichtslagen dienen, sondern auch distributiven Zwecken.210 Allerdings waren und sind die Maßstäbe einer derart sozialstaatlich motivierten Vertragsinhaltskontrolle schon wegen der Unbestimmtheit des Sozialstaatsgrundsatzes weiterhin ungeklärt,211 weshalb sich die Rechtsanwendung mit Hilfskonstruktionen wie einem Abstellen auf den marktüblichen Zinssatz bei der Kontrolle von Gelddarlehen gem. § 138 BGB behilft.212 In jüngerer Zeit gelangten zunehmend prozedurale Maßstäbe in den Fokus der Rechtswissenschaft.213 Dieser erneute Paradigmenwechsel gründete soziologisch auch auf dem spätestens seit den 1980-Jahren erfolgenden Übergang von der klassischen Industriegesellschaft mit ihren Faktoren Arbeit und Kapital zu einer Dienstleistungsgesellschaft, die ihre Schwerpunkte auf Wissen, Information und Kommunikation legt.214 Dogmatisch äußerte sich dieser Vorgang in der zunehmenden Verbreitung eines liberalen Informationsmodells, das sich „als fortgeschrittene Alternative zu dem klassischen Instrumentarium von libe206
Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt Universität, 2010, S. 981, 991. Von Hippel, Der Schutz des Schwächeren. 208 So Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 237 ff. 209 Ebenso heute noch in Ansätzen Micklitz, Gutachten A zum 69. DJT 2012; siehe auch die Bewertung von Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191, 1993. 210 Möslein/Renner, Private Macht, unter II. 211 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 560; Reuter, AcP 189 (1989), 199, 202. 212 BGH v. 2.10.1986 – III ZR 130/85, NJW 1987, 183; dazu MünchKommBGB/Armbrüster, § 138 BGB Rn. 119. 213 Canaris, iustitia distributiva, S. 45 ff.; ders., AcP 200 (2000), 273, 283 ff.; G. P. Calliess, JJZ 2000, S. 85, 94 ff.; ders., AcP 203 (2003), 575 ff. Die Materialisierung des Privatrechts zeigt sich nicht nur an der an Maßstäben materialer Gerechtigkeit orientierten Vertragsinhaltskontrolle, sondern auch an der Ergänzung von voluntas und culpa als Obligierungsgründe durch die Vertrauenshaftung als drittes Zurechnungsprinzip, an dem Ausbau der Gefährdungshaftung sowie an der Ersetzung von dispositiven durch zwingende, marktkomplementäre Normen; vgl. Säcker/Mohr/Aukathov, ZVerglRWiss 108 (2009), 332, 334 f. 214 G. P. Calliess, Prozedurales Recht, S. 55 ff. m. w. N. 207
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ralem Freiheitsdenken und sozialer Fürsorge“ verstand, 215 indem es an die Stelle inhaltlicher Richtnormen zwingende Informationspflichten treten lässt.216 Diese Sichtweise wurde rechtspolitisch auch von einer Strömung getragen, die unter Absage an einen weitgehenden Rechtspaternalismus wieder „mehr Mut zum Markt“ forderte,217 basierend auf der zutreffenden, wenn auch nur einen Aspekt der komplexen Problematik beleuchtenden Erkenntnis, dass eine sachgerechte Unterrichtung der Verbraucher als „Schiedsrichter“218 zu den grundlegenden Funktionsbedingungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung gehört.219 Unter dem Aspekt wirtschaftlicher Macht liegt die besondere Problematik der Statuierung von Informationspflichten darin, dass diese nicht nur dazu dienen können, einen chancengleichen Vertragsschluss zu sichern. Vielmehr kann die Herstellung von Markttransparenz in Abhängigkeit von der Marktform (insbesondere im engen homogenen Oligopol) auch antikompetitive Effekte haben, da sie einer gemeinsamen Marktbeherrschung durch oligopolistische Reaktionsverbundenheit Vorschub leistet.220 Darüber hinaus können die mit Informationspflichten intendierten positiven Auswirkungen auf die Selbstbestimmung der Bürger auch aufgrund eines „information overload“ fehlschlagen.221 An diesem Beispiel zeigt sich erneut die Ambivalenz wirtschaftlicher Macht, die ohne einen Rückgriff auf die Wertungen des Wettbewerbsrechts nicht sachgerecht zu bewältigen ist. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich mit der Schaffung eines weitreichenden Schutzes vor Diskriminierungen im Privatrecht ein weiterer Paradigmenwechsel ab.222 So wird dem Schutz vor Diskriminierungen nicht allein die Aufgabe einer Kompensation kausaler Machtbeziehungen zwischen Macht ausübendem und Machtunterworfenem zugesprochen, um so ein „level playing field“ zu schaffen, sondern er soll in Anlehnung an die Gesellschaftstheorien 215
Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191, 1993. Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191, 1995 f.; ebenso Möslein/Renner, Private Macht, unter II.: Abkehr von den distributiven Zielsetzungen des Verbraucherschutzes und Rückkehr zu einem marktfunktionalen Verbraucherschutzrecht. 217 Vgl. Weiss, in: 25 Jahre Stiftung Marktwirtschaft und Kronberger Kreis. 218 Zur Schiedsrichterfunktion der Verbraucher Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 91 ff., 128 ff.; Beater, Unlauterer Wettbewerb, § 13 Rn. 22; Scherer, WRP 2008, 708, 711 f.; Lettl, GRUR 2004, 449, 452; Dettmar, Unlauterer Wettbewerb durch Rechtsbruch nach Maßgabe des § 4 Nr. 11 UWG n. F., S. 83. Krit. zur Begrifflichkeit Gloy/Loschelder/Erdmann/ v. Ungern-Sternberg, § 25 Rn. 7, da die Bezeichnung als Schiedsrichter der zentralen Rolle der Verbraucher als Abnehmer von Gütern nicht gerecht werde. 219 BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91, BVerfGE 105, 252 Rn. 46 – Glykolwarnung. 220 Zu den Voraussetzungen einer kollektiven Marktbeherrschung EuG v. 6.6.2002 – T-342/99, Slg. 2002, II-2585, 2613 Rn. 62 – Airtours; dazu Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel, Art. 102 AEUV Rn. 120 ff. 221 Siehe Koch, BKR 2012, 485 ff. 222 Säcker, ZRP 2002, 286; a. A. Singer, in: FS Adomeit, 2008, S. 703 ff.; ders., in: FS 200 Jahre Humboldt Universität, 2010, S. 981, 106 ff. 216
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Foucaults auch auf eine Veränderung der „strukturellen“ Verhältnisse zwischen den Bürgern hinwirken.223 Die Selbststeuerungskräfte der Märkte werden schließlich auch im Zuge der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise in Zweifel gezogen.224 Angeknüpft wird dabei unter anderem an die Diskussion über „rechtsethische Maßstäbe im Unternehmens- und Gesellschaftsrecht“.225 Eine pauschale Liberalismuskritik würde jedoch übersehen, dass ein Marktversagen – wie die Regulierung der Netzsektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen zeigt – auch durch eine wettbewerbskonforme und damit freiheitliche Regulierung behoben werden kann, weshalb es im Sinne eines „kritischen Liberalismus“226 geboten erscheint, zunächst nach systemkonformen Lösungen zu suchen. Dieser ausgesprochen komplexe und hier nur schemenhaft umrissene Fragenkreis ist von uns nicht in voller Breite zu vertiefen. Diese Untersuchung beschäftigt sich vielmehr mit einem Teilaspekt der Problematik in Form der Kontrolle von Preisen auch anhand der Maßstäbe des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts.
III. Zum Verhältnis von Individualwohl und Gemeinwohl Beim Abschluss von Austauschverträgen findet die Selbstbestimmung einer Vertragspartei ihre innere Schranke in der chancengleichen Freiheit des Vertragspartners (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 TKG), weshalb die Privatrechtsordnung die beiden Freiheitspositionen in einen sachgerechten Austausch bringen muss. Sofern eine Partei ein so starkes Übergewicht hat, dass sie Abschluss, Inhalt oder Beendigung des Vertrages einseitig bestimmen kann, muss das Privatrecht deshalb korrigierend eingreifen. Diese chancensichernde und machtbegrenzende Funktion des Privatrechts kann durch Gemeinwohlerwägungen überlagert werden, die den Interessen einer Vertragspartei aus überindividuell-objektiven Gründen einen Vorrang vor denjenigen der anderen Partei einräumen. Im Privatrecht werden derartige Modifizierungen des individuellen Interessenausgleichs mit Gerechtigkeitserwägungen begründet („Vertragsgerechtigkeit“), denen ausdrücklich oder der Sache nach bestimmte politische „Sozialmodelle“ zugrunde liegen. Im Rahmen wirtschaftlicher Sachverhalte sind Einflussnahmen auf Vertragsrechtsbeziehungen auch dadurch begründet, dass die Leistung einer Vertragspartei „im allgemeinen Interesse“ liegt oder zur „Daseinsvorsorge“ gehört. Daneben werden Aspekte wie der „Institutsschutz“ oder die „Rechtssicherheit“ angeführt. Aus zivilistischer Sicht gilt es dabei zu beachten, dass unter Verweis auf derart überindividuell-objektive Zwecke 223
Renner, KritV 2010, 53, 55 f.; Möslein/ders., Private Macht, unter III. 3. Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt Universität, 2010, S. 981, 1003. 225 So der Titel des Beitrages von Wiedemann, ZGR 1980, S. 147 ff. 226 Meyer, ORDO 60 (2009), 326, insb. S. 351; siehe auch Säcker, NJW 2008, 3313 ff. 224
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(wirtschaftliche) Machtpositionen begründet werden können, die der Idee des Vertrages als Instrument beiderseitiger Selbstbestimmung widersprechen. 1. Zur Begrifflichkeit Den klassischen Gegenbegriff zum Individualwohl bildet derjenige des allgemeinen Wohls („Gemeinwohls“).227 Dieser Begriff kann ebenso wie derjenige der Selbstbestimmung228 auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. Zum Zweck einer ersten Systematisierung bietet es sich mit Pfeifer an, auf das jeweils in Rede stehende Rechtsverhältnis zu blicken: 229 Im Staat-Bürger-Verhältnis gilt, dass der Staat jeden hoheitlichen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Bürger rechtfertigen muss.230 Hierfür kann er sich auf die Beförderung des Gemeinwohls berufen. Im Privatrecht geht es demgegenüber grundsätzlich um die Auflösung einer „Pattsituation“; 231 denn die Bürger stehen sich nicht in einem Über-Unterordnungsverhältnis gegenüber, sondern sind einander rechtlich und nach der Grundidee des Privatrechts auch in den tatsächlichen Chancen zur Artikulation des individuellen Willens gleichgeordnet.232 Eine Einschränkung ziviler Handlungsfreiheiten kann danach nicht allein mit dem Ziel einer Beförderung übergeordnet-entindividualisierter Gemeinwohlinteressen begründet werden; 233 denn es geht gerade nicht um die Realisierung von Allgemeinwohlbelangen, sondern um die sachgerechte Abgrenzung der Entfaltungsspielräume individuell-verschiedener Bürger untereinander auf der Grundlage ihrer Präferenzen. Für diese Abgrenzungsaufgabe kommen verallgemeinernd zwei verschiedene Legitimationsprinzipien in Betracht: 234 Basiert ein privater Austauschvertrag auf der material-freien Zustimmung aller von seinen Regelungen rechtlich oder faktisch Betroffenen, ist die in ihm getroffene „private Regelung“ vom Staat grundsätzlich anzuerkennen. Ist demgegenüber eine der Vertragsparteien oder eine dritte Person in ihrer Selbstbestimmung beeinträchtigt, bedarf es eines gesonderten Maßstabs, um 227 Engel, Rechtstheorie 32 (2001), 23; Schuppert/Neidhardt/Uerpmann, Gemeinwohl, S. 179. 228 In diesem Begriff findet das „Individualwohl“ seine spezifisch privatrechtliche Ausprägung. 229 Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 45 ff. 230 BVerfG v. 23.5.1980 – 2 BvR 854/79, BVerfGE 54, 143, 146 – Taubenfütterungsverbot; von Münch/Kunig/Kunig, Art. 2 GG Rn. 1, 12 ff. 231 Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 45. 232 Dies ist eine wesentliche Prämisse des Ordoliberalismus, die heute durch die Ordnungsökonomik fortgeführt wird; vgl. Goldschmidt/Wohlgemuth/Vanberg, Ordnungsökonomik, S. 43, 46 f. sowie Teil 4 D. I. 4. f). 233 Zur Vermeidung von Missverständnissen sei betont, dass der Gesetzgeber den privatautonomen Interessenausgleich im Rahmen der durch die Verfassung gezogenen Schranken „gemeinwohlinduziert“ steuern kann und dies bekanntlich auch in weitem Umfange tut. 234 Bachmann, Private Ordnung, S. 204 ff., insb. S. 206 ff.
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die individuellen Freiheiten in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Im Rahmen dieses Interessenausgleichs sind bei ideal-zivilistischer Sicht nur die Interessen der von der (vertraglichen) Regelung rechtlich und faktisch betroffenen Bürger relevant. Gregor Bachmann hat diesen Maßstab als „Gruppenwohl“ bezeichnet, 235 um einerseits zu verdeutlichen, dass es zum Ausgleich der individuellen Freiheiten eines dritten Maßstabes bedarf, und andererseits klarzustellen, dass dieser Maßstab in einer marktwirtschaftlich-freien Privatrechtsordnung nicht in einem entindividualisierten Gemeinwohl liegen kann. Zur Legitimation der Gültigkeit eines „einfachen“, dritte Interessen nicht wesentlich tangierenden Austauschvertrags reicht folglich die beiderseitig material-freie Zustimmung der Vertragsparteien aus. Demgegenüber wäre zur Legitimation eines Kartellvertrags auch die material-freie Zustimmung der von der Wettbewerbsbeschränkung negativ betroffenen anderen Marktteilnehmer vonnöten.236 Da diese regelmäßig nicht vorliegen wird, ist die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung einer Kontrolle anhand des Maßstabes „Schutz vor Ausbeutung“237 zu unterziehen, verstanden als Schutz der materialen Privatautonomie der Drittbetroffenen. 2. Gemeinwohl a) Überpositive und normative Bedeutung Der Begriff des Gemeinwohls gehört seit alters her zum Sprachgebrauch des politischen und juristischen Diskurses.238 Eine allgemeine Definition besagt, dass es sich bei dem Regelungsgegenstand um eine Sache des ganzen Gemeinwesens im Unterschied zu den Partikularinteressen der Individuen oder einzelner Gruppen handeln muss.239 Der konkrete Inhalt des „Gemeinwohls“ ist hoch streitig; dies betrifft bereits die Frage, ob es überhaupt einen subsumtionsfähigen „materialen Begriff des Gemeinwohls“ gibt.240 Die entsprechende, originär öffentlich-rechtliche Diskussion muss in unserer zivilistischen Untersuchung
235
Bachmann, Private Ordnung, S. 206. Siehe dazu Teil 4 D. II. 4. 237 Begriff nach Bachmann, Private Ordnung, S. 204 ff. 238 Vgl. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem 1970, S. 37 f.; Brugger/ Kirste/Anderheiden/Ch. Calliess, Gemeinwohl, S. 173, 176; Brugger/Kirste/Anderheiden/ Koller, Gemeinwohl, S. 41. 239 Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 333; Brugger/Kirste/Anderheiden/Ch. Calliess, Gemeinwohl, S. 173, 176, wonach der Begriffsbestimmung die Unterscheidung von privaten und öffentlichen Interessen immanent sei. 240 Engel, Rechtstheorie 32 (2001), 23; Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, S. 5 ff. m. w. N.; Ludwigs, Effizienzanforderungen, S. 91 f. Siehe aber auch Kunig, Rechtsstaats prinzip, S. 333, wonach der materielle Gehalt schon daraus folge, dass ein auf das Gemeinwohl verpflichteter Gesetzgeber keine Partikularinteressen befördern dürfe. 236
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nicht in voller Tiefe nachvollzogen und bewertet werden.241 Es gilt vielmehr, den schillernden Begriff des Gemeinwohls, der zuweilen synonym mit demjenigen des öffentlichen Interesses („ordre public“) verwendet wird,242 in den Kontext unserer Untersuchung der wettbewerbs- und regulierungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen der Vertragsfreiheit einzuordnen. Im Ausgangspunkt muss zwischen einer überpositiven und der normativen Ebene differenziert werden.243 Gemeinwohl kann zum einen als Vorgabe für die Ausgestaltung des positiven Rechts betrachtet werden. Bei einer solchen Herangehensweise umfasst und überragt das Gemeinwohl einzelne konkrete Ausformulierungen im positiven Recht, bedarf jedoch als überpositiver Wertmaßstab der näheren Konkretisierung im Verfassungsrecht und im einfachen Recht. Zum anderen werden der Begriff des Gemeinwohls und spezifische Ausprägungen wie die Daseinsvorsorge auch im positiven Recht benutzt.244 Das Gemeinwohl fungiert insoweit also nicht als Vorgabe für das positive Recht, sondern es ist dessen Gegenstand, weshalb sein Aussagegehalt mit den üblichen Mitteln der juristischen Methodenlehre zu bestimmen ist. Als Beispiel kann Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG benannt werden, wonach Enteignungen „zum Wohl der Allgemeinheit“ zulässig sind. Aus dem Unionsrecht können die Art. 106 Abs. 2 und 14 AEUV angeführt werden, die, wie wir sogleich sehen werden, für „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ eine Legalausnahme von den europäischen Wettbewerbsvorschriften statuieren. Darüber hinaus kann der Bezug einer Rechtsnorm auf das allgemeine Wohl im Wege teleologischer Auslegung hergestellt werden. Beispiele sind die zu diskutierende Ausrichtung des in § 138 BGB normierten Verbots von Verträgen, die gegen die guten Sitten verstoßen, auf den Schutz des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts als Ausdruck des wirtschaftlichen ordre public, die kontrovers diskutierte Rechtfertigung von Wettbewerbsbeschränkungen durch außerökonomische Allgemeinwohlbelange245 sowie auf gleichsam übergeordneter Ebene die Ausrichtung des Wettbewerbsrechts auf ein wohlfahrtsökonomisch zu bestimmendes „allgemei-
241 Siehe dazu – jeweils mit umfangreichen weiteren Nachweisen – Brugger/Kirste/Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl; Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn; Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl; Krautscheid (Hrsg.), Daseinsvorsorge. 242 Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 37 f.; Brugger/Kirste/Anderheiden/Ch. Calliess, Gemeinwohl, S. 173, 176; Brugger/Kirste/Anderheiden/Koller, Gemeinwohl, S. 41. 243 Brugger/Kirste/Anderheiden/Brugger, Gemeinwohl, S. 17, 19. 244 Soweit diese in der Verfassung normiert sind, gehen sie der allgemeinen Gemeinwohlverpflichtung des Gesetzgebers vor, vgl. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 333 f., unter Verweis auf die Vorgaben des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG, die nicht durch einen Rückgriff auf allgemeine Gemeinwohlerwägungen umgangen werden dürften. 245 Dazu Dauses/Hoffmann, Art. 101 und 102 AEUV im Überblick Rn. 3 sowie Teil 9 C. II. 2.
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nes Wohlergehen“ der Verbraucher („general welfare“) 246 durch den „more economic approach“ der Kommission.247 In seiner überpositiven Bedeutung fungiert das Gemeinwohl als Grund und Grenze staatlichen Handelns; es zu fördern ist somit die wichtigste Aufgabe des Staates.248 Zugleich beinhaltet der Begriff „Gemeinwohl“ die Aussage, dass es Handlungen gibt, die nicht nur Partikularinteressen befriedigen, sondern im Wohl aller Bürger und der staatlichen Gemeinschaft liegen.249 In einem Verfassungsstaat liegt es nahe, diese noch wenig konkrete Aussage durch die Verfassung zu präzisieren.250 Die Konkretisierung des Gemeinwohls erfordert im Einzelfall regelmäßig eine Auflösung von Kollisions- und Spannungslagen, indem die aufeinandertreffenden Belange, Rechtsgüter, Werte und Prinzipien durch eine Wertentscheidung des Regelungsgebers miteinander ausbalanciert werden.251 Neben der Frage, um welchen Regelungsbereich es geht (Über- und Unterordnung oder Gleichordnung), ist von wesentlicher praktischer Bedeutung, wem die entsprechende Abwägungskompetenz zukommt.252 In einer repräsentativen Demokratie obliegt diese zuvörderst dem Gesetzgeber, 253 der bei der Kompetenzausübung aber nicht frei, sondern an die Verfassung gebunden ist, was wiederum durch die Verfassungsgerichtsbarkeit kontrolliert wird.254 Im deutschen Recht können die relevanten Gemeinwohlkriterien auf Bundesebene vor allem den einzelnen Grundrechten, der Staatsstrukturregelung des Art. 20 GG sowie weiteren Staatszielbestimmungen entnommen werden.255 Das zentrale dogmatische Instrument zur Kontrolle des Gesetzgebers durch die Verfassungsgerichtsbarkeit ist das sog. Übermaßverbot als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.256 Der Gesetzgeber darf in die Freiheit und das Eigentum der Bürger deshalb nur dann eingreifen, wenn die Maßnahme zur Erreichung des im Gemeinwohl stehenden legitimen Regelungsziels geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.257 Die verfassungsrechtlichen Gemein246 Brugger/Kirste/Anderheiden/Brugger,
Gemeinwohl, S. 17, 19. Siehe dazu Teil 5 B. 248 Eine Ableitung aus dem Grundgesetz findet sich bei Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 333; Schuppert/Neidhardt/Uerpmann, Gemeinwohl, S. 179; Schuppert, GewArch 2004, 441. 249 Vgl. Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289. 250 Vgl. Brugger/Kirste/Anderheiden/Ch. Calliess, Gemeinwohl, S. 173, 176 ff.; Schuppert, GewArch 2004, 441; zum Gemeinwohl als Element der Verfassungsdogmatik Brugger/Kir ste/Anderheiden/Engel, Gemeinwohl, S. 103 ff. 251 Schuppert, GewArch 2004, 441, 445 f. 252 Engel, Rechtstheorie 32 (2001), 23, 24. 253 Vgl. Schuppert/Neidhardt/Uerpmann, Gemeinwohl, S. 179, 184. 254 Schuppert, GewArch 2004, 441, 443. 255 Schuppert/Neidhardt/Uerpmann, Gemeinwohl, S. 179, 180 ff. 256 Zur dogmatischen Ableitung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aus den Grundrechten, da diesen die Aufgabe der Abwehr bzw. der Mäßigung staatlichen Handelns zukomme, siehe Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 354 ff. 257 Brugger/Kirste/Anderheiden/Engel, Gemeinwohl, S. 103 f.; BVerfG v. 6.6.1989 – 1 BvR 921/85, BVerfGE 80, 137 – Beschränkung des Reitens im Walde. 247
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wohlkriterien wirken somit auf die Gesetzgebung ein, wie sich besonders deutlich mit Blick auf Handlungsaufträge an den Gesetzgeber wie der noch zu erläuternden Gewährleistungsverantwortung des Staates für die Bereitstellung von infrastrukturbasierten Dienstleistungen zeigt.258 Anerkannte verfassungsrechtliche Gemeinwohlbelange gibt es in großer Zahl und mit unterschiedlichem Gewicht.259 Beispielhaft zu benennen sind der Schutz der Menschenwürde als höchstes Verfassungsgut (Art. 1 GG), der Umweltschutz (Art. 20a GG), aber auch die Sicherung und Förderung eines „chancengleichen Wettbewerbs“ (Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV, Protokoll Nr. 27 zum Vertrag von Lissabon), 260 die Gewährleistung der Chance zur Selbstbestimmung beim Abschluss von privatrechtlichen Verträgen (Art. 2 Abs. 1 GG), der Schutz vor Diskriminierungen (Art. 21, 23 EU-GRCharta, Art. 3 Abs. 3 GG), 261 eine „möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas, die zunehmend auf erneuerbaren Energien beruht“ (vgl. § 1 EnWG262), die Förderung des „chancengleichen“ Wettbewerbs im Bereich der Telekommunikation 263 und leistungsfähiger Telekommunikations infrastrukturen sowie die flächendeckende Gewährleistung angemessener und ausreichender Dienstleistungen (Art. 87f Abs. 1 GG; § 1 TKG), oder die „Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahn und eines attraktiven Verkehrsangebotes auf der Schiene“ sowie die „Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs auf der Schiene bei dem Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen und dem Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen“ (Art. 87e Abs. 4 GG; § 1 Abs. 1 Satz 1 AEG).264 Im Hinblick auf die Funktion der Europäischen Union, Elemente der staatlichen Gemeinwohlverantwortung durch völkerrechtlichen Vertrag auf eine internationale Organisation eigener Art abzugeben, 265 kann man in den Zielbestimmungen der Unionsverträge eine Umschreibung von spezifischen Aspek-
258 Schuppert/Neidhardt/Uerpmann, Gemeinwohl, S. 179, 190; zur Gewährleistungsverantwortung siehe Teil 2 F. 259 Brugger/Kirste/Anderheiden/Engel, Gemeinwohl, S. 108. 260 Siehe dazu Teil 2 C. Zur Regulierung der TK-Märkte vgl. auch BVerfG v. 8.12.2011 – 1 BvR 1932/08, MMR 2012, 186, LS der Redaktion; Maunz/Dürig/Di Fabio, Art. 2 GG Rn. 116. 261 Dazu Adomeit/Mohr/Mohr, § 1 AGG Rn. 11 ff. 262 Zur entsprechenden Schutzpflicht des Staates vgl. Gersdorf, in: FS Säcker, 2011, S. 681, 683; Hellermann, VVDStRL 70 (2011), 366, 375; Kersten, VVDStRL 69 (2010), 288, 320; Masing, Die Verwaltung 36 (2003), 1, 7; Berndt, Anreizregulierung, S. 38 mit Fn. 66; siehe zur Energierechtsreform 1998 auch BVerwG v. 11.7.2002 – 4 C 9/00, NJW 2003, 230, 231 f. 263 Siehe § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 TKG. 264 Schuppert/Neidhardt/Uerpmann, Gemeinwohl, S. 179, 180 ff.; Schuppert, GewArch 2004, 441, 444. 265 Dauses/Müller-Graff, A. I. Rn. 75.
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ten eines europäischen Gemeinwohls erblicken.266 Die Aufgaben- und Zielumschreibungen überlagern insoweit den „alteuropäischen Gemeinwohlinteressenbegriff“, ohne mit ihm in allen Punkten deckungsgleich zu sein. 267 Sie unterscheiden sich vor allem durch ihren höheren Konkretisierungsgrad vom „allgemeinen Gemeinwohlauftrag“ der EU-Mitgliedstaaten.268 Ein wesentlicher Ausdruck dieser „Hochzonung der staatlichen Verantwortung für das Gemeinwohl auf den europäischen Staaten- und Verfassungsverbund“ (Christian Calliess) 269 ist der durch den Lissabon-Vertrag neu geschaffene Art. 14 AEUV, der den „Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ einen verbesserten normativen Stellenwert einräumt.270 Auf diese Vorschrift werden wir noch zurückkommen. Für unsere Untersuchung wird sich insbesondere die Verpflichtung der Union auf eine soziale Marktwirtschaft gem. Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV als bedeutsam erweisen, da sich in dieser Vorschrift eine auch für die Mitgliedstaaten verbindliche, auf den Schutz individueller wirtschaftlicher Freiheit abzielende Wirtschaftsverfassung manifestiert, weshalb es insoweit nicht mehr überzeugend ist, auf die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes zu verweisen.271 Schon auf den ersten Blick weist Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV mit dem Begriffspaar „Marktwirtschaft“ und „sozial“ auf den grundlegenden Dualismus zwischen marktbezogenen und sonstigen, nicht-wettbewerblichen Gemeinwohlzielen hin, wie er sich auch im Begriffspaar „Selbstbestimmung“ und „Gemeinwohl“ zeigt. Der Dualismus bedarf im Rahmen konkreter Regelungsaufgaben deshalb der Auflösung durch den Gesetzgeber bzw. – bei der inhaltlichen Konkretisierung konfligierender Zielvorgaben (vgl. die §§ 1 EnWG, 1 TKG, § 1 Abs. 1 Satz 1 AEG) – durch die Exekutive und die Rechtsprechung. Für das Wettbewerbsrecht bedeutet dies, dass eine normativ getroffene Wert entscheidung für ein bestimmtes Schutzkonzept wie den Schutz der materialen Selbstbestimmung der Marktteilnehmer durch eine (Ausbeutungs-)Missbrauchskontrolle unternehmerischer Marktmacht nicht durch „freies wettbewerbspolitisches Räsonieren“272 in Frage gestellt werden darf, wie dies im Rahmen des im Jahr 2007 geschaffenen § 29 GWB zu beobachten war. Eine Auflösung etwaiger Zielkonflikte muss vielmehr „within the law“ erfolgen, also unter Beachtung der verfassungsgemäßen Wertentscheidungen des Gesetzgebers. 273 Aus diesem Grunde kann die Entscheidung des Gesetzgebers, eine Rechtferti266 Zur dogmatischen Begründung Brugger/Kirste/Anderheiden/Ch. Calliess, Gemeinwohl, S. 173, 177 ff. und insb. S. 194 ff.; vgl. auch Wolf, Effizienzen, S. 131. 267 Häberle, Öffentliches Interesse, S. 7 77. 268 Schuppert, GewArch 2004, 441 ff. 269 Brugger/Kirste/Anderheiden/Ch. Calliess, Gemeinwohl, S. 173, 186. 270 Krautscheid/von Danwitz, Daseinsvorsorge, S. 103, 118. 271 Siehe zur Begründung Teil 2 C. und D. 272 Säcker, Zielkonflikte, S. 21. 273 Mestmäcker, A Legal Theory without Law, S. 21; zust. Kerber, WuW 2008, 424.
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gung von Beschränkungen des freien Wettbewerbsprozesses durch ökonomische Effizienzerwägungen nur in Ausnahmefällen zuzulassen (paradigmatisch ist Art. 101 Abs. 3 AEUV), nicht durch eine allgemeine ökonomische Abwägung der Vor- und Nachteile unternehmerischen Verhaltens für die Wohlfahrt der Verbraucher im Rahmen der Interpretation des Merkmals „Wettbewerbsbeschränkung“ ersetzt werden (Problem der „rule of reason“). Auch ist es nicht zulässig, die wettbewerbsfördernde Regulierung der Netzwirtschaften in Form der Zugangs-, Entgelt- und Entflechtungsregulierung bei einer konkreten Regelungsentscheidung durch überindividuell-gemeinwohlfördernde Zwecke zu überlagern, selbst wenn diese in den allgemeinen Zielbestimmungen der Regulierungsgesetze formal gleichberechtigt neben der Sicherung und Förderung des Wettbewerbs benannt sein mögen (vgl. § 1 EnWG, §§ 1 und 2 TKG, § 1 AEG). Auf diese Problempunkte werden wir noch zurückkommen. b) Überblick über das ökonomische Verständnis von „Gemeinwohl“ Die ökonomischen Theorien über die Funktionsweise von Märkten und die darauf aufbauenden Empfehlungen für eine staatliche Regulierung bilden einen zentralen, späteren Erörterungen vorbehaltenen Gegenstand dieser Untersuchung. Aufgrund des Sachzusammenhangs wollen wir jedoch schon an dieser Stelle auf grundlegende Aussagen der Wirtschaftswissenschaften blicken, soweit diese das Legitimationskonzept des Gemeinwohls betreffen (vgl. Art. 101 Abs. 3 AEUV).274 aa) Neoklassische Wettbewerbstheorie In den Wirtschaftswissenschaften begegnet man dem Begriff des „Gemeinwohls“ – sofern damit kollektive oder gesellschaftliche Bedürfnisse gemeint sind – mit Skepsis: Bei einer „Bedürfnisse empfindenden Gemeinschaft“ handle es sich letztlich um eine „wohlklingende Fiktion mit Beschwichtigungsfunktion“, die dazu benutzt werden könne, nahezu jede staatliche Maßnahme zu rechtfertigen.275 Auf der Grundlage dieses grundsätzlich überzeugenden Befunds hat sich die neoklassische Ökonomie stattdessen auf die Untersuchung von Märkten spezialisiert. Sie will unter Ausblendung des institutionellen Umfelds (zu dem auch die Rechtsordnung gehört) und unter Konzentration auf Gleichgewichtsanalysen Aussagen über den möglichst effizienten Einsatz ökonomischer Ressourcen treffen, um auf diese Weise die bestmögliche Verwendung der knappen Produktionsfaktoren („effiziente Allokation der Ressour274 Gewisse Überschneidungen sind der Reduzierung der Komplexität und der besseren Darstellung geschuldet; der ökonomisch vorgebildete Leser wird insoweit um freundliches Verständnis gebeten. 275 Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik, S. 211.
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cen“) zu erreichen.276 Es soll ermittelt werden, wie eine gegebene Menge von Ressourcen (der „Input“) so einzusetzen ist, dass das Ergebnis (der „Output“) maximiert wird („ökonomisches Rational-Prinzip“).277 Eine solche Sichtweise wird jede Diskussion über die „gerechtere“ Verteilung von knappen Ressourcen als modellimmanent bedeutungslos ansehen; denn mit dem besseren Einsatz der Ressourcen steigt definitionsgemäß auch der Gesamtnutzen, womit Verteilungsprobleme an praktischer Relevanz zu verlieren scheinen.278 Darüber hinaus scheint es naheliegend, aus einer individuellen Nutzenlehre eine solche des Gesamtnutzens zu entwickeln, auch benannt als „gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt“ oder „soziale Wohlfahrt“, sofern man die Auswirkungen von Markttransaktionen auf Nichtmarktteilnehmer mit in den Blick nimmt („externe Effekte“ im weiteren Sinne).279 Das ist das Kerngebiet der Wohlfahrtsökonomie. bb) Wohlfahrtsökonomie Bei der Wohlfahrtsökonomie handelt es sich um eine normative Theorie.280 Während die positive Ökonomie als Realwissenschaft Kenntnisse über Funktionszusammenhänge von Änderungen rechtlicher Regelungen und den dadurch bewirkten Folgen produzieren kann (Wirkungsanalyse), fragt die normative ökonomische Theorie zusätzlich nach der wünschbaren Gestaltung rechtlicher Regelungen.281 Als wünschenswert angesehen wird regelmäßig eine Steigerung des Nutzens, wobei auf den Durchschnittsnutzen, den Gesamtnutzen oder etwa den Verbrauchernutzen abgestellt werden kann. Demgemäß kann man – stark verallgemeinernd – die positive ökonomische Theorie der juristischen Gemeinwohlsäule „Zweckmäßigkeit des Rechts“ zuordnen, 282 wohingegen die 276 Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157 f.; dazu Teil 4 C. III. Unter Allokation versteht man in den Wirtschaftswissenschaften zum einen die Verteilung der Güter auf die Konsumenten, wobei angegeben wird, wieviel jeder Konsument von jedem Gut erhält, und zum anderen eine Verteilung der Rohstoffe und Produktionsfaktoren auf die Unternehmen und die Angabe, welche Outputmengen in welchem Unternehmen hergestellt werden; vgl. Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 45. Allokation bedeutet somit letztlich die Zuweisung von Mitteln zu einer von alternativen Verwendungen, vgl. Streissler/Streissler, VWL für Juristen, S. 13 Rn. 69. 277 Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 159. 278 Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 160. 279 Vgl. Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289; Schuppert/ Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 162, wonach die Wohlfahrtsökonomie eine „Partialkritik“ der neoklassischen Wirtschaftstheorie enthalte, da hier auch das soziale Optimum beachtet werde. 280 Zu dieser Unterscheidung siehe Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 8 f.; Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 134; Eidenmüller, Effizienz, S. 21; Posner, Economic Analysis of Law, S. 24 ff. 281 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 136. Siehe noch Teil 4 C. III. 3. 282 Brugger/Kirste/Anderheiden/Brugger, Gemeinwohl, S. 17, 23, 31.
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Säule der „Legitimität des Rechts“ der normativen ökonomischen Theorie entspricht.283 In der normativen Ökonomie werden neben der Wohlfahrtsökonomie noch andere Möglichkeiten erörtert, die Wohlfahrt näher zu konkretisieren. Da wir hierauf im Rahmen der Theorien von Markt und Wettbewerb zurückkommen, können sich die folgenden Ausführungen auf einen Überblick unter dem spezifischen Blickwinkel des Gemeinwohls beschränken.284 Sofern ein Regelungsgeber den Individuen nicht von „oben“ ein bestimmtes Handlungsergebnis vorschreiben will, muss er über eine Möglichkeit verfügen, die Interessen der von einer Regelung oder Maßnahme Betroffenen zu aggregieren, um zu Aussagen über die „Wünschbarkeit“ gesellschaftlicher Zustände zu kommen. Dabei muss es bei einem Vergleich zweier Zustände zumindest möglich sein, denjenigen Zustand zu ermitteln, der aus gesellschaftlicher Sicht vorzuziehen ist (Bildung einer „Ordnung“). Die klassische utilitaristisch inspirierte Wohlfahrtsökonomie285 geht insoweit davon aus, dass man die Interessen der Individuen anhand eines objektiv gültigen Maßstabes abwägen kann („interpersoneller Nutzenvergleich“).286 In der modernen (Wohlfahrts-)Ökonomie hat sich demgegenüber die schon intuitiv einleuchtende Erkenntnis durchgesetzt, dass sich ein individueller Nutzen nicht interpersonell messen lässt, ohne den Individuen extern gesetzte Wertmaßstäbe zu oktroyieren.287 Folglich stellt die neue („paretianische“288) Wohlfahrtstheorie zur Bewertung der Gemeinwohlverträglichkeit von Handlungen – unter Verzicht auf eine quantitative Zusammenfassung der individuellen Nutzen – (nur) darauf ab, ob durch die Handlungen niemand mehr besser gestellt werden kann, ohne dass ein anderer schlechter gestellt würde.289 Der „Preis“ dieser Vorgehensweise ist, dass man zwar eine Teilmenge der gesellschaftlichen Zustände als „pareto-optimal“ kennzeichnen, jedoch innerhalb der unterschiedlichen Teilmengen keine Bewertung verschiedener Zustände vornehmen kann. Es kann vielmehr viele „pareto-optimale“ Zustände geben. Gesellschaftliche Entscheidungen bestehen jedoch typischerweise darin, aus der Menge der „pareto-optimalen“ Lösungen eine ganz bestimmte Lösung auszuwählen.290 Für diese Auswahlentscheidung ist das Pareto-Prinzip selbst nicht geeignet, da es als Entscheidungskriterium nur die Einstimmigkeit kennt, also 283 Brugger/Kirste/Anderheiden/Brugger,
Gemeinwohl, S. 17, 31 mit Fn. 29. Zum Folgenden Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289 ff. 285 Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1823; Mill/Mill, Liberty and Utilitarianism, 1871, S. 135 ff.; Sidgwick, The Methods of Ethics, 5. Aufl. 1893; dazu Eidenmüller, Effizienz, S. 22 ff. 286 Schumann/Schumann, Kosmos der Ökonomie, S. 248, 252. 287 Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 45; Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 160. 288 Pareto, Manual d’économie politique, 1906, S. 145 ff. 289 Dazu Teil 4 C. III. 3. c). 290 Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289, 294. 284
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gleichsam ein Vetorecht für jeden Einzelnen statuiert.291 Das Kriterium eignet sich somit nicht als Konfliktschlichtungsmechanismus, 292 weshalb es – im Ergebnis wohl zu negativ – als normatives Minimalkonzept gekennzeichnet wird; 293 denn das Pareto-Kriterium hat für das marktbezogene Vertragsrecht eine grundlegende Bedeutung, da es die sich auf der Grundlage privater Tauschakte konstituierende Wettbewerbswirtschaft legitimiert. 294 Während sich jedoch im wirtschaftlichen Bereich ein bestimmter Zustand aus einer Vielzahl von regelmäßig nicht bewusst koordinierten, wenn auch in der Realität normativ vorstrukturierten Entscheidungen der Marktteilnehmer, also gleichsam implizit ergibt („invisible hand“), muss im politischen Bereich häufig bewusst eine bestimmte kollektive Entscheidung herbeigeführt werden, indem etwa ein Gesetz erlassen wird.295 Die dafür erforderliche Auswahl unter mehreren paretoeffizienten Zuständen kann – wie das von Arrow aufgestellte Unmöglichkeitstheorem gezeigt hat 296 – nicht ausschließlich unter Rekurs auf das für eine Demokratie prägende Mehrheitsprinzip getroffen werden, da es bei Einhaltung minimaler Anforderungen an eine demokratische und konsistente Entscheidungsfindung nicht möglich ist, eine bestimmte Auswahl unter verschiedenen Zuständen zu treffen.297 Entscheidend ist vielmehr, wer die Abwägung vornimmt, mithin die „Abwägungskompetenz“ innehat.298 Der entsprechende Entscheidungsträger muss bei seiner Abwägung nicht nur die (untechnisch gesprochen) Funktionsfähigkeit von Märkten beachten, sondern auch die Befriedigung sonstiger – nicht ökonomischer – Ziele. Darüber hinaus sind Wohl fahrtseinbußen durch externe Effekte zu vermeiden.299 Aufgrund dieser Einschränkungen des Pareto-Kriteriums werden gemeinwohlbezogene Entscheidungen in der Wohlfahrtstheorie ergänzend über das sog. Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium begründet.300 Hiernach ist ein sozialer Zustand A auch dann einem anderen sozialen Zustand B vorzuziehen, wenn zwar einige Individuen schlechter gestellt werden, die Individuen im Zustand A jedoch die Individuen im Zustand B (fiktiv) entschädigen könnten und ihnen gleichwohl noch ein „Residualvorteil“ verbliebe.301 Die Wohlfahrt be291
Albert, Traktat über rationale Praxis, S. 130; Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 307. Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 192. 293 So Wigger, Finanzwissenschaft, S. 25. 294 Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289, 298 und 317. 295 Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289, 303 f. 296 Arrow, Social Choice and Individual Values. 297 Vgl. dazu Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289, 303 ff. 298 So zur juristischen Diskussion über die Definition des Gemeinwohls Schuppert, GewArch 2004, 441, 447. 299 Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 160. 300 Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289, 311; Schuppert/ Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 162. 301 Grundlegend Kaldor, Econ. J. 49 (1939), 549 ff.; Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696 ff.; vgl. dazu Eidenmüller, Effizienz, S. 51 ff.; Schnitker, Regulierung der Netzsektoren, S. 58; Lab292
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stimmt sich nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium also auf der Grundlage einer Kosten-Nutzen-Analyse,302 weshalb sich das Kriterium anders als das Pareto-Kriterium auch für Situationen bzw. Situationsänderungen nach Umverteilung eignet.303 Mit einer solchen Analyse kann man methodisch sowohl das Problem interpersoneller Nutzenvergleiche als auch dasjenige der kardinalen Nutzenmessung umgehen; 304 denn verglichen wird nicht mehr der subjektive Nutzen, sondern die Zahlungsbereitschaft, also eine monetäre Größe.305 Allerdings geht das Kaldor-Hicks-Kriterium von einer vorgegebenen – und damit ggf. sehr ungleichen – Ausgangslage aus. Der optimale Zustand, den man durch die Zahlung erreichen kann, gilt somit nicht allgemein, sondern nur auf der Grundlage der persönlichen Zahlungsbereitschaft.306 Auch muss die Zahlung in der Realität gerade nicht erfolgen. Es ist somit zweifelhaft, ob man auf dieser Grundlage noch von Gemeinwohl reden kann, auch wenn es in der politischen Wirklichkeit unabdingbar erscheinen mag, Nutzenabwägungen mit negativen Auswirkungen auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu treffen, sofern man sich nicht darauf zurückziehen will, bestimmte Abwägungen gänzlich zu vermeiden.307 cc) Freiheitliches Verständnis von Gemeinwohl Ein ausschließlich oder auch nur überwiegend wohlfahrtsökonomisches Verständnis von Gemeinwohl ist mit Blick auf Markt und Wettbewerb nicht zwingend. Es werden vielmehr auch freiheitliche (Markt-)Theorien vertreten, sei es ausschließlich oder im Rahmen einer beide Zielkomplexe betonenden – und damit vorzugswürdigen – Sichtweise (Paradigma: Konzept der Workable Competition). Dabei geht es im Ausgangspunkt um die Frage, ob der Wettbewerbs prozess unmittelbar normativ vorgegebene gute Ergebnisse erzielen oder durch den Schutz der individuellen Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer mittelbar zur Gemeinwohlerfüllung beitragen soll,308 wobei in der praktischen Wettbewerbspolitik die beiden Ansätze gemeinsam verwendet werden (Paradigma: Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV). Anders als bei einer überindivi duellgemeinwohlorientierten bzw. wohlfahrtsökonomisch-effizienzbasierten Sichtrenz, Anfechtungsklage, S. 18. Siehe auch van Aaken, „Rational Choice“, S. 217: Simulation einer „Einstimmigkeit durch Stimmenkauf“. 302 Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 193: Mutter der Kosten-Nutzen-Analyse. 303 Van Aaken, „Rational Choice“, S. 217. 304 Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289, 294. 305 Schumann/Schumann, Kosmos der Ökonomie, S. 248, 257. 306 Mathies, Effizienz oder Gerechtigkeit?, S. 65; siehe auch Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 315 ff. 307 So Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289, 295 und 312. Siehe zur Diskussion, ob die Menschenwürde des Art. 1 GG einer Abwägung zugänglich ist, Maunz/Dürig/Herdegen, Art. 1 GG Rn. 4 4 und 73 f. 308 Vgl. Kersten, VVDStRL 69 (2010), 280, 291.
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weise liegt den freiheitsbezogenen Ansätzen somit ein „gestuftes Gemeinwohlverständnis“ zugrunde.309 Nach diesem schützen die wettbewerbsrechtlichen Normen 310 die Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer in einem ergebnisoffenen Marktprozess, an dessen unverfälschter Gestalt ein allgemeines Interesse besteht (vgl. § 1 Satz 2 UWG).311 Die Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs als eines ergebnisoffenen „Entdeckungsverfahrens“312 begründet hiernach die durch Erfahrung bestätigte Erwartung, dass der so entstehende freie Markt mittelfristig besser als eine „diskretionäre Einzelsteuerung“ zu gesellschaftlichem Wohlstand, technischer Innovation und sozialer Dynamik führt.313 Auf dieser Grundlage beschränken sich rein freiheitsbezogene Ansätze auf die Ordnung von Märkten und blenden außerökonomische Gesichtspunkte aus, da diese über den freien Wettbewerb automatisch mit verwirklicht würden (Hoppmann). Die Vertreter des Ordoliberalismus betonten demgegenüber – insoweit in Übereinstimmung mit der Neuen Institutionenökonomik – die Zusammenhänge zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. So plädierte Walter Eucken für ein Denken in Ordnungen, um über den vielfältigen wirtschaftlichen Sachverhalten, die beobachtet werden, nicht den Blick für die grundsätzlichen Strukturen des Wirtschaftssystems zu verlieren.314 Die Wirtschaftsordnung dürfe nicht isoliert gesehen werden, sondern nur in Zusammenhang mit der politischen und der kulturellen Ordnung (Interdependenz der Ordnungen).315 dd) Neue Institutionenökonomik Die Neue Institutionenökonomik geht über die vorstehend erläuterte marktbezogene Sichtweise hinaus, da sie sich nicht auf die Allokation von Ressourcen auf Märkten beschränkt, sondern sich allgemein mit der Ordnung der Gesellschaft durch allgemeine Spielregeln beschäftigt, die das Verhalten der Indivi duen (die Spielzüge) kanalisieren und steuern.316 Die entsprechenden Rege lungen werden gemeinsam mit den Instrumenten ihrer Durchsetzung als „Institutionen“ bezeichnet.317 Dabei kann es sich um abstrakte Institutionen handeln 309 Dazu
Kersten, VVDStRL 69 (2010), 288, 291 m. w. N. zählen auch die Vorschriften der wettbewerbsfördernden Regulierung der Netzwirtschaften. 311 Siehe BVerfG v. 9.10.2000 – 1 BvR 1627/95, GRUR 2011, 266, 267. 312 Von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3 ; siehe dazu noch Teil 4 C. V. 2. 313 Kersten, VVDStRL 69 (2010), 288, 292. 314 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 19 ff.; Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 239; siehe dazu Teil 4 D. I. 3. 315 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 13 ff. 316 Vgl. zum Folgenden Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 163 ff. 317 Vgl. Voigt, Institutionenökonomik, S. 27. 310 Hierzu
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wie Vertrag, Privateigentum und Haftung, aber auch um Organisationen wie Markt und Unternehmen.318 Die Neue Institutionenökonomik will ebenso wie die neoklassische Wirtschaftstheorie Aussagen darüber generieren, wie menschliche Akteure in sozialen Interaktionen unter Knappheitsbedingungen auf Änderungen von Anreizen und Sanktionen reagieren. Zu diesen „Restriktionen“ zählen auch Institutionen wie rechtliche Regelungen.319 Ausgehend vom methodologischen Individualismus will die Neue Institutionenökonomik ermitteln, wie sich Änderungen der Institutionen bei konstanten Präferenzordnungen der Akteure auswirken. Hierfür verwendet sie mehrere Annahmen, insbesondere die Knappheit der Ressourcen, das Eigennutzentheorem sowie die Rationalität der Marktakteure.320 Sie modifiziert diese allerdings dahingehend, dass Informationen nicht kostenlos zur Verfügung stehen, Transaktionen mit Kosten verbunden sind und die Rationalität der Akteure beschränkt ist.321 Demgemäß rückt die Informa tionsgewinnung und Informationsverarbeitung in das Zentrum der Untersuchung, da Institutionen als unvollständig angesehen werden, seien es Verträge oder Gesetze.322 Dies wird uns noch in Zusammenhang mit den Möglichkeiten und Grenzen ökonomischer Theorien beschäftigen. Institutionen finden sich auf unterschiedlichen Regelungsebenen, vom zweiseitigen Austauschvertrag bis hin zur Verfassung von Staaten. Dabei bilden die privat gesetzten Regelungen gleichsam die Basis und die Verfassungen die Spitze einer Pyramide, wobei die Regelungen der höheren Ebene die darunter liegenden Ebenen determinieren.323 Bei der Frage, wie die verschiedenen Ebenen auszugestalten sind, kommt der Gemeinwohlbezug der Neuen Institutionenökonomik zum Tragen.324 Diese erweitert den Anwendungsbereich ihres Forschungsgebiets insoweit, als sie das ökonomische Paradigma auf Fragestellungen von anderen Disziplinen anwendet, im Sinne einer allgemeinen Gesellschaftstheorie zur Untersuchung von Interaktionen unter dem Aspekt der Ressourcenknappheit („Rational Choice-Ansatz“).325 Auf der Basis des normativen Individualismus wird als legitimationsstiftendes Element einer rechtlichen Regelung nicht der daraus zu erzielende Vorteil, sondern der (hypothetische) Konsens zwischen den Individuen über den Nutzen steigernde Effekte angesehen, der unter einem „Schleier des Nichtwissens“ 318
Kirchner, in: FS Ingo Schmidt, 1997, S. 33, 34. Rühl, Statut und Effizienz, S. 94. 320 Siehe Teil 4 C. III. 2. 321 Siehe ausführlich Teil 4 D. II. 2. 322 Kirchner, in: FS Ingo Schmidt, 1997, S. 33, 36. 323 Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 166. 324 Kirchner, in: FS Ingo Schmidt, 1997, S. 33, 37. 325 Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 165; ausführlich Van Aaken, „Rational Choice“. 319
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(Rawls) 326 zu ermitteln sei.327 Das Gemeinwohl wird somit nicht als eine von außen kommende Vorgabe für einen Konsensfindungsprozess angesehen, sondern als das Ergebnis desselben.328 Aufgrund der Annahme unvollständiger Information werden die Gestaltungsempfehlungen als vorläufig in dem Sinne behandelt, dass sie bei einer Falsifizierung mit möglichst geringen Kosten geändert werden können.329 Auch sind diese nicht statisch, sondern entsprechend den Präferenzen der relevanten Personen veränderlich in der Zeit.330 Aus institutionenökonomischer Sicht kann es also nicht die eine Gemeinwohldiskussion geben, sondern es sind verschiedene Gemeinwohldiskussionen denkbar. Das deckt sich insoweit mit einer zivilistischen Herangehensweise, als es dort um den Ausgleich der Interessen freier und chancengleicher Individuen geht. ee) Vorläufiges Ergebnis „Wohlfahrt“ wird in den Wirtschaftswissenschaften auf der Grundlage unterschiedlicher methodischer und normativer Ansätze ermittelt. Dabei kann man verallgemeinernd zwischen ergebnisoffenen Ansätzen und ergebnisbezogenen Ansätzen unterscheiden. Zu ersteren gehören grundsätzlich freiheitsbezogene Theorien, zu letzteren zählt die reine Wohlfahrtstheorie mit ihrer Ausrichtung qua Werturteil auf die Maximierung des Nutzens bestimmter Personengruppen. Auf diese Theorien werden wir noch vertieft zurückkommen. Zunächst wollen wir uns einem spezifischen Aspekt der (wettbewerbs-)rechtlichen Gemeinwohldiskussion zuwenden, den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. 3. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Eine Einschränkung individueller wirtschaftlicher Handlungsfreiheiten aus überindividuell-objektiven Gründen kann, wie wir zuvor gesehen haben, aus (wohlfahrts-)ökonomischen Gründen indiziert sein. Dies ist das Regelungskonzept des Art. 101 Abs. 3 AEUV, der in seiner „Auslegung“ durch die VO Nr. 1/2003 einen Ex-lege-Freistellungstatbestand für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen enthält. Daneben kann eine Einschränkung individueller Handlungsfreiheiten auf rechtlich-gemeinwohlinduzierte Gründe gestützt werden. Paradigmatisch ist die Regelung des Art. 106 Abs. 2 AEUV, der zentrale Aussagen auch für das dogmatische Verständnis des Regulierungsrechts enthält. 326
Rawls, A Theory of Justice, sec. 24. Es wird auf den hypothetischen Konsens abgestellt, damit keine Vollkompensation der „Verlierer“ erfolgen muss, vgl. Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 168. 328 Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 173. 329 Dazu Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 25 f. 330 Schuppert/Neidhardt/Kirchner, Gemeinwohl, S. 157, 172. 327
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a) Legalausnahme von den Wettbewerbsvorschriften Der Dualismus zwischen dem Ideal der Selbstbestimmung und sonstigen überindividuell-gemeinwohlbezogenen Interessen 331 kommt im europäischen Wettbewerbsrecht prägnant in Art. 106 Abs. 2 AEUV (Art. 86 Abs. 2 EG) i. V. mit Art. 14 AEUV zum Ausdruck. Das an einen funktionalen Unternehmensbegriff anknüpfende europäische Wettbewerbsrecht kennt keinen generellen Ausnahmebereich für die öffentliche Daseinsvorsorge.332 Vielmehr normiert Art. 106 Abs. 2 Satz 1 AEUV eine beschränkte Legalausnahme, wonach die Wettbewerbsregeln für Unternehmen, die mit „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ betraut sind, lediglich insoweit gelten, als ihre Anwendung nicht die Erfüllung der den Unternehmen übertragenen, für die Bürger besonders wichtigen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindert bzw. übermäßig beeinträchtigt. Mit dem Begriff der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse bezieht sich Art. 106 Abs. 2 AEUV auf marktbezogene („wirtschaftliche“) Tätigkeiten, die auch im Interesse der Allgemeinheit erbracht und aus diesem Grunde von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden.333 Zu diesen Diensten gehören die netzwirtschaftliche Versorgung der Verbraucher mit Energie,334 Telekommunikations-335 und Transportleistungen.336 In den Anfangsjahren der Europäischen Gemeinschaften wurde die Ausnahmevorschrift für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse von den Mitgliedstaaten vor allem dazu herangezogen, die Verleihung ausschließlicher Rechte an Monopolunternehmen zu legitimieren.337 Im Gegenzug wurden diese Unternehmen zwar einer besonderen staatlichen Missbrauchsaufsicht unterzogen. In der Praxis war diese jedoch wenig effektiv. Auf die hierauf zurückgehende sog. Monopolrechtsprechung zu den §§ 138, 315 BGB werden wir noch zurückkommen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat die entsprechenden Sektoren deshalb in den 1990er-Jahren – ausgehend von Art. 86 Abs. 1 EG 331 Auch die Gewährleistung eines wirksamen Wettbewerbsprozesses liegt in einer marktwirtschaftlichen Grundordnung im Gemeinwohl (Kersten, VVDStRL 69 (2010), 288, 291), weshalb die Abgrenzung zwischen „wettbewerbsbezogenen“ und „gemeinwohlbezogenen“ Diensten über die Hinzufügung der Vokabel „sonstige“ erfolgt. 332 Dauses/Hoffmann, Art. 101 und 102 AEUV im Überblick Rn. 57. 333 Krautscheid/von Danwitz, Daseinsvorsorge, S. 103, 113; Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer, Art. 106 AEUV Rn. 78 f. 334 EuGH v. 27.4.1994 – C-393/92, Slg 1994, I-1477 – Almelo; siehe zur Versorgung mit Strom und Gas als „service public“ Lecheler, RdE 1996, 212 ff. 335 EuGH v. 13.12.1991 – Rs C-18/88, EuZW 1992, 250 Rn. 16 – RTT/GB-Inno. 336 Siehe zum Flugverkehr EuGH v. 11.4.1989 – C-66/86, Slg. 1989, 803 Rn. 5 4 ff. – Ahmed Saeed Flugreisen. 337 MünchKommEUWettbR/Gundel, Art. 86 EG Rn. 102; Calliess/Ruffert/Jung, Art. 106 AEUV Rn. 43.
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(Art. 106 Abs. 1 AEUV), der auch öffentliche Unternehmen den Bedingungen des Marktes unterwirft 338 – stufenweise einer Liberalisierung unterzogen.339 Auf dieser Grundlage obliegt es heute zwar weiterhin den Mitgliedstaaten, die als Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne des Art. 106 Abs. 2 AEUV geltenden Präferenzen zu konkretisieren.340 Sie müssen hierbei jedoch im Interesse einer einheitlichen Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten bestimmte unionsrechtliche Mindestanforderungen einhalten.341 b) Paradigma: Universaldienstleistungen In der europäischen Wettbewerbspolitik erfolgte der Ausgleich zwischen dem Wettbewerbsprinzip und sonstigen Erwägungen des Gemeinwohls durch die Errichtung wettbewerbsorientierter Märkte einerseits und durch das Statuieren eines normativen Rahmens andererseits, mit dem die Erbringung der als besonders gemeinwohlbezogen definierten Versorgungsleistungen und ihre Finanzierung geregelt wird.342 Aus diesem Grunde wurden die unionsrechtlich vorgegebenen Maßnahmen zur Liberalisierung und Deregulierung der Netzsektoren sekundärrechtlich mit dem Vorbehalt versehen, dass die Öffnung der bisher staatlich kontrollierten und monopolisierten Märkte mit der Sicherung von „universal service“ (Universaldienstleistungen) einhergehen muss.343 Hierunter versteht man allgemein solche Leistungen, die gemessen am bestehenden technischen Status quo für eine angemessene Grundversorgung der Bevölkerung erforderlich sind, weshalb die Bürger einen Anspruch darauf haben, Zugang zu diesen Leistungen zu einem erschwinglichen Preis zu erhalten.344 Das Universaldienstmodell soll zum einen die flächendeckende Versorgung der Verbraucher mit (infrastrukturbasierten) Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sichern, zum anderen den latenten Konflikt mit dem Wettbewerbsziel abmildern, der jedenfalls dann besteht, wenn Leistungen nicht (mehr) über den Markt erbracht werden können.345 Häufig kann die gemeinwohlrelevante Leistung jedoch auch in einem Wettbewerbsmarkt erbracht werden, weshalb es gar keiner gemeinwohlindizierten Sonderrechte bedarf. Es wäre deshalb nicht 338
Möschel, JZ 2003, 1021, 1022. Dazu MünchKommEUWettbR/Gundel, Art. 86 EG Rn. 121 ff. 340 Krautscheid/von Danwitz, Daseinsvorsorge, S. 103, 119. 341 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer, Art. 106 AEUV Rn. 7 7. 342 MünchKommEUWettbR/Gundel, Art. 86 EG Rn. 124. 343 Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer, Art. 106 AEUV Rn. 9. Vgl. zur Genese des Begriffs „universal service“ aus einer Werbekampagne von AT&T im Jahr 1908 und dem damit verbundenen Gedanken, Wettbewerb in den Netzen sei schädlich für Netzstabilität und Netzoperabilität, Fetzer, MMR 2011, 707, 708. 344 Arnd/Fetzer/Scherer/Fischer, Vor § 78 ff. TKG Rn. 5 ff.; Fetzer, MMR 2011, 707, 708; ders., Staat und Wettbewerb in dynamischen Märkten, S. 476 ff. 345 Pointiert Krautscheid/von Danwitz, Daseinsvorsorge, S. 103, 115; Pielow, a. a. O., S. 133, 150; Immenga/Mestmäcker/Mestmäcker/Schweitzer, Art. 106 AEUV Rn. 10. 339
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überzeugend, wollte man den Universaldienst/die Grundversorgung in einen strikten Gegensatz zur Erbringung von Leistungen über den Markt setzen.346 4. Leistungen der Daseinsvorsorge zwischen Wettbewerb und Gemeinwohl a) Begriff Eng mit dem Gemeinwohl und den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verwandt ist der Begriff der Daseinsvorsorge („service public“347). Dieser aufgrund seiner Unschärfe oft bemängelte Terminus bezieht sich auf die Aufgabe des Staates, die gleichmäßige Versorgung seiner Bürger mit essentiellen Gütern und Leistungen zu gleichen Bedingungen sicherzustellen.348 Er geht in Deutschland auf die grundlegende Erkenntnis Ernst Forsthoffs zurück, dass sich die Verwaltung nicht nur als Eingriffsverwaltung verstehen darf, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch als Leistungsverwaltung fungieren muss.349 Klassische Domäne der Daseinsvorsorge ist die Versorgung der Bürger mit für die Lebenshaltung notwendigen, dem jeweiligen Stand der Zivilisation entsprechenden Leistungen, sofern diese nach Ansicht des jeweiligen Gesetzgebers über den Markt nicht gewährleistet ist.350 b) Historische Sicht Leistungen der Daseinsvorsorge wurden historisch nicht nur vom Gesamtstaat und den Bundesländern erbracht, sondern auch von den Kommunen, d. h. von den Landkreisen, Städten und Gemeinden. Auf Bundesebene wurden zur Daseinsvorsorge neben den Sektoren Post und Rundfunk insbesondere die Telekommunikation 351 und das Eisenbahnwesen 352 gezählt. Auf Kommunalebene gehörte zu den althergebrachten Leistungen der Daseinsvorsorge neben dem öffentlichen Personennahverkehr, dem Unterhalt von Bildungs- und Kultureinrichtungen vor allem die Grundversorgung mit Wasser und Energie (elektrischer Strom und Gas).353 Es handelt sich somit um Leistungen, deren Erbringung – im oben beschriebenen Sinne – im „öffentlichen Gemeinwohl“ steht. Paradigmatisch ist die Rechtsprechung zur Sicherung der Energieversorgung (vgl. § 1 Abs. 1 EnWG), wonach diese nicht nur für die einzelnen Individuen zur Entfaltung einer menschenwürdigen Existenz geboten sei, sondern auch für die 346
So aber Fetzer, MMR 2011, 707, 710. Schorkopf, JZ 2008, 20, 27. 348 Krautscheid/Waiz, Daseinsvorsorge, S. 41; Klees, Energiewirtschaftsrecht, S. 6 4 f. 349 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938. 350 Krautscheid/Henneke, Daseinsvorsorge, S. 17, 18; Jarass, Art. 36 EU-GRCharta Rn. 2. 351 Bullinger, in: FS Zacher, 1998, S. 85 ff. 352 Dazu etwa BVerwG v. 15.3.1989 – 7 C 42/87, BVerwGE 81, 312, 314. 353 Vgl. Krautscheid/Pielow, Daseinsvorsorge, S. 133 ff. 347
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Wirtschaftstätigkeit insgesamt eine überragende Bedeutung habe.354 Im Zuge der deutschen Energiewende hat die Versorgungssicherheit erneut eine zentrale Bedeutung erlangt; dies ist hier nicht weiter zu vertiefen. c) Privatisierung und Liberalisierung Während Leistungen der Daseinsvorsorge über Jahrzehnte hinweg als klassische Aufgaben des Staates angesehen wurden, sei es, dass sie durch öffentliche Unternehmen erbracht wurden, sei es, dass der Staat privaten Unternehmen eine rechtlich gesicherte Monopolstellung zubilligte, erfolgte seit den 1990er-Jahren ein grundlegender Wechsel im Verständnis staatlicher Aktivität,355 der sich im vorliegenden Zusammenhang durch die Begriffe Privatisierung und Liberalisierung kennzeichnen lässt, also durch die Umwandlung öffentlicher in private Unternehmen und die rechtliche Marktöffnung durch Aufhebung von Monopolrechten.356 Vor diesem Hintergrund war zu klären, welches die Kernaufgaben staatlicher Tätigkeit sind, welche Güter der Staat also seinen Bürgern selbst bereitstellen kann oder sogar muss, und wann eine Versorgung über den Markt sinnvoller ist.357 Auch nach der Liberalisierung und Privatisierung hat sich an der Bewertung der Relevanz von Leistungen der Daseinsvorsorge für die einzelnen Bürger und die staatliche Gemeinschaft durch die Rechtsprechung grundsätzlich nichts geändert. Die Ziele der Daseinsvorsorge sollten nunmehr jedoch nicht mehr durch eine Monopolisierung der jeweiligen Sektoren erreicht werden, sondern soweit möglich durch wettbewerbliche Märkte.358 Insoweit erscheint es zulässig, von einem Konzept der „Daseinsvorsorge durch Wettbewerb“ zu sprechen.359
IV. Zwischenergebnis Die Privatrechtsordnung gründet auf der Idee individueller Selbstbestimmung. Da Menschen als „soziale Wesen“ in Gemeinschaft mit anderen leben, kann mit Selbstbestimmung keine grenzenlose Freiheit gemeint sein. Vielmehr unterliegen sie in ihrem Verhältnis zu den Mitmenschen und zur staatlichen Gemeinschaft immanenten Beschränkungen. Worin diese Bindungen genau liegen – in einem fairen und chancengleichen Miteinander der Bürger und/oder in einem 354 Klees, Energiewirtschaftsrecht, Rn. 118; BVerfG v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66 u. a., NJW 1971, 1255, 1258; BVerfG v. 20.3.1984 – 1 BvL 28/82, BVerfGE 66, 248, 258; zur Wasserversorgung siehe BVerfG v. 7.6.1977 – 1 BvR 108, 424/73 u. a., NJW 1977, 1960, 1962. 355 Hoffmann-Riem, DÖV 1997, 433 benennt als Gründe die Komplexität der Lebensverhältnisse in modernen Industriestaaten und die Prozesse der Europäisierung und Globalisierung sowie eine zunehmende Ökonomisierung. 356 Kurth, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2003, S. 341 und 344. 357 Kurth, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2003, S. 341, 342. 358 BVerfG v. 10.9.2008 – 1 BvR 1914/02, WM 2009, 422. 359 So der Titel der Dissertation von Berschin, Daseinsvorsorge durch Wettbewerb.
B. Wichtige Grundbegriffe
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überindividuell-objektiven Gemeinwohlbezug – ist Gegenstand der Theorien vom Vertrag und vom Wettbewerb als dessen funktionaler Grundlage. Als Gegenbegriff zur Selbstbestimmung (verstanden als Individualwohl) und damit als Rechtfertigungsgrund zur Beschränkung individueller Freiheiten fungiert das Gemeinwohl. Wir haben freilich gesehen, dass es den einen festen Gemeinwohlbegriff nicht gibt und wohl auch nicht geben kann. Das Gemeinwohl konkretisiert sich in rechtlichem Kontext vielmehr je nach Regelungsbereich durch unterschiedliche Wertungen. Dabei gilt es aus zivilistischer Sicht zu beachten, dass gemeinwohlinduzierte Regelungen des Wirtschaftsverkehrs mit einer Einschränkung individueller Freiheiten einhergehen können, die es zu rechtfertigen gilt. So wurde etwa in den Netzsektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen aufgrund der spezifischen ökonomischen Gegebenheiten lange Zeit eine Monopolisierung der Leistungserbringung zu Gunsten weniger öffentlicher oder privater Unternehmen als im gemeinen Wohl liegend angesehen, auch wenn damit die individuelle Selbstbestimmung aller anderen Marktteilnehmer negiert wurde. Demgegenüber besteht heute Einigkeit darüber, dass die entsprechenden Güter und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge auch über den Markt angeboten werden können, sofern bestimmte regulatorische Rahmenbedingungen gegeben sind. Die staatliche Regelsetzung erfolgt insoweit also nicht mehr „gegen“ die individuelle Selbstbestimmung, sondern „für“ diese. Dies zeigt, dass das Gemeinwohl nicht notwendig in einem Gegensatz zur Selbstbestimmung steht. Andererseits bedarf nicht jede staatliche Regelung, die der individuellen Selbstbestimmung dient, einer Rechtfertigung über das Gemeinwohl. Wir werden auf diese Fragen zurückkommen. An dieser Stelle können wir als erstes Zwischenfazit festhalten, dass Ausdrücke wie „Selbstbestimmung“, „Gemeinwohl“ und „allgemeiner Nutzen“ für sich genommen einen begrenzten Erkenntniswert haben. Ihre eigentliche Aussagekraft entfalten sie erst bei Offenlegung der zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und der sie ausgestaltenden und flankierenden Rechtsnormen. Ein vergleichbares Phänomen wird uns sogleich beim Begriff des Instituts bzw. – in juristischer Diktion – der Institution begegnen. Aus diesem Grunde werden wir diese Termini nachfolgend mit weiteren näher explizieren.
B. Wichtige Grundbegriffe Mit Blick auf das Ziel der Untersuchung, am Beispiel der rechtlichen Behandlung der Folgeverträge die gemeinsamen Grundlagen des Vertragsrechts, des Wettbewerbsrechts und des Regulierungsrechts herauszuarbeiten, sollen im Folgenden zunächst wichtige, das übergreifende Verständnis erleichternde Grundbegriffe erläutert werden, da diese im Schrifttum mit unterschiedlichen Inhalten belegt werden.
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I. Individual- und Institutsschutz (Institutionenschutz) Da Menschen nach historischer Erfahrung auf ein „Leben in Gemeinschaft“ angelegt sind, diese Gemeinschaft jedoch anders als bei bestimmten Tieren nicht instinktiv, d. h. durch angeborene Verhaltensmuster gewährleistet ist, bedarf es der Ergänzung ererbter Verhaltensanlagen durch künstliche Verhaltensmuster.360 Arnold Gehlen hat diese normativen Verhaltensordnungen, die den Menschen im jeweils in Rede stehenden Bereich Orientierungssicherheit geben sollen, als „Institutionen“ gekennzeichnet.361 Hierzu zählen auch rechtliche Regelungen. Diese sind – wie wir oben schon gesehen haben – von einem grundlegenden Dualismus zwischen Individualschutz und Gemeinwohlerwägungen geprägt. Vokabeln für bestimmte Ausprägungen des Individualschutzes sind in unserem Zusammenhang „Privatautonomie“, „Vertragsfreiheit“, „Selbstbestimmung“,362 „Wettbewerbsfreiheit“,363 aber auch „relative Machtlosigkeit“ und „gegenseitige Unabhängigkeit“.364 Zur Charakterisierung der überindi viduellen gemeinwohlbezogenen Aufgaben werden ebenfalls unterschiedliche Vokabeln benutzt, wie „Funktionsschutz“,365 „Ordnungsfunktion“,366 „wirtschaftspolitische Funktion“367 und „makrojuristische Funktion“.368 Vor allem im Wettbewerbsrecht,369 im Lauterkeitsrecht 370 und im Regulierungsrecht 371 werden zur Beschreibung der überindividuellen Schutzfunktionen auch die Termini „Institutsschutz“372 bzw. „Institutionenschutz“373 verwandt. Der Institutsschutz ist von einer Beschreibung des realen Wettbewerbsprozesses und der ihn regulierenden rechtlichen und gesellschaftlichen Normen zu unterscheiden, da er regelmäßig zur normativen Einordnung des Schutzguts wettbewerbsrechtlicher Normen verwandt wird.374 Wenn also vom Schutz des 360 So
Zippelius, Einführung in das Recht, 3. Aufl. 1990, S. 2. Gehlen, Moral und Hypermoral, S. 95; siehe auch Röhl, Rechtssoziologie, S. 393 ff. 362 MünchKommVVG/Armbrüster, Vorb. vor §§ 6 , 7: Informations- und Beratungspflichten des Versicherers, Rn. 6 f.; ausführlich Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung. 363 Hoppmann, JBNSt. 179 (1966), 286, 305 ff. 364 Zu beiden Säcker, BB 1967, 681, 683. 365 Möslein, Dispositives Recht, S. 172. 366 Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 248 f.; Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 13 ff.; Fornasier, Freier Markt, S. 16. 367 Engel, JZ 1995, 213. 368 Fleischer, Informationsasymmetrien im Vertragsrecht, S. 178 ff. 369 Glöckner, Kartellrecht, Rn. 50: Schutz des Wettbewerbs als Institution als „Schutz des Allgemeininteresses am funktionsfähigen Wettbewerb“. 370 Leistner, Richtiger Vertrag, S. 198. 371 Gärditz, AöR 135 (2010), 251, 262. 372 So der ökonomisch vorzugswürdige Begriff, um den „Institutsschutz“ von der Neuen Institutionenökonomik abzugrenzen; für diesen Hinweis danke ich Ingo Schmidt. 373 So der im juristischen Schrifttum überwiegend verwandte Begriff, vgl. Säcker, in: FS Canenbley, 2012, S. 397, 401. 374 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 389. 361
B. Wichtige Grundbegriffe
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„Instituts“375 oder der „Institution“376 des Wettbewerbs gesprochen wird, wird anders als in der Soziologie377 und in der Neuen Institutionenökonomik ein Bezug zu normativen Gemeinwohlerwägungen hergestellt.378 Bei Lichte besehen beinhaltet der Begriff des Instituts bzw. der Institution aber nur eine leere Begriffshülse, die mit jedem beliebigen Inhalt gefüllt werden kann, je nachdem, welche ökonomische und rechtliche Theorie man zugrunde legt.379 Aus dogmatischer Sicht ist mit einem Verweis auf den Schutz der Institution „Vertrag“ oder „Wettbewerb “ohne ein Offenlegen der dahinter stehenden Konzeption somit nichts gewonnen. Ein Argumentieren mit dem Institutsschutz trägt oft sogar eher zur Verschleierung der eigentlichen Sachprobleme bei. Das gilt etwa für eine Argumentation, die vordergründig ein freiheitliches Verständnis des Wettbewerbs zugrunde legt, um dann jedoch den Wettbewerbsprozess und mit ihm die individuellen wirtschaftlichen Freiheiten der Marktteilnehmer unter Verweis auf die Notwendigkeit eines Institutsschutzes einzuschränken,380 soweit es nur wettbewerbspolitisch opportun erscheint. Rudolf 375 Zur Herleitung aus dem römischen Recht siehe C. Möller, in: FU Berlin Fachbereichsschrift, S. 12, 13. 376 Siehe zu unterschiedlichen Interpretationsvarianten (Institut = Privatrecht; Institution = öffentliches Recht) Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 279. 377 In der Soziologie ist eine Institution eine mit Handlungsrechten, Handlungspflichten oder mit normativer Geltung belegte soziale Wirklichkeit, durch die Individuen, Gruppen oder Gemeinschaften nach innen und nach außen hin verbindlich (geltend) wirken oder handeln; so Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 286 f. Aus zivilistischer Sicht siehe Bachmann, Private Ordnung, S. 13, wonach der rechtssoziologische Begriff der Institution in der Sache auf die „unspektakuläre These“ hinauslaufe, dass „das Recht die Seinsgesetze in gewissem Sinne zu rezipieren“ habe. Dogmatisch sei der soziologische Institutsbegriff angreifbar, sofern er die „soziale Funktion“ von Rechtsinstituten im Sinne ihrer „Gemeinschaftsdienlichkeit“ in den Vordergrund rücke (Bachmann, a. a. O.). 378 So Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 279. 379 Mestmäcker/Biedenkopf/Hoffmann/Hoppmann (Hrsg.), Wettbewerb als Aufgabe, S. 61, 103; Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S. 83. Siehe auch – insoweit zutreffend – Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung, S. 62 ff., insb. S. 63: „Der Schutz der ‚Institution Wettbewerb‘ erweist sich bei näherer Betrachtung als inhaltsleere Hülle. Spricht man von der ‚Institution Wettbewerb‘, dann geht es in Wahrheit um eine Gesamtheit von Vorgängen und Prozessen, für die das Recht Rahmenbedingungen vorgibt, die innerhalb dieser Rahmenbedingungen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten ablaufen und deren Ablauf – aus sehr verschiedenen Gründen, über die keineswegs Einigkeit besteht – als wünschenswert angesehen wird.“ 380 Paradigmatisch K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, der die „Außenwirkung wettbewerbsbeschränkender Verträge“ zu Recht als spät erkanntes Problem der Privatrechtswissenschaft benennt (S. 181), um dann aber – unter nochmaligem Hinweis, die alte „Innensicht des Kartellvertrages“ sei endlich einer Betrachtung der negativen Außenwirkungen gewichen – die Ansicht vertritt, die von dem Kartell beeinträchtigten Marktteilnehmer würden nur dann geschützt, wenn dies auch dem Wettbewerb „als Institution“ diene, und dies sei eigentlich nur selten der Fall (S. 188, unter Verweis auf Busche, Kontrahierungszwang, S. 319 f. und 393). Damit wird die „Außensicht“ nicht etwa auf den Schutz der individuellen Selbstbestimmung bezogen, wie man dies eigentlich erwartet hätte, sondern auf übergeordnete Gemeinwohlinteressen wie dasjenige der (individuellen, wirtschaftlichen oder etwa ethischen) „Effektivität“.
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Wiethölter hat für ein solch überindividuelles Verständnis den Terminus „Wettbewerb als sozialer Sachwalter“ geprägt.381 Bei einer material-freiheitlichen Sichtweise kann das Institut des Wettbewerbs demgegenüber nicht von den Freiheitsrechten der Marktteilnehmer abgetrennt werden, da erst durch Ausübung dieser Freiheiten der Prozess des Wettbewerbs in Gang kommt und in Gang gehalten wird. In diesem Sinne kommt dem Institut Wettbewerb keine über die Zusammenfassung der individuellen Freiheitsrechte in der Ordnung eines freien und unverfälschten Wettbewerbsprozesses hinausgehende Bedeutung zu. Wer den Institutsbegriff demgegenüber dazu heranzieht, die individuellen Freiheiten zum Zwecke der Effektivität einzuschränken,382 lädt diesen mit überindividuellen Gesichtspunkten auf und trägt hierfür die Begründungslast.
II. Wettbewerbsrecht (Kartellrecht) und Lauterkeitsrecht Nach herkömmlicher Terminologie bezeichnet der Begriff des Wettbewerbsrechts das Lauterkeitsrecht,383 welches in Deutschland im UWG normiert ist.384 Legt man demgegenüber ein die gesamte rechtliche Ordnung des Wettbewerbs einschließendes Verständnis zugrunde, erfasst der Begriff des Wettbewerbsrechts zusätzlich das verkürzt (aber dem gemeinen deutschen Sprachgebrauch entsprechend) als Kartellrecht bezeichnete Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen.385 Das Lauterkeitsrecht und das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen stehen in einem engen Funktionszusammenhang, was sich bereits im einheitlichen Zweck der beiden Rechtsgebiete manifestiert, den Wettbewerb vor Verfälschungen zu schützen und damit die Funktionsbedingungen einer auf Wettbewerb gegründeten Marktwirtschaft zu sichern.386 Entsprechend der unionsrechtlichen Terminologie, die im Zuge der Harmonisierung des Unionsrechts mit den nationalen Wettbewerbsordnungen auf Letztere zurückwirkt, wird in dieser Untersuchung mit Wettbewerbsrecht das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen bezeichnet (Wettbewerbsrecht; competition law/droit de la concurrence). Der Begriff Kartellrecht wird – auch im Rahmen älterer 381 Wiethölter, JbRSoz 8 (1982), 38, 42; diese Sichtweise führt zu einer Interpretation von Regelungen zur Preiskontrolle als „polit-ökonomisches“ Instrument [a. a. O., Fall geändert; Verf.], und nicht als wettbewerbskonformes Mittel zur Beschränkung privater Macht. 382 So für deliktische Ansprüche mittelbar Kartellgeschädigter K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 188; für vertragliche Ansprüche selbst der unmittelbaren Abnehmer ders., in: FS Möschel, 2011, S. 559, 572. 383 Besser: das Recht der marktbezogenen Lauterkeit. 384 GroßKommUWG/Sosnitza, Bd. 1 Einl. Rn. 24. 385 Vgl. Kirchner, ZHR 173 (2009), 775, 777 Fn. 3. 386 Grundlegend Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz, S. 4 ff., 306 ff.; siehe auch Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, § 5 Rn. 20 f; Glöckner, Europäisches Lauterkeitsrecht, 2006, S. 282; Köhler, WRP 2005, 645; Piper/Ohly/Sosnitza/Ohly, Unlauterer Wettbewerb-Gesetz, 5. Aufl. 2010, A. Rn. 2.
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Zitate387 – synonym mit demjenigen des Wettbewerbsrechts im engeren Sinne gebraucht.388 Hiervon abzugrenzen ist das Lauterkeitsrecht, das nach seiner konkreten dogmatischen Ausgestaltung einen eigenständigen Regelungsbereich bildet und deshalb von uns nicht näher betrachtet wird (unfair competition law/ droit de la concurrence dèloyale).389 Zwar wird die Problematik der Folgeverträge auch im Lauterkeitsrecht kontrovers diskutiert.390 Sie ist dort jedoch von anderen Schwerpunkten wie der Diskussion um ein allgemeines lauterkeitsrechtliches Vertragslösungsrecht geprägt.391
III. Regulierungsrecht Unsere Untersuchung befasst sich mit den Grenzen, die der Vertragsfreiheit durch das Wettbewerbs- und das Regulierungsrecht gesetzt werden. Der nach seinem Wortsinn weitgehend konturenlose Begriff des Regulierungsrechts392 wird im rechtlichen und ökonomischen Schrifttum unterschiedlich verwendet.393 Aus diesem Grunde ist eine Klärung des vorliegend zugrunde gelegten Begriffsverständnisses vonnöten.
387 Vgl. den Titel der Arbeit von Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010. 388 Anders zum Beispiel Paul, Gesetzesverstoß und Vertrag, S. 26 Fn. 40, die den Begriff des Kartellrechts auf Kartelle i. S. von Art. 101 AEUV, §§ 1 bis 3 GWB beschränkt. 389 Siehe den Titel der Arbeit von Leistner, Richtiger Vertrag. 390 Vgl. Köhler, GRUR 2003, 265 ff.; Sack, GRUR 2004, 625 ff.; Alexander, WRP 2012, 515 ff. mit w. N. in Fn. 4 ; umfassend Leistner, Richtiger Vertrag. 391 Siehe dazu – in Zusammenhang mit der Abgrenzung zur kartellrechtlichen Folgevertragsdiskussion – Paul, Gesetzesverstoß und Vertrag, S. 177 f., die den lauterkeitsrechtlichen Vorschriften die Eigenschaft als Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB absprechen will. Dies konfligiert mit Pauls eigener Argumentation zu kartellrechtlichen Folgeverträgen. Siehe auch Köhler, JZ 2010, S. 767 ff., wonach die lauterkeitsrechtlichen Tatbestände zwar Verbotsgesetze sein könnten, aufgrund der Notwendigkeit differenzierter Sanktionen aber „etwas anders bestimmt sei“. Auch diese Argumentation ist zweifelhaft, da sie faktisch unterstellt, verbotswidrige Verträge seien insgesamt unwirksam (S. 773). 392 Durner, VVDStRL 70 (2011), 398, 402; Körber, in: FS Möschel, 2011, S. 1043. 393 Das ist historisch auch auf den Umstand zurückzuführen, dass der Begriff Regulierung in Europa – anders als beispielsweise in den USA (Müller/Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 21 ff.) – noch keine lange Tradition besitzt (Ruge, AöR 131 (2006), 1, 22). Eine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion setzte hier erst in den 1980er Jahren mit der zunehmend erkannten Notwendigkeit einer Deregulierung und Privatisierung bestimmter Wirtschaftssektoren ein. Siehe Möschel, JZ 1988, 885 ff.; ders., FS Immenga, 2004, S. 277 ff. In die Wettbewerbsrechtsordnung eingeführt wurde der Begriff „Regulierung“ durch das TKG 1996, vgl. Picot/Picot, Regulierung von Netzindustrien, S. 10.
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Teil 1: Einleitung
1. Marktregulierung Regulierung im weiteren Sinne meint alle staatlichen Vorgaben für Wirtschaftssubjekte, die deren Handlungsspielraum einschränken.394 Hiernach wäre letztlich jede staatliche Gesetzgebung und ihre Ausführung durch die Verwaltung als Regulierung einzustufen, was den Begriff konturenlos werden ließe.395 Der weite Regulierungsbegriff im Sinne eines „Ansteuerns von Gemeinwohlzielen durch staatliche Regelungen“396 kann deshalb allenfalls dazu dienen, „als analytische Folie Aussagen über regelungstechnische Konvergenzen und spezifische Regulierungsinstrumente einzelner Rechtsgebiete zu liefern“.397 Zur Konkretisierung unseres Untersuchungsgegenstandes wollen wir Regulierung deshalb in einem ersten Schritt dahingehend einschränken, dass sich der Begriff nur auf die Wirtschaftsregulierung beziehen soll.398 Nicht näher betrachtet werden damit Regelungen, die für jedes Zusammenleben konstitutiv sind, der Gefahrenabwehr dienen oder primär „soziale“ Belange verfolgen, wie dies etwa im Verbraucher- und im Arbeitnehmerschutzrecht der Fall ist. Wir beschäftigen uns vielmehr nur mit staatlichen Maßnahmen zur Lenkung des Marktgeschehens, also mit der „Marktregulierung“.399 Eine moderne (Markt-)Wirtschaftsordnung wird grundsätzlich durch generell-abstrakte Regeln und nicht durch Einzelfallentscheidungen geleitet.400 Demgemäß werden im Idealfall nicht die Marktergebnisse kollektiv (insbesondere durch politischen Entscheid) geplant und umgesetzt, sondern es werden Regeln implementiert, die den Akteuren bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben oder verbieten. Die Funktionsfähigkeit der dezentralen Marktordnung ist somit keine gegebene Größe, sondern hängt von den rechtlichen Regeln ab, auf denen Markt und Wettbewerb beruhen; denn erst die Existenz von generell-abstrakten Regeln generiert individuelle Freiheitsbereiche und schafft Er-
394 So mit Blick auf die Steuerung von „Marktprozessen“ im Gegensatz zu „allgemeinen Austauschprozessen“ Tenhagen, Legitimation der Regulierung, S. 20; siehe auch die Definition von Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 12; vgl. schließlich Körber, in: FS Möschel, 2011, S. 1043: Verhältnis des Staates zu den Märkten. 395 Berndt, Anreizregulierung, S. 31. 396 Schmidt-Preuß, in: FS Reiner Schmidt, 2006, S. 5 47, 549; zum Begriff des Gemeinwohls siehe Teil 1 A. III. 2. 397 So Durner, VVDStRL 70 (2011), 398, 403 f.; siehe auch Röhl, JZ 2006, 831, 833, wonach der weite Regulierungsbegriff als analytisches Konzept tragfähig sei und erkenntnisleitende Kraft entfalte, jedoch als Grundlage für eine gemeinsame Regelungsaufgabe des Gesetzgebers zu heterogen erscheine. 398 Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 20; Grundmann/Renner, JZ 2013, 379, 388. 399 Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 283 und 299. 400 Siehe, auch zum Folgenden, Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 287 ff. Dies lässt sich sowohl auf eine die individuelle Selbstbestimmung schützende Wirtschaftsverfassung (Teil 2) als auch auf Gründe ökonomischer Vernunft zurückführen (Teil 4).
B. Wichtige Grundbegriffe
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wartungs sicherheit für Investitionen.401 Als ökonomisch „wohlstandsmindernd“ und juristisch „ungerecht“ könnten demgegenüber auf den ersten Blick solche Regeln angesehen werden, die gegen den allgemeinen Charakter des Ordnungsrahmens verstoßen. Handelt es sich um an sich funktionsfähige Märkte, können derartige Eingriffe in den freien Marktmechanismus die Anreize für Unternehmen mindern, sich aktiv am Konkurrenzkampf um die Befriedigung der Kundenbedürfnisse zu beteiligen. Auf der anderen Seite können Eingriffe in den Marktmechanismus aber auch dem Schutz der materialen Freiheit der Bürger dienen und auf diesem Wege zugleich die Funktionsbedingungen einer wettbewerblichen Marktwirtschaft sichern; denn ein wirksamer Wettbewerbsprozess setzt nicht nur voraus, dass die Marktteilnehmer ihre Präferenzen frei bilden können, sondern auch, dass sie die Chance haben, diese wirklich in den Prozess des gegenseitigen Aushandelns des Vertragsinhalts einbringen zu können. Einzelfallbezogene Eingriffe in den Markt können schließlich geboten sein, um in Sektoren, in denen die Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts (Art. 102 AEUV, § 19 GWB) nicht ausreicht, ein Marktversagen zu beheben (§ 10 Abs. 2 TKG), einen wirksamen Wettbewerb aktiv zu initiieren und dauerhaft zu erhalten.402 In diesen Fällen ist eine wettbewerbsfördernde Ex-ante-Regulierung nicht systemfremd (im Sinne einer Einschränkung der individuellen wirtschaftlichen Freiheiten), sondern ganz im Gegenteil zwingend geboten, um Wettbewerb zu fördern und zu sichern. 2. Regulierung der Sektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen Da sich die regulierten Wirtschaftssektoren sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in den regulatorischen Abhilfemaßnahmen voneinander unterscheiden, wollen wir den Begriff des Regulierungsrechts für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung auf die Netzindustrien Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen beschränken.403 Diese Branchen eignen sich besonders gut für eine gemeinsame Betrachtung, da ihr Geschäftsmodell wesentlich vom Vorhandensein und Funktionieren von Netzen abhängt.404 Darüber hinaus sind sie trotz der zeitlich unterschiedlichen Liberalisierungsbemühungen ähnlichen Regulierungskonzepten unterworfen.405 401 Dies ist eine wesentliche Erkenntnis des Ordoliberalismus, der sich heute die institutionenökonomisch fundierte Ordnungsökonomik widmet; vgl. Teil 4 D. I. und II. 402 Weiterführend Säcker/Heinen-Hosseini/Woesler, § 10 Rn. 63 ff.; Bosch, Marktregulierungsentscheidungen der Bundesnetzagentur, S. 170 ff. 403 Siehe auch Masing, Gutachten D zum 66. DJT, S. 10. 404 Picot/Picot, Regulierung von Netzindustrien, S. 10. 405 Auch wenn die Marktergebnisse im Einzelnen divergieren, bewirkten diese infolge der Privatisierung und Liberalisierung eine deutliche Wettbewerbsbelebung auf den nachgelagerten Güter- und Dienstleistungsmärkten; vgl. Schnitker, Regulierung der Netzsektoren, S. 2.
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Teil 1: Einleitung
Allgemein lassen sich Netze als „raumübergreifende, komplex verzweigte Transport- und Logistiksysteme für Güter, Informationen und Personen“ beschreiben.406 Eine Netzbranche kann unterteilt werden in Infrastrukturen, Suprastrukturen und Netzleistungen.407 Die Infrastruktur bezieht sich auf Stromund Telekommunikationsleitungen, Schienenwege und Serviceeinrichtungen. Zur Suprastruktur gehören im Energiebereich Steuerungen, Sicherungen und Verbindungen, im Telekommunikationsbereich die Auskunftssysteme und im Bereich Eisenbahnen etwa die Signale, Zugleitungs- und Fahrplaninformationssysteme. Auf der Netzinfrastruktur werden wiederum die netzbasierten Leistungen erbracht, welche auch Versorgungsleistungen mit Energie, Telekommunikations- und Transportdiensten umfassen. Zwar weisen die vorbenannten Sektoren tatsächliche und rechtliche Besonderheiten auf, die mit den unterschiedlichen technischen Voraussetzungen und physikalischen Eigenschaften der durch die Netze transportierten Güter zusammenhängen.408 Diese Besonderheiten stehen einer einheitlichen, die spezifischen Anforderungen des jeweiligen Sachgebiets respektierenden Betrachtung jedoch nicht entgegen; 409 denn die Regulierung zielt hier übergreifend auf die Förderung und Sicherung wirksamen Wettbewerbs zwischen den an der Netznutzung interessierten Unternehmen durch die diskriminierungsfreie Öffnung der Netze zu angemessenen Bedingungen und die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung ab.410 Während die Regulierung im Energie- und im Eisenbahnrecht mangels genereller Duplizierbarkeit der Netze eine dauerhafte Aufgabe des Staates ist, ist sie im Bereich der Telekommunikation wegen der dort herrschenden Dynamik partiell transitorisch. Aus diesem Grunde ist der Gesetzgeber dort von einer Sektoren- zu einer Einzelmarktregulierung übergegangen (vgl. die §§ 9 ff. TKG).411 Beispielsweise sind im TK-Sektor aufgrund des technischen Fortschritts einzelne Netze mit vertretbarem finanziellem Aufwand replizierbar geworden, so dass sich insoweit ein dauerhafter „Infrastrukturwettbewerb“ herausbilden konnte. Die TK-Regulierung setzt deshalb – anders als diejenige der Energie- und der Schienennetze – eine gesonderte Feststellung von Marktmacht auf regulierungsbedürftigen Märkten voraus (so die §§ 9 ff. TKG).412 Dies schließt es nicht aus, einzelne Netze auch im TK-Bereich 406 V. Weizsäcker, ZfE 1994, 197; ders., WuW 1997, 572; zust. Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 42; König/Theobald, in: FS Blümel, 1998, S. 277, 279; Heise, WuW 2009, 1024. 407 Schnitker, Regulierung der Netzsektoren, S. 13. 408 Oberender/Säcker, Wettbewerb in der Energiewirtschaft, S. 65, 69. 409 Picot/Picot, Regulierung von Netzindustrien, S. 11; a. A. Gersdorf, in: FS Säcker, 2011, S. 681, 682. 410 Oberender/Säcker, Wettbewerb in der Energiewirtschaft, S. 65, 70. 411 Oberender/Säcker, Wettbewerb in der Energiewirtschaft, S. 65, 70. 412 Knieps, Netzökonomie, S. 155; Holznagel/Theurl/Meyer/Schumacher, OwnershipUnbundling, S. 12; Knieps/Weiß/Brunekreeft/Meyer, Fallstudien zur Netzökonomie, S. 171, 172.
B. Wichtige Grundbegriffe
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als natürliche Monopole einzustufen. Bekanntestes Beispiel ist die sog. Teilnehmeranschlussleitung (TAL), also die Verbindung innerhalb eines Telekommunikationsnetzes zwischen der Ortsvermittlungsstelle des Netzbetreibers und dem Telefonanschluss des Dienstnutzers (vgl. § 21 Abs. 3 Nr. 2 TKG),413 sofern nicht im Einzelfall insbesondere in Großstädten ein glasfaserbasierter Infrastrukturwettbewerb greift. Auf der Eigenschaft als Monopol basiert auch die Regulierung der Mobilfunkterminierung; denn jeder Mobilfunkbetreiber ist für die Zustellung von Telefonaten in seinem Netz marktbeherrschend („ein Netz, ein Markt“).414 Die Bereiche Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen lassen sich von anderen „regulierten“ Sektoren schließlich „institutionell“415 durch die Zuständigkeit der BNetzA als „Mischform zwischen exekutierender und Normen setzender Verwaltung“ unterscheiden.416 Durch diese Kompetenzzuweisung hat der Gesetzgeber inzident anerkannt, dass sich in den der Kontrolle durch die BNetzA unterstehenden Netzwirtschaften vergleichbare Fragestellungen ergeben.417 3. Unterscheidung zwischen Wettbewerbsregulierung und sonstiger gemeinwohlorientierter Regulierung Die sektorspezifische Regulierung wird weiterhin in Wettbewerbsregulierung („marktbezogene Regulierung“418) und sonstige gemeinwohlorientierte Regulierung ausdifferenziert.419 Eine solche Kategorisierung trägt – ebenso wie diejenige zwischen wettbewerbsfördernder privatrechtlicher und öffentlichrechtlich-gemeinwohlinduzierter Regulierung – dazu bei, über einander widerstrebende Interessen Klarheit zu erlangen; denn beide Zielkomplexe können zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen.420 Instrumente der Wettbewerbsregulierung zielen nach klassischem Verständnis darauf ab, einen freien und material-chancengleichen Wettbewerbsprozess
413 Hoeren/Sieber/Oster, Multimedia-Recht, § 4 Rn. 61; Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 317 f.: Telefonortsnetz; Neumann/Koch, Telekommunikationsrecht, Kap. 1 Rn. 28. Bei der Teilnehmeranschlussleitung oder kurz TAL handelt es sich um die „letzte Meile“ zwischen Hauptverteiler bzw. Kabelverzweiger und Hausanschluss, vgl. Picot/ Picot, Regulierung von Netzindustrien, S. 9, 21; detailliert Picot/Gerpott, a. a. O., S. 149, 150 f. 414 Geppert/Schütz/Korehnke/Ufer, § 11 TKG Rn. 65 f. 415 Nicht zu verwechseln mit den unter Teil 1 B. I. erläuterten Begriffen „Institut“ bzw. „Institution“. 416 So Masing, Gutachten D zum 66. DJT, S. 10; siehe auch Picot/Picot, Regulierung von Netzindustrien, S. 11 f.; Körber, in: FS Möschel, 2011, S. 1043. 417 Berndt, Anreizregulierung, S. 25. 418 So Hellermann, VVDStRL 70 (2011), 366, 369. 419 Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 20; ihm folgend Höppner, Netzstruktur, S. 29; Berndt, Anreizregulierung, S. 32. 420 Ruge, AöR 131 (2006), 1, 24.
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Teil 1: Einleitung
herzustellen und zu sichern.421 Paradigmatisch ist das nach seinem teleologischen Regelungsansatz – d. h. vorbehaltlich politisch-interessenbestimmter Bereichsausnahmen – grundsätzlich auf alle Wirtschaftssektoren anwendbare allgemeine Wettbewerbsrecht.422 Demgegenüber werden die im Regulierungsrecht normierten, invasiveren Eingriffsbefugnisse der BNetzA durch besondere rechtliche und ökonomische Regulierungsgründe gerechtfertigt.423 Insofern beinhaltet „Regulierung“, auch soweit es sich um eine Wettbewerbsregulierung handelt, kein allgemeingültiges Wirtschaftsrecht, sondern ist von den jeweils angesprochenen Sektoren aus zu betrachten („sektorspezifische Regulierung“).424 Regulierte Wirtschaftsbereiche in diesem Sinne sind die Post, Banken und Versicherungen, das Gesundheitswesen und die Landwirtschaft, aber auch die im Zentrum unserer Untersuchung stehenden Sektoren der netzgebundenen Versorgung mit Energie, Telekommunikation und (Schienen-)Verkehr.425 In den letztgenannten Sektoren will die staatliche Regulierung die durch das Netz begründeten dauerhaften wirtschaftlichen Machtpositionen wirksam begrenzen und so – aus zivilistischer Sicht – die Voraussetzungen für materiale Vertragsfreiheit auf von Vermachtung betroffenen Märkten schaffen und erhalten.426 Während das wettbewerbsrechtliche Missbrauchsverbot dieses Ziel durch eine Ex-post-Kontrolle unternehmerischen Verhaltens zu erreichen sucht, operiert das Recht der Regulierung natürlicher Monopole bzw. marktmächtiger Stellungen auf regulierungsbedürftigen Märkten als Folge der besonderen sektorspezifischen Regulierungsbedürftigkeit sowohl mit einer missbrauchsabstellenden Ex-post-Aufsicht als auch mit einer missbrauchsvorbeugenden Ex-anteRegulierung.427 Strikt zu unterscheiden von der damit angesprochenen Art und Weise der „Regulierung“ ist die Frage nach dem anzuwendenden Maßstab. Dieser kann in einer Wettbewerbswirtschaft übergreifend nur auf eine Situation wie bei hypothetisch wirksamem Wettbewerb bezogen sein (Konzept des Als-ob-Wettbewerbs).
421 Nach der gesetzlichen Konzeption soll der Wettbewerb nicht nur auf den nachgelagerten Märkten, sondern auch im Netz (vgl. §§ 17, 20 ff. EnWG) und um das Netz erfolgen (§ 46 EnWG); a. A. Schmitt/Staebe/dies., Eisenbahn-Regulierungsrecht, Rn. 2. 422 Das Wettbewerbsrecht kennt heute nur noch wenige Ausnahmebereiche, vgl. dazu aus historischer Sicht Martinek, NJW 1990, 793 ff.; zum „realen Anwendungsbereich des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen“ im Gegensatz zum Unlauterkeitsrecht Säcker, BB 1967, 681 ff. Aktuelles Beispiel für einen fortbestehenden Ausnahmebereich ist die Wasserwirtschaft gem. den §§ 31 ff. GWB i. d. Fassung der 8. GWB-Novelle. Für eine Unterstellung der Vergabe von Wasser(dienstleistungs-)konzessionen unter das allgemeine wettbewerbliche Vergaberecht Säcker/Mohr, ZWeR 2012, 417 ff. 423 Müller/Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 19; siehe Teil 6 B. bis D. 424 Picot/Picot, Regulierung von Netzindustrien, S. 9. 425 Körber, in: FS Möschel, 2011, S. 1043. 426 Säcker/Säcker, Einl. I TKG Rn. 8 . 427 Säcker, AöR 130 (2005), 180, 188 f.
B. Wichtige Grundbegriffe
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Im Rahmen einer sektorspezifisch-marktwirtschaftlichen Regulierung ist – was wir uns zum besseren Verständnis schon an dieser Stelle vor Augen halten wollen – die Unterscheidung zwischen der Infrastrukturebene und der Dienste ebene von entscheidender Bedeutung: 428 Während sich in den Regulierungsgesetzen im Allgemeinen nur wenige Vorgaben für die Bereitstellung der Endnutzerleistungen finden,429 die, soweit sie verbraucherschützenden Charakter haben, normsystematisch dem allgemeinen BGB-Vertragsrecht und nicht dem Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen zuzuordnen sind, steht die Netz ebene aufgrund spezifischer Regulierungsgründe im besonderen Fokus regulatorischer Bemühungen. Diese setzt sich wiederum aus den Segmenten Errichtung, Bereitstellung und Betrieb des Netzes zusammen. Im Zentrum der Regulierung der Netze steht der Zugang zum Netz als Teil des Netzbetriebs.430 Dieser lässt sich unterscheiden in eine Zugangsregulierung im engeren Sinne durch Bestimmung des Zugangsobjekts, des Zugangsberechtigten, des Zugangsverpflichteten und des Inhalts der Verpflichtung, in eine Regulierung der Entgelte als Gegenleistung für den Zugang, in eine Netzengpassregulierung431 sowie in eine Entflechtungsregulierung zur Trennung von Netz- und Dienste ebene.432 Das Recht der Wettbewerbsregulierung ist im Bereich der Netzwirtschaften also ein Systembegriff, der Normen zusammenfasst, die sich primär auf den Zugang Dritter zu fremden Netzen und Infrastruktureinrichtungen zu angemessenen Bedingungen beziehen.433 Da sich die Interessen der Nutzungspetenten nicht allein auf den Zugang, sondern vor allem auf die Bedingungen der Nutzung richten, hat der Gesetzgeber detaillierte Vorgaben für die Leistungserbringung gemacht, wozu insbesondere die Hauptleistungspflichten zählen.434 Anders als das allgemeine Wettbewerbsrecht hat das Regulierungsrecht aber nicht nur die Wettbewerbsorientierung der Aufgabenerfüllung durch Private zu fördern, sondern zugleich die Gemeinwohlorientierung der Dienstleistungen sicherzustellen.435 Unter die sonstige gemeinwohlbezogene Regulierung werden gemeinhin alle Regelungen gefasst, die nicht primär die Rivalität zwischen 428
Jüngst mit Blick auf die TK-Regulierung Fetzer, Staat und Wettbewerb, S. 319 ff. etwa im Energiewirtschaftsrecht die allgemeine Anschlusspflicht in § 18 Abs. 1 EnWG, die Grundversorgung gem. § 36 Abs. 1 EnWG oder die Ex-ante- und Ex-post-Kontrolle von Konditionen für die Endkundenleistungen gem. §§ 18 Abs. 3, 36, 39, 41 EnWG. 430 Gärditz, AöR 135 (2010), 251, 255; Oberender/Säcker, Wettbewerb in der Energiewirtschaft, S. 65, 70. 431 Dazu ausführlich König, Engpassmanagement, S. 27 ff. 432 Höppner, Netzstruktur, S. 59. Siehe zur Entflechtung Säcker/Mohr, N&R Beilage Heft 2/2012, 1; für eine Komplementarität der Regulierungsinstrumente Koenig/Rasbach, DÖV 2004, 733; davon abweichend wiederum Rasbach, Unbundling-Regulierung, S. 41. 433 Busche, Kontrahierungszwang, S. 605; Schmitt/Staebe/dies., Eisenbahn-Regulierungsrecht, Rn. 1. 434 Busche, Kontrahierungszwang, S. 612 ff. 435 BerlKommEnR/Säcker, Bd. 1 Einl. A. Rn. 30. 429 Vgl.
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Unternehmen regeln,436 aber gleichwohl Einfluss auf die Verhältnisse auf einem bestimmten Markt nehmen.437 Dabei gilt es nochmals zu betonen, dass wettbewerblich organisierte Märkte und Gemeinwohlerwägungen in keinem zwingenden Gegensatz zueinander stehen. Vielmehr stellen auch ein funktionierendes, die individuelle Selbstbestimmung sicherndes Vertragsrecht sowie ein chancengleicher wirksamer Wettbewerb wichtige Gemeinwohlgüter dar.438 Darüber hinaus folgt der Gesetzgeber im Regulierungsrecht – insoweit der Erkenntnis von Adam Smith folgend, dass die „invisible hand“ des Marktes die Individualinteressen der Bürger zum Wohl der Gesamtheit zusammenfasst – jedenfalls im Ausgangspunkt dem Konzept einer Gemeinwohlorientierung durch Wettbewerb.439
IV. Wettbewerbsbeschränkung Unter einer Wettbewerbsbeschränkung („Wettbewerbsverletzung“) wird in unserer Untersuchung nicht nur ein Verstoß gegen das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen, sondern auch ein solcher gegen das Recht der wettbewerbsfördernden Regulierung der Netzwirtschaften verstanden; denn die wettbewerbsfördernde Regulierung der Netzsektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen konkretisiert lediglich das allgemeine wettbewerbsrechtliche Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV bzw. des § 19 GWB.440
V. „Public enforcement“ und „private enforcement“ Im Wettbewerbs- und Regulierungsrecht sind verschiedene Wege der Rechtsdurchsetzung denkbar,441 die gemeinhin nach den dazu berufenen Personen bzw. Stellen unterschieden werden.442 Wettbewerbsverstöße können zum einen durch Behörden geahndet werden, indem diese verwaltungsrechtliche Verfügungen erlassen oder Bußgelder verhängen. Als weitere Variante der öffentlichen Durchsetzung des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts stehen bei be-
436 Da die regulierten Netzsektoren bis zu ihrer Liberalisierung als wettbewerbsrechtliche Ausnahmebereiche angesehen worden sind, wurde die Regulierung bis dato gänzlich unter dem Aspekt der Gemeinwohlorientierung betrachtet, Ruge, AöR 131 (2006), 1, 23; siehe auch Müller/Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 342. 437 Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 21; Höppner, Netzstruktur, S. 29; Baldwin/ Cave/Lodge, Understanding Regulation, S. 22. 438 BVerfG v. 8.12.2011 – 1 BvR 1932/08, MMR 2012, 186, LS der Redaktion. 439 Siehe Teil 1 A. III. 4. c). 440 Oberender/Säcker, Wettbewerb in der Energiewirtschaft, S. 65, 70; Masing, Gutachten D zum 66. DJT 2006, S. 103. 441 Möschel, WuW 2007, 483, 483. 442 Krüger, Durchsetzung des Kartellverbots, S. 16.
B. Wichtige Grundbegriffe
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sonders gravierenden Verstößen Straftatbestände zur Verfügung.443 Die vorbenannten Sanktionen werden gemeinhin unter dem Oberbegriff des „public enforcement“ zusammengefasst. Hiervon zu unterscheiden sind die privatrechtlichen Möglichkeiten einer Ahndung von Verstößen gegen das Wettbewerbs- und Regulierungsrecht, auch als „private enforcement“ bezeichnet.444 Die aktuelle Private-enforcement-Bewegung reagiert aus rechtspolitischer Sicht auf Durchsetzungsdefizite des „public enforcement“ infolge der begrenzten Kapazität und Leistungsfähigkeit der Wettbewerbsbehörden445 sowie der Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung.446 Darüber hinaus will sie die Durchsetzung der Vorschriften gegen Wettbewerbsbeschränkungen durch materielle Anreize effektuieren.447 Aus (privat-)rechtlichem Blickwinkel steht die Sicherung der wirtschaftlichen Selbstbestimmung durch die Möglichkeit zu privatem Rechtsschutz im Vordergrund,448 die nicht automatisch im Gegensatz zum öffentlichen Interesse an einem funktionsfähigen Wettbewerbsprozess steht. Das „private enforcement“ unterteilt sich in eine aktive und eine passive Variante449 : Als aktiv oder „offensiv“ werden diejenigen Prozesse bezeichnet, die ihrem Gegenstand nach auf die Durchsetzung kartellrechtlicher Verbote oder Verbotssanktionen zielen.450 Hauptbeispiele der offensiven Durchsetzung des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts sind Klagen auf Beseitigung, Unterlassung und Schadensersatz. Auch die Nichtigkeit wettbewerbsbeschränkender (Folge-)Vereinbarungen kann zum Gegenstand offensiver Kartellklagen gemacht werden, sei es in Form einer auf die Verletzung des Kartellverbots (Art. 101 AEUV, § 1 GWB) gestützten Beschluss-Anfechtungsklage nach den §§ 243, 246 AktG,451 einer auf Feststellung der Vertragsnichtigkeit nach Art. 101
443 Siehe dazu im Kontext der Diskussion über die Rechtswirksamkeit von Folgeverträgen Paul, Gesetzesverstoß und Vertrag, S. 130 ff.; siehe auch Teil 9 D. VI. 2. c). 444 Darüber hinaus steht das „private enforcement“ derzeit auch im Kapitalmarkt- und im Verbraucherschutzrecht in der Diskussion; vgl. Möslein, Dispositives Recht, S. 192. 445 Enthusiastisch noch Engel, JZ 1995, 213, 215. 446 Kommission, Working Paper, Annex to the Green Paper: Damages actions for breach of the EC antitrust rules, COM(2005) 672 final, Rn. 14; Basedow, ZWeR 2006, 294, 306; Möschel, WuW 2007, 483, 487; Griller/Eilmansberger/Thyri, Europäische Wirtschaftsverfassung, S. 163, 164. 447 Krüger, Durchsetzung des Kartellverbots, S. 17. 448 Siehe OGH (Österreich) v. 14.2.2012 – 5 Ob 39/11p, WuW KRInt 394, 398 – Gesamtschuldnerische Haftung; offen gelassen von OGH (Österreich) v. 2.8.2012 – 4 Ob 46/12m, WuW KRInt 421, 427 ff. 449 K. Schmidt, BB 2006, 1397, 1398; ders., ZEuP 2004, 881 ff.; ders., AcP 206 (2006), 169, 174; ders., ZWeR 2007, 394, 397. 450 K. Schmidt, ZWeR 2007, 394, 397; Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, 213, 215. 451 K. Schmidt, in: FS Fischer, 1979, S. 693 ff.; siehe auch Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, S. 355 f. und öfter.
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Abs. 2 AEUV bzw. § 1 GWB i. V. mit § 134 BGB gerichteten Klage,452 einer kartellrechtlich begründeten Schiedsspruch-Aufhebungsklage nach § 1059 ZPO453 oder einer Rückforderungsklage aus ungerechtfertigter Bereicherung, soweit sie auf die (Teil)-Nichtigkeit wegen einer Verletzung des Wettbewerbsrechts gestützt wird.454 Defensive Kartellprozesse zeichnen sich dadurch aus, dass der Verstoß einer Vereinbarung oder Maßnahme gegen das Wettbewerbs- und Regulierungsrecht zumeist als Einwendung oder Einrede, also als Vorfrage in den Prozess eingeführt wird.455 Die Nichtigkeit bzw. Unbilligkeit einer Vereinbarung spielt insoweit also regelmäßig eine tragende Rolle, auch wenn die Relevanz wettbewerbsund regulierungsrechtlicher Fragestellungen in der Praxis anders als bei offensiven Kartellklagen nicht immer offen zu Tage liegen mag. Während etwa die wettbewerbsrechtliche Relevanz eines Rechtsstreits auf Einhaltung eines Wettbewerbsverbotes nahe liegt, ist dies bei einer Klage auf Schadensersatz wegen Nichteinhaltung desselben schon nicht mehr so deutlich, auch wenn der Erfolg des Klagebegehrens hier ebenfalls davon abhängt, ob und in welchem Umfang das Wettbewerbsverbot wirksam ist.456 Vergleichbares gilt für einen Antrag auf Vollstreckbarerklärung eines Schiedsspruchs gem. § 1060 ZPO, der nicht begründet ist, wenn die zugrunde liegende Vertragsbindung und damit der Schiedsspruch selbst gegen zwingendes Wettbewerbs- oder Regulierungsrecht verstößt (§§ 1060 Abs. 2, 1059 Abs. 2 Nr. 2a ZPO).457
VI. Verbraucher und Marktgegenseite Für das „private enforcement“ zum europäischen und deutschen Wettbewerbsund Regulierungsrecht ist die Bestimmung des geschützten Personenkreises besonders bedeutsam.458 Dieser wird gemeinhin mit den Verbrauchern umschrieben. Wer als Verbraucher anzusehen ist, wird im Wettbewerbs- und im Vertragsrecht aber unterschiedlich interpretiert. Gem. § 13 BGB ist Verbraucher als Gegenbegriff zum in § 14 BGB definierten Unternehmer „jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zwecke 452
OLG München v. 18.1.2001 – U (K) 5630/99, WuW DE-R 968 LS – Riegele. Eilmansberger, SchiedsVZ 2006, 5, 14. 454 BGH v. 13.12.1990 – KZR 2/89, WuW/E BGH 2675 – Nassauische Landeszeitung. 455 K. Schmidt, ZWeR 2007, 394, 397. Eine nicht näher zu behandelnde Zwischenform zwischen public und private enforcement sind Ansprüche eines Geschädigten gegen eine Kartellbehörde auf ein Einschreiten oder Rechte eines Privaten auf Beteiligung an einem öffentlichen Verfahren; siehe dazu Möschel, WuW 2007, 483, 483. 456 K. Schmidt, ZWeR 2007, 394, 398; zu Wettbewerbsverboten siehe Mohr, WuW 2011, 112 ff. 457 Siehe zu §§ 1042 und 1041 ZPO a. F. BGH v. 25.10.1966 – KZR 7/65, BGHZ 46, 365, 372 – Schweißbolzen, unter Hinweis auf die Zugehörigkeit des Wettbewerbsrechts zur öffentlichen Ordnung; dazu K. Schmidt, BB 2006, 1397, 1399. 458 Krüger, Durchsetzung des Kartellverbots, S. 15. 453
B. Wichtige Grundbegriffe
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abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbstständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“.459 Das primäre Unionsrecht enthält keine Definition des Verbrauchers, auch wenn dieser im Rahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV sowie etwa in Art. 169 AEUV erwähnt wird.460 Die unionsrechtlichen Verbraucherschutzrichtlinien definieren den Verbraucher vielmehr situationsbezogen, wobei dieser – grundsätzlich vergleichbar mit § 13 BGB – zumeist als natürliche Person angesehen wird, die ein Rechtsgeschäft zu nicht gewerblichen oder beruflichen Zwecken schließt.461 Demgegenüber ist in der Wettbewerbspolitik umstritten, was unter einem Verbraucher zu verstehen ist. Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht können die Vorschriften des (Wettbewerbs-)Rechts einem Gesamtwohlfahrtstandard („total welfare standard“), aber auch einem Konsumentenwohlfahrtstandard („consumer welfare standard“) dienen.462 Ein wesentlicher Unterschied der beiden Sichtweisen liegt in der Frage, ob distributive Effekte von Wettbewerbshandlungen berücksichtigt werden sollen oder nicht.463 Stellt man auf einen Konsumentenwohlfahrtstandard ab, ist allein entscheidend, ob die Konsumentenrente maximiert wird.464 Hierfür ist in einem ersten Schritt zu klären, welche Marktteilnehmer Verbraucher in diesem Sinne sind.465 So kann als Konsument grundsätzlich sowohl der private Endverbraucher als auch die jeweils betroffene Marktgegenseite verstanden werden. Bei einer sehr weiten Betrachtung fallen sogar alle Individuen einer Volkswirtschaft unter den Verbraucherbegriff, da sie alle in der einen oder anderen Situation als Verbraucher auftreten.466 Während einige den wohlfahrtsökonomischen Verbraucherbegriff allgemein mit „wohlfahrtsökonomischer Effizienz“ gleichsetzen,467 stellen andere auf die Wohlfahrt aller Teilnehmer der Marktgegenseite ab, so dass bei zweiseitigen 459 Dazu
Mohr, AcP 204 (2004), 660 ff. zu den Verbraucherschutz-Querschnittsklauseln des Art. 12 AEUV sowie des Art. 38 EU-GRCharta Breuer, EU-Kartellrecht im Kraftfeld der Unionsziele, S. 75 ff. 461 Siehe Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/83/EU v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/ EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EU Nr. L 304/64 v. 22.11.2011. Hiernach ist „Verbraucher“ jede natürliche Person, die bei von dieser Richtlinie erfassten Verträgen zu Zwecken handelt, die außerhalb ihrer gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit liegen. Siehe zu Unterschieden im deutschen Recht Mohr, AcP 204 (2004), 660, 671 m. w. N. 462 Christiansen, „More Economic Approach“, S. 334; Rule, Consumer Welfare, Efficiencies, and Mergers, 2005, S. 2 ff. 463 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1060. 464 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1058. Für den Konsumentenwohlfahrtstandard Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 35. 465 Ausführlich Möller, Verbraucherbegriff und Verbraucherwohlfahrt, S. 47 ff. 466 MünchKommEUWettbR/Habermeier, Art. 81 EG Rn. 676; Möller, Verbraucherbegriff und Verbraucherwohlfahrt, S. 57. 467 So zur Post-Chicago School Baker, Antitrust L. J 73 (2006), 483, 512 f. 460 Siehe
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Teil 1: Einleitung
Märkten nicht nur etwaige Wohlfahrtsverluste von Abnehmern, sondern auch solche von Zulieferern zu berücksichtigen sind.468 Gemäß den Implikationen der neoklassischen Theorie geht es dabei allerdings nie um das Wohl tatsächlicher Individuen, sondern immer um eine analytische Betrachtung.469 Ein wohlfahrtsökonomisch indizierter Verbraucherschutz ist deshalb nicht gleichbedeutend mit dem Schutz der materialen Selbstbestimmung der Bürger. Im europäischen Wettbewerbsrecht findet sich der Begriff des Verbrauchers im Freistellungstatbestand des Art. 101 Abs. 3 AEUV, wo er als eigenständiges Merkmal neben den Effizienzgewinnen aufgeführt ist („unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn“).470 Nach dem Zweck des Art. 101 Abs. 3 AEUV, wettbewerbsbeschränkende Koordinierungen dann zuzulassen, wenn die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen ihre negativen Auswirkungen überwiegen, ist der Begriff nach wohl allgemeiner Ansicht weit zu verstehen. Er erfasst somit alle Personen, die von den Auswirkungen der Wettbewerbsbeschränkung direkt betroffen sind.471 Verbraucher im Sinne des Art. 101 Abs. 3 AEUV sind deshalb nicht nur die Endverbraucher, sondern alle unmittelbaren und mittelbaren Abnehmer der betroffenen Erzeugnisse auf allen Handelsstufen,472 somit auch die Folgevertragspartner. Der Verbraucherbegriff des Art. 101 Abs. 3 AEUV kann auf Art. 102 AEUV übertragen werden, sofern dort ebenfalls eine Freistellung von der Wettbewerbsbeschränkung aus ökonomischen Effizienzerwägungen in Rede steht.473 Dasselbe gilt für das Recht der Regulierung der Netzwirtschaften, sofern man dieses wie vorliegend als sektorspezifische Konkretisierung des allgemeinen wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsverbots ansieht.
VII. Wettbewerbsbeschränkende Verträge und Folgeverträge Unsere Untersuchung beschäftigt sich mit der Inhaltskontrolle von wettbewerbsbeschränkenden Folgeverträgen. Zu klären ist deshalb, was unter einem Folgevertrag zu verstehen ist. Im Wettbewerbsrecht wird der Begriff „Folgevertrag“ überwiegend in Zusammenhang mit Verstößen gegen das in Art. 101 AEUV474 und den §§ 1 ff. 468 Vgl.
Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 35. Möller, Verbraucherbegriff und Verbraucherwohlfahrt, S. 239. 470 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schumacher, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 314. 471 Immenga/Mestmäcker/Ellger, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 224; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schumacher, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 314. 472 Calliess/Ruffert/Weiss, Art. 101 AEUV Rn. 162. 473 EuGH v. 15.3.2007 – Rs. C-95/04 P, EuZW 2007, 306 Rn. 69 und 84 ff. – British Airways; siehe auch EuGH v. 17.2.2011 – Rs. C-52/09, EuZW 2011, 339 Rn. 76 – TeliaSonera mit Anm. Emmerich, JuS 2012, 177. 474 Der EuGH verwendet den Begriff des Folgevertrags nicht. Entscheidend soll vielmehr sein, ob eine Vertragsklausel den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt oder nicht. 469
B. Wichtige Grundbegriffe
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GWG normierte Kartellverbot475 gebraucht.476 Dabei kann eine Folgevertragskonstellation de lege lata sowohl in horizontalen als auch in vertikalen Vertragsbeziehungen auftreten.477 Demgegenüber werden Verträge, die infolge eines verbotswidrigen Marktmachtmissbrauchs im Sinne des Art. 102 AEUV bzw. der §§ 19 ff. GWB geschlossen werden, von der herrschenden Ansicht nicht als Folgeverträge bezeichnet. Dies mag daran liegen, dass das Missbrauchsverbot bislang weniger in Zusammenhang mit rechtsgeschäftlichen Vereinbarungen als vielmehr mit tatsächlichen Verhaltensweisen praktisch wurde.478 Eine derartige Einschränkung des Folgevertragsbegriffs ist schon wegen der gestiegenen theoretischen und praktischen Relevanz des Verbots von Ausbeutungsmissbräuchen nicht mehr gerechtfertigt. Vor dem Hintergrund der geschilderten Überlegungen wird zwar die Entscheidung des historischen Vertrags-Gesetzgebers verständlich, in Art. 86 EWG (Art. 82 EG, Art. 102 AEUV) anders als in Art. 85 Abs. 2 EWG (Art. 81 Abs. 2 EG, Art. 101 Abs. 2 AEUV) die Rechtsfolge der Nichtigkeit von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen nicht eigens zu normieren, sondern die entsprechende Beurteilung den nationalen Rechtsordnungen zu überlassen.479 Dass das Missbrauchsverbot auf unionsrechtlicher
Ansonsten bestimmen sich die Rechtsfolgen nach Ansicht des EuGH allein nach nationalem Recht, vgl. EuGH v. 14.12.1983 – Rs. 319/82, Slg. 1983, 4173 Rn. 11 – Société de Vente de Ciments et Bétons/Kerpen & Kerpen. Dies erklärt, weshalb in der deutschen Diskussion die dort verwandte Definition des Folgevertrags auf das Unionsrecht übertragen wurde, vgl. Langen/Bunte/Bunte, Art. 81 EG Generelle Prinzipien Rn. 213; Loewenheim/Meessen/Riesenkampf/Jaeger, Art. 81 Abs. 2 EG Rn. 24; Immenga/Mestmäcker/K. Schmidt, Art. 101 Abs. 2 AEUV Rn. 34; von der Groeben/Schwarze/Schröter, Art. 81 Abs. 2 EG Rn. 234. 475 OLG Düsseldorf v. 30.7.1987 – U (Kart) 29/86, WuW/E OLG 4182, 4184 – Delkredere-Übernahme; Immenga/Mestmäcker/Emmerich, § 33 GWB Rn. 115 f.; Immenga/Mestmäcker/Zimmer, § 1 GWB Rn. 215; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Nordemann, § 1 GWB Rn. 255 f. 476 Paul (Gesetzesverstoß und Vertrag, S. 2 2 mit Fn. 25 und 18) spricht in Abgrenzung zu lauterkeitsrechtlichen Folgeverträgen und zu Verträgen infolge eines Marktmachtmissbrauchs von „kartellrechtlichen Folgeverträgen“. 477 Vor der Schaffung eines einheitlichen Verbotstatbestands durch die 7. GWB-Novelle wurde die Folgevertragsproblematik im deutschen Wettbewerbsrecht für vertikale Wettbewerbsbeschränkungen gem. §§ 14 ff. GWB a. F. zumeist unter dem Stichwort „Zweitverträge“ erörtert. Stellungnahmen beschränkten sich auf die Feststellung, die Nichtigkeit einer Vertikalvereinbarung erfasse nicht die Zweitvereinbarung zwischen einem gebundenen Vertrags teil und einem Dritten. Vgl. Immenga/Mestmäcker/Emmerich, Wettbewerbsrecht: GWB, 3. Aufl. 2001, § 14 Rn. 67. K. Schmidt (in: FS Möschel, 2011, S. 559, 578) sieht in der Beseitigung der Privilegierungen für vertikale Preisbindungen der zweiten Hand und Vertriebsbindungen historisch den wichtigsten Schritt zur kompetitiven Domestizierung von „Folgeverträgen“, da diese nunmehr direkt dem Kartellverbot unterstünden. 478 So der generelle Befund von Mestmäcker/Schweitzer, § 2 2 Rn. 23; Immenga/Mestmäcker/Fuchs/Möschel, Art. 102 AEUV Rn. 415. 479 An dieser Stelle genügt ein Hinweis auf EuGH v. 30.1.1974 – C-127/73, Slg. 1974, 51 Rn. 16 – BRT/Sabam; EuGH v. 11.4.1989 – Rs 66/86, NJW 1989, 1982 Rn. 45 – Ahmed Saeed Flugreisen.
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Teil 1: Einleitung
Ebene keine vertragsrechtlichen Sanktionen normiert, bedeutet aber nicht, dass Folgeverträge insoweit immer wirksam wären. Im Schrifttum wird der Begriff des Folgevertrags weiter ausdifferenziert. Eine Ansicht geht nur dann von einer vertragsrechtlich relevanten Folgevertragskonstellation aus, wenn an dem Vertrag ein Wettbewerbsverletzer beteiligt ist.480 Man kann diese Verträge deshalb als „unmittelbare Folgeverträge“ bezeichnen. Demgegenüber wollen andere den Begriff „Folgevertrag“ zusätzlich auf Sachverhalte anwenden, die ohne unmittelbare Beteiligung eines Kartellmitglieds zwischen Abnehmern und weiteren Dritten geschlossen werden.481 Diesen Verträgen liegen die antikompetitiven Preise nicht mehr direkt zugrunde. Die überhöhten Preise finden allenfalls im Wege einer Weiterwälzung („passing-on“) Eingang in das Rechtsgeschäft. Insofern kann man von „mittelbaren Folgeverträgen“,482 „Folgeverträgen mittelbaren Grades“,483 „einfachen Folgeverträgen“484 oder „schlichten Drittverträgen“485 sprechen. Rechtliche Beziehungen zwischen den mittelbar Betroffenen und dem Wettbewerbsverletzer werden hier also gerade nicht durch einen Vertrag, sondern nur durch die gegenüber „jedermann“ geltenden deliktsrechtlichen Vorschriften begründet.486 Gleichwohl spielen diese deliktischen „Jedermanns-Pflichten“, wie wir noch sehen werden, auch für die rechtliche Behandlung unmittelbarer Folgeverträge eine große Rolle. Innerhalb der unmittelbaren Folgeverträge wird weiter zwischen Ausführungs- und Folgeverträgen unterschieden.487 Als Ausführungsverträge werden Vereinbarungen zwischen den Kartellbeteiligten bzw. zwischen diesen und Dritten bezeichnet, die der Absicherung, Umsetzung oder Ergänzung einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung dienen.488 Deren rechtliches 480 Immenga/Mestmäcker/Emmerich, § 33 GWB Rn. 115 f.; Immenga/Mestmäcker/Zimmer, § 1 GWB Rn. 215; Wiedemann/Topel, Kartellrecht, § 50 Zivilrechtliche Sanktionen Rn. 40; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Nordemann, § 1 GWB Rn. 255 f.; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Jaeger, Art. 81 Abs. 2 EG Rn. 24: Zöttl/Schlepper, EuZW 2012, 573, 574. 481 So in Zusammenhang mit der deliktischen Klagebefugnis gem. § 33 Abs. 3 GWB die Monopolkommission, Sondergutachten 41, S. 37 ff.; Al-Deb‘i/Krause, ZGS 2006, 20 ff. 482 Paul, Gesetzesverstoß und Vertrag, S. 23. 483 Eilmansberger, JBl. 2009, 427, 431. 484 Körner, GRUR 1968, 348, 351. 485 Leib, Kartellrechtliche Durchsetzungsstrategien, S. 18. 486 Paul, Gesetzesverstoß und Vertrag, S. 23. 487 Wiedemann/Topel, Kartellrecht, § 50 Zivilrechtliche Sanktionen Rn. 40 f.; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Nordemann, § 1 GWB Rn. 255 f.; Eilmansberger, JBl. 2009, 427, 431; aus dem zivilistischen Schrifttum siehe MünchKommBGB/Armbrüster, § 134 BGB Rn. 65. 488 OLG Düsseldorf v. 30.7.1987 – U (Kart) 29/86, WuW/E OLG 4182 – Delkredere-Übernahme; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Stockenhuber, Art. 101 Abs. 2 AEUV Rn. 237. Ausführlich OLG Dresden v. 19.3.1998 – 7 U 827/97, juris Rn. 97: „[. . .] Ausführungsverträge stellen etwa Verträge über den Beitritt Dritter zu dem verbotenen Kartell dar. [. . .] Erfaßt werden [. . .] auch
B. Wichtige Grundbegriffe
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Schicksal bestimmt sich unstreitig nach den allgemeinen Regeln gegen Wettbewerbsbeschränkungen, da sie dem Schutzbereich derselben unterfallen.489 In Abgrenzung hierzu werden als Folgeverträge alle anderen Vereinbarungen eingestuft, die von den Beteiligten einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung zu deren Ausführung mit unbeteiligten Dritten abgeschlossen werden. Dies sind häufig Werk-, Kauf- oder Werklieferungsverträge mit der Marktgegenseite, denen antikompetitiv überhöhte Preise zugrunde liegen.490 Diese Verträge sollen nach der über Jahrzehnte herrschenden Ansicht nicht dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen unterfallen, sondern voll wirksam sein.491 An dieser Sichtweise haben auch die Änderungen des normativen Umfelds der letzten Jahre nichts geändert.492 Im Rahmen der Untersuchung unmittelbarer Folgeverträge legt diese Arbeit einen sachlich-weiten Folgevertragsbegriff zugrunde.493 Denn die (Teil-)Unwirksamkeit eines Vertrages kann nicht nur bei einem Verstoß gegen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen, sondern auch bei einem solchen gegen die wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsverbote sowie gegen die sektorspezifischen Ex-post- und Ex-ante-(Entgelt-)Kontrollvorschriften begründet sein. Zwar werden auch im Regulierungsrecht die vertragsrechtlichen Folgen wettbewerbswidrigen Verhaltens diskutiert; der Begriff des Folgevertrags hat sich dort jedoch bislang nicht durchgesetzt.494 Wir können somit festhalten, dass wir immer dann von einem Folgevertrag sprechen wollen, wenn ein wettbewerbswidriges Verhalten für den Abschluss oder die inhaltliche Ausgestaltung eines sich anschließenden Vertrages (mit-)ursächlich geworden ist.495 In Abgrenzung zu den Folgeverträgen werden wir die spezifischen Probleme einer Unwirksamkeit der Vereinbarungen zwischen den Kartellanten nach Art. 101 Abs. 2 AEUV bzw. § 134 BGB nur insoweit behandeln, als dies für das Kollegenlieferungen bei Spezialisierungskartellen oder Syndikaten, weiter etwa Lizenzverträge zwischen den Mitgliedern eines Patentpools sowie namentlich Preis-, Vertriebs- oder Ausschließlichkeitsbindungen, über deren parallele Einführung die Konkurrenten sich zuvor verständigt hatten.“ 489 Eilmansberger, JBl. 2009, 427, 431; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Nordemann, § 1 GWB Rn. 255 m. w. N. 490 BGH v. 4.5.1956 – I ZR 194/54, NJW 1956, 1201 – Spediteurbedingungen; OLG Celle v. 15.2.1963 – 8 U 177/60, NJW 1963, 2126, 2127; OLG Düsseldorf v. 30.7.1987 – U (Kart) 29/86, WuW/E OLG 4182 – Delkredere-Übernahme; OLG Frankfurt v. 30.7.1996 – 11 U (Kart) 63/95, NJWE-WettbR 1996, 259 – Der Grüne Punkt; OLG Dresden v. 19.3.1998 – 7 U 827/97, juris; OLG Hamm v. 3.12.2012 – 2 U 52/12, juris Rn. 95; aus dem Schrifttum siehe MünchKommBGB/Armbrüster, § 134 BGB Rn. 65. 491 Siehe Teil 9 D. IV. 492 Jüngst nachdrücklich K. Schmidt, in: FS Möschel, 2011, S. 559 ff. 493 Ebenso Paul, Gesetzesverstoß und Vertrag, S. 24; i. E. Leib, Kartellrechtliche Durchsetzungsstrategien, S. 17. 494 Beispielhaft Schmitt/Staebe/Staebe, Eisenbahn-Regulierungsrecht, S. 284, die den Verbotsgesetzcharakter der Entgeltbestimmungen des AEG insgesamt in Abrede stellen. 495 Paul, Gesetzesverstoß und Vertrag, S. 24 f.
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Teil 1: Einleitung
Verständnis unserer Aufgabenstellung notwendig erscheint. Aus diesem Grunde ist etwa die Unwirksamkeit wettbewerbsbeschränkender Gesellschaftsverträge hier nicht zu thematisieren,496 konkret also die Frage, ob die Unwirksamkeitsfolge aufgrund der zu erwartenden Folgen auf Verträge mit Dritten nur ex nunc oder doch ex tunc eintritt.497
VIII. Formale und materiale Freiheit Die Bezeichnung „formale Freiheit“ bezieht sich im vorliegenden Kontext auf die rechtliche Einräumung einer Handlungsbefugnis.498 Die Reichweite formaler Freiheitsgewährleistungen ist abhängig von der staatlichen Rahmenordnung, in der Europäischen Union somit von der Wirtschaftsverfassung und den diese ausfüllenden Rechtsnormen. Demgegenüber bezieht sich „Materialisierung“ auf eine Aufladung der rechtlich gewährten Freiheitsrechte mit zusätzlichen Anforderungen. Eine Person ist hiernach nicht schon dann frei, wenn sie eine formale Handlungskompetenz hat. Die Freiheit bestimmt sich vielmehr durch einen Blick auf weitere Anforderungen. Welches diese Anforderungen sind und auf welchen rechtlichen Gewährleistungen sie beruhen, wird im Schrifttum unterschiedlich gesehen, ohne dass das jeweilige Vorverständnis immer offen gelegt wird. So kann sich der Begriff „Materialisierung“ im Vertragsrecht auf die tatsächliche Möglichkeit zum eigennützigen Gebrauch der rechtlichen Gewährleistungen beziehen, aber auch auf die Einhaltung übergeordnet-ethischer Anforderungen. Auch im Wettbewerbs- und im Regulierungsrecht ist umstritten, ob sich die wettbewerbsfördernden Rechtsnormen auf die Gewährleistung rechtlicher Freiheit, auf eine wie auch immer zu bestimmende tatsächliche Freiheit oder auf übergeordnete (Gemeinwohl-)Erwägungen beziehen. Da die Unterscheidung zwischen formaler und materialer Freiheit unsere Untersuchung wie ein roter Faden durchzieht, können wir es hier mit dieser verallgemeinernden Unterscheidung bewenden lassen.
C. Einwände gegen ein freiheitlich-materiales Verständnis des wirtschaftsrelevanten Privatrechts Die machtbegrenzende, freiheitssichernde und damit „zivilistische Funktion“ des Wettbewerbs und der ihn ausgestaltenden Schutz- und Verbotsnormen wird 496 Dauses/Hoffmann,
Art. 101 Abs. 2 AEUV Rn. 133. Nach Ansicht des BGH gilt bei Verstößen von Gesellschaftsverträgen gegen das Wettbewerbsrecht nicht die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft; vgl. BGH v. 4.3.2008 – KVZ 55/07, WuW/E DE-R 2361 Rn. 16 – Nord-KS/Xella. 498 Siehe zu den im Schrifttum diskutierten Formen „formalen“, „materialen“, „prozeduralen“ und „funktionalen“ Rechts Wiethölter, JbRSoz 8 (1982), 38 ff. 497
C. Einwände gegen ein freiheitliches Privatrecht
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sowohl von Vertretern der Wirtschaftswissenschaften als auch von juristischer Seite in Zweifel gezogen.499 Damit wird jedoch zugleich die Funktion des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts als Instrument der kompetitiven Inhaltskontrolle von Verträgen in Abrede gestellt; denn eine solche kommt vor allem dann in Betracht, wenn man den individualschützenden Zweck dieser Rechtsgebiete anerkennt. Demgegenüber spielen die Interessen der Marktteilnehmer eine untergeordnete Rolle, wenn man die Tatbestände des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts und/oder ihre Durchsetzung der Herstellung überindividuell-objektiver Effizienz unterordnet.
I. Die wirtschaftswissenschaftliche Sicht („more economic approach“) Die aktuell herrschende „Mainstream-Ökonomie“ basiert auf Erkenntnissen der Wohlfahrtsökonomie, der es im Ergebnis – auch wenn sie annahmegemäß von der Präferenzautonomie und dem Rationalverhalten der Marktteilnehmer ausgeht500 – nicht um den Schutz materialer wirtschaftlicher Freiheit geht, sondern um das Erzielen von Effizienzgewinnen als Mittel zur Erreichung allgemeiner Wohlfahrt. Hierzu will sie unternehmerische Verhaltensweisen einer „bilan économique“501 unterziehen, mit der ermittelt werden soll, ob etwaige Wohlstandseinbußen im Einzelfall durch anderweitige Wohlfahrtsgewinne aufgewogen werden.502 Nur von untergeordneter Relevanz sind für diese Beurteilung Werte wie die wirtschaftliche Selbstbestimmung.503 Auch der aktuell von der Kommission verfolgte „stärker wirtschaftliche Ansatz“ zum europäischen Wettbewerbsrecht 504 (im Folgenden dem gängigen Sprachgebrauch folgend als „more economic approach“ bezeichnet) will dieses Rechtsgebiet unmittelbar an wohlfahrtsökonomisch zu bestimmenden Effizienzkriterien ausrichten. Diese Sichtweise stellt zugleich die systematischen Verbindungen des Wettbewerbsrechts zum Privatrecht in Frage.505 Die durch die Reformbestrebungen der Kommission hervorgerufene Rechtsunsicherheit wird befördert durch den Vertrag von Lissabon, der das Schutzziel eines „unverfälschten Wettbewerbs“ von Art. 3 Abs. 1 lit. g EG in das Protokoll Nr. 27 über den Binnen499
Säcker, Zielkonflikte, S. 19; MünchKommEUWettbR/ders., Einl. Rn. 4 ff. Siehe Teil 4 C. III. 2. 501 Säcker/Mohr, WRP 2011, 793, 801. 502 An dieser Stelle genügt ein Hinweis auf EAGCP, An economic approach to Article 82, July 2005. 503 Als ökonomische Entsprechung der Privatautonomie stuft die Präferenzautonomie ein Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 315 ff. Siehe zur Präferenzautonomie als Grundlage zivilistischer Regelsetzung Bachmann, Private Ordnung, S. 174. Ausführlich Eidenmüller, Effizienz, S. 326 ff. 504 Immenga/Mestmäcker/dies., Einl. D. EU-Wettbewerbsrecht Rn. 4. 505 Ebenso wie die systematische Verknüpfung mit dem auf dem Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV, § 19 GWB beruhenden Recht der wettbewerbsfördernden Regulierung der Netzwirtschaften. 500
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Teil 1: Einleitung
markt und den Wettbewerb506 verschoben hat. Verschoben wurde auch die Systemgarantie einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“, die nicht mehr in den allgemeinen Vertragszielen (Art. 4 Abs. 1 EG), sondern in einem neuen Art. 119 Abs. 1 AEUV, also auf den ersten Blick „lediglich“ in einem bereichsspezifischen Abschnitt des AEU-Vertrages geregelt ist. Diese Änderungen der normativen Zielvorgaben werfen die Frage auf, ob der Unionsgesetzgeber mit ihnen einer stärkeren Ausrichtung des europäischen Wettbewerbsrechts an wohlfahrtsökonomischen Zielen den Weg weisen wollte.507 Die entsprechenden Fragestellungen waren in den letzten Jahren Gegenstand einer breiten wettbewerbsrechtlichen Spezialdebatte.508 Demgegenüber wurden die Auswirkungen einer wohlfahrtsökonomisch-effizienzbasierten Ausrichtung des Wettbewerbsrechts auf ein freiheitliches Privatrecht bislang nicht vertieft in den Blick genommen, obwohl diese eigentlich auf der Hand liegen: Das Wettbewerbsrecht diente bislang auf konstitutioneller Ebene der Sicherung eines material-selbstbestimmten Vertragsschlusses, indem es im Verkehr mit Massengütern durch Offenhaltung der Märkte einen ausreichenden Wettbewerb auf der Marktgegenseite sicherte sowie die Gestaltungs- und Vertragsfreiheit für marktbeherrschende Unternehmen beschränkte.509 Diese Aufgabe wird in Frage gestellt, wenn die (vertragliche) Selbstbestimmung der Marktteilnehmer keinen prägenden Eigenwert mehr genießt, sondern weitgehend zu Gunsten überindividueller, ökonomisch zu bestimmender Effizienzziele beschränkt werden kann. Die Probleme verschärfen sich, führt man sich die (eigentlich allgemein konsentierte) eingeschränkte Leistungsfähigkeit ökonomischer Modell analysen vor Augen, die sich zwar mittlerweile in vielen Bereichen einen festen Platz in der Diskussion um die zutreffende Ausgestaltung von Rechtsnormen erobert haben, jedoch weiterhin mit vielen ungelösten Fragestellungen konfrontiert sind.510 Eine wichtige Funktion der Untersuchung besteht deshalb darin, diese Konfliktfelder offenzulegen; denn gerade im Privatrecht besteht derzeit noch kein zureichendes Problembewusstsein. Paradigmatisch sind die – kenntnisreichen – Beiträge von Karsten Schmidt zum „Wettbewerbsrecht als Nagelprobe des Privatrechts“, die den „more economic approach“ zum EU-Wettbewerbsrecht und seine systemsprengenden Implikationen inhaltlich nicht behandeln.511 Insofern verfolgt diese Untersuchung auch den Zweck, die aktuellen wettbewerbsrechtlichen Erörterungen im Bewusstsein der Privatrechtswissen506
ABl.EU 2008 Nr. C 115/309. Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 905, 908 ff. und 956 f. m. w. N. 508 Vgl. die Nachweise bei Schumacher, Effizienz und Wettbewerb, 2011; Wolf, Effizienzen, 2009. 509 K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 173. 510 Grundlegend I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 1 ff. 511 K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169 ff.; siehe auch ders., ZWeR 2010, 15, 27 in Fn. 109, wo der Terminus „more economic approach“ erwähnt wird. 507 Von
C. Einwände gegen ein freiheitliches Privatrecht
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schaft zu verankern und zu einer vertieften Diskussion über die „wettbewerblichen Grundlagen der Privatautonomie“ anzuregen. Noch dringender stellt sich die vorstehend geschilderte Aufgabe im Regulierungsrecht. Eine sektorspezifische Marktregulierung geht per definitionem nicht von funktionsfähigen Märkten aus, die nur ausnahmsweise aufgrund unioder multilateraler Wettbewerbsbeschränkungen gestört sind. Sie statuiert vielmehr eingriffsintensivere Ex-ante-Verhaltenspflichten und Ex-ante-Strukturmaßnahmen, weil das allgemeine Wettbewerbsrecht aufgrund der spezifischen Marktversagensgründe nicht ausreicht, um funktionsfähige Märkte in Gang zu setzen und dauerhaft in Gang zu halten.512 Dogmatisch handelt es sich um sektorspezifisch fortentwickelte Ausprägungen des allgemeinen wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsverbots.513 Unter diesen Voraussetzungen ist jedoch auch für das Regulierungsrecht zu diskutieren, ob ein „more economic approach“ zum EU-Wettbewerbsrecht zugleich zu einer grundlegenden Umorientierung der Regulierungsvorgaben zwingt. Zu den (wettbewerbs-)ökonomisch fundierten Gründen für ein Marktversagen hinzu treten ökonomisch und juristisch motivierte gemeinwohlinduzierte Regulierungsgründe wie ein möglichst umfassender Umwelt- und Klimaschutz, wie er derzeit im Rahmen der Energiewende in Rede steht, oder die politisch gewollte Anbindung der Verbraucher an ein möglichst leistungsfähiges Breitbandkabelnetz. Sofern man die Verbindungsschnur zum Privatrecht also nicht bereits aufgrund einer ökonomisch-effizienzbasierten Uminterpretation der regulierungsrechtlichen Vorschriften zur Sicherung und Förderung des Wettbewerbs kappen will („more economic approach“), ist dieses Ergebnis jedenfalls dadurch erreichbar, dass das Regulierungsrecht aufgrund seiner „bipolaren Struktur“ zwischen Wettbewerbs- und sonstiger Gemeinwohlförderung insgesamt dem öffentlichen Recht zugeordnet wird.514 Wie wir noch sehen werden, wäre ein solches Vorgehen dogmatisch nicht gerechtfertigt, schon weil hierdurch wichtige Wertungen verunklart würden.
II. Juristische Kritik am Schutz materialer Selbstbestimmung Die individualschützende, die gegenseitige Unabhängigkeit („relative Machtlosigkeit“) und materiale („innere“515) Wahlfreiheit der Marktteilnehmer sichernde Funktion von Wettbewerb und Vertrag516 wird auch von juristischer Seite kritisiert. So erachtet eine Ansicht eine Verhaltenskontrolle marktmächtiger Unternehmen an den Gegebenheiten bei wirksamem Wettbewerb trotz der 512 Fehling/Ruffert/Leschke,
Regulierungsrecht, S. 281, 289. Ronellenfitsch u. a./Säcker, S. 159, 162. 514 So Ludwigs, Effizienzanforderungen, S. 30, 115 ff. 515 Bachmann, Private Ordnung, S. 247. 516 Säcker, BB 1967, 681, 683. 513
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Teil 1: Einleitung
durch die Anwesenheit des Marktbeherrschers gestörten „Vertragsparität“ – ein marktbeherrschendes Unternehmen wird regelmäßig Preise verlangen, die über dem Niveau bei wirksamem Wettbewerb liegen 517 – nicht als marktkonstitutiv. Es handle sich vielmehr um eine systemfremde Regulierung „gegen den Markt“,518 da jede „Marktergebniskontrolle“ in das „für eine Marktwirtschaft maßgebliche Prinzip der subjektiven Äquivalenz, d. h. der Preisfreiheit“ eingreife.519 Der Sache nach handelt es sich um ein formalistisch-liberales Verständnis des Marktmechanismus, das die „Befugnis der Parteien [. . .], das Verhältnis der gegenseitigen Leistungen privatautonom festzulegen“, auch dann als schützenswert erachtet, wenn der Prozess des Aushandelns aufgrund wirtschaftlicher Machtpositionen im Einzelfall so stark gestört ist, dass aus der Chance zur Selbstbestimmung tatsächlich Fremdbestimmung wird.520 Besonders deutlich wird dieser Befund bei nicht angreifbaren (natürlichen) Monopolen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ein funktionsfähiger Wettbewerb aus ökonomischen Gründen nicht sinnvoll ist.521 Selbst für diese werden Verhaltenskontrollen der Monopolisten am Maßstab des hypothetischen Wettbewerbs von der vorstehend geschilderten Sichtweise als „marktkompensatorisch“, mit anderen Worten als nicht marktkonform gekennzeichnet.522 Dass eine solche Ansicht in einer sozialen Marktwirtschaft i. S. des Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV weder ökonomisch noch rechtlich legitimiert ist, wird noch näher aufzuzeigen sein. Ein zivilistisches, die Chance zur gegenseitigen Selbstbestimmung betonendes Verständnis von Privatautonomie und Vertragsfreiheit wird auch von gleichsam entgegengesetzter Seite in Zweifel gezogen. So wurden vor allem in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts523 Stimmen laut, die den Vertrag nicht mehr als Mittel eines individuellen Interessenausgleiches verstehen wollten, sondern vornehmlich als Werkzeug zur Verwirklichung überin517
I. Schmidt, WuW 2012, 795. Engel, JZ 1995, 213, 214. 519 Aus vertragstheoretischer Sicht siehe Fornasier, Freier Markt, S. 86; aus wettbewerbstheoretischer Sicht vgl. die Monopolkommission, Sondergutachten 47, S. 4, 12 ff.; dies., Hauptgutachten 18, S. 194 f.; dies., Sondergutachten 63, S. 37 ff.; krit. ebenfalls Kolpatzik/ Berg, WuW 2011, 712, 714 f.; Klaue/Schwintowski, Preisregulierung durch Kartellrecht, EWeRK-Sonderheft, 2008, S. 9 f.; dies., ZfK 4/2012, S. 12. 520 Raiser, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 277. 521 Siehe Teil 6 B. III. 522 So Fornasier, Freier Markt, S. 72 und 132, der die wettbewerbsanaloge Regulierung der Netzwirtschaften allein im Sozialstaatsgrundsatz verankert sieht. 523 Siehe auch schon Raiser, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 279, nach dem das Individuum nur gelten sollte, „was es an seinem Platz für die Gemeinschaft leistet, im Bereich der Wirtschaft so gut wie in den übrigen Lebensbereichen des Volkes.“ Nach Raiser werden dem Individuum deshalb „Befugnisse und Freiheiten [. . .] zugeteilt im Dienste der Gemeinschaft; jedes Sonderinteresse einzelner Personen oder Gruppen hat sich bedingungslos den Erfordernissen des Gesamtwohls unterzuordnen.“ 518
C. Einwände gegen ein freiheitliches Privatrecht
79
dividueller objektiv-gemeinwohlorientierter Ziele.524 Diese Ziele wurden ei nerseits aus dem Demokratiegebot des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG525 und andererseits aus dem Sozialstaatsgebot der Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG abgeleitet, denen man auf der Grundlage der (eigenen) gesellschaftlich-politischen Grund anschauungen einen konkret-subsumtionsfähigen Inhalt zu geben glaubte. Man beschränkte sich also nicht darauf, die Voraussetzungen für einen Vertragsschluss in beiderseitiger Selbstbestimmung herzustellen, sondern wollte die Situation bestimmter Personengruppen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene unabhängig von einer rechtlich erheblichen Beeinträchtigung ihrer tatsächlichen Entscheidungsfreiheit im Einzelfall verbessern. Als Beispiele können der soziale Schutz der Arbeitnehmer, Mieter oder Verbraucher benannt werden, soweit dieser auch ohne eine Beeinträchtigung der individuellen Entscheidungsfreiheit eingreifen soll.526 Ein freiheitlich-materiales, der Sicherung tatsächlicher Entscheidungsfreiheit dienendes Privatrecht gerät neuerdings auch von Seiten des Unionsrechts unter Rechtfertigungszwang.527 So steht ein gemeinsames europäisches Vertragsgesetzbuch („Common Frame of Reference“) als „optionales Instrument“528 in der Diskussion, welches das Vertragsrecht nicht nur auf die Herstellung von Freiheit, sondern normsystematisch gleichrangig auch auf „Gerechtigkeit, Solidarität und soziale Verantwortung“ verpflichten will.529 Die Kommission will ihr „Jahrhundertvorhaben“ unter anderem durch eine Verordnung zum europäischen Kaufrecht vorantreiben.530 Sie reiht sich damit in einen Entwicklungsprozess ein, der von einer negativ-marktöffnenden europäischen Integration, die den „durchschnittlichen Verbraucher“ als verständig und gut informiert betrachtete, zunehmend zu einer positiven Integration übergeht, die den freien Handelsverkehr im Binnenmarkt konsumentenbezogen ausformt.531 Dieses Changieren des Unionsrechts zwischen negativer und positiver Integration hat wohl auch konzeptionelle Gründe, da die Unionsverträge nicht nur auf die Herstellung eines unverfälschten Binnenmarktes (Art. 26 Abs. 2 AEUV), sondern 524
Siehe Teil 3 C. Vgl. dazu Bachmann, Private Ordnung, S. 187 ff., der dem „demokratischen Gedanken“ im Privatrecht die – insoweit überzeugenden – Aussagen entnimmt, dass eine Mehrheitsherrschaft nicht zu einer Ausbeutung von Minderheiten führen darf und dass (Aus-)Wahlentscheidungen frei und aufgeklärt erfolgen müssen. 526 So Bruns, JZ 2007, 385; Mohr, AcP 204 (2004), 660, 696. 527 Hierauf kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht vertieft eingegangen werden. 528 Busch, EuZW 2011, 655. 529 Siehe zur Ambivalenz dieser Begriffe Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/ Zimmermann, JZ 2008, 530, 534. 530 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM(2011) 635 endg. 531 Unberath/Johnston, CMLR 2007, 1237, 1245 ff., 1252 ff.; Peukert, ZHR 173 (2009), 536, 560 ff.; Oetker, AcP 212 (2012), 202, 205. 525
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Teil 1: Einleitung
auch auf ein „hohes Verbraucherschutzniveau“ abzielen (Art. 38 EU-GRCharta; Art. 114 Abs. 3 AEUV).532 Hierauf ist in Zusammenhang mit der Wirtschaftsverfassung zurückzukommen.
D. Eingrenzungen der thematischen Reichweite Zum besseren Verständnis und zur Reduzierung der ohnehin hohen Komplexität wollen wir nachfolgend die thematische Reichweite der Untersuchung begrenzen. Weitere singuläre Eingrenzungen erfolgen im konkreten Kontext.
I. Kontrolle privater wirtschaftlicher Macht Unsere Untersuchung will die Verknüpfungen des Vertragsrechts mit dem Wettbewerbsrecht sowie dem Regulierungsrecht aufzeigen. Der Fokus liegt auf dem Marktversagensgrund der wirtschaftlichen Macht, soweit die Machtposi tion dazu benutzt wird, die eigenen Interessen unter Außerachtlassung der Chancen des Vertragspartners auf einen angemessenen Interessenausgleich durchzusetzen.533 Demgegenüber werden andere Marktversagensgründe wie die von der Neuen Institutionenökonomik hervorgehobenen Informationsund Rationalitätsdefizite nur insoweit behandelt, als dies zum Verständnis oder aus Gründen einer kohärenten Darstellung geboten erscheint. Eine vertiefte Behandlung bleibt anderen Studien vorbehalten.534 Ebenfalls nicht behandelt werden die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Privatrecht, weil diese in letzter Zeit Gegenstand grundlegender Untersuchungen waren.535 Das gilt insbesondere für die Bindung der Individuen an die Grundfreiheiten und das Konkurrenzverhältnis derselben zu den Wettbewerbsvorschriften,536 sowie zur dahinter stehenden Frage, ob eine Anwendung der Grundfreiheiten im Privatrecht zu einer unbotmäßigen Schmälerung („Konstitutionalisierung“) der Privatautonomie führt.537
532
Unberath/Johnston, CMLR 2007, 1237, 1283. Siehe zu den verschiedenen Machtbegriffen im Privatrecht Möslein/Bachmann, Private Macht, unter II. 2. 534 Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht; jüngst Fornasier, Freier Markt. 535 Vgl. Bachmann, AcP 210 (2010), 424 ff.; siehe auch Franzen, Privatrechtsangleichung; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht. 536 Dazu Bachmann, AcP 210 (2010), 465 ff. 537 Bachmann, AcP 210 (2010), 465, 471 ff. 533
D. Eingrenzungen der thematischen Reichweite
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II. Verstöße gegen die Kartell- und Missbrauchsverbote Das Wettbewerbsrecht ist das zentrale Regelungsgebiet zur Behandlung wirtschaftlicher Machtpositionen. Aus diesem Grunde stellt es – gemeinsam mit dem Regulierungsrecht538 – einen wesentlichen Gegenstand unserer Untersuchung dar. Da wir uns mit Aspekten des „private enforcement“ beschäftigen wollen, liegt das Augenmerk auf dem Kartellverbot539 sowie auf den wettbewerbs- und regulierungsrechtlichen Missbrauchsverboten; 540 denn die Vorschriften über die Fusionskontrolle werden nach ihrer normativen Grundstruktur primär hoheitlich durchgesetzt.541 Demgegenüber sind die wettbewerbsrechtlichen Kartell- und Missbrauchsverbote durch eine zunehmende „Privatisierung“ geprägt. Wir werden hierauf zurückkommen. Aufgrund der Angleichung des deutschen Kartellverbots an das Unionskartellrecht durch die 7. GWB-Novelle stimmt die Prüfung des § 1 GWB weitgehend mit derjenigen nach Art. 101 Abs. 1 AEUV überein.542 Aus diesem Grunde kann sich die Untersuchung überwiegend auf die Darstellung des Unionskartellrechts beschränken. Auch beim Verbot eines Missbrauchs von Marktmacht ist grundsätzlich das europäische Wettbewerbsrecht maßgeblich, hier allerdings nur soweit nicht das deutsche Wettbewerbsrecht strengere Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen vorhält.543 Insoweit enthält § 29 GWB seit dem Jahr 2007 ein auf die Energiewirtschaft bezogenes Verbot von Ausbeutungsmissbräuchen, das wichtige Klarstellungen hinsichtlich Maßstab und Methoden einer wettbewerbskonformen Missbrauchskontrolle enthält. Diese Norm wird deshalb im Zentrum der Erwägungen zum Ausbeutungsmissbrauch durch das Fordern antikompetitiv überhöhter Entgelte stehen.
538 Dieses beinhaltet in dogmatischer Hinsicht sektorspezifische Konkretisierungen des allgemeinen wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsverbots; vgl. Ronellenfitsch u. a./Säcker, S. 159, 162. 539 Art. 101 AEUV, §§ 1, 2 GWB. 540 Art. 102 AEUV, §§ 19, 20, 29 GWB, §§ 30, 32 i. V. mit §§ 21 ff. EnWG, §§ 27 ff., 42 TKG, § 823 Abs. 2 BGB i. V. mit §§ 13 ff. AEG. 541 Neef, Kartellrecht, 2008, Rn. 363. Auch dort zeigt sich eine Tendenz, der machtbegrenzenden, individualschützenden Funktion des Wettbewerbsrechts im Rahmen der Rechtsbehelfe zu entsprechen; vgl. dazu Bien, Fusionskontrolle und subjektiver Drittschutz; Säcker, in: FS Hirsch, 2008, S. 323 ff. 542 Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 und § 22 GWB; vgl. BT-Drucks. 15/3640, S. 23; Fuchs, WRP 2005, 1384 ff. 543 Art. 3 Abs. 2 Satz 2 VO Nr. 1/2003.
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Teil 1: Einleitung
III. Wettbewerbsfördernde Regulierung der Netzsektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen Das Regulierungsrecht behandelt spezifische Probleme wirtschaftlicher Macht, die sich aufgrund ihrer besonderen Qualität nicht durch das allgemeine Wettbewerbsrecht lösen lassen. Wir werden unsere Überlegungen insoweit auf die wettbewerbsfördernde Regulierung der Netzwirtschaften Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen beschränken, und hier insbesondere auf Regelungen im EnWG, im TKG und im AEG, da diese Sektoren Gemeinsamkeiten aufweisen, die eine übergreifende Betrachtung rechtfertigen. Dies gilt nicht für die ebenfalls der BNetzA zugeordneten Postdienstleistungen.544 Zwar wird auch dieser Sektor regulierungstheoretisch als Netzindustrie angesehen,545 da er Netzmärkte aufweist, auf denen das etablierte Unternehmen über beträchtliche Marktmacht („signifikant market power“, SMP546) verfügt, weshalb eine Ex-ante-Regulierung geboten ist.547 Das Postnetz ist jedoch anders als die Energie-, Telekommunikations- und Eisenbahnnetze nicht durch eine hohe Kapitalintensität geprägt, sondern zeichnet sich durch eine hohe Personalintensität aus. Aufgrund dieses regulierungstheoretisch bedeutenden Unterschieds bleibt der Postsektor außer Betracht.548 Nicht betrachtet werden auch die Versorgung mit Trinkwasser549 und die Entsorgung von Abwasser sowie die Versorgung mit Fernwärme.550 Zwar handelt es sich bei diesen Bereichen um Netzindustrien, weshalb rechtspolitisch auch hier ein funktionierender Wettbewerb unter Wahrung von Versorgungs sicherheit und hoher Qualität initiiert werden könnte.551 Gleichwohl hat der Gesetzgeber den Ordnungsrahmen im Wassersektor noch nicht an die neuen regulierungsrechtlichen Erkenntnisse angepasst. Vielmehr gelten für die Wasserversorgung und in Teilen auch für die Abwasserentsorgung umfassende Be544 Dazu Masing, Gutachten D zum 66. DJT 2006, S. 18 f.; Schnitker, Regulierung der Netzsektoren, S. 2. 545 Dazu Picot/Donges/Schmidt, Regulierung von Netzindustrien, S. 37, 38 und öfter. 546 Monopolkommission, Sondergutachten 39, Rn. 209. 547 Vgl. ausführlich Dieke/Junk/Zauner, Netzzugang und Zustellwettbewerb im Briefmarkt, WIK-Diskussionsbeitrag Nr. 336, S. 14 ff. 548 Siehe zu den Regulierungszielen im Postwesen Fehling/Ruffert/Ruffert, Regulierungsrecht, S. 565, 568 ff.: Herstellung und Aufrechterhaltung von Wettbewerb, Gewährleistung einer Grundversorgung mit Postdienstleistungen, Wahrung der öffentlichen Sicherheit; darüber hinaus wirft Ruffert die Frage nach sozialen Belangen als Regulierungsziel auf (S. 572 ff.). 549 Dazu Monopolkommission, Hauptgutachten 18, Rn. 1 ff. Hiernach sei ein „Durchleitungswettbewerb“ wie bei der Versorgung mit Energie und Telekommunikation aufgrund der spezifischen Technologie der Wasserversorgung nicht sinnvoll (a. a. O., Rn. 18); siehe zur kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle auch BGH v. 2.2.2010 – KVR 66/08, NJW 2010, 2573 – Wasserpreise Wetzlar. 550 Zur Anwendung des allgemeinen Kartellrechts vgl. Säcker/Wolf, RdE 2011, 277 ff. 551 Picot/Donges/Schmidt, Regulierung von Netzindustrien, S. 37, 38.
D. Eingrenzungen der thematischen Reichweite
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reichsausnahmen (§§ 31 ff. GWB i. d. Fassung der 8. GWB-Novelle).552 Auch potenzieller Wettbewerb ist hier regelmäßig durch die Anordnung eines Anschluss- und Benutzungszwangs nebst eines (beidseitigen) Kontrahierungszwangs ausgeschlossen.553 Der Bereich der Fernwärme wurde vom Gesetzgeber bislang ebenfalls keiner sektorspezifischen Regulierung unterstellt.554 Im Gegensatz zum Wassersektor gibt es für die Fernwärme jedoch keine Bereichsausnahme.555 Diese unterliegt deshalb jedenfalls dem allgemeinen Wettbewerbsrecht.556
IV. Preiskontrolle der (Folge-)Verträge Die Wirkungszusammenhänge zwischen Vertrag und Wettbewerb erfordern – so die bereits angesprochene Hauptthese dieser Arbeit – eine wertungsharmonisierende Interpretation der entsprechenden Rechtsgebiete. Diese Zusammenhänge sollen anhand der (Teil-)Unwirksamkeit von Folgeverträgen erläutert werden. Der Abstimmungsbedarf zwischen Vertragsschutz und Wettbewerbsschutz ist derzeit besonders drängend im Verhältnis zwischen dem Privatrecht und dem Recht der sektorspezifischen Regulierung von Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen, da Letzteres auf der Schnittstelle zwischen privatrechtlicher Förderung wirksamen Wettbewerbs und öffentlich-rechtlicher Daseinsvorsorge angesiedelt ist.557 So verfolgt das Recht der Regulierung natür licher Netzmonopole (EnWG, AEG) und marktmächtiger Stellungen auf regulierungsbedürftigen Märkten (TKG) nicht nur das Ziel einer Förderung des abgestuften Gemeinwohlziels „wirksamer Wettbewerb“, sondern als „Privatisierungsfolgenrecht“ auch sonstige Gemeinwohlziele wie die Gewährleistung der Versorgungssicherheit und die Förderung einer umweltverträglichen Energieversorgung. Diese Ziele sind nicht nur voneinander zu unterscheiden,558 sondern auch in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen.559 552
Markert, N&R 2009, 118, 119 m. w. N.; krit. de lege ferenda Säcker, WuW 2012, 343. Brehme, Privatisierung und Regulierung der öffentlichen Wasserversorgung, 2010, S. 167; Wolf, BB 2011, 648, 649; davon zu trennen ist die Frage, ob die Wasserversorger aufgrund des gesetzlich angeordneten Monopols als „Unternehmen“ i. S. des Wettbewerbsrechts anzusehen sind. 554 Vgl. BR-Drucks. 613/04 v. 13.8.2004, S. 79; Körber, Drittzugang zu Fernwärmenetzen, 2011, S. 20. 555 Zur Historie vgl. Körber, Drittzugang zu Fernwärmenetzen, 2011, S. 21. 556 Siehe dazu Säcker/Wolf, RdE 2011, 277 ff.; Körber, RdE 2012, 372 ff. 557 Körber, in: FS Möschel, 2011, S. 1043, 1044. 558 Insoweit zutreffend Gärditz, AöR 135 (2010), 251, 255. Das gilt auch im Interesse der rechtssicheren Anwendung durch die BNetzA als zuständiger Regulierungsbehörde, die ansonsten mit den komplexen Abwägungen zwischen dem Wettbewerbsziel und diversen öffentlich-rechtlichen Zielen im Einzelfall der Gefahr einer strukturellen Überforderung ausgesetzt wäre (a. a. O., S. 259). 559 Ludwigs, Effizienzanforderungen, S. 91 f. 553
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Teil 1: Einleitung
Unsere Untersuchung nimmt deshalb die Lösung der Folgevertragsproblematik zum Anlass, die Wettbewerbsförderung und die (sonstige) Gemeinwohlorientierung näher zu differenzieren. Dieses Ziel wird durch den bereits thematisierten „more economic approach“ der Kommission zum europäischen Wettbewerbsrecht erschwert: 560 Eine wohlfahrtsökonomische Uminterpretation des Wettbewerbsbegriffs birgt die Gefahr in sich, dass inkongruente privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Zielvorgaben im Rahmen der konkreten Regulierungsentscheidung „zu einem unkenntlichen Gemeinwohlklumpen amalgamiert“ werden.561 Paradigmatisch hierfür ist die im öffentlich-rechtlichen Schrifttum vertretene Ansicht, das Wettbewerbsziel spiele im Regulierungsrecht überhaupt keine tragende Rolle, da der regulierte Wettbewerb insgesamt in einer Form zu konstruieren sei, die unmittelbar den politisch festzulegenden überindividuellen Gemeinwohlzielen diene, seien es solche aus dem Bereich der Sozialpolitik oder der Wohlfahrtsökonomie.562 Als derartiges (mittelbares) Gemeinwohlziel kann zwar auch die Simulation einer Situation wie bei wirksamem Wettbewerb angesehen werden.563 Die praktische Erfahrung zeigt jedoch, dass das Ziel der Wettbewerbsförderung im Rahmen einer einzelfallbezogenen staatlichen Wettbewerbspolitik leicht zu Gunsten anderer politischer Interessen wie zum Beispiel der Konsolidierung der kommunalen Finanzen in den Hintergrund gerät, wie sich dies derzeit im Rahmen der Tendenz zur Rekommunalisierung der Energie- und Wassernetze zeigt.564 Aufgrund der Weite des Untersuchungsgegenstandes beschränkt sich die Untersuchung auf antikompetitiv überhöhte Preise. Es geht mit anderen Worten um das Problem der „Preiskontrolle“ von Folgeverträgen. Dabei betrachten wir allein die Anbieter- und nicht auch die Nachfragerseite.565
560
Gärditz, AöR 135 (2010), 251, 255. Gärditz, AöR 135 (2010), 251, 261 f.; zur Entgeltregulierung anhand des KeL-Grundsatzes auch Kleinlein/Schubert, N&R 2013, 185 ff. 562 Fehling/Ruffert/Lepsius, Regulierungsrecht, S. 1055, 1070; im Ergebnis ebenso Ludwigs, Effizienzanforderungen, S. 30, 115 ff.; Fornasier, Freier Markt, S. 72, der die wettbewerbsanaloge Regulierung natürlicher Monopole insgesamt dem Sozialstaatsgebot (und damit wohl auch dem öffentlichen Recht) zuordnet. 563 Brugger/Kirste/Anderheiden/Kirchgässner, Gemeinwohl, S. 289 ff. Hieran knüpft wohl auch die von Bachmann (Private Ordnung, S. 193 ff., 401 ff.) vertretene These an, bei der Sicherung des Gruppenwohls der von einer privaten Regelung Betroffenen vor Ausbeutung handle es sich um eine öffentlich-rechtliche Aufgabe. 564 Siehe dazu Teil 2 F. III. 565 Ebenso Bornkamm, GRUR 2010, 501 mit Fn. 3 ; zu den Problemen in Zusammenhang mit der Ausübung von Nachfragemacht siehe Säcker/Mohr, WRP 2010, 1 ff.; dies., WRP 2011, 793 ff. 561
D. Eingrenzungen der thematischen Reichweite
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V. Untersuchung aus rechtswissenschaftlicher Perspektive Im Zentrum der Untersuchung steht die Analyse des bestehenden Rechtsrahmens, also eine (zivil-)rechtliche Sicht. Dies ist Ausdruck der Erkenntnis, dass sich gerade ein interdisziplinärer Forschungsansatz der Grundlagen und Grenzen des eigenen Forschungsgebiets bewusst sein muss, um sich nicht in den Argumenten und Meinungen der Nachbardisziplinen zu verirren.566 Allerdings ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Grundaussagen der ökonomischen Theorie im Rahmen der aktuellen Tendenz zu einer verstärkten Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnisse im Wettbewerbsrecht („more economic approach“) und der damit zusammenhängenden Verlagerung des Blickwinkels von der „gesellschaftlichen“ Funktion des Schutzes individueller Freiheit zur wohlfahrtsökonomischen Maximierung der Effizienz unerlässlich. Ökonomische Überlegungen können im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaates aber nur „within the law“ erfolgen.567 Demgemäß ist es primär eine rechtswissenschaftliche Aufgabe, über das Ob und die Höhe eines Schadensersatzes im Falle des Verstoßes gegen drittschützende Vorschriften des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts zu entscheiden. Dasselbe gilt für die (Teil-)Unwirksamkeit von Folgeverträgen. Wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen können in diesem Rahmen zur Untermauerung des Schutzzwecks einer Norm herangezogen werden, sowie die Berechnung des Schadens oder die Verdeutlichung der Kausalzusammenhänge unterstützen.568
VI. Untersuchung aus unionsrechtlicher und nationaler Perspektive Die Untersuchung beschränkt sich schließlich auf das Recht der Europäischen Union sowie auf die Rechtslage in Deutschland. Die private Kartellrechtsdurchsetzung war in jüngerer Zeit Gegenstand rechtsvergleichender Forschungsaktivitäten, auf die vorliegend zurückgegriffen werden kann.569 Auch 566
Bachmann, Private Ordnung, S. 41 f. Mestmäcker, A Legal Theory without law, S. 21 mit Fn. 62; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung, S. 17; siehe zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit auch Renner, KritV 2010, S. 66 f. 568 Dazu aus ökonomischer Sicht Haucap/Stühmeier, WuW 2008, 413 ff. 569 Möllers/Heinemann, The Enforcement of Competition Law in Europe, 2007; Möschel/ Bien, Kartellrechtsdurchsetzung durch private Schadensersatzklagen, 2010. Siehe zum Kartelldeliktsrecht rechtsvergleichend Bulst, Schadensersatzansprüche, S. 35 ff., 143 ff., 169 ff. zum US-amerikanischen, englischen und französischen Recht; Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 2007, S. 233 ff. zum englischen Recht; Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, S. 173 ff. zum US-amerikanischen Recht; Linder, Privatklagen und Schadensersatz im Kartellrecht, 1980, S. 69 ff.; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, S. 166 ff. zum US-amerikanischen Kartellrecht; Mailänder, Privatrechtliche Folgen, S. 17 ff. Einen Überblick über die Probleme des vertrags- und deliktsrechtlichen „private enforcement“ gibt Leib, Kartellrechtliche Durchsetzungsstrategien, S. 5 ff. 567
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Teil 1: Einleitung
die – in einem vereinten Europa wohl unvermeidliche – Europäisierung des Vertragsrechts wird im Schrifttum bereits vertieft diskutiert.570 Der Gefahr einer Verengung des Blickwinkels soll dadurch begegnet werden, dass, soweit geboten, Erkenntnisse anderer Rechtsordnungen herangezogen werden.571
570 571
Siehe die Nachweise bei MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 213 ff. Ebenso etwa der Ansatz von Bachmann, Private Ordnung, S. 43 f.
Teil 2
Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands und der Europäischen Union Eine Untersuchung des Verhältnisses von Wettbewerb und Vertrag muss bei der geltenden Wirtschaftsverfassung beginnen, da diese den Rahmen absteckt, innerhalb dessen „Freiheit und Effizienz“1 verwirklicht werden können. Wie wir bereits gesehen haben, wird die privatrechtskonstituierende, freiheitssichernde Funktion des Wettbewerbsrechts – und umso mehr diejenige des Regulierungsrechts – derzeit von einer ökonomisch fundierten Ansicht in Zweifel gezogen. Nach dieser soll sich das (Privat-)Recht a priori überindividuell-objektiven Zwecken wie demjenigen wohlfahrtsökonomischer Effizienz unterordnen.2 Es ist deshalb zu prüfen, ob eine solche Sichtweise mit der unionsrechtlichen und der deutschen Wirtschaftsverfassung kompatibel ist. Als zentrales Anschauungsobjekt dient uns dabei die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union.3 Diese wird maßgeblich durch die Ziele der Union sowie durch die Rechtsnormen bestimmt, welche die Ziele konkret ausformen. Von besonderem Interesse ist die Frage, inwieweit Privatautonomie, Markt und Wettbewerb durch die europäische Wirtschaftsverfassung gewährleistet sind. Das bestimmt sich ausschließlich nach der unionsrechtlichen Methodik, weshalb die deutsche Diskussion über die „wirtschaftsverfassungsrechtliche Neutralität“ des Grundgesetzes nicht juristisch,4 sondern allenfalls als „tatsächliche Erkenntnisquelle“5 fruchtbar gemacht werden kann.
A. Wirtschaftsverfassung und Sozialmodell des Privatrechts Es entspricht heute wohl allgemeiner Ansicht, dass die marktregelnden Vorschriften des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts sowie des Vertragsrechts unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse der Wirtschaftswissen1 Siehe den Titel des kontrovers diskutierten Buches von Künzler, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? 2 Grundlegend Posner, Economic Analysis of Law, S. 23; krit. Mestmäcker, A Legal Theory without Law, S. 2 ff.; M. Kerber, WuW 2008, 424, 425. 3 Vgl. dazu unter Geltung des Vertrages von Lissabon Frenz/Ehlenz, GewArch 2010, 329 ff. 4 Stumpf, Aufgabe und Befugnis, 1999, S. 130; Wolf, Effizienzen, S. 130. 5 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 973 f.
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Teil 2: Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands und der Europäischen Union
schaften über die Funktionsweise von wettbewerblichen Märkten zu gestalten und zu interpretieren sind. 6 Dies verleitet Vertreter der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften zuweilen dazu, Rechtsnormen als veränderliche Größen zu behandeln, die durch Interpretation beliebig dem aktuellen gesellschaftlichen und ökonomischen Zeitgeist angepasst werden könnten.7 Hierbei wird übersehen, dass die positive Wirtschaftsverfassung zwingende Vorgaben für das Verständnis marktregelnder Normen bereithält. Sie bestimmt, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen eine marktwirtschaftliche Ordnung verwirklicht werden kann und inwieweit diese durch überindividuell-objektive Elemente zu ergänzen ist. Sie entscheidet mit anderen Worten darüber, welches „Sozialmodell“ dem wirtschaftsordnenden Recht zugrunde liegt, konkret welche Rechtsnormen als „marktkonstitutives“ („kompetitives“) und welche als „marktkomplementäres“ („soziales“) Recht anzusehen sind. 8 Die Wirtschaftsverfassung ist dabei auf der Schnittstelle zum „Wirtschaftssystem“ sowie zum „politischen System“ angesiedelt; 9 denn sie nimmt – in sozialwissenschaftlicher Diktion – Informationen aus beiden anderen Systemen auf und ordnet diese im Sinne ihrer eigenen Rationalität.10 Die entsprechende Problematik wird in Deutschland klassischerweise unter der Überschrift Wirtschaftsverfassung diskutiert.11 Das Schrifttum spricht neuerdings auch von der „Legitimationsfunktion des Rechts für den Markt“.12
6
Fornasier, Freier Markt, S. 57. Gesellschaftspolitische Anklänge bei Wiethölter, JbRSoz 8 (1982), 38, 41, wonach unter Wirtschaftsverfassung eine „Einheit von Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialverfassung“ als Ausdruck einer „dauerhaft orientierten pragmatischen Systempolitik“ mit dem Ziel „gesellschaftlicher Verhältnismäßigkeit“ zu verstehen sei [Fall geändert; der Verf.]. Paradigmatisch für den „ökonomischen Imperialismus“ ist die Rechtstheorie der Chicago School; dazu Teil 4 C. VI. 8 Siehe zur Differenzierung zwischen marktkonstitutivem und marktkomplementärem Recht Fornasier, Freier Markt, S. 65 ff.; siehe auch Renner, KritV 2010, 67, 70; Micklitz, Gutachten A zum 69. DJT, S. A 58; MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 4. 9 Vgl. Mestmäcker, ZHR 137 (1973), 97, 101: „strukturelle Entsprechung von marktwirtschaftlichem System und Privatrechtsordnung“; Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 39. 10 So Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 39 f. 11 Der Begriff ist dabei nicht notwendig mit ordoliberalem Gedankengut gleichzusetzen, sondern zunächst einmal „wertneutral“ anzuwenden; im Ausgangspunkt ebenso Renner, KritV 2010, 67, 70, der Wirtschaftsverfassung „emanzipatorisch“ verstehen will. 12 Fornasier, Freier Markt, S. 57. 7
B. Ökonomisches und rechtswissenschaftliches Verständnis von Wirtschaftsverfassung 89
B. Ökonomisches und rechtswissenschaftliches Verständnis von Wirtschaftsverfassung Der Begriff der Wirtschaftsverfassung wurde in Deutschland maßgeblich durch Walter Eucken und Franz Böhm geprägt.13 Da er sich im Schnittfeld von Recht und Ökonomie bewegt und so mittelbar an den unterschiedlichen ökonomischen Auffassungen über die Begriffe Wirtschaft und Wettbewerb teilhat,14 wird die Diskussion über das Bestehen und den Inhalt einer Wirtschaftsverfassung durch interdisziplinäre Verständigungsschwierigkeiten erschwert.15 Im Ausgangspunkt kann zwischen einer ökonomischen und einer normativen Herangehensweise unterschieden werden: 16 In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wird oft ein idealtypischer Terminus der Wirtschaftsverfassung verwandt, wie er zum Beispiel in den Begrifflichkeiten „Marktwirtschaft“ und „Zentralverwaltungswirtschaft“ zum Ausdruck kommt.17 Als Gegenstück fungiert ein konkreter Begriff der Wirtschaftsverfassung, der den tatsächlichen Zustand einer bestimmten Volkswirtschaft beschreiben soll.18 Der rechtswissenschaftliche Begriff der Wirtschaftsverfassung lehnt sich an die Erkenntnisse der Verfassungstheorie an.19 Hiernach ist zu unterscheiden zwischen einem formalen, engen Begriff der Wirtschaftsverfassung, wonach ausschließlich die Bestimmungen des Verfassungsrechts bzw. der Unionsverträge betrachtet werden, und einem materiell-weiten Begriff, der auf alle fundamentalen Normen des Verfassungs- und des einfachen Rechts blickt, die das Wirtschaftsrecht entscheidend (mit-)determinieren. Für die Zwecke unserer Untersuchung ist ein materiell-rechtswissenschaftlicher Begriff der Wirtschaftsverfassung vorzugswürdig. 20 Ein rein ökonomischer Begriff der Wirtschaftsverfassung scheidet bereits aufgrund des Primats des Rechts aus; ökonomische Überzeugungen können in einem demokratischen 13 Eucken, Grundlagen der Nationalökonomie, S. 55 f.; Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 125 f.; dazu Peukert, Güterzuordnung, S. 355. Gemäß Fikentscher, Wirtschaftsrecht II, S. 21 entstand der Begriff der Wirtschaftsverfassung im Jahr 1919 aufgrund der in der Weimarer Reichsverfassung enthaltenen Artikel zum Wirtschaftsleben. 14 Von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 8 01, 803. 15 Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung; siehe auch Mussler, Die Wirtschaftsverfassung der europäischen Gemeinschaft im Wandel, 1998, S. 16 ff.; Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 218 f. 16 Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 3 Rn. 17 ff.; der politische Gehalt des Begriffs ist nicht Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen; vgl. dazu Joerges, EUI Working Paper Law No 2004/13. 17 Der ökonomische Begriff der Wirtschaftsverfassung ist insoweit gleichbedeutend mit demjenigen der Wirtschaftsordnung der ordoliberalen Theorie, vgl. dazu Eucken, ORDO 2 (1949), 1 ff. 18 So die historische Schule der Nationalökonomie, vgl. Knies, Die politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpunkte. 19 Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 3 Rn. 20. 20 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 2 26.
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Rechtsstaat nur aufgrund einer Entscheidung des Rechts unter den Begriff der Wirtschaftsverfassung subsumiert werden.21 Aber auch ein auf die Vorgaben der Verfassung begrenzter Begriff der Wirtschaftsverfassung erscheint für unsere Zwecke nicht zureichend, da die Verfassung lediglich eine allgemeine Rahmenwirtschaftsordnung vorgibt, die durch das einfache Recht zu konkretisieren ist.22 Da die Mittel zur Verwirklichung der Grundwerte ihrerseits wesentliche Grundsätze der Wirtschaftsordnung beinhalten können, ist der Begriff der Wirtschaftsverfassung deshalb um die Ebene des einfachen Rechts zu erweitern.23 In diesem Sinne haben auch das Wettbewerbsrecht und das Recht der wettbewerbsfördernden Regulierung natürlicher Infrastrukturmonopole einen materiell-wirtschaftsrechtlichen „Verfassungscharakter“.24 Vor diesem Hintergrund wollen wir unter Wirtschaftsverfassung mit Christian Pielow die Gesamtheit der Rechtssätze einer Rechtsordnung verstehen, die „als Eckwerte zusammengesehen das wirtschaftliche Leitbild“ ergeben.25 Der Begriff Wirtschaftsverfassung hat somit vor allem analytisch-empirischen Charakter.26 Er soll dazu beitragen, das Spannungsverhältnis zwischen einer hoheitlich-interventionistischen Marktregelung auf der einen Seite und der Sicherung der Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Marktfreiheit natürlicher und juristischer Personen auf der anderen Seite zu erhellen.27 Eine derart analytische Untersuchung des wirtschaftsverfassungsrechtlichen Normenbestands ist insbesondere für das Recht der Europäischen Union bedeutsam, auch wenn die unionalen Vorschriften nicht Ausdruck eines in sich stimmigen wirtschaftlichen Konzepts, sondern das Ergebnis unterschiedlicher, in den letzten Jahrzehnten immer wieder wechselnder ökonomischer und gesellschaftlicher Zielvorstellungen sind.28 In diesem Rahmen kommt der Ökonomie die wichtige Aufgabe zu, (wettbewerbs-)politische Vorschläge für die Gestaltung der Wirtschaftsverfassung zu unterbreiten und damit die vom jeweiligen Gesetzgeber als vorzugswürdig angesehene Wirtschaftsordnung zu verwirklichen.29 Damit dient die Ökonomie auch der Unterscheidung des (qua Wertentscheidung zu 21 Zacher, in: FS Böhm, 1965, S. 63, 77 f.; Mestmäcker, A Legal Theory without Law, S. 11 und 21. 22 Fikentscher, Wirtschaftsrecht II, S. 69 f. 23 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 2 25. 24 Vgl. auch Böhm, ORDO 10 (1958), 167, 196, wonach der Wettbewerb eine Verfassungseinrichtung sei. 25 Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, S. 4 4; der Begriff „Wirtschaftsverfassung“ bezeichnet somit nicht allein Normen mit Verfassungsrang bzw. (im Hinblick auf das europäische Recht) mit quasi Verfassungsrang, sondern kennzeichnet die von der Rechtsordnung gewährleistete Orientierung des Wirtschaftslebens an einheitlichen Ordnungsprinzipien; vgl. Zacher, in: FS Böhm, 1965, S. 63, 101 ff.; Hönn, Gestörte Vertragsparität, S. 109. 26 BerlKommTKG/Nettesheim, 2. Aufl. 2009, Einl. III Rn. 1. 27 Nowak, EuR 2009 Beiheft 1, 129, 144. 28 Von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 8 01, 805. 29 Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 7.
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bestimmenden) „Wesentlichen“ vom „Unwesentlichen“, um so eine konstante Wirtschaftspolitik zu gewährleisten.30
C. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union Die praktische Wirtschaftsverfassung der früheren Europäischen Gemeinschaften wurde lange Zeit von der Agrarpolitik dominiert,31 die ihre zentrale Bedeutung derzeit jedoch an die Bewältigung der finanziellen Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise verloren hat.32 Rechtlich gesehen ist die wirtschaftliche Tätigkeit der Union nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages33 gem. Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV leitbildhaft ausgerichtet „auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“.34 Durch den Begriff der sozialen Marktwirtschaft hat ein wirtschaftspolitischer Fundamentalbegriff Eingang in das rechtliche Grunddokument der Union gehalten, dessen Aussagegehalt wir im Folgenden bestimmten wollen.35 Dabei fällt auf, dass der Lissabon-Vertrag die bis dato geltende Verbürgung eines „Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt“, von den Zielbestimmungen (konkret: Art. 3 Abs. 1 lit. g EG) in das Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb verschoben hat. Der EU-Vertrag bringt somit die Ziel-Mittel-Relation zwischen Wettbewerb, Binnenmarkt und Förderung des allgemeinen Lebensstandards36 nicht mehr ausdrücklich zum Ausdruck.37 Es stellt sich deshalb die Frage, ob der Lissabon-Vertrag die Gewichte zwischen Wettbewerbswirtschaft und sozialer Verantwortung oder, mit Blick auf das Thema unserer Untersuchung, zwischen individueller Selbstbestimmung und überindividuell-objektiver Fremdbestimmung der Bürger neu zu Gunsten Letzterer justiert hat.38 Als Folge einer „Schwächung des Wettbewerbsprinzips“ könnten etwa staatliche Beihilfen aus-
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Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 226. Gaßner, KommJur 2007, 129. 32 Zu den entsprechenden Aufgaben siehe Ch. Calliess/Schoenfleisch, JZ 2012, 477 ff. 33 Vertrag von Lissabon vom 17.12.2007, ABl.EU 2008 Nr. C 306/1; BGBl. II 2008 S. 1038. 34 Zum Leitbildcharakter Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 769, 770. 35 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969. 36 Speziell zu den Grundfreiheiten Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 473: Dem Schutz des Binnenmarktes liege die Idee wohlfahrtsfördernder Tauschprozesse zugrunde. 37 Behrens, EuZW 2008, 193. 38 Vgl. auch Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969. 31
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geweitet,39 Fusionen vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Industriepolitik beurteilt oder Privatisierungs- bzw. Liberalisierungsprojekte zu Lasten einer sicheren und preisgünstigen Versorgung der Verbraucher geschwächt werden.40 Um die rechtliche Relevanz der neuen Zielvorgaben zu verdeutlichen, wollen wir zunächst überblickshaft die Entwicklung der Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Union skizzieren.
I. Von der wirtschaftlichen zur sozialen Integration Die früheren Europäischen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Atomgemeinschaft und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) wurden gegründet, um die Mitgliedstaaten wirtschaftlich zu integrieren. Demgemäß haben die Parteien der Römischen Verträge von 1957 den Europäischen Gemeinschaften nahezu ausschließlich wirtschaftliche Aufgaben gestellt. Diese waren ausgerichtet auf eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein stetiges Wirtschaftswachstum sowie die Stabilität und Hebung der Lebenshaltung. Diese Ziele sollten primär durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und eine Annäherung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken erreicht werden.41 Untrennbar verknüpft mit der Herstellung eines Gemeinsamen Marktes war eine ergebnisoffene Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Gründungsmitglieder der Gemeinschaften vertrauten deshalb auf das Eigeninteresse der Marktbürger, deren Betätigung sie mit den Grundfreiheiten und dem Wettbewerbsrecht Möglichkeiten eröffneten und Grenzen zogen. Im Jahr 1957 konnte somit von einem überindividuell-objektiven Sozialmodell der Gemeinschaften keine Rede sein.42 Die Herstellung und dauerhafte Sicherung eines Gemeinsamen Marktes (nunmehr: Binnenmarktes43) diente allerdings schon damals keinen Selbstzwecken, sondern über die zunehmende wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Verknüpfung der Mitgliedstaaten langfristig einer möglichst weitgehenden politischen Einigung durch sog. Spill-over-Effekte.44 Darüber hinaus verband sich mit dem Ziel der Hebung der Lebenshaltung die Erwartung, dass soziale Probleme mit steigendem Wohlstand abnähmen.45 Im Zuge der fortschreitenden europäischen Integration wurden die vormals liberalen, allein auf eine Marktöffnung abzielenden Regelungsbereiche Schritt 39 Eine entsprechende Problematik stellt sich etwa im Zuge der Ausgleichsregelungen für stromintensive Unternehmen gem. den §§ 19 Abs. 2 StromNEV, 40 ff. EEG 2012; siehe Schlacke/Kröger, NVwZ 2013, 313, 315 ff. 40 So Riley, ECLR 2007, 703, 707; Peukert, ZHR 173 (2009), 536, 539. 41 Basedow, EuZW 2008, 225. 42 Basedow, EuZW 2008, 225. 43 Siehe zur Terminologie Nowak, EuR 2009 Beiheft 1, 129, 132 ff. 44 Huber, Recht der Europäischen Integration, 2002, Rn. 13. 45 Basedow, EuZW 2008, 225.
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für Schritt durch weiterreichende Zuständigkeiten der Gemeinschaft für die Wirtschafts-, aber auch für die Sozial- und Umweltpolitik flankiert, wie sie in Art. 2 und 3 EG in der Fassung der Verträge von Maastricht46 und Amsterdam47 ihren Ausdruck fanden.48 Nach Art. 2 EG war es Aufgabe der Gemeinschaft, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der in den Artikeln 3 und 4 genannten gemeinsamen Politiken und Maßnahmen49 in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Diese Aufgabenbestimmung unterschied sich vom allgemeinen Gemeinwohlauftrag der Mitgliedstaaten schon durch ihren höheren Konkretisierungsgrad,50 jedenfalls sofern man nicht in den Grundrechten spezifische Verbürgungen des Gemeinwohls sehen will.51 Im Hinblick auf die Funktion der Gemeinschaft, Elemente der staatlichen Gemeinwohlverantwortung durch völkerrechtliche Verträge auf eine internationale Organisation eigener Art abzugeben,52 kann man in den Zielbestimmungen der Verträge die Umschreibung von spezifischen Aspekten eines europäischen Gemeinwohls erblicken.53 Die Aufgaben- und Zielumschreibungen überlagern insoweit den „alteuropäischen Gemeinwohlinteressenbegriff“, ohne mit diesem deckungsgleich zu sein.54
II. Systementscheidung des früheren EG-Vertrages für eine freie Marktwirtschaft Bis zum Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages war die Europäische Gemeinschaft somit auf ein System freier Marktwirtschaft verpflichtet. Bereits der Begriff „Markt“ implizierte die Präferenz der Gemeinschaftsrechtsordnung für 46
Vertrag von Maastricht (EUV) vom 7.2.1992, ABl.EG Nr. C 191/1. Vertrag von Amsterdam v. 2.10.1997, ABl.EG Nr. C 340/1. 48 Basedow, EuZW 2008, 225. 49 Wolf, Effizienzen, S. 113. 50 Siehe zur Gemeinwohldefinition im pluralistischen Verfassungsstaat Schuppert, GewArch 2004, 441 ff. 51 Vgl. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 333 f. 52 Dauses/Müller-Graff, A. I. Rn. 75. 53 Wolf, Effizienzen, S. 131; Brugger/Kirste/Anderheiden/Ch. Calliess, Gemeinwohl, S. 173, 177 ff. 54 Häberle, Öffentliches Interesse, S. 7 77. 47
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ein dezentrales Wirtschaftssystem, das den Wettbewerb als Koordinator des Marktgeschehens einsetzte und damit zugleich die Wettbewerbsfreiheit der Marktbürger voraussetzte.55 Der Vorrang dezentraler Steuerung ergab sich auch aus den Art. 3 und 4 EG, welche die zur Erreichung der allgemeinen Gemeinschaftsziele zu ergreifenden „Tätigkeiten“ aufzählten. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. c und g EG umfasste die Tätigkeit der Gemeinschaft die Errichtung eines Binnenmarktes, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet war. Errichtet werden sollte auch ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt. Art. 4 EG verpflichtete die Mitgliedstaaten auf die Einführung einer europäischen Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, einem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruhte sowie dem Grundsatz einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet war. Binnenmarkt und Wettbewerb sollten einerseits zur Erreichung weiterreichender (Integrations-) Ziele wie einem möglichst hohen wirtschaftlichen Wohlstand beitragen.56 Andererseits konkretisierten die in Art. 3 und 4 EG normierten Nahziele die Auslegung der allgemeinen Aufgaben in Art. 2 EG, welche aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades erst dadurch einen materiell greifbaren Aussagegehalt erlangten.57 Vor diesem normtheoretisch komplexen Hintergrund maß der EuGH dem Verhältnis der Normen je nach konkretem Sachverhalt ein unterschiedliches Gewicht bei. Während die in Art. 3 EG enthaltenen Ziele zum Teil diejenigen des Art. 2 EG konkretisieren sollten,58 wurde an anderer Stelle nicht zwischen den Art. 2 und 3 EG unterschieden.59 Aus der Verknüpfung von Nah- und Fernzielen in den Art. 2 ff. EG folgte, dass die Aufgaben der Gemeinschaft vorrangig mit den Mitteln des Wettbewerbs zu erreichen waren. 60 Zwar standen alle in Art. 3 EG normierten Aufgaben und Politiken – also auch die nicht-marktlichen – formal auf derselben Stufe. Auch benannte Art. 2 EG eine Reihe von übergeordneten Aufgaben der Gemeinschaft, darunter die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, also Ziele, die man im Sinne einer wohlfahrtsökonomisch-objektiven Effizienz orientierung lesen konnte. Diese formal übergeordneten Ziele hatten aber nur 55 Blank, Europäische Fusionskontrolle im Rahmen der Art. 85, 86 EG, 1971, S. 31; Stumpf, Aufgabe und Befugnis, S. 130 f. 56 EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079 Rn. 50; Wolf, Effizienzen, S. 133. 57 Wolf, Effizienzen, S. 135; siehe mit Blick auf die Gemeinwohlverpflichtung des Staates auch Häberle, Öffentliches Interesse, S. 260 ff. 58 EuGH v. 24.11.1982 – Rs. 249/81, Slg. 1982, 4005 Rn. 28 – Kommission/Irland. 59 EuGH v. 25.2.1988 – Rs. 299/86, Slg. 1986, 1213 Rn. 24 – Drexl. 60 Stumpf, Aufgabe und Befugnis, S. 129. Im Schrifttum wurde insoweit sogar die Ansicht vertreten, der Schutz des Wettbewerbs sei ein übergeordnetes Vertragsziel, vgl. Birk, Das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs, S. 157.
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einen begrenzten operationalen Gehalt und konnten deshalb die Ziele des Art. 3 EG nicht substantiell beschränken. Ansonsten wäre etwa das Ziel, ein System unverfälschten Wettbewerbs zu schaffen, nicht nur in den Dienst der Hebung der Lebenshaltung gestellt gewesen, sondern auch in den Dienst aller anderen in Art. 2 EG genannten übergeordneten Ziele wie etwa des Umweltschutzes, womit es seine rechtlichen Konturen verloren hätte. 61 Das vorliegend zugrunde gelegte Verständnis basiert ergänzend auf der Überlegung, dass über den Rechtscharakter einer Ordnung auch die Mittel entscheiden, die zur Verwirklichung der abstrakten Regelungsziele zur Verfügung stehen oder ausgeschlossen sind. 62 Für wettbewerbliche Sachverhalte war der Aussagegehalt des Art. 3 Abs. 1 lit. g EG deshalb durch einen Wechselblick auf die Art. 81 ff. EG (Art. 101 ff. AEUV) zu konkretisieren,63 nicht jedoch durch einen solchen etwa auf die Entwicklungszusammenarbeit gem. Art. 3 Abs. 1 lit. r EG. Das zeigte sich besonders deutlich mit Blick auf das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen gem. Art. 81 EG. Dieses diente nach seinem Absatz 1 der Herstellung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs im Sinne eines freien Wettbewerbsprozesses. 64 Wohlstandsgesichtspunkte kamen nach der Normsystematik erst im Rahmen des Absatzes 3 zum Tragen, sofern hierdurch der freie Wettbewerbsprozess nicht vollständig ausgeschaltet wurde. 65 Zwar konnten nach der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen der Rechtfertigung einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung auch außerwettbewerbliche Ziele wie dasjenige des Umweltschutzes relevant werden. 66 In seinen entsprechenden Urteilen ging es jedoch meist um die Beurteilung von Vereinbarungen, die die Existenz bestimmter Vertriebsformen gewährleisten sollten, also um Zielsetzungen wirtschaftlicher Art. 67 Darüber hinaus basierte diese Rechtsprechung auf der unausgesprochenen Prämisse, dass die Kommission und nicht – wie dies heute der Fall ist – die Unternehmen selbst über die Zulässigkeit wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen entscheiden. Das Verhält61 Basedow, WuW 2007, 712, 714; siehe auch von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 905, 947: Kein Ausschließlichkeitsanspruch des Effizienzziels. 62 Behrens, EuZW 2008, 193; Immenga/Mestmäcker/dies., Einl. D. EU-Wettbewerbsrecht Rn. 35. 63 Zur EuGH-Entscheidung „Continental Can“ siehe noch Teil 2 C. III. 2. 64 Das Kartellverbot kennt keine allgemeine „rule of reason“, vgl. EuG v. 18.9.2001 – Rs. T-112/99, WuW/E EU-R 469 Rn. 76 f. – Métropole Télévision; EuG v. 23.10.2003 – Rs. T-65/98, Slg. 2003, II-4643, 4701 Rn. 106 f. – Van den Bergh Foods/Kommission; Kling/Thomas, Kartellrecht, § 4 Rn. 140; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 9 Rn. 56 ff.; Dreher/Hoffmann, WuW 2011, 1181, 1194. 65 Säcker/Mohr, WRP 2011, 793, 801 f.; siehe ausführlich Teil 5 C. II. 1 und 2. 66 EuGH v. 29.10.1980 – Rs. 209 bis 215 und 218/78, Slg. 1980, 3125 Rn. 176 – van Landewyck/Kommission; EuGH v. 25.10.1977 – Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 Rn. 21 – Metro/Kommission. 67 Vgl. dazu Immenga/Mestmäcker/Ellger, Art. 101 Abs. 3 AEUV Rn. 311 Fn. 554; a. A. Peukert, ZHR 173 (2009), 536, 555.
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nis von Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV wird uns noch beschäftigen, da es paradigmatisch für das Verhältnis von individueller Freiheit und überindividueller Wohlstandsmaximierung ist.
III. Auswirkungen des Lissabon-Vertrages auf die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union 1. Errichtung einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft Der Vertrag von Lissabon hat die dreistufige Zielhierarchie des EG-Vertrages durch Aufgaben (Art. 2 EG), Tätigkeiten bzw. Unterziele (Art. 3 EG) und einzelne Handlungsermächtigungen (z. B. Art. 81 ff. EG) zu einer zweistufigen Rangfolge zusammengeschmolzen. 68 Die Ziele der Union sind nunmehr in Art. 3 EUV niedergelegt; daneben gibt es nur noch Regelungen bezüglich einzelner Handlungsfelder im normativ gleichrangigen AEU-Vertrag. 69 Die bislang in Art. 2 EG normierten Ziele finden sich überwiegend in Art. 3 Abs. 3 EUV. Schon ein überschlägiger Vergleich der alten mit den neuen Formulierungen macht dabei deutlich, dass die sozialen und industriepolitischen Befugnisse der Union durch Art. 3 Abs. 3 EUV aufgewertet worden sind.70 Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV gibt als Leitbild der europäischen Wirtschaftsverfassung eine „im hohen Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ aus. Die Vorschrift bricht nach ihrem Wortlaut mit der vergleichbaren Bestimmung des gescheiterten Verfassungsvertrags, der noch von einem Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb gesprochen hatte (Art. I-3 Abs. 2 EVV).71 So kommt das Wettbewerbsziel in Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV nicht mehr ausdrücklich zum Ausdruck, da der Ausdruck „wettbewerbsfähig“ vor allem eine „globalisierungsbezogene Konditionierung“ und keine eigenständige Zielgröße beinhaltet.72 Die Verpflichtung der Union auch auf sozialpolitische Ziele lässt sich einerseits mit dem Bestreben erklären, die Folgen einer „liberalen Politik“ der Marktordnung für einzelne Bürger abzumildern. Andererseits wird vermutet, dass sich die Union durch die verstärkte Betonung sozialer Ziele und die hierdurch ermöglichte „Umverteilung Loyalitäten bei den Bürgern [. . .] verschaffen und so deren ‚europäische Identität‘ [. . .] stärken“ wollte.73 Nach einer Phase der negativen Integration durch Abbau von 68
Basedow, EuZW 2008, 225. Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV; Art. 1 Abs. 2 Satz 2 AEUV. 70 Vgl. weiterführend Ruffert, AöR 134 (2009), 197, 201. 71 Vgl. Terhechte, EuR 2008, 143, 175; Hatje/Terhechte/Terhechte, EuR Beiheft 3/2004, S. 107, 108 f. 72 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 975; siehe auch Müller-Graff, ZHR 173 (2009), 443, 447. 73 BerlKommTKG/Nettesheim, 2. Aufl. 2009, Einl. III Rn. 4. 69
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Marktzutrittsschranken gehe es der Union damit um eine positive Integration im Wege der Angleichung oder Vereinheitlichung nationaler Marktverhaltensregelungen durch allgemeine Gesetze, die nicht mehr nur am Schutz des freien Wettbewerbs, sondern auch an überindividuell-objektiven Schutzkonzepten ausgerichtet sei.74 Trotz dieser terminologischen Änderungen ist die Europäische Union weiterhin auf das übergreifende Ziel der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes verpflichtet, in dem auf der Grundlage der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs eine freiheitliche und marktwirtschaftliche Ordnung herrscht, die durch ein „System unverfälschten Wettbewerbs“ gesichert wird.75 Eingriffe in das System des unverfälschten Wettbewerbs – dessen materieller Gehalt durch die noch zu behandelnden Theorien über den Markt und den Wettbewerb konstituiert wird – bedürfen deshalb einer Rechtfertigung durch ausreichend gewichtige Gemeinwohlbelange und müssen verhältnismäßig sein.76 Dieses Verständnis spiegelt sich in Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV wider, da der Begriff der „sozialen“ Marktwirtschaft nach seiner Entwicklungsgeschichte auf eine Verstetigung der Marktwirtschaft abzielt, die er zu diesem Zwecke mit einem „sozialen Ausgleich“ versieht.77 Das im Begriff der sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruck kommende „soziale“ Element kann somit das Wettbewerbsziel nicht in einem offenen Abwägungsprozess („praktische Konkordanz“) an den Rand drängen oder sogar überspielen.78 Der primäre Anwendungsbereich des Sozialgedankens liegt im Unionsrecht – wie die sozialen Grundrechte gem. Art. 27 ff. EU-GRCharta verdeutlichen79 – vielmehr im Bereich der Gestaltung des Arbeits- und Sozialsektors. 80 In Übereinstimmung mit dieser Wertentscheidung sind für das Arbeits- und das Sozialrecht ungeschriebene Bereichsausnahmen vom Europäischen Wettbewerbsrecht – wenn auch nicht von den Grundfreiheiten – anerkannt. 81 74
Peukert, ZHR 173 (2009), 536, 560 ff.; Unberath/Johnston, CMLR 2007, 1237, 1283 ff. Fuchs, in: FS Möschel, 2011, S. 241, 254; Calliess/Ruffert/Weiß, Art. 101 AEUV Rn. 2 ; BerlKommTKG/Nettesheim, TKG, 2. Aufl. 2009, Einl. III Rn. 21; Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, § 7 I. 76 Von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 8 01, 849 ff. 77 Fikentscher, GRUR Int 2009, 635, 639 Fn. 18; Rittner, WuW 2009, 715. Zur Berücksichtigung der „Tatsachen der Theoriebildung“ bei der Auslegung des Unionsrechts vgl. SchmidtPreuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 970 f. 78 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 975 f.; Müller-Graff, ZHR 173 (2009), 443, 453 und öfter. 79 Vgl. zu den Rechtswirkungen einerseits Peukert, ZHR 173 (2009), 536, 571 (Grundsatz im Sinne des Art. 52 Abs. 5 EU-GRCharta) und andererseits Jarass, Art. 27 EU-GRCharta Rn. 3 (echtes Recht, aber unter Betonung eines weiten Spielraums des Gesetzgebers). 80 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 976 f. 81 MünchKommEUWettbR/Säcker/Mohr, 2. Aufl. 2014, Einl. Teil V bis VI; siehe zur praktischen Konkordanz zwischen Wettbewerbsrecht und kollektivem Arbeitsrecht Mohr/ Wolf, JZ 2011, 1091 ff. 75
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Gegen das wertungsmäßige Übergewicht der Systemgarantie einer freien Marktwirtschaft im wirtschaftlichen Bereich kann auch nicht vorgebracht werden, dass diese gem. Art. 3 Abs. 3 EUV formal nur ein Ziel unter mehreren sei. 82 Die allgemeinen Vertragsziele sind ihrerseits im Lichte der sie näher ausgestaltenden Vertragsbestimmungen und Funktionsgarantien zu interpretieren. Hier zeigt sich mit den Wettbewerbsvorschriften der Art. 101 ff. AEUV, dem Beihilfenrecht der Art. 107 ff. AEUV und den Grundfreiheiten als Kerngarantien des Binnenmarktes (Art. 26 Abs. 2 AEUV) 83 eine Präponderanz eines auf marktwirtschaftlichen Grundlagen beruhenden offenen Wirtschaftsmodells. So stellen die Grundfreiheiten sicher, dass die grenzüberschreitende Koordinierung von Angebot und Nachfrage am Markt nicht durch unverhältnismäßige staatliche Hindernisse beeinträchtigt wird. Sie zielen damit auf die Einzelsteuerung der Märkte durch die Marktteilnehmer ab und setzen eine Ordnung im Sinne der Marktwirtschaft voraus; 84 denn wenn sich die Grundfreiheiten gegen mitgliedstaatliche Regulierungen durchsetzen, ohne dass dafür eine Ersatzregelung gefunden werden muss, dann ist das nur möglich und verantwortbar, weil der geordnete Wettbewerb für die notwendige Anpassung an die veränderten Verhältnisse sorgt. 85 Auch die nach Art. 6 Abs. 1 Hs. 2 EUV im Rang des Primärrechts stehende EU-GRCharta enthält spezifische Freiheitsgrundrechte, die für eine soziale Marktwirtschaft im vorgenannten Sinne konstituierend sind.86 Zu nennen sind die Berufsfreiheit des Art. 15 EU-GRCharta sowie die Unternehmerfreiheit des Art. 16 EU-GRCharta, 87 welche ebenso wie die Art. 101 ff. AEUV und die Grundfreiheiten die Vertragsfreiheit als Grundinstitut marktwirtschaftlicher Ordnungen umfassen. 88 Geschützt wird als weiteres 17 EUzentrales Wirtschaftsgrundrecht auch die Eigentumsfreiheit (Art. GRCharta) als materielle Grundlage individueller Freiheit. 89 Zwar belässt Art. 345 AEUV die Eigentumsordnung grundsätzlich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Bei deren Ausgestaltung müssen die Mitgliedstaaten jedoch die Grundfreiheiten sowie die Vorschriften des Wettbewerbs- und Beihilfenrechts beachten.90 82 So aber Schwarze, EuR 2009 Beiheft 1, 9, 22; Peukert, ZHR 173 (2009), 536, 554; Wolf, Effizienzen, S. 150 f. 83 Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 430; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 20 f. m. w. N. 84 Busche, Kontrahierungszwang, S. 35; Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 430. 85 Immenga/Mestmäcker/dies., Einl. D. EU-Wettbewerbsrecht Rn. 36. 86 BerlKommEnR/Schmidt-Preuß, Bd. 1 Einl. B Rn. 124. 87 Diese wird in den Charta-Erläuterungen u. a. mit der Verpflichtung der Union auf freien Wettbewerb in Verbindung gebracht, vgl. ABl.EU 2007 Nr. C 303/23; Jarass, Art. 16 EUGRCharta Rn. 1. 88 Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 431; von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 801, 812 f.; MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 3. 89 Jarass, Art. 16 EU-GRCharta Rn. 2 und Art. 17 EU-GRCharta Rn. 2. 90 EuGH v. 18.2.1992 – Rs. C-235/89, Slg. 1992, 777 Rn. 14 – Kommission/Italien.
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Allerdings bleibt die Wirtschaftsverfassung der Union auch nach den jüngsten Änderungen durch den Vertrag von Lissabon lückenhaft, da wesentliche Bereiche des Privatrechts in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben.91 Aus diesem Grunde stützt sich die Union im Bereich des Privatrechts bis auf Weiteres ergänzend auch auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und die dort begründeten Vertragsschlusskompetenzen,92 welche Privatautonomie und Vertragsfreiheit bei allen Unterschieden im Detail anerkennen und schützen.93 Die Systementscheidung für eine offene, freie und soziale Marktwirtschaft wird damit zugleich durch die entsprechenden Funktionsgarantien in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten konkretisiert.94 Für das deutsche Recht werden wir uns dies noch vergegenwärtigen. Gleichzeitig setzt das Unionsrecht die Existenz des Privatrechts im Allgemeinen und des Vertragsrechts im Besonderen voraus und erkennt diese an.95 2. Sicherung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs Die Systemgarantie für eine freiheitliche Marktwirtschaft ergibt sich auch aus der normativen Verbürgung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs. Zwar ist dieses früher in Art. 3 Abs. 1 lit. g EG normierte Ziel seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages „nur noch“ im Protokoll Nr. 27 zum AEU-Vertrag über den Binnenmarkt und den Wettbewerb normiert.96 Dieses bildet jedoch gem. Art. 51 EUV einen normativ gleichrangigen Bestandteil der Unionsverträge.97 Bereits dadurch wird deutlich, dass der rechtliche Stellenwert des Wettbewerbsschutzes durch den Vertrag von Lissabon nicht gesunken ist.98 Gegen die fortbestehende Gültigkeit der Systemgarantie eines unverfälschten Wettbewerbs kann auch nicht eingewandt werden, dass sie im Protokoll Nr. 27 lediglich in einem Erwägungsgrund enthalten sei. Zum einen zieht der EuGH die Erwä91 Von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 8 01, 807; Frenz/Ehlenz, GewArch 2010, 329 ff. 92 BerlKommTKG/Nettesheim, 2. Aufl. 2009, Einl. III Rn. 14. 93 Bruns, JZ 2007, 385 ff.; von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 801, 843; Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 49, wonach die Wirtschaftsrechte der Mitgliedstaaten in der „prinzipiellen Anerkennung eines weiten Funktionsbereichs für die Pri vatautonomie“ übereinstimmten. 94 BerlKommTKG/Nettesheim, 2. Aufl. 2009, Einl. III Rn. 2. 95 Von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 8 01, 813. Zum sog. Draft Common Frame of Reference siehe Basedow, ZEuP 2008, 673 ff.; Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 529 ff.; Leible, NJW 2008, 2558 ff.; Pfeiffer, ZEuP 2008, 679 ff.; ders., AcP 208 (2008), 227 ff.; Riesenhuber/Karakostas/Riesenhuber, Inhaltskontrolle, 49 ff. 96 Zum Zustandekommen der Neuregelung vgl. von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 9 09 ff. 97 Basedow, EuZW 2008, 225; Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, § 7 I. 98 Rabe, NJW 2007, 3153, 3154; Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 975; Wolf, Effizienzen, S. 160.
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gungsgründe einer Norm zur Ermittlung ihres Zwecks heran.99 Zum anderen nimmt der Text des Protokolls Nr. 27 ausdrücklich auf die Erwägungsgründe Bezug, weshalb sie hierdurch gleichsam in den Norminhalt inkorporiert werden.100 Eine solche Sichtweise entspricht auch der Teleologie des Protokolls Nr. 27, das klarstellen soll, dass das Inkrafttreten des Lissabon-Reformvertrags an der Rechtslage zum Schutz des Wettbewerbs nichts geändert hat.101 Inhaltlich ist ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt, gleichbedeutend mit einer Zusammenschau der Art. 81 ff. EG, die im Ergebnis unverändert in die Art. 101 ff. AEUV übernommen worden sind.102 Es entspricht der Regelungstechnik des EU-Vertrages und des AEU-Vertrages, die ehemaligen „Aufgaben“ der Gemeinschaft nunmehr direkt bei den Kompetenzbestimmungen zu nennen, wie dies mit der ausschließlichen Kompetenz der Union für die Wettbewerbsregeln gem. Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV erfolgt ist.103 Entgegen den insoweit missverständlichen, in Zusammenhang mit den sozialen Kompetenzen der Mitgliedstaaten gemachten Ausführungen des BVerfG im Lissabon-Urteil104 gehört das Wettbewerbsprinzip somit trotz seiner Auslagerung in das Protokoll Nr. 27 zum AEU-Vertrag weiterhin zu den richtungweisenden Querschnittsmaterien der Union.105 Demgemäß hat der EuGH in einem Urteil vom 17.2.2011 klargestellt, dass dem Protokoll Nr. 27 dieselbe rechtliche Wirkung wie dem früheren Art. 3 lit. g. EG zukommt.106 Er hat damit zugleich die missverständlichen Ausführungen des BVerfG im Lissabon-Urteil konkretisiert. Die große Bedeutung der Garantie eines unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt lässt sich an der grundlegenden Entscheidung „Continental Can“ verdeutlichen, in der der EuGH auch einen Eingriff in die Struktur des Marktes als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des Art. 86 EGV (Art. 102 AEUV) angesehen hat.107 Zur Begründung führte der Gerichtshof aus, dass es sich bei der Verbürgung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs nicht nur um einen bloßen Programmsatz handle. Die entsprechende Garantie gebe vielmehr ein rechtlich verbindliches Ziel vor, das unerlässlich für die Erfül99
Buck, Auslegungsmethoden, S. 147 f.; Mohr, Schutz vor Diskriminierungen, S. 95. Wolf, Effizienzen, S. 160; Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, § 7 I. 101 Von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 9 05, 910. 102 Terhechte, EUR 2008, 143, 176. 103 Terhechte, EUR 2008, 143, 176. 104 BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09, BVerfGE 123, 267 Rn. 396 – Lissabon. 105 Mestmäcker, EuR 2010 Beiheft 1, 36, 43. 106 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, EuZW 2011, 339 Rn. 20 – TeliaSonera; dazu Emmerich, JuS 2012, 177. 107 EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72, Slg. 1973, 215 – Continental Can. Vorliegend interessieren uns nur die wirtschaftsverfassungsrechtlichen Aspekte der Entscheidung; zur Bewertung aus heutiger Sicht – die Union hat mittlerweile eine eigene Fusionskontrolle – siehe Mestmäcker/Schweitzer, § 15 Rn. 29 f. 100
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lung der Aufgaben der (früheren) Gemeinschaft sei.108 Aus diesem Grunde beziehe sich die wettbewerbsrechtliche Vorschrift gegen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auch auf Verhaltensweisen, die den Verbrauchern „durch einen Eingriff in die Struktur des tatsächlichen Wettbewerbs, von dem Art. 3 lit. f des Vertrages [Art. 3 Abs. 1 lit. g EG] handelt, Schaden zufügen“.109 Das sei der Fall, „wenn ein Unternehmen in beherrschender Stellung diese dergestalt verstärkt, dass der erreichte Beherrschungsgrad den Wettbewerb wesentlich behindert, dass also nur noch Unternehmen auf dem Markt bleiben, die in ihrem Marktverhalten von dem beherrschenden Unternehmen abhängen“.110 An diesen Ausführungen wird deutlich, dass die Vorschriften des EU-Wettbewerbsrechts der Verwirklichung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt dienen; denn geschützt werden die Voraussetzungen des Wettbewerbsprozesses und nicht nur gute, ökonomisch-effiziente Ergebnisse. Es sei nochmals betont, dass der Schutz des Wettbewerbs kein Selbstzweck ist. Er dient vielmehr den allgemeinen (Gemeinwohl-)Aufgaben der Union, im wirtschaftlichen Bereich also insbesondere der Mehrung der materiellen Wohlfahrt der Unionsbürger. Der EuGH geht deshalb von der prinzipiellen Gleichrangigkeit aller Zielvorgaben aus, weshalb die Schutzgüter in der konkreten Situation miteinander abzuwägen seien.111 Allerdings finden „Wettbewerbsbeschränkungen, die der Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen deshalb zulässt, weil die verschiedenen Vertragsziele miteinander in Einklang gebracht werden müssen, in den Erfordernissen der Artikel 2 und 3 [EG] eine Grenze, bei deren Überschreiten die Gefahr besteht, dass eine Abschwächung des Wettbewerbs den Zielsetzungen des Gemeinsamen Marktes zuwiderläuft“.112 Diese überzeugenden Aussagen – die sich sinngemäß auch in Art. 101 Abs. 3 Hs. 2 lit. b AEUV wiederfinden – können auf Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 AEUV i. V. mit dem Protokoll Nr. 27 zum AEU-Vertrag über den Binnenmarkt und den Wettbewerb übertragen werden. 3. Garantie einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb Neben dem Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft ist die Europäische Union auf eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet. Dieser Grundsatz ist seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages allerdings nicht mehr 108
EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72, Slg. 1973, 215, 245 Rn. 23 – Continental Can. EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72, Slg. 1973, 215, 246 Rn. 26 – Continental Can. 110 EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72, Slg. 1973, 215, 246 Rn. 26 – Continental Can. 111 Siehe etwa EuGH v. 17.10.1995 – C 44/94, Slg. 1995, I-3115 Rn. 37; vgl. auch Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 559; von der Groeben/Schwarze/Zuleeg, Art. 2 Rn. 12; krit. gegenüber einer „konturenlosen Abwägung“ auch Müller-Graff, ZHR 173 (2009), 443, 453. 112 EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72, Slg. 1973, 215, 246 Rn. 24 – Continental Can. 109
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wie mit Art. 4 Abs. 1 EG in den allgemeinen Vertragszielen, sondern in den Art. 119 Abs. 1 und Abs. 2, 120 und 127 Abs. 1 Satz 3 AEUV normiert. Er stellt jedoch weiterhin einen zentralen Grundsatz des Unionsrechts dar, der ebenso wie derjenige des „unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt“ gem. dem Protokoll Nr. 27 zur Auslegung anderer Bestimmungen des AEU-Vertrages herangezogen werden kann.113 Die Festlegung auf eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb be inhaltet eine inhaltliche Systementscheidung für die Funktionsbedingungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung und somit auch ein strukturelles Verbot des Systemwechsels hin zu gegenläufigen Wirtschaftsordnungen wie einer Zentralverwaltungswirtschaft.114 Der Bedeutungsgehalt dieser Systementscheidung wurde durch die Änderung der systematischen Stellung der Norm nicht vermindert. Insbesondere ist Art. 119 Abs. 1 AEUV nicht lediglich als Auslegungsgrundsatz für die nachfolgenden Regelungen über die Wirtschafts- und Währungsunion anzusehen. Denn die Art. 120 bis 126 AEUV sind primär darauf ausgerichtet, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten aufeinander abzustimmen. Eine derartige Abstimmung setzt jedoch voraus, dass auch die Union die Systemgarantie einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb beachtet.115 Indem Art. 119 Abs. 1 AEUV auf die Funktionsbedingungen einer wettbewerbsgesteuerten Marktwirtschaft verweist, sichert er somit zugleich deren grundlegende Funktionsbedingungen.116 Die Beibehaltung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb kann deshalb dahingehend verstanden werden, dass er die Bedeutung von Wettbewerb und freien Märkten innerhalb des neuen – umfassenden – Leitbildes einer sozialen Marktwirtschaft hervorheben soll, welche diese Elemente als Zielstellung für den ökonomischen Bereich umfasst und deren zentrale Bedeutung betont.117 4. Politische Stärkung sozialer Zwecke durch den Vertrag von Lissabon Die systematischen Änderungen der europäischen Zielbestimmungen durch den Vertrag von Lissabon haben somit keine programmatische Bedeutung. Die Europäische Union beruht vielmehr weiterhin auf einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung, wie sich aus dem Ziel einer sozialen Marktwirtschaft gem. Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV in Verbindung mit der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt (Protokoll Nr. 27 i. V. mit Art. 51 113
EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-9/99, Slg. 2000, I-8207 Rn. 25 – Échirolles Distribution. Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 801, 810. 115 Von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 9 05, 917. 116 Von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 8 01, 810; a. A. von Bogdandy/Bast/Drexl, a. a. O., S. 9 05, 918, wonach der Terminus des freien Wettbewerbs zu unbestimmt sei, um hieraus konkrete Folgerungen abzuleiten, insbesondere im Hinblick auf die Ökonomisierung des Wettbewerbsrechts. 117 So Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 974. 114 Von
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AEUV), der Systemgarantie einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 119 AEUV), den der Herstellung eines Binnenmarkts verpflichteten Grundfreiheiten (Art. 28 ff. AEUV), den von Art. 6 Abs. 1 EUV i. V. mit der Grundrechtecharta verbürgten Freiheitsrechten sowie den Regelungen des Wettbewerbs- und Beihilfenrechts (Art. 101 ff. AEUV) ergibt.118 Die Verschiebung der Gewichte durch den Vertrag von Lissabon „hin zum Sozialen“ ist hiernach „vor allem eine rhetorische“, welche jedoch – wie das Scheitern des Vertrages von Nizza zeigt – zunächst „das ihr beigemessene Potenzial, die Wahlbürgerschaft der Mitgliedstaaten für den Europagedanken zu begeistern, weder in Frankreich noch in den Niederlanden (und letztlich auch nicht in Irland) entfalten konnte“.119 Auch im Zuge der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt sich, dass der Sozialstaat nur im Rahmen wirtschaftlich prosperierender Volkswirtschaften seine volle Wirkung entfalten kann. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass durch den Vertrag von Lissabon diejenigen Ziele und damit der Wettbewerbsgedanke „an sich“ an politischem (wenn auch nicht an juristischem) Gewicht verloren haben, die eine selbstständige Regulierung der gesellschaftlichen Prozesse unter Bedingungen von material-chancengleicher Handlungsfreiheit und Wettbewerb ermöglichen wollen.120 Gerade der Schutz des freien und unverfälschten Wettbewerbs ist aber – jenseits der im Primärrecht enthaltenen Regelungen – auf einen entsprechenden politischen Willen angewiesen.121 Die an ökonomischen Effizienzerwägungen ausgerichteten Rechtsakte und Leitlinien der Kommission zum europäischen Wettbewerbsrecht können deshalb als Zeichen einer gewissen Akzentverschiebung gedeutet werden.122
D. Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands Die Ausrichtung der Europäischen Union auf eine soziale Marktwirtschaft hat auch grundlegende Bedeutung für die Wirtschaftsverfassungen der EU-Mitgliedstaaten, wie wir uns für die deutsche Wirtschaftsverfassung vor Augen führen wollen.
118 BerlKommTKG/Nettesheim, 2. Aufl. 2009, Einl. III Rn. 37; vgl. auch schon Ehlers, Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, S. 400 ff. 119 Ruffert, AöR 134 (2009), 197, 202; siehe auch Rabe, NJW 2007, 3153; Wolf, Effizienzen, S. 158. 120 So überzeugend Basedow, EuZW 2008, 225; Peukert, ZHR 173 (2009), 536, 568; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 36; Pernice/Hindelang, EuZW 2010, 407, 411. 121 Peukert, ZHR 173 (2009), 536, 571. 122 Siehe Teil 9 B.
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I. Relative wirtschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes Das Grundgesetz verzichtet anders als die Weimarer Reichsverfassung (Art. 151 ff. WRV) sowie Art. 3 Abs. 3 EUV auf eine programmatische Beschreibung des Wirtschaftslebens.123 Es enthält an deren Stelle vielmehr unmittelbar verbindliche und für den Einzelnen einklagbare Grundrechte, deren Zusammenspiel dem Gesetzgeber die Möglichkeiten und Grenzen einer Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung vorgeben.124 So gewährleistet Art. 12 Abs. 1 GG die Berufs- und Gewerbefreiheit, die auch das Verhalten der Unternehmen als Anbieter und Nachfrager auf Märkten als Form der Berufsausübung erfasst.125 Art. 14 Abs. 1 GG garantiert als materielle Grundlage individueller Freiheiten das Privateigentum inklusive der Möglichkeit seiner ökonomischen Nutzung als individuelles Grundrecht sowie als Institut der rechtlich geformten Sozialordnung.126 Art. 9 Abs. 1 GG spricht allen Deutschen das Recht der Gründung von Handelsgesellschaften sozietärer und korporativer Art zu, ebenso wie das Recht der Betätigung in solchen Vereinigungen.127 Art. 9 Abs. 3 GG enthält das Freiheitsrecht, Koalitionen zu gründen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben und über die Koalitionen die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in einer Ordnung der sozialen Selbstverwaltung privatautonom festzulegen. Die Pri vatautonomie als das auf dem menschlichen Selbstverwirklichungsbedürfnis aufbauende Prinzip der eigenverantwortlichen Gestaltung der privaten Lebensverhältnisse in den Grenzen der Rechtsordnung ist, sofern keine speziellen Freiheitsrechte berührt sind,128 im Hauptfreiheitsrecht der allgemeinen Handlungs freiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt.129 Die Folgerungen, die aus der vorstehenden Gesamtschau der vom Grundgesetz für die wirtschaftliche Betätigung der Bürger gewährten Freiheitsrechte zu ziehen sind, sind seit jeher umstritten.130 In der Frühzeit der Bundesrepublik wurde insbesondere von Hans Carl Nipperdey die Auffassung vertreten, das Grundgesetz enthalte eine institutionelle Garantie der sozialen Marktwirtschaft.131 Demgegenüber ging das BVerfG und mit ihm die herrschende Litera-
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Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, 969, 981. Busche, Kontrahierungszwang, S. 53 ff.; Paulus/Zenker, JuS 2001, 1; Schmitt-Glaeser, DÖV 1982, 381, 383; Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093. 125 BVerfG v. 8.2.1972 – 1 BvR 170/71, BVerfGE 32, 311, 317 – Grabsteinwerbung; Maunz/ Dürig/Di Fabio, Art. 2 GG Rn. 116. 126 Maunz/Dürig/Papier, Art. 14 GG Rn. 30 und 32. 127 Zu Art. 9 GG siehe HdbVerfR/Papier, § 18 Rn. 14. 128 Siehe zu Art. 12 Abs. 1 GG Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 253. 129 Paulus/Zenker, JuS 2001, 1; Schmitt-Glaeser, DÖV 1982, 381, 383. 130 Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1094 ff. 131 Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 3. Aufl. 1965 (erstmals 1954), S. 24 ff.; vgl. auch Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950, S. 51; HStR/R. Schmidt, § 83 Rn. 12 ff. 124
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tur von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes aus.132 So hat das BVerfG im Mitbestimmungsurteil davon gesprochen, dass die Grundrechte nicht im Sinne eines „institutionellen Zusammenhangs der Wirtschaftsverfassung“ oder eines entsprechend überhöhenden „Ordnungs- und Schutzzusammenhangs“ verstanden werden dürften.133 Hieraus folgt jedoch nicht, dass sich Regierung und Gesetzgeber in jedem Fall wirtschaftspolitisch neutral verhalten müssten. Auch ist das Grundgesetz gegenüber der Wirtschaftspolitik des Staates nicht gleichgültig. Die Grundrechte bringen vielmehr sowohl aus subjektivals auch aus objektiv-rechtlicher Sicht funktionstypische Wirkungen hervor, in denen sich die jeweiligen Freiheiten aktualisieren und die damit auch den Inhalt der Grundrechte selbst über den einzelnen Grundrechtsträger und seine aktuelle Grundrechtsausübung hinaus objektiv prägen.134 Demgemäß sind die Grundrechte zwar in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, weshalb sie im Verhältnis Privater nicht unmittelbar anzuwenden sind.135 Sie binden jedoch nach Art. 1 Abs. 3 GG Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung.136 Demgemäß obliegt es dem Gesetzgeber, im Privatrecht die grundrechtlich geschützten Positionen der Bürger – unter Beachtung des Primats individueller Selbstbestimmung – in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.137 Zusätzlich strahlen die Grundrechte als Elemente objektiver Ordnung auf das Gemeinwesen und damit auch auf das Privatrecht aus.138 Wenn sich das Grundgesetz auch auf kein bestimmtes Wirtschaftssystem festlegt, so lässt sich aus seinen einzelnen Artikeln und deren Sinnzusammenhang doch eine Grundkonzeption ableiten, wonach das Ordnungsgefüge einer Marktwirtschaft, die durch das wirtschaftliche Handeln von staatsfreien Privatrechtssubjekten konstituiert wird, jedenfalls indirekt zu Gunsten der Marktteilnehmer gesichert ist.139 Die Offenheit der grundgesetzlichen Wirtschaftsordnung ist also gleichsam eine relative.140 In den Grundrechten kommt die Grundentscheidung der Verfassung für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung zum Ausdruck. In ihrer freiheitlichen Ausrichtung organisieren die Grundrechte die autonomen Handlungssysteme der Gesellschaft und der Wirtschaft und begründen damit funktionelle Gewährleistungen für die privatwirtschaft132 BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7, 17 – Investitionshilfe; BVerfG v. 11.6.1958 – 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377, 400 – Apotheken; vgl. aus dem Schrifttum Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz, S. 91 ff. 133 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77 u. a., BVerfGE 50, 290, 336 f. – Mitbestimmung. 134 Maunz/Dürig/Scholz, Art. 12 GG Rn. 85. 135 BVerfG v. 15.1.1958 – 1 BVR 400/51, BVerfGE 7, 198, 204 ff. – Lüth. 136 Canaris, AcP 184 (1984), 201, 212 ff.; Hager, JZ 1994, 373, 374 f.; Looschelders/W. Roth, JZ 1995, 1034, 1037 f. 137 Canaris, JuS 1989, 161 ff. 138 BVerfG v. 15.1.1958 – 1 BVR 400/51, BVerfGE 7, 198, 204 ff. – Lüth. 139 Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236, 247; Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1096. 140 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77 u. a., BVerfGE 50, 290, 338 – Mitbestimmung; Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 220.
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Teil 2: Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands und der Europäischen Union
lichen Initiativen und Prozesse.141 Das Grundgesetz verbietet danach Extremformen von Wirtschaftsordnungen wie eine Zentralverwaltungswirtschaft.142 Zum anderen wird der Gesetzgeber durch die über Art. 2 Abs. 1 GG und spezielle Freiheitsgrundrechte verbürgte Privatautonomie verpflichtet, den Rechtssubjekten ein funktionsfähiges Instrumentarium zur vertraglichen Selbstbestimmung zur Verfügung zu stellen. Eine rein formal verstandene Privatautonomie würde diesem Auftrag nicht gerecht.143 Außerhalb dieser Bereiche geht es regelmäßig um eine Frage von Grad und Rang zwischen dezentraler und zentraler Wirtschaftsplanung, die der Abwägung des einfachen Gesetzgebers obliegt.144 Dabei ist der Gesichtspunkt „Wirtschaftsverfassung“ kein eigenständiger Prüfungspunkt; die rechtliche Diskussion über die zutreffende Wirtschaftsverfassung hat vielmehr im Rahmen der Prüfung der einzelnen Wirtschaftsgrundrechte zu erfolgen.145 Das BVerfG hat mit der These von der wirtschaftspolitischen Neutralität vor allem der besonderen Dynamik, Relativität und Situationsbefangenheit der wirtschaftlichen Prozesse und wirtschaftspolitischen Aufgaben Rechnung getragen.146 Eine solche Sichtweise hat für die Rechtsgestaltung und Rechtsanwendung mehrere Vorteile: 147 So ist der Staat hiernach nicht auf ein bestimmtes Ordnungsmodell bzw. eine bestimmte ökonomische Theorie verpflichtet. Die ordnungspolitische bzw. ökonomische Bewertung von Sachverhalten wird vielmehr auf das einfache Recht verwiesen, wodurch die notwendige Flexibilität bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik erhalten bleibt. Gleichzeitig bleiben die einfachgesetzlichen Normen durch ihre Anbindung an die verfassungsmäßige Grundordnung wertgebunden. Die Ökonomie setzt sich hierdurch nicht ihre eigenen Ziele, sondern hilft lediglich mit, die vorgegebenen Verfassungsziele im Bereich der Wirtschaft zu verwirklichen.148 Wirtschaftsgesetze wie das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, aber auch das allgemeine Bürgerliche Recht können der dem parlamentarischen Gesetzgeber jeweils als sachgemäß erscheinenden Wirtschaftspolitik dienen, sofern sie sich in den durch das Grundgesetz vorgegebenen Schranken halten.149 Der Gesetzgeber hat dabei einen weiten Gestaltungsspielraum sowohl bei den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik als auch bei der Wahl der Mittel, mit denen in den Ablauf des wirtschaft141 Maunz/Dürig/Scholz,
Art. 12 GG Rn. 85. Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1095. 143 MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 3 ; Frotscher, Wirtschaftsverfassungsund Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1994, Rn. 26; Hensel, ORDO 14 (1963), 43, 52. 144 Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1096. 145 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 2 21. 146 Maunz/Dürig/Scholz, Art. 12 GG Rn. 85. 147 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 2 25; Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1095. 148 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 2 25. 149 Säcker, in: FS Adomeit, 2008, S. 661 ff.; Köhler/Bornkamm/Köhler, Einl. Rn. 1.43. 142
D. Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands
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lichen Geschehens eingegriffen wird.150 Die Wirtschaft kann im Rahmen der verfassungsrechtlichen Schranken also auch mit nicht marktkonformen Mitteln gesteuert werden.151 Hans-Jürgen Papier hat dies prägnant in die Worte gefasst: „Wirtschaftspolitische Unvernunft ist – allgemein gesprochen – noch kein Verfassungsbruch!“152 Neben das Individualprinzip, welches sich in den Freiheitsrechten des Einzelnen Bahn bricht, tritt auf Verfassungsebene bekanntermaßen ein Sozialprinzip, das die Gemeinschaftsgebundenheit jedes Individualrechts in einem demokratischen und sozialen Bundesstaat zum Ausdruck bringt (vgl. Art 20 Abs. 1, 28 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG).153 Anders als die Freiheitsgrundrechte zeichnet sich dieses Sozialprinzip allerdings durch eine relative inhaltliche Unbestimmtheit und Offenheit aus.154 Es ist allgemein gerichtet auf eine gerechte Sozialordnung, auf soziale Sicherheit, auf die Herstellung menschenwürdiger und erträglicher Lebensbedingungen für alle, auf einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und eine gerechte Verteilung der Lasten,155 also auf abstrakte Ziele, deren Verwirklichung in erster Linie Aufgabe des „einfachen“ Gesetzgebers ist, weshalb so zialstaatliche Regelungen fortentwickelt, geändert, angepasst oder auch zurückgenommen werden können, ohne dass dies im Gegensatz zur Verfassung stünde.156 Auch enthält das Grundgesetz keine sozialen Wirtschaftsgrundrechte in Form einklagbarer Ansprüche auf staatliche Leistungen.157 Für den Bereich des Wirtschaftsrechts bedeutet das Sozialstaatsprinzip deshalb vor allem, dass sich der Staat nicht nur auf den bloßen Schutz und die Abwehr von Gefahren beschränken kann, sondern darüber hinaus eine gewisse soziale Verantwortung trägt.158 Hierbei kommt ihm ein weiter Spielraum zu.159
II. Soziale Marktwirtschaft Angesichts der Verknüpfungen der deutschen mit der europäischen Wirtschaftsverfassung ist die vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung vertretene These von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes kritisch zu hinterfragen. In der Europäischen Union ist die Wirtschaftspolitik zwar über150 BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7, 17 – Investitionshilfe; BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77 u. a., BVerfGE 50, 290, 336 f. – Mitbestimmung. 151 BVerfG v. 27.1.1965 – 1 BvR 213/58, 715/58 u. 66/60, BVerfGE 18, 315 – Milch- und Fettgesetz. 152 Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1095. 153 Säcker, in: FS Adomeit, 2008, S. 661, 664 ff. Siehe zur Sozialgebundenheit des Menschen schon Teil 1 A. I. 154 Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1096. 155 Papier, Zukunft des Sozialstaats, S. 241; siehe auch HdbVerfR/Benda, § 17 Rn. 84. 156 Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1096. 157 Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1097. 158 Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 4 Rn. 17. 159 Papier, in: FS Säcker, 2011, S. 1093, 1097.
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wiegend Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Diese unterliegen bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik jedoch erheblichen unionsrechtlichen Einflüssen.160 So sind die Union und die Mitgliedstaaten nach dem oben behandelten Art. 119 Abs. 1 AEUV auf die Grundsätze einer offenen Marktwirtschaft verpflichtet.161 Nach Art. 120 AEUV richten die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik so aus, dass sie zur Verwirklichung der Ziele des Art. 3 EUV beitragen, also auch einer sozialen Marktwirtschaft im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV.162 Außerdem prägen die mit einem Anwendungsvorrang ausgestatteten Normen des Unions-Wirtschaftsrechts in weiten Bereichen die Interpretation des nationalen Wirtschaftsrechts. Die Mitgliedstaaten müssen nach Art. 4 Abs. 3 EUV i. V. mit der Effet-utile-Doktrin alles tun, um die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Hierzu ist die Union bei ihren Aufgaben aktiv zu unterstützen. Weiterhin sind alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Ziele der Union gefährden können. In beiderlei Hinsicht wäre es sinnwidrig, wenn eine Fundamentalnorm wie Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV die soziale Marktwirtschaft nur für die Union, nicht jedoch für die Mitgliedstaaten verbindlich machen würde; vielmehr muss das Loyalitätsprinzip des Art. 4 Abs. 3 EUV gerade bei ordnungspolitischen Grundsatzentscheidungen greifen.163 Es liegt deshalb nahe, die Unionswirtschaftsverfassung als einen integralen Bestandteil der deutschen Wirtschaftsverfassung anzusehen.164 Das Leitbild der rechtlichen – nicht der programmatisch-idealtypischen – Wirtschaftsverfassung Deutschlands wurde im Vertrag über die Währungsund Wirtschaftseinheit Deutschlands im Jahr 1990 als „soziale Marktwirtschaft“ charakterisiert.165 Dies entspricht nach Begrifflichkeit und Teleologie der rechtlichen Vertragszielbestimmung des Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV.166 Durch die Verpflichtung der Wirtschaftsordnung auf eine soziale Marktwirtschaft wird der notwendig weite Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers nicht in Frage gestellt. Die Ausrichtung der Wirtschaftsverfassung auf eine soziale Marktwirtschaft verdeutlicht jedoch das Bedürfnis, die Interpretation marktrelevanter Rechtsvorschriften innerhalb der durch die Rechtsordnung gezogenen Grenzen für die Erkenntnisse der Ökonomie zu öffnen.167 Grenzen 160
Ruffert, AöR 134 (2009), 197, 201. Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 2 Rn. 4 4, m. w. N. 162 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 982. 163 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 982. 164 Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 53 ff.; Müller-Graff, EuR 1997, 433; Mestmäcker, in: FS Willgerodt, 1994, S. 263; a. A. Jungbluth, EuR 2010, 471, 473 ff., insb. 489. 165 BGBl. II, 537; dazu Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236; Säcker, in: FS Adomeit, 2008, S. 661, 665; Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 2 Rn. 48. 166 Schmidt-Preuß, in: FS Säcker, 2011, S. 969, 983, der dies als späten Triumph Nipperdeys bezeichnet. 167 Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 28 f. 161
E. Schutz der Selbstbestimmung im Verfassungsrecht
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der Ökonomisierung ergeben sich u. a. aus der Schutzpflicht des Staates („Garantiefunktion“168 , speziell bei Gütern der Daseinsvorsorge auch „Gewähr leistungsverantwortung“ genannt) für die materiale Vertragsfreiheit der Bürger, die einer Zurückdrängung individueller Freiheitspositionen entgegensteht,169 wie sie etwa einem allein an ökonomischen Effizienzerwägungen ausgerichteten Wettbewerbsrecht inhärent wäre. Gleichwohl kann eine kritische Reflexion der Rechtsordnung zu einer „Verfeinerung der Privatrechtstheorie“ durch größere Rationalität bei der Entscheidungsfindung und Offenlegung der zugrunde gelegten Wertungen beitragen.170 In dieser Funktion sind die Erkenntnisse der Ökonomie für die rechtliche Gestaltung einer freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ordnung unverzichtbar.
E. Schutz der Selbstbestimmung im deutschen und im europäischen Verfassungsrecht I. Das Grundgesetz Die deutsche Privatrechtsordnung beruht auf der Privatautonomie als dem Prinzip der eigenverantwortlichen Gestaltung privater Lebensverhältnisse.171 Die Privatautonomie rezipiert damit das vorrechtliche, dem Wesen des Menschen eigene Bedürfnis zur Selbstverwirklichung,172 das von dem Grundgedanken getragen ist, dass die Parteien in einem rechtsgeschäftlich begründeten Rechtsverhältnis selbst einen angemessenen Ausgleich ihrer Interessen im Sinne der aristotelischen „iustitia commutativa“ erzielen.173 Dieses Bedürfnis ist verfassungsrechtlich durch die Menschenwürdegarantie sowie durch die allgemeine Handlungsfreiheit und die Berufs- und Gewerbefreiheit gewährleistet (sog. normativer Individualismus).174 Daneben greifen für einzelne Wirtschaftsbereiche spezifische Grundrechtsverbürgungen wie etwa das Grundrecht der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG für das Arbeitsrecht175 oder die Wissenschaftsfreiheit als spezialisierte Freiheit zur Förderung von Innovationen (Art. 5 Abs. 3 GG).176 Art. 12 Abs. 1 GG schützt auch die individuelle wirtschaftliche 168
Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 14 Rn. 80. Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 29 mit Fn. 21. 170 So Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 29. 171 Leenen, BGB-AT, § 1 Rn. 1; Boecken, BGB-AT, Rn. 30. 172 BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, S. 36, 38 – Bürgschaft; Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 26. 173 MünchKommBGB/Roth/Schubert, § 242 BGB Rn. 462. 174 Von der Pfordten, JZ 2005, 1069, 1072 ff.; siehe zum deutschen Recht Sodan/ders., Art. 2 Rn. 3 und Art. 12 Rn. 14; zum Unionsrecht Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 16 EU-GRCharta Rn. 2 ; Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 250 ff. 175 Boemke/Gründel, ZfA 2001, 241 ff. 176 Eifert/Hoffmann-Riem/Eifert, S. 11, 12. 169
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Betätigungsfreiheit (Wettbewerbsfreiheit).177 Von der Möglichkeit der Selbst gestaltung der eigenen Rechtsverhältnisse durch Verträge machen die meisten Menschen Gebrauch, um ihre individuellen Bedürfnisse zu befriedigen und damit im Ergebnis ihren „Wohlstand“ zu mehren. Die Ergebnisse dieser rechtsgeschäftlichen Tätigkeiten fallen wiederum unter den Schutz der Garantie von Eigentum und Erbrecht im Sinne des Art. 14 GG.178 Dabei umfasst die Eigentumsgarantie auch alle schuldrechtlich oder gesellschaftsrechtlich vermittelten Rechte.179 Die Privatautonomie spiegelt somit die verfassungsrechtliche Wertentscheidung für das Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung im geistig-sittlichen und wirtschaftlichen Bereich wider.180 Aus der Abwehrdimension des Art. 2 Abs. 1 GG folgt, dass es dem Staat untersagt ist, unverhältnismäßig in die Privatautonomie einzugreifen.181 Wegen der grundlegenden Bedeutung von Privatautonomie und Vertragsfreiheit bedürfen ethisch, sozialpolitisch oder wohlfahrtsökonomisch motivierte („institutionelle“) Einschränkungen der Privatautonomie, die der parlamentarische Gesetzgeber in Ausübung seines weiten Regelungsspielraums statuiert, vielmehr einer sachbezogenen Begründung.182 Daneben enthält Art. 2 Abs. 1 GG einen Schutzauftrag, wonach der Staat die tatsächlichen Voraussetzungen zu schaffen hat, um den Bürgern die Ausübung ihrer individuellen Freiheit im Sinne einer Gleichheit der Chancen (nicht gleicher Ergebnisse!) zu ermöglichen.183 Das noch vertragstheoretisch zu begründende Konzept einer „Materialisierung“ der Vertragsfreiheit findet in einem derart interpretierten Schutzauftrag eine verfassungsrechtliche Stütze, ohne dass das Privatrecht damit dem öffentlichen Recht zuzuordnen wäre. Im Schrifttum werden in der Rechtsprechung des BVerfG allerdings Tendenzen beobachtet, die grundgesetzlichen Freiheitsrechte „gewährleistungsstaatlich“ umzuwerten, weg von der klassischen Abwehrfunktion und der damit einhergehenden weiten Tatbestandstheorie hin zu ei-
177 BVerfG v. 8.2.1972 – 1 BvR 170/71, BVerfGE 32, 311 Rn. 12 – Steinmetz-Wettbewerb; BVerfG v. 12.10.1977 – 1 BvR 216/75, BVerfGE 46, 120 Rn. 45 – Fernmeldemonopol; BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91, BVerfGE 105, 252 Rn. 42 f. – Glykolwarnung; BVerfG v. 17.12. 2002 – BvL 28/95, BVerfGE 106, 275 Rn. 103 f.; BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 Rn. 78 – Berliner Tariftreuegesetz; dazu Mohr, VergabeR 2009, 543 ff. 178 Leenen, BGB-AT, § 1 Rn. 14. 179 BVerfG v. 8.6.1977 – 2 BvR 499/74, 1042/75, NJW 1977, 2024; Grundmann, in: FS Hopt, 2010, S. 61, 64 f. 180 Busche, Kontrahierungszwang, S. 2 2 ff. 181 Canaris, in: FS Lerche, 1993, S. 873, 879 f. 182 Canaris, in: FS Lerche, 1993, S. 873, 879 f.; Weller, Die Vertragstreue, S. 176; Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, S. 19; siehe für das Regulierungsrecht auch Gärditz, AöR 135 (2010), 251, 255 f. Ausführlich Hopt/Tzouganatos/Dauner-Lieb, Europäisierung, S. 279 ff., insb. 286 ff. 183 BVerfG v. 7.2.1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, S. 1469, 1470.
E. Schutz der Selbstbestimmung im Verfassungsrecht
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nem (sozial-)staatsfreundlicheren engen Schutzkonzept.184 In einigen Entscheidungen rekurrierte das Gericht hierzu auch auf das in den Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG geregelte Sozialstaatsprinzip. Das gilt namentlich für den Handelsvertreter-Beschluss aus dem Jahr 1990,185 die Bürgschaftsentscheidung aus dem Jahr 1993186 sowie die Urteile zur Unwirksamkeit eines Unterhaltsverzichts in Eheverträgen.187 Diese Entscheidungen werden als „Höhepunkte des Materialisierungsprozesses“ eingestuft, da sie den Schutz der Selbstbestimmung vor einseitiger Fremdbestimmung durch den überlegenen Vertragspartner nicht nur mit dem Schutz der Vertragsfreiheit (im Sinne gleicher Chancen, die eigenen Präferenzen in den vertraglichen Aushandlungsprozess einzubringen), sondern auch mit dem Sozialstaatsprinzip und damit mit materialen Gerechtigkeitserwägungen begründeten.188 Demgegenüber hat das BVerfG das Sozialstaatsprinzip beispielsweise in seiner Entscheidung zur AGB-Inhaltskontrolle von Preisanpassungsklauseln in Erdgas-Sonderkundenverträgen aus dem Jahr 2010 nicht gesondert erwähnt.189 Es ist deshalb nicht eindeutig, ob der Rechtsprechung tatsächlich ein Richtungswechsel zu entnehmen ist. Die Vertragsfreiheit wirkt neben ihrer Ausgestaltung als gegen den Staat gerichtetes Abwehrrecht auch als sog. Institutsgarantie,190 wonach die Vertragsfreiheit weder vollkommen abgeschafft werden kann noch vollkommen schrankenlos gewährleistet wird.191 Welchen Inhalt dieses Institut hat, zeigt sich freilich erst mit Blick auf die theoretischen Konzepte, die der Verfassung zugrunde liegen bzw. ihr entnommen werden. Zwischen den beiden Angelpunkten „Abwehrrecht“ und „Institutsgarantie“ hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, um die Vertragsfreiheit zu konkretisieren und zu aktualisieren.192 Diese Entfaltungsmöglichkeit kommt in Art. 2 Abs. 1 GG durch den Vorbehalt der „verfassungsmäßigen Ordnung“ zum Ausdruck. Auch wenn dem Gesetzgeber zur Ausgestaltung der Ausübung von Privatautonomie ein breiter Handlungsspielraum einzuräumen ist, da die Interessen des Einzelnen an freier Willensverwirklichung mit den Interessen der anderen Verkehrsteilnehmer ebenso wie mit Erfordernissen der Reibungslosigkeit und Sicherheit des rechtsgeschäftlichen Verkehrs abzustimmen sind, bestehen aber Kernbereiche der Ermöglichung von Selbstbestimmung, die nicht angetastet werden dür-
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Höfling/Rixen, RdA 2007, 360, 364 und 366; im Erg. zust. Mohr, VergabeR 2009, 543 ff. BVerfG v. 7.2.1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470 – Handelsvertreter. 186 BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89 u. a., NJW 1994, S. 36 ff. 187 Beispielhaft BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89, 102. 188 Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt Universität, 2010, S. 981, 994. 189 BVerfG v. 7.9.2010 − 1 BvR 2160/09, 1 BvR 851/10, NJW 2011, 1339 Rn. 34. 190 Zum Institutsbegriff siehe Teil 1 B. I. 191 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 219 ff. 192 Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 19 ff.; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten, S. 157. 185
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fen.193 So ist der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Privatautonomie durch die Rechtsordnung an die objektiv-rechtlichen Vorgaben der Grundrechte gebunden. Er muss einerseits der Selbstbestimmung des Einzelnen einen an gemessenen Betätigungsspielraum belassen, andererseits jedoch die im Vertragsrecht notwendiger Weise kollidierenden Freiheitsbereiche der Marktbeteiligten im Rahmen praktischer Konkordanz zu einem Ausgleich bringen, so „dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden“.194 Im Privatrecht ist dies mit Gregor Bachmann vor allem als ein Schutz vor Ausbeutung zu verstehen.195 Die grundrechtlichen Freiheitsverbürgungen beinhalten im Ausgangspunkt auch die Befugnis zur Begründung und Aufrechterhaltung privater Machtpositionen, etwa durch die Schaffung und Nutzung von Innovationen.196 Dies trägt der Erkenntnis Rechnung, dass private wirtschaftliche Macht nicht per se schlecht ist, sondern einer staatlichen Regulierung bedarf, um ihre schädlichen Auswirkungen zu vermeiden und die positiven Effekte – soweit notwendig – zu fördern. Durch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit des 12 Abs. 1 GG und der Eigentumsfreiheit gem. 14 Abs. 1 GG werden mittelbar auch Markt und Wettbewerb geschützt, da diese Freiheitsgewährleistungen in Ermangelung eines Parameters für die Bewertung wirtschaftlicher Güter ohne wettbewerblich organisierte Märkte nicht zu verwirklichen wären.197 In einer Entscheidung aus dem Jahr 2011 hat das BVerfG mittelbar bekräftigt, dass das Grundgesetz als abgestuftes Gemeinwohlziel auch den „chancengleichen Wettbewerb“ schützt.198 Den Staat treffe deshalb eine entsprechende Schutzpflicht (Gewährleistungsverantwortung).199 Der Gesetzgeber muss die konstitutiven Vorbedingungen schaffen, damit den Marktbeteiligten eine Willenseinigung in beidseitiger Selbstbestimmung möglich ist, indem er den Individuen ein funktionsfähiges Instrumentarium zu ihrer vertraglichen Selbstbestimmung zur Verfügung stellt, welches ihnen zwar keine Garantie, aber die Möglichkeit zur Selbstbestimmung gibt.200 Hierzu zählen sowohl die Gewährleistung der Privatautonomie, als auch die Sicherstellung eines funktionsfähigen Wettbewerbs und einer funktionsfähige Vertragsrechtsordnung.201 Das Grundgesetz enthält somit nicht nur Freiheitsverbürgungen,
193
Leenen, BGB-AT, § 1 Rn. 13. BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89 u. a., NJW 1994, S. 36, 38. 195 Bachmann, Private Ordnung, S. 206. 196 Eifert/Hoffmann-Riem/Eifert, S. 11, 12 f. 197 Canaris, in: FS Lerche, 1993, S. 873, 877. 198 BVerfG v. 8.12.2011 – 1 BvR 1932/08, MMR 2012, 186, LS der Redaktion. 199 Maunz/Dürig/Di Fabio, Art. 2 GG Rn. 116. 200 MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 3. 201 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 234. 194
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sondern erfordert auch einen normativen Rahmen, um diese Freiheitsrechte tatsächlich ausüben zu können.202
II. Das Unionsrecht Mit Blick auf die Ausrichtung der Union auf eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft (Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV) und die Verbürgung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt (Protokoll Nr. 27 zum Lissabonner Vertrag) beruht das europäische Privatrecht ebenfalls auf den Prinzipien der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit als Ausprägungen der Idee individueller Selbstbestimmung.203 Demgegenüber haben die primärrechtlichen Verankerungen des Sozialstaatsgrundsatzes im Vertragsrecht bislang noch keine systemprägenden Auswirkungen gehabt. Das Unionsrecht ist vielmehr (noch) geprägt von einem kompetitiven, an „allokativer Gerechtigkeit“ orientierten Vertragsmodell.204 Daneben treten zunehmend sekundärrechtliche Gewährleistungen eines „sozialen europäischen Vertragsrechts“, auch wenn diese nach jetzigem Stand der Rechtsentwicklung noch keine letztgültige Kontur gewinnen konnten.205 Der Schutz der Vertragsfreiheit der Marktteilnehmer 206 wird im Unionsrecht zum einen über die Grundfreiheiten als subjektive Rechtspositionen gewährleistet.207 Die letztlich aus dem Grundsatz der Rechtsgleichheit folgenden,208 in Art. 26 Abs. 2 AEUV benannten Grundfreiheiten stellen sicher, dass die Koordinierung von Angebot und Nachfrage am Markt nicht durch unverhältnismäßige grenzüberschreitende staatlich veranlasste Hindernisse beeinträchtigt wird. Sie zielen somit durch Gewährung von Marktzutrittsrechten auf eine Offenhaltung der Märkte ab, 209 gemäß dem Konzept der „Herstellung 202 Instruktiv
Grundmann, in: FS Hopt, 2010, S. 61, 65 ff. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 36; Canaris, in: FS Lerche, 1993, S. 873, 889 f.; Rittner, JZ 1990, 838, 840 f.; MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 4. Zum Grundsatz „pacta sunt servanda“ vgl. EuGH v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96, EuZW 1998, 694 Rn. 49 – Racke; EuGH v. 5.10.1999 – C-240/97, Slg. 1999, I-6571 Rn. 99 – Spanien/Kommis sion. 204 MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 2 23. 205 Micklitz, Gutachten A zum 69. DJT 2012, S. A 60. 206 Die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Unternehmen wird durch den Schutz der unternehmerischen Handlungsfreiheit gemäß Art. 16 EU-GRCharta i. V. mit Art. 6 Abs. 1 EUV verbürgt. Dieser ist insbesondere dann relevant, wenn Unternehmen Adressaten wettbewerbsrechtlicher Maßnahmen sind; siehe Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1. 207 Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 465 ff.; von Bogdandy/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, 1. Aufl. 2003, S. 747, 764 ff. 208 Rittner, JZ 1990, 838, 840. 209 Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 428 ff. Die Grundfreiheiten wirken (nur dann) unmittelbar im Privatrecht, wenn sich der Staat das Handeln Privater zurechnen lassen muss oder die Privaten – wie Sportvereine oder Gewerkschaften – über eine besondere kollektive Macht verfügen; vgl. Bachmann, a. a. O., 465 ff., wonach die Wertungen der Art. 101 ff. AEUV im 203
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Teil 2: Die Wirtschaftsverfassung Deutschlands und der Europäischen Union
und Sicherung von Zugangsgerechtigkeit“ (Micklitz).210 Der durch die Grundfreiheiten bewirkte Freiverkehr der Produktionsfaktoren und Produkte gründete ursprünglich vor allem auf der Außenhandelstheorie des sog. komparativen Kostenvorteils.211 Mittlerweile lässt er sich aus drei verschiedenen Konzepten ableiten: 212 Erstens aus der wohlfahrtsökonomischen Wettbewerbstheorie einer effizienzoptimalen Ressourcenallokation in einem definierten Gebiet, zweitens aus der Gesellschaftstheorie legitimierender Privatautonomie in diesem Raum und drittens aus der Integrationstheorie transnational vernetzender Privatinitiative. Eine Einzelsteuerung der Märkte durch die Unionsbürger setzt auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die Gewährleistung individueller wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit sowie die Geltung der Vertragsfreiheit voraus.213 Demgemäß ermöglichen erst die nationalen Privatrechtsordnungen die Ausübung der Grundfreiheiten und wirken so auf das Unionsrecht ein.214 Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Grundfreiheiten als Schutznormen auch für die Freiheit des grenzüberschreitenden Vertragsschlusses zu interpretieren.215 Zugleich gewähren sie die Rechtsmacht zu privatautonomem Handeln, stellen also ein Mindestmaß an subjektiven öffentlichen und privaten Rechten sicher.216 Für eine Interpretation der Grundfreiheiten als subjektive Rechte spricht auch, dass diese nicht nur als Rechte der unternehmerisch Tätigen, sondern auch als solche der Nachfrager anerkannt sind.217 Trotz ihres markteröffnenden Charakters schützen die Grundfreiheiten aber nicht nur eine formal verstandene Privatautonomie. Dies zeigt sich bereits daran, dass sie zum Schutz der Selbstbestimmung der Verbraucher eingeschränkt (besser: nach ihrem inneren Telos ausgestaltet) werden dürfen.218 Im Ergebnis wird die Systementscheidung des Unionsrechts für eine offene, freie und soziale Marktwirtschaft also durch die entsprechenden Funktionsgarantien in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten konkretisiert.219 Gleichzeitig setzt das Unionsrecht nach bisherigem Stand der Integration die Existenz eines mitgliedstaatlichen Privatrechts
Rahmen der Prüfung einer unmittelbaren Anwendung der Grundfreiheiten zu berücksichtigen sein sollen (S. 470); vgl. auch Neuner/Herresthal, Grundrechte und Privatrecht, S. 177, 190 ff.; Roth, in: FS Medicus, 2009, S. 393, 407, 418 ff. 210 Micklitz, Gutachten A zum 69. DJT 2012, S. A 59. 211 Müller-Graff, EuR 2009 Beiheft 1, 105, 109. 212 Müller-Graff, EuR 2009 Beiheft 1, 105, 109. 213 Von Bogdandy/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, 1. Aufl. 2003, S. 747, 764, 765. 214 Rittner, JZ 1990, 818, 841; Müller-Graff, NJW 1993, 13, 14. 215 Müller-Graff, NJW 1993, 13, 14; Grundmann, JZ 1996, 274, 278; ders., ZHR 163 (1999), 635, 640; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 36 f. 216 Von Bogdandy/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, 1. Aufl. 2003, S. 747, 764, 766. 217 Von Bogdandy/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, 1. Aufl. 2003, S. 747, 764, 766. 218 Von Bogdandy/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, 1. Aufl. 2003, S. 747, 764, 766. 219 BerlKommTKG/Nettesheim, 2. Aufl. 2009, Einl. III Rn. 2.
E. Schutz der Selbstbestimmung im Verfassungsrecht
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im Allgemeinen und eines – in Verbindung mit den Wettbewerbsvorschriften: kompetitiven – Vertragsrechts im Besonderen voraus und erkennt diese an.220 Privatautonomie und Vertragsfreiheit werden indirekt auch durch das europäische Wettbewerbsrecht geschützt; denn Privatautonomie, Marktwirtschaft und Wettbewerb stehen – wie wir sogleich noch sehen werden – nach klassischer Sicht in einem gegenseitigen Bedingungszusammenhang.221 So hängen Privat autonomie und Vertragsfreiheit untrennbar mit der Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung als Wettbewerbswirtschaft zusammen, da sie das Bestehen eines Marktes voraussetzen und ihre Ausübung zu Wettbewerb führt.222 Der Schutz eines unverfälschten Wettbewerbs sichert wiederum die Wahlfreiheit der Konsumenten und damit auf konstitutiver Ebene die tatsächlichen Voraussetzungen der Vertragsfreiheit.223 Folgerichtig hat der EuGH die Wettbewerbsvorschriften der Unionsverträge ausdrücklich als Instrumente der Inhaltskon trolle von Verträgen anerkannt.224 Auch die nach Art. 6 Abs. 1 Hs. 2 EUV im Rang des Primärrechts stehende EU-GRCharta enthält spezifische Freiheitsgrundrechte, 225 wie die Berufsfreiheit des Art. 15 EU-GRCharta und die Unternehmerfreiheit des Art. 16 EU-GRCharta, die ebenso wie die Art. 101 ff. AEUV und die Grundfreiheiten die Vertragsfreiheit mit umfassen.226 Art. 17 EU-GRCharta schützt schließlich die Eigentumsfreiheit als materielle Grundlage individueller Freiheit.227 Zusätzlich zu den vorbenannten Freiheitsverbürgungen gewährleistet das Unionsverfassungsrecht soziale Rechte. Beispielhaft benannt seien die Verbürgungen von „Gleichheit“ und „Solidarität“, wie sie in Art. 2 und 3 Abs. 3 Uabs. 2 EUV und in den Art. 20 ff. und 27 ff. der Charta der Grundrechte der Europäischen Union normiert sind. Diese bringen grundlegende Werte zum Ausdruck, die in den allgemeinen Zielvorschriften gleichrangig neben das Binnenmarktund das Wettbewerbsziel treten,228 auch wenn dies nicht automatisch bedeutet, dass sie auch im Rahmen der Auslegung wirtschaftsrechtlicher Normen zum Tragen kommen müssen. Die Bedeutung und Tragweite der europäischen Grundrechte ist wiederum an die Europäische Menschenrechtskonvention ge220
Von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 801, 813. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 36; Canaris, in: FS Lerche, 1993, S. 873, 890; Rittner, JZ 1990, 838, 839, und 841. 222 Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 316; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 36; siehe schon Böhm, Die Justiz III (1928), 324, 331. 223 Mestmäcker, JZ 1964, 441, 443; Canaris, iustitia distributiva, S. 48; Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 288 f. 224 Hierauf werden wir näher eingehen in Teil 5 C. II. 3. 225 BerlKommEnR/Schmidt-Preuß, Bd. 1 Einl. B Rn. 124. 226 Von Bogdandy/Bast/Hatje, Europäisches Verfassungsrecht, S. 801, 812 f.; MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 3. 227 Jarass, Art. 16 EU-GRCharta Rn. 2 und Art. 17 Rn. 2. 228 Zum Schutz vor Diskriminierungen siehe Schubert, ZIP 2013, 289 und 292. 221
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koppelt (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 52 Abs. 2 und 53 EU-GRCharta).229 In diesem Sinne bilden Marktverfassung und Sozialverfassung die beiden grundlegenden Säulen des europäischen Primärrechts.230
F. Gewährleistungsverantwortung des Staates für die Versorgung mit Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen Das Unionsrecht erkennt an, dass der Staat die tatsächlichen Voraussetzungen für die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen schaffen muss, deren die Bürger für ihre Lebenshaltung zwingend bedürfen (Art. 106 Abs. 2 AEUV).231 Das deutsche Recht konkretisiert diese Pflicht durch sonderverfassungsrecht liche Vorgaben für die Daseinsvorsorge, 232 die sich in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des freien Wettbewerbsprozesses und überindivi duell-objektiven Gemeinwohlerwägungen bewegen.
I. Grundrechtliche Gewährleistung der Versorgung mit Gütern der Daseinsvorsorge Zu den anerkannten Kernaufgaben des Leistungsstaates gehört neben der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit auch die Grundversorgung (der „Universaldienst“233) mit für die Lebenshaltung der Bürger notwendigen Gütern und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge. In den Wirtschaftswissenschaften werden diese Güter und Dienstleistungen insofern als „öffentlich“ bezeichnet, als ihre Produktion gesamtgesellschaftlich wünschenswert ist, weil die Summe aus Konsumenten- und Produzentenrente größer ist als die der Gesellschaft insgesamt anfallenden Kosten, sie aber nicht vom Markt erbracht werden, weil etwa eine kostendeckende Produktion aufgrund der nicht rivalisierenden bzw. nicht-ausschließbaren Nutzung nicht möglich ist. Folglich ist bei öffentlichen Gütern die Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Markt auf Nachfrageseite in Form der Offenlegung der Präferenzen über die Zahlungsbereitschaft nicht oder nur eingeschränkt erfüllt.234 Bekannte Beispiele 229
Schubert, ZfA 2013, 1, 14. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 42 ff.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 36. 231 Siehe schon Teil 1 A. III. 3. 232 Siehe Teil 1 A. III. 4. 233 Siehe Teil 1 A. III. 3. b). 234 Kurth, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2003, S. 341, 342. Öffentliche Güter sind durch Nichtrivalität im Konsum und Nichtausschließbarkeit gekennzeichnet. Letztere führt zum Problem der sog. „Free Rider“, da ein Gut, das öffentlich angeboten wird, von jeder Person genutzt werden kann, ohne dass sie hiervon ausgeschlossen werden kann; vgl. Klaus, DeRegulierung, S. 231 f. 230
F. Gewährleistungsverantwortung für netzbasierte Güter/Leistungen
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sind Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Neben den nachfrageseitigen gibt es aber auch angebotsseitige Gründe. So wurden früher die Energieversorgung, die Telekommunikation und der Eisenbahnverkehr wegen der noch zu schildernden Besonderheiten bei der Produktion der entsprechenden Güter bzw. Dienstleistungen als nicht geeignet angesehen, im Wettbewerb über den Markt erbracht zu werden, weshalb der Staat sie durch öffentliche Unternehmen selbst erbrachte und/oder bestimmte Unternehmen durch Exklusivrechte aus der allgemeinen Wettbewerbsordnung herausnahm.235 Hierauf ist noch zurückzukommen. Aufgrund der Dynamisierung der wirtschaftlichen und technologischen Gegebenheiten und der damit verbundenen neueren ökonomischen Erkenntnisse sowie der Veränderung der Leitbilder staatlicher Aufgabenerfüllung setzte sich in den 1990er-Jahren – auch unter dem Druck des Europarechts – jedenfalls die Erkenntnis durch, dass elektrischer Strom und Gas, Telekommunikationsleistungen und der Eisenbahnverkehr unter gewissen Voraussetzungen über wettbewerbliche Märkte bereitgestellt werden können; 236 denn diese versorgen die Bürger mit den entsprechenden Gütern bzw. Dienstleistungen nach wirtschaftshistorischer Erfahrung oft effizienter als der Staat.237 Vor diesem Hintergrund hat sich der Staat aus den benannten Sektoren aus einer Erfüllungs- zu Gunsten einer Gewährleistungsverantwortung zurückgezogen.238 Hierdurch wurde das Leitbild des „erfüllenden Wohlfahrts- und Interventionsstaates [. . .] durch den ermöglichenden Gewährleistungsstaat überlagert und teilweise ersetzt“,239 der nur noch eine Schutzpflicht für wichtige Rechte und Güter zur Lebenshaltung der Bürger wahrnimmt.240 Da der „Gewährleistungs235 Knieps, Wettbewerbsökonomie, S. 4, 68. Siehe auch Kurth, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2003, S. 341, 342; Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 451. 236 Schuppert/ders., Gewährleistungsstaat, S. 11, 14; Trute/Broemel, ZHR 170 (2006), 706, 707; Basedow, ZHR 170 (2006), 178 ff.; Berndt, Anreizregulierung, S. 37. 237 BerlKommEnR/Säcker, Bd. 1 Einl. A. Rn. 27; Hermes, Infrastrukturverantwortung, S. 336 ff.; Kurth, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2003, S. 341, 343; Masing, Gutachten D zum 66. DJT 2006, S. 81. Siehe auch Ruge, Gewährleistungsverantwortung, S. 29; krit. bereits Emmerich, NJW 1974, 902, 904. 238 Vgl. Fehling, Verwaltung, S. 29. 239 Schröter/Schuppert, Empirische Policy- und Verwaltungsforschung, S. 399; Schuppert/ ders., Gewährleistungsstaat, S. 11 ff.; Gersdorf, in: FS Säcker, 2011, S. 681; krit. Genschel/ Zangl, Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, APuZ 20–21/2007, 1 ff. Siehe auch Schorkopf (JZ 2008, 20, 25), wonach die Regulierung zum Paradox werde, weil sich in dieser Idee sowohl die Skepsis als auch das Vertrauen in den Staat verfestige, der einerseits seine Steuerungsunfähigkeit unter Beweis gestellt habe und andererseits aber für die Zukunft Ordnungsgarant bleiben solle. 240 Schuppert/Hermes, Gewährleistungsstaat, S. 111. Dahinter steht – stark vereinfacht – die These von einem strukturell überforderten Staat, der mit den „klassischen Regulierungsinstrumentarien“ in eine „Steuerungskrise“ geraten sei, weshalb er nach neuen Wegen suchen müsse, die „gesellschaftlichen Prozesse“ effektiv zu beeinflussen, um das Gemeinwohl zu fördern und durchzusetzen (Schorkopf, JZ 2008, 20, 25). Zu diesem Zwecke wurde – begrifflich missverständlich – ein „neues Steuerungskonzept“ der „regulierten Selbstregulierung“ postuliert (siehe zu den möglichen Inhalten dieses Begriffs Ch. Calliess, AfP 2002, 465, 466),
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staat“ die Erfüllung vormals staatlicher Aufgaben in die Hände von Privatrechtssubjekten legt, wird er auch als „Staat der Zivilgesellschaft“241 bezeichnet, da er sich durch die Nutzung zivilgesellschaftlicher Gemeinwohlkompetenz im Sinne einer „praktizierten Verantwortungsteilung“ auszeichne.242 Diese Gewährleistungsverantwortung des Staates ist für die vorliegend in Rede stehenden Sektoren teilweise explizit im Grundgesetz verankert, für andere Sektoren – namentlich für die Energieversorgung – folgt sie aus einer Zusammenschau der einschlägigen Verfassungsbestimmungen: 243 Nach Art. 87f Abs. 1 GG gewährleistet der Bund im Bereich der Telekommunikation nach Maßgabe eines Bundesgesetzes – dies ist insoweit das TKG244 – eine flächendeckende angemessene und ausreichende Versorgung der Bürger mit den entsprechenden Dienstleistungen.245 Gem. Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG werden die Telekommunikationsdienstleistungen nicht unmittelbar vom Staat bereitgestellt, sondern „als privatwirtschaftliche Tätigkeiten durch die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen und durch andere private Anbieter erbracht“. Hierin liegt ein sonderverfassungsrechtliches Bekenntnis zu einer durch Regulierung herzustellenden, auf Chancengleichheit beruhenden privaten Wettbewerbsordnung, 246 weshalb eine wirtschaftliche Betätigung des Staates im Telekommunikationssektor – anders als in der Energiewirtschaft – auch unter Berufung auf die Sicherstellung von Leistungen der Daseinsvorsorge ausgeschlossen ist.247 Die Pflicht zur Gewährleistung ausreichender und angemessener Dienstleistungen nach Art. 87f Abs. 1 GG schließt die erstmalige Schaffung und dauerhafte Sicherung funktionsfähiger Wettbedas die Eigendynamik gesellschaftlicher Teilbereiche respektieren und nutzen will. Hiernach soll der Staat bei Gütern, die über den Markt erbracht werden können, Raum für private Initiative lassen. Zugleich soll er für bestimmte öffentliche Belange eine Gewährleistungsverantwortung übernehmen, indem der gesellschaftlichen Selbstregelung über die für alle geltenden allgemeinen Normen hinausgehende Rahmen-, Struktur- oder Zielvorgaben gemacht bzw. Sicherheits- und Auffangsysteme geschaffen werden; vgl. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft, S. 41; Krautscheid/Henneke, Daseinsvorsorge, S. 17, 23. 241 Franzius, Der Staat 42 (2003), 493 ff. 242 Schuppert/Schuppert, Gewährleistungsstaat, S. 11, 20. 243 Vgl. Säcker, AöR 130 (2005), 180, 187; Ronellenfitsch u. a./Säcker, S. 159, 160; Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 465 f., 501 f.; siehe zum Energiewirtschaftsrecht auch Masing, Gutachten D zum 66. DJT 2006, S. 15. 244 Neumann, KommJur 2012, 161, 163. 245 Trute/Spoerr/Bosch/Trute, Telekommunikationsgesetz mit FTEG, § 1 Rn. 24; hierzu gehört insbesondere die Grundversorgung gem. den §§ 78 ff. TKG, vgl. Neumann, KommJur 2012, 161, 163. 246 Ludwigs, NVwZ 2008, 954, 958; Gersdorf, N&R Beilage Heft 2/2008, 1, 10. Hierin liegt keine Abweichung von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes (so aber Neumann, KommJur 2012, 161, 165), da Deutschland mittelbar über Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV auf eine wettbewerblich organisierte soziale Marktwirtschaft verpflichtet ist; siehe oben Teil 2 D sowie BVerfG v. 18.1.2001 – 1 BvR 1700/00, NJW 2001, 2960, 2961. 247 Müller-Terpitz, NWVBl 1999, 292 ff.; Fetzer, Staat und Wettbewerb, S. 108 f.; a. A. Cornils, AöR 131 (2006), 378.
F. Gewährleistungsverantwortung für netzbasierte Güter/Leistungen
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werbsmärkte mit ein; denn es ist denklogisch nicht möglich, den Gewährleistungsauftrag des Art. 87f Abs. 1 GG und die Verpflichtung auf das Wettbewerbsprinzip in Art. 87f Abs. 2 GG zu trennen.248 Sofern Maßnahmen der Daseinsvorsorge zulässig sind, begründet Art. 87f Abs. 1 GG somit nicht nur eine ausschließliche Aufgabenzuweisung an den Bund (vgl. auch Art. 87f Abs. 2 Satz 2 GG249), sondern beschränkt auch die Möglichkeit staatlicher Interventionen in den Wettbewerbsprozess unter Aspekten der Daseinsvorsorge, da die ausreichende Versorgung der Bürger zuvörderst über den vom Staat freizusetzenden und aktiv zu gestaltenden Wettbewerb zwischen privaten Unternehmen erreicht werden soll.250 In diesem Sinne ist die Herstellung und Sicherung funktionstüchtiger Wettbewerbsstrukturen der fundamentalste Schritt des neuen Gewährleistungsmodells. Die sonstigen Maßnahmen der staatlichen Sicherstellung einer ausreichenden Grundversorgung (z. B. in Gestalt von Universaldienstpflichten) treten subsidiär hinzu, sofern sie nicht über den Markt erbracht werden können (vgl. § 80 Satz 1 TKG: „durch den Markt“).251 Dabei obliegt es dem parlamentarischen Gesetzgeber, im Rahmen der unionsrechtlichen Vorgaben (insbesondere des Art. 106 Abs. 2 AEUV) die jeweiligen Aufgaben der Daseinsvorsorge zu definieren.252 In Zusammenhang mit den Möglichkeiten und Grenzen einer Grundversorgung über den Markt wird derzeit etwa über die Aufgaben des Staates im Rahmen der Sicherstellung einer ausreichenden Anzahl von Münz- und Kartentelefonen diskutiert. So wird bemängelt, dass die Kommunen seit der Liberalisierung der Sprachtelefonie zum 1.1.1998 über das Instrument der straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis und über die Erhebung entsprechender Gebühren erheblichen – und nach dem Vorstehenden unzulässigen – Einfluss auf die Wettbewerbsverhältnisse auf dem Markt für das Angebot von öffentlichen Münzund Kartentelefonen genommen hätten.253 Aufgaben der Daseinsvorsorge werden auch im Rahmen des politisch gewünschten Ausbaus von Breitbandkabelnetzen wahrgenommen, sofern sich dieser im ländlichen Raum derzeit (noch) nicht rechnet, weshalb der Staat durch wirtschaftliche Förderungsmaßnahmen (Beihilfen) in den freien Wettbewerbsprozess eingreift.254 Diese – rechtspoli248 Maunz/Dürig/Möstl,
Art. 87f GG Rn. 84. Neumann, KommJur 2012, 163, 165 f. 250 Di Fabio, ZWeR 2007, 266, 273; Neumann, KommJur 2012, 161, 163 f. 251 Maunz/Dürig/Möstl, Art. 87f GG Rn. 84. 252 Dies wird derzeit kontrovers im Hinblick auf die ehrgeizigen Ziele zum Ausbau der Breitbandnetze diskutiert (dazu Fetzer, MMR 2011, 707 ff.). Im Energiewirtschaftsrecht findet eine vergleichbare Diskussion im Hinblick auf die Energiewende statt. Dies sind freilich primär rechtspolitische Fragen, die hier nicht weiter thematisiert werden sollen. 253 Siehe dazu Neumann, KommJur 2012, 161, 163 ff. 254 Zu den entsprechenden beihilfenrechtlichen Fragestellungen siehe die Leitlinien der Gemeinschaft für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Zusammenhang mit dem schnellen Breitbandausbau v. 30.9.2009, ABl.EU Nr. 2009 C 235/7; dazu Holznagel/Deckers/Schramm, NVwZ 2010, 1059 ff. 249 Dazu
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tisch kontrovers diskutierten – Fragestellungen sind in unserer Untersuchung nicht zu vertiefen. Nach Art. 87e Abs. 4 GG – der zentralen Vorschrift der sog. Bahnreform (zur Privatisierung vgl. Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG) 255 – gewährleistet der Bund für den Eisenbahnsektor, dass „dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird“. Das Nähere soll durch Bundesgesetz geregelt werden, wozu insbesondere das AEG zählt. Dieser Vorschrift lässt sich bei teleologischer Auslegung ebenfalls eine Grundentscheidung zu Gunsten einer prinzipiell wettbewerblichen Marktöffnung entnehmen.256 So war der Rückzug öffentlicher Unternehmen aus dem Eisenbahnwesen kein isolierter Vorgang, sondern eingebunden in den bereits beschriebenen generellen Prozess der Überführung der von staatlicher und monopolistischer Leistungserbringung geprägten Bereiche der Daseinsvorsorge in das neue Ordnungsmodell eines unter staatlicher Regulierung und Gewährleistungsverantwortung stehenden Wettbewerbs.257 Art. 87e GG fußt somit ebenso wie Art. 87f GG auf der Grundentscheidung für einen privatwirtschaftlichen Wettbewerb unter staatlicher Gewährleistungsverantwortung, auch wenn das Prinzip wettbewerblicher Märkte im Wortlaut des Art. 87f GG deutlicher als in Art. 87e GG verankert ist.258 Eine Leistungserbringung unmittelbar durch den Staat ist somit auch im Eisenbahnsektor subsidiär.259 Schließlich trifft den Staat für die zureichende Versorgung der Bürger mit Energie eine – ungeschriebene – Gewährleistungsverpflichtung.260 Eine explizite Klarstellung im Grundgesetz wurde im Energiesektor für nicht erforderlich gehalten, da der Staat die Leistungen schon vor der Liberalisierung nicht allein durch ein Staatsunternehmen erbracht, sondern durch Regulierung öffentlicher und privater Anbieter gewährleistet hatte, 261 auch wenn die Regulierung damals 255 Maunz/Dürig/Möstl,
Art. 87e GG Rn. 1. Art. 87e GG Rn. 66; siehe auch BVerwG v. 17.5.2006 – 6 C 22/04, NVwZ-RR 2006, 689 Rn. 4 4; den Fortbestand des Daseinsvorsorgeauftrags betont demgegenüber Ronellenfitsch, DVBl. 2008, 201, 204 ff. 257 So Maunz/Dürig/Möstl, Art. 87e GG Rn. 68; Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2004, S. 51 ff., 63 ff. 258 Maunz/Dürig/Möstl, Art. 87e GG Rn. 68; di Fabio, ZWeR 2007, 266, 273. 259 Mit anderem Akzent Maunz/Dürig/Möstl, Art. 87e GG Rn. 96 ff., wonach der Gewährleistungsauftrag auch durch „privatwirtschaftlichkeitseinschränkende Mittel“ verwirklicht werden dürfe, solange das Prinzip der Privatwirtschaftlichkeit nicht insgesamt in Frage gestellt werde. 260 Gersdorf, in: FS Säcker, 2011, S. 681, 683; Hellermann, VVDStRL 70 (2011), 366, 375; Kersten, VVDStRL 69 (2010), 288, 320; Masing, Die Verwaltung 36 (2003), 1, 7; Berndt, Anreizregulierung, S. 38 mit Fn. 66. 261 Höppner, Netzstruktur, S. 38. 256 Maunz/Dürig/Möstl,
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einem grundlegend anderen Regulierungskonzept gefolgt ist („Monopolisierung“ an Stelle von „Wettbewerbsorientierung“). Darüber hinaus folgt die Schutzpflicht des Staates für die privatisierten und deregulierten Sektoren – auch für den Energiesektor – aus den entsprechenden Vorgaben des Unionsrechts; darauf ist zurückzukommen. Mit dem privatisierungsbedingt geänderten Rollenverständnis des Staates war zu entscheiden, auf welchem Wege der Staat private Unternehmen für die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben interessieren und zugleich seine fortbestehende Gewährleistungsverantwortung wahrnehmen kann.262 So begründen große Teile der Infrastrukturnetze sog. natürliche Monopole (EnWG, AEG) bzw. dauerhaft marktmächtige Stellungen auf regulierungsbedürftigen Märkten (TKG). Auch nach einer rechtlichen Privatisierung und Liberalisierung der betroffenen Sektoren wäre es den Netzbetreibern deshalb möglich, sich im Wettbewerb aufgrund ihrer wirtschaftlichen Machtstellung nicht leistungsgerechte Vorteile zu verschaffen; 263 denn ein wirtschaftliches Eintreten auf den den Netzen vor- und nachgelagerten Märkten setzt einen Zugang zu den Energie-, Telekommunikations- und Schienennetzen als „wesentliche Einrichtungen“ zu angemessenen Bedingungen voraus.264 Aus diesem Grunde ist der Staat bestrebt, die negativen Folgen der wirtschaftlichen Machtpositionen der Netzbetreiber und der mit ihnen verbundenen vertikal integrierten Unternehmen durch eine sektorspezifische Regulierung als „Instrument der präventiven Freiheitssicherung“265 mittels Statuierung wettbewerbsanaloger Verhaltenspflichten und Strukturmaßnahmen zu kompensieren.266 Das Regulierungsrecht wird damit auch als „Privatisierungsfolgenrecht“ bezeichnet, um zu verdeutlichen, dass die Gewährleistungsverantwortung des Staates ihre Ursachen in der Entscheidung für eine Leistungserbringung durch öffentliche oder private Unternehmen und nicht allein durch die öffentliche Hand hat, vorliegend also die Belieferung der Verbraucher mit Energie sowie die Erbringung von TK- und eisenbahnbasierten Dienstleistungen.267
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Säcker, RdE 2003, 300, 305. Trute/Broemel, ZHR 170 (2006), 706, 707; Schuppert/Neidhardt/Trute, Gemeinwohl,
S. 329. 264 Säcker, AöR 130 (2005), 180, 185 und öfter; ders., in: FS Kühne, 2009, S. 297; Schumacher, Vertikale Integration im Erdgasmarkt, S. 89. 265 Paschke, Medienrecht, Rn. 463. 266 Säcker/Mohr, N&R Beilage Heft 2/2012, 1; Rasbach, Unbundling-Regulierung, S. 36. 267 Stober, Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 187; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 423 ff.; krit. zur Begrifflichkeit Höppner, Netzstruktur, S. 38, da die Energieversorgung schon früher durch öffentliche und private Unternehmen durchgeführt worden sei.
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II. Regulierungsverantwortung für die Netzebene Die Konzepte der Daseinsvorsorge und der Gewährleistungsverantwortung beziehen sich nach ihrer Historie eigentlich auf eine hinreichende Bereitstellung der Endleistungen eines Wirtschaftssektors. Mittlerweile hat sich in den Netzwirtschaften jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass es weder aus ökonomischer noch aus juristischer Sicht geboten ist, die gesamten Wirtschaftssektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen besonders zu regulieren, da es für ihr kompetitives Funktionieren – also unabhängig von politischen Megazielen wie der Energiewende oder dem Breitbandausbau – überwiegend auf die Öffnung der Netzebene für Wettbewerber zu angemessenen Bedingungen ankommt.268 Die Verlagerung der Betrachtung von den Endmärkten auf die Netzebene findet ein gewisses Pendant im staatstheoretischen Konzept der Regulierungsverantwortung.269 Dieses Konzept entwickelt das Modell der Gewährleistungsverantwortung im Bereich der netzgebundenen Industrien fort, indem es diese vornehmlich als Verantwortung für eine zureichende Infrastruktur-Grundausstattung versteht.270 Diese Verantwortung kann dabei weiter als diejenige für die dem Wettbewerb geöffneten vor- und nachgelagerten Ebenen reichen, da diese Märkte grundsätzlich funktionsfähig sind, weshalb dort eine Ex-post-Missbrauchskontrolle ausreicht.271 Für alle Sektoren – also nicht nur für die Netzebene – gilt, dass der Gesetzgeber mit der Leistungserbringung auch sonstige, über die Förderung eines chancengleichen Wettbewerbs hinausgehende Gemeinwohlziele verfolgen kann, wofür es unter Umständen ergänzender gemeinwohlinduzierter Regulierungsinstrumente bedarf, sofern die Leistungen nicht über den Markt erbracht werden können.272 Zu diesen Instrumenten gehören die Netzsicherheitsregulierung, die Umwelt- und Klimaschutzregulierung (prominent: das EEG), die Vergabe knapper Güter wie Rufnummern 273 sowie die Grundversorgungs- bzw. (treffender) Universaldienstregulierung (vgl. §§ 36 ff. EnWG, §§ 78 ff. TKG, §§ 15, 10 AEG).274 Diese sonstige Gemeinwohlregulierung steht nicht zwingend in einem Zielkonflikt zur Erbringung von Leistungen über wettbewerblich organisierte Märkte. Paradigmatisch ist die Universaldienstregulierung, bei der Leistungen auch über den Markt erbracht werden können. Auch im Recht 268
Siehe zum Konzept der disaggregierten Regulierung Teil 7 C. III. 1. Cornils, AöR 131 (2006), 378 ff.; Masing, Gutachten D zum 66. DJT 2006, S. 14; Säcker, AöR 130 (2005), 181, 186 ff.; Fehling/Ruffert/Lepsius, Regulierungsrecht, S. 143, 147; Fehling/Ruffert/Ruffert, a. a. O., S. 332, 349. 270 Hermes, Infrastrukturverantwortung, S. 342. 271 Höppner, Netzstruktur, S. 40; ausführlich Hermes, Infrastrukturverantwortung, S. 342 ff. und 348. 272 Vgl. Höppner, Netzstruktur, S. 56. 273 Vgl. Berndt, Anreizregulierung, S. 62. 274 Vgl. Ruge, AöR 131 (2006), 1, 24; Fetzer, MMR 2011, 707; Höppner, Netzstruktur, S. 56. 269 Vgl.
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der erneuerbaren Energien setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass eine Förderung der Erzeugung von elektrischer Energie aus umweltschonenden Energiequellen im Einklang mit den Prinzipien wettbewerblicher Stromgroßhandelsmärkte möglich ist (Direktvermarktung von EE-Strom, perspektivisch: wettbewerbliche Ausschreibung von Förderberechtigungen und Förderhöhen 275). In diesem Sinne ist es überzeugender, von einer Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge durch wettbewerbliche Märkte zu sprechen.276
III. Rekommunalisierung Wie oben erläutert, werden Leistungen der örtlichen Daseinsvorsorge (des „service public“) in Deutschland aus historischen Gründen auch von den Kommunen wahrgenommen. Aufgrund der Privatisierung und Liberalisierung mussten sich seit den 1990er Jahren aber auch kommunale Unternehmen verstärkt dem Wettbewerbsdruck auf dem Markt stellen. In den letzten Jahren ist jedoch aus verschiedensten Gründen 277 ein der Privatisierung gegenläufiger „Megatrend hin zur Rekommunalisierung“278 zu beobachten, also eine Rückführung von Aufgaben und Vermögenswerten, die zuvor privatisiert worden sind, in Organisationsformen des öffentlichen Rechts bzw. in öffentliches Eigentum.279 Dieser Trend kann je nach betroffenem Wirtschaftssektor unterschiedliche Gründe haben. Im Zentrum der Diskussion stehen aktuell die Wasserwirtschaft und der Energiesektor, deren normativer Rahmen sich freilich grundlegend unterscheidet, da die Wasserwirtschaft einen der letzten wettbewerblichen Ausnahmebereiche bildet, wohingegen der Energiesektor nach erfolgter Marktöffnung einer effizienzbasierten Regulierung unterliegt. Da sowohl die Ursachen der Rekommunalisierung als auch ihre rechtlichen Schranken in der Diskussion nicht selten vermischt werden, wollen wir sie uns kurz vergegenwärtigen, auch wenn sie unsere Untersuchung nicht zentral betreffen. 1. Wasserversorgung Für die – im Folgenden nicht näher zu betrachtende – Wasserversorgung und für die Abwasserentsorgung kommt nach den §§ 31 ff. GWB in der Fassung der 8. GWB-Novelle280 anders als für die dem Wettbewerb unterliegenden Sektoren 275 Zur Diskussion über das zutreffende Fördermodell siehe statt anderer Haucap/Klein/ Kühling, Die Marktintegration der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, S. 13 ff., insb. S. 79 ff. 276 Siehe den Titel der Dissertation von Berschin aus dem Jahr 2000. 277 Oben benannt hatten wir bereits die „Energiewende“ mit der damit einhergehenden Präferenz für eine „dezentrale Energieversorgung“. 278 Bauer, DÖV 2012, 329 und 330. 279 Menges/Müller-Kirchenbauer, ZfE 2012, 51, 53. 280 Achtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 26.
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Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen das Kartellverbot nach wie vor nicht zur Anwendung.281 Darüber hinaus sind die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung auch nicht sektorspezifisch reguliert, 282 weshalb keine Unbundling-Vorschriften vergleichbar den §§ 6 ff. EnWG gelten.283 Aus diesem Grunde kann durch den Abschluss von Wegenutzungsverträgen („Konzessionsverträgen“) nicht nur der lokale Netzbetreiber, sondern auch das für die Wasserversorgung zuständige Unternehmen bestimmt werden.284 Im Gegenzug für die Herausnahme der Wasserwirtschaft aus dem Kartellverbot sieht der Gesetzgeber in § 31 Abs. 3 und 4 GWB285 eine verschärfte Missbrauchsaufsicht vor, die neben den Verbotstatbestand des § 19 GWB tritt (§ 31b Abs. 5 und 6 GWB).286 Einige Kommunen versuchen derzeit drohenden kartellbehördlichen Preismissbrauchsverfügungen durch eine „Flucht in den Eigenbetrieb“ und damit in das öffentlich-rechtliche Gebührenrecht zu entkommen.287 Wird die Gegen leistung für die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung durch öffentlich-rechtliche Gebühren festgelegt, sind diese nach der herrschenden rechts formorientierten Sichtweise nur von der Kommunalaufsicht und nicht (zusätzlich) von den Kartellbehörden zu überprüfen.288 Zwar müssten sowohl für eine kartellbehördliche als auch für eine kommunalaufsichtsrechtliche Preiskontrolle eigentlich dieselben Maßstäbe gelten, namentlich der Grundsatz des Als-ob-Wettbewerbs. Die Kontrolldichte der Kommunalaufsicht ist nach historischer Erfahrung jedoch geringer als diejenige der Kartellbehörden, geschweige denn der Regulierungsbehörden. Entscheidet sich die Kommune demgegenüber für eine Versorgung der Verbraucher mit Wasser auf der Grundlage privatrechtlicher Vertragsverhältnisse, können die Entgelte durch die Kartellbe-
Juni 2013, BGBl. I v. 29.6.2013, S. 1738 ff.; siehe auch die Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 26.6.2013, BGBl. I v. 29.6.2013, BGBl. 2013, S. 1750 ff. Vgl. § 131 Abs. 6 GWB 2005 i. V. mit §§ 103, 103a und 105 GWB 1990. 281 Markert, N&R 2009, 118, 119 m. w. N.; krit. de lege ferenda Säcker, WuW 2012, 343. 282 So die Forderung der Monopolkommission, Hauptgutachten 19, S. 53. 283 Dazu Säcker/Mohr, N&R Beilage Heft 2/2012, 1 ff. 284 Kermel/Kermel, Konzessionsverträge, S. 19. 285 § 103 Abs. 5 und 7 GWB 1990. 286 Markert, N&R 2009, 118, 119. 287 Säcker, NJW 2012, 1105, 1110. 288 BGH v. 15.5.2012 – KVR 51/11, NZKart 2013, 34 – Wasserpreise Calw; BGH v. 18.10.2011 – KVR 9/11, NJW 2012, 1150 Rn. 10 – Niederbarnimer Wasserverband; BGH v. 2.2.2010 – KVR 66/08, NJW 2010, 2573 – Wasserpreise Wetzlar; OLG Frankfurt a. M. v. 20.9.2011 – 11 W 24/11 (Kart), WuW/E DE-R 3525; Daiber, WuW 1996, 361, 362 f.; Markert, N&R 2009, 118, 119; Breuer, NVwZ 2009, 1249, 1250. Hierfür spricht insbesondere die Vermeidung einer Doppelkontrolle durch mehrere Behörden, wie sie auch den §§ 130 Abs. 3 GWB, 111 EnWG zugrunde liegt. Eine vergleichbare Problematik liegt der Kontrolle der Netzentgelte nach § 30 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 EnWG i. V. mit § 32 EnWG (analog) und § 315 BGB zugrunde.
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hörden und die Zivilgerichte kontrolliert werden (Art. 102 AEUV, §§ 19, 20, 31 ff. GWB, §§ 134, 138, 315 BGB).289 Der BGH brauchte zur Zulässigkeit einer Rekommunalisierung in seiner Entscheidung „Niederbarnimer Wasserverband“ vom 18.10.2011 keine abschließende Stellung nehmen.290 Seinen Ausführungen ist aber eine gewisse Sympathie für eine Kontrolle von Wassergebühren anhand des Wettbewerbsrechts zu entnehmen, „wenn die öffentlich-rechtliche und die privatrechtliche Ausgestaltung der Leistungsbeziehung wie im Fall der Wasserversorgung weitgehend austauschbar sind“.291 Bei teleologischer Betrachtung ist für eine Anwendung des Wettbewerbsrechts die funktionale Einordnung der Tätigkeit relevant; 292 nur ein originär hoheitliches Verhalten sollte aus dem Anwendungsbereich des Wettbewerbsrechts ausgenommen werden, so wie es auch auf EU-Ebene erfolgt.293 Eine rechtlich wirksame Rekommunalisierung verlangte hiernach jedenfalls die tatsächliche Übernahme der unternehmerischen Funktionen des Anlagenbetreibers durch die Gemeinde. 294 Im Zuge der 8. GWB-Novelle hat der Gesetzgeber jedoch dafür votiert, Gebühren keiner Kontrolle anhand des (deutschen) Wettbewerbsrechts zu unterziehen (§ 130 Abs. 1 Satz 2 GWB). Diese Entscheidung ist für die Praxis vorbehaltlich ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit bindend. 2. Energieversorgung Im Bereich der Energieversorgung beruht der Trend zur Rekommunalisierung weniger auf einer – hier normativ ausgeschlossenen – „Flucht ins Gebührenrecht“, als vielmehr auf anderweitigen Ursachen wie Veränderungen im „politsozialen Großklima“ zum Beispiel durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, die das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von Märkten er schüttert hat, 295 einem politisch erkannten Bedarf an einer öffentlichen Leistungserbringung in örtlicher Daseinsvorsorge unter Gesichtspunkten der Umwelt- und Klimapolitik 296 oder auf vereinzelten „Misserfolgen“ bei der Pri289 Siehe zur Fusionskontrolle BGH v. 8.11.2011 – KVZ 14/11, NZS 2012, 464 – Zulässigkeit von Krankenhausfusionen; Monopolkommission, Hauptgutachten 19, Rn. 413; Daiber, in: FS Becker, 2006, S. 457, 465; zur parallelen Anwendbarkeit von Kartell- und Privatrecht siehe Säcker, ZWeR 2008, 348 ff.; Mohr, WuW 2011, 112 ff. 290 BGH v. 18.10.2011 – KVR 9/11, NJW 2012, 1150 ff. – Niederbarnimer Wasserverband; a. A. OLG Düsseldorf v. 8.12.2010 – VI 2 Kart 1/10 (V), WuW/E DE-R 3170; siehe auch OLG Frankfurt a. M. v. 20.9.2011 – 11 W 24/11 (Kart), WuW/E DE-R 2325. 291 BGH v. 18.10.2011 – KVR 9/11, NJW 2012, 1150 Rn. 11 – Niederbarnimer Wasserverband. 292 Siehe Wolf, BB 2011, 648 ff. 293 Ebenso Monopolkommission, Hauptgutachten 19, Rn. 414. 294 So Säcker, NJW 2012, 1105, 1109 f. 295 Bauer, DÖV 2012, 329, 335. 296 Sofern in der Diskussion um die Rekommunalisierung der Energieversorgungsnetze
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vatisierung bzw. Fällen „privatwirtschaftlicher Schlechterfüllung“ in „AfterPrivatization-Szenarien“.297 Eine gewisse Bedeutung für eine Entscheidung zur Rekommunalisierung dürfte für die Kommunen darüber hinaus die Möglichkeit zur Erzielung regulatorisch gesicherter Gewinne haben, 298 wobei in der öffentlichen Diskussion zuweilen nicht ausreichend beachtet wird, dass damit zunächst der Kaufpreis der Netze refinanziert werden muss (die „wirtschaftlich angemessene Vergütung“ im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 2 EnWG). Eine „Rückholung von Staatlichkeit“299 durch Rückführung der Aufgaben auf vermeintlich nicht dem Wettbewerbsrecht unterliegende Eigenbetriebe scheitert im Energiesektor anders als im nicht dem Wettbewerb geöffneten Wassersektor bereits an den Vorgaben des Unionsrechts. Zwar gibt es für den Energiesektor im Grundgesetz keine ausdrückliche Wertentscheidung für die Erbringung der Leistungen über wettbewerbliche Märkte,300 da eine solche hier aufgrund der historischen Gegebenheiten – der Staat hat die Energieversorgung schon vor der Liberalisierung nicht selbst durch ein Staatsunternehmen erbracht, sondern durch Regulierung öffentlicher und privater Anbieter gewährleistet – für entbehrlich angesehen wurde.301 Die Einbindung der Energieversorgung in ein wettbewerbliches System wird jedoch durch das Unionsrecht garantiert.302 Vor diesem Hintergrund ist es zwar – wie § 46 Abs. 4 EnWG in Zusammenhang mit dem Abschluss von Wegenutzungsverträgen zur Verlegung von Energieleitungen klarstellt – zulässig, dass die Kommunen die Energieversorgungsnetze durch Eigengesellschaften und durch Eigenbetriebe betreiben. Sie sind hierbei jedoch an die Vorgaben des Energiewirtschaftsrechts, allen voran an die Zugangs- und Entgeltregulierung gebunden. Lediglich die Entflechtungsregelungen sehen Ausnahmen für Unternehmen mit weniger als 100.000 Anschlüssen vor, die in der Praxis vornehmlich kommunalen Netzbetreibern zugutekommen (vgl. § 7a Abs. 7 EnWG). Vor diesem Hintergrund können im die Ansicht vertreten wird, hierdurch könne man „Beiträge zu einer sichtbaren umwelt- bzw. klimafreundlichen Umgestaltung der Energiewirtschaft“ leisten (Menges/Müller-Kirchenbauer, ZfE 2012, 51, 52), ist dies für Unternehmen, die den Unbundling-Vorgaben der §§ 6 ff. EnWG unterliegen, unzutreffend. Die Netze sind hiernach neutral im Hinblick auf Energieerzeugung und Vertrieb. 297 Bauer, DÖV 2012, 329 ff. 298 BNetzA, Entscheidung. v. 31.10.2011 – BK4-11-304 – Festlegung von Eigenkapitalzinssätzen für die zweite Regulierungsperiode; BNetzA, Entscheidung v. 7.7.2008 – BK4-08-68 – Festlegung von Eigenkapitalzinssätzen für die erste Regulierungsperiode. Die Festsetzung der Eigenkapitalzinsen beruht auf § 21 Abs. 2 EnWG, § 7 Abs. 6 Satz 1 StromNEV/GasNEV, §§ 4, 6 ARegV. 299 Säcker, NJW 2012, 1105, 1106. 300 Dies konzediert indirekt auch Bauer (DÖV 2012, 329, 336), wenn er ausführt, der „normative Befund“ stimuliere „für die Rechtsdogmatik [. . .] zwar keinen Perspektivwechsel, aber eine deutliche Perspektivenerweiterung“. 301 Höppner, Netzstruktur, S. 38. 302 Siehe zum Konflikt zwischen Gemeinde- und übergeordneten Interessen bereits Salje, NVwZ 1998, 916.
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Bereich der Energiewirtschaft Privatisierung und Rekommunalisierung zwar als „wechselseitig ergänzende Gestaltungsoptionen“ aufgefasst werden.303 Durch eine Rekommunalisierung ist es jedoch – anders als de lege lata in der Wasserwirtschaft – nicht möglich, dem Wettbewerbsgrundsatz teilweise zu entkommen. 3. Reichweite der Garantie kommunaler Selbstverwaltung Eine Herausnahme der Energiewirtschaft aus dem Wettbewerbsrecht kann auch nicht über die kommunale Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG begründet werden.304 Zwar gehören die Energieversorgung, die Telekommunikation und die Eisenbahnen ebenso wie etwa die Wasserversorgung zu den Aufgaben der Daseinsvorsorge, die grundsätzlich der gemeindlichen Selbstverwaltung unterliegen können (anders die Telekommunikation).305 Art. 28 Abs. 2 GG regelt jedoch gar nicht das Verhältnis zwischen staatlicher und privater Aufgabenerfüllung, sondern grenzt vor allem die Kompetenzen zwischen Bund und Gemeinden ab.306 Es bedarf hiernach zwar einer sachlichen Rechtfertigung, wenn den Kommunen Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft durch Bundesgesetz entzogen werden, wie dies etwa durch das EnWG des Jahres 1998 der Fall war.307 Andererseits kann die kommunale Selbstverwaltungsgarantie allein keine Eingriffe in die Rechtsstellung Privater begründen.308 In den Sektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen haben die Gemeinden schließlich nur eine Gewährleistungs- und gerade keine Erfüllungsverantwortung.309 Ersterer kommen sie aber bereits durch den diskriminierungsfreien und transparenten Abschluss von Wegenutzungsverträgen („Konzessionsverträgen“) mit geeigneten Bewerbern nach, wodurch sie indirekt den Netzbetreiber determinieren.310 Da die Gemeinden ihre Aufgaben also auch durch Einschaltung privater Dritter erbringen können, kann aus Art. 28 Abs. 2 GG kein Recht zur Begrenzung der Rechtspositionen Dritter durch eine Rekommunalisierung 303
So aber Collin, JZ 2011, 274 ff. So schon Säcker/Mohr, ZWeR 2012, 417, 421; siehe auch BerlKommEnR/Pielow, Bd. 1 Einl. Rn. 343; anders Bauer, DÖV 2012, 329, 336. 305 BVerwG v. 20.1.2005 – 3 C 31/03, NVwZ 2005, 958; BVerwG v. 27.5.2009 – 8 C 10/08, NVwZ 2009, 1305; BGH v. 28.6.2005 – KVR 27/04, WuW/E DE-R 1520, 1522 – Arealnetz; RhPfVerfGH v. 28.3.2000 – VGH N 12/98, NVwZ 2000, 801, 803; siehe auch Säcker/Busche, VerwArch 83 (1992), 125 ff.; Schmahl, WiVerw 2011, 96 ff. 306 Lecheler, NVwZ 1995, 8, 10; Säcker/Mohr, ZWeR 2012, 417, 434. 307 Landmann/Rohmer/Hünnekens, Umweltrecht, § 50 WHG Rn. 11; Fischer/Zwetkow, NVwZ 2003, 281, 282. 308 Wie hier LG Kiel v. 3.2.2012 – 14 O Kart. 83/10, EWeRK 2012, 106, 108; dazu Sauer, EWeRK 2012, 109, 110. 309 Heintzen, NVwZ 2000, 743, 746; Dierkes/Hamann, Öffentliches Preisrecht in der Wasserwirtschaft, S. 144. 310 Säcker/Mohr/Wolf, Konzessionsverträge, S. 27. 304
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– zumal ohne vorheriges wettbewerbliches Auswahlverfahren – abgeleitet werden.311
G. Zwischenergebnis – Sicherung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs Das Unionsrecht und mit ihm die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gründen auf der Wirtschaftsverfassung der sozialen Marktwirtschaft (Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV). Trotz der politischen Stärkung der sozialen Ziele durch den Vertrag von Lissabon ist das Unionsrecht im wirtschaftlichen Bereich durch die Leitidee einer Schaffung und Sicherung des Binnenmarktes durch die Grundfreiheiten und die Wettbewerbsvorschriften geprägt, wobei Letztere ein System unverfälschten Wettbewerbs verbürgen. Privatautonomie, Vertragsfreiheit und wettbewerbliche Märkte werden sowohl vom Unionsprimärrecht als auch vom Grundgesetz gewährleistet. Dabei folgen beide Rechtsordnungen einem materialen Freiheitskonzept, wenn auch auf konzeptionell unterschiedlichen Begründungswegen. Während die Materialisierung der Freiheit im deutschen Recht lange Zeit auf das Sozialstaatsprinzip gestützt und dadurch mit überindividuellen Gerechtigkeitserwägungen „aufgeladen“ worden ist, steht im Unionsrecht im wirtschaftlichen Bereich der Schutz vor wirtschaftlicher Macht im Vordergrund. Dies korrespondiert, wie wir im Folgenden sehen werden, mit der Konzeption des deutschen Vertragsrechts.
311
Sauer, EWeRK 2012, 109, 111.
Teil 3
Vertragstheorien Unsere Untersuchung behandelt die wettbewerbs- und regulierungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen von Privatautonomie und Vertragsfreiheit am Beispiel der (Preis-)Kontrolle wettbewerbsbeschränkender (Folge-)Verträge. Hierzu wollen wir uns im Folgenden die theoretischen Grundlagen der Vertragsrechtsordnung vor Augen führen, um auf dieser Basis untersuchen zu können, auf welche Weise sich das Wettbewerbs- und das Regulierungsrecht in das System des Vertragsrechts einpassen und dieses von den Problemen einer adäquaten Erfassung und Bändigung „restriktiver wirtschaftlicher Machtpositionen“1 entlasten. Wie einleitend gesehen, muss eine Analyse der Geltungsgründe vertraglicher Bindungen zwischen den Begriffen der „Vertragsfreiheit“, der „Vertragsgerechtigkeit“ und der „weltanschaulich-politischen Grundhaltung“ differenzieren.2 „Vertragsfreiheit“ und „Vertragsgerechtigkeit“ stehen für unterschiedliche „Wertideen“ des Rechts, weshalb der eine Begriff nicht zur Erklärung des anderen verwandt werden kann,3 auch wenn zwischen ihnen enge Verbindungen bestehen.4 So ist die staatliche Normsetzung auch ein Resultat der jeweils herrschenden Gesellschaftstheorie, indem sie die Realität anhand sog. „Sozialmodelle“5 organisiert, in denen sich die Prägekräfte ihrer Zeit widerspiegeln.6 Schließlich sind für die Bestimmung der inneren Grenzen der Vertragsfreiheit auch die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften hilfreich, da diese eine vertiefte Reflexion der Wirkungsweisen rechtlicher Regelungen ermöglichen und unter Beachtung des Primats des Rechts Anregungen für normative Korrekturen geben.7 Aufgrund der fortschreitenden europäischen Rechtsvereinheitlichung im Bereich des Verbraucherschutzrechts ist auch ein Seitenblick auf die aktuelle Rechtsentwicklung auf europäischer Ebene angezeigt, 8 ohne dass wir das schon vielfach diskutierte „Jahrhundertvorhaben“ eines einheitlichen europäischen 1
Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerb, S. 11. Siehe Teil 1 A. II. 3 Busche, Kontrahierungszwang, S. 82. 4 Diese Verknüpfungen behandeln wir in Teil 3 D. IV. 5 Benannt auch als „Ordnungsmodelle“ oder „Rechtsparadigmen“. 6 So Möslein/Renner, Private Macht, unter I. 7 Bachmann, Private Ordnung, S. 181. 8 Vgl. Oetker, AcP 212 (2012), 203, 210. 2
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Privatrechts nur annähernd erschöpfend behandeln könnten.9 Auf die Detailfragen der – seit jeher kontrovers diskutierten – inneren Grenzen von Privatautonomie und Vertragsfreiheit kommt es im Folgenden ebenfalls nicht an.10 Vielmehr war die Materialisierung des Vertragsrechts in den letzten Jahrzehnten Gegenstand mehrerer Habilitationsschriften, auf die hier verwiesen werden kann.11 Ebenfalls nicht im Detail relevant sind die aus heutiger Sicht offenkundigen Regelungsdefizite des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900, wie die ungenügende Berücksichtigung von Verkehrs- oder Vertrauensschutzgesichtspunkten und die dadurch begründete Notwendigkeit einer „Materialisierung der individuellen Willensherrschaft“.12 Wir wollen vielmehr Grundtendenzen in der Entwicklung der Privatrechtstheorie aufzeigen, um diesen die entsprechenden Entwicklungen im Wettbewerbsrecht und im Regulierungsrecht vergleichend gegenüberzustellen; denn die funktionale Verknüpfung dieser Rechts gebiete wird zunehmend in Frage gestellt.13 Wenn das Wettbewerbs- und das Regulierungsrecht – so die zentrale These der Untersuchung – die Funktionsvoraussetzungen für einen „fairen“, sprich material-chancengleichen privatautonomen Interessenausgleich von Marktbürgern14 sichern, liegt es nahe, dass diesen Rechtsgebieten dasselbe Verständnis von Freiheit, Markt und Wettbewerb zugrunde liegt wie dem Vertragsrecht.
A. Wechselseitiger Bezug von Vertragsrechtsordnung und Wettbewerbswirtschaft Zunächst wollen wir uns einen Überblick über die wechselseitigen Verknüpfungen der Vertragsrechtsordnung mit der rechtlichen Regelung der Wettbewerbswirtschaft verschaffen.
9 Als Aufgabe von Generationen bezeichnet von Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, S. 33; ebenso Staudinger/Eckpfeiler/Honsell, Einl. zum BGB Rn. 48. Einen Überblick über die Europäisierung des Privatrechts nebst Nachweisen zum kaum noch zu überblickenden Schrifttum gibt MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 213 ff. 10 Nachweise bei MünchKommBGB/Busche, Vor § 145 BGB Rn. 5 ff. 11 Beispielhaft Busche, Kontrahierungszwang; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit; Meller-Hannich, Verbraucherschutz, jeweils m.w. N. 12 Martens, AcP 177 (1977), 113, 114; MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 23 ff. 13 K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 188, der das Wettbewerbsrecht zwar grundsätzlich auf den Schutz freier Marktprozesse ausrichten will (und damit auch auf den Schutz individueller Freiheiten), das praktische Ziel des Wettbewerbsrechts jedoch (jedenfalls im Rahmen der Rechtsdurchsetzung) in der Herstellung von „Effizienz“ unter weitgehendem Ausschluss subjektiver Rechte sieht. Es wird dabei nicht recht deutlich, wie diese beiden eigentlich inkongruenten Ziele miteinander verbunden werden sollen. 14 Micklitz, Gutachten A zum 69. DJT 2012, S. A 59.
A. Wechselseitiger Bezug von Vertragsrechtsordnung und Wettbewerbswirtschaft
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I. Koordinierung individueller Freiheiten über den Preismechanismus des Marktes Die staatliche Gewährleistung privater Freiheitsrechte in Form von Privatautonomie und Vertragsfreiheit ist untrennbar mit der Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung als wettbewerblich organisierte Marktwirtschaft verbunden (Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV).15 Im Gegensatz zu zentralverwaltungswirtschaftlichen16 oder korporatistischen Wirtschaftssystemen,17 in denen der Wettbewerbsprozess gleichsam „von oben“ gesteuert wird,18 entfaltet sich eine marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung grundsätzlich als evolutorischer Prozess „von unten herauf“.19 Ein wirtschaftlicher Wettbewerb20 entsteht regelmäßig dadurch, dass Rechtssubjekte im Wirtschaftsverkehr ihre privaten Handlungsfreiheiten gebrauchen und hierdurch wirtschaftliche Prozesse in Gang setzen (die „Wettbewerbsprozesse“).21 Als Instrumente zur Koordinierung der Freiheiten fungieren vor allem die Marktpreise; 22 demgegenüber werden die sonstigen Vertragskonditionen aus „rationaler Ignoranz“ oft vernachlässigt.23 Konsumenten vergleichen bei einer Nachfrageentscheidung vor allem die Summe, die sie für ein Gut ausgeben möchten, mit dem Preis desselben.24 Ist die zur Verfügung stehende Geldsum15 Dies wurde insbesondere von den Vertretern des Ordoliberalismus betont, vgl. Böhm, Die Justiz III (1928), 324, 331, wonach die Lehre von der Vertragsfreiheit eine auf freier Konkurrenz beruhende Wirtschafts- und Marktverfassung voraussetze; ebenso Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbeschränkung, S. 128 ff.; ders., in: FS Böhm, 1965, S. 113; Mestmäcker, JZ 1964, 441; ders., AcP 168 (1968), 235; ders., A Legal Theory without Law, S. 32. Siehe auch – ohne Rückbindung an die Freiburger Schule – Raiser, JZ 1958, 1, 6; ders., in: FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT, Bd. 1, 1960, S. 101 ff.; Steindorff, in: FS Raiser, 1974, S. 621. Weitere Nachweise bei Säcker, Zielkonflikte, S. 11 ff.; Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 316. Auch die Vertreter eines „neuen Wirtschaftsrechts“ betonten den Zusammenhang zwischen Vertrag und wettbewerblichen Märkten, siehe Wiethölter, JbRSoz 8 (1982), 38, 39. 16 Dazu Eucken, ORDO 2 (1949), 1, 8 ff. 17 Keynes, Das Ende des Laissez-Faire, S. 17 ff.; dagegen Eucken, ORDO 2 (1949), 1, 20 f. 18 Eucken, Grundlagen der Nationalökonomie, S. 78 ff.; ders., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 61 ff. 19 Hoppmann, ORDO 46 (1995), 41, 53; Leistner, Richtiger Vertrag, S. 55; siehe zur Wirtschaftsordnung der EU nach dem Vertrag von Lissabon Mestmäcker, EuR 2010 Beiheft 1, 36, 43. 20 Siehe zum Begriff des wirtschaftlichen Wettbewerbs Rittner, in: FS Kraft, 1998, S. 519, 522; zur allgemeinen Bedeutung des Wortes „Wettbewerb“ vgl. Köhler/Bornkamm/Köhler, Einl. Rn. 1.1. 21 So Immenga/Mestmäcker/Zimmer, § 1 GWB Rn. 114; Mestmäcker/Schweitzer, § 2 Rn. 73; Stumpf, Aufgabe und Befugnis, S. 126. 22 Böhm, WuW 1956, 173, 177 f.; Welfens, Wirtschaftspolitik, S. 110; Fornasier, Freier Markt, S. 31. 23 Dies ist aus ökonomischer Sicht ein wesentlicher Grund für die AGB-Inhaltskontrolle; vgl. MünchKommBGB/Wurmnest, § 307 BGB Rn. 40; zur Neuen Institutionenökonomik vgl. Teil 4 D. II. 24 Vgl. noch Teil 4 C. II. 3., zur Wettbewerbstheorie Adam Smiths.
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me höher als der Preis, erwerben sie ein Gut, ansonsten unterbleibt die Transaktion, sofern keine Affektionsinteressen vorliegen.25 Der Marktpreis informiert somit die Nachfrager über die potenziell zu erwerbenden Güter. Zugleich informiert er die Produzenten, wie hoch die Stückkosten maximal sein dürfen, um ein Gut rentabel anbieten zu können.26 Bei (untechnisch gesprochen) wirksamem Wettbewerb gilt für die einzelnen Anbieter also nicht, dass höhere Produktionskosten zu einem höheren Marktpreis führen. Am Markt durchsetzbar ist bei wirksamem Wettbewerb nur der Wettbewerbspreis, bzw. im Rahmen einer im Wettbewerbs- und Regulierungsrecht gebräuchlichen hypothetischen Betrachtung der wettbewerbsanaloge Preis. Ist der Wettbewerb als Kontrollmechanismus nicht ausreichend funktionsfähig, muss die Rechtsordnung korrigierend eingreifen. Hierzu dienen das Wettbewerbs- und das Regulierungsrecht. Zugleich setzen funktionsfähige Wettbewerbsprozesse als Grundbedingung die Gewährung wirtschaftlicher Freiheiten voraus („Paradoxon der Freiheit“). Dies gilt es zu erläutern.
II. Sicherung der Wettbewerbsprozesse durch privatrechtliche Institute Der Markt kann seine Lenkungsaufgaben nur dann erfüllen, wenn er durch privatrechtliche Institute ermöglicht und gesichert wird.27 Neben der Gewährleistung der Berufs- und Gewerbefreiheit 28 sind vor allem die Privatautonomie und das Privateigentum unabdingbar, um Marktprozesse in Gang zu setzen und zu halten.29 Erst durch diese Gewährleistungen wird ein Raum geschaffen, innerhalb dessen sich Menschen „um die Wette bewerben“ können.30 In Deutschland begann der Gesetzgeber erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der Überführung des Standesrechts der Kaufleute in ein staatliches Handelsrecht, die institutionellen Grundlagen für den wirtschaftlichen Aufstieg und einen möglichst großen allgemeinen Wohlstand zu legen. Henry Sumner 25
Siehe dazu Mohr, Jura 2010, 808, 815. Als Informationsmedium gelten somit nicht die Bedürfnisse der Marktgegenseite, sondern der „am Markt angemeldete Bedarf“. Dieser bildet im Wettbewerbs- und Regulierungsrecht die Grundlage für die sachliche Marktabgrenzung anhand des sog. Bedarfsmarktkonzepts, wonach grundsätzlich alle Produkte zu einem Markt gehören, die sich gegenseitig bei der Preisbildung beeinflussen; vgl. Säcker, ZWeR 2004, 1 ff. 27 Böhm, WuW 1956, 173, 178; Mestmäcker, ZHR 137 (1973), 97 ff. 28 GroßKommUWG/Schünemann, Einl. B Rn. 1. Historisch gesehen hat die Vertragsfreiheit ihre maßgebliche Bedeutung mit Einführung der Gewerbefreiheit erlangt, vgl. Barnert, Formelle Vertragsethik, S. 8. 29 Böhm, ORDO 22 (1971), 11, 21; Mestmäcker, ZWeR 2010, 1, 9; Säcker, Gruppenautonomie, S. 208; Mestmäcker/Schweitzer, § 2 Rn. 73; Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 1 Rn. 47, zu Art. 151 WRV. Nach Canaris (in: FS Lerche, 1993, S. 873, 877 f.) sind weitere Charakteristika der Privatrechtsgesellschaft die privatrechtliche Verfasstheit der Familie und die privatrechtliche Ausgestaltung der Erbfolge. Diese Aspekte bleiben in unserer Untersuchung außer Betracht. 30 Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 316. 26
A. Wechselseitiger Bezug von Vertragsrechtsordnung und Wettbewerbswirtschaft 133
Main hat entsprechende Entwicklungen im angelsächsischen Rechtskreis auf die oft zitierte Formel „from status to contract“ gebracht.31 Hiernach vollzieht sich in fortschrittlichen Rechtssystemen ein Übergang von der zwingenden Ausgestaltung von Rechtsverhältnissen nach persönlichen Merkmalen (dem „Status“) zu ihrer weitgehend freien Vereinbarkeit im Rahmen der für alle Bürger geltenden Grenzen (durch „Kontrakte“).32 Aufgrund negativer praktischer Erfahrung reifte in Deutschland schrittweise die Erkenntnis, dass ein unreguliertes Mehr an Freiheit nicht gleichbedeutend sein muss mit einer Zunahme der Chancen auf einen Vertragsschluss in beiderseitiger Selbstbestimmung, wie er der Idee nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit zugrunde liegt („level playing field“33). Unter bestimmten Voraussetzungen kann es deshalb geboten sein, die Freiheit eines Marktteilnehmers zu Gunsten der Freiheit eines anderen Marktteilnehmers einzuschränken, um dadurch die Chance auf beiderseitige Selbstbestimmung zu gewähren und zugleich die Funktionsbedingungen des Marktmechanismus zu erhalten.34 Im deutschsprachigen Raum arbeiteten neben Friedrich August von Hayek35 vor allem Franz Böhm36 und Walter Eucken37 die spezifisch marktbezogenen Aufgaben des Privatrechts im Allgemeinen und des Vertragsrechts im Besonderen heraus. Hierzu betrachteten sie das Privatrecht nicht allein aus einer individualistischen Sichtweise, sondern auch in seinen institutionellen Wirkungen auf die ökonomische und soziale Wirklichkeit und damit in seiner „Ordnungsfunktion“.38 Die Arbeiten von Eucken und Böhm hatten historisch nicht nur erheblichen Einfluss auf die Etablierung einer freiheitlichen Wettbewerbsordnung in Deutschland und den Europäischen Gemeinschaften. Sie sind auch heute noch für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Vertragsrecht und Wettbewerbsordnung unentbehrlich.39 Aus zivilistischer Sicht kommt Franz 31 Henry Sumner Main, Ancient Law, S. 141; siehe dazu Raiser, JZ 1958, 1, 2; Rehbinder, in: FS Hirsch, 1968, S. 141 ff.; Bruns, JZ 2007, 385 ff.; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, S. 6 ; Mohr, AcP 204 (2004), 660, 661. 32 Nietsch, AcP 210 (2010), 722, 723. 33 Kurth, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2003, S. 341, 345. 34 So mit Blick auf den Schutz der Marktfunktionen Fornasier, Freier Markt, S. 15. 35 Von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1952, S. 9 ff. 36 Siehe etwa Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 129 f.; ders., ORDO 10 (1958), 167, 173. 37 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 275 ff., insb. 278; ders., Grundlagen der Nationalökonomie, 1. Aufl. 1940 (9. unveränderte Aufl. 1989), S. 52 ff., 240 ff.; Schmölders/ Eucken, Der Wettbewerb als Mittel volkswirtschaftlicher Leistungssteigerung und Leistungsauslese, 1942, S. 29, 43 f. 38 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 26 ff.; Böhm, ORDO 3 (1950), LI, wieder abgedruckt in: Mestmäcker (Hrsg.), Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 11 ff. Worin genau diese „Ordnungsfunktion“ liegt, in der Sicherung eines chancengleichen material-freien Vertragsschlusses oder in der Herstellung überindividuell-objektiver Gerechtigkeit, wird uns im Folgenden noch beschäftigen. 39 Ebenso Riesenhuber/ders., Selbstverantwortung, S. 1, 3 ff.
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Teil 3: Vertragstheorien
Böhm das besondere Verdienst zu, den grundlegenden Zusammenhang zwischen Vertragsfreiheit, Wettbewerbsfreiheit und subjektiven Rechten herausgearbeitet zu haben.40 So stellte Böhm ins Zentrum seiner wirkungsmächtigen Konzeption der Privatrechtsgesellschaft41 den „vollentgeltlichen schuldrechtlichen Austauschvertrag“ sowie die von ihm bewirkte dezentrale Steuerung der Marktprozesse.42 Die grundlegende Bedeutung der privatrechtlichen Grundlagen des Wettbewerbs für den Wohlstand der Bürger zeigt sich heute noch deutlich im internationalen Handelsverkehr.43
III. Begrenzung privatrechtlicher Institute durch die Wettbewerbsordnung Allerdings setzen nicht nur Markt und Wettbewerb funktionsfähige privatrechtliche Institute voraus. Die privatrechtlichen Institute wie Vertrag und Eigentum müssen auch selbst durch die Wettbewerbsordnung begrenzt werden; denn die individuellen Freiheitsgewährungen dürfen nicht so weit gehen, dass sie sich langfristig selbst wieder zerstören (Freiheitsparadoxon). Systemkonforme Begrenzungen der individuellen Freiheiten können sowohl aus den Freiheitsrechten anderer Marktteilnehmer als auch aus dem gesamtgesellschaftlichen Interesse an einer funktionierenden Wirtschaftsordnung als „Verstärkung des Individualschutzes“ abgeleitet werden (kompetitives Vertragsrecht).44 Eine schrankenlose Privatautonomie erlaubte es ansonsten, Wettbewerbsbeschränkungen durch privates Handeln zu legitimieren und gerichtlich durchzusetzen,45 wie dies in den ersten Jahrzehnten des Bürgerlichen Gesetzbuches in Deutschland zu beobachten war. Für das rechtlich-institutionelle Gefüge von Märkten sind neben dem Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen auch Rechtsmaterien wie das Vertragsrecht, das Unternehmens- und das Gesellschaftsrecht relevant.46 Anders als die letztgenannten Materien zielt das Wettbewerbsrecht jedoch (auch) auf eine als wünschenswert anzusehende Verfassung von Märkten ab, weshalb es häufig – zutreffend, aber verkürzt – als Marktordnungsrecht bezeichnet wird.47 Die spezifische Erkenntnis in die privatrechtskonstitutive Bedeutung eines Rechts ge40
Böhm, ORDO 17 (1966), 75 ff. Siehe dazu ausführlich Teil 4 D. I. 4. f). 42 Böhm, ORDO 17 (1966), 75, 94 ff.; siehe auch Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 52 ff. 43 G. P. Calliess/Mertens, RabelsZ 74 (2010), 463, 465. 44 MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 32; ders., in: FS Canenbley, 2012, S. 397, 401; Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, Rn. 1764; zur Diskussion im 19. Jahrhundert Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 13 ff. 45 MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 32. Ein berühmtes Beispiel ist die Entscheidung des RG zum Sächsischen Holzstoffkartell, vgl. RG vom 4.2.1897 – VI 307/96, RGZ 38, 155; siehe näher Teil 3 B. III. 1. b). 46 Kirchner, in: FS Ingo Schmidt, 1997, S. 33. 47 Ehricke, WuW 2011, 3; Kirchner, in: FS Ingo Schmidt, 1997, S. 33. 41
A. Wechselseitiger Bezug von Vertragsrechtsordnung und Wettbewerbswirtschaft 135
gen Wettbewerbsbeschränkungen setzte sich in Deutschland nur zögerlich durch. So enthielt das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 aus heutiger Sicht nicht nur unzureichende Regelungen des Rechts der Organisationen, sondern beachtete auch die „wettbewerblichen Voraussetzungen der Privatautonomie“ nicht ausreichend.48 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde anerkannt, dass ein freiheitliches Privatrecht kein selbsterhaltendes System ist, sondern der Sicherung durch ein funktionierendes Wettbewerbsrecht und – wo dieses aufgrund der ökonomischen Rahmenbedingungen nicht zureichend ist – durch ein Regulierungsrecht als sektorspezifischer Ausprägung bedarf.
IV. Zwischenergebnis und Ausblick Eine Marktwirtschaft setzt die Gewährung individueller wirtschaftlicher Freiheitsrechte voraus, da sich erst aus deren Gebrauch die Wettbewerbsprozesse ergeben. Da unbeschränkte Freiheiten nach historischer Erfahrung zu ihrer Selbstaufhebung tendieren,49 muss das Recht diese systemimmanent begrenzen. Hierzu dienen das Vertrags-, das Wettbewerbs- und das Regulierungsrecht. Diese Rechtsgebiete haben somit eine freiheitsgewährende und zugleich eine freiheitsbeschränkende Funktion: Sie gewährleisten nicht nur die „individu elle“ Willensherrschaft, sondern begrenzen diese auch mit Blick auf die gleichen Freiheitsrechte anderer Bürger. Hierin liegen – wie wir noch sehen werden – die inneren Aufgaben des Privatrechts, die nicht voneinander getrennt werden können. Das dogmatische Verständnis wird freilich dadurch erschwert, dass diese Rechtsgebiete zusätzlich von außen kommende, öffentlich-rechtliche Einschränkungen der Selbstbestimmung enthalten. Im Privatrecht sind dies etwa die Regelungen des sozialen Mieter- oder Arbeitnehmerschutzes, im Wettbewerbsrecht können Wettbewerbsbeschränkungen aus gesamtwirtschaftlichen Effizienzerwägungen erlaubt sein (Art. 101 Abs. 3 AEUV), und im Regulierungsrecht gilt dasselbe aus Gründen des Umwelt- und Klimaschutzes.50 Die letztgenannten Einschränkungen der Selbstbestimmung dürfen nicht dazu verleiten, den privatautonomen Interessenausgleich insgesamt durch heteronom vorgegebene Zwecke zu steuern. Geboten ist vielmehr eine differenzierte Betrachtungsweise, die das Primat individueller Selbstbestimmung ernst nimmt, ohne diese als Instrument zur Fremdbestimmung auszugestalten.
48 So
K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 171; Nörr, in: FS Böhm, 1995, S. 53, 56. Dazu noch für wirtschaftliche Macht Teil 3 B. III. 50 Siehe die garantierten, über dem Niveau wettbewerblicher Strommärkte liegenden Einspeisevergütungen für Strom aus erneuerbaren Energiequellen gem. den §§ 16 ff. EEG 2012. 49
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Teil 3: Vertragstheorien
B. Geltungsgründe des Vertrages zwischen formaler Selbstbestimmung und überindividuell-objektiven Zwecken Die rechtspolitische Grundorientierung des Privatrechtsgesetzgebers bewegt sich seit über 100 Jahren zwischen den beiden Polen eines rechtlich-formalen und eines material-faktischen Modells der Vertragsfreiheit.51 Sie ist immer auch ein Ausdruck des wechselnden politischen und gesellschaftlichen Grundverständnisses über die Notwendigkeit von „Vertragsfreiheit“ und „Vertragsgerechtigkeit“, im Sinne einer von Maß und Ziel getragenen Ausbalancierung „formaler Freiheitsethik“ und „materialer Verantwortungsethik“.52 Bei abstrahierender, notwendig vergröbernder Sichtweise entwickelten sich die Theorien des Vertrages und ihre Verknüpfungen mit dem Schutz des Wettbewerbs in unterschiedlichen zeitlichen Stufen, die im Folgenden grob umrissen werden sollen. Schon in diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass das tragende Grundprinzip des Vertrages in einer wettbewerblich organisierten Marktwirtschaft die Sicherung der chancengleichen Selbstbestimmung der Vertragspar teien sein muss. Ein materiales Freiheitsverständnis dient somit nicht als Werkzeug zur ungehinderten Verfolgung objektiv-überindividueller Zwecke, sondern als systemkonformes inneres Korrektiv des privatautonomen, auf der Zustimmung aller Betroffenen beruhenden Interessenausgleichs, um eine Übervorteilung der (wirtschaftlich) schwächeren durch die (wirtschaftlich) stärkere Vertragspartei zu verhindern.53 Ein ähnliches Schutzkonzept verfolgen – wie wir noch sehen werden – das Wettbewerbsrecht und das Regulierungsrecht mit dem Konzept des Ausbeutungsschutzes.
I. Das liberale Verständnis des Vertrages im Bürgerlichen Gesetzbuch des Jahres 1900 Zum Verständnis des Verhältnisses von Vertrag und Wettbewerb ist es unabdingbar, sich das historische Verständnis dieser Institute vor Augen zu führen. Beginnen wollen wir mit dem Vertrag. 1. Primat rechtlich-formaler Freiheit und Gleichheit der Bürger Das Bürgerliche Gesetzbuch des Jahres 1900 diente primär der Rechtseinheit Deutschlands, nicht der Veränderung der damals bestehenden tatsächlichen „Zustände“ durch Schaffung eines neuen Privatrechts.54 Auf der Grundlage der 51 So
Wagner, ZEuP 2007, 180, 190 f. Martinek, Vertragsrechtstheorie, unter II.; Kessal-Wulf/Martinek/Rawert (Hrsg.), Formale Freiheitsethik oder materiale Verantwortungsethik, 2005. 53 So zutreffend Bachmann, Private Ordnung, S. 2 23. 54 MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 32. Dem BGB gingen insoweit leidenschaft52
B. Geltungsgründe des Vertrages
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seit dem Jahr 1869 für den Norddeutschen Bund und seit 1871 für das Deutsche Reich geltenden Gewerbefreiheit 55 sollte es vor allem das Zunft- und Feudalrecht ablösen, das bis dahin den Wirtschaftsverkehr zwischen den einzelnen deutschen Partikularstaaten behindert hatte.56 Ausgehend von den Idealen der französischen Revolution basierte das Bürgerliche Gesetzbuch auf den allgemeinen Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit der Bürger, die es möglichst weitgehend in der rechtlichen Realität verankern wollte.57 Es war damit ein Kind der überwiegend liberalen Grundhaltung des 19. Jahrhunderts,58 wonach die Freiheit des Individuums das menschliche Zusammenleben bestimmen sollte,59 auch wenn es wohl zu weit ginge, das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 insgesamt als rechtlichen Ausdruck einer einheitlichen politischen und sozialen Tendenz einzustufen. 60 Im Hinblick auf unseren Untersuchungszweck handelt es sich dabei aber um ein primär semantisches Problem. Die überwiegend liberale Grundhaltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs spiegelte sich paradigmatisch im bereits einleitend thematisierten „Leitbild des vernünftigen, selbstverantwortlichen und urteilsfähigen Rechtsgenossen“61 als „Träger autonom erworbener Rechte und Pflichten“ wider, 62 das deutliche Parallelen zur in den Wirtschaftswissenschaften heute noch gebräuchlichen Verhaltensannahme des „homo oeconomicus“63 aufweist. Dieses zivilistische Leitbild basierte auf der Prämisse, dass die Individuen nicht nur hinreichend kompetent sind, um im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten selbst für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu sorgen. Die Individuen wurden auch für liche Debatten zwischen Traditionalisten und primär politisch motivierten Befürwortern der legislatorischen Autonomie des bürgerlich-freiheitlichen Nationalstaates voran; siehe Wrobel, Die Kontroverse Thibault-Savigny. Wagner (ZEuP 2007, 180 f.) beobachtet derzeit einen vergleichbaren Konflikt bei der Diskussion um Notwendigkeit und Ausgestaltung eines europäischen Privatrechts. Siehe aus sozialpolitischer Perspektive auch Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 165 ff. 55 Dazu Fezer, Lauterkeitsrecht, Bd. 1 Einl. E Rn. 4 f. 56 Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1, Tb. 1, 1995, S. 2 ; Kittner, Schuldrecht, Rn. 40; Mohr, AcP 204 (2004), 660 ff., auch zum Folgenden. Hierin zeigt sich eine Parallele zu den Grundfreiheiten des Unionsrechts, die auf Normen des Privatrechts anwendbar sind und ebenfalls auf die Herstellung eines „gemeinsamen Marktes“, hier des „Binnenmarktes“ abzielen; vgl. dazu Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 434. 57 Noch nicht im Vordergrund stand somit der dritte Grundsatz „Solidarität“. 58 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 36 ff. 59 Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 25; der klassische Liberalismus basierte im gesellschaftlichen Bereich auf dem Widerstand der Aufklärung gegen den Absolutismus und im wirtschaftlichen Bereich auf einem Gegenprogramm zum Merkantilismus, vgl. Siems, ZRP 2002, 170. 60 Das betont Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 479. 61 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 482; dazu Limbach, Der verständige Rechtsgenosse, 1977; Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 52; Rückert, JZ 2003, 749, 750; Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff. 62 Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1, Tb. 1, S. 3. 63 Vgl. Teil 4 C. III. 2. b) und Teil 4 D. II. 4.
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Teil 3: Vertragstheorien
befähigt gehalten, diese Kompetenz tatsächlich zu ihrem Vorteil auszuüben, indem sie z. B. vor einer Erwerbsentscheidung die dafür notwendigen Informationen sammeln, die Preise vergleichen und die sich bietenden Marktchancen aktiv nutzen. 64 Dem Bürgerlichen Recht kam vor diesem Hintergrund vornehmlich eine institutionelle Verfahrensdimension zu, die im Vertragsrecht ihren zentralen Ausdruck in den Prinzipien der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit fand. 65 Der darin zum Ausdruck kommende hohe Stellenwert einer rechtlich-formalen Privatautonomie lässt sich auf seine ideelle Bedeutung als Signum einer bürgerlichen Erwerbsgesellschaft zurückführen, die vom autoritären Staat wenn schon nicht die politische, so doch wenigstens eine weitgehend wirtschaftliche Freiheit zu erlangen suchte. 66 Gesellschaftstheoretisch stand hinter dieser Konzeption – wie wir schon einleitend gesehen haben – die klassische Hypothese, dass sich durch einen ungehinderten vertraglichen Einigungsprozess quasi automatisch („naturwüchsig“) eine soziale Harmonie im Sinne „gerechter Vertragsergebnisse“ herstelle. 67 Vor diesem Hintergrund sollte eine privatautonome Regelung grundsätzlich keiner anderen Rechtfertigung als derjenigen bedürfen, dass eine Vertragspartei sie gewollt habe, 68 dass die Regelung mit anderen Worten auf der formalen Zustimmung der Vertragsparteien beruhte.69 Damit wurden aus heutiger Sicht mehrere Probleme ausgeblendet: Zum Ersten kann ein Vertragsschluss zwar formal auf der Zustimmung einer Vertragspartei beruhen, aber material-faktisch Ausdruck von Unfreiheit sein. Zum Zweiten können von rechtlichen Regelungen nicht nur Wirkungen auf die Vertragsparteien, sondern auch negative Drittwirkungen auf andere Marktteilnehmer ausgehen. Zum Dritten wurden soziale Probleme wie Armut – entgegen einer auch heute noch vertretenen Sichtweise von der „sozialen Dimension des Privatrechts“70 – nicht dem Regelungsbereich des Privatrechts zugesprochen.71 Die theoretische Möglichkeit einer Verfolgung verteilungspolitischer Zwecke im Privatrecht, also der Verwirklichung der aristotelischen „iustitia distributiva“,72 wurde zwar durch-
64 Mit Bezug auf die Knappheitsannahme der Wirtschaftswissenschaften siehe Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 52 f. Angesprochen ist damit der Unterschied zwischen formaler und material-realer („innerer“) Freiheit. 65 E. Schmidt, JZ 1980, 153, 154; Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191. 66 So Reichold, JJZ 1992, S. 63, 68. 67 MünchKommBGB/Kramer, 5. Aufl. 2006, Vor § 145 BGB Rn. 2 ; Denkinger, AGB, S. 16. 68 Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 33. 69 Bachmann, Private Ordnung, S. 172 ff. 70 Zur Kritik an der liberalen Konzeption aus damaliger Sicht siehe Teil 3 B. I. 3.; aus heutiger Sicht Micklitz, Gutachten A zum 69. DJT 2012, S. A 117 und öfter. 71 Von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, S. 332 f.; ebenso Bydlinski/ Mayer-Maly/Reuter, Ethische Grundlagen, S. 105, 111 f.; ders., DZWiR 1993, 45, 47. 72 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Rn. 1130 b ff.; dazu Mohr, Schutz vor Diskriminierungen, S. 39 ff.
B. Geltungsgründe des Vertrages
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aus gesehen, jedoch auf das öffentliche Recht verwiesen.73 Im Vertrag sollte grundsätzlich nur der private Wille und nicht eine – je nach politischen Machtverhältnissen möglicherweise wechselnde – staatliche (Ideal-)Vorstellung verwirklicht werden.74 Das Vertragsrecht wurde damit zwar vom Erfordernis innerer Gerechtigkeit entlastet,75 da es sich bereits durch seine „prozedurale Rationalität“ legitimierte.76 Nach dem Grundsatz „volenti non fit iniuria“ wurde aber zugleich automatisch eine inhaltliche Richtigkeit des Vertrages in dem Sinne unterstellt, dass er grundsätzlich keiner weiteren Überprüfung bedürfe, auch wenn eine Partei wirtschaftlich mächtiger als die andere gewesen sein mag.77 Die richtige Ausübung der Willensherrschaft im Sinne des Leitbildes, dass gleich mächtige und unabhängige Vertragspartner den Vertragstext im Einzelnen aushandeln, sollte nur eine sittliche Pflicht sein,78 die allenfalls in den damals eng interpretierten Schranken des § 138 BGB rechtlich relevant wurde. Paradigmatisch sind Formulierungen wie „Qui dit contractuel, dit juste“79 und „stat pro ratione voluntas“,80 wonach bereits der formal übereinstimmende Wille der Parteien der entscheidende Grund einer Anerkennung und Durchsetzung des Vereinbarten durch die Rechtsordnung bilde.81 Man kann damit sagen, dass die Vertragsfreiheit nach Ansicht des historischen BGB-Gesetzgebers vornehmlich eine formal gleiche Kompetenz zur Vertragsgestaltung sicherte, ohne auf die tatsächlichen Auswirkungen privater Regelungen zu blicken, obwohl eine solche Sichtweise im Vertrag als Mittel zum Ausgleich privater Interessenkonflikte angelegt ist. 82 Auch ein freiheitliches Privatrecht kann sich nicht vor der Frage verschließen, welches die systemkonformen, dem Ideal der rechtlichen und tatsächlich-chancengleichen Selbstbestimmung83 am besten entsprechenden Regelungen sind.
73 Canaris, iustitia distributiva, S. 91 ff.; Lorenz/Picker, Karlsruher Forum 2004, S. 7, 20; Mohr, in: FS Adomeit, 2008, S. 477, 485; a. A. Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt-Universität, 2010, S. 981, 985. 74 Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 9. 75 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. 2, S. 327. 76 MünchKommBGB/Kramer, 5. Aufl. 2006, Vor § 145 BGB Rn. 2 ; siehe auch Reichold, JJZ 1992, S. 63, 78. 77 So Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 9 mit Fn. 6 . 78 Hönn, Gestörte Vertragsparität, S. 5 ; Singer, JZ 1995, 1133, 1137; Rittner, in: FS Sölter, 1982, S. 27, 29. 79 Fouillé, La science sociale contemporaine, S. 410; siehe auch MünchKommBGB/Kramer, 5. Aufl. 2006, Vor § 145 BGB Rn. 2. 80 So die klassische Formulierung von Flume, BGB-AT Bd. 2, S. 6 ; wichtige Ausnahmen: §§ 104 ff. BGB für geschäftsunfähige und beschränkt geschäftsfähige Menschen. 81 Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 8 . 82 MünchKommBGB/Kramer, 5. Aufl. 2006, Vor § 145 BGB Rn. 2. 83 Maunz/Dürig/Di Fabio, Art. 2 GG Rn. 2.
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Teil 3: Vertragstheorien
Entgegen missverständlicher Stellungnahmen im Schrifttum84 verfolgte der Gesetzgeber mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch des Jahres 1900 aber keine bestimmte ökonomische Konzeption. 85 Sein Menschenbild beruhte vielmehr auf Vorbildern aus dem römischen Recht und der darauf aufbauenden Pandektenwissenschaft, 86 die vom Leitbild freier und selbstverantwortlicher Bürger geprägt waren. 87 Gleichwohl werden aus der Kombination dieses Leitbildes mit der zentralen Stellung des Austauschvertrages deutliche Präferenzen der Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzesbuches für eine marktwirtschaftlich-freie Grundordnung erkennbar. Man ging mit der damals herrschenden liberalen „Mainstream-Ökonomie“88 davon aus, dass schon ein unreglementierter Wettbewerb die Anbieter zu ständiger Verbesserung der Produkte bei gleichzeitigem Bemühen um niedrige Preise zwinge. Vor diesem Hintergrund könne sich der Staat – neben der Gewährleistung einer formalen Rahmenordnung für den Abschluss von Verträgen – auf die Aufgaben des militärischen Schutzes, der inneren Sicherheit und der Bereitstellung öffentlicher Güter zurückziehen („Nachtwächterstaat“).89 Damit wurde nicht ausreichend beachtet, dass sich auf den Märkten im Zuge der Industrialisierung eine zunehmende Tendenz zur wirtschaftlichen Machtbildung offenbart hatte, sei es durch Bildung großer Kapitalgesellschaften oder von Kartellen.90 Den dadurch hervorgerufenen Gefahren für ein auf die Idee der Selbstbestimmung vertrauendes Privatrecht war das Bürgerliche Recht mit seinem „kleinmaßstäblichen Ansatz“,91 der noch weitgehend in vorindustriellem Denken verharrte, nicht gewachsen.92 Auch die – noch ausführlich zu schildernde93 – Rechtsprechung vernachlässigte die mit der Vermachtung der Märkte verbundenen Gefahren für eine freiheitliche Privatrechtsordnung.94 Berühmt ist eine Formulierung des RG in einer Entscheidung aus dem Jahr 1883, also noch vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die auch die nachfolgende Rechtsprechung des Gerichts charakterisiert: 95 84 Vgl. Reymann, Handels- und Verbraucherverträge, S. 261; Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 52 f. 85 Wie vorliegend Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. 86 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 40; Horn, NJW 2000, 40, 41; MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 23 87 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 482. Zu den römisch-rechtlichen Wurzeln des „abstrakten Personenbegriffs“ C. Möller, in: FU Berlin Fachbereichsschrift, S. 12, 13 und 20 f. 88 Siehe dazu noch Teil 4 C. III. und VII. 89 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 4. Buch, Kap. 2 , S. 371: „wie von einer unsichtbaren Hand geleitet“; vgl. auch Raiser, JZ 1958, 1, 2; E. Schmidt, JZ 1980, 153, 154 f.; Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 53. 90 Nörr, Eher Hegel als Kant, S. 12 f.; Biedenkopf, in: FS Böhm 1965, S. 113 ff. 91 Nörr, Eher Hegel als Kant, S. 12. 92 Biedenkopf, in: FS Böhm 1965, S. 113, 132. 93 Teil 4 B. III. 94 Vgl. Reichold, JJZ 1992, S. 63, 68. 95 RG v. 16.6.1883 – I 242/261/81, RGZ 11, 110; dazu Säcker, ZWeR 2008, 348.
B. Geltungsgründe des Vertrages
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„So wenig billig und gerecht nun auch diese Abwälzung einer [. . .] Haftung [. . .] sein mag und so sehr sie das natürliche Verhältnis verschieben mag, so fehlt es doch, mangels einer gesetzlichen Einschränkung der Vertragsfreiheit, in dieser Beziehung an der Möglichkeit, der betreffenden Vereinbarung die Gültigkeit zu versagen“.96
Es lässt sich die Konzeption des Bürgerlichen Rechts von 1900 somit durchaus mit bestimmten ökonomischen Theorien in Verbindung bringen, namentlich mit der individuell-freiheitlich interpretierten Wettbewerbstheorie Adam Smiths. 2. Überwiegen dispositiven Vertragsrechts In Ausfüllung seiner überwiegend liberalistischen Grundhaltung gab das Bürgerliche Gesetzbuch des Jahres 1900 den Bürgern noch überwiegend dispositive Regeln an die Hand,97 flankiert durch einzelne zwingende Vorschriften über die fehlende oder beschränkte Geschäftsfähigkeit nach den §§ 104 ff. BGB und die Anfechtung von Willenserklärungen wegen Irrtums gem. den §§ 119 ff. BGB.98 Als zentrale äußere Schranke der Vertragsinhaltsfreiheit fungierte neben § 134 BGB, wonach ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, im vom Normzweck geforderten Umfang nichtig ist,99 das Verbot des § 138 BGB von sittenwidrigen und wucherischen Rechtsgeschäften.100 Diese beispielhaft benannten Vorschriften spiegeln durchaus ein – wenn auch auf sehr wenige Regelungen beschränktes – materiales Vertragsprinzip wider, weshalb es nicht zutreffend wäre, das Vertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches aus dem Jahr 1900 insgesamt mit dem Grundsatz der (formellen) Privatautonomie und einem formellen Äquivalenzprinzip zu charakterisieren.101 Gleichwohl 96 Aus der Formulierung wird deutlich, dass das formelle Konzept der Vertragsfreiheit nach Auffassung des RG zu keiner sachgerechten Lösung führte, es jedoch nach seiner Ansicht an einer juristischen Handhabe zur Behebung des Funktionsdefizits fehlte, vgl. Denkinger, AGB, S. 24 Fn. 28; Säcker, ZWeR 2008, 348: „mehr resignierend als enthusiastisch“; siehe dazu auch schon Raiser, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 303. 97 Limbach, JuS 1985, 10 ff.; dies., KritV 1986, 165, 169; Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309, 312. 98 Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 88; siehe auch Raiser, JZ 1958, 1, 2. 99 Wie wir noch sehen werden, ist die Aussage, § 134 BGB beinhalte eine äußere Schranke der Vertragsfreiheit, ungenau. Es kommt entscheidend auf das Telos der Verbotsnorm an. Schränkt diese die Vertragsfreiheit aus überindividuell-objektiven Gründen ein, handelt es sich um eine äußere Schranke. Gestaltet die Verbotsnorm demgegenüber die inneren Schranken der Vertragsfreiheit im Sinne des Ideals material-chancengleicher Vertragsfreiheit aus, ist diese nicht als Außenschranke einzustufen. 100 Raiser, JZ 1958, 1, 2; Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191. Zur Bedeutung der zivilistischen Generalklauseln in der Kodifikation des Bürgerlichen Rechts siehe Staudinger/Eckpfeiler/Honsell, Einl. zum BGB Rn. 18. 101 Nur terminologisch anders MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 32; Busche, Kontrahierungszwang, S. 74: es habe sich um formales Vertragssystem mit singulären materiellen Korrekturen gehandelt.
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Teil 3: Vertragstheorien
kann man nicht die Augen davor verschließen, dass der historische BGB-Gesetzgeber weitgehend auf die Sicherstellung der Voraussetzungen für eine material-chancengleiche Selbstbestimmung verzichtet hat. Das zeigt sich retrospektiv etwa darin, dass er in § 138 Abs. 1 BGB keine Ordre-public-Klausel aufgenommen hat, mit der man wettbewerbsbeschränkende Verträge in Ermangelung eines Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen hätte als unwirksam einstufen können.102 Ein Missbrauch der Vertragsfreiheit wurde nur in engen Grenzen sanktioniert.103 Paradigmatisch ist das Verbot wucherischer Rechtsgeschäfte gem. § 138 Abs. 2 BGB als spezieller Ausprägung sittenwidriger Rechtsgeschäfte.104 Mit dieser Vorschrift wurde freilich eine jedenfalls in ihrer dogmatischen Grundstruktur auch noch heute gebräuchliche Lösung für eine inhaltliche Korrektur des Leistung-Gegenleistung-Verhältnisses von Verträgen vorgegeben, sofern dieses nicht durch die beiderseitige bewusste, aufgeklärte und freiwillige Zustimmung der Vertragsparteien gedeckt ist. Erste Voraussetzung eines Wuchers ist das Vorliegen eines Austauschgeschäftes; einseitige Rechtsgeschäfte wie eine Bürgschaft oder familienrechtliche Verträge werden somit nicht erfasst. Dieses Rechtsgeschäft ist sittenwidrig, wenn nicht nur ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegt, sondern zusätzlich noch eine Beeinträchtigung der materialen Entscheidungsfreiheit, indem der Vertrag durch die „Zwangslage, die Unerfahrenheit, den Mangel an Urteilsvermögen oder die erhebliche Willensschwäche“ des Bewucherten zustande gekommen ist.105 Beim Bewucherten muss somit ein „die rationale ökonomische Disposition behindernder Faktor“ gegeben sein.106 In diesen Merkmalen kommt der bewusste Verzicht des historischen Gesetzgebers auf eine isolierte materiale Angemessenheitskontrolle von Verträgen vergleichbar der gemeinrechtlichen „laesio enormis“ zum Ausdruck,107 wonach ein Vertrag allein bei einer angenommenen „objektiven“ Inäquivalenz von Leistung und Gegenleistung aufgelöst werden kann.108 Dies gründete maßgeblich auf der auch heute noch gültigen Erkenntnis, dass es in einer freiheitlichen Privatrechtsordnung nicht den einen objektiv zutreffenden Preis geben kann; es ist 102 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 481; MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 34. Allerdings sollten wettbewerbsbeschränkende Verträge „zumeist“ nichtig sein, vgl. dazu Mohr, WuW 2011, 112, 116. 103 Siehe die Nachweise bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 480 f. 104 Wucher ist ein Sonderfall der Sittenwidrigkeit gem. § 138 Abs. 1 BGB; vgl. Leenen, BGB-AT, § 9 Rn. 227. 105 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 287. 106 MünchKommBGB/Armbrüster, § 138 BGB Rn. 143. 107 Der Begriff entstammt nicht dem römischen Recht; vgl. Kaser, Das Römische Privatrecht II, S. 283 und 284. 108 Motive II, S. 321 f.; dazu Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 43; Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191, 1192; Heinrich (Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 297) weist darauf hin, dass die „laesio enormis“ deshalb auch nicht über § 138 Abs. 1 BGB eingeführt werden dürfe; a. A. Hönn, JZ 1983, 677, 682.
B. Geltungsgründe des Vertrages
143
vielmehr an den Parteien zu bestimmen, was für sie richtig ist. Ein „iustum pretium“ könnte vor diesem Hintergrund nur mit Blick auf die Interessen der Parteien selbst ermittelt werden.109 Wie wir noch sehen werden, folgt die Rechtsprechung dem Muster des § 138 Abs. 2 BGB de facto auch in Fallgestaltungen, die von dieser Norm nicht direkt erfasst werden. Paradigmatisch ist die noch zu schildernde Bürgschaftsrechtsprechung des BVerfG.110 3. Defizite beim Schutz des wirtschaftlich Schwächeren Die in ihrem Wesen liberalistische Konzeption des Bürgerlichen Rechts gab schon im Gesetzgebungsverfahren Anlass zu vereinzelter, wenn auch stimmgewaltiger Kritik.111 Diese gründete auf der im Grundsatz zutreffenden Beobachtung, dass ein formal freies und gleiches (Vertrags-)Recht in hierarchisch geprägten Sozialbeziehungen als Herrschaftsinstrument eingesetzt und damit missbraucht werden kann.112 In der Tat konnten in der damaligen Rechtswirklichkeit nur diejenigen Bevölkerungsschichten umfassend von den „Grundfreiheiten des Privatrechts“, namentlich der Vertrags-, Eigentums- und Vererbungsfreiheit tatsächlich Gebrauch machen, die zu den „beati possidentes“ gehörten.113 Für die meisten Bürger erwies sich die Anerkennung rechtlicher Freiheit und Gleichheit demgegenüber als „Danaergeschenk“.114 So bewirkte etwa die den „Großgrundbesitzern“ und „Fabrikeigentümern“ zugesprochene formale Vertragsfreiheit eine zuweilen existentielle materiale Ungleichheit von Bauern und Arbeitern.115 Es sei insoweit auf die wortgewaltige Kritik Otto von Gierkes verwiesen.116 109
Säcker, ZWeR 2008, 348, 358. BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89 u. a., NJW 1994, S. 36 ff. 111 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 470 f.; ausführlich Kaiser, Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung, S. 39 ff.; siehe auch Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 15 ff.; Mohr, AcP 204 (2004), 660, 661. 112 Reichold, JJZ 1992, S. 63, 68. Zur Sozialphilosophie Max Webers siehe Teil 1 A. II. 3. b) aa). 113 E. Schmidt, JZ 1980, 153, 155; Reichold, JJZ 1992, S. 63, 68. Nach Biedenkopf (in: FS Coing, Bd. II, 1982, S. 2, 24) gehörten bei Verabschiedung des „Reichsgesetzes der Invaliditäts- und Altersversicherung“ im Jahr 1889 ca. ein Viertel der deutschen Bevölkerung zu den „Proletariern und ihnen gleichzustellenden kleinen Angestellten“, von „deren Bedürftigkeit wir uns schlechterdings keine Vorstellung mehr machen können“. Und „für die Handwerker und Bauern spielte die Privatautonomie nur dann eine Rolle, wenn sie untereinander verkehrten. Im Verhältnis zu den Besitzenden dominierten Abhängigkeiten“. Biedenkopf folgert daraus, dass das BGB des Jahres 1900 zwar nicht rechtliches, aber „politisches Klassenrecht“ gewesen sei (a. a. O.). 114 Krause, JuS 1970, 313, 318. 115 Nörr, Eher Hegel als Kant, S. 13 f.; vgl. auch Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, S. 12 ff.; Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt-Universität Berlin, 2010, S. 981, 986. 116 Von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, S. 23; dazu Kaiser, Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung, S. 200 ff.; Adomeit, in: FS Kelsen, 1971, S. 9, 18. Zust. Martinek, Vertragsrechtstheorie, unter III. Die Wirkungsmächtigkeit der Thesen von Gierkes zeigt sich 110
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Teil 3: Vertragstheorien
Von Gierke wollte der „sozialen Aufgabe des Privatrechts“ durch staatliche Intervention in das Vertragsrecht zur Geltung verhelfen, wobei zwingende Vorschriften die zentrale Rolle spielen sollten. Zugleich sollte die von ihm gebildete Kategorie des „Sozialrechts“ dazu beitragen, die Dichotomie zwischen öffentlichem und privatem Recht zu überwinden.117 Im Zentrum der rechtspolitischen Diskussion über den „Schutz des Schwächeren im Privatrecht“ stand das – vorliegend nicht näher zu betrachtende – Arbeitsrecht.118 So erhob etwa Otto Sohm die Forderung, die Vertragsfreiheit einzuschränken, da der Staat die Arbeiter schutzlos „den Wechselfällen des freien Arbeitsvertrages preisgegeben habe“ und der Liberalismus „ununterbrochen an der Steigerung der wirtschaftlichen Ungleichheit arbeite“.119 Eugen Dühring wollte die Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht insgesamt durch zwingendes öffentliches Recht ersetzen, da die „Miethe der Arbeitskraft“ letztlich „ein Verhältnis der Halbsklaverei“ sei. Nur auf diesem Wege sei „jede privatökonomische Machtbildung“ auszuschließen.120 Auch im allgemeinen Privatrecht wurden Probleme einer formalen Freiheitsethik lokalisiert. Anton Menger kritisierte, dass das Sachenrecht als das „Recht der Besitzenden“ zwingend ausgestaltet sei,121 während im Schuldrecht, in dem sich die Erhebung „arbeitslosen Einkommens“ durch die besitzenden Klassen gegenüber den Besitzlosen vollziehe, dispositives Recht überwiege, das in der Rechtswirklichkeit regelmäßig zu Lasten Letzterer abbedungen werde.122 Die vorstehende Kritik führte zunächst aber nur zu § 618 BGB mit der unabdingbaren Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, durch Otto von Gierke abschätzig als „Tropfen sozialen [bzw. sozialistischen, der Verf.] Öls“ bezeichnet.123 Das Mietrecht sah – abgesehen vom Grundsatz Kauf bricht nicht Miete in den §§ 571, 580 BGB – demgegenüber keinerlei Mieterschutz vor, während dem Vermieter eine durch Pfand- und Selbsthilferechte abgesicherte starke Rechtsposition zugesprochen wurde.124 paradigmatisch daran, dass sich Franz Wieacker auf sie in seinem berühmten Karlsruher Vortrag berufen hat (Wieacker, Sozialmodell, S. 13 f.). Kritisch demgegenüber Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 17: undifferenzierte Äußerung. 117 Repgen, Soziale Aufgabe, S. 491 ff.; Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 5 4; Renner, Zwingendes transnationales Recht, S. 27. 118 Vgl. ausführlich C. Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, S. 129 ff. 119 Sohm, Die sozialen Pflichten der Gebildeten, S. 13 und 17; zitiert nach Kaiser, Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung, S. 203. 120 Dühring, Cursus der Philosophie, S. 282. 121 Zur Begründung Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 250 ff. 122 Menger, Das Bürgerliche Gesetzbuch und die besitzlosen Volksklassen, S. 144; dazu Kaiser, Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung, S. 205 ff.; Willrodt von Westernhagen, Recht und soziale Frage, S. 1 ff. 123 Von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, S. 23; vgl. hierzu auch Mertens, JuS 1971, 508, 511. Etwas nachsichtiger die Bewertung von Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 470: „beschränktes Maß sozialer Aufgeschlossenheit, das dem Gesetzgeber nach dem Geist der Zeit möglich war“. 124 Martinek, Vertragsrechtstheorie, unter III.
B. Geltungsgründe des Vertrages
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4. Zwischenfazit Die wohl wichtigste Leistung des Bürgerlichen Gesetzbuchs des Jahres 1900 lag in der Überwindung der deutschen Rechtszersplitterung, also in der kodifikatorischen Vereinheitlichung verschiedener Rechtskreise.125 Dass eine solche Kodifikation auf relativ knappem Raum und mit relativ wenigen Zugeständnissen an Vertreter von Partikularinteressen gelang, ist wohl nicht nur auf die damals vorherrschende allgemeine Euphorie über die politische Einheit Deutschlands zurückzuführen, sondern auch auf den hohen wissenschaftlichen Standard ihrer Schöpfer.126 Die unbestreitbaren Verdienste bei der Kodifikation des Bürgerlichen Rechts wurden allerdings „erkauft“ durch den Verzicht auf ein ausgebautes Schutzrecht vor „wirtschaftlicher“ und „sozialer“ Macht. Zwar hatte sich die „soziale Frage“ bereits parallel zu den Beratungen der 1. Kommission offenbart. Man wollte die erreichten Ergebnisse jedoch nicht durch die Diskussion weiterer Problembereiche gefährden, ohne damit – wie zuweilen unterstellt wird – die schon im römischen Recht anerkannte Notwendigkeit eines besonderen Schutzes bestimmter Personengruppen127 generell in Abrede zu stellen.128 Dies zeigt ein Blick auf sondergesetzlich statuierte spezifische Schutzrechte.
II. Erste sondergesetzliche Regelungen zur Kompensation vertraglicher Ungleichgewichte Der Privatrechtsgesetzgeber reagierte auf die ungleiche Verteilung der tatsächlichen Grundlagen der Freiheitsausübung entsprechend der „arbeitsteiligen Konzeption“129 des Bürgerlichen Rechts über viele Jahrzehnte hinweg vor allem durch sondergesetzliche Regeln. Schon seit 1869 – also lange vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs – hatte er in der Gewerbeordnung (Norddeutscher Bund) die Vertragsfreiheit durch zwingendes Recht eingeschränkt.130 So schrieb die GewO in ihrem § 1 nicht nur das grundsätzliche Recht eines jeden fest, ein Gewerbe zu betreiben, sondern enthielt auch „im Interesse der Wohlfahrt der arbeitenden Klassen“ Einschränkungen der in § 105 GewO normierten Vertragsfreiheit im Verhältnis selbstständiger Gewerbetreibender zu den gewerblichen Arbeitern. Als erstes, vom formalen Prinzip der Vertragsfreiheit Abstand nehmendes Verbraucherschutzgesetz trat im Jahr 1894 das Abzahlungsgesetz in Kraft, das vor allem dem Schutz von Käufern einer beweglichen Sache unter Eigentums125 Vgl.
Schmoekel, NJW 1996, 1697, 1702. Schmoekel, NJW 1996, 1697, 1702; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 474. 127 C. Möller, in: FU Berlin Fachbereichsschrift, S. 12, 20 f., zum Schutz von Frauen und Minderjährigen. 128 Wie vorliegend Schulte-Nölke, Reichsjustizamt, S. 353; Wagner, ZEuP 2007, 180, 181 f. 129 Rückert, JZ 2003, 749, 751 und 755. 130 Zum Folgenden bereits Mohr, AcP 204 (2004), 660, 663 f. 126 Vgl.
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Teil 3: Vertragstheorien
vorbehalt diente,131 insbesondere von Kleingewerbetreibenden, die im Wege des Abzahlungskaufs ihre Produktionsmittel finanzieren wollten.132 Der Schutz wurde deshalb nach § 8 AbzG versagt, „wenn der Empfänger der Ware als Kaufmann in das Handelsregister eingetragen“ war.133 Allerdings fehlte dem AbzG ein einheitliches dogmatisches oder rechtspolitisches Konzept, das seinen „Ausnahmecharakter“ legitimiert und zukünftige Maßnahmen vorhersehbar gemacht hätte.134 Es lässt sich gleichwohl im Sinne einer normativen Anerkennung des Umstandes deuten, dass eine überwiegend formal verstandene Vertragsfreiheit nicht zwangsläufig einen gerechten Ausgleich zwischen den Vertragsparteien herbeiführt und deshalb im Einzelfall durch besonderes Schutzrecht ergänzt werden muss.135 Die Schwierigkeit liegt freilich nicht in dieser Erkenntnis begründet, sondern in der Identifikation der Situationen, in denen ein Schutz geboten ist. Ein ausdifferenzierteres Schutzmodell verfolgte der Gesetzgeber mit dem 1908 erlassenen Versicherungsvertragsgesetz.136 Da beim Versicherungsvertrag der Versicherte im Allgemeinen der schwächere Vertragsteil sei, müssten seine Interessen durch (halb-)zwingende Normen geschützt werden; die „Feinsteuerung des Versicherungsschutzes“ obliege zusätzlich der präventiven Aufsicht der Versicherungsbehörden.137 Insbesondere aufgrund der während des Ersten Weltkriegs entstandenen Notlage auf dem Wohnungsmarkt wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch auch der soziale Mieterschutz intensiviert.138 Etwa zeitgleich setzte die Gesetzgebung zum Schutz der Arbeitnehmer ein.139 Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Vertragsfreiheit durch eine Vielzahl weiterer staatlicher Zwangsmaßnahmen zur Bewirtschaftung der wichtigsten Produktions- und Verbrauchsgüter eingeschränkt.140 Auf diese müssen wir vorliegend 131 Tonner, JZ 1996, S. 533, 536. Die zahlenmäßige Zunahme des Kaufes unter Eigentumsvorbehalt war weniger einer Verarmung der Bevölkerung geschuldet als vielmehr der Massenproduktion von Gütern, der Erschließung neuer Käuferschichten durch die verkehrsmäßige Anbindung des Landes an die Städte sowie der Entdeckung neuer Vertriebsformen (Existenz18 f.; gründung ohne Anfangskapital), vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. Benöhr, ZHR 138 (1974), 492, 494 f. Allerdings schützte das Abzahlungsgesetz nicht nur Verbraucherinteressen: vgl. Drexl, a. a. O., S. 18. Es wurde abgelöst durch das Verbraucherkreditgesetz vom 17.12.1990 (Medicus, JuS 1996, S. 761, 766), das mittlerweile wiederum im BGB aufgegangen ist. 132 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 18; a. A. Eichenhofer, JuS 1996, 859, 860: Zweck des Gesetzes sei der Verbraucherschutz gewesen. 133 Faber, ZEuP 1998, 854, 856, insb. Fn. 5. 134 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 18. 135 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 35. 136 Roth, JZ 2001, 475, 476; zur Bewertung MünchKommVVG/Lorenz, Einl. Rn. 8 . 137 Roth, JZ 2001, 475, 476 m. w. N. 138 Bruns, JZ 2007, 385, 386; Paschke, Wohnraummiete, S. 19 ff. 139 MünchArbR/Richardi, § 3 Rn. 7 ff.; Kaiser, Vertragsfreiheit und Gesellschaftsordnung, S. 4 ff., 67 ff. 140 Raiser, JZ 1958, 1, 2.
B. Geltungsgründe des Vertrages
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nicht vertieft eingehen. Bedeutsam ist vielmehr die Erkenntnis, dass der Privatrechtsgesetzgeber durchaus die Notwendigkeit eines sozialen Schutzes bestimmter Bevölkerungsgruppen anerkannte, wohingegen er sich lange Zeit den spezifischen Problemen wirtschaftlicher Macht verschloss.
III. Historische Entwicklung der privatrechtlichen Behandlung wirtschaftlicher Macht Obwohl die ökonomischen Vorzüge wettbewerblicher Marktordnungen schon im 18. Jahrhundert durch Adam Smith hervorgehoben worden waren,141 fanden sich im deutschen Recht erstmals in der KartellVO des Jahres 1923 Regelungen über die rechtliche Behandlung der Wettbewerbsprozesse.142 Bis zu diesem Zeitpunkt musste sich die Rechtsprechung mit den Instrumenten des allgemeinen Privatrechts – nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs vor allem mit den §§ 138 Abs. 1, 315 Abs. 3 BGB – behelfen, um private Wettbewerbsbeschränkungen zu domestizieren. Im Vordergrund der gerichtlichen Kontrolle standen zunächst wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen („Kartelle“); erst später wurde der Blickwinkel auf unilaterale Wettbewerbsbeschränkungen durch Missbrauch einzel- oder kollektiv-marktbeherrschender Stellungen von Unternehmen erweitert. Die Rechtsprechung des RG war dabei lange von einem formalen Verständnis der Vertragsfreiheit geprägt. Erst in seinen Entscheidungen zur Sittenwidrigkeitskontrolle von durch Übermacht durchgesetzten Vereinbarungen bei Monopolstellungen ging das Gericht dazu über, der formalen Privatautonomie mit Hilfe des § 138 Abs. 1 BGB Grenzen zu setzen. Es tat dies jedoch nur in Fällen eines besonders schweren Marktmachtmissbrauchs, namentlich bei Gütern der Daseinsvorsorge, die unter den Bedingungen monopolistischer oder oligopolistischer Marktmacht angeboten wurden.143 Diese „Monopolrechtsprechung“ wird heute durch den BGH weitergeführt, der § 315 Abs. 3 BGB analog auf faktische Leistungsbestimmungsrechte anwendet, die eine Vertragspartei aufgrund einer Monopolstellung innehat.144 Sie ist deshalb aus dogmatischer Sicht besonders reizvoll, da sie den Wertungsgleichklang zwischen Wettbewerbsrecht und Privatrecht offenkundig macht.
141
Siehe dazu Teil 4 C. II.
142 MünchKommGWB/Säcker,
Einl. Rn. 1. schon RG v. 8.1.1906 – I 320/05, RGZ 62, 264; sodann etwa RG v. 1.10.1921 – I 325/21, RGZ 102, 396; vgl. dazu Säcker, ZWeR 2008, 348, 358; MünchKommBGB/Armbrüster, § 138 BGB Rn. 87. 144 Teil 4 B. III. 3. sowie Teil 10 C. II. 1. 143 So
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Teil 3: Vertragstheorien
1. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur „Kartellfrage“ a) Positive Bewertung wirtschaftlicher Macht Wie wir schon in Zusammenhang mit der ursprünglichen Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuchs gesehen haben, beruhte die Wirtschaftspolitik im 19. Jahrhundert weitgehend auf dem Grundsatz des „laissez faire“. Man war der Ansicht, dass sich eine zweckmäßige, natürliche und richtige Ordnung im Sinne der optimalen Produktion und der gerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen schon von selbst einstellen werde, sofern nur Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit bestehe.145 Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass auch die Rechtsprechung des RG von einer positiven Bewertung wirtschaftlicher Machtzusammenballungen durch Kartelle geprägt war.146 Heute bewerten wir Kartelle mit dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Art. 101 AEUV bzw. den §§ 1, 2 GWB i. V. mit § 134 BGB genau entgegengesetzt.147 Bereits in einer – nur knapp begründeten – Entscheidung aus dem Jahr 1890 billigte das RG (Rabatt-)Kartellvereinbarungen des Börsenvereins der deutschen Buchhändler: 148 Zwar sei ein Verstoß gegen die seit dem Jahr 1869 in § 1 GewO normierte Gewerbefreiheit zu erwägen, wenn es sich um eine Vereinigung von Personen handle, die „wegen eines spekulativen Zweckes dieser Einzelnen die Beherrschung des Marktes für eine Ware und die Unterbindung freier Betätigung wirtschaftlicher Kräfte, welche sich diesen Zwecken entgegenstellen könnten, zum Gegenstand“ habe. Aus dem Prinzip der Gewerbefreiheit folge allerdings „keine Unantastbarkeit des freien Spiels wirtschaftlicher Kräfte in dem Sinn, dass den Gewerbetreibenden der Versuch untersagt wäre, im Wege genossenschaftlicher Selbsthilfe die Betätigung dieser Kräfte zu regeln und von Ausschreitungen, die für schädlich erachtet werden, abzuhalten“. b) Die Entscheidung zum „Sächsischen Holzstoffkartell“ Für die folgenden Jahrzehnte wegweisend war das Urteil des RG zum sächsischen Holzstoffkartell aus dem Jahr 1897. In diesem Verfahren wurde das Gericht erneut mit der privatrechtlichen Reichweite des Prinzips der Gewerbefreiheit konfrontiert.149 In seiner ausführlich begründeten Entscheidung stufte das 145
Günther, WuW 1964, 111, 114.
146 Goldschmidt/Wohlgemuth/Vanberg,
Ordnungsökonomik, S. 43, 45. Differenziert zur Einordnung der Entscheidung im Sinne der damals vorherrschenden gesellschaftlichen Anschauungen R. Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, S. 115 ff.; Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, Rn. 410. 147 Zur Dogmatik des Kartellverbots siehe Teil 5 C. II., zum Verbotsgesetzcharakter Teil 9 D. 148 RG v. 25.6.1890 – I 96/90, RGZ 28, 238; vgl. Rittner, ZHR 160 (1996), 180. 149 RG v. 4.2.1897 – VI 307/96, RGZ 38, 155; Böhm, ORDO 1 (1948), 197, 198; Möschel, 70
B. Geltungsgründe des Vertrages
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RG „bezweckte“ Kartelle nicht als per se unzulässig ein, sondern untersagte lediglich bestimmte überschießende Praktiken und Wirkungen, was in der späteren Gerichtspraxis aber keine tragende Rolle spielen sollte.150 Damit ermöglichte es das Gericht den Kartellanten, mit Hilfe der Gerichte die interne Stabilität des Kartells zu sichern (sog. innerer Kartellzwang),151 wohingegen wir heute durch die sog. Kronzeugenregelungen versuchen, die Instabilität von Kartellen zum Zwecke der Rechtsdurchsetzung zu befördern.152 Aus privatrechtsdogmatischer Sicht ist bedeutsam, dass hiermit die formale Vertragsfreiheit gegenüber der auf der Gewerbefreiheit aufbauenden materialen Wettbewerbsfreiheit als vorrangig angesehen wurde,153 da sich Letztere nur auf „die freie Zulassung zum Gewerbe, nicht auf die Art der Ausübung desselben“ erstrecken sollte.154 Die Entscheidung bildete damit eine wesentliche Ursache für die zunehmende Vermachtung der Märkte,155 was Deutschland letztlich den zweifelhaften Ruf als das „Land der Kartelle“ einbrachte.156 Nach dem Sachverhalt der Entscheidung schlossen sich Sächsische Holz stoffindustrielle im Jahr 1893 vertraglich zu einem „Sächsischen HolzstoffFabrikanten-Verband“ zusammen. Der Vertrag wurde für die Dauer von zweieinhalb Jahren geschlossen, eine vorzeitige ordentliche Kündigung war ausgeschlossen. Nach seiner Satzung hatte der Verband den Zweck, einen „verderblichen Wettbewerb“ der Fabrikanten für die Zukunft zu verhindern und einen „angemessenen Preis“ für das Fabrikat zu erzielen; es ging also um ein aus heutiger Sicht besonders verwerfliches Hardcore-Preiskartell (vgl. Art. 101 Abs. 1 lit. a AEUV). Zur Umsetzung errichteten die Mitglieder eine gemeinsame Verkaufsstelle und verpflichteten sich, ihre Verkäufe allein über die Verkaufsstelle abzuwickeln und im Falle eines Verstoßes gegen diese Pflicht eine Vertragsstrafe zu zahlen. In den Jahren 1894 und 1895 tätigte ein Mitglied des Verbandes gleichwohl Direktverkäufe, weshalb es vom Verband auf die Vertragsstrafe in Anspruch genommen wurde. Es wehrte sich dagegen mit dem Argument, der Vertrag sei wegen Gesetzesverstoßes unwirksam.157
Jahre deutsche Kartellpolitik, 1972; R. Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, S. 89 ff.; Säcker, in: FS Canenbley, 2012, S. 397. 150 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 21. 151 Goldschmidt/Wohlgemuth/Vanberg, Ordnungsökonomik, S. 43, 45. 152 Siehe Teil 9 B. IV. 153 Strauß, in: FS Böhm, 1975, S. 603, 609; Willgerodt, ORDO 57 (2006), 47, 59. 154 Strauß, in: FS Böhm, 1975, S. 603, 610. 155 K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 179. 156 Goldschmidt/Wohlgemuth/Böhm/Eucken/Großmann-Doerth, Ordnungsökonomik, S. 27, 30; zur Einstufung Deutschlands als „Land der Kartelle“ siehe Böhm, ORDO 1 (1948), 197, 198 und 212; Meyn, GMH 1958, 280; Strauß, in: FS Böhm, 1975, S. 603, 609; Basedow, WuW 2008, 270; Säcker, in: FS Canenbley, 2012, S. 397, 398. 157 Es handelt sich also um einen „defensiven Kartellprozess“, vgl. Teil 1 B. V.
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Teil 3: Vertragstheorien
Da sich der Fall noch vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahr 1900 ereignete, konnte das RG nicht auf § 138 BGB zurückgreifen.158 Es prüfte den Kartellvertrag deshalb auf seine Vereinbarkeit mit dem Prinzip der Gewerbefreiheit, die in Preußen seit 1810 galt und seit 1869 in § 1 GewO (Norddeutscher Bund) normiert war.159 Dabei differenzierte es zwischen einem Schutz der Interessen der Gesamtheit und den Interessen der einzelnen Marktteilnehmer; 160 heute sprechen wir vom Zielkonflikt zwischen Individual- und Institutionsschutz. Die Begründung der Entscheidung kann aus heutiger Sicht jedoch nicht überzeugen: 161 Zum Ersten stützte sich das RG auf das damals herrschende nationalökonomische Schrifttum, das Kartellen trotz der von diesen ausgehenden Vermachtung der Märkte zu Lasten der Wettbewerber und der Marktgegenseite und damit zu Lasten der Privatrechtsidee auch dann positive ökonomische Wirkungen zuerkannte, wenn es sich um Hardcore-Beschränkungen wie Preis-, Gebiets- oder Mengenabsprachen handelte. Nicht ausreichend gewürdigt wurden damit die negativen Drittwirkungen der Kartellabsprache auf die wirtschaftliche Selbstbestimmung anderer Marktteilnehmer und auf das Privatrechtssystem im Ganzen.162 Organisationen und damit auch Kartelle galten nach der sog. Stufentheorie der historischen Schule der Nationalökonomie gegenüber einer rein individualistischen Wirtschaftsbetätigung als geschichtlich unausweichliche höhere Organisationsformen.163 Vor diesem Hintergrund wurde es nicht nur als im Interesse des Einzelnen, sondern auch als in demjenigen der Gesamtheit liegend angesehen, wenn in einem Gewerbezweig nicht dauerhaft ein „unangemessen niedriges Preisniveau“ herrsche.164 Bei „sachge158
Dazu mit Blick auf die damalige Situation kritisch Böhm, ORDO 1 (1948), 197, 201. RG v. 4.2.1897 – VI 307/96, RGZ 38, 155, 156; dazu Meyn, GMH 1958, 280 ff. 160 RG v. 4.2.1897 – VI 307/96, RGZ 38, 155, 156. 161 Vgl. zum Folgenden auch Nörr, in: FS Gernhuber, 1993, S. 919, 922 f. 162 RG v. 4.2.1897 – VI 307/96, RGZ 38, 155, 156 f.; zur Bewertung siehe Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 271 f. 163 Wichtigster Vertreter der (jüngeren) historischen Schule war Gustav von Schmoller. Krit. zum deutschen nationalökonomischen Historizismus Goldschmidt/Wohlgemuth/ Böhm/Eucken/Großmann-Doerth, Ordnungsökonomik, S. 27, 32 ff.; siehe auch Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 144; ausführlich – auch zur heutigen Bedeutung – Blümle/Goldschmidt, Schmollers Jahrbuch 126 (2006), 197 ff.; Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 219 ff. Wenn man von einer Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung ausgeht, fühlt man sich ggf. von der Notwendigkeit enthoben, die gebotenen Maßnahmen der Wirtschaftsordnung zu treffen; dies betont Goldschmidt/Wohlgemuth/Lenel, Ordnungsökonomik, S. 323, 331. 164 Diese Überlegung gilt heute als überwunden. Auch das Verbot von Behinderungsmissbräuchen durch „Kampfpreise“ basiert nicht etwa auf der Überlegung, dass diese dauerhaft zu einem „unangemessen niedrigen Preisniveau“ zu Gunsten der Verbraucher führten. Vielmehr beinhaltet das Verbot von Kampfpreisen den (abstrakten) Gefährdungstatbestand, dass sich das marktmächtige Unternehmen nach Verdrängung seiner Mitbewerber durch antikompetitiv überhöhte Preise bei den Verbrauchern „refinanzieren“ wird. Siehe dazu EuGH v. 27.3.2012 – C 209/10, EuZW 2012, 540 – Dänische Post. Im Regulierungsrecht stellt sich die Problematik „zu niedriger Entgelte“ etwa bei den dauerhaft nicht beeinflussbaren Kosten i. S. des § 11 159
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rechter Anwendung“ seien Kartelle und Syndikate „besonders geeignet“, der „ganzen Volkswirtschaft durch Verhütung unwirtschaftlicher, mit Verlusten arbeitender Überproduktion und der an diese sich knüpfenden Katastrophen Nutzen zu schaffen“.165 Auf einen tatsächlichen Nachweis der behaupteten positiven volkswirtschaftlichen Wirkungen des Kartells, wie er heute von Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB verlangt wird, verzichtete das RG.166 Zum Zweiten rechtfertigte das RG – aus heutiger Sicht unzulässige, da nicht nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB freigestellte – Kartelle unter Verweis auf seine Rechtsprechung zur Zulässigkeit „ancilliarischer“, d. h. „dienender“ Wettbewerbsverbote, die zu ihrer Wirksamkeit zwar einer räumlichen und zeitlichen Einschränkung bedürften, aber ebenfalls nicht generell unzulässig seien.167 Es stellte zwar – insoweit zutreffend – fest, dass der einzelne Marktteilnehmer seine subjektive Gewerbefreiheit im Rahmen eines Austauschvertrages beschränken könne, da dies für die Durchführung desselben notwendig sei („pacta sunt servanda“). Das RG zog hieraus jedoch den unzutreffenden Schluss, dass für einen Kartellvertrag, der eine Wettbewerbsbeschränkung zum Hauptgegenstand habe, nichts anderes gelten könne. Hierdurch hat es nicht nur das Wesen ancilliarischer Wettbewerbsverbote verkannt, die in einer der Selbstbestimmung der Individuen verpflichteten Privatrechtsordnung nur insoweit zulässig sein können, als sie zur Durchführung eines wettbewerbsrechtlich unbedenklichen Austauschvertrages notwendig sind.168 Es hat auch die von dem Kartell faktisch negativ betroffenen Drittinteressen nicht in seine Überlegungen mit einbezogen, wie es dem Schutzzweck eines Kartellverbots in einer marktwirtschaftlich-freiheitlichen Wirtschaftsordnung entspricht.169 Die Entscheidung markierte damit einen wesentlichen Meilenstein im Rahmen einer Entindividualisierung der Gewerbefreiheit und der Privatautonomie.170 Im Ergebnis sprach das RG der Vertragsfreiheit der Kartellanten einen Vorrang vor der – aus heutiger Sicht nicht als Gegensatz zu verstehenden – Wettbewerbsfreiheit der Konkurrenten und dem Schutz der Verbraucher vor Ausbeutung zu.171 So sollte sich die Wettbewerbsfreiheit nur auf „die freie Zulassung Abs. 2 Nr. 9 ARegV: zwar wirken sich „zu hohe“ Tarifabschlüsse durch Arbeitgeber(verbände) und Gewerkschaften finanziell zu Lasten der Verbraucher aus. Diese werden jedoch qua Wertentscheidung des Gesetzgebers hingenommen. Siehe auch die Problematik des „Vivento-Defizits“ der Deutschen Telekom als „neutrale Aufwendung“ i. S. des § 32 Abs. 2 TKG; dazu Säcker/Groebel, § 32 TKG Rn. 42 mit Fn. 59. 165 RG v. 4.2.1897 – VI 307/96, RGZ 38, 155, 157. 166 Sehr krit. deshalb Böhm, ORDO 1 (1948), 197, 206 ff., der dem RG offenen Gesetzesungehorsam vorwarf (S. 211). 167 RG v. 4.2.1897 – VI 307/96, RGZ 38, 155, 158 f.; dazu R. Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, S. 59 ff. 168 Vgl. dazu bereits Mohr, WuW 2011, 112 ff. 169 K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 181; siehe ausführlich Teil 5 C. 170 Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 9. 171 Strauß, in: FS Böhm, 1975, S. 603, 609.
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zum Gewerbe und nicht auf die Art der Ausübung desselben“ erstrecken.172 Franz Böhm hat diese Sichtweise in seinem Werk „Wettbewerb und Monopolkampf“ aus dem Jahr 1933 zu Recht kritisiert.173 Für ihn war die Einführung der Gewerbefreiheit durch die Gewerbeordnung von 1869 „ein Akt wirtschaftsrechtlicher Verfassungsänderung“, wodurch die alte Herrschaftsordnung durch eine „herrschaftsfreie Sozialordnung“ ersetzt worden sei. Die Gewerbeordnung enthielt für Böhm eine „verfassungsrechtliche Gesamtentscheidung“ im Sinne einer offenen Absage der Wirtschaftsgesetzgebung an das Herrschaftsprinzip, eine „allgemeine Proklamation der herrschaftsfreien Wirtschaftsverfassung“. Hätte der Gesetzgeber des Jahres 1869 die spätere Entwicklung der Rechtsprechung vorausgesehen, so würde er nach Böhm „ausgesprochen haben, dass dem Grundsatze der echten Konkurrenzfreiheit der unbestrittene Vorrang gebühre vor dem Grundsatze der Vertragsfreiheit und vor dem Grundsatz der allgemeinen zivilrechtlichen Handlungsfreiheit“.174 Die Entscheidung des RG zum Sächsischen Holzstoffkartell führte in der Folgezeit zu einer stark vermehrten Bildung von Kartellen,175 da auch auf politischer Ebene keine durchgreifenden Gegenkräfte vorhanden waren.176 So zählte man in Deutschland bereits im Jahr 1905 knapp 400 festgefügte Kartelle.177 Der Gesetzgeber ging davon aus, dass es keiner spezifischen rechtlichen Regelung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen bedürfe, da Kartelle bereits durch Gegenkräfte wie die Außenhandelskonkurrenz, die Außenseiterkonkurrenz, Fliehkräfte innerhalb eines Kartells sowie durch die allgemeine Rechtsordnung zureichend in Grenzen gehalten würden.178 Vergleichbar wurde später etwa auf der Grundlage des Konzepts „gegengewichtiger Marktmacht“ argumentiert.179 Im Regulierungsrecht zeigen sich ähnliche Argumentationsansätze heute noch mit Blick auf das – theoretisch bedeutsame – Konzept der „contestable markets“.180 Mit dem Reichskaligesetz von 1910 wurde ein privatautonom begründetes Hardcore-Kartell – konkret ging es um ein Kontigentierungs172
Strauß, in: FS Böhm, 1975, S. 603, 610. Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 127 ff. 174 Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 129. 175 Günther, WuW 1964, 111, 114. 176 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 2 2. 177 Möschel, in: FS Pfeiffer, 1988, S. 707, 709. Im Jahr 1925 wurde die Anzahl der Kartelle vom Reichswirtschaftsministerium auf 2.500 geschätzt, vgl. Günther, in: FS Böhm zum 80. Geburtstag, 1975, S. 183 f. 178 Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 14 Rn. 12; ausführlich Großfeld, ZHR 141 (1977), 442 ff. 179 Grundlegend für oligopolistisch strukturierte Märkte Galbraith, Countervailing Power; ders., AER 44 (1954) No. 2, Papers and Proceedings, 1 ff. Krit. Günther, WuW 1964, 111, 114 und 118 f., wonach durch die Gruppenbildung sowohl die Antriebsfunktion des Wettbewerbs, als auch die Ordnungsfunktion im Sinne einer optimalen Steuerung der Produktion, als auch der Verbraucherschutz durch niedrige Preise beeinträchtigt würden; krit. aufgrund der dadurch entstehenden Marktverschlusswirkungen auch Biedenkopf, WuW 1968, 3, 6. 180 Siehe Teil 7 B. I. 1. 173
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und Preiskartell für die Kaliindustrie – sogar gesetzlich legitimiert, indem der Staat es unter seine Aufsicht stellte und damit ein „Kernelement eines neuen Wirtschaftstypus, den Typus der organisierten Wirtschaft“ begründete.181 c) Verbot des „Monopolmissbrauchs“ Auch nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahr 1900 wurden Kartelle nur dann als sittenwidrig im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB angesehen, wenn „besondere Umstände“ vorlagen, die über den Zusammenschluss der Gewerbetreibenden „zu dem in gutem Glauben verfolgten Zwecke“ hinaus gingen.182 Derart besondere Umstände waren insbesondere bei wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen bezüglich Gütern der Daseinsvorsorge anerkannt; 183 denn bei diesen war offenkundig, dass die Kartellanten ihre wirtschaftliche Handlungsfreiheit vor allem deshalb einschränkten, weil sie auf eine „monopolistische Beherrschung des Marktes“ abzielten.184 Demgegenüber lehnte das RG eine Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB bei „nicht lebensnotwendigen Gütern“ ab, da der Kunde sich der „Herrschaft des marktmächtigen Unternehmens“ durch ein Ausweichen auf andere Unternehmen oder den Verzicht auf den Erwerb entziehen könne.185 Dies kam de facto einer Legalisierung von „einfachen“ Kartellen und Monopolen gleich,186 auch weil ein Verstoß gegen § 134 BGB i. V. mit § 1 GewO als Verbotsgesetz gar nicht erst in Betracht gezogen wurde. Der Verzicht auf ein Kartellverbot zu Gunsten einer wirkungsschwächeren Ex-post-Missbrauchskontrolle wurde ergänzend damit gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber in § 138 Abs. 1 BGB keine Ordre-public-Klausel aufgenommen hatte.187 Dieses Argument kann aus heutiger Sicht nicht überzeugen, schon weil der Terminus der guten Sitten anders als derjenige der Sittlichkeit nicht auf ethische Grundsätze beschränkt ist, sondern auch auf die grundlegenden Prinzipien der Rechtsordnung bezogen werden kann.188 Zu diesen gehört im Privat181 RGBl. 1910, S. 7 75; dazu Nörr, ZSR-GA 108 (1991), 347 ff., insb. S. 355; Rittner, ZHR 160 (1996), 180, 181. 182 So bereits RG v. 4.2.1897 – VI 307/96, RGZ 38, 155, 158; siehe zur folgenden Rechtsprechung des RG R. Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, S. 185 ff.; Böhm, Die Justiz III (1928), 324, 329. 183 Siehe zum Monopolmissbrauch RG v. 15.12.1933 – VII 292/33, RGZ 143, 24, 28; dazu Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 54; MünchKommBGB/Armbrüster, § 138 BGB Rn. 87. 184 Liefmann, Kartelle und Trusts, S. 11. Hiervon zu unterscheiden war die Frage, ob die „Monopoltendenz“ zum Tatbestand gegen Kartelle gehört; dazu bereits Hempfing, Die Kartellverordnung, § 1 KartellVO I. a.). Aus heutiger Sicht ist dies eine Frage der Interpretation der Merkmale „bezweckte“ und „bewirkte“ Wettbewerbsbeschränkung. 185 Siehe schon RG v. 11.2.1888 – I 380/87, RGZ 20, 115. 186 Nörr, Republik der Wirtschaft, Teil 2, S. 82 mit Fn. 35. 187 Vgl. Nörr, in: FS Gernhuber, 1993, S. 919 ff. 188 Vgl. die Protokolle, S. 123; dazu Säcker, Gruppenautonomie, S. 212 ff.; aus heutiger Sicht MünchKommBGB/Armbrüster, § 138 BGB Rn. 12; Mohr, WuW 2011, 112 ff.
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recht insbesondere der Schutz der Entscheidungsfreiheit der Marktteilnehmer. Folglich wurde die Streichung der Ordre-public-Klausel in § 138 BGB vor allem damit begründet, dass ein die Gewerbefreiheit beeinträchtigender Vertrag wie ein vertragliches Wettbewerbsverbot „zumeist schon nach seinem Inhalt sittenwidrig“ sei.189 In dieser Formulierung kam durchaus der Wille des historischen Gesetzgebers zum Ausdruck, Rechtsgeschäften die Gültigkeit zu versagen, die gegen Grundprinzipien der Rechtsordnung wie die Gewerbe- bzw. Berufsfreiheit verstoßen.190 Eingriffe in die subjektive Gewerbefreiheit sollten allerdings differenziert anhand der bis dato ergangenen Rechtsprechung des RG zu ancillarischen Konkurrenzklauseln behandelt werden.191 Das Problem lag nun darin, dass diese Rechtsprechung von grundlegenden Missverständnissen über das Verhältnis von Vertrags- und Gewerbe- bzw. Wettbewerbsfreiheit geprägt war, welche die Diskussion lange Zeit geprägt und für dogmatische Verwirrung gesorgt haben.192 Hierauf ist in unserer Untersuchung aber nicht im Detail einzugehen.193 d) Ökonomische und rechtspolitische Gründe für die positive Bewertung wirtschaftlicher Macht Zusammenfassend lassen sich mehrere Ursachen dafür ausmachen, dass das RG einer Kartellierung der Wirtschaft grundsätzlich positiv gegenüberstand und nur offenkundig negative Auswüchse wie einen Missbrauch von Marktmacht bei Gütern der Daseinsvorsorge unterband: 194 Zum Ersten entsprach es einer damals vorherrschenden, nach heutiger Erfahrung unzutreffenden Lehre der Nationalökonomie, dass Kartelle einen historisch zwangsläufigen Übergang zu einer neuen, höheren Stufe der Wirtschaft beförderten.195 Selbst wenn das RG somit die wirtschaftliche Selbstbestimmung der von der Wettbewerbsbeschränkung negativ betroffenen Marktteilnehmer in seine Erwägungen mit einbezogen haben sollte, hat es die vermeintlich gesamtwirtschaftlich vorteilhaften Effizienz wirkungen von Kartellen als vorrangig angesehen. Zum Zweiten herrschte in der Gesellschaft damals eine kollektivistisch geprägte Grundanschauung vor (die sog. „Gemeinwirtschaft“196), die der wirtschaftlichen Tätigkeit von Organisationen einen „höheren Grad von Sittlichkeit“ gegenüber der189
Protokolle, Bd. 1. S. 124. Siehe den Bericht der Reichstagskommission über den Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches und Einführungsgesetzes, 1886, S. 41 f.; zitiert nach Säcker, Gruppenautonomie, S. 213 f. 191 Dazu Nörr, in: FS Gernhuber, 1993, S. 919, 920 f. m. w. N. 192 Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 17 mit Fn. 30. 193 Vgl. weiterführend Mohr, WuW 2011, 112, 117 ff. 194 Dazu Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 27 ff. 195 Krit. auch Mestmäcker, RabelsZ 60 (1996), 58, 62. 196 Rittner, ZHR 160 (1996), 180, 200, wonach „gemeinwirtschaftliche Vorstellungen“ ein Kontinuum in der deutschen Geschichte seien. 190
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jenigen der Individuen attestierte.197 Demgemäß sollte durch eine „rationale Organisation“ die „Anarchie des Marktes“ und damit zugleich die dominierende Rolle des Privatrechts überwunden werden.198 Zum Dritten fielen Kartelle in eine zeitliche Periode staatlicher Machtpolitik, weshalb sie zur Ausweitung der wirtschaftlichen Machtsphäre im Wettstreit der Nationen um die zunehmend in den Blick rückenden Weltmärkte eingesetzt werden sollten.199 Viertens ist in zeitlichem Zusammenhang mit dem Siegeszug der Kartelle ein Rückzug des Rechtsgedankens zu Gunsten einer Betonung des Zweckhaften und des Interessenaspekts zu beobachten, wie er vielleicht auch für den Utilitarismus prägend war.200 Auch vor diesem Hintergrund sprach man dem ökonomischen Nutzen von Kartellen eine größere Bedeutung zu als dem Schutz der individuellen Rechte der von einem Kartell negativ betroffenen Wettbewerber und Verbraucher. Parallelen zur heute geführten Diskussion um die Schutzzwecke des Kartellrechts, in der „das politische und ökonomische Denken mit ihrer Übermacht das Rechtsdenken immer mehr beiseite drängen“ (Rittner),201 sind nicht gänzlich fernliegend. Dasselbe gilt für die Beschränkung subjektiver Rechte der von einer Wettbewerbsbeschränkung negativ Betroffenen aus Gründen der vermeintlich größeren Effizienz staatlicher Rechtsdurchsetzung.202 2. Die Kartellverordnung des Jahres 1923 und ihre Rezeption in der Rechtsprechung a) Statuierung einer Ex-post-Missbrauchskontrolle Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurden bereits vor der „Kriegswirtschaft“ aufgenommene Überlegungen wiederbelebt, die deutsche Wirtschaft als eine „Gemeinwirtschaft“ zu organisieren, im Sinne eines „dritten Weges zwischen eigentumsrechtlicher Sozialisierung und Kapitalismus“.203 Ein wesentlicher Gesichtspunkt dieser Konzeption war die Ablehnung eines auf wirtschaftlicher Selbstbestimmung beruhenden Wirtschaftssystems.204 Die Idee der Gemeinwirtschaft setzte sich im politischen Diskurs – mit Ausnahme der Kaliwirtschaft – letztlich nicht durch. Die gemeinwirtschaftliche Organisation von
197 Vgl.
Richter, Wirkungsgeschichte des deutschen Kartellrechts vor 1914, S. 102 ff. So die Bewertung von Mestmäcker, RabelsZ 60 (1996), 58, 61. 199 Richter, Wirkungsgeschichte des deutschen Kartellrechts vor 1914, S. 107. 200 Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 29 f. 201 Rittner, ZHR 160 (1996), 180, 200. 202 So K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 188. 203 Rittner, ZHR 160 (1996), 180, 182. 204 Von Moellendorf, Deutsche Gemeinwirtschaft, 1916, S. 4 4 und öfter. 198
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Wirtschaftszweigen auch durch Kartelle und Syndikate205 wurde jedoch durch Art. 156 Abs. 2 WRV mittelbar verfassungsrechtlich legitimiert.206 Nachdem der Gesetzgeber im Ersten Weltkrieg Kartelle sogar als Lenkungsinstrumente der staatlichen Kriegsbewirtschaftung benutzt (Rathenau) und ihnen damit eine „integrierende wirtschaftspolitische Funktion“ zugesprochen hatte, 207 änderte sich in der Weimarer Zeit an der grundsätzlich positiven Beurteilung von Kartellen und damit verbunden an der Hinnahme privater wirtschaftlicher Machtpositionen zunächst nichts Wesentliches.208 Allerdings zeigten sich seit der Inflationszeit der Jahre 1922 und 1923 deutlich negative Auswirkungen wirtschaftlicher Machtgebilde auf die deutsche Volkswirtschaft.209 Auf den dadurch hervorgerufenen politischen Druck reagierte der Gesetzgeber mit der Verordnung gegen Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen („Kartellverordnung“ bzw. KartellVO) des Jahres 1923.210 Dieser Missbrauch manifestierte sich nach damals vorherrschender Ansicht vor allem in wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen.211 Die KartellVO war damit – trotz ihrer aus heutiger Sicht wohl allgemein konsentierten inhaltlichen Unzulänglichkeiten – das „first European competition law“.212 Der Gesetzgeber erachtete den spezifischen Regelungsbedarf von Kartellen in ihrem „Monopolcharakter“, also im Erlangen einer wirtschaftlichen Machtposition, 213 die es erlaubt, sich gegenüber den Wettbewerbern und der Marktgegenseite in nennenswerter Weise unabhängig zu verhalten. Gleichwohl untersagte er Kartelle nicht ex ante (§ 1 KartellVO), sondern verlieh den Kartellgerichten lediglich die Befugnis, Kartellverträge bei Gefährdung des Gemeinwohls oder der Gesamtwirtschaft – also nicht zum Schutz der individuellen wirtschaftlichen Selbstbestimmung – ex post für unwirksam zu erklären (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 KartellVO).214 Die KartellVO beschränkte sich somit auf eine Missbrauchskontrolle, die zudem die Kartellvereinbarung selbst und nicht deren negative Drittwirkungen auf andere Markt205 Ein Syndikat ist ein Kartell, bei dem die Verpflichtung der Vertragsbeteiligten durch gemeinsame Organisation (z. B. für den Einkauf oder für den Absatz) abgesichert ist; vgl. Gabler, Wirtschaftslexikon, Stichwort: Syndikat. 206 Die Norm ist abgedruckt bei Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 48. 207 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 545; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 22. 208 Nörr, in: FS Gernhuber, 1993, S. 919, 928 ff.; ders., Leiden des Privatrechts, S. 31 ff. 209 Günther, in: FS Böhm, 1975, S. 183 f.; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 23; Basedow, WuW 2008, 170, 171. 210 Verordnung gegen den Missbrauch privater Machtstellungen vom 2.11.1923, RGBl. 1923 I, 1067 ff. und 1090. Zur Auslegung kann auch auf die als Pressemitteilung veröffentlichte amtliche Begründung abgestellt werden, abgedruckt in Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 56 f. mit Fn. 83, sowie bei Haußmann/Hollaender, Kartellverordnung, S. 7 f. 211 Lukes, Kartellvertrag, S. 62. 212 So Gerber, in: FS Fikentscher, 1998, S. 654, 655 [im Org. ist competition law in Anführungszeichen gesetzt]. 213 Lukes, Kartellvertrag, S. 67 f. 214 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 23.
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teilnehmer in den Blick nahm. Damit einher ging eine teleologisch nicht gerechtfertigte Verengung des Kartellbegriffs, 215 die in ähnlicher Form in den ersten Jahren des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen unter der Überschrift „Gegenstandstheorie“ eine Renaissance feierte.216 Vergleichbare Eingriffsbefugnisse wie bei Kartellen sah die KartellVO für unilaterale Wettbewerbsbeschränkungen vor (§ 10 KartellVO). Auch hier ging es jedoch nicht um den Schutz vor unangemessenen Drittwirkungen, 217 sondern um gesamtgesellschaftlich negative Auswirkungen. Sowohl die Kartell- als auch die Missbrauchskontrolle blieben in der Rechtswirklichkeit aber ohne größere Wirkungen, schon weil zur Rechtsverfolgung ein Antrag des Reichswirtschaftsministers an das Kartellgericht erforderlich war.218 Eine gewisse praktische Bedeutung erlangte immerhin der gegen den „inneren Kartellzwang“ gerichtete § 8 KartellVO, wonach Kartellbeteiligte die Vereinbarung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes kündigen konnten.219 Aus heutiger Sicht wird diese Problematik bereits durch die Unwirksamkeit von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen behoben. Darüber hinaus ermöglichten die §§ 10, 4 Abs. 2 KartellVO eine Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen, sofern diese dazu geeignet waren, „unter Ausnützung einer wirtschaftlichen Machtstellung die Gesamtwirtschaft oder das Gemeinwohl zu gefährden“.220 Da die KartellVO wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen nicht per se untersagte, sondern lediglich eine Ex-post-Missbrauchskontrolle statuierte, 221 schützte sie die materiale Vertrags- und die Gewerbefreiheit der Marktbeteiligten aus heutiger Sicht nicht ausreichend.222 Aus wettbewerbspolitischer Sicht brachte sie gleichwohl einen nicht zu unterschätzenden Fortschritt, da sie erstmals eine spezialgesetzliche Ausgestaltung einer wettbewerblichen Marktordnung enthielt. Auch adressierte die KartellVO erstmalig den Organisationszwang von Kartellen und ebnete damit den Weg zur dogmatischen Differenzierung zwischen individueller und kollektiver Vertragsfreiheit.223 215
Lukes, Kartellvertrag, S. 117. BGH v. 17.12.1970 – KRB 1/70, WuW/E BGH, 1147, 1153; vgl. Säcker/Mohr, WRP 2011, 793, 794. 217 So die heutige Diktion. 218 Die KartellVO gewährte den von einer Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Marktteilnehmern keine eigenen subjektiven Klage- bzw. Antragsrechte; diese hatten nur dann ein subsidiäres Antragsrecht, wenn die zuständigen Behörden untätig blieben (§ 4 KartellVO). Vgl. Günther, in: FS Böhm, 1975, S. 185; Basedow, WuW 2008, 170, 171; Rittner, ZHR 160 (1996), 180, 183. 219 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 23. 220 Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 62; siehe bereits Böhm, Die Justiz III (1928), 324, 325. 221 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im rechtspolitischen Diskurs die Ansicht vertreten, eine Missbrauchsaufsicht über Kartelle vergleichbar der Rechtslage nach der KartellVO sei ausreichend; vgl. Mestmäcker, WuW 2008, 6, 9. 222 Ebenso Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 58 f.; siehe auch S. 6 4. 223 Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 65. 216
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b) Die „Benrather-Tankstellen-Entscheidung“ des Reichsgerichts Die KartellVO konnte die Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB nicht verdrängen, weil sie formen- und nicht handlungsorientiert verfasst war. Es hätte deshalb aus zivilistischer Sicht nahegelegen, wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen über § 138 Abs. 1 BGB für unwirksam zu erklären. Das RG nahm jedoch auch den Erlass der KartellVO nicht zum Anlass, von seiner grundsätzlich positiven Beurteilung von Marktmacht abzurücken.224 Hierfür hätte es sich zum einen auf die Wertungen des Art. 151 Abs. 3 WRV berufen können, der erstmals ein Grundrecht auf Gewerbefreiheit verbürgte.225 Zum anderen hätte es die KartellVO auch als Kritik des Gesetzgebers an der aus dessen Sicht zu nachsichtigen Rechtsprechung verstehen können.226 Erst durch die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 wurde das RG zu einem gewissen Richtungswechsel veranlasst, soweit es um Fälle der Kampfpreisunterbietung („predatory pricing“) ging, in heutiger Terminologie also um die missbräuchliche Behinderung der Wettbewerbschancen von Wettbewerbern („Behinderungsmissbrauch“).227 Richtungsweisend war der „Benrather Tankstellenfall“ des Jahres 1931, 228 in dem sich das RG auf das rechtliche Prinzip des Behinderungswettbewerbs als Gegenbegriff zum Leistungswettbewerb berief, um eine wettbewerbsbeschränkende Abrede von Mineralöllieferanten und gebundenen Tankstellen, eine sog. Benzinkonvention, zu verbieten. Obwohl es sich bei der Benzinkonvention um ein Kartell handelte, wurde dieses nicht vom formalen Kartellbegriff der KartellVO erfasst, da sich die Mitglieder „lediglich“ verabredet hatten, sich von Fall zu Fall abzustimmen.229 Darüber hinaus wurde die Benzinkonvention während des Rechtsstreits aufgelöst; die Mitglieder vereinbarten aber, sich über Preisveränderungen zu informieren.230 Selbst eine Subsumtion unter den Kartellbegriff der KartellVO hätte diesen Informationsaustausch nicht unterbunden, da die Preisunterbietung nach der Rechtsprechung des RG nicht der Präventivkontrolle des § 9 KartellVO unterlag.231 Der Fall war deshalb nur mit den Mitteln des Privatrechts zu lösen. Vorliegend blicken wir auf § 138 Abs. 1 BGB. Das RG erachtete in einem fortgesetzten Preisunterbieten allein noch kein rechtswidriges Mittel, da damit nur erreicht werden solle, dass der betroffene 224
Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 84 ff. Peukert, Güterzuordnung, S. 257 mit Fn. 87. 226 Nörr, Leiden des Privatrechts, S. 93. 227 Zur Abgrenzung zwischen Ausbeutungs- und Behinderungsmissbrauch siehe Teil 5 C. III. 1. 228 RG v. 18.12.1931 – II 514/30, RGZ 134, 342 ff.; Rittner, ZHR 160 (1996), 180, 183. 229 Derartig „abgestimmte Verhaltensweisen“ werden heute vom Tatbestand des Art. 101 AEUV bzw. des § 1 GWB erfasst; siehe statt anderer Immenga/Mestmäcker/Zimmer, § 1 GWB Rn. 92 ff. 230 Zur Unzulässigkeit identifizierender, gegen das „Selbstständigkeitspostulat“ verstoßender Preis- und Marktinformationssysteme Säcker, in: FS Canenbley, 2012, S. 397, 399. 231 Siehe dazu RG v. 9.1.1928 – VI 120/27, RGZ 119, 366, 369. 225
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Außenseiter seine Preise an diejenigen der Konvention angleiche. Hierin liege „keine Absicht zur Existenzvernichtung“. Dass dessen Freiheit zur Preisfestsetzung als selbstständiger Kaufmann aufgehoben werde, sei „in der jetzigen Zeit der Verbände, Tarifverträge und dergleichen“ hinzunehmen. Selbst das Ziel der Schaffung einer Monopolstellung, aus heutiger Sicht also eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung im engeren Sinne, erachtete das RG nicht als sittenwidrig. Wenn es die Handlungen der Benzinkonvention gleichwohl für unwirksam erklären wollte, musste es somit auf einen anderen Maßstab zurückgreifen. Es fand diesen in dem von Hans Carl Nipperdey – wenn auch mit anderem Zweck: Nipperdey war im Verfahren als Gutachter für die Konvention tätig – herausgearbeiteten Maßstab des (Nicht-)Leistungswettbewerbs. 232 In diesem Zusammenhang stellte das RG überzeugend auf das nicht hinzunehmende Machtgefälle zwischen dem Verband und dem einzelnen Außenseiter ab, ohne das Spannungsverhältnis zu seinen vorherigen, die individuelle wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen faktisch negierenden Ausführungen aufzulösen.233 Im Ergebnis legte das RG den Begriff der guten Sitten im Sinne eines wirtschaftlichen Ordre-public-Vorbehalts aus, indem es ein Verhalten für unwirksam erklärte, weil es gegen die grundlegenden Prinzipien der Wirtschaftsordnung verstoßen hatte.234 Wie wir noch sehen werden, ist dieser Gedanke auch heute noch fruchtbar, da er für einen Gleichklang der Wertungsmaßstäbe zwischen Wettbewerbsund Regulierungsrecht auf der einen Seite und dem allgemeinen Privatrecht auf der anderen Seite streitet. 3. Die Kontrolle einseitiger Vertragsgestaltungsmacht über § 315 BGB Neben § 138 BGB zeigte sich früh, dass auch § 315 BGB zur Inhaltskontrolle von Preisen verwendet werden kann. Nach allgemeinem Schuldrecht kann nur eine bestimmte oder bestimmbare Leistung Gegenstand einer rechtlichen Verpflichtung sein.235 Eine Leistung ist nach den gesetzlichen Vorgaben aber schon dann ausreichend bestimmbar, wenn einer Partei vertraglich das Recht zur Bestimmung der Leistung (§ 315 BGB) oder der Gegenleistung (§ 316 BGB) eingeräumt wurde.236 Diese Vorschriften haben somit die wichtige Funktion, die Einhaltung des vertragsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes zu ermöglichen, auch wenn sich die Parteien etwa bei einem langfristigen Liefervertrag über
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Nipperdey, Wettbewerb und Existenzvernichtung, S. 16 ff. Nörr, in: FS Gernhuber, 1993, S. 919, 936 f. 234 Teubner, Standards und Direktiven, S. 38. 235 Vgl. MünchKommBGB/H. P. Westermann, § 433 BGB Rn. 19. 236 RG v. 14.11.1911 – 151/11, JW 1912, 73; Staudinger/Mayer-Maly, 12. Aufl. 1979, § 315 BGB Rn. 2 ; Ehricke, JZ 2005, 599, 600; Jauernig/Berger, § 433 BGB Rn. 16. 233
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den genauen Inhalt einer Leistungspflicht noch nicht einigen wollten oder konnten.237 Nach § 315 Abs. 1 BGB ist, sofern eine Leistung durch einen der Vertragschließenden bestimmt werden soll, im Zweifel anzunehmen, dass die Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist.238 In diesem Fall ist die Bestimmung für den Vertragspartner gem. § 315 Abs. 3 Satz 1 BGB nur dann verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht.239 Ansonsten wird die Bestimmung – dies ist die Kernaussage der Norm – nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB durch richterliches Urteil getroffen. Hat sich also eine Vertragspartei vertraglich einem unilateralen Leistungsbestimmungsrecht durch die andere Vertragspartei unterworfen, sieht § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB zur Kompensation der fehlenden Zustimmung des Vertragspartners zum späteren Inhalt der Leistungsbestimmung die Möglichkeit einer gerichtlichen Billigkeitskontrolle vor.240 § 315 Abs. 3 BGB trägt damit nach heutigem Verständnis dem Umstand Rechnung, dass die „Richtigkeits chance des vertraglichen Einigungsprozesses“241 gestört ist, wenn eine Partei ein vertraglich eingeräumtes Recht zur Bestimmung des Inhalts von Vertragspflichten hat, da hier der Verhandlungsmechanismus rechtlich aufgehoben ist.242 Unter den unmittelbaren Anwendungsbereich des § 315 BGB fallen alle Arten von – nicht automatisch wirkenden 243 – vertraglich vereinbarten Preisklauseln,244 etwa wenn der Verkäufer den Verkaufspreis so zu bestimmen hat, dass er mit dem jeweiligen Marktpreis und der jeweiligen Wirtschaftslage übereinstimmt.245 Ein spezifisch wirtschaftliches Ungleichgewicht zwischen den Parteien ist für die Kontrolle der Ausübung eines vertraglich eingeräumten Leistungsbestimmungsrechts nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB also nicht notwendig.246 Anders ist dies für die sogleich zu besprechende analoge Anwendung des § 315 BGB auf marktmächtige Stellungen („Monopole“). Ratio legis des § 315 BGB ist also die Behebung des durch eine einseitige Inhaltsbestimmung ausgelösten rechtlichen Ungleichgewichts, da dieses dem ver237
BGH v. 2.4.1964 – KZR 10/62, BGHZ 41, 271, 275; Säcker, RdE 2006, 65, 69. Kühne, RdE 2005, 241. 239 Eigentlich wiederholt diese Norm nur den Grundsatz des § 315 Abs. 1 BGB. 240 Säcker, RdE 2006, 65, 68; Staudinger/Rieble, § 315 BGB Rn. 32; Erman/Hager, § 315 BGB Rn. 1; MünchKommBGB/Würdinger, § 315 BGB Rn. 4. 241 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 157 und 163; ders., in: FS Raiser, 1974, S. 3, 9 f. 242 Säcker, RdE 2006, 65, 68. 243 In diesem Fall liegt zwar eine vertragliche Regelung vor. Sie gewährt jedoch kein einseitiges Preisbestimmungsrecht. Dieses ist vielmehr bereits im Vertrag angelegt; Kühne, RdE 2005, 241, 242. 244 BGH v. 4.3.2008 – KZR 29/06, NJW 2008, 2175 – Stromnetznutzungsentgelt III; Markert, ZNER 2009, 193, 198. 245 Sog. Preis-freibleibend-Klauseln, vgl. BGH v. 4.4.1951 – II ZR 52/50, BGHZ 1, 353, 354; Säcker, RdE 2006, 65, 69; MünchKommBGB/Würdinger, § 315 BGB Rn. 12. 246 Säcker, ZWeR 2008, 348, 358; für eine – nach dem Normzweck nicht begründbare – teleologische Reduktion des § 315 BGB Ehricke, JZ 2005, 599 ff.; Kühne, RdE 2005, 241 ff. 238 Vgl.
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traglichen Konsensprinzip widerspricht. Nach dem Konsensgrundsatz müssen die Vertragsparteien die „essentialia negotii“ wie den Preis gemeinsam festlegen.247 Ausgehend von diesem Zweck haben Rechtsprechung und Literatur § 315 BGB in analoger Anwendung auf Fallgestaltungen erstreckt, bei denen eine Vertragspartei als Folge einer „Monopolstellung“248 zwar keine rechtliche, aber eine faktisch-wirtschaftliche Bestimmungsmacht bei privatrechtlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge innehat; 249 denn in beiden Fallgestaltungen geht es letztlich um die Kontrolle von privaten Machtpositionen, seien sie vertraglich eingeräumt oder faktisch begründet.250 Die analoge Anwendung des § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB hat ihren Ursprung in der Rechtsprechung des RG zum Monopolmissbrauch durch unbillige AGB gem. § 138 Abs. 1 BGB251 und hat die Judikatur des BGH noch bis zum Jahr 1956 geprägt.252 4. Die „Krise des Vertragsrechts“ – am Beispiel allgemeiner Geschäftsbedingungen Wie wir zuvor gesehen haben, reichten die §§ 138, 242 BGB in ihrer restriktiven Interpretation durch die Rechtsprechung nicht aus, um eine adäquate Inhaltskontrolle wirtschaftlicher Machtpositionen zu begründen. Es hätte deshalb nahegelegen, sich auf die inneren Geltungsgründe des Vertrages zu besinnen, wie sie in einem modernen Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen und dessen spezifischer Ausprägung der wettbewerbsanalogen Regulierung der Netzwirtschaften zum Ausdruck kommen. Demgegenüber nahmen Teile des Schrifttums die offenkundigen Defizite des Privatrechts im Umgang mit wirtschaftlicher Macht zum Anlass, die Grundprämissen eines freiheitlichen Vertragsrechts insgesamt auf den Prüfstand zu stellen. Als Bezeichnung für das gewandelte Verständnis der Vertragsfreiheit etablierte sich der Terminus „Krise des libera247
Säcker, ZWeR 2008, 348, 358. genügt eine marktmächtige Stellung, ein Monopol ist – insoweit in Übereinstimmung mit den Wertungen des heutigen Wettbewerbs- und Regulierungsrechts – nicht erforderlich; vgl. RG v. 8.11.1926 – I 154/26, RGZ 115, 218, 220; MünchKommBGB/Armbrüster, § 138 BGB Rn. 87. 249 Vgl. RG v. 29.9.1929 – VI 182/85, RGZ 111, 310, 313; BGH v. 19.12.1978 – VI ZR 43/77, BGHZ 73, 114, 116; BGH v. 10.10.1991 – III ZR 100/90, NJW 1992, 171, 174; BGH v. 13.6.2007 – VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540 Rn. 33 (für den Bereich der Gasversorgung); BGH v. 18.10.2011 – KZR 18/10, NVwZ 2012, 189 (Entgelte für die Benutzung der Eisenbahninfrastruktur) mit Anm. Otte, LMK 2012, 327729; siehe auch Büdenbender, Fernwärmepreise, S. 13; Kronke, AcP 183 (1983), 113, 141: „objektive, (wettbewerbs)systemordnende Funktion der Billigkeitskontrolle“. 250 Vgl. auch BerlKommEnR/Mohr, § 29 GWB Rn. 34. 251 RG v. 8.1.1906 – I 320/05, RGZ 62, 264, 266. 252 Siehe implizit noch BGH v. 8.3.1955 – I ZR 109/53, BGHZ 17, 1, 5; das Monopolkriterium wurde erst aufgegeben durch BGH v. 6.3.1956 – I ZR 154/54, BGHZ 20, 164, 167 f.; vgl. auch Säcker, ZWeR 2008, 348, 358 mit Fn. 77. 248 Es
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len Vertragsrechts“.253 Diese Bewegung gründete auf der soziologisch zutreffenden Erkenntnis eines industrialisierungsbedingten Funktionswandels des Instituts Vertrag, weg von einem Mittel individueller Tauschbeziehungen hin zum einem standardisierten Massenvertrag.254 Das klassisch liberale BGB-Vertragsrecht war diesen neuen Problemen nicht gewachsen.255 Das Phänomen der AGB offenbarte vielmehr die Schwächen einer allein rechtlich-formal verstandenen Vertragsfreiheit, wie sie noch für das Bürgerliche Gesetzbuch des Jahres 1900 prägend war.256 Dessen klassisch liberale Sichtweise, wonach freie und unabhängige Partner selbstbestimmt den Vertragsinhalt festlegen, konnte die neu auftretenden Fragen standardisierter Massenverträge nicht sachgerecht bewältigen. So überprüfte das RG AGB mangels einer speziellen Rechtsgrundlage zunächst am Verbot sittenwidriger Rechtsgeschäfte, bejahte einen Verstoß gegen diese Vorschrift aber erst dann, wenn der Verwender zugleich eine Monopolstellung innehatte und seinem Gegenüber ein unbilliges Opfer auferlegte.257 Aus diesem – selbstverschuldeten – Grunde wich die Rechtsprechung zur Kontrolle des Inhalts von AGB zunächst kumulativ und dann alternativ auf den Grundsatz von Treu und Glauben gem. § 242 BGB aus.258 Da auch diese Regelung als dogmatisch unbefriedigend angesehen wurde,259 schuf der Gesetzgeber 253 Reinhardt, in: FS Schmidt-Rimpler, 1957, S. 115; Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens, 1974. 254 Denkinger, AGB, S. 18; Reichold, JJZ 1992, S. 63, 73. 255 Siehe Singer, JZ 1995, 1133, 1137. 256 Limbach, JuS 1985, 11; Denkinger, AGB, S. 18; MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 35 a. E. 257 Siehe – noch vor Inkrafttreten des BGB – RG v. 11.2.1888 – I 380/87, RGZ 20, 115, 117; vgl. später auch RG v. 8.1.1906 – I 320/05, RGZ 62, 264, 266. Vereinzelt finden sich Urteile des RG, die eine Sittenwidrigkeit von AGB ohne Monopolstellung behandeln, vgl. die Zusammenstellung bei Raiser, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 302 ff. (insb. S. 304 Fn. 6); zur Rechtsprechung des BGH auch Biedenkopf, in: FS Böhm 1965, S. 113, 124. 258 RG v. 14.8.1941 – II 49/41, RGZ 168, 321, 329; siehe sodann etwa BGH v. 29.10.1956 – II ZR 79/55, BGHZ 22, 90, 94, 97; weitere Nachweise bei Säcker, Gruppenautonomie, S. 203 in Fn. 5. Das 1958 in Kraft getretene GWB bot keine zureichende Alternative, schon weil die Tatbestände gegen Kartellbildung und gegen den Missbrauch von Marktmacht von der damals herrschenden Ansicht nicht als Verbotsgesetze anerkannt waren; vgl. Säcker, a. a. O., S. 202 f. in Fn. 4 a. E. 259 Im Schrifttum wird dies damit begründet, dass § 242 BGB eine Innenschranke der Vertragsfreiheit und die Monopolkontrolle eine Außenschranke sei (Säcker, Gruppenautonomie, S. 203; ders., ZWeR 2008, 348, 358). Das ist m. E. nur dann überzeugend, wenn man auf die überindividuell-objektiven Zwecke des Wettbewerbsrechts blickt, wie sie heute in Art. 101 Abs. 3 AEUV zum Ausdruck kommen. Demgegenüber bezieht sich die Sicherung der materialen Selbstbestimmung der Marktteilnehmer gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV auf die Innenschranken der Vertragsfreiheit. Vergleichbares gilt für eine Monopolkontrolle, weshalb es auch hier darauf ankommt, ob die individuellen oder die überindividuellen Gesichtspunkte der Wettbewerbsvorschriften zum Tragen kommen. Siehe auch MünchKommBGB/Roth/ Schubert, § 242 BGB Rn. 470, die darauf hinweisen, dass sich die Inhaltskontrolle des § 307 BGB aus § 242 BGB entwickelt habe, weshalb sich die inhaltlichen Maßstäbe nicht unterschieden.
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im Jahr 1976 ein spezielles AGB-Gesetz. Dieses lenkte die Aufmerksamkeit vom Aushandeln des Vertrages auch auf die Überprüfung seines Ergebnisses im Hinblick auf einen angemessenen Interessenausgleich.260 Bis zum Erlass des AGB-Gesetzes diente das Phänomen der AGB Kritikern eines freiheitlichen Privatrechts dazu, einer grundlegenden Revision der inneren Geltungsgründe des Vertrages das Wort zu reden. So mahnte etwa Ludwig Raiser im Jahr 1935 an, dass der Gedanke des Monopolmissbrauchs – im Ausgangspunkt durchaus überzeugend – durch denjenigen des Missbrauchs der Vertragsfreiheit ersetzt werden müsse.261 Allerdings kann die von Raiser gegebene Begründung aus Sicht eines der Idee der Selbstbestimmung verpflichteten Privatrechts nicht überzeugen: Es könne keinen Unterschied machen, ob ein Kunde aufgrund einer Monopolstellung des die AGB verwendenden Unternehmens keine Ausweichmöglichkeiten habe, oder ob er sich aus sonstigen Gründen auf die ungünstigen Vertragsinhalte eingelassen habe. Es komme nicht auf die unterschiedliche Schutzwürdigkeit des Kunden an, sondern auf eine „Überschreitung der im Gemeininteresse gezogenen Schranken der Vertragsfreiheit“, also auf „das Wohl der Gesamtheit“.262 Eine solche Sichtweise erkennt im Vertrag letztlich kein Mittel zum individuellen Interessenausgleich, sondern ein solches zur staatlich-objektiven Steuerung privater Tauschbeziehungen.
IV. Der Vertrag als Mittel einer gesellschaftlich richtigen Ordnung? Anknüpfend an die vorstehend geschilderte „Krise des liberalen Vertragsrechts“ kamen gegen Ende der 1960er-Jahre vermehrt Stimmen auf, die einer wettbewerblichen Marktordnung aus grundsätzlichen Erwägungen skeptisch gegenüberstanden. 1. „Sozialautonomie“ statt „Privatautonomie“ Trotz der unbestreitbaren Fortschritte bei der Bekämpfung wirtschaftlicher Machtpositionen, wie sie im GWB des Jahres 1958 und in den Wettbewerbsvor260 Limbach, JuS 1985, S. 11; Denkinger, AGB, S. 20. Nach der Konzeption von M. Wolf (Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit, S. 125 ff.) ist die unangemessene Vertragsbe dingungen bewirkende wirtschaftliche Übermacht nicht erst bei der Inhaltskontrolle des Rechtsgeschäfts, sondern bereits bei der Frage zu berücksichtigen, ob über die jeweiligen Vertragsbestandteile eine verbindliche Regelung vorliege. Aus diesem Grunde sei die effektive Entscheidungsfreiheit über die Prüfung einer „wirtschaftlichen Geschäftsfähigkeit“ in Erweiterung der §§ 2, 116 ff. BGB festzustellen. Dagegen Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle, S. 40; siehe zur Notwendigkeit formaler Gesichtspunkte beim Vertragsschluss auch Stathopoulos, AcP 194 (1994), S. 543, 553. 261 Raiser, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 283; krit. auch Biedenkopf, in: FS Böhm 1965, S. 113, 124. 262 Raiser, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 284.
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schriften der Europäischen Verträge263 ihren Ausdruck fanden, wurde dem Bürgerlichen Recht gegen Ende der 1960er Jahre verstärkt vorgehalten, dass es die gesellschaftlichen Realitäten grundlegend verkenne.264 Diese Sichtweise wurde getragen von einer tiefen Skepsis gegenüber einer selbstständigen Wirtschaftsregulierung durch die „unsichtbare Hand des Marktes“ (Smith) und damit gegenüber einer wettbewerblich organisierten Marktwirtschaft überhaupt: In der Rechtswirklichkeit seien weder die ideell vorausgesetzte Gleichheit der Rechtsgenossen, noch eine Selbstregulierung der Konditionen durch vollständige Konkurrenz auf den Gütermärkten, noch eine volle Markttransparenz zu finden.265 Eine ideelle rechtliche Gleichheit insinuiere aber eine annähernd gleiche Mächtigkeit der Marktsubjekte, die wegen der höchst unterschiedlichen Zuordnung privaten Vermögens niemals vorhanden gewesen sei.266 Darüber hinaus sei die ökonomische Idealvorstellung vollständiger Konkurrenz, wie sie noch dem frühen Ordoliberalismus ebenso wie dem GWB von 1958 zugrunde gelegen hat, 267 längst einer tatsächlichen Marktverfassung gewichen, die sich in vielen Bereichen durch oligopolistische, wenn nicht gar durch monopolistische Strukturen auszeichne.268 Selbst ein breit gefächertes Produktangebot auf annähernd vollkommenen Märkten könne jedenfalls die Markttransparenz beeinträchtigen und damit einen besonderen Informationsbedarf der Verbraucher begründen.269 Schließlich sei die Wirtschaft schon lange keine „private Veranstaltung“ mehr, sondern durch vielfältige Beteiligungen des Staates zu einer „mixed economy“ geworden, die sich verfälschend auf den Gütermarkt auswirke.270 Die vorstehenden Beobachtungen der wirtschaftlichen Realitäten sind durchaus nachvollziehbar. Die Schlussfolgerungen können in einem auf dem Primat der Selbstbestimmung gründenden Privatrecht jedoch nicht überzeugen. Ausgehend von den vorstehend geschilderten Beobachtungen forderten Teile des Schrifttums gegen Ende der 1960er-Jahre verstärkt eine paternalistische, die geschützte Partei nicht nur vor dem Kontrahenten, sondern auch vor sich selbst bewahrende Vertragskontrolle.271 Sie stützten sich dafür auf Konzepte materia263 Vgl. zu den Zielen des frühen europäischen Wettbewerbsrechts Möschel, in: FS Rittner, 1991, S. 405, 409; Fleischer/Zimmer/dies., Effizienz, S. 9, 15; ausführlich zur Genese Küsters, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, S. 135 ff. 264 Grundlegend Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 165 ff.; siehe auch Mückenberger, KJ 1971, 248 ff.; dazu Mohr, AcP 204 (2004), 660, 664 ff. m. w. N. 265 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 621; siehe auch Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 38. 266 Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1 AT, S. 3 f. 267 Siehe Teil 4 D. I. 2. 268 Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1 AT, S. 4. 269 Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1 AT, S. 4. 270 Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1 AT, S. 5 ; ausführlich Assmann, Mixed economy, insb. S. 229 ff. 271 Zum Folgenden vgl. auch Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191, 1192; monographisch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht.
B. Geltungsgründe des Vertrages
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ler Vertragsethik, die nicht das Verfahren des Vertragsschlusses (etwa durch Statuierung von Informationspflichten), sondern unmittelbar den Inhalt des Vertrages in den Blick nahmen, um auf diesem Wege einen „sozialen Ausgleich“272 bzw. eine „vertragliche Solidarität“273 zu erzielen. An Stelle der Privatautonomie sollte – mit einer bekannten Formulierung von Eike Schmidt aus dem Jahr 1980 – eine „Sozialautonomie“ treten.274 Aus gesellschaftlich-politischer Sicht ist dabei bemerkenswert, dass sich in der Kritik am Bürgerlichen Recht – wie schon bezüglich des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 – Vertreter unterschiedlichster Provenienz vereinten.275 Ihnen allen gemein war die Ablehnung des Grundsatzes „stat pro ratione voluntas“, der durch die Maxime „stat pro voluntate ratio“ ersetzt werden sollte.276 Die Kritik am formal-liberalen Rechtsparadigma wird zuweilen mit dem Ausdruck „the haves come out ahead“ beschrieben: 277 Eine formale Gleichberechtigung reproduziere im Ergebnis lediglich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, solange nicht auch die faktischen Voraussetzungen für die Ausübung gleichen Rechts garantiert seien.278 Mit dem individualistischen Instrumentarium des ursprünglichen Bürgerlichen Gesetzbuchs seien die Probleme einer modernen Gesellschaft mit ihren ökonomischen, sozialen und technischen Zwängen und Veränderungen nicht zu bewältigen.279 Hieraus folge ein „Kompetenzverlust des Privatrechts“, zu Gunsten einer objektiv-gemeinwohlorientierten Steuerung.280 Die formell verstandene Vertragsfreiheit sei „ein Traumschloss, eine Utopie und keine Realität“,281 weshalb es darum gehen müsse, Kriterien und Verfahren für die Entwicklung von Vertragsgerechtigkeit aufzustellen.282 Die privatautonomieskeptische Denkrichtung der deutschen Zivilrechtslehre stützte sich in zentralen Punkten auf Arbeiten Ludwig Raisers.283 Danach solle 272 Dazu
Brox/Walker, BGB-AT, Rn. 26 und 29. Lurger, Vertragliche Solidarität, S. 128 ff. Hiernach seien Voraussetzungen für die rechtliche Anerkennung eines Vertrages die „vertragliche Gleichheit“, das „vertragliche Gleichgewicht“ und die „vertragliche Solidarität“. 274 E. Schmidt, JZ 1980, 153; dagegen etwa Reuter, AcP 189 (1989), 199, 205 ff.; Zöllner, JuS 1988, 329, 334; ders., AcP 188 (1988), 85 ff.; Reichold, JJZ 1992, S. 63, 65 ff. 275 Siehe Zöllner, JuS 1988, 329, 334, der eine „seltsame Nähe“ neolinker Konzepte zu Franz Wieacker konstatiert. 276 So der Befund von Reichold, JJZ 1992, S. 63, 64. 277 Galanter, LSR 9 (1974), 95 ff. 278 So die Zusammenfassung von Micklitz/G.-P. Calliess, Verbraucherrecht, S. 65, 70. 279 E. Schmidt, JZ 1980, 153, 155. 280 E. Schmidt, JZ 1980, 153, 155; siehe auch Großfeld, Zivilrecht als Gestaltungsaufgabe, S. 9 f.; Raiser, Zukunft des Privatrechts, S. 21. 281 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 10. 282 Zweigert, in: FS Rheinstein II, 1969, S. 493, 504; siehe auch Weitnauer, Schutz des Schwächeren, S. 10 f. 283 Raiser, JZ 1958, 1, 2; ders., in: FS Deutscher Juristentag, Bd. 1, 1960, S. 101 ff.; ders., Zukunft des Privatrechts. Angedeutet wird diese Konzeption schon in Raiser, ZHR 111(1948), 75, 93. 273
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der Staat die Schwachen auch im Privatrecht schützen und hierdurch soziale Gerechtigkeit im Sinne eines sozialen Staatswesens verwirklichen.284 „Vertrag, Vertragsfreiheit und Wettbewerbsfreiheit“ seien „als funktionell zusammengehörige Rechtsinstitute einer rechtlich verfassten Marktwirtschaft zu verstehen mit der Folge, dass Parteien, die von ihnen einen den Grundprinzipien der Wirtschaftsverfassung zuwiderlaufenden Gebrauch machen, dafür keinen Rechtsschutz erlangen können. Missbrauch der Vertragsfreiheit wird zum Nichtigkeitsgrund“.285 Raiser kommt damit das Verdienst zu, das Augenmerk der Rechtswissenschaft auf die Grenzen einer rein formal verstandenen Privat autonomie gelenkt zu haben, 286 auch wenn sein Konzept der Gerechtigkeitsfunktion des Vertrages im Einzelfall – wie noch zu zeigen ist – nicht überzeugen kann.287 So betonte Raiser etwa, dass „das auf der Trennung von Staat und Gesellschaft beruhende Modell einer strengen Zweiteilung der Rechtsordnung in die beiden je für sich geschlossenen Systeme des öffentlichen und des Privatrechts seine Geltung als Maßstab und orientierende Verständnishilfe verloren“ habe.288 Aus diesem Grunde bedürfe die von Franz Böhm entwickelte Konzeption einer „Wirtschaftsgesellschaft als herrschaftsfreier, auf Gleichordnung aller Teilnehmer beruhender Privatrechtsgesellschaft“ einer Korrektur „durch die geschichtliche Wirklichkeit und die Verfassungslage“.289 Wie wir am Beispiel des Wettbewerbs- und des Regulierungsrechts sehen werden, ist die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht für die dogmatische Strukturierung von Rechtsbereichen allerdings auch heute noch bedeutsam; denn im Privatrecht gilt ein Primat der Selbstbestimmung und nicht der überindividuell-objektiven Gemeinwohlförderung, auch wenn angesichts vielfältiger Verflechtungen und Überschneidungen keine strikte Zweiteilung möglich ist.290 Eine Umgestaltung des Privatrechts im vorgenannten Sinne wurde besonders nachdrücklich von Rudolf Wiethölter gefordert: Das „Wirtschaftsrecht“ müsse die künstliche Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft im Sinne einer „politischen Inpflichtnahme der Gesamtwirtschaft im Gesamtinteresse“ aufheben.291 Diese Entwicklung habe auch „Reflexwirkungen für das Privatrecht“292 , wo „etwa Arbeitsrecht, Wohnungsrecht, Mietrecht aus dem Privatrechtssystem 284
Raiser, Zukunft des Privatrechts, S. 29 ff. Raiser, in: FS Deutscher Juristentag, Bd. 1, 1960, S. 101, 133. 286 Vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 37; Leistner, Richtiger Vertrag, S. 183. 287 Siehe Teil 3 C. II. 288 Raiser, Zukunft des Privatrechts, S. 19. 289 Raiser, Zukunft des Privatrechts, S. 25 f. mit Fn. 26. 290 Bachmann, JZ 2008, 11. 291 Wiethölter, in: FS Böhm, 1965, S. 41, 50; ders., in: FS Raiser, 1974, S. 6 45 ff. Eine vergleichbare Theorie wurde für das Internationale Privatrecht entwickelt; siehe Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 435, 437. Vor diesem Hintergrund müsse sich das „soziale“ deutsche Arbeitsrecht zwingend gegen ausländische Rechtsordnungen durchsetzen, so Simitis, in: FS Kegel, 1977, S. 153, 354; dagegen Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 73 ff. 292 Wiethölter, in: FS Böhm, 1965, S. 41, 56. 285
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sachlich herausgetreten“ seien, als Ausdruck „neuer Ideale der modernen Gesellschaft und ihres Menschenbildes, Kooperation, Treuhand, Sekurität, Solidarismus“ an Stelle des „klassisch-privatrechtlichen Individualismus“.293 Ein wirkungsmächtiger Fürsprecher einer staatlichen Fürsorge für die Bürger im Privatrecht war auch Franz Wieacker, der schon 1952 – wohl auch aufgrund der Erfahrungen des nur wenige Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkriegs294 – zu beobachten glaubte, dass in der Gesellschaft mittlerweile das „Rechtspathos der Zusammenarbeit“ das „Pathos des Wettbewerbs“ zurückgedrängt habe. 295 Der Staat sei – in Anlehnung an die Thesen Otto von Gierkes 296 – nicht mehr „eine Vielzahl von Subjekten, die sich erst durch individualvertragliche Selbstbeschränkung binden, sondern eine ‚Genossenschaft‘ von Rechtsgenossen, die einander schon durch vorgegebene gemeinsame Aufgaben verbunden“ seien. 297 Die „Sozialstaatlichkeit“ schreibe „auch für den Bereich des Privatrechts ein Modell zwischenmenschlicher Beziehungen vor, in dem die Gewährleistung der Existenz des Rechtsgenossen den gleichen Rang einnimmt wie die Verfolgung der eigenen Interessen“.298 Wieacker wollte damit ebenso wie etwa Siebert 299 ein gemeinwohlbezogenes Privatrecht schaffen, indem die Privatautonomie „höheren Zwecken“ verpflichtet sein sollte.300 Letztlich sollte das Privatrecht ganz in einem öffentlichen (Steuerungs-)Recht aufgehen. 2. Das wirtschaftspolitische Konzept der „mixed economy“ Eine Parallelentwicklung vollzog sich im Bereich des „Wirtschaftsrechts“ mit dem Konzept der „mixed economy“ im Sinne einer „Abstimmung dezentraler hoheitlicher, privater und intermediärer Akteure“,301 wonach das unternehmerische Handeln nicht aus der Freiheit des Wettbewerbsprozesses, sondern auf der Grundlage einer überindividuell-objektiven Wettbewerbspolitik gerechtfertigt sein sollte.302 Das Wirtschaftsrecht wurde somit verstanden als „politi293 Wiethölter, in: FS Böhm, 1965, S. 41, 58. Siehe auch Raiser, Zukunft des Privatrechts, S. 34 f. 294 Reichold, JJZ 1992, S. 63, 72. 295 Wieacker, Sozialmodell, S. 24 f. Wieacker wollte seine Ausführungen nicht als Stellungnahme für oder gegen die soziale Marktwirtschaft verstanden wissen, vgl. S. 25 mit Fn. 36. Gleichwohl ist seinem Text – was zuweilen nicht ausreichend gewürdigt wird – eine deutliche Sympathie für soziale Privatrechtstheorien zu entnehmen. 296 Wieacker, Sozialmodell, S. 25. 297 Wieacker, Sozialmodell, S. 25. 298 Wieacker, in: FS 100 Jahre deutscher Juristentag, Bd. II, 1960, S, 1, 10. 299 Siehe Siebert in: FS Niedermeyer, 1953, S. 215 ff., wonach die Zukunft des Privatrechts in seiner „Veröffentlichrechtlichung“ („Publizierung“) liege; siehe dazu Möschel, ZHR 145 (1981), 590, 592 f. 300 Zur dogmatischen Konstruktion siehe noch Teil 3 C. I. und II. 301 Assmann, Mixed economy, S. 278; dazu J. Schmidt, Vertragsfreiheit und Schuldrechtsreform, S. 76 ff. mit Fn. 229. 302 Gotthold, ZHR 145 (1981), 286, 331.
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Teil 3: Vertragstheorien
sches Recht“.303 Vor diesem Hintergrund sei auf oligopolistischen Märkten eine Preishöhenkontrolle zulässig, die sich nicht auf eine Prüfung der vom Wettbewerb nicht kontrollierten Handlungsspielräume zu Lasten Dritter beschränken dürfe, sondern ein gesamtwirtschaftlich richtiges Preisverhalten erzwingen müsse.304 Da es Aufgabe des Kartellrechts sei, Marktmacht zu Lasten des Verbrauchers mit rechtlichen Mitteln zu bekämpfen, diene das Missbrauchsverbot also nicht nur mittelbar dem Verbraucher, sondern sei sowohl de lege lata als auch de lege ferenda an einem „unmittelbaren verbraucherpolitischen Schutz zweck“ auszurichten.305 In ihrer überindividuell-objektiven Ausrichtung trifft sich diese Ansicht mit einer effizienz-ergebnisbezogenen Betrachtung des Privatrechts. 3. Schutz vor Diskriminierungen im Privatrechtsverkehr In jüngerer Zeit wurden ähnliche Argumente in Zusammenhang mit der Schaffung des deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahre 2006 und dem damit verbundenen materialen Gleichheitskonzept vorgebracht.306 So sollen die dort normierten Diskriminierungsverbote nach einer Ansicht nicht nur die Persönlichkeit des Benachteiligten schützen,307 sondern auch „sozial unerwünschte Ungleichbehandlungen“ verhindern und so die „soziale Lage“ von strukturell benachteiligten Personengruppen verbessern.308 Anders als bei einem abwehrenden Schutz vor Diskriminierungen bezwecke das Gesetz also auch eine „positive“ materiale Gleichstellung bestimmter Personengruppen bei der Verteilung wirtschaftlichen Wohlstands sowie damit zusammenhängend eine möglichst ungestörte „wirtschaftliche Selbstverwirklichung“.309 Die bewirkte Umverteilung soll dabei auch den Normadressaten zugutekommen, da ein „integrativer Diskriminierungsschutz“ jedenfalls den „inneren Frieden“ der Gesellschaft sichere.310 Den Diskriminierungsverboten wird hierzu – in stark vereinfachender, die unterschiedliche Schutzbedürftigkeit einzelner Personengruppen vernachlässigender Argumentation – eine Schutzfunktion für die „materielle Dimension der Menschenwürde“ zugesprochen, als spezifische Ausprä-
303
Wiethölter, in: FS Böhm, 1965, S. 41, 61. Hart/Joerges, in: Wirtschaftsrecht, S. 83, 196 ff.; dagegen Immenga/Mestmäcker/ Möschel, § 19 GWB Rn. 156. 305 Reich, ZVP 1977, 227 f., 234 f. und öfter. 306 Wrase, HFR 5/2005, 46 ff., gegen Säcker, ZRP 2002, 286 ff. 307 BT-Drucks. 16/1780, S. 20; Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht, S. 125 ff. 308 BT-Drucks. 16/1780, S. 2 2 f.; vgl. auch Neuner JZ 2003, 57, 58. 309 So – krit. – Herrmann, ZfA 1996, 19, 27 und 62. 310 Neuner, JZ 2003, 57, 58. 304 So
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gung eines „europäischen Verbraucherschutzes“.311 Hierauf ist vorliegend freilich nicht näher einzugehen.
V. Von der „Krise des Vertragsrechts“ zur „Krise des Sozialschutzes“ Wie wir gesehen haben, basierte die in den 1950er- und 1960er-Jahren geäußerte Kritik an einer Ausrichtung des Vertragsrechts an formalen Freiheitssphären vor allem auf der Beobachtung, dass bestimmte Personengruppen in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft strukturell benachteiligt sind. Allerdings zerfaserten deren typische Sozialstrukturen schon wieder seit den 1970er Jahren.312 So wandelte sich die Industriegesellschaft zunehmend in eine Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft sowie in eine sog. Industriefolgengesellschaft. Von Volker Beck wurde dieses Phänomen mit dem wirkungsmächtigen, wenn auch unscharfen Begriff der „Risikogesellschaft“ bezeichnet.313 Dieser steht im vorliegenden Zusammenhang für die Herauslösung des Einzelnen aus den Sicherheiten der Industriegesellschaft [!] und ihren Standard-Lebensformen.314 Massenwohlstand und die Massenbildung des „sozial imprägnierten Kapitalismus“315 führten zu einer Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen.316 In der „pluraldifferenzierten und sozialstaatlich fundierten Wohlstandsgesellschaft“ gebe es keine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ mehr, sondern subjektive Gruppierungen, deren Privatverhalten, zunehmend aber auch ihr Geschäfts- und Arbeitsverhalten sich über die „unvorhersehbare Ausschöpfung“ subjektiver Freiheiten und nicht über zentralistisch vorgegebene objektive Zielvorstellungen definiere.317 Diese Beobachtungen haben erhebliche Rückwirkungen auf den Status des Privatrechts in der Gesellschaft im Allgemeinen und – über die Rezeption der gesellschaftlichen Anschauungen durch Gesetzgeber, Rechtsprechung und Wissenschaft – auf die Interpretation privatrechtlicher Normen im Besonderen. So werden in einer individualisierten Gesellschaft die Interventionsstrategien des Sozialstaats durch zwingende und starre Ge- und Verbote zunehmend als antiquiert angesehen.318 Populär sind vielmehr flexible prozedurale Lösungen im Sinne einer Legitimation durch Verfahren zwischen Bürgern, nicht einer Legitimation bürokratischer Eingriffe „von oben“.319 311 So Eisenschmid, WuM 2006, 475; siehe auch Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 38 f.; Reichold, JZ 2004, 384, 391. 312 Vgl. dazu und zum Folgenden Reichold, JJZ 1992, S. 63, 73 ff. 313 So der Titel des Buches von Beck, Risikogesellschaft. 314 Beck, Risikogesellschaft, S. 121 ff. 315 Biedenkopf, in: FS Coing, Bd. II, 1982, S. 21, 26. 316 Reichold, JJZ 1992, S. 63, 74. 317 Reichold, JJZ 1992, S. 63, 74. 318 Reichold, JJZ 1992, S. 63, 78; siehe auch R. Wolf, Leviathan 15 (1987), 357 ff. 319 Reichold, JJZ 1992, S. 63, 78.
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Teil 3: Vertragstheorien
Während also seit den 1950er Jahren verstärkt über eine „Krise des liberalen Vertragsrechts“ diskutiert wurde, geriet später das sozialstaatliche Schutzmodell und mit ihm die hierauf aufbauende Vertragsrechtstheorie selbst in Rechtfertigungsnöte.320 Dies reflektiert auch den Umstand, dass eine Gesellschaftsordnung durch die Nationalstaaten in Zeiten einer fortschreitenden Globalisierung an ihre Grenzen gerät, weshalb der staatlichen Gesellschaftsordnung durch Normsetzung zuweilen sogar eine „Steuerungskrise“ attestiert wird: 321 Eine große Anzahl von „einzelfallbezogenen Maßnahmegesetzen“ und „Zweck programmen mit zum Teil unbestimmten Rechtsbegriffen“ habe zur Folge, dass die formale Gleichheit, Rechtssicherheit und Justiziabilität als Mindestvoraussetzungen des Rechts beeinträchtigt seien. Zugleich würden der Justiz und auch der (Regulierungs-)Verwaltung in zunehmendem Umfang eigentlich politische Kontrollaufgaben überantwortet, die eine sachgerechte Aufgabenerfüllung langfristig beeinträchtigen könnten.322 Weiterhin wird eine „Selbst-Delegiti mation“ des Sozialstaats befürchtet, da die geschützten Personen bei typisierender Betrachtung trotz der weitreichenden Schutzgesetzgebung nicht in der Lage seien, ihre Rechte faktisch gleichberechtigt auszuüben. Schließlich führe die Bevormundung der geschützten Personen häufig nur zu einer Verlagerung der Machtbeziehungen in den Paternalismus „advokatorischer Gruppenvertreter“ und „staatlicher Fürsorgebürokratien“ und damit zur „Bindung an die in die sozialpolitischen Programme eingelassenen Standards“.323 Vor dem Hintergrund dieser Problemlagen erscheint es umso dringlicher, sich der freiheitsschützenden, machtbegrenzenden Wirkungen des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts zu versichern.
VI. Ein Seitenblick auf das Europäische Privatrecht Auf europäischer Ebene wird die Diskussion um die richtige Ausgestaltung des Privatrechts derzeit im Rahmen der Debatte um einen „Gemeinsamen Referenzrahmen“ („Common Frame of Reference“) geführt, der zugleich als Aufhänger für die – im Ausgangspunkt überfällige – Debatte über eine Harmonisierung der europäischen Privatrechte verstanden werden kann.324 In den zurückliegenden Jahrzehnten hat die Unionsrechtsprechung nicht nur auf dem 320 Micklitz/G.-P. Calliess, Verbraucherrecht, S. 65, 71 f.; ders., Prozedurales Recht, S. 60 ff. 321 G.-P. Calliess, in: FS Teubner, 2009, S. 465 ff.; pointiert Grimm/Maihofer/Teubner, JbRSoz 13 (1989), S. 45 ff. 322 Micklitz/G.-P. Calliess, Verbraucherrecht, S. 65, 71 f., der darin eine „Krise des Rechtsstaats“ erkennen will. Im Regulierungsrecht wird die entsprechende Problematik unter dem Topos „Regulierungsermessen“ diskutiert; vgl. dazu Säcker/Kühling/Neumann, § 39 TKG Rn. 10; Gärditz, NVwZ 2009, 1005 ff.; Ludwigs, JZ 2009, 290 ff. 323 Vgl. Micklitz/G.-P. Calliess, Verbraucherrecht, S. 65, 72. 324 Vgl. von Bar, ZEuP 2001, 799, 804; Hesselink, ERPL 2004, 397, 404; Wagner, ZEuP
B. Geltungsgründe des Vertrages
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Gebiet des Verbraucherschutzes, sondern auch im Recht gegen Diskriminierungen eine rasante Entwicklung genommen.325 Im Verbraucherschutzrecht regulierte man im Wege der Richtliniensetzung zunächst nur Ausschnitte aus den rechtsgeschäftlichen Aktivitäten der Verbraucher (Haustürwiderruf, Fernabsatz, Pauschalreisen). In jüngerer Zeit greift das Europa- bzw. Unionsrecht aber in immer stärkerem Maße auf zentrale Bereiche des Privatrechts zu. So behandelte die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (AGB-Richtlinie) 326 wesentliche Bereiche des Schuldrechts. Einen Quantensprung brachte die Richtlinie 1999/44/EG über den Verbrauchsgüterkauf,327 die nicht nur den wichtigsten Schuldvertragstyp des allgemeinen Bürgerlichen Rechts erfasst, sondern auch die Gewährleistungsvorschriften bei einem Kauf beweglicher Sachen zu Gunsten der Verbraucher zwingend ausgestaltet. Der deutsche Gesetzgeber hat die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie bekanntlich zum Anlass für eine Überarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Sinne einer „großen Lösung“ genommen.328 Im Kaufrecht wurden dabei die durch die RL 1999/44/EG induzierten Neuregelungen auf alle Kaufverträge erstreckt; lediglich die zwingende Wirkung wurde Verträgen des sog. B2C-Bereichs vorbehalten. Auf dem Gebiet des Arbeits- und des allgemeinen Zivilrechts fordern die Richtlinien 2000/43/EG329 und 2004/113/EG330 einen weitgehenden Schutz vor Diskriminierungen, der bekanntlich zum Erlass der in den §§ 19 ff. AGG normierten zivilrechtlichen Benachteiligungsverbote führte. Durch das Projekt der europäischen Zivilrechtsvereinheitlichung wird die Klärung der Frage unabweisbar, in welchem Verhältnis Freiheit und Selbstverantwortung der Unionsbürger zu einem in diese Freiheit eingreifenden (Verbraucher- und Diskriminierungs-)Schutzrecht sowie zum Wettbewerbs- und zum Regulierungsrecht als konstitutivem Verbraucherschutzrecht stehen. Ebenso wie das nationale Recht schützt das Unionsrecht die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit der Bürger.331 Entscheidend ist deshalb vor allem, wel2007, 180, 183; Hopt/Tzouganatos/Dauner-Lieb, Europäisierung, S. 279, 283; Eidenmüller/ Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 530, 531. 325 Vgl. statt anderer Hopt/Tzouganatos/Dauner-Lieb, Europäisierung, S. 279, 281. 326 RL 1993/13/EWG v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Abl.EG Nr. L 95 v. 21.4.1993, S. 29 327 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, Abl.EG Nr. L 171 v. 7.7.1999. 328 Vgl. Däubler-Gmelin, NJW 2001, 2281. 329 Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl.EG Nr. L 180. 330 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl.EU Nr. L 373 v. 21.12.2004. 331 Siehe Teil 2 E. II. sowie etwa Art. 37 lit. l der Energiebinnenmarkt-RL 2009/72/EG, wonach die Kommission „die Vertragsfreiheit in Bezug auf unterbrechbare Lieferverträge
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Teil 3: Vertragstheorien
che inneren Schranken diese Gewährleistungen künftig aufweisen sollen, mit anderen Worten, welcher Grad an Materialisierung greifen soll. Nach Ansicht der Verfasser des DCFR zielt das Privatrecht auf die Werte „Gerechtigkeit, Freiheit, Schutz von Menschenrechten, ökonomische Wohlfahrt, Solidarität und soziale Verantwortung“ ab, sowie auf die Verwirklichung des Binnenmarktes und die Bewahrung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt.332 Hinzukommen sollen formale Ziele für die Rechtsetzung wie Rationalität, Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Effizienz, sowie – situativ – der Vertrauensschutz und die Verantwortlichkeit für sich selbst. Bislang bleibt allerdings offen, welchen konkreten Inhalt diese Ziele und Prinzipien haben sollen. Nicht definiert werden beispielsweise die Begriffe Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und soziale Verantwortung, obwohl diese – wie schon einleitend dargestellt – in höchst unterschiedlichem Maße verstanden werden können.333 Unklar ist auch, wie sich die Begriffe zueinander verhalten, z. B. die Freiheit zur Solidarität, die Effizienz zur Gerechtigkeit oder die Gerechtigkeit zur Rechtssicherheit und zur Vorhersehbarkeit des Rechts.334 Insbesondere für die Auslegung privatrechtlicher Generalklauseln und unbestimmter Rechtsbegriffe wie „good faith“, „fair dealing“ und „reasonable“ ist es jedoch unabdingbar, dass die der Kodifikation zugrunde liegenden Wertideen und ihr Vertragsrechtskonzept jedenfalls in den Grundlagen geklärt sind.335 Die – notwendige und begrüßenswerte – Diskus sion steht hier erst am Anfang. Als weitere „Textstufe“ im Prozess einer Vereinheitlichung der europäischen Zivilrechte hat die EU-Kommission am 11.10.2011 den Entwurf einer Verordnung über ein gemeinsames europäisches Kaufrecht (Draft Common European Sales Law) vorgelegt.336 Die Kommission möchte hierdurch den grenzüberschreitenden Handel im Binnenmarkt beleben, der durch die Vielzahl unterschiedlicher Vertragsrechte und die dadurch bewirkte Kostenbelastung für die Unternehmen beeinträchtigt wird.337 Dieses Anliegen ist – wie auch die Diskussion über ein einheitliches europäisches Lauterkeitsrecht zeigt 338 – im Ausgangspunkt überzeugend.339 Das neue gemeineuropäische Kaufrecht soll rechtstechnisch nicht als „achtundzwanzigstes Vertragsrechtsregime“ zur Anwendung kommen, sondern als zweites „optionales Instrument“, dessen Gelund langfristige Verträge an[erkennt], sofern diese mit dem geltenden Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und mit der Politik der Gemeinschaft in Einklang stehen“. 332 Von Bar/Clive/Schulte-Nölke, DCFR, Outline Edition, Einl. Rn. 2 2 ff. 333 Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 530, 534. 334 Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 530, 535. 335 Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 530, 536. 336 KOM(2011), 635 endg. Der Entwurf wird abgekürzt als DCESL, vgl. Martens, AcP 211 (2011), 845; Eidenmüller/Jansen/Kieninger/Wagner/Zimmermann, JZ 2012, 269 mit Fn. 1. 337 KOM(2011), 635 endg., S. 2. 338 Säcker, WRP 2004, 1199 ff. 339 Wagner, CMLR 39 (2002), 995, 1014.
B. Geltungsgründe des Vertrages
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tung von den Parteien ausdrücklich vereinbart werden muss (Opt-in-Modell).340 Da der DCESL inhaltlich einen sehr hohen Verbraucherschutzstandard verwirklicht, werden die Unternehmen diesen wohl nur dann wählen, wenn sie die Anpassungskosten und die laufenden Kosten für die Erfüllung der Standards durch entsprechende Einsparungen an Transaktionskosten wieder erwirtschaften.341 Jedenfalls langfristig ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Unternehmen die entsprechenden Standards aber auch bei nationalen Rechtsgeschäften zur Anwendung bringen, soweit dies normativ zulässig ist. Auch der DCESL bringt die Prinzipien Freiheit und Gleichheit bzw. Solidarität jedoch in keinen Ausgleich, sondern beschränkt sich auf eine „Verbraucherschutzmaximierung“, wonach „für jedes einzelne Problem [. . .] nach Möglichkeit die europaweit verbraucherfreundlichste Lösung gesucht“ wird.342 Aus diesem Grunde wird im Schrifttum für eine kritische Revision des bestehenden „Verbraucheracquis“ und damit zusammenhängend für eine Klärung des Verhältnisses von formaler Privatautonomie und materialer Vertragsfreiheit sowie des Verhältnisses zur (prozeduralen oder materialen) Vertragsgerechtigkeit geworben. 343 Mit Letzterer werden wir uns im Folgenden Abschnitt befassen, nach einer Zusammenfassung und Bewertung.
VII. Zwischenergebnis und Bewertung Wir haben gesehen, dass die Kritik an der Privatautonomie in den 1970er-Jahren nicht nur auf die Spitze, sondern gleichsam über diese hinausgetrieben wurde. Anstatt aus den erkannten Funktionsdefiziten des (Massen-)Vertrages systemgerechte, der individuellen Selbstbestimmung aller Marktteilnehmer entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen, sollten die Individuen auf ihre privaten Rechte zu Gunsten eines unbestimmten, politisch instrumentalisierten Korporatismus verzichten. Letzte Konsequenz einer solchen Theorie wäre – worauf Dieter Reuter zu Recht hingewiesen hat –, dass Privatautonomie und subjektives Recht als die beiden „Fixsterne des Privatrechtssystems“344 aufhörten, zu existieren: 345 „Das autonome wird zum heteronomen Handeln, das subjektive Recht wird zum Amt“. Nicht mehr die voluntaristisch-individuelle Legitimation des Vertrages als Manifestation der beidseitig-chancengleichen Selbstbestimmung sollte im Vordergrund stehen. Im Zuge einer „Materialisierung von Vertragsfreiheit und Vertragsrichtigkeit“ wollte man vielmehr die Verbindlich340 Fleischer, RabelsZ 76 (2012), 235, 237 ff.; Fornasier, RabelsZ 76 (2012), 401 ff.; aus normsetzungstheoretischer Sicht Bachmann, JZ 2008, 11 ff. 341 Eidenmüller/Jansen/Kieninger/Wagner/Zimmermann, JZ 2012, 269, 275. 342 Eidenmüller/Jansen/Kieninger/Wagner/Zimmermann, JZ 2012, 269, 276. 343 Eidenmüller/Jansen/Kieninger/Wagner/Zimmermann, JZ 2012, 269, 280. 344 Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 237; Bydlinski/Mayer-Maly/Reuter, Ethische Grundlagen , S. 105, 113; ders., DZWiR 1993, 45, 48. 345 Reuter, AcP 189 (1989), 199, 206.
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Teil 3: Vertragstheorien
keit von Verträgen mit überindividuellen ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten erklären,346 äußerlich gekennzeichnet durch eine verstärkte Verwendung sog. Ordnungsvokabeln.347 Die Vertragsfreiheit sollte zwar weiterhin ein maßgebliches Funktionsprinzip der marktwirtschaftlichen Grundordnung bleiben, jedoch nicht mehr in einem formal-juristischen Sinne zu verstehen sein. Sie sollte also nicht mehr durch den Umstand legitimiert sein, dass sie die rechtliche Selbstbestimmung der Personen um ihrer selbst willen verwirklicht, unabhängig vom Nutzen für die Allgemeinheit und als Gegenpart staatlicher Einmischung, sondern weil der Staat die „optimale“ und „gerechte“ Güterverteilung zur öffentlichen Aufgabe macht: 348 Das privatrechtliche Interesse an einem beiderseits selbstbestimmten Vertrag wurde „rekonstruiert“ zu einem öffentlichen Interesse an einer funktionsfähigen Vertragsrechtsordnung. Auf der Grundlage einer solchen Sichtweise relativiert sich zugleich der Gegensatz zwischen privatem und öffentlichem Recht, da die Funktionen des Vertrages einerseits als Mittel zur Selbstbestimmung und andererseits als Instrument der Ordnung eines funktionsfähigen Privatrechts ineinander übergehen sollen. Eine derartige, die überindividuellen Funktionen des Privatrechts betonende Sichtweise wird auch heute noch vertreten. So sollen etwa die verbrauchervertragsrechtlichen Widerrufsrechte nicht durch strengere Vorschriften des Lauterkeitsrechts unterlaufen werden dürfen, da Erstere einen institutionellen, also überindividuellen Charakter hätten.349 In einer freiheitlichen Grundordnung kann der Vertrag aber kein Instrument zur Durchsetzung abstrakter Gemeinwohlinteressen sein. Vielmehr wird er – wie Gregor Bachmann herausgearbeitet hat – neben der material-freien Zustimmung der Betroffenen durch den Grundgedanken eines Schutzes vor Ausbeutung legitimiert,350 ohne dass der Vertrag damit sogleich dem öffentlichen Recht zuzuordnen wäre. Der Schutz vor wirtschaftlicher oder situativer Macht ist vielmehr ein zentraler Ausdruck eines kompetitiven Vertragsrechts. Demgemäß kann man zwar durchaus von einer Ordnungsfunktion des Vertrages sprechen. Diese bezieht sich jedoch im wirtschaftlichen Bereich allein auf „das Verhältnis der individuellen Vertragsfreiheit zu den gleichen Rechten anderer und damit zur rechtlichen Ordnung des Wettbewerbsprozesses“.351 Der Vertrag ist ein Mittel, das den Vertragsparteien die Chance eröffnet, ihre individuellen Interessen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Bei einem echten (materialen) Konsens der Parteien beruht die Entscheidung über die Vorteilhaftigkeit 346
Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 13; Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 39. sowie zur Gleichsetzung des Begriffes „Ordnung“ mit überindividuellen Zwecken Bachmann, Private Ordnung, S. 215 und öfter. 348 Zutreffend Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 14 f. 349 Das vertritt etwa Leistner, Richtiger Vertrag, S. 653 ff. 350 Bachmann, Private Ordnung, S. 193 ff.; Ansätze einer solchen Konzeption finden sich auch bei Adomeit, in: FS Kelsen, 1971, S. 9, 18 f. 351 So zum Wettbewerbsrecht Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S. 83. 347 Dazu
C. Der Vertrag als Mittel zur Erzielung überindividueller Gerechtigkeit
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der rechtsgeschäftlichen Regelung allein auf deren Zustimmung. Aus der Möglichkeit zur realen Selbstbestimmung kann hier typisierend auf eine subjektiv richtige Entscheidung geschlossen werden.352 Fehlt demgegenüber die material-freie Zustimmung einer der Vertragsparteien bzw. eines von der Regelung faktisch negativ Betroffenen, ist die private Regelung zusätzlich auf die Einhaltung des „Gruppenwohls“ zu überprüfen,353 das im Privatrecht mit einem Verbot der Ausbeutung gleichzusetzen ist.354 Das Ausbeutungsverbot fungiert insoweit also nicht als äußere Grenznorm, wie dies einer öffentlich-rechtlichen Einordnung entspräche, sondern als innere Richtnorm für den vertraglichen Interessenausgleich.355 Vielmehr ist die Ordnungsfunktion des Vertrages bzw. der Schutz des Vertrages als Institution identisch mit dem Schutz der auf Vertragsfreiheit gegründeten Privatrechtsordnung und grundsätzlich keinen darüber hinaus gehenden überindividuellen Zielen verpflichtet; denn auch das Ausbeutungsverbot dient nur der Sicherung der materialen Selbstbestimmung der Individuen, sei es derjenigen einer Vertragspartei oder einer faktisch negativ betroffenen Person, wie dies bei wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen der Fall ist.356 Seine Ordnungsfunktion zeigt der Vertrag insoweit also darin, dass er zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Vertragsrechtssystems nicht zur Aufhebung der (material verstandenen) unternehmerischen Selbstständigkeit anderer Marktteilnehmer mittels wettbewerbsbeschränkender (Folge)Verträge benutzt werden darf. Damit sind wir beim Kern unserer Untersuchung angelangt. Bevor wir uns den dogmatischen Folgerungen zuwenden, ist das vorliegende Verständnis gegen weitere Einwände zu verteidigen. Hiernach soll eine Konzeption der inneren Geltungsgründe des Vertrages entwickelt und gegen Einwände der Wirtschaftswissenschaften verteidigt werden.
C. Der Vertrag als Mittel zur Erzielung überindividueller Gerechtigkeit I. Problemstellung: Individual- oder Institutsschutz? Das liberale Vertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs aus dem Jahr 1900 wurde – wie wir bereits gesehen haben – nicht nur im Hinblick auf die Verleug-
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So auch Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 15. Private Regeln dürfen hiernach die Vorteile der durch sie begründeten Ordnung nicht einseitig zu Gunsten einer Vertragspartei verteilen (im AGB-Recht also im Interesse des Verwenders), vgl. Bachmann, Private Ordnung, S. 213. 354 Bachmann, Private Ordnung, S. 204 ff. 355 A. A. insoweit Bachmann, Private Ordnung, S. 2 23. 356 Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S. 83; Möschel, Pressekonzentration und Wettbewerbsgesetz, 1978, S. 134; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung, S. 63 f. 353
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Teil 3: Vertragstheorien
nung der faktisch unterschiedlichen Freiheit zur willentlichen Gestaltung der eigenen Angelegenheiten, sondern auch noch auf einer gleichsam tiefer liegenden Stufe kritisiert. Ein Privatrecht könne nicht der Verwirklichung der individuellen Willensherrschaft, sondern nur der Herstellung von Vertragsgerechtigkeit dienen,357 im Sinne einer vermeintlich objektiven Richtigkeit des Vertrages.358 Der BGB-Gesetzgeber des Jahres 1900 hatte den hierdurch thematisierten Konflikt zwischen professioneller Rechtsdogmatik und sozial motivierter Rechtspolitik (Gerhard Wagner) noch überwiegend zu Gunsten Ersterer aufgelöst.359 Demgegenüber ist das Privatrecht heute von vielen Rechtsnormen geprägt, die überindividuellen Zwecken verpflichtet sind, wie bereits ein Blick auf das private Arbeits- und Wohnraummietrecht zeigt.360 Allein der Befund, dass der Privatrechtsgesetzgeber mittlerweile über Instrumente wie zwingendes Recht, Ex-post-Vertragsinhaltskontrolle und Informationspflichten in großem Umfang materiale Zwecke verfolgt, lässt jedoch noch keinen Rückschluss auf das zugrunde liegende Regelungskonzept zu. Es existieren vielmehr verschiedene Vertragskontrollmodelle, die alternativ oder kumulativ angewandt werden. Die entsprechenden Schutzinstrumente können im vorvertraglichen Bereich ansetzen (Information), materielle Vorgaben für abgeschlossene Verträge statuieren (§§ 134, 138, 307 ff., 315 BGB) oder nachvertragliche Rechte gewähren.361 Vor diesem Hintergrund wird kontrovers diskutiert, welche über den formal geäußerten individuellen Parteiwillen hinausgehenden „institutionellen Funktionen“ dem Vertrag im Gesamtsystem des Rechts- und Wirtschaftsverkehrs beigemessen und wie die Bedingungen bestimmt werden sollen, unter denen diese überindividuellen Funktionen am besten zu erfüllen sind.362 So vertritt etwa Gert Brüggemeier 363 für das europäisierte Haftungsrecht die Ansicht, dass es das Privatrecht mittlerweile „weniger mit quantitativen Größen in bipolaren Beziehungen“ zu tun habe, sondern „eher mit Fragen kontextualer Gerechtig357 Bydlinski/Mayer-Maly/Reuter, Ethische Grundlagen , S. 105, 114; ders., DZWiR 1993, 45, 48; Busche, Kontrahierungszwang, S. 76; Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 9 f. 358 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 436; Habersack, AcP 189 (1989), 403, 406 ff. 359 Wagner, ZEuP 2007, 180, 182. 360 Pointiert Isensee, in: FS Großfeld, 1999, S. 485, 505: „Das ‚soziale Öl‘ [. . .] ist seither kanisterweise hinzugegossen worden“; a. A. Reichold, JJZ 1992 S. 63, 65. 361 C. Möller, in: FU Berlin Fachbereichsschrift, S. 12, 15 f. 362 Leistner, Richtiger Vertrag, S. 182; siehe auch Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung, S. 62 ff., der zwar einerseits betont, es gebe keinen Schutz der „Institution Wettbewerb“ über die Anerkennung „der im Wettbewerb ablaufenden Koordinationsprozesse zwischen den Marktakteuren sowohl im Einzelnen als auch in der Gesamtheit“ hinaus (S. 63), gleichwohl jedoch das Privatrecht in großem Umfang für die Verwirklichung überindividueller Ziele wie der Rechtsvereinheitlichung im Binnenmarkt öffnen will (S. 6 4); siehe auch S. 65; a. A. Westermann, AcP 208 (2008), 141, 173 ff., der bei § 33 GWB nicht beachtet, dass die Vorschrift das Schutzgesetzerfordernis des § 823 Abs. 2 BGB nicht entfallen lässt, sondern vielmehr ein „Per-se-Schutzgesetz“ statuiert; siehe dazu Teil 9 C. 363 Brüggemeier, Haftungsrecht, 2006, S. 9.
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keit konfrontiert“ sei, „ob und inwieweit es ‚fair, just und reasonable‘ ist, unter den jeweiligen Bedingungen jemanden mit der Haftung zu belegen“. Dabei sei auch „der Einfluss von Politik (Verfassung, staatliche Regulierung), Wirtschaft und Gesellschaft zu berücksichtigen“.364 Allein eine Bezugnahme auf den Vertrag als Institution ist allerdings nicht zielführend; denn die Begriffe Systemschutz und Institutionenschutz sind für sich genommen inhaltsleer.365 Sie gewinnen ihre Aussagekraft erst aus der Verbindung mit bestimmten Vertragsmodellen. Eine vergleichbare Diskussion wird auch in anderen Rechtsgebieten geführt. So wird etwa im Gesellschaftsrecht diskutiert, ob neben dem Schutz der Marktakteure durch Abbau von Wissensasymmetrien ein hiervon zu unterscheidender „Schutz des Marktes, seiner Funktionen und Institutionen“ anzuerkennen sei, also ein über die Kumulation der Einzelinteressen hinausgehendes öffentliches Interesse an der Funktionsfähigkeit der Institution „Markt“.366 Einerseits müsse die individuelle Informationslage der mit einer Unternehmung in Kontakt tretenden Wirtschaftsakteure verbessert werden, um sie so vor wirtschaftlichen Fehldispositionen zu schützen und ihre individuellen Entscheidungen auf eine optimale Informationsbasis zu stellen.367 Das Schutzbedürfnis wird insoweit marktformunabhängig bei informationellen Ungleichgewichtslagen bejaht, die durch marktinterne Gegenstrategien nicht oder nur unzureichend ausgeglichen werden könnten.368 Andererseits müssten über den Schutz des (Binnen-)Marktes und seiner Funktionen hinaus auch gesamtwirtschaftlich notwendige Rechtsformen gewährleistet werden.369 Kern des Institutsschutzes sei somit die Sicherung der Funktionsfähigkeit und Effizienz des Rechts- und Wirtschaftsverkehrs auf europäischen (Kapital-)Märkten sowie der gesellschaftsrechtlichen Organisationsformen.370 Individualschutz und Institutionsschutz ließen sich dabei nicht trennen, sondern seien gleichsam ein „System kommunizierender Röhren“.371 Das sei jedoch nicht im Sinne einer Harmoniethese zu verstehen, da nicht jede Verbesserung der individuellen Entschei364 Brüggemeier, Haftungsrecht, 2006, S. 9 ; ebenso Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung, S. 67. 365 Siehe Teil 1 B. I. 366 Grohmann, Informationsmodell, S. 59. 367 Hopt, ZGR 1980, 225, 234: „Das erste und Hauptziel der Publizität von Gesellschaften ist der Schutz der Gläubiger und der Gesellschafter“ [im Orig. z. T. hervorgeh.]; Merkt, Unternehmenspublizität, S. 296 ff. 368 Grohmann, Informationsmodell, S. 59; siehe zum Kapitalanlegerschutz auch Grundmann, RabelsZ 59 (1990), 283, 285: bei öffentlich angebotenen Effekten hätten alle Anleger ein vergleichbares Schutzbedürfnis; hinzu kämen Aspekte eines „Schutzes der schwächeren Partei“. 369 Grohmann, Informationsmodell, S. 62; Hopt, ZGR 1980, 225, 235; Assmann, Prospekthaftung, S. 293. 370 Ott, Unternehmenspublizität, S. 98; Kübler, AG 1977, 85, 88. 371 Hopt, Kapitalanlegerschutz, S. 52.
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dungsbasis zwingend zu einer Effizienzsteigerung des Marktes führe, wie sich am Beispiel einer generellen Transparenzpflicht zeige, die das Potenzial für Wettbewerb und Innovationen vermindere.372 In der Tat kann ein Zuviel an Transparenz kontraproduktive Effekte haben. So kann eine vollständige Marktransparenz bei oligopolistischer Marktstruktur das Entstehen einer kollektiven Marktbeherrschung begünstigen.373 Darüber hinaus, so wird vorgebracht, seien auch die mit der Informationsaufbereitung und -bereitstellung verbundenen Kosten zu berücksichtigen 374 ; diese könnten die Attraktivität einer Transaktion derart schmälern, dass sie deren Wert weitgehend aufzehrten, weil die Kosten nicht auf eine ausreichend hohe Anzahl von Transaktionen umgelegt werden könnten.375 Gemäß dem unionsrechtlichen Vorrang der Marktintegration sollen danach Maßnahmen des Individualschutzes nur solange zulässig sein, wie sie nicht die „Verwirklichung des Institutionenschutzes stören oder geradezu vereiteln“; der Institutionenschutz stelle mithin „die äußere Grenze des Individualschutzes dar“.376 Dem Wettbewerbsrecht wird trotz des immer mehr in den Vordergrund rückenden „private enforcement“ ebenfalls die Funktion zugesprochen, dem Wettbewerb als Institution zu dienen.377 Dies korrespondiert mit der Frage, ob der Institutionsschutz lediglich „das Verhältnis der individuellen Wettbewerbsfreiheit zu den gleichen Rechten anderer und damit zur rechtlichen Ordnung des Wettbewerbsprozesses“ adressiert, weshalb der Schutz des Wettbewerbs als Institution gleichbedeutend mit dem Schutz einer auf Wettbewerbsfreiheit gegründeten Rechtsordnung ist,378 oder ob damit überindividuelle (Wohlstands-) Ziele im Interesse der Gesamtsozietät in den Vordergrund gestellt werden, und wenn ja, in welchem Verhältnis diese zum Schutz der individuellen Entscheidungsfreiheit stehen.379
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Grohmann, Informationsmodell, S. 63. Zur Frage eines marktbeherrschenden Oligopols auf dem Tankstellenmarkt vgl. BGH v. 6.12.2011 − KVR 95/10, WuW DE-R 3591, 3599 Rn. 49 – Total/OMV. 374 Siehe dazu Assmann, AG 1993, 549, 561 f. 375 Grohmann, Informationsmodell, S. 63 und S. 75 ff.; Kübler, AG 1977, 85, 89. 376 Grohmann, Informationsmodell, S. 63 f.; aus diesem Grunde sei eine Pflicht zur Informationsbereitstellung nur insoweit zulässig, als sie nicht zu einer Marktzutrittsbeschränkung führe. 377 Siehe hierzu Benisch, WuW 1961, 764 ff.; Koenigs, NJW 1961, 1041 ff.; Merz, in: FS Böhm, 1965, S. 227 ff.; Tilmann, GRUR 1979, 825 ff.; Würdinger, WuW 1953, 721 ff.; aus jüngerer Zeit Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Rehbinder, § 33 GWB Rn. 1. 378 So Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S. 83. Siehe auch Möschel, Pressekonzen tration und Wettbewerbsgesetz, 1978, S. 134; Schliesky, Öffentliches Wettbewerbsrecht, 1997, S. 191; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung, S. 63 f. 379 Tendenziell Raiser, in: Summum ius, summa iniuria, S. 145, 157. 373
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II. Das Konzept objektiver Richtigkeit des Vertrages (Schmidt-Rimpler 1941) Vor diesem Hintergrund wollen wir nunmehr auf die klassische Diskussion über die Richtigkeit bzw. Richtigkeitsgewähr des Vertrages eingehen. Dabei wird sich zeigen, dass objektive Gerechtigkeitskonzeptionen im Vertragsrecht an durchgreifenden Begründungsdefiziten leiden. Als Antwort auf Forderungen des nationalsozialistischen Staates nach einer „Erneuerung des Vertragsrechts“ hat Walter Schmidt-Rimpler in einem Gutachten für die Akademie für Deutsches Recht aus dem Jahr 1941 die Theorie von der Richtigkeitsgewähr des Vertrages entwickelt.380 Diese war Gegenstand einer Vielzahl von Interpretationsversuchen, die ihren Ursprung vornehmlich in dem Umstand haben, dass man die Richtigkeit objektiv oder subjektiv verstehen kann. Ursprünglich beruhte Schmidt-Rimplers Theorie auf dem Gedanken, dass dem Vertragsmechanismus – gemeint war der Vertragsschluss381 – in der Regel eine objektive Richtigkeitsgewähr innewohne,382 im Sinne einer ethisch bestimmten Gerechtigkeit, aber auch im Sinne einer von der Gemeinschaft zu beurteilenden Zweckmäßigkeit.383 Richtig sollte ein Vertrag mit anderen Worten nur dann sein, wenn er einer gerechten und zweckmäßigen Gesellschaftsordnung entspreche.384 Der Sinn des Vertrages sei nicht, dem einzelnen Bürger die Gestaltung seiner Rechtsverhältnisse dahingehend zu überlassen, dass er beliebig über deren Inhalt bestimmen könne, auch nicht mit der Einschränkung, 380 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 ff.; siehe zur Entstehung dieser Lehre auch ders., in: FS Raiser, 1974, S. 3, 8 f.; sehr krit. Pflug, Kontrakt und Status, S. 132 ff, der Schmidt-Rimpler nicht nur vorhält, er habe sich mit seiner Theorie ganz den neuen Machthabern zur Verfügung gestellt und nicht etwa den Vertrag retten wollen (S. 132), sondern auch, dass er sich der aus der „konventionell juristischen Diktion“ seiner Texte resultierenden formalen Ambivalenz nach dem Krieg bedient habe, um seine Thesen inhaltlich unverändert, aber „gereinigt“ vom Jargon der NS-Zeit zu vertreten (S. 134). Sein Text aus dem Jahr 1941 habe somit keine „Erneuerung des Vertragsrechts“ gebracht, sondern einen „Bruch“ mit diesem (S. 135). Diese Bewertung erscheint aus dogmatischer Sicht nicht überzeugend; demgegenüber ist nicht zu verkennen, dass sich Schmidt-Rimpler mit seinen Thesen des Jahres 1941 de facto in eine problematische Nähe zum NS-Regime begeben hat. Positiv werden die Thesen Schmidt-Rimplers bewertet von Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1. Aufl. 1968, S. 366 ff., insb. S. 369: „freiheitliche Tendenz“. 381 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle, S. 51. 382 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 149 ff., 156 f. 383 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 132: „Unter Richtigkeit verstehe ich einerseits die ethisch bestimmte Gerechtigkeit im engeren Sinne, andererseits aber auch die von der Gemeinschaft aus gesehene Zweckmäßigkeit, also das, was erforderlich ist, um das Gemeinschaftsdasein und das Gemeinschaftsleben zu verwirklichen und in seiner konkreten Gestalt durchzuführen, einschließlich dessen, was notwendig ist, um bestimmte konkrete Gemeinschaftszwecke zu verwirklichen. Dabei ist das beherrschende Prinzip das der Gerechtigkeit, so dass das Zweckmäßige nur richtig ist, wenn es der Gerechtigkeit nicht widerspricht.“ 384 Siehe zum Begriff der Richtigkeit auch Barnert, Formale Vertragsethik, S. 29 Fn. 175.
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dass er sich dabei nur selbst an die Gemeinschaftsordnung zu binden habe. Der Vertrag bezwecke gar nicht die Willensherrschaft, sei deshalb auch keine Ermächtigung zur Selbstrechtsetzung,385 sondern er sei ein Mechanismus, um ohne hoheitliche Gestaltung in begrenztem Rahmen eine richtige Regelung auch „gegen unrichtigen Willen“ herbeizuführen, weil der durch die Unrichtigkeit Betroffene zustimmen müsse.386 Auch wenn die Richtigkeitsgewähr nur einen begrenzten Umfang habe, sei das Instrument des Vertrages einer hoheitlichen Regelung der Rechtsbeziehungen von Privaten vorzuziehen.387 Eine hoheitliche Regelung sei immer mit erheblichen Fehlerquellen behaftet.388 Darüber hinaus laufe sie Gefahr, persönliche Initiative und „Wirkungskraft“ sowie Verantwortungsfreude zu ersticken.389 Schlussendlich führe eine nachträgliche hoheitliche Kontrolle aufgrund der damit einhergehenden Schwebezustände zu Rechtsunsicherheit und begünstige – in heutiger Diktion 390 – opportunistische Tendenzen der Vertragspartner zur Vertragsuntreue.391 In Fallgestaltungen, in denen der Vertrag nach sorgfältiger Analyse seiner Voraussetzungen keine genügende Richtigkeitsgewähr biete, sei „dann aber ehrlich und bewusst zu hoheitlicher Gestaltung zu schreiten“.392 Der Vertrag stelle insbesondere dann kein geeignetes Ordnungsmittel dar,393 „1. wenn die Freiheit der Entscheidung typisch, insbesondere wegen der Abhängigkeit einer Partei von der anderen oder wegen Unterlegenheit in der Wertungsfähigkeit fehlt“, oder „2. wenn typischerweise eine Wertung oder Abwägung der Rechtsfolge nicht auf beiden Seiten stattfindet, weil hier die Richtigkeitsgewähr entfällt.“ Letzteres sei „insbesondere bei Massenverträgen mit allgemeinen Geschäftsbedingungen“ gegeben, die „natürlich zugleich unter Nr. 1 fallen können“. Demgegenüber seien „gelegentliche Unrichtigkeiten“ hinzunehmen, weil ansonsten der Vorteil der dezentralen Regelung verloren ginge.394 Der Sache nach stellte Schmidt-Rimpler den Vertrag damit angesichts vielfältiger soziologisch nachweisbarer Ungleichgewichtslagen unter den generellen Vorbehalt, dass jedenfalls in der Gesamtschau aller Verträge die objektive Gerechtigkeit nicht verfehlt werde.395
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Vgl. zu den Theorien privater Rechtsetzung Bachmann, Private Ordnung, S. 91 ff. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 156. 387 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 165. 388 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 169. 389 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 170. 390 Vgl. zur Analyse von Verträgen durch die Neue Institutionenökonomik Teil 4 D. II. 3. 391 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 166 f. 392 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 157. 393 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 157 f. Fn. 34. 394 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 166 ff.; siehe dazu auch Barnert, Formale Vertragsethik, S. 32. 395 Vgl. Busche, Kontrahierungszwang, S. 78. 386
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Die Theorie von der Richtigkeitsgewähr sieht in ihrer ersten Version aus dem Jahr 1941 die Privatautonomie somit nicht als eigenständigen Geltungsgrund privater Vereinbarungen an; 396 denn die rechtliche Anerkennung des Vertrages basiert hier nicht auf dem Willen der Parteien, sondern auf der dem Vertrag innewohnenden Richtigkeitsgewähr im Sinne einer Gewährleistung objektiver Gerechtigkeitsvorstellungen.397 Hierdurch rückte Schmidt-Rimpler den Vertrag „explizit aus seiner zentralen Stellung im System des bürgerlichen Rechts heraus“ und entwertete ihn so als Mittel zur „Aktualisierung beidseitig betätigter Autonomie“.398 Die ursprüngliche Theorie Schmidt-Rimplers war deshalb durchaus dahingehend zu verstehen, dass der Vertrag im Einzelfall heteronom vorgegebenen Richtigkeitsvorstellungen entsprechen müsse; aufgrund der zeitlichen Nähe zum nationalsozialistischen Zwangsregime liegt diese Schluss folgerung vielleicht sogar nahe. Die Konzeption erhielt deshalb nicht nur Zustimmung, sondern provozierte auch Kritik.399 So hat ihr etwa Ludwig Raiser400 – selbst ein Verfechter objektiv-inhaltlicher Vertragsergebnissteuerung – entgegengehalten, der Begriff der Richtigkeit des Vertrages sei so komplex, dass er sich nicht für eine Subsumtion eigne.
III. Subjektive Richtigkeitsgewähr des Vertragsschlusses (Schmidt-Rimpler 1974) Wohl auch unter dem Eindruck der vorstehend geschilderten Kritik an seiner Konzeption aus dem Jahr 1941 hat Schmidt-Rimpler seine Theorie in dem Text „Zum Vertragsproblem“ aus dem Jahr 1974 dahingehend abgewandelt, als der Begriff der Richtigkeit auch für subjektive Wertungen der Parteien offen sei.401 „Objektive Gerechtigkeit“ sei „für den Menschen mangels fester Kriterien nicht 396 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 159: „Aus all unseren Erwägungen ergibt sich, dass der Begriff der Privatautonomie unzutreffend ist und Vertrag und Rechtsgeschäft nicht als Rechtsquellen angesehen werden können, was auch rechtspolitisch von grundsätzlicher Bedeutung ist“; siehe auch Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle, S. 52; etwas vorsichtiger Busche, Kontrahierungszwang, S. 77: dem Prinzip der Privatautonomie werde kein besonderer Stellenwert zugemessen. 397 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 157 und 163. 398 Pflug, Kontrakt und Status, S. 132 [im Orig. z. T. hervorgehoben]. 399 Siehe dazu Pflug, Kontrakt und Status, S. 132 ff. 400 Raiser, in: FS Deutscher Juristentag, 1960, S. 101, 118 f.; siehe auch Leistner, Richtiger Vertrag, S. 183 mit Fn. 52. 401 Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 15: „Aber da beide Parteien bei ihrem Gerechtigkeitsurteil im allgemeinen natürlich von den in ihrer Gesellschaft und Rechtsgemeinschaft geltenden Wertungen ausgehen werden, wenn sie einer Partei günstig sind, ist die Erwartung begründet, dass das Ergebnis auch der Gemeinschaftsordnung weitgehend entspricht, ohne dass dies aber natürlich Voraussetzung für die Vertragswirkung wäre“; siehe in Ansätzen auch ders., in: FS Nipperdey, 1955, S. 1, 5 ff.; vgl. auch Schmidt-Salzer, NJW 1971, 5, 8: Durch das Erfordernis beiderseitiger Zustimmung zum Vertragsinhalt werde die Richtigkeit des Vereinbarten im Sinne der „intersubjektiven Ausgleichsgerechtigkeit“ gesichert.
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feststellbar“.402 Der Hinweis auf die Richtigkeitsgewähr des freien Vertrages und seine Berührungspunkte mit dem Prinzip der Gerechtigkeit habe aus rechtspolitischer Sicht nur dazu gedient, das Institut des Vertrages vor dem Zugriff eines totalitären Gesetzgebers zu schützen; 403 dies ist letztlich als ein Eingeständnis der Verfehltheit seiner ursprünglichen Theorie zu bewerten. Die Vertragsfreiheit diene deshalb nicht nur einer Richtigkeitsgewähr, sondern auch der Sicherung individueller Freiheit gegen staatliche Regelung.404 Individuelle Freiheit und objektive Richtigkeit – anders formuliert: Individual- und Institutionsschutz – stünden in keinem Gegensatz zueinander. Der Vertrag sei vielmehr – flankiert durch den zu schützenden Wettbewerb405 – ein Mittel gerechter Ordnung, obwohl bei ihm die Rechtsfolge an den interessenbestimmten Willen der Beteiligten anknüpfe.406 Angesichts der vielfach fehlerfreien und richtigen, da die Interessen der Vertragspartner in einen sachgerechten Ausgleich bringenden Verträge korrespondiere jedenfalls das System der geschlossenen Einzelverträge mit objektiven Gerechtigkeitsvorstellungen im Sinne überindividueller Belange der staatlichen Gemeinschaft,407 habe also mittelbar „eine positive Systemfunktion“.408 Die Theorie von der subjektiven Richtigkeitsgewähr ist hiernach primär als Legitimationsmuster für das Institut des Vertrages zu verstehen, beinhaltet also kein analytisches Konzept zur Beobachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit.409 Bei einem solchen Verständnis stellt die Theorie den bislang wirkungsmächtigsten Ansatz für das Verhältnis von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit dar: 410 Sofern beide Vertragspartner ihre Interessen im Rahmen der vertraglichen Einigung in einen sachgerechten Einklang bringen müssen, jede Vertragspartei also für sie vorteilhafte und nachteilige Regelungen in Kauf nimmt, werden die Rechtsfolgen des Vertrages bei generalisierender Betrachtung für keinen der Vertragspartner subjektiv unbillig sein („volenti non fit iniuria“).411 Blickt man über diese individuelle Vertragsbeziehung hinaus, so spie402 Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 11; aus diesem Grunde habe er – Schmidt-Rimpler – in dem Text von 1941 selbst dem Gesetzgeber ihre Erkenntnis abgesprochen. 403 Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 9; ebenso Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1. Aufl. 1968, S. 369; Limbach, KritV 1986, 165, 176. 404 Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 5 ff.; wie vorliegend Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 36. 405 Indirekt Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 14 und öfter. 406 Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 9. 407 Rittner, AcP 188 (1988), 101, 128; ders., JZ 2011, 269, 272; Busche, Kontrahierungszwang, S. 78; siehe auch Pflug, Kontrakt und Status, S. 137; a. A. M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit, S. 68. 408 So Leistner, Richtiger Vertrag, S. 183. 409 Limbach, KritV 1986, 165, 176. 410 So auch zum Folgenden Canaris, AcP 200 (2000), 273, 284; vgl. zur Entwicklung der Zivilrechtswissenschaft im Anschluss an die „Lehre“ Schmidt-Rimplers die Nachweise bei Barnert, Formale Vertragsethik, S. 32 ff. 411 Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 56.
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gelt der Vertrag als Rechtsinstitut nicht nur die subjektive Willkür der Vertragsparteien wider, sondern enthält zugleich ein Element objektiver Ordnung.412 Der Vertragsfreiheit kommt nach dieser Konzeption also als Regelungssystem neben [!] den Grundsätzen der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung noch eine weitere Legitimation als Ordnungsprinzip zu.413 Wenn auch nicht notwendig der jeweilige Einzelvertrag eine angemessene Ordnung konstituiert, so ist doch zu erwarten, dass die geschlossenen Verträge insgesamt zu einer vernünftigen, die beiderseitigen Interessen der Vertragspartner wahrenden Ordnung führen.414 Aus dieser spezifischen Ordnungsfunktion des fehlerfrei zustande gekommenen zivilrechtlichen Vertrages folgt zugleich, dass die Rechtsordnung die von den Parteien getroffene subjektive Äquivalenzbestimmung grundsätzlich nicht auf ihre Vereinbarkeit mit objektiven Gerechtigkeitskriterien überprüfen soll.415 Darüber hinaus bewirkt die dem Vertrag zukommende Ordnungsfunktion, dass eine Gerechtigkeitskontrolle unter dem Gesichtspunkt der „Gemeinschaftsverträglichkeit“ unzulässig ist, so dass den Vertragsparteien im Endergebnis hinsichtlich der Richtigkeit des Vertragsinhalts eine Beurteilungsautonomie zusteht („subjektive Richtigkeit“).416 Hierauf ist zurückzukommen.
IV. Das Sozialstaatsprinzip als Quelle überindividueller Vertragsgerechtigkeit? 1. Die Bürgschafts-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In jüngerer Zeit wird zunehmend versucht, eine Inpflichtnahme des Privatrechts für ethische Zwecke unter Zurückdrängung des Primats material-faktischer Selbstbestimmung aus den Grundrechten herzuleiten.417 Historisch zeigte sich die verfassungsrechtliche Anerkennung eines eigenständigen Ordnungsauftrags des Privatrechts im Sinne eines angemessenen Ausgleichs von Freiheitsrechten darin, dass man die Grundrechte in Rechtsverhältnissen von Privaten nicht unmittelbar, sondern nur als die Auslegung leitende objektive Wertmaßstäbe zur Geltung brachte.418 Die Grundrechte konnten hiernach nicht direkt für eine Vertragsinhaltskontrolle instrumentalisiert werden. Dies änderte sich mit der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, wonach die Normen des Privatrechts als staatliche Akte der unmittelbaren Grund412
Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle, S. 53. Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 56. 414 Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 14. 415 Schmidt-Salzer, NJW 1971, 5, 8 ff., insb. 10. 416 Schmidt-Salzer, NJW 1971, 5, 10. 417 Krit. Bydlinski/Mayer-Maly/Reuter, Ethische Grundlagen, S. 105, 114; ders., DZWiR 1993, 45, 48. 418 Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, S. 36 f.; Reichold, JJZ 1992, S. 63, 67. 413
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rechtskontrolle unterliegen sollen.419 Diese Lehre konnte jedenfalls im Ergebnis zu einer Art unmittelbarer Drittwirkung führen: Wendet man auf einen Sachverhalt die Generalklauseln des Privatrechts an (§§ 138, 242 BGB), kommt es in diesem Rahmen zu einer Abwägung der widerstreitenden, grundrechtlich geschützten Interessen.420 Dogmatischer Anknüpfungspunkt marktkompensatorischer Privatrechtstheorien ist insoweit vor allem das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Freiheitsgarantien und das Prinzip der Sozialstaatlichkeit werden dazu in einem dialektischen Verhältnis gesehen, da sie sich nicht isolieren ließen, sondern „einander zugeordnet“ seien „zu einer spannungsreichen, nicht vorgegebenen, sondern uns allen aufgegebenen Einheit“.421 Dieses Spannungsverhältnis sei auf verfassungsrechtlicher Ebene durch „lückenlose Konkordanz“ aufzulösen, und zwar in Form „einer Bändigung ungezügelter Eigennützigkeit zu Gunsten einer die rechtstaatlichen Errungenschaften sowohl respektierenden als zugleich weiterführenden Sozialpflichtigkeit“.422 Das führe zu einer inhaltlichen Neubestimmung der Privatautonomie, die nicht (mehr) als totale Ungebundenheit verstanden werden dürfe, sondern auf den eigentlichen Kern ihrer Verleihung zurückzuführen sei, nämlich zum Zwecke selbstbestimmter Teilhabe am allgemeinen Rechts- und Wirtschaftsverkehr.423 Nach einem solchen Verständnis ist das Privatrecht zuvörderst einem Grundsatz der „vertraglichen Solidarität“ verpflichtet.424 Dieses Ziel sei vor al419 Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 89 ff., 139 f.; Merten/Papier/Ch. Calliess, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 44 Rn. 18; Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 438. Siehe auch Isensee, DNotZ 2004, 754, 765, der zwischen der prototypischen Schutzpflicht (Verhinderung von Übergriffen eines Privatrechtssubjekts in die Rechtsgüter eines anderen durch den Staat) und der vorliegend in Rede stehenden „sozialstaatlich motivierten Schutzpflicht als Rechtstitel zur Inhaltskontrolle“ unterscheidet. 420 Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 471 f., der freilich darauf hinweist, dass die Schutzpflichtlehre bei richtiger Anwendung praktisch autonomiefreundlichere Ergebnisse zeigt, indem man – neben psychologischen Aspekten – ein Prüfungsschema formuliert, das den Normanwender zum Respekt vor marktkonformem Verhalten anhält. Krit. zur – vorliegend nicht zu vertiefenden – Diskussion über die „Konstitutionalisierung“ des Privatrechts Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 36: Grundrechte seien auf vertragliche Absprachen weder unmittelbar noch mittelbar anzuwenden. Die Intention von Zöllner zeigt sich in folgenden Ausführungen [a. a. O.]: „Denn auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Hürden für Verfassungsbeschwerden hoch anzusetzen versucht hat, ist seine Entscheidung geeignet, vermeintlich fortschrittlichen Rechtsanwendern eine Handhabe für die Aushebelung der Bindung an Verträge zu bieten“; siehe auch Wagner, in: Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, S. 13, 58 ff., insb. S. 76; Isensee, in: FS Großfeld, 1999, S. 485, 500 ff.; ders., DNotZ 2004, 754, 765. A. A. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75 f., 85; Gaier, ZEV 2006, 2, 3 f. und 7. Monographisch Böckenförde, Lage der Grundrechtsdogmatik, insb. S. 32 ff.; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte. 421 Raiser, JZ 1958, 1, 6. 422 Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1 AT, S. 7. 423 Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. 1 AT, S. 8 [im Orig. z. T. gesperrt gedruckt]. 424 Lurger, Vertragliche Solidarität, S. 128; siehe dazu Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 581 ff.
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lem durch zwingende Vertragsnormen zu erreichen.425 Da Vertrags- und Inhaltsfreiheit keine inhaltlich „richtigen“ Regelungen hervorbringen könnten, seien sie allenfalls durch ein „organisatorisch-technisch verstandenes Subsidiaritätsprinzip“ zu rechtfertigen, wonach die Individuen solange privatautonom vereinbaren könnten, solange die Regelungsaufgabe „noch nicht von anderen befugten Organisationseinheiten [. . .] wahrgenommen worden“ sei.426 Verstärkt in den Blick zu nehmen seien das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung im Sinne eines materiellen Äquivalenzprinzips sowie die gerechte Verteilung der mit einem Vertrag verbundenen Risiken und Lasten.427 Es gehe um „eine Abwägung der Interessen“ der Vertragsparteien, „bei der insbesondere die Zumutbarkeit des Selbstschutzes des Verletzten und die Verkehrserwartungen und die Fairness des Partners beim Zustandekommen und bei der Abwicklung von Verträgen eine Rolle“ spielten.428 Von diesem Ausgangspunkt her ist es nur noch ein kleiner Schritt, um aus der ungleichen Verteilung von Eigentumsrechten auf eine unterschiedliche Verteilung von Selbstbestimmungschancen zu schließen, die zu einem „generellen Marktversagen“ führe.429 Dieses nötige dazu, die Kritik am Privatrecht „bis zu ihrer letzten und entscheidenden Konsequenz voranzutreiben und etwa die ‚Gesellschaft der Individuen‘ für beendet zu erklären“.430 Entscheidender Bezugspunkt für einen gerechten Interessenausgleich sei der Status einer Person, weshalb der Einzelne in der Korporation aufgehe, die allein über hinreichende Gegenmacht verfüge.431 Das BVerfG hat diesem Ansatz im Handelsvertreter-Beschluss aus dem Jahr 1990432 und in der Bürgschaftsentscheidung aus dem Jahre 1993 de facto zum Durchbruch verholfen.433 In diesen Entscheidungen hat es die bis dahin vorherrschende, eher formale Sicht der Privatautonomie des BGH zurückgewiesen.434 Die Urteile werden in Zusammenschau mit der Rechtsprechung zur Un425
E. Schmidt, JZ 1980, 153, 156. Jürgen Schmidt, Vertragsfreiheit und Schuldrechtsreform, S. 239 und öfter; dagegen Picker, JZ 1988, 339 ff. 427 Larenz/Wolf, BGB-AT, S. 28 f. 428 Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt Universität Berlin, 2010, S. 981, 992. 429 So noch im Jahr 1988 S. Simitis, KJ 1988, 32, 34. 430 S. Simitis, KJ 1988, 32, 40. 431 S. Simitis, KJ 1988, 32, 35. 432 BVerfG v. 7.2.1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469 – Handelsvertreter. In dieser Entscheidung überprüfte das BVerfG die Zulässigkeit eines vertraglichen Wettbewerbsverbots am Maßstab der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG als gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG speziellerer Freiheitsverbürgung. Siehe dazu Hillgruber, AcP 191 (1991), 69 ff.; Medicus, AcP 192 (1992), 35, 61 f. und 64; Reich, JZ 1997, 609; Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 5. 433 BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89 u. a., NJW 1994, S. 36 ff. Die Entscheidung war und ist Gegenstand vielfältiger Stellungnahmen, siehe nur Adomeit, NJW 1994, 2467, 2468; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 296 ff.; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 3 Fn. 20 und Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 2 Fn. 7. Vgl. auch BVerfG v. 2.5.1996 – 1 BvR 696/96, NJW 1996, 2021. 434 BGH v. 19.1.1989 – IX ZR 124/88, BGHZ 106, 269; dem BGH zu stimmten Medicus, 426
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wirksamkeit eines Unterhaltsverzichts in Eheverträgen435 – wie wir schon in Zusammenhang mit der Diskussion über die Wirtschaftsverfassung gesehen haben – als „Höhepunkte des Materialisierungsprozesses“ eingestuft,436 da sie den Schutz der Selbstbestimmung vor einseitiger Fremdbestimmung durch den überlegenen Vertragspartner nicht mit dem Grundsatz materialer Vertragsfreiheit, sondern mit primär staatsgerichteten Gemeinwohlaspekten, namentlich dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG begründeten. Dies zeigt für Reinhard Singer, dass das „Recht sich nicht mehr mit der Gewährleistung formaler Vertragsfreiheit“ begnüge, „die das Phänomen wirtschaftlicher und sozialer Macht förmlich ignoriert, sondern [. . .] materiale Vertragsgerechtigkeit gewährleisten“ solle, „um jene zu schützen, deren Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung bedroht ist“.437 In der herausragend wichtigen Bürgschaftsentscheidung ging es um die Wirksamkeit eines Bürgschaftsvertrages in Höhe von umgerechnet ca. 50.000,– EURO zwischen einer Geschäftsbank und einer im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung vermögens- und nahezu einkommenslosen jungen Frau ohne qualifizierte Berufsausbildung zu Gunsten ihres zunächst als Immobilienmakler und später als Reeder tätigen Vaters. Die Bank nahm die Frau im Anschluss an die Zahlungsunfähigkeit des Vaters aus der Bürgschaft in Anspruch, obwohl der Filialleiter der Bank bei Unterzeichnung des Vertrages betont hatte, „man benötige die Bürgschaftserklärung nur für die Akten“. Der BGH hatte den Bürgschaftsvertrag als wirksam angesehen, da eine volljährige Person auch ohne besondere Erfahrung im Geschäftsverkehr wissen müsse, dass die Abgabe einer Bürgschaftserklärung ein hochriskantes Rechtsgeschäft sei, und rechtsgeschäftliche Erklärungen regelmäßig nicht nur „für die Akten“ seien.438 Demgegenüber betonte das im Wege der Verfassungsbeschwerde angerufene BVerfG,439 dass ein offenkundiges Verhandlungsungleichgewicht zwischen Bürgschaftsempfänger und Bürge vorlegen habe, eine „gestörte Vertragsparität“, die durch Anwendung der allgemeinen privatrechtlichen Generalklauseln kompensiert werden müsse, da die grundgesetzlich verbürgte Privatautonomie der Sicherung der Freiheit aller Vertragsbeteiligten diene. Meines Erachtens hat die Bürgschaftsentscheidung den konkreten Sachverhalt nur im Ergebnis überzeugend gelöst. Demgegenüber ist die dogmatische Begründung zweifelhaft, da sie Anklänge an eine material-objektive VertragsZIP 1989, 817; Westermann, JZ 1989, 746, 747; ders., ZHR 153 (1989), 123, 138 f.; Reichold, JJZ 1992, S. 63, 79: „Konsequenzen der Privatrechtsgesellschaft als einer Risikogesellschaft.“ A. A. Mayer-Maly, AcP 194 (1994), 105, 151 ff.; Reinicke/Tiedtke, ZIP 1989, 613 ff.; Reifner, ZIP 1990, 427. 435 BVerfG 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89, 102 – Unterhaltsverzichtsvertrag. 436 Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt Universität, 2010, S. 981, 994. 437 Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt Universität, 2010, S. 981, 994. 438 BGH v. 16.3.1989 – IX ZR 171/88, NJW 1989, 1605 ff. 439 BGH v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89 u. a., NJW 1994, 36, 38 f.
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inhaltskontrolle enthält, die den Prinzipien eines auf (beidseitiger) Selbstbestimmung gründenden Privatrechts widerspricht. So ist wenig einleuchtend, dass das BVerfG die Notwendigkeit einer Vertragsinhaltskontrolle bei strukturell ungleicher Verhandlungsmacht aus dem Sozialstaatsprinzip herleitet, obwohl man eine solche auch aus dem Grundsatz der Selbstbestimmung selbst ableiten könnte. Darüber hinaus ist das im Sozialstaatsgrundsatz angelegte Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit vornehmlich im öffentlichen Recht – bei der Verteilung von Gütern und Lasten durch den Staat – angesiedelt. Demgegenüber geht es im Privatrecht um den Ausgleich der Interessen von (chancen-) gleich-freien Personen. Auch die Merkmale „strukturelle Unterlegenheit“ und „Vertragsparität“ sind für sich genommen zu vage, um hierauf eine richterliche Vertragsinhaltskontrolle stützen zu können.440 Würde man jeden Vertrag daraufhin überprüfen, ob er das Ergebnis ungleicher Verhandlungsmacht sei, liefe dies im Ergebnis auf eine allgemeine wirtschaftliche Geschäftsfähigkeit analog § 104 BGB hinaus, wie sie von Manfred Wolf vorgeschlagen und zu Recht allgemein abgelehnt worden ist.441 Sofern es um die rechtliche Beurteilung wirtschaftlicher Machtpositionen geht, sieht der Gesetzgeber schließlich mit dem Wettbewerbs- und dem Regulierungsrecht spezielle Normen vor, welche die damit einhergehenden Wertungsprobleme einer differenzierten Lösung zuführen. Für ein pauschales Argumentieren mit dem Sozialstaatsgrundsatz verbleibt deshalb kein Raum.442 Im Schrifttum werden die missverständlichen Formulierungen der Bürgschaftsentscheidung dahingehend gedeutet, dass das BVerfG allein die ungleiche Verteilung privater Macht als allgemeines Massenphänomen adressieren wollte, wie es auch der AGB-Kontrolle zugrunde liege.443 In der Tat forderte das Gericht zusätzlich zur „strukturell ungleichen Verhandlungsstärke“ und der dadurch bewirkten „gestörten Vertragsparität“ eine „typisierende Fallgestaltung“.444 Hierin kann man womöglich einen Hinweis auf die im Grundsatz „pacta sunt servanda“ zum Ausdruck kommende Ordnungsfunktion des Vertrages sehen, die eine einzelfallbezogene Überprüfung von Verträgen anhand
440 Adomeit, NJW 1994, 2467, 2468; Zöllner, AcP 196 (1996), 28 ff.; Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 251 ff.; Wackerbarth, AcP 200 (2000), 45, 55 f.; Mohr, AcP 204 (2004), 660, 680; Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191, 1204. 441 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit, S. 125 ff. 442 Es sei denn, man versteht diesen seinerseits als Ausdruck material-chancengleicher Selbstbestimmung; so Mohr, WuW 2011, 112, 113 f. 443 So die Interpretation von Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 276. 444 BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvL 9/02 u. a., BVerfGE 111, 115, 137; siehe auch Wernsmann, DStR-Beih. 2011, 72. Die Subsumtion eines Sachverhalts unter das Merkmal der „typischen Fallgestaltung“ ist dogmatisch nicht unproblematisch, da hierzu vorher zu bestimmen ist, welche Sachverhalte als typisch und welche als untypisch gelten. Siehe grundsätzlich Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 335; Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 43 ff.
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des Kriteriums der Selbstbestimmung grundsätzlich ausschließt,445 sofern nicht qualifizierte Voraussetzungen gegeben sind.446 Man kann – und dies ist meine Deutung – in der Bürgschaftsrechtsprechung aber auch eine Fortführung des in § 138 Abs. 2 BGB angelegten Rechtsgedankens sehen. 447 So kam zur emotionalen Drucksituation, welche die tatsächliche Entscheidungsfreiheit beeinflusst hatte, ein inhaltlich unausgewogener Vertrag hinzu („ungewöhnlich starke Belastung“ des Bürgen).448 Beide Umstände waren nach Feststellungen der In stanzgerichte der Bank zuzurechnen.449 Auch die – bis heute nicht aufgelösten – unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten zeigen aber letztlich, dass die Bürgschaftsrechtsprechung in ihrer Allgemeinheit mehr Fragen aufgeworfen als gelöst hat. Es macht zuweilen den Anschein, als ob das BVerfG als „ungerecht“ empfundene Sachverhalte durch einen allgemeinen Rekurs auf die Grundrechte gelöst hat, ohne ein tragfähiges dogmatisches Konstrukt zu etablieren. Dies zeigt auch seine Entscheidung zum Erbfolgestreit im Hause Hohenzollern aus dem Jahr 2004, in der das Gericht die Eingriffsvoraussetzung einer „typisierenden Fallgestaltung“ de facto wieder aufgegeben hat, da es den Fall ansonsten wohl nicht hätte entscheiden können.450 Dieser Beschluss betraf aufgrund des spezifischen Streitgegenstands – es ging um die Wirksamkeit einer sog. Ebenbürtigkeitsklausel in einem Erbvertrag – nur eine kleine Gruppe von Familien des Hochadels.451 Aufgrund der konkreten Fallkonstellation – der Erbe hatte insgesamt dreimal durch notariellen Vertrag auf sein Erbe verzichtet [sic!] – war auch eine typische Gefährdung der material-faktischen Selbstbestimmung ausgeschlossen; denn wofür ist eine notarielle Beurkundung sonst noch gut.452 Selbst die notariellen Verzichtserklärungen hielt das BVerfG aber für unbeachtlich, da sie nur eine Gefährdung der Freiwilligkeit indizierten.453 In jüngerer Zeit verwendet das Gericht die missverständlichen Begriffe der 445 Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, S. 164; Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 255. 446 Habersack, AcP 189 (1989), 403, 412 f., zur „Richtigkeitsgewähr notariell beurkundeter Verträge“; ebenso Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 44. 447 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 296 ff.; ebenso Singer, FS 200 Jahre Humboldt-Universität Berlin, 2010, S. 983, 994 und 998 ff.: durchweg Fälle, „die sehr nahe am Tatbestand des § 138 Abs. 2 BGB angesiedelt sind“ (S. 999). 448 Dafür ist nicht notwendigerweise ein inhaltlich unausgewogenes Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung zu fordern [dieses gibt es bei einer Bürgschaft als einseitig verpflichtendem Rechtsgeschäft nicht!]; es reicht vielmehr ein offensichtlich unausgewogener Interessenausgleich; vgl. Singer, in: FS 200 Jahre Humboldt Universität Berlin, 2010, S. 983, 1000. 449 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 296 ff. 450 BVerfG v. 22.3.2004 – 1 BvR 2248/01, NJW 2004, 2008 – Ebenbürtigkeitsklausel im Erbvertrag. 451 Wagner, in: Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, S. 70. 452 Wagner, in: Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, S. 70. 453 BVerfG v. 22.3.2004 – 1 BvR 2248/01, NJW 2004, 2008, 2010. Krit. Isensee, DNotZ 2004, 754, 759 ff.; Gutmann, NJW 2004, 2347, 2348.
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„strukturell ungleichen Verhandlungsstärke“ und der „gestörten Parität“ gar nicht mehr. Es stellt vielmehr – meines Erachtens überzeugend – auf das Fehlen der faktischen Selbstbestimmung durch eine erhebliche ungleiche Verhandlungsposition und damit auf die Sicherung der material-faktischen Vertragsfreiheit ab.454 2. Europäisches Privatrecht Das Sozialstaatsprinzip ist – wie wir schon gesehen haben – nicht nur im deutschen Grundgesetz, sondern auch auf der Ebene der EU verankert, die nach Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV einer sozialen Marktwirtschaft verpflichtet ist.455 Trotz der gleichrangigen Verwendung der Vokabeln „Marktwirtschaft“ und „sozial“ steht die Herstellung einer wettbewerblichen Marktordnung im Vordergrund, die durch den Unionsgesetzgeber mit den sozialen Zielen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen ist.456 Im Rahmen der Diskussion über die richtige Ausgestaltung eines künftigen Europäischen Privatrechts steht insbesondere die „Study Group on Social Justice in European Private Law“ für die Betonung der sozialen Verantwortung des Privatrechts. In einem 2004 veröffentlichten „Manifest“ wandten sich die Mitglieder der Gruppe gegen einen rein „technokratischen Ansatz“ bei der Harmonisierung der einzelnen europäischen Privatrechte.457 Insbesondere sei es nicht ausreichend, ein gemeineuropäisches Privatrecht allein unter dem Blickwinkel der Herstellung des Binnenmarktes zu betrachten.458 Zwar handle es sich dabei um ein berechtigtes Anliegen, doch habe ein modernes Vertragsrecht auch den auf Herstellung sozialer Gerechtigkeit entsprechenden Regelungszielen Rechnung zu tragen.459 Aus diesem Grunde müsse der Schutz der Verbraucher erheblich verstärkt werden; denn die bisherige Ausrichtung des europäischen Verbraucherschutzes auf die Sicherung einer rationalen Entscheidung durch Ex-ante-Information sei nicht zureichend.460 Da sich der Wohlfahrtstaat westeuropäischer Prägung auch wegen der prekären öffentlichen Haushalte zunehmend auf seine klassischen Aufgaben zurückziehe, müsse das Privatrecht auf die Verteilungseffekte der jeweiligen Marktregelung Rücksicht 454 BVerfG v. 7.9.2010 – 1 BvR 2160/09, 851/10, WM 2010, 2044; wie vorliegend schon Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 274; Gernhuber, JZ 1995, 1086, 1091; Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 27. Missverständlich demgegenüber BGH v. 15.1.2013 – XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519 Rn. 27 – Kündigung eines Girovertrages. 455 Vgl. Maunz/Dürig/Scholz, Art. 23 GG Rn. 79. 456 Siehe oben Teil 2 C. 457 Study Group on Social Justice in European Private Law, ELJ 2004, 653, 655; siehe dazu und zum Folgenden auch Wagner, ZEuP 2007, 180, 184 ff. 458 Study Group on Social Justice in European Private Law, ELJ 2004, 653, 656. 459 Study Group on Social Justice in European Private Law, ELJ 2004, 653, 656. 460 Study Group on Social Justice in European Private Law, ELJ 2004, 653, 661.
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Teil 3: Vertragstheorien
nehmen und sich damit wieder stärker an dem Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit orientieren.461 Im Rahmen einer Konstitutionalisierung des Privatrechts müsse die Vertragsfreiheit deshalb auf „unionsverfassungsrechtlicher Ebene“ mit den menschenrechtlichen Garantien der EU-Grundrechte-Charta harmonisiert werden, zum Beispiel mit den Gewährleistungen der Menschenwürde, der Freiheit, Gleichheit und Solidarität.462
D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit I. Unterscheidung zwischen monistischen und dualistischen Ansätzen Zur Auflösung des spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen „formaler Freiheitsethik“ und „materialer Verantwortungsethik“463 lassen sich wie gesehen drei repräsentative Positionen unterscheiden: 464 Für die erste Ansicht besteht das Fundament der Privatautonomie und damit auch der Vertragsfreiheit zuvörderst im Grundsatz „stat pro ratione voluntas“, weshalb die „Gestaltung der Selbstbestimmung [. . .] einem rechtlichen Urteil, ob sie ‚richtig‘ ist, nicht zugänglich“ sei (Flume).465 Nach einer zweiten Sichtweise gibt es Vertragsfreiheit in Wirklichkeit überhaupt nicht, weshalb sie durch die Vertragsgerechtigkeit als „materiales Funktionsprinzip des Vertragsrechts“ zu ersetzen sei (Zweigert/ Kötz).466 Da eine Vertragsinhaltskontrolle auf der Grundlage materialer Gerechtigkeitsprinzipien wegen des Fehlens allgemein konsentierter und praktikabler Bewertungsmaßstäbe zunehmend kritisch gesehen wird, stützt sich eine Spielart dieser Auffassung seit den 1990er-Jahren auf eine vor allem aus dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) folgende staatliche Schutzpflicht (Derleder).467 Hierdurch wird freilich nur die dogmatische Herleitung ausgewechselt, ohne das materielle Begründungsproblem zu lösen. Eine dritte und, wie im Folgenden zu zeigen ist, in ihrem selbstbestimmungsbezogenen Ausgangspunkt überzeugende Konzeption lehnt sich an SchmidtRimplers Lehre von der subjektiven Richtigkeit des Vertragsmechanismus an,468 461
Study Group on Social Justice in European Private Law, ELJ 2004, 653, 665. Study Group on Social Justice in European Private Law, ELJ 2004, 653, 667 ff. 463 So der Untertitel des Aufsatzes von Dieter Reuter in AcP 189 (1989), 199 ff.; siehe auch den Titel des Tagungsbandes zum 65. Geburtstag von Reuter „Formale Freiheitsethik oder materiale Verantwortungsethik.“ 464 Canaris, in: FS Lerche, 1993, S. 873, 881 ff.; Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 69 f. 465 Repräsentativ Flume, BGB-AT Bd. II, § 1, 5 und 6a. 466 Repräsentativ ihre Rechtsvergleichung, S. 10. 467 Derleder, KJ 1995, 320 ff. 468 Diese ist von der ebenfalls von Schmidt-Rimpler vertretenen Theorie von der objektiven Richtigkeitsgewähr abzugrenzen; dazu Teil 3 D. IV. 462
D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit 191
die den funktionalen Zusammenhang zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit herausgearbeitet hat.469 Hiernach stehen individuelle Freiheit und Richtigkeitsgewähr des Vertrages (besser: Richtigkeitschance des Vertrages470) in keinem Gegensatz zueinander. Der Vertrag ist vielmehr gerade deshalb ein Mittel gerechter „privater Ordnung“, weil bei ihm die Rechtsfolge an den interessenbestimmten Willen der Beteiligten anknüpft.471 Richtigkeits- und Selbstbestimmungslehre stehen nach dem Konzept der Richtigkeitschance des Vertrages also nicht in einem Verhältnis der Gegensätzlichkeit, sondern in einem solchen der Komplementarität, da der Vertrag ein Mittel zur Verwirklichung von Selbstbestimmung und zugleich von prozeduraler Gerechtigkeit ist.472 Grundvoraussetzung und rechtspolitische Legitimation einer solch prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit ist das Bestehen eines funktionsfähigen Wettbewerbs.473 Aus diesem Grunde muss die Rechtsordnung korrigierend eingreifen, wenn der Wettbewerb auf Märkten aus situationsspezifischen oder strukturellen Gründen gestört ist.474 Sofern es auf der Grundlage der hier favorisierten dritten Lösung typischerweise zu einem (juristisch zu definierenden) „Vertragsversagen“ kommt, weil etwa bestimmte Vertragsklauseln wie Haftungsfreizeichnungen oder Beschränkungen der Mängelhaftung für die rechtsgeschäftliche Entscheidung einer Partei aufgrund ihres „rationalen Desinteresses“475 keine Rolle spielen, sind die entsprechenden Defizite durch zwingendes Schutzrecht zu beheben. Hier stehen sich wiederum verschiedene Konzepte gegenüber: Während einige für einen Vorrang von Informationspflichten plädieren, sehen andere eine Notwendigkeit für zwingende (Gewährleistungs-)Vorschriften oder Widerrufsrechte. Die entsprechenden Rechtsfragen stellen sich derzeit auch im Rahmen der Schaffung eines gemeineuropäischen (Kauf-)Vertragsrechts.476 Demgegenüber ist der Begriff der Richtigkeitschance im wirtschaftlichen Verkehr nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einer „Chance auf einen ökonomisch effizienten Vertrag“; 477 denn auf der Grundlage einer prozeduralen Gerechtigkeitstheorie steht ein freiheitliches Verständnis des Wettbewerbsprozesses im Vor
469
Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 9 f. M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit, S. 74. 471 Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 9. 472 So Habersack, AcP 189 (1989), 403, 409. 473 Mestmäcker, JZ 1964, 441 ff.; ebenso im Ergebnis Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 14 und öfter. 474 Basedow, AcP 200 (2000), 445, 487. 475 Dauses/Micklitz/Rott, H. V. Verbraucherschutz Rn. 596; zur Neuen Institutionenökonomik siehe Teil 4 D. II. 476 Eidenmüller/Jansen/Kieninger/Wagner/Zimmermann, JZ 2012, 269, 276 ff. 477 Mankowski, Beseitigungsrechte, S. 1139; Basedow, AcP 200 (2000), 445, 487. 470
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Teil 3: Vertragstheorien
dergrund, das einer wohlfahrtsökonomischen Effizienzausrichtung widerspricht. Im Einzelnen:
II. Unzulänglichkeit einer rein instrumental-formal verstandenen Vertragsfreiheit Gegen die erstgenannte, u. a. von Flume vertretene Ansicht spricht, dass eine lediglich instrumental-formal verstandene Vertragsfreiheit, die sich allein über ihre Erscheinungs- und Ausübungsformen definiert, weder mit der geltenden Wirtschaftsverfassung noch mit dem System des Privatrechts konform geht. Bereits das Bürgerliche Gesetzbuch des Jahres 1900 verhielt sich gegenüber dem Ergebnis einer vertraglichen Einigung nicht indifferent, sondern statuierte mit den §§ 134, 138, 315 BGB Schutznormen für die Vertragsfreiheit, die aus heutiger Sicht als – wenn auch unzulängliche – Ausformungen eines materialen Vertragsprinzips eingeordnet werden können.478 Angesichts des klassischen Bestands der Vorschriften zum Schutz der Selbstbestimmung, wozu auch der Schutz von Minderjährigen, die Möglichkeit einer Lösung vom Vertrag bei Irrtum, Täuschung und Drohung, der Formzwang für einschneidende und schwer zu überschauende Rechtsgeschäfte oder das Verlangen von „Seriösitätsindizien“ wie der Gegenseitigkeit des vertraglichen Leistungsversprechens gehören, ging der Vorwurf, das Bürgerliche Gesetzbuch des Jahres 1900 sei allein der formalen Vertragsfreiheit verpflichtet gewesen, bei Lichte besehen schon immer ins Leere.479 Allerdings wurde von den Befürwortern des klassisch liberalen BGB-Vertragsrechts zu wenig beachtet, dass die vorbenannten Vorschriften keinen dauerhaften und fest gefügten Kanon zum Schutz privatautonomer Gestaltung enthielten, sondern lediglich eine historisch bedingte – und schon bei ihrer Schaffung unzulängliche – Fixierung nicht abschließender Fallgruppen gestörter faktischer Entscheidungsfreiheit.480 Im Falle einer Änderung der soziologischen Voraussetzungen und Techniken des Vertragsschlusses (Stichwort: Massenvertrag) entsprach es deshalb eigentlich schon immer dem immanenten Regelungsplan des Bürgerlichen Rechts, die hierdurch hervorgerufenen Gefahren für die materiale Selbstbestimmung zu beheben. Dies erfordert nicht nur die Sicherung der konstitutiven Voraussetzungen, unter denen Vertragsfreiheit und Privateigentum für alle Bürger wünschenswerte Resultate zeigen können, durch ein funktionsfähiges Wettbewerbsrecht,481 sondern kann auch die Schaffung von einseitig zwingendem Recht zu Gunsten der unterlegenen Vertragspartei 478 Reuter, AcP 189 (1989), 199, 219; Busche, Kontrahierungszwang, S. 74, der insoweit der Ansicht ist, die §§ 134, 138 BGB fußten auf den Wertideen der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit (S. 75). 479 So Wagner, ZEuP 2007, 180, 194 f. 480 Wagner, ZEuP 2007, 180, 195. 481 MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 34.
D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit 193
oder eine richterliche Billigkeitskontrolle von Verträgen rechtfertigen.482 Paradigmatisch für eine Verwirklichung der Grundwerte Selbstbestimmung und Selbstverantwortung durch jeweils problemadäquate Rechtsstrukturen483 ist die Entwicklung eines privatrechtskonformen, da wettbewerbsfördernden Regulierungsrechts in den Sektoren Energie, Telekommunikation und Eisenbahnen, das auf das Versagen des Wettbewerbsprozesses in von natürlichen Monopolen und von sonstigen persistenten marktmächtigen Stellungen geprägten Märkten überzeugend durch eine wettbewerbsanaloge Gestaltung der Märkte reagiert.
III. Keine Ausrichtung des Vertrages auf heteronome Gerechtigkeitsvorstellungen 1. Verstoß gegen den Grundsatz der individuellen Selbstbestimmung Auch die zweitgenannte Ansicht, die den Grundsatz der Selbstbestimmung durch heteronom festgesetzte Gerechtigkeitsanforderungen substituieren will, kann nicht überzeugen. Gegen derartig „soziale“ Vertragstheorien, die mit Hilfe des Vertragsrechts gesellschaftspolitische und ökonomische Ziele zu verwirklichen suchen, spricht bereits, dass sie bei stringenter Anwendung zu einem Bruch mit dem grundlegenden, in der Menschenwürde fußenden Prinzip der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Menschen484 und damit mit der geltenden Privatrechtsordnung führten, da die Bedeutung des Vertrages als Instrument der Rechtsgestaltung allein auf „soziale“ Funktionen verkürzt würde.485 Eine strikte Verpflichtung der Bürger auf obrigkeitsstaatlich festgelegte Wert- und Wertevorstellungen im Privatrecht trägt außerdem die historisch begründete Gefahr des Missbrauchs in sich (siehe Schmidt-Rimplers Theorie aus dem Jahr 1941!), weshalb sich unsere Rechtsordnung für ein freiheitlich-marktwirtschaftliches System entschieden hat,486 das auf der Grundlage einer funktionsfähigen Wettbewerbsordnung Freiheit und Wohlstand aller Bürger sichert.487
482 MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 34. Siehe auch Leistner, Richtiger Vertrag, der insoweit die funktionelle Austauschbarkeit von Vertrags- und Lauterkeitsrecht betont. 483 Reichold, JJZ 1992, S. 63, 80. 484 Vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 262 und öfter; speziell mit Blick auf ein privates Recht der Nichtdiskriminierung Lobinger, in: Isensee (Hrsg), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 102 ff. 485 Busche, Kontrahierungszwang, S. 86. 486 So – in Zusammenhang mit der Schaffung eines zivilrechtlichen Antidiskriminierungsrechts Säcker, ZRP 2002, 286 ff.; zust. Schmelz, ZRP 2003, 67. 487 Adomeit/Mohr/Adomeit, AGG, Einl. Rn. 43.
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Teil 3: Vertragstheorien
2. Fehlen materieller Kriterien für eine Richtigkeitskontrolle im Einzelfall Eine Kontrolle des einzelnen Vertrages auf seine Richtigkeit ist – wie wir gesehen haben – auch deshalb nicht möglich, weil es hierfür an konkret handhabbaren Kriterien fehlt.488 Verallgemeinerungsfähige Gerechtigkeitsansätze lassen sich in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft praktisch nicht finden.489 So ist es zulässig, einen Gegenstand zu einem Liebhaberpreis zu veräußern, ohne dass die Rechtsordnung dem Vertrag wegen des Verstoßes gegen ein objektives Äquivalenzkriterium die Gültigkeit versagen kann.490 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Vertreter materialer Gerechtigkeitstheorien zuweilen weniger die Inhalte einer solchen Ethik definieren, als vielmehr allgemeine politische Programme aufstellen. Diese sind jedoch mit ethischen Grundsätzen nur sehr bedingt gleichzusetzen.491 Darüber hinaus können sie nicht die Interpretation von konkreten Rechtsnormen leiten. Eine vergleichbare Kritik provoziert die Theorie Schmidt-Rimplers von der objektiven Richtigkeitsgewähr des Vertrages in ihrer ursprünglichen Variante aus dem Jahr 1941, da diese letztlich auf der Prämisse beruht, die gemeinsame Selbstbestimmung der Vertragsparteien – der Konsens – könne die private Rechtsetzung nicht legitimieren.492 Hiernach gründet die rechtliche Anerkennung des Vertrages nicht auf dem Willen der Parteien, sondern auf dem Vertragsmechanismus und der ihm innewohnenden Richtigkeitsgewähr im Sinne einer Gewährleistung objektiver Gerechtigkeitsvorstellungen im Einzelfall.493 Eine derartige Sichtweise bedeutet im Ergebnis aber keine beidseitige Selbstbestimmung, sondern Fremdbestimmung der Vertragsparteien anhand übergeordneter objektiver Gerechtigkeitsmaßstäbe.494 Auch Schmidt-Rimpler hat in späteren Jahren konzediert, dass sein damaliger Ansatz die darin liegende „Quadratur des Zirkels nicht lösen“ konnte; die „Richtigkeit einer Gegenleistung, insbesondere des Preises“, könne vielmehr „nach so vielen verschiedenen
488 Leistner, Richtiger Vertrag, S. 184; Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 66; ebenso im Ergebnis – wenn auch aufgrund einer Fundierung des Vertrages in der koordinierten Selbstbestimmung der Parteien – Flume, in: FS Deutscher Juristentag, 1960, S. 135, 142 f.; siehe allgemein zur Unhaltbarkeit heteronomer Vertragszielbestimmungen Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 151. 489 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 286; Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309, 313. 490 Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 12. 491 Rittner, AcP 188 (1988), 101, 130. 492 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 159; siehe auch Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle, S. 52; etwas vorsichtiger Busche, Kontrahierungszwang, S. 77: dem Prinzip der Privatautonomie werde kein besonderer Stellenwert zugemessen. 493 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 157 und 163; die Thesen Schmidt-Rimplers können zumindest in Richtung einer Einzelfallkontrolle gedeutet werden, vgl. Leistner, Richtiger Vertrag, S. 183 f. mit Fn. 52. 494 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit, S. 57.
D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit 195
Kriterien bestimmt werden, die zu verschiedenen Lösungen führen, dass eine einheitliche Lösung nicht zu finden“ sei.495 Selbst wenn man dem dispositiven Gesetzesrecht eine „Leitbildfunktion“496 im Hinblick auf einen gerechten Interessenausgleich zusprechen wollte, da es eine Typisierung des mutmaßlichen Willens redlicher und vernünftiger Vertragsparteien darstelle,497 sind hieraus nur Lösungen für die vertraglichen Nebenpflichten, nicht aber für die Hauptleistungspflichten im engeren Sinne abzuleiten.498 Im Hinblick auf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung zeigt die alte Diskussion um das „iustum pretium“, dass auch materiale Gerechtigkeitskonzeptionen den objektiv gerechten Preis499 nicht positiv bestimmen können.500 Vor diesem Hintergrund haben die Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf die Normierung eines Prinzips vergleichbar der „laesio enormis“ verzichtet.501 Freilich kann der Gesetzgeber das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung für einzelne Wirtschaftsbereiche – etwa solche der Daseinsvorsorge – normativ konkretisieren. Die Einhaltung objektiver Gerechtigkeitsvorstellungen kann schließlich auch nicht für das „System aller Verträge“ insgesamt gefordert werden.502 Eine solche Sichtweise basiert im Ergebnis ebenfalls nicht auf dem Selbstbestimmungsprinzip, sondern auf objektiven Gerechtigkeitsvorstellungen, da die Vertragsparteien faktisch gehalten sind, den staatlich vorgegebenen Inhalten zu entsprechen, damit ihre Einigungen auf lange Sicht rechtswirksam werden.503 In einer dem Prinzip der Selbstbestimmung verpflichteten Wirtschaftsordnung fehlt es aber an generalisierungsfähigen Kriterien, um einen allgemeinen Maßstab für gerechte vertragliche Regelungen unabhängig vom konkreten Einzelfall festlegen zu können, sei es im Verhältnis der Vertragsparteien oder des in Rede stehenden Marktes. In den Worten von Klaus Adomeit: 504 „Ein Vertrag kann viele Eigenschaften haben, das Prädikat ‚richtig‘ muss man den Rechenkünstlern überlassen. Wie soll es für einen Grundstückskauf, eine Unternehmensübernahme, den 495
Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 15. 5. Aufl. 2006, Vor §§ 145 BGB Rn. 21. 497 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 285, der überzeugend betont, dass es sich hierbei um ein prozedurales Gerechtigkeitskonzept handelt, da gerechte Regelungen über ein – hypothetisches – Verfahren gefunden werden sollen. Ausführlich Graf, Vertrag und Vernunft, S. 82 ff. 498 Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 66. 499 Vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 283: Subjektive oder förmliche Äquivalenz meine die Anerkennung der Parteivereinbarung durch die Rechtsordnung, objektive oder materielle Äquivalenz beziehe sich auf die Festlegung des Inhalts der Vereinbarung unabhängig vom Parteiwillen. Demgemäß sei die objektive Äquivalenz den materiellen Gerechtigkeitstheorien zuzuordnen, wohingegen die subjektive Äquivalenz „einen ausgeprägt prozeduralen Charakter“ habe; siehe auch Larenz, Richtiges Recht, S. 67 ff. 500 Dazu Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 39 ff. 501 Rechtshistorisch Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 30, 43. 502 So Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle, S. 53 f. 503 Busche, Kontrahierungszwang, S. 82. 504 Adomeit, NJW 1994, 2467, 2468. 496 MünchKommBGB/Kramer,
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Lotto-Spielvertrag, die Ehe (auch ein Vertrag!) eine Richtigkeitsgewähr geben? Beim Einkauf im Supermarkt ärgert man sich als Käufer, daß über die ausgedruckten Preise keinerlei Verhandlung möglich ist, aber dies gleicht sich durch den Wettbewerb aus“. Die Rechtsordnung ist deshalb gehalten, sich mit systemkonformen Hilfskonstruktionen wie dem noch zu thematisierenden Konzept des Als-ob-Wettbewerbs zu behelfen.
IV. Funktionaler Zusammenhang zwischen materialer Vertragsfreiheit und prozeduraler Vertragsgerechtigkeit 1. Subjektive Richtigkeitschance des Vertragsmechanismus Die überzeugendste Theorie zur Auflösung des spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen material-chancengleicher Selbstbestimmung und Vertrags gerechtigkeit ist damit die Lehre Schmidt-Rimplers von der subjektiven Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus, sofern man Letzteres als Richtig keitschance liest.505 Wenn – wie zuvor herausgearbeitet – durchgreifende Argumente gegen eine materiale Gerechtigkeitskonzeption sprechen, gleichzeitig aber ein funktionaler Zusammenhang zwischen freiem Vertragsschluss und gerechten Vertragsergebnissen besteht, liegt eine prozedurale Gerechtigkeitskonzeption nahe, in der Gerechtigkeit durch ein faires, gegen Ausbeutung gesichertes Verfahren hergestellt wird.506 Der prozedurale Richtigkeitsbegriff geht davon aus, dass ein Vertrag bei Einhaltung eines bestimmten Verfahrens unabhängig von einer weiteren inhaltlichen Kontrolle subjektiv richtig und damit bindend ist.507 Das Verfahren dient nicht der Sicherung objektiver Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern der Eröffnung tatsächlicher Entscheidungsfreiheit.508 Das entspricht im Ergebnis der Gerechtigkeitskonzeption eines liberalen Vertragsmodells, welches durch prozedurale Rationalität und nicht durch eine überindividuell-objektive Richtigkeit gerechtfertigt ist.509 Fehlt die materiale Vertragsfreiheit, weil der Vertragsschluss nicht auf der bewussten, freiwilligen und aufgeklärten Zustimmung der Vertragsparteien beruht, ist auch die prozedurale Richtigkeit des Vertrages nicht mehr automatisch gewährleistet. Die Rechtsordnung muss in diesen Fällen entscheiden, ob das Vertragsungleichgewicht so schwer wiegt, dass es zu kompensieren ist, und welche Mittel sie hierfür einsetzt.510 Als Instrumente kommen die Statuierung von Informati-
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Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 3, 15; siehe bereits Teil 3 C. III. Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 71. 507 Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 11. 508 Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 12. 509 Schön, in: FS Canaris I, 2007, S. 1191, 1192. 510 Zur Macht als Aufgreiftatbestand siehe Möslein/Bachmann, Private Macht, unter V. 506
D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit 197
onspflichten, eine Ex-post-Inhaltskontrolle durch die Gerichte oder eine Ex-ante Kontrolle des Vertragsinhalts durch zwingendes Recht in Frage.511 Mit der subjektiven Richtigkeitsgewähr wurde erstmals eine Theorie aufgestellt, die die Vertragsfreiheit vertragstheoretisch und ökonomisch legitimierte sowie mit dem Postulat der Vertragsgerechtigkeit in Einklang brachte.512 Der Vorrang des Verfahrens vor dem Ergebnis gründet auf der Erkenntnis, dass niemand besser als die Vertragsparteien in der Lage ist, im Wege des Aushandelns das für sie Richtige zu ermitteln.513 Im „Bereich gesellschaftlicher Wertungen und Präferenzordnungen“ gibt es mit Franz Jürgen Säcker „keine objektive, absolute Richtigkeit, keine Richtigkeit an sich. Es gibt vielmehr so viele Richtigkeiten, wie es Rechtssubjekte und Instanzen gibt, die über die Richtigkeit bestimmen. In einer auf der Vertragsfreiheit basierenden Ordnung können die Parteien in den Grenzen der guten Sitten und der allgemeinen Gesetze selbst festlegen, was für sie subjektiv richtig ist“.514 Die Lehre Schmidt-Rimplers enthält somit für material-frei ausgehandelte Verträge einen zutreffenden und weiterführenden Kerngehalt, da sie die grundlegende Bedeutung des vertraglichen Interessenausgleichs als elementares Gerechtigkeitskriterium verdeutlicht,515 ohne dass hieraus abgeleitet werden könnte, Verträge müssten in jedem Einzelfall ausgehandelt sein (Problem der Richtigkeit von AGB). Sie lenkt gleichzeitig das Augenmerk auf die Möglichkeit zur rechtlichen und faktischen Selbstbestimmung: Jede Person soll nicht nur in rechtlicher Hinsicht gleich agieren können (§ 1 BGB), sondern auch in tatsächlicher Hinsicht vergleichbare Chancen zur Wahrung ihrer Interessen haben.516 2. Der Vertrag als Institut eines selbstbestimmten Interessenausgleichs Auf der Grundlage der vorstehenden Erkenntnisse kann die oben gestellte Frage nach den institutionellen Funktionen des Vertrages beantwortet werden. Der Vertrag als zu schützendes Institut betrachtet allein das Verhältnis der individuellen Vertragsfreiheit zu den gleichen Rechten anderer und damit zur rechtlichen Ordnung des vertraglichen Interessenausgleichs, weshalb er – in Abwand511
Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 12. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 36. 513 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 284. 514 So Säcker, Gruppenautonomie, S. 207 f.; ebenso Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbeschränkung, S. 108 ff.: „funktionelle Begrenzung der Vertragsfreiheit durch die Gleichheit der Kontrahenten“; ders., in: FS Böhm, 1965, S. 113, 134; Paschke, Wohnraummiete, S. 47 ff.: „Vertragsparität als Schlüsselproblem der Verwirklichung inhaltlicher Vertragsgerechtigkeit“; siehe auch Canaris, AP Art. 12 GG Nr. 65 Blatt 459; Dieterich, RdA 1995, 129, 131; Eichenhofer, JuS 1996, 857, 862; Grunewald, AcP 182 (1982), 181, 186; Hönn, Gestörte Vertragsparität, S. 92 ff.; Preis/Rolfs, DB 1994, 261 ff. 515 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 284 f. mit Fn. 29. 516 Denkinger, Verbraucherbegriff, S. 71. 512
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Teil 3: Vertragstheorien
lung einer Formulierung Ernst-Joachim Mestmäckers – identisch ist mit dem Schutz der auf materialer Vertragsfreiheit gegründeten Privatrechtsordnung.517 Das Institut des Vertrages will keine objektiv-überindividuellen (Wohlstands-) Ziele im Interesse der Gesamtsozietät verwirklichen. Die durch die Rechtsordnung konkretisierte Privatautonomie gewährt den Vertragsparteien vielmehr einen Beurteilungsspielraum518 und enthält dafür eine Kompetenzübertragung, die nicht lediglich zum Zwecke der Entlastung des Staates infolge dezentralisierter Entscheidungsfindung,519 sondern auch in Anerkennung ihres Rechts zur Selbstbestimmung erfolgt.520 Hierdurch erhält die rechtsgeschäftliche Ordnung den Charakter einer normativen Ordnung.521 Durch die Anerkennung der Selbstbestimmung des Einzelnen wird zugleich die Rechtsnatur der aufgrund der Kompetenzzuweisung vorgenommenen Akte geändert; es geht nicht um die Konkretisierung gesamtgesellschaftlicher (Wohlfahrts-)Interessen, sondern um den in der Vereinbarung zum Ausdruck kommenden Parteiwillen. Dieser ist auch dann anzuerkennen, wenn die Parteien für ihr Verhältnis die subjektiven Gerechtigkeitsparameter anders justieren, als es im Sinne eines ökonomisch oder ethisch richtigen Interessenausgleichs geboten wäre. Die Geltung des sachlich unrichtigen Rechtsgeschäfts gegenüber einer irrenden oder im Einzelfall unterlegenen Vertragspartei ergibt sich aus dem Grundsatz der Selbstverantwortung als korrespondierendem Grundsatz.522 Das Kriterium der Selbstbestimmung wird somit im Rahmen der Ordnungsfunktion des Vertrages durch dasjenige der Rechtssicherheit ergänzt, ohne dass dies Einfluss auf seine Zuordnung zum Privatrecht hätte.
V. Wettbewerb als Voraussetzung materialer Vertragsfreiheit und prozeduraler Vertragsgerechtigkeit Bei Verträgen über Massengüter ist konstitutive Voraussetzung materialer Vertragsfreiheit – in Vorgriff auf die weiteren Ergebnisse der Untersuchung – die Sicherung des Wettbewerbs auf der Marktgegenseite durch das allgemeine Wettbewerbsrecht und durch die wettbewerbsanaloge Regulierung natürlicher (Netz-)Monopole bzw. marktmächtiger Stellungen auf regulierungsbedürftigen Märkten.523 Die durch den Wettbewerb bewirkte Rivalität auf der Marktge517
Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S. 83. Schmidt-Salzer, NJW 1971, 5, 9. 519 Dies betont zutreffend Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 246. 520 Habersack, AcP 189 (1989), 403, 411; ders., Vertragsfreiheit und Drittinteressen, S. 164 f. 521 Mestmäcker, JZ 1964, 441, 442; Habersack, AcP 189 (1989), 403, 412. 522 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 279 einerseits und Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen, S. 126 ff. andererseits. 523 K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 173; vgl. auch schon Edwards, Maintaining Competition, S. 9. 518
D. Das zutreffende Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit 199
genseite hat zur Folge, dass die Vertragspartner vermehrt Chancen auf (für sie günstigere) Vertragsalternativen haben.524 So können sie bei funktionierendem Wettbewerb nicht nur in negativer Hinsicht auf den Vertragsschluss verzichten, sondern es steigt auch ihre Chance, in positiver Hinsicht auf dessen Inhalt Einfluss zu nehmen.525 Diese wechselseitige Verknüpfung von Vertrag und Wettbewerb verdeutlicht, dass es sich bei dem missverständlichen Begriff der „Vertragsparität“ – von krassen Fallgestaltungen gegebener Ungleichheit einmal abgesehen – nur um eine Metapher handelt, bei der „Markt und Wettbewerbsverhältnisse stets hinzugedacht werden müssen“.526 Zugleich wird deutlich, dass die Wettbewerbsordnung nicht unverbunden neben der Vertragsrechtsordnung steht, sondern eine vertragstheoretische Bedeutung hat; denn der von der Rechtsordnung anerkannte funktionsfähige Wettbewerb ist ein konstitutives Instrument zum Ausgleich wirtschaftlicher Macht.527 Der Ausgleich gegenseitiger Freiheitssphären ist jedoch die zentrale Aufgabe eines kompetitiven Vertragsrechts. Aus diesem Blickwinkel behandeln das Wettbewerbs- und das Regulierungsrecht also einen Teilaspekt der übergeordneten Regelungsaufgabe des Privatrechts. Allerdings bedarf auch der Wettbewerb – wie der Ordoliberalismus und die Neue Institutionenökonomik betonen 528 – einer Sicherung durch die Rechtsordnung, da es in einem marktwirtschaftlichen System die Marktbeteiligten selbst sind, die „das Bild der Marktwirtschaft auf den Kopf zu stellen suchen“.529 Der Wettbewerb bedarf deshalb in den Worten Franz Böhms der „gärtnerischen Pflege durch den Staat“.530 Der Gesetzgeber hat sich dieser Aufgabe durch das Wettbewerbsrecht und bei netzwirtschaftlichen natürlichen Monopolen bzw. marktmächtigen Stellungen auf regulierungsbedürftigen Märkten durch das Regulierungsrecht angenommen, die beide der „Sicherung dezentralisierter wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse“ und damit der „Sicherung der Individualfreiheit durch rechtliche Bindung privater Macht“ dienen.531
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Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 302. Hönn, Gestörte Vertragsparität, S. 115. 526 Rittner, AcP 188 (1988), 101, 103; vgl. auch Hönn, in: FS Kraft, 1998, S. 251, 261. 527 Vgl. – auch zum Folgenden – Säcker, Zielkonflikte, S. 43. 528 Siehe Teil 4 D. 529 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 454, 575 ff. und 605; Fikentscher, in: FS Hallstein, 1966, S. 127, 130. 530 Böhm, ORDO 17 (1966), 75, 87. Damit fügt Böhm dem Gedanken Euckens zur ordnungsabhängigen Bedeutung von Privatautonomie und Privateigentum die normative Erklärung hinzu, weshalb der Staat eine Wettbewerbsordnung gewährleisten muss; vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 115; siehe auch Teil 4 D. I. 4. 531 So die Formulierung von Säcker, Zielkonflikte, S. 16; siehe auch Arndt, Schöpferischer Wettbewerb, S. 106 f.; Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz, S. 76 ff.; Günther, ZHR 125 (1963), 38, 49; Hönn, Gestörte Vertragsparität, S. 110; Lukes, Kartellvertrag, S. 121 ff.; Merz, in: Festschrift für Böhm, 1965, S. 227 ff. 525
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Nach dieser Zielsetzung haben die Normen des Wettbewerbsrechts und der wettbewerbsanalogen Regulierung der Netzsektoren einen rechtstatsächlichen und normativen Bezug auf das System des Privatrechts und damit gleichsam dienenden Charakter: 532 Gemeinsamer Bezugspunkt aller Tatbestände gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist der „systemwidrige Gebrauch traditionell rechtmäßiger privatrechtlicher Handlungsfreiheiten“.533 Ebenso wie die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen unabdingbare Voraussetzung einer Koordination der individuellen Wirtschaftspläne über den Markt ist, schützt der Wettbewerb die Selbstbestimmung der privaten Wirtschaftssubjekte gegen Willkür und Machtmissbrauch.534 Die Sicherung eines funktionierenden Wettbewerbsprozesses hat damit eine unmittelbar verbraucherschützende Funktion. Dieser schafft die Voraussetzungen für ein souveränes Konsumentenverhalten und eine effiziente und breitgefächerte Güter- und Dienstleistungsproduktion.535 Er stellt außerdem schon im Vorfeld eines Vertragsschlusses sicher, dass es möglichst zu keinen Situationen kommt, die im Nachhinein wegen einer Störung der Vertragsparität zu korrigieren sind.536 Bei rückschauender Betrachtung hat sich der Wettbewerb deshalb als das effizienteste Mittel zur Sicherung der materialen Vertragsfreiheit der Marktteilnehmer erwiesen.537 In einer marktwirtschaftlichen Grundordnung steht der Wettbewerb zugleich in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Wahrung von Vertragsgerechtigkeit. Als spezifisch prozedurale Gerechtigkeitskonzeption stellt er sicher, dass der vertraglichen Austauschgerechtigkeit in ausreichendem Maße Rechnung getragen wird.538 So ist der Wettbewerb in Verbindung mit den die Freiwilligkeit des Vertragsschlusses gewährleistenden Normen des Privatrechts und den diese ergänzenden materiellen Sicherungen eine notwendige Bedingung für einen gerechten, d. h. intersubjektiv richtigen Austausch von Waren und Dienstleistungen. Daneben gewährleisten Wettbewerb und Vertragsfreiheit mittelbar die Vereinbarkeit der Vertragsrechtsordnung mit den Geboten der ausgleichenden Gerechtigkeit.539 In einer Vielzahl von Fallgestaltungen, namentlich bei den Geschäften des täglichen Lebens, sichert schon der Wettbewerb den richtigen Vertrag, weshalb ein situativer Verbraucherschutz hier obsolet ist.540 Spezifische Vorschriften zum Schutz der Verbraucher sind deshalb nur
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Siehe zu den Schutzzwecken des Wettbewerbsrechts noch Teil 5 C. Mestmäcker, ZWeR 2010, 1, 9 f. 534 MünchKommEuWettbR/Säcker, Einl. Rn. 87; Honsell, ZIP 2008, 621, 627. 535 Dreher, JZ 1997, 167, 177. 536 Kittner, Schuldrecht, Rn. 1096. 537 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 293; Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 29 f.; Mohr, AcP 204 (2004), 660, 684 f. 538 Canaris, iustitia distributiva, S. 45 ff. 539 Canaris, iustitia distributiva, S. 63 ff. 540 Dreher, JZ 1997, 167, 177; Wackerbarth, AcP 200 (2000), S. 45, 57. 533
E. Schutz der Privatautonomie durch öffentliches Recht oder durch Privatrecht?
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dann erforderlich, wenn und soweit dieser konstitutive Schutz aufgrund spezifischer Gegebenheiten des Einzelfalles nicht ausreicht. Im Gegensatz zu dieser Erkenntnis ist derzeit im Unionsrecht eine Tendenz auszumachen, verbraucherschützende Regelungen auch ohne besondere Legitimation durch ein spezifisches Schutzbedürfnis zu erlassen, da die Verbraucher durch marktpolitisch vertrauensstärkende Maßnahmen wie die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu einem grenzüberschreitenden Konsum angehalten werden sollen.541 Vor diesem Hintergrund ist den Erkenntnissen der Neuen Institutionenökonomik vertieft Beachtung zu schenken, die Störungen des vertraglichen Ausgleichsmechanismus mit „Transaktionskosten“, „Informationsdefiziten“ und „eingeschränkter Rationalität“ erklärt.542 Dies ist hier nicht zu vertiefen.
E. Schutz der Privatautonomie durch öffentliches Recht oder durch Privatrecht? Wie wir schon einleitend gesehen haben, lässt sich letztlich jedes staatlich gesetzte Recht auf den Auftrag zur Förderung des Gemeinwohls zurückführen. Das gilt auch für die den privatautonomen Interessenausgleich umhegenden und begrenzenden Regelungen des Vertragsrechts. Doch bedeutet dies automatisch, dass die entsprechenden Normen dem öffentlichen Recht und nicht dem Privatrecht zuzuordnen sind? 543 Wie wir schon gesehen haben, ist klassischer Ausdruck des Grundsatzes der Privatautonomie das Rechtsgeschäft. In ihm verwirklicht sich das Legitima tionsideal der bewussten, aufgeklärten und freiwilligen Zustimmung, das in der rechtlichen Figur der Willenserklärung seinen prägendsten Ausdruck erlangt hat.544 Fehlt es an der Freiwilligkeit einer Erklärung, weil diese etwa im Zustand geistiger Verwirrung, auf der Grundlage eines Irrtums oder beeinflusst durch Zwang, Täuschung oder Überrumpelung abgegeben wurde, so ist die Erklärung bzw. die daraus entstehende Vereinbarung entweder nicht wirksam, oder die Bindung kann jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen gelöst werden.545 Umgekehrt gewährt das Privatrecht unter gewissen – vorliegend nicht näher zu diskutierenden – Voraussetzungen die Möglichkeit, eine 541 Heiderhoff, Grundstrukturen, S. 281 ff.; siehe ebenfalls Hopt/Tzouganatos/Dauner-Lieb, Europäisierung, S. 279, 293 f. 542 Siehe Teil 4 D. II. 543 Zur Zuordnung des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts zum öffentlichen oder zum Privatrecht siehe Teil 8. 544 Erman/H. F. Müller, Vor §§ 104 ff. BGB Rn. 2 ; zum Verhältnis Rechtsgeschäft und Willenserklärung Leenen, in: FS Canaris I, 2007, S. 699 ff.; normtheoretisch Bachmann, Private Ordnung, S. 193 ff. und 415. 545 Bachmann, Private Ordnung, S. 205; ausführlich Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag; aus rechtsphilosophischer Sicht Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff.
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einmal gewährte Zustimmung wieder rückgängig zu machen, etwa durch Kündigung als einseitige Gestaltungserklärung.546 Hierin kommt die gesetzgeberische Intention zum Ausdruck, dass alle von einer Vereinbarung rechtlich oder faktisch Betroffenen ihre Präferenzen chancengleich in den Prozess des Aushandelns einbringen können, oder andernfalls vor einer Ausbeutung zu schützen sind.547 Vor diesem Hintergrund präsentiert das Bürgerliche Recht ein Modell, das einen auf material-freier Zustimmung basierenden Konsens der Parteien als notwendige und hinreichende Bedingung für die Geltung einer Regel fordert.548 Ist eine vertragliche Regelung nicht durch die material-freie Zustimmung beider Vertragsparteien gedeckt, etwa weil einer Partei im Wege der Auslegung nach dem verständigen Empfängerhorizont gem. der §§ 133, 157 BGB ein Erklärungsinhalt zugerechnet wird, den sie so gar nicht wollte,549 bedarf es eines zusätzlichen Legitimationsgrunds für die Rechtsgültigkeit der Vereinbarung. Wie wir oben gesehen haben, kann dieser nicht aus den Freiheitsrechten selbst abgeleitet werden, sondern bedarf der Legitimation durch andere Wertungen. Für zivilistische Sachverhalte ist dabei zu beachten, dass es um einen Ausgleich der Freiheitsbereiche von Individuen geht, die auf der Grundlage ihrer selbst gebildeten Präferenzen eine intersubjektiv vorteilhafte private Regelung erstreben. Aus diesem Grunde kann sich der normative Ausgleich ihrer Interessen nicht an überindividuell-objektiven Gemeinwohlinteressen orientieren. Erforderlich ist vielmehr eine Abgrenzung der Entfaltungsspielräume aller von der Regelung betroffenen Individuen, die die Freiheitsbereiche möglichst weitgehend zur Geltung bringt.550 Gregor Bachmann hat hierfür den Begriff des „Gruppenwohls“ geprägt, den er negativ als Verbot der Ausbeutung von der Regel betroffener Individuen und positiv als „Gebot der Berücksichtigung gemeinsamer Belange“ formuliert,551 sofern eine Partei ein so starkes wirtschaftliches Übergewicht hat, dass sie den Inhalt des Vertrages einseitig zu ihren Gunsten beeinflussen kann. Dieser Schutz vollzieht sich im Privatrecht durch die Vorschriften des zwingenden Rechts, aber auch durch das dispositive Recht, soweit diesem eine „Leitbildfunktion“ zugesprochen wird. Der staatliche Schutz vor Ausbeutung durch zwingendes Privatrecht ist aber nicht dem öffentlichen Recht, sondern dem Privatrecht zuzuordnen. Aus zivilistischer Sicht geht es nicht um einen Eingriff in die Freiheit des situativ oder wirtschaftlich Mächtigen, sondern um den Schutz der materialen Freiheit der 546
Bachmann, Private Ordnung, S. 205. Bachmann, Private Ordnung, S. 193 ff. 548 Bachmann, Private Ordnung, S. 205. 549 Säcker/Mohr, BGB-AT, S. 84. 550 Pfeifer, Individualität im Zivilrecht, S. 47; siehe auch Wilhelmi, Risikoschutz durch Privatrecht, S. 13 f. 551 Bachmann, Private Ordnung, S. 206 i. V. mit S. 57 inkl. Fn. 41 und S. 58. 547
E. Schutz der Privatautonomie durch öffentliches Recht oder durch Privatrecht?
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von dem mächtigen Vertragspartner Abhängigen, also um die zuvor herausgearbeitete innere Legitimation des Vertrages.552 Der Schutz der materialen Pri vatautonomie ist mit Franz Jürgen Säcker als zentrale Aufgabe des Privatrechts anzusehen, die keiner zusätzlich öffentlich-rechtlichen Legitimierung bedarf.553 Aus diesem Grunde stellen die zwingend ausgestalteten §§ 138, 242, 307, 315 BGB, §§ 1, 19, 29 GWB, §§ 6 ff. und 17 ff. EnWG, §§ 21 ff. TKG, §§ 13 ff. AEG sowie die unionsrechtlichen Verbürgungen der Art. 101 ff. AEUV keine öffentlich-rechtlichen Beschränkungen der Vertragsfreiheit dar, sondern sichern im wirtschaftlichen Bereich die Funktionsbedingungen eines kompetitiven Vertragsrechts.554 Allerdings dient das Vertragsrecht nicht allein dem Ausgleich individueller Interessen, sondern auch der Konstituierung einer funktionsfähigen Marktordnung, indem es durch das Institut des Vertrages die Voraussetzungen zur Verfügung stellt, damit wettbewerbliche Marktprozesse entstehen. Der Gesetzgeber muss deshalb – zum langfristigen Wohl aller Marktteilnehmer – im Rahmen des Interessenausgleichs nicht nur die individuellen, sondern auch die überindividuellen Voraussetzungen der Privatautonomie in den Blick nehmen. In diesem Sinne kann man die normative Zurechnung von Erklärungsinhalten aus der Sicht einer „reasonable person“ als marktbezogene Einschränkung des der Selbstverwirklichung dienenden Instruments der Willenserklärung deuten: 555 Will eine Vertragspartei erreichen, dass als Inhalt des Vertrages nur dasjenige gilt, was sie tatsächlich erklären will, so muss sie ihren eigenen Willen so genau formulieren, dass der Erklärungsempfänger dies ihrer Erklärung auch so entnehmen kann und muss; ansonsten riskiert sie, dass die Erklärung mit einem anderen Inhalt wirksam wird. Hierdurch will die Rechtsordnung erreichen, dass die Vertragsparteien das Instrument der Willenserklärung so einsetzen, dass möglichst ein beidseitiger Konsens erzielt wird, der Vertrag also der materialen Selbstbestimmung beider Vertragsparteien und damit sowohl ethischen als auch ökonomischen Postulaten gerecht wird.
552 MünchKommBGB/Säcker,
Bd. 1 Einl. Rn. 62. So überzeugend MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 63. 554 So wiederum MünchKommBGB/Säcker, Bd. 1 Einl. Rn. 63 und Rn. 6 4: „Die Ausbalancierung der Interessen durch staatliche Normen bedarf keiner eingriffsrechtlichen Legitimierung.“ 555 Leenen, in: FS Canaris I, 2007, S. 699, 727; unter Verweis auf den Schutz des Rechtsverkehrs auch Säcker/Mohr, BGB-AT, S. 84. 553
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Teil 3: Vertragstheorien
F. Zwischenergebnis – Schutz chancengleicher Selbstbestimmung Das Privatrecht ist kein Mittel zur Erreichung übergeordneter Gemeinwohlziele wie eines gesamtgesellschaftlich richtigen Investitions-, Produktions-, Preisund Lohnverhaltens,556 sondern dient der Verwirklichung der chancengleichen – und insoweit materialen – Selbstbestimmung der Bürger.557 Aus diesem Grunde zielt eine Vertragsinhaltskontrolle nicht auf die Herstellung einer allgemeinen rechtlichen und faktischen Gleichheit im Privatrecht ab, sondern auf die Sicherung der Möglichkeiten zur Selbstbestimmung im Sinne der freien Verfolgung eigener Interessen ohne eine Verpflichtung auf ein wandelbares material-gesellschaftliches Gerechtigkeitsideal, zumal ein solches in einer pluralis tischen Gesellschaft nur schwer zu identifizieren sein kann. Unter den Be dingungen einer wettbewerblichen Marktwirtschaft beeinflusst ökonomische Ungleichheit – außerhalb der vom Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen erfassten Fallgestaltungen – als solche weder den Vertragsinhalt zum Nachteil einer der Vertragsparteien, noch führt sie dadurch zwangsläufig zu ungerechten Ergebnissen.558 Vielmehr kann wirtschaftliche Macht – wie Art. 101 Abs. 3 AEUV verdeutlicht – unabdingbar sein zur Erreichung positiver Gemeinwohlergebnisse. Folgerichtig ist ein Vertrag vorbehaltlich anderer Unwirksamkeitsgründe grundsätzlich auch bei Fehlen eines objektiv gerechten Interessenausgleichs wirksam, sofern er auf der chancengleich-selbstbestimmten Entscheidung beider Parteien beruht.559 Für die Dogmatik der Vertragsinhaltskontrolle folgt hieraus, dass eine Ungleichgewichtslage (die fehlende „Parität“) zwischen den Vertragsparteien kein Tatbestandsmerkmal (der Kontrollgrund) ist, sondern das Ergebnis eines Subsumtionsvorganges (die Folge fehlender materialer Entscheidungsfreiheit).560 Das Vertragsrecht beruht damit auf demselben Geltungsgrund wie nach klassischer Sichtweise das Wettbewerbsrecht und die wettbewerbsfördernde Regulierung der Netzwirtschaften: Es dient der Siche556
Vgl. das Stabilitätsgesetz vom 8.6.1967, BGBl. I, S. 582. Vgl. FK/Paschke, § 19 GWB Rn. 5 ; siehe zu den privatautonomiekritischen Strömungen der 1970er Jahre auch Nörr, in: FS Link, 2003, S. 911, 916. Grundlegend aus methodischer Sicht Bachmann, Private Ordnung, S. 193 ff., wonach die Schaffung privater Regeln zwar auf die beiden grundlegenden Legitimationstatbestände „Zustimmung“ und „Gemeinwohl“ (verstanden im Sinne eines Ausbeutungsverbots, mit Blick auf die Adressaten der Regelung als „Gruppenwohl“ bezeichnet, S. 206) zurückzuführen sei, jedoch ein Vorrang für eine Legitimation über Zustimmung bestehe: „[. . .] zivilistisches Leitbild ist und bleibt die Vorstellung selbstbestimmter Ordnung unter private Regeln im Rahmen gesetzlich verfasster Gruppen [. . .]“ (S. 223). Als von einer Regel betroffen gelten dabei nicht nur die Adressaten derselben, sondern auch die durch ihre sozialen Wirkungen nur faktisch Begünstigten oder – wie bei Wettbewerbsbeschränkungen – faktisch Belasteten (S. 25). 558 Canaris, in: FS Lerche, 1993, S. 872, 882; Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 21 f. 559 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 274. 560 Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 27; Lorenz, NJW 1997, 2576, 2528. 557
F. Zwischenergebnis – Schutz chancengleicher Selbstbestimmung
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rung der Vertragsfreiheit der Bürger vor erheblichen Beeinträchtigungen ihrer Selbstbestimmung, sei es, dass diese typischerweise auftreten, sei es, dass es sich im Einzelfall um unzumutbare Vertragsbedingungen handelt. Auf die aktuelle Diskussion über die Schutzzwecke des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts werden wir im weiteren Verlauf der Untersuchung zurückkommen.
Teil 4
Wettbewerbstheorien Das Vertragsrecht bezieht seine innere Legitimation aus der Möglichkeit der Individuen zur chancengleichen materialen Selbstbestimmung. Diese wird nach klassischer Sicht durch die Vorschriften des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts gesichert. Doch stimmt diese Ausrichtung des marktbezogenen Rechts mit den Erkenntnissen der Wettbewerbstheorie überein?
A. Schutz vor wirtschaftlicher Macht oder Herstellung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt? Unsere Untersuchung beschäftigt sich mit der Sicherung eines richtigen vertraglichen Interessenausgleichs durch das Wettbewerbs- und das Regulierungsrecht („kompetitives Vertragsrecht“). Wie wir gesehen haben, basiert die rechtliche Gewährleistung der Vertragsfreiheit auf dem Grundgedanken, dass die Parteien ihre gegenläufigen Interessen grundsätzlich selbst in einen sachgerechten Ausgleich bringen.1 Die Vertragsfreiheit steht somit nach ihrer Idee nicht im Dienst eines objektiven Gemeinwohls, sondern dient der Selbstbestimmung der Bürger im privaten und wirtschaftlichen Bereich. Auch eine beiderseits gewollte private Rechtsgestaltung bietet jedoch nur dann die Möglichkeit (nicht die Garantie) für einen intersubjektiv richtigen Vertragsschluss, wenn zwischen den Parteien kein starkes wirtschaftliches Ungleichgewicht besteht.2 Der Staat muss deshalb die institutionellen Rahmenbedingungen setzen, damit alle Vertragsparteien eine faire Chance auf einen für sie richtigen Vertragsschluss haben („materiale Vertragsfreiheit“). In der Schaffung entsprechender Rechtsnormen liegt – wie wir bereits gesehen haben – kein obrigkeitlicher Eingriff in die Vertragsfreiheit; denn der Vertrag ist nach seiner inneren Grundstruktur darauf angelegt, divergierende Interessen in einen intersubjektiv als vorteilhaft angesehenen Ausgleich zu bringen. Eine schon früh erkannte Ursache für die Störung des beidseitig angemessenen vertraglichen Interessenausgleichs ist die wirtschaftliche Machtposition einer Vertragspartei, sofern diese hierdurch in die Lage versetzt wird, sich die 1 MünchKommBGB/Roth/Schubert, 2 Erman/Armbrüster,
§ 242 BGB Rn. 462. Vorb. §§ 145 ff. BGB Rn. 36.
B. Grundbegriffe
207
Kooperationsrendite einseitig anzueignen, also ihren Vertragspartner „auszubeuten“.3 Allerdings können die Privatrechtssubjekte in einer arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung nicht einfach auf den Abschluss von Austauschverträgen verzichten, da sie ihre wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechte regelmäßig über den Abschluss von Güter- und Dienstleistungsaustauschverträgen realisieren.4 Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber im Wettbewerbs- und Regulierungsrecht Grenznormen geschaffen, welche die Marktteilnehmer vor einem Missbrauch der Vertragsfreiheit durch wirtschaftlich erheblich stärkere Vertragsparteien schützen sollen. Die Individuen sollen durch diese rechtliche Hilfestellung5 in die Lage versetzt werden, ihre individuellen Präferenzen möglichst weitgehend in den vertraglichen Aushandlungsprozess einzubringen. In einer sozialen Marktwirtschaft ist das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen als Kern des marktbezogenen Wirtschaftsrechts freilich immer auch ein Instrument staatlicher Wettbewerbspolitik, weshalb sich die Interpretation seiner Tatbestände an den ökonomischen Theorien zu Markt und Wettbewerb orientiert. 6 Diese gilt es im Folgenden näher zu erläutern, soweit sie sich mit wirtschaftlichen Machtpositionen befassen.
B. Grundbegriffe I. Wettbewerbsrecht als „praktizierte Wettbewerbspolitik“ In einer Marktwirtschaft setzt der Staat die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln, um Wettbewerb zu ermöglichen und die Transaktionskosten der Marktteilnehmer durch allgemein gültige „Spielregeln“ zu senken.7 Das Wettbewerbsrecht und das Recht der wettbewerbsfördernden Regulierung der Netzsektoren sind damit Instrumente staatlicher Wettbewerbspolitik, weshalb sich ihre Interpretation auch an den jeweils zugrunde liegenden ökonomischen Theorien zu orientieren hat. 8 Dasselbe gilt nach zutreffender Ansicht für das marktbezogene Vertragsrecht, da dieses mit dem Institut des „vollentgeltlichen schuldrechtlichen Austauschvertrages“9 nicht nur das maßgebliche Instrument zur Verfügung stellt, um das Preissystem des Marktes zur Geltung zu 3
Bachmann, Private Ordnung, S. 57. Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. 5 MünchKommBGB/Würdinger, § 313 BGB Rn. 9. 6 So zu Recht Kirchner, EuR-Bei 2011, 103. A. A. Bullinger, VVDStRL 22 (1965), 264, 293 ff. 7 Fritsch, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, S. 10. Speziell zur Neuen Institutionenökonomik auch Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 286. 8 Kirchner, EuR-Bei 2011, 103. Sehr krit. demgegenüber Bullinger, VVDStRL 22 (1965), 264, 293 ff. 9 Böhm, WuW 1956, 173, 178; ders, ORDO 17 (1966), 75, 94 ff.; siehe auch Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 52 ff.; Mestmäcker, in: FS Böhm, 1995, S. 111, 124; MünchKommEUWettbR/Säcker, Einl. Rn. 13. 4
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
bringen,10 sondern in seiner jeweiligen Ausgestaltung – etwa durch die kaufrechtlichen Vorschriften zur Sachmängelgewährleistung – auch die konkreten unternehmerischen Entscheidungen beeinflusst.11 Angeregt durch neuere ökonomische Forschungsergebnisse wird die zentrale Aufgabe des Vertragsmechanismus zuweilen sogar darin gesehen, ökonomische Interessen rechtlich zu „rekonstruieren“: 12 Durch den Vertrag erhalte „die strukturelle Kopplung von Wirtschaft und Recht“ – in Anlehnung an Niklas Luhmann – „ihre moderne (um nicht zu sagen: perfekte) Form“.13 Eine solche Aussage ist freilich nur bedingt hilfreich, schon weil zuvor zu klären ist, von welcher ökonomischen Theorie man ausgeht. Darüber hinaus verkennt sie das grundlegende Primat des Rechts,14 wie es in der rechtlichen Verfassung der Wirtschaft zum Ausdruck kommt. 1. Wettbewerbspolitik Der Wettbewerb gilt als eine der wesentlichen Voraussetzungen für ein funktionierendes marktwirtschaftliches System.15 Sofern man davon ausgeht, dass sich ein wirksamer Wettbewerb nicht von selbst einstellt, sondern andauernd durch Wettbewerbsbeschränkungen gefährdet ist, ist der Staat dazu aufgerufen, eine aktive Wettbewerbspolitik zu betreiben.16 Da der Wettbewerb nach zutreffender, wenn auch bestrittener Ansicht kein an sich erstrebenswertes Ziel ist, sondern (kurz- oder mittelfristig) bestimmte übergeordnete Zwecke erfüllen soll,17 müssen hierzu in einem ersten Schritt die entsprechenden „Wettbewerbsleitbilder“ formuliert werden.18 Diese sollen die wettbewerblichen Austauschprozesse durch Klärung der Voraussetzungen und Funktionsweisen von Wettbewerb im Sinne der jeweiligen Zielvorgaben modellieren.19 Indem die Wettbewerbsleitbilder die Funktionsweisen wettbewerblicher Koordination darstellen, geben sie dem Gesetzgeber eine Grundlage für die Ausgestaltung 10 Böhm, WuW 1956, 173, 177 f.; zur Steuerung individueller Freiheiten über die Marktpreise siehe schon oben Teil 3 A. I. 11 Engel, JZ 1995, 213; Fornasier, Freier Markt, S. 16 f. Siehe zum „market for lemons“ Teil 4 D. II. 12 Renner, KritV 2010, 67, 71. 13 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 463 f.: „Mit der Institutionalisierung der Vertragsfreiheit erhält die strukturelle Koppelung von Wirtschaft und Recht ihre moderne (um nicht zu sagen: perfekte) Form.“ 14 Zur Eigengesetzlichkeit des Rechts gegenüber der Wirtschaft siehe noch Teil 4 B. III. 15 Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369. 16 Wettbewerbspolitik wird vorliegend in einem engen Sinne verstanden, als rechtliche Regelungen, mit denen Beschränkungen des Wettbewerbs bekämpft werden sollen; vgl. Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 374. 17 Siehe dazu Teil 4 B. IV. 18 Säcker, Zielkonflikte, S. 14. 19 So Broemel, Strategisches Verhalten, S. 7.
B. Grundbegriffe
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der Rahmenbedingungen des Wettbewerbsprozesses. Darüber hinaus enthalten sie Aussagen über die gesetzliche Regelbarkeit von Marktprozessen und deren Grenzen.20 Die Aussage, Schutzobjekt des Wettbewerbsrechts sei der Wettbewerb, wird inhaltlich somit erst durch die den Wettbewerbsvorschriften zugrunde liegende wirtschaftspolitische Konzeption (das jeweilige Wettbewerbsleitbild) konkretisiert.21 In diesem Sinne ist auch der noch zu schildernde „more economic approach“ der EU-Kommission als Wettbewerbsleitbild zu qualifizieren.22 Das Wettbewerbsrecht ist damit ein Ausdruck der insbesondere seit den 1970er Jahren geforderten stärkeren Öffnung des Rechts für die Erkenntnisse der außerrechtswissenschaftlichen Bereiche, insbesondere für diejenigen der Wirtschaftswissenschaften.23 Wie bereits einleitend angedeutet, lassen sich die ökonomischen Konzepte vergröbernd in wohlfahrtsökonomische und freiheitsorientierte Ansätze unterteilen: 24 Die wohlfahrtsökonomischen Ansätze basieren im Ausgangspunkt auf dem neoklassischen Wettbewerbsverständnis.25 Vor diesem Hintergrund verstehen sie den Wettbewerb nicht als Wert an sich, sondern als Mittel zur Erreichung bestimmter, normativ vorgegebener Ziele, in Form eines „konsequentialistischen Ansatzes“.26 Hiernach liegt eine Wettbewerbsbeschränkung vor, wenn ein Verhalten bzw. das daraus resultierende Ergebnis nicht mit den vorgegebenen Wettbewerbszielen übereinstimmt. Demgegenüber stellen die freiheitsbezogenen Ansätze den Wettbewerb als ergebnisoffenen Prozess ins Zentrum ihrer Analyse.27 Aufgrund einer – unterstellten – Harmonie zwischen dem Freiheitsziel und den ökonomischen Wettbewerbsfunktionen sei es nicht erforderlich, die Wettbewerbsfunktionen näher zu bestimmen, da diese bei freiem Wettbewerb annahmegemäß als erfüllt gelten. Auf dieser Grundlage wird von einer Wettbewerbsbeschränkung ausgegangen, wenn ein Unternehmen die wirtschaftliche Handlungsfreiheit seiner Konkurrenten übermäßig einengt. Auch ein freiheitsbezogenes Wettbewerbsverständnis schützt den Wettbewerb somit grundsätzlich nicht um seiner selbst willen, sondern um bestimmte übergeordnete wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ziele zu erreichen. 20
Broemel, Strategisches Verhalten, S. 24. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 8 ; Baur, ZHR 134 (1970), 97; MünchKommEUWettbR/Säcker, Einl. Rn. 4 ; Knieps, Wettbewerbsökonomie, S. 143; I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 1; Glöckner, Kartellrecht, Rn. 4. 22 Kirchner, EuR-Bei 2011, 103, 104. 23 Paradigmatisch Wiethölter, in: FS Raiser, 1974, S. 6 45, 647. 24 Vgl. Herdzina, Wirtschaftstheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik, S. 23 ff. 25 Siehe Teil 4 C. III. 26 So Fornasier, Freier Markt, S. 35. 27 Siehe Teil 4 C. V. Zur Begrifflichkeit Hoppmann, JbNSt 188 (1975), 256 f.: systemtheoretisch, da er Marktphänomene als komplexe Strukturen auffasse, im Gegensatz zu reduktionstheoretischen Ansätzen, die zur Konstruktion von Ceteris-paribus-Modellen führten und Marktgesetze auf einfache Phänomene reduzierten. 21
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
Die Einschätzungen des Gesetzgebers über das zutreffende Leitbild des Wettbewerbs können sich im Zeitverlauf oder aufgrund konkreter Sachverhalte ändern 28 ; man denke nur an die Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre und die in ihrer Folge aufgetretenen restriktiven Tendenzen bei der Interpretation der Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 Abs. 1 AEUV, um Direktinvestitionen aus Drittstaaten stärker zu regulieren.29 Auch ist es dem Gesetzgeber unbenommen, bei der Ausgestaltung der Wettbewerbsprozesse auf die Empfehlungen mehrerer Leitbilder zurückzugreifen, indem er sich die jeweils plausibel erscheinenden Aussagen herauspickt.30 2. Wettbewerbstheorie Bei der Formulierung eines Wettbewerbsleitbilds stellt sich die Vorfrage, wie ein Wettbewerb tatsächlich aussieht, der seine Funktionen in einer Marktwirtschaft optimal erfüllt.31 Zur Definition eines wettbewerbspolitischen Konzepts ist also eine ökonomische Theorie über die Funktionsweise von wettbewerblichen Märkten im Sinne eines Systems von wissenschaftlich begründeten Aussagen notwendig, die bestimmte Tatsachen, Erscheinungen und Prozesse sowie die ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten erklären.32 Diese Theorien werden – soweit sie die Funktionsweise des Wettbewerbsprozesses betreffen – auch als Wettbewerbstheorien bezeichnet.33 Auch den noch zu schildernden privatrechtlichen Theorien über Privatautonomie und Vertragsfreiheit liegen – jedenfalls implizit – bestimmte Vorstellungen vom Marktgeschehen zugrunde. Eine fundierte Stellungnahme setzt deshalb voraus, dass die grundlegenden Bezüge zu den ökonomischen Theorien aufgedeckt und Letztere auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft werden.34 Soweit ökonomische Forschungsrichtungen wie die Neue Institutionenökonomik nicht nur den Wettbewerbsprozess im Ganzen, sondern auch die spezifischen Beiträge beleuchten, die Verträge für ein marktwirtschaftliches System erbringen,35 können sie als ökonomische Vertragstheorien bezeichnet werden, im Gegensatz zu den bereits behandelten rechtlichen Theorien des Vertrages.
28 Dazu Künzler, ARSP 98 (2012), 1 ff., wonach die herrschende Wohlfahrtsökonomie durch ein realistischeres Konzept zu ergänzen sei. 29 Vgl. Hindelang, JZ 2009, 829 f. 30 Broemel, Strategisches Verhalten, S. 2 31 Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 31. 32 Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 31. 33 Krit. zur Begrifflichkeit Kaufer, Industrieökonomik, S. 10. 34 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 89; siehe zum Wettbewerbsrecht auch Kirchner, ZHR 173 (2009), 775, 780. 35 Siehe dazu Teil 4 D. II.
B. Grundbegriffe
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3. „Positive“ und „normative“ Theorie der Regulierung Wie wir gesehen haben, basiert die Wettbewerbspolitik auf verschiedenen Wettbewerbstheorien und den von diesen herausgearbeiteten Marktversagensgründen. Die allgemeine Theorie der Regulierung unterscheidet weiter zwischen „normativen“ und „positiven“ Ansätzen.36 Diese werden im Schrifttum vor allem in Zusammenhang mit sektorspezifischen Regulierungsmaßnahmen diskutiert, kommen jedoch auch bei der „allgemeinen Marktregelung“ durch das Wettbewerbsrecht zum Tragen, da dieses ebenfalls auf spezifische Marktversagensgründe reagiert. Normative Regulierungstheorien sollen begründen, weshalb der freie Wettbewerb die vorgegebenen Zielfunktionen aufgrund eines Marktversagens nicht oder nur zum Teil erfüllen kann.37 Sie legen die Kriterien fest, nach denen be urteilt werden soll, welche Märkte einer besonderen „sektorspezifischen“ Regulierung unterzogen werden (Regulierungsbasis), und welche Instrumente hierzu verwendet werden sollen (Regulierungsinstrumente).38 In diesem Zusammenhang ist zu unterscheiden zwischen ökonomischen Ursachen für unerwünschte Wettbewerbsergebnisse (sog. natürliche Ausnahmebereiche) und politisch gesetzten Zielen, die im Wettbewerb nicht erreicht werden (sog. politische Ausnahmebereiche).39 Bei nicht funktionierenden Märkten und einem positiven Kosten-Nutzen-Verhältnis des Eingriffs erlangt der Staat eine Legitimation für einen regulierenden Eingriff in das Wettbewerbsgeschehen. Der Eingriff wird mit Blick auf die nicht erreichbare „First-best-Solution“ der sich von selbst einstellenden wettbewerblichen Marktkoordination als „Secondbest-Solution“ angesehen.40 In der neoklassischen Wettbewerbstheorie ging man davon aus, dass der Staat allein im öffentlichen Interesse handelt und sich nicht durch Interessengruppen oder die eigenen Interessen der politischen Akteure oder der Verwaltung beeinflussen lässt.41 Demgegenüber untersuchen die – maßgeblich von der Chicago School geprägten42 – „positiven Regulierungstheorien“ ex post etwaige Ursachen für eine Regulierung im Allgemeinen und die Schaffung, Existenz und Beibehaltung von wettbewerbsrechtlichen Ausnahmebereichen im Besonderen, sowie die Folgen staatlicher Eingriffe in den freien Marktprozess.43 Grundle36 Möschel, JZ 1988, 885, 890 f. mit Fn. 26; Bachmann, Private Ordnung, S. 48 ff.; Höppner, Netzstruktur, S. 30. 37 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 4 4. 38 Knieps, Netzökonomie, S. 181. 39 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 4 4 ff. und 51. 40 Klaus, DeRegulierung, S. 134 und 168; zur Second-best-Theorie siehe Teil 4 C. IV. 4. 41 Eickhof, JfS 36 (1985), 63, 66; Ruge, AöR 131 (2006), 1, 24. 42 Bachmann, Private Ordnung, S. 49. 43 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 44; Schnitker, Regulierung der Netzsektoren, S. 11 und 83 ff.; Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 308 ff.;
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
gend ist die Forschungsrichtung der Neuen Politischen Ökonomie als einer speziellen Ausprägung der Neuen Institutionenökonomik,44 die den Blick von der Analyse ökonomischer Marktversagenstatbestände ergänzend auf die institu tionellen Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Politik lenkt.45 Die Neue Politische Ökonomie will den Bereich des Staatsversagens aufzeigen, in dem eine Regulierung entweder ohne das Vorliegen eines wirtschaftswissenschaftlich anerkannten Marktversagens erfolgt oder ein solches zwar vorliegt, jedoch in sachlich unangemessener Art und Weise reguliert wird.46 Sie geht davon aus, dass Regulierungsmaßnahmen nicht nur mit der Korrektur von Marktversagen erklärt werden können, sondern dass auch Politik, Verwaltung und die Marktakteure selbst Bedingungen für die Regulierung setzen, die bei der Entscheidung über das „Ob“ und das „Wie“ einer Marktregulierung berücksichtigt werden müssen.47 Im Blick stehen mit anderen Worten nicht die ökonomischen oder meta-ökonomischen (gemeinwohlbezogenen oder gesellschaftspolitischen) Gegebenheiten in den jeweiligen Wirtschaftsbereichen, sondern die einzelnen Akteure, die mit Regulierung befasst sind.48 Regulierung wird dabei als hierarchisches System verstanden, in dem die Akteure ihre Interessen mit unterschiedlichen Zielen und Mitteln verfolgen.49 Wirtschaftssubjekte werden als Nachfrager nach oder Gestalter von Regulierung eingeordnet, wohingegen die Regulierenden (Politiker und Staatsbedienstete) als Anbieter der Regulierung gelten.50 Wirtschaftssubjekte als Nachfrager nach Regulierung sind mit den Problemen einer möglichen Interessenvielfalt, der effektiven Geltendmachung ihrer Interessen und der hierfür erforderlichen Kosten konfrontiert.51 Aus diesem Grunde organisieren sie sich regelmäßig in Interessengruppen (Interessengruppentheorie bzw. Capture Theory of Regulation).52 Mit Blick auf die Gestalter der Regulierung wird eine Entscheidungsfindung auch anhand ihrer Eigeninteressen problematisiert.53 siehe auch Knieps, Netzökonomie, S. 181: bei der positiven Regulierungstheorie gehe es um die Frage, wie tatsächlich reguliert wird. 44 Wir werden diese Forschungsrichtung im Rahmen der Auseinandersetzung mit den markttheoretischen Aussagen der Neuen Institutionenökonomik (Teil 4 D. II.) nicht nochmals behandeln. 45 Eickhof, JfS 36 (1985), 63, 67. 46 Klaus, DeRegulierung, S. 134. 47 Müller/Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 119; Bonde, Deregulierung und Wettbewerb, S. 85. 48 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 4 4. 49 Schnitker, Regulierung der Netzsektoren, S. 11 f. 50 Grundlegend Stigler, BJ 2 (1971), 3 ff., wonach Regulierung auf die Partikularinteressen bestimmter Bevölkerungsgruppen zurückgegangen sei, leistungsfremde Vorteile durch staatlich angeordnete Wettbewerbsbeschränkungen zu erlangen. 51 Eickhof, JfS 36 (1985), 63, 67; Schnitker, Regulierung der Netzsektoren, S. 12. 52 Owen/Braeutigam, The Regulation Game; Eickhof, JfS 36 (1985), 63, 67 ff. 53 Bonde, Deregulierung und Wettbewerb, S. 86; siehe auch Müller/Vogelsang, Staatliche Regulierung, S. 35.
B. Grundbegriffe
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Positive Theorieansätze können ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die für eine Regulierung vorgebrachten Gründe nicht nur „apologetischen Charakter“ haben dürfen,54 und so einen Beitrag dazu leisten, die Vereinnahmung und Steuerung der Regulierungsinstanzen durch die zu regulierenden Unternehmen offen zu legen,55 was aktuell auch unter dem Topos „Regulierungsmanagement der Unternehmen“ diskutiert wird.56 Darüber hinaus kann die positive Regulierungstheorie offen legen, wann sich Entscheidungsträger von ihren Eigeninteressen leiten lassen, um etwa den eigenen Machtbereich auszudehnen.57 Die positive Theorie der Regulierung streitet somit letztlich für eine Rationalisierung der Regulierung.58
II. Marktversagen aus ökonomischer und juristischer Sicht Neben Ökonomen beschäftigen sich auch Juristen mit der Frage, was unter Wettbewerb zu verstehen und in welchen Situationen er vor Verfälschungen zu schützen ist: 59 1. Die ökonomische Sicht Vertreter der statisch-komparativen Mainstreamökonomie analysieren die Funktionsbedingungen und Funktionsdefizite von Märkten primär im Hinblick auf die effektive Allokation der Ressourcen (neoklassische Wettbewerbstheorie; statische Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs; statische Konzepte der Chicago- und Post-Chicago-Economics). 60 Die Vokabel „statisch“ meint insoweit „ohne Berücksichtigung des Zeitfaktors“, im Gegensatz zur „dynamischen Analyse“, wo der Zeitfaktor relevant ist. 61 Die oben besprochenen Institute der Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit spielen bei einer 54 So
Möschel, JZ 1988, 855, 890. Regulierung von Netzindustrien, S. 9, 24. 56 Siehe dazu Masing, Gutachten D zum 66. DJT 2006, S. 56; Büdenbender/Rosin, Maßnahmen des Regulierungsmanagements, S. 12 ff. und passim; Setz, Operationelle Entflechtung, S. 56 f.; siehe aus betriebswirtschaftlicher Sicht auch Picot/Picot, Regulierung von Netz industrien, S. 9, 31. Speziell zum Problem des „regulatory capture“ vgl. Haucap/Kruse, WuW 2004, 266, 271. 57 Problematisiert von Haucap/Heimeshoff, WiVerw 2/2010, 92, 97. 58 Schorkopf, JZ 2008, 20, 25; siehe auch Baldwin/Cave/Lodge, Understanding Regulation, S. 29. 59 Vgl. Behrens/Braun/Nowak/Behrens, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 13 f.; Wolf, Effizienzen, S. 71 ff.; I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939. Berühmt ist die Kontroverse um die ökonomische Analyse des Rechts zwischen Fezer, JZ 1986, 817 ff.; ders., JZ 1988, 233 ff. und Ott/Schäfer, JZ 1988, 213 ff. 60 Zur Neoklassik siehe Teil 4 C. III., zu den statischen Theorien der Workable Competition vgl. Teil 4 C. VI. 3., zur Chicago School siehe Teil 4 C. VI., zu den Post-Chicago-Economics siehe Teil 4. C. VII. 61 Siehe zu den dynamischen Effizienzen Teil 4 C. III. 4. d). 55 Picot/Picot,
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
solchen Herangehensweise allenfalls eine dienende Rolle. Demgegenüber betont die heute wohl vorherrschende Ansicht in den Wirtschaftswissenschaften jedenfalls im Ausgangspunkt den dynamischen Ablauf des Wettbewerbs. Sie interpretiert diesen in Anlehnung an die Untersuchungen Schumpeters62 – bei allen Unterschieden im Detail63 – als Prozess von Vorstößen der Pionierunternehmer und Verfolgungsaktionen der Nachahmer, weshalb sie auch zeitweilige wirtschaftliche Machtpositionen akzeptiert, solange diese nur vorübergehend sind (Theorie des effektiven Wettbewerbs; Konzept der Wettbewerbsfreiheit; jüngere Schule des Ordoliberalismus). 64 Auch die Kommission geht grundsätzlich von einem dynamischen Wett bewerbsverständnis aus, wenn sie betont, dass „die Rivalität zwischen Unternehmen eine wesentliche Antriebskraft für die wirtschaftliche Effizienz, einschließlich langfristiger dynamischer Effizienzsteigerungen in Form von Innovationen“ sei,65 wobei sie jedoch in ihrer praktischen Wettbewerbspolitik mangels Alternativen vornehmlich statisch-komparative Analyseinstrumente zur Anwendung bringt. Eine Rivalität der Unternehmen setzt jedoch die Gewährung wirtschaftlicher Handlungsfreiheit voraus, damit diese um Geschäftsabschlüsse mit der Marktgegenseite (den „Verbrauchern“) rivalisieren. Wie der Profit am besten maximiert wird, ist in einer dynamischen Marktwirtschaft auch eine Frage des „trial and error“, also der praktischen Erfahrung. 66 Vor diesem Hintergrund hat von Hayek den Wettbewerb als „Entdeckungsverfahren“ bezeichnet, also als Verfahren „zur Entdeckung von Tatsachen [. . .], die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden“. 67 Einen wesentlichen – wenn auch nicht den einzigen – Bestandteil dynamischer Sichtweisen des Wettbewerbs und der Wettbewerbspolitik bildet deshalb die „Offenhaltung der Märkte“; 68 denn unternehmerisches Verhalten wird nur dann hinreichend vom Wettbewerb kontrolliert, wenn es in aktueller oder potenzieller Konkurrenz mit anderen Unternehmen steht. 69 62 Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung; ders., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 134 ff. 63 Streitig ist insbesondere die Relevanz des Freiheitsziels, vgl. A. Schmidt, ORDO 59 (2008), 209, 217 ff. 64 Grundlegend Clark, Competition as a dynamic Process. Siehe zur Theorie des effektiven Wettbewerbs Teil 4 C. IV. 4., zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit Teil 4. C. V. 3., zum späten Ordoliberalismus Teil 4 D. I. 4. d). 65 Kommission, Leitlinien horizontale Zusammenschlüsse, Rn. 8 : „Ein wirksamer Wettbewerb erbringt den Verbrauchern Vorteile, zum Beispiel in Form niedriger Preise, hochwertiger Produkte, einer großen Auswahl an Waren und Dienstleistungen und Innovation.“ Siehe auch I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 941. 66 Behrens/Braun/Nowak/Behrens, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 13, 14. 67 Von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3. 68 Meessen, JZ 2009, 697, 698, 701; Emmerich, Kartellrecht, § 1 Rn. 21 und 29; zur Theorie der Contestable Markets siehe noch Teil 7 B. I. 1. 69 Siehe zu einem „structure approach“ zur Aufrechterhaltung kompetitiver Marktstrukturen I. Schmidt/A. Schmidt, Europäische Wettbewerbspolitik, S. 33.
B. Grundbegriffe
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Eine solche Herangehensweise wählt auch das Unionsrecht, soweit es etwa in Art. 101 Abs. 3 AEUV bestimmt, dass kollusive Wettbewerbsbeschränkungen nicht aufgrund von Effizienzen aus dem Verbotsbereich herausgenommen werden können („Freistellung“), wenn sie selbstständigen Unternehmen die Möglichkeit eröffnen, den Wettbewerb für einen wesentlichen Teil des jeweils in Rede stehenden Marktes auszuschließen.70 Sofern man deshalb einen Vergleich zwischen den positiven Wirkungen eines wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens auf die produktive Effizienz mit den negativen Auswirkungen auf die allokative Effizienz zulassen will, kann dieser nicht allein auf eine statisch-komparative Sichtweise beschränkt werden.71 Nimmt man einen solchen Vergleich jedoch auch unter dynamischen Gesichtspunkten vor, ist die Aufrechterhaltung einer kompetitiven, die material-chancengleiche Selbstbestimmung der Marktteilnehmer sichernden Marktstruktur besonders wichtig, da nur diese langfristig einen hinreichenden Wettbewerbsdruck sichert, der dazu beiträgt, dass etwaige (produktive) Effizienzvorteile auch an die Verbraucher weitergegeben werden.72 Eine dynamische Sichtweise bedeutet – was zur Vermeidung von Missverständnissen schon an dieser Stelle betont werden soll – nicht, dass ein Wettbewerbsrecht auf den Schutz des „Konkurrenzelements der Marktwirtschaft“ beschränkt wäre.73 Ein modernes Wettbewerbsrecht zielt vielmehr auch auf den Schutz vor „Friktionen im Kooperationselement (‚Kooperationsversagen‘)“ ab,74 soweit diese auf übermäßigen wirtschaftlichen Machtpositionen beruhen. Paradigmatisch sind die Verbote von Ausbeutungsmissbräuchen gem. Art. 102 Satz 2 lit. a AEUV bzw. gem. den §§ 19 Abs. 2 Nr. 2, 29 GWB, sowie die regulierungsrechtliche Entgeltkontrolle der §§ 21 ff. EnWG, 27 ff. TKG, soweit sich Letztere am Maßstab des hypothetischen Wettbewerbspreises orientiert. Hie rin kann man mit Joachim Jickeli eine gewisse Verschiebung des Blickwinkels von der makro- auf die mikroökonomische Ebene sehen,75 ohne dass darin eine „negative Bewertung“ läge. Es ist vielmehr die Aufgabe eines privatrechtskompatiblen Wettbewerbsrechts, einen Missbrauch von Marktmacht durch Abschluss antikompetitiver (Folge-)Verträge zu unterbinden. Damit sind wir wieder beim Kern unserer Untersuchung.
70 Behrens/Braun/Nowak/Behrens, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 13, 15; siehe auch Säcker/Mohr, WRP 2011, 793, 801 f. Art. 101 Abs. 3 AEUV hatte in der praktischen Anwendung bislang nur eine begrenzte Relevanz; vgl. I. Schmidt/A. Schmidt, Europäische Wettbewerbspolitik, S. 56. 71 I. Schmidt, in: FS Säcker, 2001, S. 939, 941 f. 72 I. Schmidt, in: FS Säcker, 2001, S. 939, 945. 73 So freilich Fornasier, Freier Markt, S. 63: „in erster Linie“. 74 Begrifflichkeit nach Fornasier, Freier Markt, S. 63. 75 Jickeli, in: FS Möschel, 2011, S. 303, 305.
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
In jüngerer Zeit betont die Neue Institutionenökonomik – in Anlehnung an die Forschungen des Ordoliberalismus76 – die marktkonstitutive Bedeutung des rechtlich verfassten Vertrages.77 In der Tat bildet der freiwillig eingegangene, rechtlich bindende Austauschvertrag den Kern eines marktwirtschaftlichen Systems, weshalb er vor Störungen seiner Funktionsbedingungen zu schützen ist.78 Rechtlich und tatsächlich frei entscheidende Individuen werden nur dann einen Austauschvertrag abschließen, wenn sich die Kooperation langfristig zum Vorteil aller Beteiligten auswirkt.79 Da sie ohne eine „gesetzliche Hilfestellung“80 nicht wüssten, ob sich der jeweilige Vertragspartner ebenfalls kooperativ verhalten wird oder als sog. Trittbrettfahrer agiert, also am Nutzen der Kooperation partizipiert, ohne eigene Leistungen erbringen zu wollen, unterblieben Kooperationen im Zweifel auch dann, wenn sie für alle Beteiligten vorteilhaft wären.81 Eine Person, die rechtswidrig einen Vertrag verletzt, enttäuscht nicht nur die Erwartungen ihres Vertragspartners, sondern untergräbt in Zusammenschau mit vergleichbaren Situationen auch das Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Funktionsfähigkeit des Vertrages als Institution zur Regelung von Kooperationsbeziehungen.82 Aus diesem Grunde sollen die von der Rechtsordnung an den Vertragsbruch geknüpften Sanktionen nicht nur die von dem Fehlverhalten betroffenen Vertragspartner schützen, sondern zugleich verhindern, dass die Marktakteure künftig mit Blick auf die vermeintlichen Risiken und Unsicherheiten auf den Abschluss von Verträgen verzichten und damit mögliche Wohlstandsgewinne nicht realisieren.83 Die im Privatrecht durch Anfechtungs-, Nichtigkeits-, Schadensersatz- oder Rücktrittsvorschriften behandelten Vertragsstörungen beruhen nach dieser Sichtweise auf ähnlichen Problemen, wie sie unter dem Blickwinkel von „Transaktionskosten“, „eingeschränkter Rationalität“ oder der Gefahr eines „opportunistischen Verhaltens“ behandelt werden. Auch bei einer auf den ersten Blick individualzentrierten Sichtweise, wie sie der Neuen Institutionenökonomik eigen ist, können somit Problemlagen auftreten, die überindividuelle Relevanz haben. Diese lassen sich jedoch regelmäßig durch einen zureichenden Schutz des Einzelnen beheben. Sofern dieser aus „rationaler Ignoranz“ auf die Geltendmachung von Rechtsschutz verzichtet, kann beispielsweise an die Schaffung von Kollektivklagebefugnissen gedacht werden (vgl. etwa § 33 Abs. 2 GWB i. d. F. der 8. GWB-No76 Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 124; siehe auch Biedenkopf, in: FS Böhm, 1965, S. 113, 133. 77 Picot/Dietl, WiSt 19 (1990), 178, 180; ausführlich Teil 4 D. II. 78 Ellger, Bereicherung durch Eingriff, S. 300. 79 Vgl. Bachmann, Private Ordnung, S. 15. 80 Bachmann, Private Ordnung, S. 380. 81 Bachmann, Private Ordnung, S. 15. Zum erklärend verwandten spieltheoretischen Modell des „Gefangenendilemmas“ siehe noch Teil 4 D. III. 82 Fornasier, Freier Markt, S. 18. 83 Fornasier, Freier Markt, S. 18.
B. Grundbegriffe
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velle).84 In diesem Sinne hat der Individualschutz zugleich eine marktkonstitutive institutionelle Bedeutung. Hiervon ist die Problematik zu unterscheiden, ob der Schutz des Marktmechanismus gleichsam umgekehrt eine Einschränkung individueller Handlungsbefugnisse rechtfertigen kann. Dies wird uns in Zusammenhang mit der rechtlichen Behandlung der Folgeverträge noch beschäftigen. 2. Die juristische Sicht Soweit Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen aus juristischer Sicht betrachtet werden, stehen die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit von Verhaltensweisen der Marktteilnehmer im Vordergrund. 85 Wie wir schon gesehen haben, ist ein wirksamer Wettbewerb zwischen Unternehmen aus zivilistischer Sicht eine wesentliche Voraussetzung für material-chancengleiche (innere) Privatautonomie als einem Grundelement einer freien und sozialen Marktwirtschaft. 86 Da jedoch der wirtschaftliche Wettbewerb – wie die historische Erfahrung in Deutschland verdeutlicht hat – kein sich selbst erhaltendes System ist, muss er durch ein Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen geschützt werden.87 Das Wettbewerbsrecht und die wettbewerbsfördernde Regulierung der Netzsektoren begrenzen deshalb die formale Vertragsfreiheit der Unternehmen. Zwar entsteht ein wirtschaftlicher Wettbewerb erst durch den Gebrauch der Vertragsfreiheit. Eine schrankenlose Vertragsfreiheit verleitet jedoch dazu, die Freiheitssphären anderer Marktteilnehmer durch Aufstellung drittbelastender Normen88 und einseitig-antikompetitive Verhaltensweisen zu beeinträchtigen.89 Ein wirksamer Wettbewerbsschutz muss deshalb nicht nur eine Angebotsfreiheit der miteinander im Wettbewerb um die Gunst der Marktgegenseite stehenden Unternehmen gewährleisten, sondern auch die Wahl- und Entscheidungsfreiheit der Verbraucher, verstanden als Marktgegenseite.90 Dabei bestehen in einer marktwirtschaftlichen und sozialen Rechtsordnung spezifische Anforderungen an eine staatliche Regelsetzung, die es erfordern können, von der als ökonomisch richtig erkannten Lösung abzuweichen. Hierbei ragt aus 84 Siehe dazu Kommission, Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren vom Juni 2013, sowie Kommission, Vorschlag Richtlinie wettbewerbsrechtliche Schadensersatzklagen. Aus dem Schrifttum siehe Säcker, in: FS Reuter, 2010, S. 325 ff.; Bernhard, Kartellrechtlicher Individualschutz durch Sammelklagen. 85 Behrens/Braun/Nowak/Behrens, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 13. 86 Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 17. 87 I. Schmidt/A. Schmidt, Europäische Wettbewerbspolitik, S. 33; anders im Hinblick auf private Wettbewerbsbeschränkungen aufgrund einer langfristigen Sichtweise die sog. Chicago School, dazu Teil 4 C. VI. 88 Dazu Bachmann, Private Ordnung, S. 144. 89 Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, § 14 Rn. 6 f. 90 BT-Drucks. 15/1487 v. 22.8.2003, S. 13.
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
vertragstheoretischer Sicht das Rechtsstaatsprinzip gem. den Art. 20 Abs. 2 und 3, 23 Abs. 1 Satz 1, 28 Abs. 1 Satz 1, 79 Abs. 3 GG hervor. Dazu im Folgenden:
III. Die Eigengesetzlichkeit des Rechts gegenüber der Wirtschaft 1. Zielkonflikte zwischen einem rechtlichen und einem ökonomischen Verständnis des Wettbewerbsschutzes Zwischen einem ökonomischen und einem juristischen Verständnis von wirksamem Wettbewerb kann es zu Zielkonflikten kommen: So bezweckt etwa die immer noch herrschende (Wohlfahrts-)Ökonomie die Herstellung von effizienten Marktergebnissen in jedem Einzelfall (auswirkungsorientierter Ansatz). Demgegenüber ist eine staatliche Regelsetzung für den Marktmechanismus aus rechtsstaatlicher Sicht an bestimmte Mindestanforderungen gebunden, zu denen nicht nur die Einzelfallgerechtigkeit, sondern auch die Rechtssicherheit gehört.91 Die Marktteilnehmer müssen mit anderen Worten soweit möglich schon im Vorhinein wissen, wie sie sich – etwa als marktmächtige Unternehmen – rechtmäßig verhalten. Die Rechtssicherheit ist dabei gegenüber dem Gebot der Einzelfallgerechtigkeit und der auf dem Demokratiegebot beruhenden Normgebungs- und Normänderungsfreiheit gleichrangig, sodass eine Lösung nicht bereits aus der Normhierarchie abgeleitet werden kann.92 Darüber hinaus können ökonomische Analysen aus rechtlicher Sicht nur unter Beachtung der institutionellen Rahmenbedingungen erfolgen, weshalb (normative) Handlungsempfehlungen nicht ohne Weiteres von einem Rechtssystem auf das andere übertragen werden können.93
91 Streinz, in: liber amicorum Häberle, 2004, S. 745, 747; Sodan/Leisner, Art. 20 GG Rn. 5 4; von Münch/Kunig/Schapp, Art. 20 GG Rn. 40 und zu den Grenzen einer Ableitung von Ergebnissen im Einzelfall Rn. 87. I. Schmidt, WD 2005, 536, 537 betont, dass gerade in Deutschland aufgrund der negativen Erfahrungen in der NS-Zeit viel Wert auf den rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtssicherheit gelegt werde. Zu dem Zielkonflikt zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit in Auseinandersetzung mit dem „more economic approach“ der Kommission siehe I. Schmidt, WuW 2005, 877; ders., in: FS Säcker, 2011, S. 939, 947 f.; Immenga/Mestmäcker/Körber, Art. 2 FKVO Rn. 12; Basedow, WuW 2007, 712, 715; Behrens/Braun/ Nowak/Behrens, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 13; Kirchner, EuR-Bei 2011, 103, 105; FIW/Möschel, Wende in der Europäischen Wettbewerbspolitik, S. 55 ff.; Monopolkommission/Mestmäcker, Zukunftsperspektiven der Wettbewerbspolitik, S. 19 ff.; Oberender/ Schmidtchen, Effizienz und Wettbewerb, S. 9 ff.; Künzler, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? 92 BVerfG v. 4.4.2001 – 2 BvL 7/98, BVerfGE 103, 310 Rn. 6 4; Sodan/Leisner, Art. 20 GG Rn. 54. 93 Drexl/Idot/Monéger/Gerber, Economic Theory and Competition Law, S. 20 f.
B. Grundbegriffe
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2. Rechtssicherheit, Justiziabilität und Vorhersehbarkeit Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt für jede staatliche Anordnung ein Mindestmaß an Bestimmtheit (Klarheit), insbesondere für gesetzliche Regelungen (Normenklarheit).94 Das Bestimmtheitsgebot verbietet zwar nicht die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Der Gesetzgeber muss seine Vorschriften aber so eindeutig formulieren, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich und geboten ist. Erforderlich ist deshalb, dass sich unbestimmte Rechtsbegriffe durch eine Auslegung der betreffenden Normen nach den Regeln der juristischen Methodenlehre hinreichend konkretisieren lassen (Normenklarheit) und verbleibende Ungewissheiten nicht so weit gehen, dass die Vorhersehbarkeit für die Adressaten und die gerichtliche Kontrolle (Justiziabilität) des Handelns der durch die Normen ermächtigten staatlichen Stellen gefährdet sind.95 Die Normadressaten müssen den Inhalt einer Norm erkennen können, um sich nach diesem richten zu können (Vorhersehbarkeit).96 Das gilt insbesondere für wirtschaftsrechtliche (Haftungs-)Normen, denen regelmäßig auch eine Präventionsfunktion zukommt (Wirtschaftslenkung).97 Die Vorhersehbarkeit und Beständigkeit des rechtlichen Rahmens ist für unternehmerische Entscheidungen von entscheidender Bedeutung, wie sich derzeit im Rahmen des Ausbaus der Energie- und Telekommunikationsnetze zeigt.98 Die Wirtschaftlichkeit von Infrastrukturinvestitionen hängt wesentlich davon ab, welchen regulatorischen Verpflichtungen eine neue Infrastruktur unterliegen wird. Das gilt zum einen für die materiell-rechtlichen Regulierungsvorgaben, aber auch für die Investitionssicherheit, die durch den rechtlichen Rahmen geschaffen wird; denn regulatorische Unsicherheit kann die Investi tionsbereitschaft selbst dann negativ beeinflussen, wenn die materiell-rechtlichen Regulierungsvorgaben unter Beachtung der berechtigten Belange der anderen Marktteilnehmer grundsätzlich investitionsfreundlich sind.99 3. Interpretation des Rechts mit Hilfe der Ökonomie Aus juristischer Sicht beinhalten die Erkenntnisse der Ökonomie somit verschiedene Instrumente (eine „Toolbox“), um die normativen Wertungen der 94 Sodan/Leisner,
Art. 20 GG Rn. 54. Zum Vorstehenden BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 Rn. 111 – Außenwirtschaftsgesetz; BVerfG v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, Juris Rn. 181 – Gemeinsame Antiterrordatei. Siehe auch BVerfG v. 7.7.1971 – 1 BvR 775/66, BVerfGE 31, 255 Rn. 31 – Tonbandvervielfältigung. 96 Sodan/Leisner, Art. 20 GG Rn. 55. 97 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 188; Grundmann/Renner, JZ 2013, 379, 386. 98 Das wird auch von Ökonomen anerkannt, vgl. Averch/Johnson, AER 52 (1962), 1052 ff. 99 Fetzer, MMR 2010, 515. 95
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
Wettbewerbsordnung mit ökonomischer Expertise in die Wirklichkeit zu transportieren.100 Zugleich setzen die europäischen und deutschen Vorschriften gegen Wettbewerbsbeschränkungen der Anwendung ökonomischer Theorien de lege lata unübersteigbare Schranken,101 auch thematisiert als „Eigengesetzlichkeit eines Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen gegenüber den Wirtschaftswissenschaften“.102 Allerdings verwenden die Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit den Vokabeln „Wettbewerb“ und „Wettbewerbsbeschränkung“ unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer (teleologischen103) Interpretation im Sinne unterschiedlicher ökonomischer Theorien zugänglich sind.104 Entscheidend ist somit letztlich, welches die zur Lösung einer konkreten Fragestellung relevanten ökonomischen Erkenntnisse sind und welche rechtlichen Grenzen für ihre Rezeption bestehen.105 Beispielsweise wird sowohl im Rahmen des Verbots wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen gem. Art. 101 AEUV als auch im Rahmen des Missbrauchsverbots gem. Art. 102 AEUV diskutiert, ob eine Wettbewerbsbeschränkung mit Blick auf die Wohlfahrtswirkungen der Verhaltensweisen von Marktteilnehmern zu ermitteln ist, oder ob einer ökonomischen Einzelfallanalyse de lege lata Grenzen gesetzt sind.106 Gleichsam von entgegengesetzter Seite wird einem – aus zivilistischer Sicht unproblematisch zulässigen – Verbot von Ausbeutungsmissbräuchen gem. Art. 102 Satz 2 lit. a. AEUV bzw. gem. den §§ 19 Abs. 2 Nr. 2, 29 GWB aus ökonomischer Sicht entgegengehalten, es perpetuiere marktmächtige Stellungen, da es die Anreize für Konkurrenten marktmächtiger Unternehmen mindere, in den Markt einzutreten. Wie wir noch sehen werden, sind bei Lichte besehen beide Einwände nicht überzeugend.
IV. Wettbewerbsfunktionen Oberstes Ziel der staatlichen Wettbewerbspolitik ist der Schutz bzw. die Förderung von Wettbewerb.107 Es gibt freilich die unterschiedlichsten Ansichten darüber, wie ein zu schützender Wettbewerb auszusehen hat; das zeigt sich bereits an den diversen Attributen, die dem Begriff Wettbewerb vorangestellt werden: „klassisch“, „neoklassisch“, „vollständig“ und „unvollständig“, „funktionsfä100
Säcker, NJW 2010, 1127; Rittner/Dreher, Wirtschaftsrecht, S. 355 f. Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 13 f. 102 Immenga/Mestmäcker/dies., Einl. D. EU-Wettbewerbsrecht Rn. 1; Bachmann, Private Ordnung, S. 41 f. 103 Kirchner, EuR-Bei 2011, 103, 117. 104 Möschel, in: FS Rittner, 1991, S. 405. 105 Behrens/Braun/Nowak/Behrens, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 13, 14; Immenga/Mestmäcker/dies., Einl. D. EU-Wettbewerbsrecht Rn. 1. 106 Vgl. zum Missbrauchsverbot Kirchner, EuR-Bei 2011, 103, 104 ff.; ausführlich Teil 5 B. und Teil 5 C. I. 107 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 8 und 31. 101 Behrens/Braun/Nowak/Behrens,
B. Grundbegriffe
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hig“ bzw. „workable“, „effizient“, „effektiv“, „wirksam“ oder etwa „frei“. Gemeinsamer Ansatzpunkt der verschiedenen Sichtweisen ist es, mit dem Begriff „Wettbewerb“ Sachverhalte zu adressieren, denen positive Wirkungen zugeschrieben werden.108 Worin diese positiven Wirkungen liegen, wird jedoch unterschiedlich beurteilt.109 Zu unterscheiden sind „ökonomische“ und „gesellschaftliche“ (aus unserer Sicht: zivilistische) Wettbewerbsfunktionen.110 Zur besseren Übersichtlichkeit werden diese im Folgenden zunächst überblickshaft erläutert; die einzelnen Funktionen kehren sodann im Rahmen der Erörterung der wettbewerbspolitischen Konzepte wieder. 1. Selbststeuerungseigenschaften wettbewerblich organisierter Märkte (ökonomische Wettbewerbsfunktionen) Bereits der klassische Liberalismus hat herausgearbeitet, dass (komplett) freie Märkte als Selbststeuerungsmechanismen agieren, da sie gewährleisten, dass die privatautonom-egoistischen Entscheidungen der Marktteilnehmer zu volkswirtschaftlich guten und gleichzeitig zu sozialen Ergebnissen führen (die „invisible hand“ des Marktes).111 Die Forderung nach Wohlstand erklärt sich aus der Knappheit von Gütern,112 zu deren Überwindung die Menschen wirtschaften müssen, um die Diskrepanz zwischen gewünschten und vorhandenen Gütern zu vermindern.113 Für die Verminderung dieser Knappheit kommen mehrere Ansatzpunkte in Betracht: Eine Erweiterung des Gütervolumens durch stetiges Wirtschaftswachstum, eine Verbesserung der Güterstruktur durch Anpassung der Angebots- an die Nachfragestruktur nebst einer entsprechenden optimalen (Re-)Allokation der Ressourcen sowie eine Verbesserung der Güterverteilung.114 Zur Realisierung dieser Ziele sind mehrere Aufgaben zu lösen: 115 Zum Ersten sind Informationen über das jeweilige Ausmaß der Güterknappheit notwendig. Zum Zweiten benötigt man einen Lenkungsmechanismus, der die Produktionsfaktoren in diejenigen Verwendungen lenkt, bei denen die Knappheit besonders groß ist. Zum Dritten ist ein Ausgleichs- oder Zuteilungsmechanismus erfor108
Säcker, Zielkonflikte, S. 15 f.; Welfens, Wirtschaftspolitik, S. 706 f. Wolf, Effizienzen, S. 154 ff.: der Schutz des Wettbewerbs „als solcher“ sei eine Leerformel, eine Norm könne nur ihren Zwecken (Zielsetzungen) entsprechend angewandt werden: „Zwecklosem Recht mangelt es an Legitimation“ (S. 156). 110 Säcker, Zielwandlungen, S. 40 ff. 111 Smith, Der Wohlstand der Nationen, Kap. 7 und 8, S. 48 ff.; Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 13; Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369. 112 Vgl. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 8 : „Das zentrale Problem der Wirtschaft ist die Knappheit.“ 113 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 16. 114 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 17. 115 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 17. 109 Nachdrücklich
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
derlich, um die Diskrepanz zwischen Bedürfnissen und Mitteln zu überbrücken, da sich die Güterknappheit nie endgültig überwinden lässt. Diese Herausforderungen lassen sich in einzelnen Haushalten vergleichsweise einfach lösen, während sie die auf eine ganze Volkswirtschaft als „spontane Ordnung“ gerichtete Wirtschaftspolitik vor extrem komplexe Aufgaben stellen.116 Bei rückschauender Betrachtung zeigt sich, dass der Selbststeuerungsmechanismus des Marktes nicht nur größere individuelle Freiheitsspielräume als eine Planwirtschaft ermöglicht, sondern in Form des Preismechanismus auch ein Mittel zur Lösung sowohl des Informationsproblems, als auch des Lenkungsproblems, als auch des Ausgleichsproblems zur Verfügung stellt.117 Steigende oder fallende Preise signalisieren den Anbietern und Nachfragern von Gütern bei freier Preisbildung veränderte Knappheiten und geben damit dazu Anlass, die Ungleichgewichte auf den Märkten durch Anpassung der Produktion nebst der entsprechenden Veränderung der Kapazitäten bzw. des Verbrauchs zu beseitigen.118 Darüber hinaus haben die Individuen durch die von einem freien Preissystem bewirkte dezentrale Entscheidungsstruktur die Möglichkeit, ihr spezifisches Wissen als Anbieter oder Nachfrager in den Marktprozess als Entdeckungsverfahren einzubringen, so dass das nicht zentralisierbare Wissen einer Gesellschaft soweit wie möglich genutzt werden kann.119 Für das Funktionieren der vorstehend geschilderten Selbststeuerungseigenschaften des marktlichen Preissystems ist es nach allgemeiner Ansicht unabdingbar, dass die Märkte wettbewerblich organisiert sind.120 Die Selbststeuerungseigenschaften wettbewerblich organisierter Märkte werden gemeinhin in diverse Wettbewerbsfunktionen ausdifferenziert: 121 Zum einen koordiniert der Wettbewerb Angebot und Nachfrage entsprechend der Struktur der Nachfrage und erzwingt eine entsprechende Reallokation der Produktionsfaktoren, indem die knappen Ressourcen dort eingesetzt werden, wo sie am produktivsten sind und deshalb die höchsten Gewinne erwarten lassen (Lenkungs-, Anpassungsoder Allokationsfunktion). Beschrieben wird hiermit das Konzept der statisch-allokativen Effizienz.122 Zum Zweiten fördert der Wettbewerb den technischen Fortschritt; denn er übt einen dauerhaften Anreiz zur Steigerung der ei116 Vgl. von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 8 ; ders., ORDO 26 (1975), 12, 19. 117 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 18 ff.; von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 10 ff. Zum Preismechanismus siehe schon Teil 3 A. I. 118 Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369. 119 Siehe von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3 ff. 120 Vgl. Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 370. 121 Die Definitionen können im Einzelnen divergieren, vgl. Günther, WuW 1964, 111, 116 f.; Kantzenbach, Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, S. 16 ff.; Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 18 f.; Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 23 ff.; Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 372; Knieps, Wettbewerbsökonomie, S. 4 ff.; I. Schmidt, Wettbewerbs politik und Kartellrecht, S. 15. 122 Dazu noch Teil 4 C. III. 4. b).
B. Grundbegriffe
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genen Leistungsfähigkeit im Verhältnis zu Wettbewerbern aus, um neue Problemlösungen zu entwickeln (Fortschritts- bzw. Entdeckungsfunktion). Das damit angesprochene Konzept der dynamischen Effizienz123 ist in einer marktwirtschaftlichen Ordnung besonders wichtig, da die Schaffung und Ausbreitung neuen Wissens, d. h. der technische Fortschritt zu Recht als eine wesentliche Ursache für Wohlstandssteigerungen angesehen wird. Unternehmen, die ihre innovativen Leistungen auf dem Markt ausprobieren, bekommen durch die Kaufentscheidungen der Nachfrager Informationen über die relative Qualität derselben (sog. Markttest). Darüber hinaus werden durch die entstehenden Gewinne bzw. Verluste positive und negative Anreize zur innovativen Verbesserung ihrer Leistungen gesetzt.124 Schließlich führt der Wettbewerb auf den Faktormärkten zu einer Einkommensverteilung entsprechend der eigenen Leistungsfähigkeit; er soll mit anderen Worten „funktionslose“, nicht „leistungs bezogene“ Einkommen abbauen (Verteilungsfunktion). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Gewinne nicht aufgrund dauerhafter antikompetitiver Marktmacht oder durch staatliche Subventionen (Problem des „rent seeking“125) entstehen sollen, sondern durch bessere Leistungen für die Konsumten (dies ist das klassisch-rechtliche Konzept des Leistungswettbewerbs).126 Das durch den Wettbewerb bewirkte Verteilungsprinzip entspricht somit nicht der distributiven Gerechtigkeit („iustitia distributiva“), sondern der ausgleichenden Gerechtigkeit („iustitia commutativa“); 127 zugleich setzt es Anreize für Leistungssteigerungen.128 Zusätzlich zur wettbewerblichen Organisation der Märkte sind konstante rechtlich-institutionelle Rahmenbedingungen eine unabdingbare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des marktlichen Selbststeuerungsmechanismus.129 Da die Entscheidungen in einer Marktwirtschaft dezentral getroffen werden, sind die Freiheitsspielräume der Individuen zu definieren und zu sichern, da diese selbst entscheiden sollen, welche Güter sie anbieten bzw. nachfragen (Tauschfreiheit) und auf welchen Märkten sie mit ihren spezifischen un-
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Siehe Teil 4 C. III. 4. d). So insb. Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 372. 125 Zu den von der politischen Ökonomie herausgearbeiteten Modellen politischer Einflussnahme siehe Grüner, Wirtschaftspolitik, S. 97 ff. 126 Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 372; grundlegend Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 73; Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 254 f.; dazu Goldschmidt/ Wohlgemuth/Goldschmidt, Ordnungsökonomik, S. 191, 193. Der Aspekt der Interdependenz der Ordnungen wird heute besonders von der Ordnungsökonomik betont; vgl. Vanberg, Consumer Welfare, Total Welfare and Economic Freedom, S. 14. 127 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Rn. 1130 b ff.; dazu Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 36 und 152 f.; Canaris, iustitia distributiva, S. 9 ff.; Mohr, in: FS Adomeit, 2008, S. 477, 484 f. 128 Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 372. 129 Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 107 ff.; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 23 und öfter; Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 373. 124
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
ternehmerischen Fähigkeiten tätig sind (Gewerbefreiheit).130 Notwendig ist deshalb eine aktive staatliche Wettbewerbspolitik, die die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs als Selbststeuerungsmechanismus individueller Freiheiten sichert. Die juristischen Pendants hierzu sind Privatautonomie und material-chancengleiche Vertragsfreiheit. Sofern sich auf bestimmten Märkten (Sektoren) grundlegende Defizite der marktlichen Selbststeuerung offenbaren (sog. Marktversagen), sind diese durch aktive Eingriffe in das Marktgeschehen (Regulierung) zu vermindern bzw. zu beseitigen.131 Aus ökonomischer Sicht kann ein Marktversagen jedoch auch durch rechtliche Regelungen in den Bereichen Vertragsrecht, Verbraucherschutzrecht, Gesellschaftsrecht oder Arbeitsrecht begründet werden; 132 hiermit werden wir in unserer Untersuchung am Rande in Berührung kommen. 2. Schutz der material-chancengleichen Vertragsfreiheit gegen unangemessene oder unbillige Beeinträchtigungen (gesellschaftliche Wettbewerbsfunktionen) Die aus ökonomischer Sicht gesellschaftspolitische Zielsetzung des Wettbewerbs richtet sich auf den Schutz der Handlungsspielräume und Wahlfreiheiten der Marktteilnehmer (Freiheitsfunktion).133 Der Begriff der Freiheit ist – wie wir schon einleitend gesehen haben – allerdings interpretationsoffen. So kann er in einem negativen und in einem positiven Sinne verstanden werden, (nur) als das Fehlen staatlicher Reglementierung (Fehlen von Zwang134) oder zusätzlich als Möglichkeit zum Handeln (Privatautonomie bzw. Wettbewerbsfreiheit).135 Bezüglich der positiven Handlungsfreiheit wird weiter unterschieden zwischen formaler Freiheit im Sinne der rechtlichen Gleichheit der Bürger und der material-faktischen Freiheit als Fähigkeit, die gesteckten Ziele auch tatsächlich zu erreichen. In einer sozialen Marktwirtschaft (Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV) sichert der Wettbewerb dezentrale Entscheidungsprozesse und damit die Individual freiheit durch rechtliche Bindung privater Macht.136 Das Freiheitsverständnis ist somit notwendigerweise ein materiales und kein formelles. Hiernach ist Freiheit nicht nur eine Voraussetzung des Wettbewerbssystems; dieses System trägt vielmehr selbst zur Sicherung der individuellen Freiheitspositionen bei, indem die Nachfrager im Austauschprozess zwischen verschiedenen Produkten 130
Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 373; Knieps, Wettbewerbsökonomie, S. 4 f. Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 373. 132 Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 373. 133 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 12 f. 134 So zum Beispiel der späte Hoppmann, Grundsätze marktwirtschaftlicher Wettbe werbspolitik, abgedruckt in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 296, 301 ff., 313. 135 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 12. 136 MünchKommEUWettbR/Säcker, Einl. Rn. 6 . 131
B. Grundbegriffe
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auswählen können, während die Anbieter sich auf bestimmte Nachfrager konzentrieren und andere ausschließen können.137 Zugleich ist der Wettbewerb ein Instrument zur Kontrolle politischer Macht; denn Macht auf einem dieser beiden Gebiete impliziert oft auch Macht auf dem anderen.138 Wettbewerb sichert somit nicht nur die individuelle Freiheit, sondern auch die ordnungspolitische Grundentscheidung für eine freiheitliche und soziale Marktwirtschaft.139 Allerdings ist eine totale Handlungsfreiheit für alle Individuen weder denkbar noch wünschenswert; denn die Freiheitsbereiche der Individuen sind häufig nicht komplementär, sondern substitutiv.140 Vor diesem Hintergrund kann ein Schutz der materialen Vertragsfreiheit immer nur ein relativer Schutz vor unangemessenen bzw. unbilligen Beeinträchtigungen sein. Zur Verdeutlichung dieser Abwägungsnotwendigkeit ist im Wettbewerbsrecht das rechtliche Konzept des Leistungswettbewerbs im Gegensatz zum Nichtleistungswettbewerb geschaffen worden.141 Da die wirtschaftlichen Güter nicht unbegrenzt vorhanden sind, liegt es aus ökonomischer Sicht nahe, dass Individuen die eigene Versorgung mit Gütern auf Kosten anderer Individuen vermehren. Dies gelingt umso eher, je größer die eigene Planungskompetenz ist und je geringer die Handlungsspielräume der anderen sind. Vor diesem Hintergrund könnte man – wie etwa der frühe Ordoliberalismus – die Ansicht vertreten, dass ein hoher Grad an dezentraler Planungskompetenz notwendig sei, da er zugleich ein hohes Maß an Handlungs- und Wahlfreiheit impliziere.142 Eine solche Sichtweise gilt heute jedoch zu Recht als überwunden; denn im Rahmen einer dynamischen Sichtweise des Wettbewerbs sind – wie wir noch näher behandeln werden – zeitlich bedingte wirtschaftliche Machtpositionen unabweisbar notwendig, um den Wettbewerbsprozess in Gang zu halten.143 Die Sicherung einer wettbewerblichen Struktur ist somit nicht gleichbedeutend mit einem möglichst atomistischen „vollkommenen Wettbewerb“. Die Rechtsordnung muss jedoch sicherstellen, dass die Marktteilnehmer ihre Machtpositionen nicht dazu benutzen 137
Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 22. Diesen Zusammenhang arbeitete insbesondere Franz Böhm heraus, vgl. Teil 4. D. I. 4. 139 Vgl. die Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (abgedruckt bei Müller-Henneberg/Schwartz, S. 1057): „Das ‚Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen‘ [. . .] geht von der durch die wirtschaftswissenschaftliche Forschung erhärteten wirtschaftspolitischen Erfahrung aus, daß die Wettbewerbswirtschaft die ökonomischste und zugleich demokratischste Form der Wirtschaftsordnung ist [. . .].“ 140 Oberender/Schmidtchen, Effizienz und Wettbewerb, S. 9, 26 ff.; ders., ORDO 59 (2008), 143, 153 ff.; von Weizsäcker, WuW 2007, 1078 ff.; Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 13, unter Verweis auf den Schutz der Freiheit des Innovators durch ein Patent, der zur Einengung der Freiheit der Innovatoren führt. 141 Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 73; Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 254 f. 142 Siehe zur frühen ordoliberalen Theorie der vollständigen Konkurrenz unter Teil 4 D. I. 2. 143 Grundlegend war die Theorie des „effective competition“, vgl. Teil 4 C. IV. 4. 138
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
(„missbrauchen“), die rechtlich anerkannten Freiheitspositionen anderer Individuen unangemessen (vgl. auch § 307 Abs. 1 BGB) bzw. unbillig (vgl. auch § 315 Abs. 3 BGB) durch uni- oder multilaterale Wettbewerbsbeschränkungen zu beeinträchtigen.144 Die entsprechende Abwägung ist aus juristischer Sicht an der Grundentscheidung für eine auf der Selbstbestimmung der Marktteilnehmer gründende freie und soziale Marktwirtschaft im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Uabs. 1 Satz 2 EUV auszurichten (sog. Interdependenz der Ordnungen).145 3. Zielkonflikte zwischen Freiheits- und Wohlfahrtsfunktionen („trade offs“) Die ökonomischen Funktionen des Wettbewerbs sind heute überwiegend anerkannt. Umstritten ist demgegenüber, ob die Freiheit des Wettbewerbs ein schützenswertes Ziel der Wettbewerbspolitik ist oder ob Letztere vornehmlich andere (überindividuelle) Ziele wie die Herstellung von Wohlfahrt und Gerechtigkeit verfolgen sollte, wie dies von Vertretern der Chicago School und der dadurch beeinflussten „(wohlfahrts-)ökonomischen Analyse des Rechts“ vorgebracht wird.146 Die Bedeutung, die der Freiheitsfunktion im Verhältnis zu den ökonomischen Funktionen des Wettbewerbs zukommt, hängt somit vom jeweiligen wettbewerbstheoretischen Grundverständnis ab.147 Auch wenn man wie vorliegend eine „bipolare Zielsetzung“ des Wettbewerbsrechts anerkennt (einerseits möglichst gute Wohlfahrtsergebnisse, die in Form der Weitergabe von Effizienzvorteilen dem Verbraucher zugutekommen, und andererseits Freiheit vor Vermachtung), enthebt dies nicht von der Aufgabe zu prüfen, ob sich in der Realität beides zugleich optimal verwirklichen lässt; denn Konflikte und Antinomien zwischen beiden Zielsetzungen sind in der Rechtswirklichkeit allgegenwärtig.148 Sie bestehen etwa zwischen der kostenund der wettbewerbsoptimalen Betriebsgröße: 149 Während eine kostengünstige und innovative Produktion von Gütern unter dem Aspekt von Größen- und Verbundvorteilen („economies of scale and scope“) eine kostenoptimierte Fertigung und damit die (jedenfalls temporäre) Zulassung wirtschaftlicher Machtpositionen verlangt (produktive Effizienz), votiert eine wettbewerbsoptimale (d. h. maximal machtbegrenzende) Sichtweise für möglichst atomistische Marktstrukturen. Die optimale Lösung liegt wie häufig dazwischen. Bei Schaffung des deutschen und später auch des europäischen Wettbewerbsrechts standen solche potenziellen Zielkonflikte noch nicht im Vordergrund.
144
Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 15. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 13 ff. 146 Siehe Teil 4 C. VI. 147 Wunderle, Verbraucherschutz, S. 13 f. 148 MünchKommEUWettbR/Säcker, Einl. Rn. 9 ; ausführlich Säcker, Zielkonflikte, S. 14 ff. 149 Säcker, Zielwandlungen, S. 48; ders., JJZ 2013, S. 9, 12. 145
B. Grundbegriffe
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Der Glaube an eine „autoharmonisierende Kraft des Marktes“150 verleitete die Gesetzgeber vielmehr zur Annahme, die Freiheit des Wettbewerbs führe zwangsläufig zu den besten ökonomischen Ergebnissen.151 Diese Sichtweise ist jedoch nur unter den (unrealistischen) Bedingungen des statischen Modells der vollkommenen (vor allem der homogenen, bilateral-polypolistischen) Konkurrenz gerechtfertigt, bei der kein Anbieter oder Nachfrager Einfluss auf den Preis hat.152 Erst nachdem die Wirtschaftswissenschaften herausgearbeitet hatten, dass die tatsächlichen Märkte mit diesem Modell regelmäßig nicht übereinstimmen, sondern oft oligopolistische Tendenzen aufweisen,153 wurde die Möglichkeit von Konflikten zwischen der gesellschaftspolitischen und der wohlstandspolitischen Zielsetzung der Wettbewerbspolitik näher diskutiert. Letztlich kann der Ruf nach einem „more economic approach“ des Wettbewerbsrechts deshalb auch als Antwort auf die von Seiten liberaler Wissenschaftler vertretene Aussage angesehen werden, Freiheitsschutz und größtmöglicher ökonomischer Wohlstand seien zwei Seiten derselben Medaille, weshalb es zu keinerlei Zielkonflikten kommen könne.154
V. Aufgabenstellung: Auflösung des Zielkonflikts zwischen Ökonomie und Recht aus zivilistischer Sicht Wir werden nachfolgend herausarbeiten, dass in einer freiheitlichen Privatrechtsordnung, in der der Interessenausgleich zwischen den Rechtssubjekten durch frei ausgehandelte Austauschverträge zustande kommt und die Wertrelation zwischen den Gütern durch Angebot und Nachfrage über den Preis bestimmt wird, die gesellschaftspolitische Freiheitsfunktion des Wettbewerbs im Vordergrund stehen muss; 155 denn der Wettbewerb ist das maßgebliche Instrument, die gegenseitige Unabhängigkeit („relative Machtlosigkeit“156) und Wahlfreiheit der Vertragspartner zu verbürgen (Säcker). Es ist das Verdienst des 150
Säcker, Zielkonflikte, S. 18. So Mestmäcker/Hoppmann, Wettbewerb als Aufgabe, S. 61, 103; ders., in: FS Wessels, S. 145, 148; ders., JbNSt 179 (1966), 286, 289; ders., JbNSt 181 (1967/1968), 251, 258; ders., ORDO 18 (1967), 77, 82; Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, S. 369, 662. Siehe auch Schwalbe, ZWeR 2010, 454, 461 ff. sowie ausführlich Vanberg/Eickhof, Evolution und freiheitlicher Wettbewerb, S. 35, 43. 152 Siehe die Begründung zum Regierungsentwurf des GWB (abgedruckt bei Müller-Henneberg/Schwartz, S. 1057); Säcker, Zielkonflikte, S. 18. Zum Unionsrecht siehe MünchKommEuWettbR/Säcker, Einl. Rn. 9. 153 So insbesondere die sog. Workability-Konzepte, vgl. Clark, AER 30 (1940), 241 ff.; ders., Competition as a Dynamic Process; Kantzenbach, Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs; Cox/Jens/Markert/Kantzenbach/Kallfass, Handbuch des Wettbewerbs, S. 105 ff.; siehe dazu noch Teil 4 C. IV. 154 So MünchKommEUWettbR/Säcker, Einl. Rn. 10 a. E.; I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 19 f. 155 Säcker, Zielwandlungen, S. 59. 156 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 47. 151
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
Ordoliberalismus (weitergeführt durch die sog. Ordnungsökonomik157), den Zusammenhang zwischen dem Schutz eines freien Wettbewerbsprozesses und der Sicherung individueller Machtlosigkeit herausgearbeitet zu haben, auch wenn er keine konkreten Konzepte benannt hat, die konfligierenden Freiheitsbereiche aufzulösen. Dieses Verdienst kommt vor allem den Theorien der Workable Competition zu. Der Ordoliberalismus hatte – wie wir noch sehen werden – in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland und Europa starken Einfluss auf die wettbewerbspolitische Grundausrichtung des neu geschaffenen Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Gleichwohl werden seine grundlegenden Erkenntnisse über die system- und funktionswidrige Vereinnahmung des Austauschvertrages als Instrument der einseitigen Leistungsbestimmung und Machtausübung nicht ausreichend gewürdigt.158 Wenn die Kommission heute deshalb die wohlfahrtsökonomisch zu bestimmende Konsumentenwohlfahrt als vorrangiges Ziel der Wettbewerbspolitik ausruft (sog. Post-ChicagoEconomics),159 übersieht sie den Beitrag, den die Wettbewerbspolitik zur Sicherung der Grundlagen einer freiheitlichen Privatrechtsordnung leistet.160 Die vorliegende Untersuchung will sich der grundlegenden Bedeutung eines auf individueller Selbstbestimmung gründenden Wettbewerbsprozesses für die rechtliche Verfasstheit der Privatrechtsordnung und zugleich für die Sicherung eines demokratischen Rechtsstaates versichern. Dazu ist es unabdingbar, die wesentlichen Strömungen der für unsere Fragestellungen ertragreich erscheinenden ökonomischen Theorien darzustellen und einer Kritik zu unterziehen, wobei die (vertrags-)rechtlichen Implikationen im Vordergrund stehen sollen. Es wird sich zeigen, dass eine wohlfahrtsökonomische Herangehensweise nicht automatisch mit einer auf dem Schutz der materialen Selbstbestimmung basierenden Privatrechtsordnung in Widerspruch steht. Dies verdeutlicht paradigmatisch die historisch wirkungsmächtige Theorie der Workable Competition, die eine kompetitive Marktstruktur und nicht allein vermeintlich gute ökonomische Ergebnisse ins Zentrum ihrer Überlegungen stellte. Wohlfahrtsökonomische Analysen sind jedoch kritisch zu betrachten, sofern sie das Privatrecht 157 Die Ordnungsökonomik beschäftigt sich mit den Auswirkungen, die von unterschiedlichen rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen für die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Handlungsprozesse ausgehen, vgl. Riesenhuber/Vanberg, Selbstverantwortung, S. 45, 46. Zum Begriff der Ordnung im Gegensatz zum neoklassischen Begriff des Gleichgewichts siehe von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 10. 158 So schon die Mahnung von Säcker, Zielwandlungen, S. 59. Dies mag auch daran liegen, dass es sich bei dem Ordoliberalismus, wie er etwa von Böhm vertreten wurde, um keine ökonomische Theorie im engeren Sinne handelte. 159 Als zentrales Ziel der Wettbewerbspolitik wird die Effizienz von der neoklassischen Wettbewerbsökonomie vertreten, vgl. Teil 4 C. III. Einen Vorrang des Wohlfahrtszieles vertreten auch MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1066. Offener Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 29; Budzinski, „Wettbewerbsfreiheit“ und „More Economic Approach“, S. 17 ff.; Schwalbe, ZWeR 2010, 454, 463. 160 MünchKommEUWettbR/Säcker, Einl. Rn. 13.
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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aus effizienzbezogener Warte normativ modellieren, da dies für die Bürger mit (grund-)rechtlich nicht hinnehmbaren Freiheitseinbußen verbunden sein kann.
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht Die nachfolgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch, eine eigene ökonomische Theorie zu entwickeln, noch wollen sie die behandelten Theorien in allen ihren Verästelungen darstellen. Es sollen vielmehr aus Sicht der Rechtswissenschaft und ihrer immanenten Erkenntnisgrenzen die wesentlichen Aussagen der Wirtschaftswissenschaften zum Thema „wirtschaftliche Macht“ aufgezeigt und bewertet werden. Wie wir sehen werden, versucht die Ökonomie das hochkomplexe Phänomen wirtschaftlicher Macht und dessen positive und negative Auswirkungen auf die Individuen und die Gesamtgesellschaft durch verschiedene Denkansätze sachgerecht zu erfassen, die – wollen sie nicht weitgehend auf konkrete Regelungsvorschläge verzichten – in zum Teil erheblichem Maße von der Wirklichkeit abstrahieren. Dass in einem bestimmten ökonomischen Modell ein bestimmtes ökonomisches Ergebnis erzielt wird, bedeutet somit nicht, dass dies auch tatsächlich so sein muss. Sofern die Ökonomie normative Handlungsempfehlungen an den Gesetzgeber und die Rechtsprechung formuliert, sind diese zudem von politischen Werturteilen geprägt,161 weshalb sie sich aus Sicht der geltenden Wirtschaftsverfassung einer kritischen Revision stellen müssen. Im Ergebnis wird sich zeigen, dass die zutreffende Behandlung wirtschaftlicher Macht nicht ohne normative Leitlinien auskommt.
I. Inhalt und Art der Darstellung Im Einzelnen orientiert sich die Darstellung der Wettbewerbstheorien an einem – notwendig vergröbernden – Mehrphasenmodell, das vereinfachend den Hauptstrom der Argumentation der jeweiligen Epoche162 – regelmäßig vertreten durch eine bestimmte „Schule“163 – in den Vordergrund rückt: 164 An die 161 Auch wenn dies zuweilen nicht offengelegt wird. Ein (nicht zutreffender) Hauptvorwurf der Wirtschaftswissenschaften gegenüber der Jurisprudenz lautet vielmehr, dass diese anders als die Ökonomik keine eindeutig messbaren Maßstäbe habe, um die Freiheitsbereiche der (Markt-)Bürger gegeneinander abzugrenzen. Siehe von Weizsäcker, WuW 2007, 1078 ff.; Oberender/Schmidtchen, Effizienz und Wettbewerb, S. 9, 26 ff.; ders., ORDO 59 (2008), 143, 153 ff., insb. 158; Stoffel/Zäch/Amstutz/Reinert, Kartellgesetzrevision 2003, S. 69, 79. 162 Von Basedow (WuW 2007, 712, 714) als „Denkmoden“ bezeichnet. 163 Sun, ALJ 78 (2012), 37: „Antitrust has a tradition of being categorized by ‚schools‘.“ Siehe auch Crane, ALJ 78 (2012), 43 ff.; Soven, ALJ 78 (2012), 273 ff. 164 Im Anschluss an Herdzina (Wirtschaftstheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik, S. 21 f.) beruht die Phasendarstellung auf Vereinfachungen, die der Meinungsvielfalt unter den Ökonomen nicht gerecht wird, weshalb man allenfalls die jeweilige Hauptströmung in den Vordergrund stellen kann, da hierüber unter den Ökonomen weitgehend Konsens besteht.
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
klassische dynamische Wettbewerbstheorie schloss sich die neoklassisch-statische Gleichgewichtstheorie mit der Entwicklung der Marktformen, dem Leitbild der vollkommenen Konkurrenz und Versuchen der Annäherung an die Marktrealitäten an, bis schließlich in den 1960er Jahren die Wettbewerbstheorie der Workable Competition zum Durchbruch kam.165 Diese baut ebenso wie die Theorie der sog. Chicago School of Economics auf der wohlfahrtsökonomischen Konzeption der Neoklassik auf, weshalb sie den Wettbewerb als Mittel zur Erreichung vorab definierter Ziele ansieht.166 Während die Chicago School jedoch allein auf das Marktergebnis blickt, das unter Zuhilfenahme statischer wohlfahrtstheoretischer Instrumente modelliert werden soll, beurteilen die Konzepte der Workable Competition (in Deutschland: funktionsfähiger Wettbewerb) Maßnahmen auch nach ihren Auswirkungen auf die Marktstruktur und das Marktverhalten. Die Konzepte des „funktionsfähigen Wettbewerbs“ wurden fortgeführt durch die Theorien des „wirksamen Wettbewerbs“, die sich zunehmend von der statischen Sichtweise der neoklassischen Ökonomie lösten und stattdessen den dynamischen Charakter des Wettbewerbs betonten. Aus diesem Grunde sahen sie Marktunvollkommenheiten (mit anderen Worten: wirtschaftliche Machtpositionen) nicht nur als Folge, sondern auch als Voraussetzung des Wettbewerbs an. Die vorbenannten Ansätze lassen sich nach ihrer Zielfunktion, der markttheoretischen Fundierung und dem wettbewerbspolitischen Programm bezüglich Diagnose und Therapie des Marktgeschehens mit Klaus Herdzina idealtypisch als „wohlfahrtsökonomisch“ einstufen.167 Als idealtypischer Gegenpol hierzu kommen systemtheoretische Ansätze in Betracht, die den Wettbewerb – ähnlich wie die klassische dynamische Wettbewerbstheorie – als ergebnisoffenen Prozess beschreiben, der sich durch die Ausübung der Handlungsfreiheiten der Marktteilnehmer entwickelt. Im Zentrum der wettbewerbspolitischen Analyse steht hier deshalb ein – wie wir sehen werden – formales Freiheitsziel. Da diese Ansätze von einer Zielharmonie zwischen Freiheitsziel und ökonomischen Wettbewerbsfunktionen ausgehen, ist es für sie nicht notwendig, nach der Bedeutung Letzterer zu fragen, da diese bei freiem Wettbewerb annahmegemäß als erfüllt gelten.168 Auch dies wird kritisch zu hinterfragen sein, da wirtschaftliche Machtpositionen guten ökonomischen Ergebnissen entgegenstehen können. 165
Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 52. Die Etikettierung, Abgrenzung und Zuordnung von wettbewerbspolitischen Programmen hängt eng mit dem gewählten Abgrenzungsmerkmal zusammen: blickt man z. B. auf die Ziele, so hat die Chicago School wenig Überscheidungen mit der Österreichischen Schule (hier ökonomische Effizienz, dort Freiheit); schaut man dagegen auf die wettbewerbspolitischen Vorschläge zur Umsetzung dieser Zielvorgaben, bestehen erhebliche Ähnlichkeiten. Vgl. Herdzina, Wirtschaftstheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik, S. 23. 167 Herdzina, Wirtschaftstheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik, S. 24. 168 Herdzina, Wirtschaftstheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik, S. 26. 166
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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Aus zivilistischer Sicht bilden – um das Ergebnis der Untersuchung ein Stück vorweg zu nehmen – die Grundaussagen eines (modernen, „späten“) Ordoliberalismus ein Kernstück zum Verständnis des Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen, da diese sowohl mit einer auf dem Primat chancengleicher vertraglicher Selbstbestimmung basierenden Rechtsordnung als auch mit der (mittelbar-prozessualen) Wohlfahrtsfunktion des Wettbewerbs übereinstimmen. Wir werden dem Ordoliberalismus deshalb vertiefte Beachtung schenken, auch weil dieser in der Diskussion immer noch verallgemeinernd mit den (veralteten) unrealistischen Forderungen nach einer „vollkommenen Konkurrenz“ gleichgesetzt wird. Da die Thesen des Ordoliberalismus freilich auch in ihrer modernen Variante zuweilen zu abstrakt bleiben, um damit konkrete Wettbewerbsprobleme zu lösen, sind zu ihrer Instrumentalisierung die Erkenntnisse anderer Theorien wie der Workable Competition heranzuziehen, da diese – sofern man sich ihrer immanenten Erkenntnisgrenzen bewusst ist – wertvolle Aussagen über die tatsächlichen Marktprozesse liefern können. Doch zunächst zur klassischen Wettbewerbstheorie Adam Smiths.
II. Klassische dynamische Wettbewerbstheorie Die klassisch-liberale Sichtweise des Wettbewerbs wurde maßgeblich durch den schottischen Moralphilosophen Adam Smith begründet, der durch die von ihm erstellte erste Gesamtdarstellung der marktwirtschaftlich orientierten Ökonomie sowie aufgrund der theoretischen Durchdringung des Marktes als eines Systems dezentraler Koordination wirtschaftlicher Entscheidungen als Begründer des modernen ökonomischen Denkens gilt.169 1. Historische Einordnung Smith entwickelte sein Verständnis des Wettbewerbs in Auseinandersetzung mit dem seinerzeit herrschenden Merkantilismus.170 Grundidee des Merkantilismus war ein absoluter Zustand der Macht des Staates über seine Bürger und 169 Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse I, S. 241; Welfens, Wirtschaftspolitik, S. 9. Weitere wichtige Vertreter des klassischen Liberalismus in Nachfolge von Smith waren David Ricardo, James Mill und Jean Baptiste Say; siehe dazu Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 33 ff. Aus juristischer Sicht siehe die Darstellung bei Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 92 ff. Zum Inhalt der Arbeiten Smiths krit. Söllner (a. a. O., S. 28 f.), wonach Smith nur bereits bekanntes Wissen zusammengetragen habe und dabei „häufig unsystematisch, unklar, ja sogar widersprüchlich“ gewesen sei sowie „befriedigende Begründungen für zentrale Behauptungen vermissen“ lies. Die erste Gesamtdarstellung der Wirtschaftswissenschaften überhaupt wurde von Steuart (An Inquiry into the Principles of Political Oeconomy) ausgearbeitet, die jedoch noch auf den Ideen des Merkantilismus beruhte. Siehe Söllner, a. a. O., S. 29. 170 Der Begriff wurde von Smith selbst geprägt, vgl. Der Wohlstand der Nationen, S. 347: „Merkantilsystem“; siehe auch Leistner, Richtiger Vertrag, S. 16 mit Fn. 29.
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
die Wirtschaft. Um diese Macht auf Dauer zu erhalten, bedurfte es erheblicher Finanzmittel, weshalb die Vermehrung des Reichtums des Staates durch Vergrößerung des Gold- und Silberbestandes und durch Erhöhung der Produktivität des Landes im Zentrum der Wirtschaftspolitik stand. Diese Ziele sollten u. a. durch die aktive Gestaltung und Förderung des Arbeitsmarktes, staatlich geplante Ansiedlungen von Unternehmen, den Arbeitseinsatz von Frauen und Kindern und die Verlängerung der Arbeitszeiten erreicht werden. Weitere wirtschaftspolitische Instrumente waren die gezielte Förderung von bestimmten Gewerbezweigen durch Subventionen und Steuervorteile oder die Gründung sowie Gewährung von staatlichen Monopolen, um die Produktion von gewerblichen Gütern zu verstärken. Weiterhin spielte im Merkantilismus die staatliche Förderung und Gestaltung des Außenhandels eine wichtige Rolle.171 Smith setzte sich kritisch mit dem Merkantilismus auseinander und erkannte, dass dieser aufgrund der im 18. Jahrhundert zunehmenden Industrialisierung (und dem beginnenden Zeitalter der Aufklärung) nicht mehr zeitgemäß war.172 Smiths Hauptwerk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ muss in Zusammenhang mit seiner philosophischen und epistemologischen Position gesehen werden.173 Smith war in erster Linie Philosoph. So befasst sich sein zweites Hauptwerk, „The Theory of Moral Sentiments“ aus dem Jahr 1759, mit der Ethik. Im Ergebnis einer ethisch-philosophischen Analyse machte Smith als wesentlichen Impuls der gesamtstaatlichen Wohlstandssteigerung das Bemühen der Individuen aus, ihre ökonomische Lage und ihren sozialen Status zu verbessern.174 Das Eigeninteresse der Individuen bewirke zugleich ein sozial sinnvolles Verhalten: Indem sie ihren Eigeninteressen folgten, dienten sie in einer Markt- bzw. Tauschwirtschaft zugleich den Interessen anderer Menschen. Das eigennützige Verhalten der Menschen wird nach Smith eingeschränkt durch ein natürliches Gefühl der Sympathie, das Menschen für andere haben; eine Art Mindestsinn für Gerechtigkeit ist für Smith somit die unerlässliche Basis für eine funktionsfähige Gemeinschaftsordnung: 175 Da die natürlichen Sympathiegefühle der Menschen nur schwach ausgeprägt seien, sei nicht nur eine auf Vernunft und Lebenserfahrung gestützte freiwillige Anerkennung von Regeln der Ethik und der Gerechtigkeit, sondern auch ein Rechtsrahmen notwendig, zu dessen Durchsetzung es staatlicher Institutionen benötige. Im wirtschaftlichen Bereich kommt für Smith als Disziplinierungsinstrument der Wettbewerb hinzu.176 Smith erhebt damit nicht – wie die neoklassische Wettbe171 Vgl.
Treu, ZfW 59 (2010), 182, 184. Vgl., auch zum Folgenden, Smith, Der Wohlstand der Nationen, 4. Buch, Kap. 1, S. 347 ff. 173 Vgl. Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 25. 174 Welfens, Wirtschaftspolitik, S. 9. 175 Siehe dazu Welfens, Wirtschaftspolitik, S. 9. 176 Welfens, Wirtschaftspolitik, S. 9. 172
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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werbstheorie – den uneingeschränkt egoistisch handelnden homo oeconomicus zum Verhaltensmodell.177 Für ihn war die Ökonomie auch keine isolierte Wissenschaft, sondern eingebettet in die Ethik und die rechtlichen Rahmenbedingungen. Auf Smith geht somit die grundlegende Erkenntnis zurück, dass politische Freiheit, wirtschaftliche Freiheit und wirtschaftlicher Wohlstand eng miteinander verknüpft sind,178 eine Auffassung, die später im – für das Verständnis des Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen und seiner Verknüpfungen zum Privatrecht wesentlichen – Ordoliberalismus mit der „Interdependenz der Ordnungen“ wieder aufgegriffen werden sollte. 2. Das System der „natürlichen Freiheit“ Smith analysiert zunächst den Zusammenhang von gesellschaftlich-wirtschaftlicher Entwicklung und Institutionen. In seiner dynamischen Entwicklungstheorie passen sich die politischen Verhältnisse beim Übergang auf eine neue Entwicklungsstufe den ökonomischen Änderungen an.179 In der Industriegesellschaft als vierter und aktueller Entwicklungsstufe erkennt Smith eine Markt-, Tausch- oder Handelswirtschaft, in der die Individuen für die Zurverfügungstellung von Arbeit, Boden oder Kapital eine Geldzahlung erhalten. Die Anbieter in Handwerk und Landwirtschaft produzierten nunmehr über den Eigenbedarf hinaus, um die Güter auf dem Markt zu veräußern. Die Austauschbeziehungen über Märkte begründeten zwar eine gegenseitige Abhängigkeit. Gleichwohl führe diese mittelfristig zu einer gesteigerten persönlichen Freiheit. Smith glaubte somit jedenfalls im Ausgangspunkt an eine „natürliche Ordnung“ in Form der Tauschwirtschaft, die sich durch eine Harmonie der verschiedenen Einzelinteressen und des staatlichen Gesamtinteresses (der allgemeinen Wohlfahrt) auszeichne.180 Von einer solch formalen Betrachtung individueller Freiheiten – wie sie dem Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 jedenfalls de facto zugrunde gelegen hat – hat sich die aktuelle Wirtschaftstheorie verabschiedet. Das Vertragsrecht hat für uns vielmehr die Aufgabe, einen intersubjektiv richtigen Ausgleich gegenseitiger Freiheitspositionen sicherzustellen. Doch zunächst weiter zu Smith: Das konstituierende Element der Wettbewerbstheorie Smiths ist die Freiheit der Marktteilnehmer, an der Handels- und Tauschwirtschaft teilzunehmen.181 Dieses System der „natürlichen Freiheit und Gleichheit“ beruht auf zwei Prämissen: 182 Der Mensch hat einen naturrechtlich begründeten Anspruch auf freie 177
Wie vorliegend Leistner, Richtiger Vertrag, S. 18. Dazu Teil 4 C. III. 2. d). Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 118. 179 Welfens, Wirtschaftspolitik, S. 10. 180 Weiterführend Welfens, Wirtschaftspolitik, S. 10. 181 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 4. Buch, Kap. 9, S. 582. 182 Raphael, Adam Smith, S. 88; Treu, ZfW 59 (2010), 182, 188. 178 Ebenso
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
Entfaltung und Gleichheit in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. Darüber hinaus führt der ungestörte gesellschaftliche Prozess zu einem optimalen Ergebnis. Auf dieser Grundlage sei der Mensch bestrebt, seine Lebensumstände ständig zu verbessern.183 In dem System der natürlichen Freiheit kann sich der Mensch ohne staatliche Beschränkungen wirtschaftlich entfalten.184 Aus diesem Grunde lehnt Smith staatliche Eingriffe in den freien Wirtschaftsprozess ab. Für ihn ist vielmehr der Markt das zentrale Steuerungsinstrument, mit dem Anbieter und Nachfrager ihre Eigeninteressen verfolgen. Im Ergebnis setzt Smith somit den etatistischen Tendenzen des Merkantilismus die unterstellten Selbstheilungskräfte der Märkte entgegen.185 Dass auf realen Märkten unterschiedliche Machtverhältnisse und damit unterschiedliche Wettbewerbs intensitäten gegeben sein können, erkannte er allenfalls in Ansätzen. Ausgangspunkt der positiven Einstellung Smiths zum Markt in seinem „System der natürlichen Freiheit“ ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung, ohne die die Produktivität der Arbeit und damit der Wohlstand einer Nation nicht wesentlich gesteigert werden könne und ohne die auch kein Erwerb von Vermögen möglich sei.186 Darüber hinaus wäre ohne die Arbeitsteilung auch ein Markt überflüssig, da dann nur für die eigene Existenz produziert und kein Überschuss erwirtschaftet werde, der im Anschluss getauscht werden könne. Allerdings ergibt sich die Arbeitsteilung für Smith nicht von selbst; sie ist für ihn vielmehr das Produkt einer historischen Entwicklung des Menschen. Die Einzelheiten können wir vorliegend vernachlässigen. 3. Die Bedeutung von Märkten für die Preisbildung (Preismechanismus) Smith stellte sich die Frage, wie sich auf dem Markt ein Preis bildet.187 Er arbeitete heraus, dass der Preis in einer Wettbewerbswirtschaft – in moderner Dik tion – über die Knappheit der nachgefragten Güter informiert.188 Auf dieser Grundlage unterschied Smith zwischen dem Marktpreis und dem sog. natürlichen Preis: 189 Der tatsächliche Marktpreis folge aus dem Zusammenspiel von Angebot und wirksamer (d. h. mit Kaufkraft ausgestatteter) Nachfrage auf dem Markt. Demgegenüber spiegle der natürliche Preis den Wert der durchschnittlichen Faktoraufwendungen (also der Angebotsseite) wider, die zur Herstellung 183
Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 2, S. 16 ff. Treu, ZfW 59 (2010), 182, 188. 185 Leistner, Richtiger Vertrag, S. 17. 186 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 1, S. 9 ff.; Recktenwald, Würdigung des Werkes, ebenda, S. LI; Raphael, Adam Smith, S. 58 ff.; Treu, ZfW 59 (2010), 182, 189. 187 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 7, S. 48 ff.; Treu, ZfW 59 (2010), 182, 190. 188 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 92; Treu, ZfW 59 (2010), 182, 190. 189 Zum Folgenden siehe Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 34 ff.; Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 24 f. 184
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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des Gutes notwendig seien und die Reproduktionskosten ganz oder partiell ersetzten. Im Rahmen des natürlichen Preises werde der Wert eines Gutes bestimmt durch die Preise der Produktionsfaktoren (Kostenpreise), deren langfristigen Durchschnitt er als natürlichen Faktorpreis definierte. Dieser natürliche Preis entspreche dem Wert des Gutes und gelte gleichzeitig als „gerechter“ Preis, da jeder, der an der Produktion des Gutes mitwirke, einen „gerechten Anteil“ an seinem Erlös erhalte. Aus heutiger Sicht war dies ein Fehlschluss: kompetitiv sind nur „effiziente“ Entgelte. Die von den natürlichen Preisen abweichenden Tauschpreise (Marktpreise) erklären sich für Smith daraus, dass eine wirksame Nachfrage auf ein tatsächliches Güterangebot treffe. Sei Letzteres kleiner als die Nachfrage, bilde sich zunächst ein über dem natürlichen Preis liegender Marktpreis, da sich die Nachfrager im Wettbewerb befänden und sich deshalb gegenseitig überböten. Allerdings vollziehe sich langfristig ein gegenläufiger Anpassungsprozess, da die Anbieter hierdurch einen über dem natürlichen Preis liegenden Zusatzgewinn erzielten, der Konkurrenten zur Produktion des jeweiligen Produktes und damit zum Markteintritt animiere. Hierdurch steige das Güterangebot und der Marktpreis sinke wieder in Richtung des natürlichen Preises. Der Marktpreis könne durch diesen Prozess jedoch auch unter den natürlichen Preis gedrückt werden, wodurch wiederum ein Anpassungsprozess ausgelöst werde, indem einige Produzenten mangels Kostendeckung aus dem Markt ausschieden.190 Hierdurch sei der natürliche Preis der Zentralpreis, gegen den die Preise aller Waren beständig gravitierten.191 Die durch den Wettbewerb der Anbieter und Nachfrager verursachten Anpassungsprozesse auf den Märkten führten langfristig von selbst zu optimalen einzelund gesamtwirtschaftlichen Marktergebnissen.192 Smith entwickelte somit seine Hauptthese von der „invisible hand“ zu einer allgemeinen Preistheorie weiter,193 die im Grundsatz die neoklassisch inspirierte Wettbewerbstheorie noch heute bestimmt.194 In diesem System erfolgt die Bedarfsbefriedigung dezentral durch die einzelnen Entscheidungen der Marktteilnehmer, die am besten über Angebot und Nachfrage informiert sind.195 Diese Informationen drücken die Marktteilnehmer über den Preis für ein Gut aus, aus dem sich in der Summe der einzelnen Entscheidungen der Marktpreis her-
190 Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 36, weist darauf hin, dass bei einem zu niedrigen Marktpreis auch die wirksame Nachfrage steigen könne; hieran habe Smith nicht gedacht, weil er unterstellt habe, dass der natürliche Preis die Kosten der Produktion angemessen decke. 191 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 7, S. 50. 192 Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 36. 193 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 7, S. 48 ff. 194 Siehe Teil 4 III. 5. 195 Hierin liegt ein Werturteil, da auch andere (zentrale) Koordinationsmechanismen in Betracht kommen; vgl. I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 6.
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
auskristallisiert.196 Dieses dezentrale System der Bedürfnisbefriedigung basiert auf dem normativen Werturteil der Konsumentensouveränität, wonach nur diejenigen Ziele anzustreben sind, die dem tatsächlichen Bedarf der einzelnen Wirtschaftssubjekte entsprechen (also nicht etwa ein nationales Programm zum Bau von Rüstungsgütern zur Steigerung des Prestiges).197 Auch insoweit zeigen sich Parallelen zur aktuellen wettbewerbspolitischen Diskussion. Die theoretischen Ausführungen Smiths leiden aus heutiger ökonomischer Sicht an einigen – wohl auch zeitbedingten – Mängeln.198 Diese sollen uns in dieser Untersuchung jedoch nicht weiter beschäftigen. Zentral ist für uns vielmehr das Verständnis Smiths von individueller Selbstbestimmung, wie es aus heutiger Sicht im rechtlichen Grundsatz der – allerdings weitgehend formal verstandenen – Vertragsfreiheit zum Ausdruck kommt. Hierzu im Folgenden: 4. Vertragsfreiheit als Voraussetzung des wettbewerblichen Preismechanismus Wie wir gesehen haben, fungieren wettbewerbliche Märkte nach der klassisch-dynamischen Wettbewerbstheorie als dezentrale Koordinationsmechanismen der individuellen Wirtschaftspläne.199 Zugleich stellen sie sicher, dass Waren zum für die Verbraucher günstigsten Preis angeboten und knappe Ressourcen möglichst schonend eingesetzt werden.200 Zur Erreichung dieser positiven Wirkungen ist die rechtliche Gewährleistung von Vertragsfreiheit unabdingbar, da diese es den Bürgern erst ermöglicht, denjenigen Preis für ein Gut zu vereinbaren, der seiner Knappheit entspricht.201 Wir hatten dies mit Blick auf die funktionalen Zusammenhänge zwischen Wettbewerbs- und Vertragsordnung bereits gesehen.202 Auch im Wettbewerbsverständnis von Smith ist ein funktionierender Wettbewerb eng mit dem Grundsatz der Privatautonomie verknüpft, da sich das erstrebte Preisgleichgewicht für ihn nur auf der Grundlage vollkommener Vertragsfreiheit herstellt.203 Sofern die Interessenkollision am Markt nach der Metapher der „invisible hand“ den Wohlstand der Vertragsparteien vermehrt, erhöht das Gesamtgeschehen aller Marktprozesse zugleich die gesellschaftliche Gesamtwohlfahrt.204 Eigeninteresse und gesellschaftliche In196
Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 92 f. I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 6. 198 Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 25. 199 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 92; Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 119. 200 Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 36: Das optimale Marktergebnis ist hiernach auch verteilungspolitisch gerecht, indem die Nachfrager gerechte Preise zahlen und Anbieter bzw. Eigentümer der Produktionsfaktoren gerecht entlohnt werden. 201 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 2 , S. 17; siehe zum internationalen Handel auch das 4. Buch, Kap. 2, S. 368 ff. 202 Siehe schon Teil 3 B. I. 1. 203 Dies betont auch Leistner, Richtiger Vertrag, S. 21 ff. 204 Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 37. 197
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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teressen stimmen – solange keine Wettbewerbsbeschränkungen vorliegen – damit überein.205 Aus der Summe der einzelnen Egoismen entsteht „als gleichgewichtsautomatisches Resultat des konkurrierenden Selbstinteresses“206 ein Maximum an allgemeiner Wohlfahrt. An diesen Gedanken wird später u. a. die liberale Wettbewerbstheorie Erich Hoppmanns anknüpfen, wonach der Wettbewerb immer Freiheitsschutz und gute ökonomische Ergebnisse zugleich umfasse.207 Wir haben bereits gesehen, dass eine solche Sichtweise in ihrer Absolutheit verfehlt ist, da in der Rechtswirklichkeit regelmäßig unterschiedliche Freiheitsgrade und Wettbewerbsintensitäten gegeben sind. Da die Marktpreise im Sinne eines Informationssystems die Aufgabe haben, Angebot und Nachfrage zu koordinieren, dürfen staatliche Eingriffe in den Marktmechanismus nach Smith keine Fehlinformationen bewirken.208 Demgemäß könnten staatliche Eingriffe in den freien und unverfälschten Wettbewerbs prozess den individuellen Interessenausgleich und damit den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand verringern, da es hierdurch aufgrund von Wissensdefiziten zu einer Fehlallokation von Ressourcen komme.209 Um die Flexibilität des Preissystems zu sichern, waren für Smith deshalb ein funktionierendes Rechtssystem sowie ein intakter Wettbewerb unabdingbar. 210 Für Smith ist somit nicht nur die Vertragsfreiheit Voraussetzung für den Wettbewerbsprozess. Der Wettbewerb dient für ihn zugleich zur Absicherung (Materialisierung) wirklicher Vertragsfreiheit durch hinreichende Konkurrenz.211 Vor dem tatsächlichen Hintergrund des merkantilistischen Wirtschaftssystems, das durch Zünfte und Handelsmonopole geprägt war, setzte sich Smith vor allem mit Beschränkungen des Wettbewerbs durch Kartelle auseinander.212 In diesem Zusammenhang beschrieb er die nachteiligen Funktionen eines künstlich geschaffenen Angebotsmonopols, das den Verkaufspreis über den na205 MünchKommEUWettbR/Säcker,
Einl. Rn. 11. Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, S. 114. 207 Siehe Teil 4 C. V. 3. 208 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 5. 209 Treu, ZfW 59 (2010), 182, 184. 210 Siehe auch Smith, The Theory of Moral Sentiments, Part I, Sec. I Chapt. I; Part II, Sec. II, Chapt. II.; ders., Der Wohlstand der Nationen, 5. Buch, Kap. 1, S. 600 ff. (Rechtsordnung) und 1. Buch, Kap. 9, S. 76 (Wettbewerb). 211 Siehe bereits oben, Teil 3 D. V.; ebenso zu Smith die Bewertung von Leistner, Richtiger Vertrag, S. 22. 212 Siehe die berühmte Formulierung von Smith, Wealth of Nations, Book I Chapter X Part II: „People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public, or in some contrivance to raise prices. It is impossible indeed to prevent such meetings, by any law which either could be executed, or would be consistent with liberty or justice. But though the law cannot hinder people of the same trade from sometimes assembling together, it ought to do nothing to facilitate such assemblies; much less to render them necessary“ (deutsche Übersetzung von Recktenwald, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 10, S. 112). 206
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
türlichen Preis treibe.213 Smith erkannte also durchaus, dass der Staat einen rechtlichen Ordnungsrahmen bereitstellen muss, um die Funktionsbedingungen des Marktes zu gewährleisten.214 Er deutete auch an, dass der Staat bei einem Marktversagen berechtigt sei, regulierend in den Wettbewerbsprozess einzugreifen.215 Auf der Grundlage dieser für seine Zeit sehr fortschrittlichen Erkenntnisse stehen weder ein Kartellrecht noch ein marktkonform ausgestaltetes Verbraucherschutzrecht in Widerspruch zu den ökonomischen Funktionen des Marktes. Sofern Smith gleichwohl nicht explizit ein Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen forderte, lässt sich dies aus der Gedankenwelt seiner Zeit erklären: 216 Im Zeitalter des Merkantilismus gingen Wettbewerbsbeschränkungen maßgeblich von staatlicher Seite aus. Vor diesem Hintergrund konnte sich Smith kein rechtliches Instrumentarium vorstellen, mit dessen Hilfe privatautonom veranlasste Wettbewerbsbeschränkungen unterbunden werden könnten. Er beschränkte sich vielmehr auf die eher „weiche“ Forderung, der Staat dürfe kein verwerfliches Verhalten fördern.217 Allerdings hat Smith die Relevanz eines funktionsfähigen Wettbewerbsprozesses als Ordnungsprinzip der Wirtschaft erkannt, da er diesen als Schranke zur Begrenzung eigennützigen Gewinnstrebens herausstellte. Er erkannte dem Wettbewerb also durchaus eine „wirtschaftliche Entmachtungsfunktion“ und damit eine privatrechtskonforme Funktion zu.218 5. Bewertung Die Wettbewerbstheorie Adam Smiths brachte im historischen Kontext grundlegende und auch heute noch gültige Erkenntnisse zum Verhältnis von individueller Selbstbestimmung, freiem Wettbewerb und allgemeinem Wohl: Ein von den Fesseln staatlich-ergebnisorientierter Lenkung befreiter Wettbewerb ermöglicht es den Marktteilnehmern, durch autonome Vertragsschlüsse ihr eigenes Wohl und zugleich dasjenige der gesamten Volkswirtschaft zu befördern. Anders als es gelegentlich vorgebracht wird, erkannte Smith durchaus, dass einem freien Wettbewerb die Tendenz zu seiner Selbstaufhebung innewohnt, weshalb dieser eines effektiven Schutzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen bedarf (Paradoxon der Freiheit).219 Er anerkannte damit zugleich die Funktion 213
Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 8 , S. 54 f. Lehmann, JZ 1990, 61, 65; Leistner, Richtiger Vertrag, S. 20. 215 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 93. Zu den spezifisch-ökonomischen Marktversagensgründen des Regulierungsrechts siehe Teil 6 B. 216 Neumann, Wettbewerbstheorie, S. 45 f.; Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 120 f.; Leistner, Richtiger Vertrag, S. 20. 217 Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1. Buch, Kap. 10, S. 112. Aus heutiger Sicht spiegelt sich dieses Telos in Art. 106 Abs. 2 AEUV wider; dazu schon oben Teil 1 A. III. 3. 218 Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 121. 219 Siehe schon Teil 3 A. I. 214 Vgl.
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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des Rechts als Ordnungsrahmen zur Sicherung der Funktionsbedingungen des Marktmechanismus.220 Mit Blick auf das damals herrschende merkantilistische Wirtschaftssystem fiel es Smith jedoch schwer, den grundsätzlich als erforderlich gehaltenen Wettbewerbsschutz in die Hände des Staates zu legen, da dieser selbst maßgeblich zu den bestehenden Wettbewerbsbeschränkungen beigetragen hatte, die es doch gerade abzubauen galt.221 Freiheitsschutz bedeutete für Smith also vornehmlich ein Schutz individueller Freiheit gegenüber dem Staat, und nur ganz am Rande Schutz vor privater wirtschaftlicher Macht.222 Heute wissen wir, dass ein Schutz vor privater Macht auch durch private Rechtsbehelfe erreicht werden kann. Dies ist ein wesentlicher Legitimationsgrund der aktuellen Private-Enforcement-Bewegung, auf die noch vertieft einzugehen ist. Bewertet man die Erkenntnisse Smiths im Hinblick auf die Diskussion über die zutreffende Ausgestaltung des Wettbewerbs- und (Verbraucher-)Privatrechts, sind vor allem folgende Aspekte beachtenswert: 223 1. Der Markt als selbstregulierendes System ist unter perfekten Bedingungen über seine Koordinations- und Verteilungsfunktion der effizienteste Versorger der Verbraucher. 2. Die Marktteilnehmer haben im Vergleich zu Dritten (insbesondere zum Staat) die besseren Informationen über die Kosten für die Bereitstellung eines Produktes (Anbieter) und ihre eigenen Bedürfnisse und Leistungsmöglichkeiten (Verbraucher). 3. Die Funktionsfähigkeit des Marktes hängt von bestimmten, vom Staat zu gewährleistenden Voraussetzungen wie einem Rechts- und Wettbewerbssystem ab. Wegen des auf die Freiheit der einzelnen Marktteilnehmer abstellenden induktiven Wettbewerbsverständnisses steht die Wettbewerbstheorie Smiths isoliert betrachtet einem systemtheoretischen Verständnis von Wettbewerb nahe.224 Zugleich ging Smith – jedenfalls im Ergebnis – von einem rein formalen Verständnis individueller wirtschaftlicher Freiheit aus; 225 denn auch wenn er erkannte, dass die Privatautonomie zur Einschränkung des freien Wettbewerbs missbraucht werden kann, erarbeitete er aus den genannten Gründen keine verallgemeinerungsfähige normative Theorie der material-echten Freiheit. 226 Vor diesem Hintergrund scheint, dass mit der Wettbewerbstheorie Smiths – wendete man sie unreflektiert auf Probleme der heutigen Zeit an 227 – nur ein markt220 Siehe auch Leistner, Richtiger Vertrag, S. 25, der – nach meiner Ansicht insoweit zu Unrecht – zwischen dem die individuelle Handlungsfreiheit betonenden „Juristen Smith“ und dem den institutionellen Schutz des Marktes betonenden „Ökonomen Smith“ unterscheidet. 221 Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 123. 222 Weiterführend Neumann, Wettbewerbstheorie, S. 46. 223 Wie vorliegend Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 94 ff. 224 Herdzina, Wettbewerbstheorie, S. 110. 225 Ebenso Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 95. 226 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 95; Leistner, Richtiger Vertrag, S. 25. 227 Eben dies müssen sich bereits die Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 vorwerfen lassen.
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
komplementäres Verbraucherschutzmodell vereinbar wäre. Hiernach nützt schon eine formal als rechtliche Befugnisnorm verstandene Privatautonomie den Verbrauchern, da sie über ihre Entscheidungszuständigkeit die eigenen Interessen selbst zur Geltung bringen können.228 Aus Sicht eines kompetitiven Vertragsrechts ist ein solch formal-instrumentales Freiheitsverständnis – wie wir bereits gesehen haben – zur Gewährleistung der Möglichkeit auf materiale Selbstbestimmung jedoch nicht ausreichend, da Freiheitspositionen von marktmächtigen Unternehmen zur Einschränkung der Freiheiten anderer Marktteilnehmer und damit zur Beschränkung des freien und wohlstandsfördernden Wettbewerbsprozesses eingesetzt werden können. Der Staat hat deshalb durch ein effektives Wettbewerbsrecht und – bei besonderen Marktversagensgründen – durch ein wettbewerbsförderndes Regulierungsrecht dafür Sorge zu tragen, dass die negativen Effekte wirtschaftlicher Macht (ex ante) verhindert bzw. (ex post) beseitigt und zugleich ihre positiven Effekte (Generierung dynamischer Effizienzen durch zeitlich befristete Monopolgewinne) gefördert werden. Denkt man die Wettbewerbstheorie Smiths in die heutige Zeit fort, so liegt ein derart materiales Freiheitsverständnis, wie ich meine, durchaus auf seiner Linie.
III. Neoklassische Gleichgewichtstheorie und Wohlfahrtsökonomie 1. Problem: Stellenwert wirtschaftlicher Freiheit Während freiheitsbezogene ökonomische Schulen wie die vorstehend geschilderte dynamische Wettbewerbstheorie offen zu Tage liegende Verknüpfungen mit einem auf dem Primat der Selbstbestimmung anknüpfenden Privatrecht aufweisen, sind Verständnis und Bewertung der neoklassischen Wettbewerbstheorie und der darauf aufbauenden Spielarten der Wohlfahrtsökonomie (Welfarismus) 229 für Juristen mit Hürden verbunden. Zwar basiert die neoklassische Wettbewerbstheorie annahmegemäß auf den Grundsätzen der Präferenzautonomie und der individuellen Rationalität („rational choice“) und scheint so enge Verbindungen zum zivilistischen Denken aufzuweisen, ja ein auf Selbstbestimmung basierendes Privatrecht geradezu zu legitimieren; denn ohne individuelle Freiheit wäre auch der „homo oeconomicus“ nicht in der Lage, seine Präferenzen in Austauschverträgen zur Geltung zu bringen.230 Allerdings werden in den theoretischen Modellen der Neoklassik die institutionellen Rahmenbedingungen marktlicher Transaktionen – zu denen auch das Privatrecht in seiner jeweiligen Ausgestaltung gehört – ebenso ausgeblendet wie etwaige Informationsund Rationalitätsdefizite der Marktteilnehmer. Vor allem aber spielen im Rahmen der Bewertung der dadurch gewonnenen Aussagen über die Marktprozesse 228 Vgl.
Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung, S. 95. Ott/Schäfer, JZ 1988, 213, 217; Eidenmüller, Effizienz, S. 41. 230 Siehe zum Grundsatz der Präferenzautonomie Bachmann, Private Ordnung, S. 174 ff. 229
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
241
durch die Wohlfahrtsökonomie die individuelle Freiheit und die Selbstbestimmung der Marktteilnehmer keine tragende Rolle mehr. Das zentrale, als „ultimate goal“ überzeugende Ziel jeder Wirtschaftspolitik liegt für die Wohlfahrtsökonomie darin, die Wohlfahrt der Gesellschaft, verstanden als Befriedigung der Bedürfnisse aller ihrer Mitglieder, zu maximieren.231 Da die individuellen Nutzen aber weder messbar noch interpersonell vergleichbar sind, stellt sie in der theoretischen Analyse auf verschiedene Analysekriterien ab. Das sog. Pareto-Kriterium begründet die Vorteilhaftigkeit einer wettbewerblichen, auf individueller Souveränität beruhenden Marktordnung und ist so für die markttheoretische Rechtfertigung einer auf dem Primat echter Selbstbestimmung beruhenden Marktordnung von großer Bedeutung. Seine wesentliche Aussage ist, dass eine Rechtsordnung, die es ihren Bürgern ermöglicht, privatautonome Verträge zu schließen und ihre Rechtsverhältnisse selbst zu regeln, bei störungsfreiem Ablauf der Transaktionen 232 zu paretosuperioren, für alle Individuen vorteilhaften Ergebnissen führt.233 Das ParetoKriterium eignet sich aufgrund seiner engen Prämissen jedoch nicht als Konfliktschlichtungsmechanismus, weshalb die Wohlfahrtsökonomie in der konkreten Wettbewerbspolitik überwiegend auf das sog. Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium ausweicht. Dieses sieht einen sozialen Zustand schon dann als gesamtgesellschaftlich vorteilhaft an, wenn zwar einige Individuen – aufgrund des Gebrauchs wirtschaftlicher Macht – schlechter gestellt werden, sie jedoch von den Gewinnern (theoretisch) finanziell entschädigt werden können und für Letztere gleichwohl ein sog. Residualvorteil verbleibt. Damit begünstigt das Kaldor-Hicks-Kriterium tendenziell wirtschaftlich mächtigere und finanzstärkere gegenüber wirtschaftlich schwächeren und damit auch finanzschwächeren Marktteilnehmern. Diese Problempunkte sind Anlass genug, die Wohlfahrtsökonomie auch im Rahmen einer zivilistischen Untersuchung einer vertieften Betrachtung zu unterziehen. Die entsprechende Notwendigkeit steigt noch, führt man sich vor Augen, dass die von der Kommission derzeit präferierte Wettbewerbspolitik in wesentlichen Teilen auf einem wohlfahrtsökonomischen Effizienzdenken basiert und sich damit auf den ersten Blick von der Idee eines freiheitlichen, der chancengleichen Selbstbestimmung der Marktteilnehmer verpflichteten Privatrechts entfernt. Dabei liegen die Probleme weniger in der grundsätzlichen Verwendung wohlfahrtsökonomischer Theorien als vielmehr in den konkret zur Anwendung kommenden Konzepten, wie etwa im gewählten Wohlfahrtstandard, der sta-
231 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, 232 An
S. 1053. diesem Punkt wird später die Neue Institutionenökonomik ansetzen; dazu Teil 4
D. II. 233 Es zeigen sich insoweit Verbindungen zur Wettbewerbstheorie Adam Smiths, siehe oben Teil 4 C. II.
242
Teil 4: Wettbewerbstheorien
tisch, aber auch dynamisch, bezogen auf den Schutz des Wettbewerbsprozesses und der damit verbundenen Freiheitsrechte ausgestaltet sein kann.234 Nachfolgend wollen wir uns verdeutlichen, dass sich wohlfahrtsökonomische Analysen durchaus in das zivilistische Konzept einer Sicherung realer Chancen zur Selbstbestimmung einreihen, sofern sie dazu beitragen, die negativen Auswirkungen wirtschaftlicher Macht von ihren positiv-freiheitsfördernden Aspekten zu trennen, da für diese Abwägungsaufgabe die Freiheit selbst kein geeignetes Bewertungskriterium ist und sich ein solches auch nicht aus einem Verweis auf das überindividuell-objektive Gemeinwohl ableiten lässt. 235 Wohlfahrtsökonomische Modellanalysen sind bei einem solchen Verständnis ein, aber nicht das ausschließliche, vielleicht auch nicht einmal das zentrale In strument für den Ausgleich individueller Interessen durch Identifizierung antikompetitiver wirtschaftlicher Machtpositionen. 2. Theoretische Grundstruktur der Neoklassik Auf der Grundlage des Wettbewerbskonzepts der Klassik, wonach durch die Freiheit zum Wettbewerb unter Konkurrenten und die Freiheit der Konsumenten zur Auswahl unter den von der Marktgegenseite angebotenen Alternativen wie durch eine „invisible hand“ der Wohlstand der Gesamtsozietät befördert wird, entwickelte sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die neoklassische Wettbewerbstheorie. Diese wollte auch in Auseinandersetzung mit den systemsprengenden Theorien von Karl Marx 236 aufzeigen, wann die behauptete Harmonie von Einzel- und Gesamtinteressen gegeben ist. Im Zentrum stand deshalb eine mathematische Herleitung des Gleichgewichtspunktes, an welchem bei Erreichen des „natürlichen Preises“ (Smith) 237 eine Übereinstimmung von Einzel- und Gesamtinteressen vorliegt. Hierzu entwickelten die Vertreter der Neoklassik das Modell der vollkommenen Konkurrenz. Dieses basiert auf zwei Gruppen von Annahmen: dem stationären Zustand der Wirtschaft und sonstigen Merkmalen einer vollkommenen Konkurrenz.238 Der ideale Wettbewerb wurde somit als Gleichgewichtszustand interpretiert, der bestimmte, als wünschenswert angesehene Funktionen erfüllt.239 234 Ebenso
Schwalbe, ZWeR 2010, 454, 463. Bachmann, Private Ordnung, S. 213 (Kriterium der Ausbeutung ist kein subsumtionsfähiger Tatbestand) und S. 181 und 223 (Notwendigkeit einer Entscheidung von „hard cases“ durch den Gesetzgeber auch auf der Grundlage ökonomischer und ethischer Erkenntnisse). Hierin kommt zum Ausdruck, dass es sich beim Ausgleich individueller Freiheiten immer um ein normatives Wertungsproblem handeln wird. 236 Dazu Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 39 ff. 237 Teil 4. C. II. 3. 238 Vgl. I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 7. 239 Vgl. Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 375. Zur Preistheorie siehe noch Teil 4 C. III. 5. 235 Vgl.
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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Die Neoklassik analysiert die Wirkungen des Wettbewerbs unter Zuhilfenahme komparativer Gleichgewichtsmodelle, mit denen verschiedene Situationen verglichen werden. Ein vollkommenes Marktgleichgewicht liegt vor, wenn wirtschaftliche Güter am effizientesten, d. h. am wirtschaftlich sinnvollsten eingesetzt werden (allokative Effizienz).240 Die allokative Effizienz behandelt also das optimale Verhältnis zwischen Gütermengen und Produktionsfaktoren, die sich in optimalen Güterpreisen niederschlagen.241 Gleichgewichtszustände können für die gesamte Volkswirtschaft (Totalanalyse) oder nur für einen bestimmten Markt ermittelt werden (Partialanalyse).242 Um möglichst exakte Aussagen einer optimalen Ressourcenallokation geben zu können, bedarf es in der Theorie jedoch vieler realitätsferner Einschränkungen („Ceteris-paribusAnnahme“243).244 So stellt die neoklassische Gleichgewichtsökonomie auf einen stationären Zustand der Wirtschaft ab: Es sei auszugehen von einer gegebenen Technik und damit von einer gegebenen Produktions- und Kostenfunktion, wohingegen von dynamischen Aspekten wie Produkt- und Prozessinnovationen abstrahiert wird. Auszugehen sei weiter von einer gegebenen Bevölkerung und einer gegebenen Ausstattung mit Produktionsfaktoren, einer gegebenen Güterpalette und einer gegebenen Bedürfnisstruktur. Darüber hinaus arbeitet die Neoklassik mit dem Modell der vollkommenen Konkurrenz, das spezifische Merkmale für die Marktstruktur im weiteren Sinne und das Marktverhalten der Marktakteure vorgibt, woraus bestimmte (nicht vorgegebene) Marktergebnisse folgen.245 Die theoretische Grundstruktur der Neoklassik ist durch weitere Hauptelemente gekennzeichnet. Diese werden im Folgenden überblickshaft erläutert, soweit es für die Zwecke der Untersuchung geboten ist. Während sich zum Beispiel die Knappheit der Ressourcen und der methodologische Individualismus als weniger problematisch darstellen, ist das Verhaltensmodell des homo oeconomicus mit seinen Bestandteilen „Rationalität“ und „Eigennutzen“ auch unter Juristen umstritten.
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Siehe zur allokativen Effizienz noch unter Teil 4 C. III. 4. b). Statt anderer Rabus, Behandlung von Effizienzvorteilen, S. 26. 242 Unter einer Partialanalyse im engeren Sinne versteht man die Beobachtung eines Ausschnitts der Realität in einem Modell, wobei die wirtschaftlichen Abläufe aus dem weiteren Zusammenhang, in dem sie vor sich gehen, herausgelöst sind, und angenommen wird, dass alles, was nicht berücksichtigt wird, für die Dauer der Analyse unverändert bleibt; vgl. Streissler/Streissler, VWL für Juristen, S. 11 Rn. 58. 243 Verändern nur eines Parameters unter Konstanz aller anderen; vgl. Kortmann, Mikroökonomik, S. 387. 244 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 7 f.; Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 16 f. 245 I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 8 f. 241
244
Teil 4: Wettbewerbstheorien
a) Knappheit der Ressourcen Ausgangspunkt jeder ökonomischen Analyse, also nicht nur derjenigen der Neoklassik, sondern auch bereits der klassisch-dynamischen Wettbewerbstheorie, ist die Knappheit der Ressourcen als „das zentrale Thema der Wirtschaftswissenschaften“.246 Es wird davon ausgegangen, dass die menschlichen Bedürfnisse prinzipiell grenzenlos sind, wohingegen die Mittel, welche zur Befriedigung derselben eingesetzt werden, zwar alternativ verwendet werden können, aber nur begrenzt vorhanden sind. Hieraus folgt die Annahme, dass die Bedürfnisbefriedigung nie den Sättigungsgrad erreichen kann, Zielvorstellungen und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung also auseinanderfallen.247 Um Knappheitssituationen (Engpässe248) problemadäquat und zielführend analysieren zu können, werden die Beteiligten – wie noch zu zeigen ist – als rational agierende Akteure angesehen, denen bestimmte Präferenzen (Wünsche, Interessen) und Restriktionen (Knappheitsbedingungen wie knappes Vermögen, knappe Zeit oder knappes Wissen) zugeordnet werden.249 Damit die Individuen ihre Präferenzen möglichst weitgehend erfüllen können, müssen sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln bewusst umgehen.250 Der Begriff „Wirtschaften“ bezeichnet nach diesem Verständnis die Art und Weise des Umgangs mit den knappen Ressourcen.251 Dabei steht das Bestreben im Vordergrund, angesichts der Knappheit eine Verschwendung von Rohstoffen und Produk tionsfaktoren zu vermeiden, da so Ressourcen eingespart und zur Herstellung weiterer Güter verwendet werden könnten.252 In diesem Zusammenhang gilt es zu beachten, dass die Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben, die sie befriedigen wollen. Bedürfnisse sind die subjektiven Vorstellungen der Akteure über zukünftige Situationen, die sich im Zeitablauf verändern kön-
246 Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43; Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 283. 247 Behrens, Ökonomische Grundlagen des Rechts, S. 31; Rühl, Statut und Effizienz, S. 82. Das ökonomische Paradigma beinhaltet die Spezifika dieses Forschungsansatzes, vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 2 ff. 248 Die Bewirtschaftung der Netzengpässe ist im Zuge der Energiewende ein zentrales Problem der sektorspezifischen Regulierung der Netzwirtschaften; dazu ausführlich König, Engpassmanagement, S. 68 ff. 249 Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 283. 250 Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 283. 251 Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12; krit. zum Begriff „Wirtschaft“ von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 8 , da er suggeriere, dass man die für Einzelwirtschaften geltenden Zweck-Mittel-Beziehungen auch auf den Markt als Urheber einer „spontanten Ordnung“ übertragen könne; er bevorzugte deshalb den Begriff „Katallaxie“. 252 Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 284. Schon hierbei handelt es sich um ein – wenn auch „technisches“ – Effizienzkonzept, vgl. Fleischer/Zimmer Schwalbe, Effizienz, S. 43, 44.
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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nen.253 Knappheit ist somit ein relativer Begriff, da er abhängig ist vom Ausmaß der Bedürfnisse und der Menge der zu ihrer Befriedigung vorhandenen Güter.254 Bei Knappheit entstehen Opportunitätskosten im Sinne des Nutzens, der durch die Nichtrealisierung einer Alternative entgangen ist.255 Folglich sind Entscheidungen zu treffen, welche Bedürfnisse mittels der knappen Ressourcen auf welchem Wege befriedigt werden sollen. Die Knappheit der Ressourcen steht also am Anfang wirtschaftlicher Entscheidungen.256 Daneben bestehen weitere Restriktionen wie institutionelle Regelungen. Diese werden von der neoklassischen Theorie jedoch vernachlässigt.257 Nach der neueren ökonomischen Forschung soll grundsätzlich jedes menschliche Handeln – also etwa auch dasjenige in zwischenmenschlichen Beziehungen – dem Gesetz der Knappheit unterliegen, weshalb es als potenzieller Anwendungsfall der ökonomischen Theorie gilt.258 Vor diesem Hintergrund wird die Ökonomie als Wissenschaft („Ökonomik“) nicht mehr mit Blick auf ihren Gegenstand definiert (zum Beispiel die Wirtschaft), sondern soll als „Wissenschaft der sozialen Interaktion“ eine allgemeine Methode der Analyse von (Knappheits-)Problemen bezeichnen.259 Die Ökonomik sieht sich insoweit dem Vorwurf eines ökonomischen Imperialismus ausgesetzt, da sie über ihren angestammten Bereich hinausgreife.260 Wir werden uns im Folgenden nur mit dem klassischen Gebiet der (Wettbewerbs-)Ökonomie beschäftigen, so dass uns dieser Streit nicht weiter beschäftigen muss. b) Präferenzautonomie Auch das neoklassische Modelldenken setzt beim Individuum an. In seiner positiven Bedeutung besagt der Grundsatz der Präferenzautonomie, dass Individuen in ihren Handlungen selbst gesetzten Präferenzen folgen, indem sie autonom ein bestimmtes Präferenzsystem entwickeln, von dem sie sich dann leiten 253
Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12. Behrens, Ökonomische Grundlagen des Rechts, S. 31. 255 Coyle, ZfW 61 (2012), 103, 111: „Opportunitätskosten bedeuten, dass die für eine Alternative genutzten knappen Ressourcen für eine andere Alternative eben nicht mehr zur Verfügung stehen, egal ob es sich um Steuereinnahmen, Kohle oder Zeit handelt.“ 256 Rühl, Statut und Effizienz, S. 82 f. 257 Demgegenüber stehen institutionelle Beschränkungen des menschlichen Handelns im Zentrum der Neuen Institutionenökonomik, vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12. Institutionen in diesem Sinne sind formelle und informelle Regelungen einschließlich der Mechanismen ihrer Durchsetzung, welche das Verhalten von Individuen in Transaktionen beschränken; vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 7, sowie noch unten Teil 4 D. II. 1. 258 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 2 2. 259 Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 22. 260 Zur Diskussion Pies/Leschke, Gary Beckers ökonomischer Imperialismus; Kirchgässner, Homo oeconomicus, S. 148 ff.; Welling, Ökonomik der Marke, S. 97 ff. 254
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
lassen.261 Die Präferenzautonomie dient in der neoklassischen Ökonomie also zunächst einmal nur als Annahme, um bestimmte tatsächliche Geschehensabläufe (ex post) erklären zu können. Auf dieser Grundlage kann etwa die Preisbildung auf Märkten auch dann nachvollzogen werden, wenn sich die Individuen selbst nicht regelhaft verhalten, sondern ihren eigenen Präferenzen folgen. Von der positiven Bedeutung des Grundsatzes der Präferenzautonomie zu unterscheiden ist dessen normative Variante. Diese besagt, dass es gut bzw. richtig ist, wenn die gesellschaftlichen Entscheidungsmechanismen die individuellen Präferenzen der Menschen möglichst vollständig zur Geltung bringen.262 Sie geht von der ethischen Grundannahme der Gleichwertigkeit aller Menschen und der empirisch anerkannten Tatsache aus, dass Menschen unterschiedliche Interessen haben, weshalb jeder selbst über die für ihn vorteilhafte Ordnung seiner Angelegenheiten entscheiden soll.263 Hiernach dienen die Präferenzen der Akteure und nicht Vorstellungen übergeordneter staatlicher Autoritäten als Annahmen, anhand derer soziale Zustände bzw. Allokationen bewertet werden.264 Ein normativ verstandener Grundsatz der Präferenzautonomie stimmt wertungsmäßig mit den privatrechtlichen Gewährleistungen von Privatautonomie und Vertragsfreiheit als Ausprägungen des Prinzips individueller Selbstbestimmung sowie der Würde und Personalität des Menschen überein.265 In einer dem Primat individueller Selbstbestimmung verpflichteten (Privatrechts-)Ordnung ist der Aussagegehalt des normativen Grundsatzes der Präferenzautonomie deshalb nicht formell, sondern material-wertend zu konkretisieren.266 Auf diesem Wege kann den vorliegend nicht näher zu diskutierenden Einwänden gegen die Präferenzautonomie267 Rechnung getragen werden. So sind etwa nur solche Präferenzen anerkennenswert, die diejenigen anderer Marktteilnehmer bzw. deren Ausübung nicht unangemessen beeinflussen (Paradoxon der Freiheit).268 Wir werden hierauf noch in Zusammenhang mit dem sog. Eigennutzentheorem zurückkommen.
261
Eidenmüller, Effizienz, S. 326. Eidenmüller, Effizienz, S. 326. 263 Weiterführend Bachmann, Private Ordnung, S. 174 f., der den Grundsatz der Präferenz autonomie als „wohlfahrtsökonomisch“ bezeichnet. Die (normative) Wohlfahrtsökonomie akzeptiert die Präferenzen der Individuen jedoch nur dann, wenn diese zu einer effizienten Ressourcenallokation führen. 264 Schwalbe, ZWeR 2010, 454, 457 f.; krit. Bartling, Leitbilder der Wettbewerbspolitik, S. 16, da kollektive Präferenzen, die „für die Gemeinschaft als Ganzes bedeutsam sind, aufgrund der ausschließlichen Berücksichtigung individueller Präferenzen vernachlässigt“ würden. 265 Eidenmüller, Effizienz, S. 332. 266 Ebenso im Ergebnis Bachmann, Private Ordnung, S. 175 f. 267 Siehe Eidenmüller, Effizienz, S. 335 ff. 268 Bachmann, Private Ordnung, S. 175. 262
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c) Methodologischer und normativer Individualismus Entscheidungen von Unternehmen werden in der Neoklassik annahmegemäß als das Ergebnis einer Kooperation von Individuen angesehen (methodologischer Individualismus).269 Hiernach sind alle Entscheidungsträger – auch im Bereich kollektiver Entscheidungen – immer Individuen. Überindividuelle Strukturen wie Familien, Organisationen oder Staaten werden als Zusammenschlüsse von Individuen verstanden, weshalb sie keine eigenständigen, die sie bildenden Individuen kompetenziell oder wertungsmäßig übersteigenden Einheiten darstellen.270 Ihr Verhalten kann somit auch nicht mit demjenigen von Einzelpersonen gleichgesetzt werden.271 Indem als handelnde Akteure nur die einzelnen Entscheider begriffen werden, sind neuere Forschungsansätze in der Lage, sog. Principal-agent-Situationen aufzulösen, in denen zum Beispiel innerhalb einer Gruppe eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen stattfindet, die mit Informationsasymmetrien verbunden ist.272 In diesem Fall ist für die zu analysierende Kollektiventscheidung das Verhältnis zwischen dem principal (dem Delegierenden) und dem agent (dem Geschäftsführer) relevant.273 Dieses Problemfeld muss hier nicht vertieft behandelt werden. Der methodologische Individualismus ist ein wissenschaftstheoretisches Paradigma, das soziale Tatbestände (die Makroebene, die Gesellschaft) mittels Hypothesen über das menschliche Verhalten und die Interaktion von Individuen erklärt. Er geht von der Unterscheidung zwischen den inneren Bedürfnissen und Präferenzen sowie den äußeren Restriktionen und Anreizen aus. Veränderungen der Restriktionen und Anreize (also des äußeren Handlungsumfelds) führten zu einer Änderung des Entscheidungsverhaltens der Akteure. 274 Es seien dann diese Änderungen, die aggregiert eine Änderung von Makrogrößen wie zum Beispiel der Inflationsrate bewirkten.275 Der methodologische Individualismus hängt insoweit eng mit der Annahme des eigennützigen Rationalver-
269 Behrens, Ökonomische Grundlagen des Rechts, S. 34 ff.; Arrow, AER 84 (1994), 1; Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 135: „individualistische Gesellschaftswissenschaft“. 270 Im Gegensatz dazu steht der methodische Kollektivismus (Holismus), der von der Annahme ausgeht, dass das Ganze (griechisch: holos) mehr als die Summe seiner Einzelteile darstelle, weshalb Institutionen oder soziale Systeme eigene Interessen verfolgen könnten. Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort methodischer Kollektivismus. 271 Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3. 272 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 145 und 156. Zur rechtlichen Behandlung des AG-Aufsichtsrats siehe Bachmann, in: FS Hopt, 2010, S. 338, 352. 273 Ausführlich Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 173 ff. 274 Vgl. Schwalbe, ZWeR 2010, 454, 458, am Beispiel eines rechtlich angeordneten Kontrahierungszwangs als äußere Restriktion, die die Akteure bei gegebenen Präferenzen bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen haben. 275 Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 19.
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
haltens zusammen (sog. Verhaltensannahme des „homo oeconomicus“).276 Auf diese wird noch weiter unten eingegangen. Der methodologische Individualismus ist als analytische Annahme vom philosophischen Individualismus zu unterscheiden. Die ökonomische Theorie interessiert sich schon aus Gründen der Praktikabilität regelmäßig nicht für das Verhalten einzelner Individuen, sondern für dasjenige größerer Gruppen von Menschen wie Verbraucher oder Unternehmen (sog. Aggregate). Sie zielt darauf ab, das Verhalten des typischen Individuums zu erklären.277 Für solche Mustererklärungen stellt sie auf das Verhaltensmodell des „homo oeconomicus“ ab.278 Eine Theorie individuellen Verhaltens ist somit nicht gleichbedeutend mit einer Theorie des Verhaltens einzelner Individuen.279 Abzugrenzen ist der methodologische Individualismus als Grundlage ökonomischer Modellbildung auch von einem normativen Individualismus, wie er dem Privatrecht zugrunde liegt.280 Nach diesem sind – anders als in der Wohlfahrtsökonomie – normative Wertentscheidungen nur durch einen Rekurs auf die Wertentscheidungen der individuellen Akteure legitimierbar.281 Hierfür kann grundsätzlich auf ein vertragstheoretisches oder ein konsenstheoretisches Paradigma abgestellt werden. Es geht somit nicht um eine Abwägung zwischen Gewinnen und Verlusten, sondern um die Frage, ob eine bestimmte Lösung auch dann zustande gekommen wäre, wenn Personen möglicherweise zu den Verlierern zählen.282 Politische Wertentscheidungen sind auf der Grundlage eines normativen Individualismus also nur durch Rekurs auf die Wertentscheidungen individueller Akteure legitimierbar. Das betrifft auch die im Zentrum unserer Betrachtungen stehende Regelung von Märkten.283 Indem der normative Individualismus vorschreibt, dass ausschließlich individuelle Wertentscheidungen relevant sind, um institutionelle Arrangements zu bewerten, führt er nicht nur ein Konsensparadigma ein, sondern erhebt dieses gleichzeitig zum entscheidenden Kriterium für Pareto-Superiorität.284
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Ott/Schäfer, JZ 1988, 213, 219. Kirchgässner, Homo Oeconomicus, S. 21. 278 Dazu Teil 4 C. III. 2 d). 279 So Kirchgässner, Homo Oeconomicus, S. 24. 280 Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 130 ff. 281 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 151. Der normative Individualismus ist auf den methodologischen Individualismus bezogen: ersterer bezieht sich auf die normative, letzterer auf die methodische Analyse. Es sind mit anderen Worten die positive Folgenabschätzung und die normative Folgenbewertung aufeinander bezogen, vgl. Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 135; grundlegend Buchanan, in: The New Palgrave Dictionary of Economics, S. 585, 586. 282 Siehe hierzu – in Abgrenzung zur Theorie von Rawls – Lenger/Goldschmidt, ORDO 62 (2011), 343, 349. 283 Sester, Institutionelle Reformen in heranreifenden Kapitalmärkten, S. 51. 284 Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 136. 277
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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Aufgrund seiner Übereinstimmung mit den Grundprinzipien unserer Verfassungs- und Privatrechtsordnung ist der normative Individualismus ein hörenswertes Konzept. Hiernach sind Politik und Recht letztlich nur durch den Bezug auf – bzw. die Vorteilhaftigkeit für – alle jeweils betroffenen Individuen zu rechtfertigen.285 Als wesentlicher Ausdruck des normativen Individualismus ist rechtlich der Grundsatz materialer Privatautonomie anzusehen, da dieser sicherstellt, dass jeder von einer Regelung Betroffene in einer sozialen Interaktion soweit wie möglich seine Interessen rechtlich und tatsächlich wahren kann (Sicherung der materialen Selbstbestimmung).286 d) Verhaltensmodell des „homo oeconomicus“ aa) Grundannahmen Die ökonomische Forschung will Aussagen über Wahlentscheidungen von Menschen in verschiedenen sozialen Kontexten treffen.287 Demgemäß bemühen sich ökonomische Verhaltensmodelle darum, Entscheidungen, die Menschen im Spannungsfeld zwischen subjektiven Präferenzen und objektiven Restriktionen treffen, abstrakt und idealtypisch zu erklären und vorherzusagen. Sie gehen hierzu davon aus, dass das menschliche Verhalten bestimmten Regelmäßigkeiten unterliegt, weshalb eine Veränderung von Restriktionen das Verhalten von Menschen vorhersehbar beeinflussen kann. Verhaltensmodelle dienen insoweit der Komplexitätsreduktion, indem sie die menschlichen Verhaltensmuster und Persönlichkeitsausprägungen vereinfachen und so einer strukturierten Analyse (und Problembehebung mittels rechtlicher Normen) zugänglich machen.288 Auf normativ-rechtlicher Ebene können die Restriktionen als Anreiz- bzw. Sank tionssystem verstanden werden.289 Es wird danach gefragt, welche Verhaltens änderungen bei Menschen durch eine Änderung der Restriktionen bewirkt werden. Folglich werden in der Wettbewerbstheorie Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen als ökonomische (also nicht als rechtliche) Variable behandelt.290 Die Neoklassik unterscheidet sich von anderen Sozialwissenschaften dadurch, dass sie in zentralen Forschungsbereichen mit der Annahme eigennutz orientierten Rationalverhaltens arbeitet („homo oeconomicus“).291 Diese Verhaltensannahme steht in untrennbarem Zusammenhang mit der Methode der 285 Dazu von der Pfordten, JZ 2005, 1069, der den normativen Individualismus auch im Utilitarismus verankert sieht. 286 Gegen eine Gleichsetzung des normativen Individualismus mit „libertären“ Theorien auch von der Pfordten, JZ 2005, 1069, 1070 f. und 1073 f. 287 So Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 7. 288 Groth, WD 2009, 770, 772 f. 289 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 143. 290 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 144. 291 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 145.
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
Optimierung unter Nebenbedingungen (Restriktionen); denn rationales Verhalten ist eine notwendige Voraussetzung von modelltheoretischen Optimierungen.292 Das Verhaltensmodell des „homo oeconomicus“ wird deshalb auch als „REMM-Hypothese“293 oder als „Rational-Choice-Modell“294 benannt. Als Objekt der Analyse gilt ein Individuum, das über beschränkte Ressourcen verfügt (Knappheitsannahme), weshalb es nicht alle seine Bedürfnisse befriedigen kann und deshalb unter den verschiedenen Möglichkeiten die Handlungsmöglichkeit auswählt, die den eigenen Nutzen – nach eigenem Dafürhalten – am meisten mehrt,295 im Sinne einer rationalen Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen.296 Kennzeichnend sind somit die Annahme des rationalen Verhaltens und der vollständigen Maximierung des eigenen Nutzens.297 Das Rationalitätsprinzip und das Eigennutzentheorem haben sich in der Diskussion als ökonomisches Verhaltensmodell mittlerweile verselbstständigt, weshalb sie im Folgenden näher darzustellen sind.298 Zuvor ist noch eine Präzisierung vorzunehmen: In der Wettbewerbsökonomie gilt das Prinzip der Nutzenmaximierung für die Nachfrageseite. Auf der Angebotsseite greift das Prinzip der Gewinnmaximierung (rationale egoistische Gewinnmaximierer).299 Im unternehmerischen Bereich wird Rationalität also mit Wirtschaftlichkeit gleichgesetzt (ökonomisches Prinzip).300 Es entspricht mittlerweile der herrschenden Ansicht in der Nationalökonomie, dass die Annahme des „homo oeconomicus“ in der Rechtswirklichkeit nicht uneingeschränkt zutrifft. Hieraus haben sich eigene Forschungsrichtungen wie diejenige der Neuen Institutionenökonomik mit ihren diversen Subrichtungen entwickelt.301 In methodischer Hinsicht muss dies jedoch nicht zwangsläufig zur Folge haben, dass das Modell der Neoklassik zur Analyse realer Marktprozesse untauglich ist. Entscheidend ist vielmehr, inwiefern das 292 Streissler/Streissler, VWL für Juristen, S. 5 Rn. 21; Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 43. 293 Resourceful, evaluating, maximizing man, vgl. Brunner/Meckling, JMCB 9 (1977), 70, 71; Fleischer, in: FS Immenga, 2004, S. 575, 576. 294 Van Aaken, „Rational Choice“, S. 73 ff. 295 Siehe dazu ausführlich Becker, The Economic Approach to human Behaviour, S. 5 ff.; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 26 ff.; Kirchgässner, Homo Oeconomicus, S. 12 ff.; Engel/ Englerth/Lüdemann/Spieker genannt Döhmann/Englerth, Behavioral Economics, S. 60, 63; Engel/Englerth/Lüdemann/Spieker genannt Döhmann/Lüdemann, Behavioral Economics, S. 7 ff. Siehe auch Cooter/Ulen, Law and Economics, S. 21 ff.; Eidenmüller, Effizienz, S. 28 ff.; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 13 ff.; Posner, Economic Analysis of Law, S. 3 f. 296 Kirchgässner, Homo Oeconomicus, S. 12; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 2 2. 297 Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12 ff. 298 Rühl, Statut und Effizienz, S. 81. 299 Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 127; Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 100, mit dem Hinweis, dass der Gewinnmaximierungsgrundsatz aufgegeben werde, wenn es etwa um das Verhalten von Personen in Institutionen gehe. 300 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 145. 301 Siehe näher unter Teil 4 D. II.
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Modell brauchbare Prognoseentscheidungen über Marktabläufe ermöglicht. Hierzu sind die Modellannahmen kritisch zu würdigen. Darüber hinaus ist aus der Perspektive des Rechts zu verdeutlichen, auf welchen normativen Werturteilen sie beruhen.302 bb) Eigennutzentheorem (Konzept der Nutzenmaximierung) Die ökonomische Theorie unterscheidet zwischen den Präferenzen und den Restriktionen als den beiden Bestimmungsfaktoren für individuelle Entscheidungen.303 Die Präferenzen des Individuums sind seine inneren Motive, die Restriktionen beschreiben die äußeren Anreize. Das ökonomische Verhaltensmodell will Verhaltensänderungen der Individuen als Reaktion auf äußere Anreize, also auf Änderungen der Restriktionen, erklären. Die Präferenzen sind zwar auch relevant für die Erklärung menschlichen Verhaltens, werden allerdings mindestens kurzfristig „konstant gesetzt“.304 Da Wahlentscheidungen von Individuen sowohl von ihren Präferenzen als auch von den äußeren Restriktionen abhängen, können Aussagen über die Auswirkungen von Faktoren aus dem äußeren Handlungsumfeld nicht getroffen werden, wenn zugleich Änderungen der Präferenzen vorliegen. Dies führt dazu, dass jedenfalls für den gewählten Beobachtungszeitraum davon ausgegangen werden muss, dass die Präferenzen konstant bleiben.305 Diese erhebliche Vereinfachung ist bei der Rezeption ökonomischer Theorien durch die Rechtswissenschaft im Blick zu behalten. Das Konzept der vollständigen Maximierung des eigenen Nutzens sagt aus, dass jeder Marktteilnehmer unter Geltung der Knappheitsmaxime von mehreren Entscheidungsalternativen diejenige ergreifen wird, die ihm mit Blick auf die Mehrung seines Nutzens am Vorteilhaftesten erscheint (sog. Eigennutzentheorem).306 Das Konzept der Nutzenmaximierung beschreibt damit das Ziel menschlicher Entscheidungen, während sich dasjenige der vollständigen Rationalität auf den Weg bezieht, wie Individuen auf der Grundlage ihrer Motivationen und Wertvorstellungen aus den (gemäß den objektiven Restriktionen) vorhandenen Handlungsmöglichkeiten die favorisierte Handlungsweise auswählen.307 Das Eigennutzentheorem bezieht sich dabei – wie wir bereits gesehen haben – nicht nur auf einzelne Individuen, sondern auch auf das Verhalten von Gruppen, indem es auf die Analyse von Marktprozessen übertragen wird.308 302
Leistner, Richtiger Vertrag, S. 27. Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 26 ff. 304 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 144. 305 Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 8 . 306 Behrens, Ökonomische Grundlagen des Rechts, S. 33; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 13; Kirchgässner, Homo Oeconomicus, S. 13 f.; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 23. 307 Rühl, Statut und Effizienz, S. 97. 308 So Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 13, wonach es sich um eine „heuristische Annahme“ handle, die keiner empirischen Verifikation bedürfe. 303
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
Ob man das menschliche Eigeninteresse inhaltlich definieren kann und wenn ja, auf welchem Wege, ist in der ökonomischen Theorie umstritten.309 Schwache Konzepte treffen keine Aussagen über die von den Individuen verfolgten Ziele, sondern formalisieren über die Rationalitätsannahme lediglich die Mittel zur Zielverfolgung, weshalb hiernach nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Vorteile und sogar altruistisches oder schädigendes Verhalten beachtlich sind. In diesem Sinne kann ein Individuum eine Präferenz für wohltätiges Verhalten haben, weshalb es seinen Nutzen dadurch mehrt, dass es anderen Personen Gutes tut.310 Da auf dieser – der Wirklichkeit wohl am nähesten kommenden – Grundlage belastbare Aussagen über menschliches Verhalten kaum möglich sind, wird „Eigennützigkeit“ regelmäßig enger gefasst als „gegenseitig desinteressierte Vernünftigkeit“, die altruistisches oder boshaftes Verhalten ausschließt (keine „interdependenten Nutzenfunktionen“).311 Nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auch in der Ökonomie werden somit material-wertende Konzepte individueller Selbstbestimmung vertreten. Vor diesem Hintergrund geht eine ökonomische Kritik am Recht aufgrund dessen vermeintlich „unwissenschaftlicher“ Werturteilsbasiertheit schon im Ausgangspunkt ins Leere. cc) Individuelle Rationalität Der aktuell wohl streitigste Punkt des neoklassischen Paradigmas ist die Annahme des Rationalverhaltens.312 Nach dem Modell des „homo oeconomicus“ verhalten sich Menschen als Optimierer unter Nebenbedingungen (Restriktionen).313 Es beinhaltet die These, dass sich auf seiner Grundlage prognosefähige Aussagen über den Zusammenhang zwischen der Änderung bestimmter Variablen und den daraus resultierenden Verhaltensänderungen machen lassen.314 Menschen handelten vollständig rational, da sie ihre durch objektive Restriktionen vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten mit Blick auf ihre subjektiv gegebenen Präferenzen (ihren Eigennutzen) in eine Rangfolge brächten und diejenige Handlungsmöglichkeit auswählten, die sich in der Rangfolge an erster Stelle
309
Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060 ff. Rühl, Statut und Effizienz, S. 97. 311 Van Aaken, „Rational Choice“, S. 96; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. Eine interdependente Nutzenfunktion ist eine solche, bei der der Nutzen eines Wirtschaftssubjektes auch vom Nutzen anderer abhängt; vgl. Voigt, Institutionenökonomik, S. 196. 312 Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 13; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 4. 313 Tietzel, JSW 32 (1981), 115 ff., 125; Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 43. 314 Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 13. 310
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befindet.315 Eine Entscheidung soll mit anderen Worten dann als rational gelten, wenn sie entsprechend dem Eigennutztheorem gefällt wird.316 Das Konzept der vollständigen Rationalität setzt voraus, dass Individuen in Situationen, in denen sie Entscheidungen fällen, die Vor- und Nachteile der zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten kennen, gegeneinander abwägen und diejenige auswählen, die ihnen den größtmöglichen Nutzen verspricht.317 Im neoklassischen Grundmodell geht man deshalb von vollkommenen Informationen aus, d. h. von „Entscheidungen unter Sicherheit“.318 Weiterhin wird unterstellt, dass der Markt vollkommen transparent ist und keine Entscheidungskosten anfallen.319 Darüber hinaus wird den Wirtschaftssubjekten eine unbeschränkte Informationsverarbeitungskapazität zugeschrieben, sodass sie das Optimum auch tatsächlich realisieren können. Insbesondere wird unterstellt, dass sie den Eintritt unsicherer Ereignisse mit der richtigen Wahrscheinlichkeit belegen und auf dieser Grundlage ihre Präferenzen vergleichen können.320 Demgegenüber betonen Vertreter der Neuen Institutionenökonomik, dass die Entscheidungssubjekte mit der Einführung positiver Transak tionskosten in mikroökonomische Modelle nicht mehr als vollständig informiert gelten könnten, schon weil die Informationsbeschaffung zu teuer sein könne.321 Auch seien Individuen nur beschränkt fähig, das Datenmaterial zu verarbeiten und entsprechend rationale Pläne zu formulieren. Hierfür hat sich der Begriff „eingeschränkte Rationalität“ eingebürgert, auf dessen Relevanz für die Analyse von Marktprozessen noch zurückzukommen ist. dd) Nutzenfunktion Die Rationalitätsannahme geht wie gesehen davon aus, dass Marktteilnehmer so handeln, wie es ihren Präferenzen entspricht, wobei unterstellt wird, dass sie über eine vollständige, nicht widersprüchliche (transitive) und stabile Präferenzordnung verfügen.322 Es wird somit unterstellt, dass die individuellen Präferenzen eine gewisse Robustheit und Beständigkeit aufweisen, weshalb menschliche Präferenzen unabhängig von äußeren Einflüssen und zeitlich konsistent
315 Behrens, Ökonomische Grundlagen des Rechts, S. 33 f.; Cooter/Ulen, Law and Economics, S. 21 ff.; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 23 ff.; Posner, Economic Analysis of Law, S. 3 ff.; Rühl, Statut und Effizienz, S. 96. 316 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 145. 317 Rühl, Statut und Effizienz, S. 96. 318 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. 319 Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Homo oeconomicus. 320 Cooter/Ulen, Law and Economics, S. 49 ff. 321 Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 4 f. 322 Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 46 f.; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217; Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 97.
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sind.323 Der Maßstab, an dem die Handlungsmöglichkeiten verglichen werden, ist im Untersuchungszeitraum fest vorgegeben.324 Vor diesem Hintergrund bestimmt das Konzept der vollständigen Rationalität, welche Handlungsmöglichkeiten Menschen unter Berücksichtigung aller Konstellationen und Möglichkeiten mit Blick auf ihre „wohldefinierten Präferenzen“ auswählen.325 Auf dieser Grundlage kann die Präferenzordnung in Form einer sog. Nutzenfunktion dargestellt werden, wobei hiermit nur gemeint ist, dass die Präferenzordnung des jeweiligen Individuums dargestellt wird; es geht somit nicht um einen Nutzen oder die Nützlichkeit im utilitaristischen Sinne.326 Unter Zugrundelegung dieser Präferenzordnungen der Wirtschaftssubjekte (ihrer Nutzenfunktionen) kann sodann normativ beurteilt werden, ob eine gegebene Allokation im Hinblick auf den gewählten Maßstab die Eigenschaft „effizient“ aufweist oder nicht.327 Dies ist das Kerngebiet der auf der Neoklassik aufbauenden Wohlfahrtsökonomie. 3. Wohlfahrtsökonomie Die infolge der Modellannahmen der Neoklassik gewonnen Aussagen müssen in einem Folgeschritt bewertet werden. Diese Bewertungsmaßstäbe entnimmt die neoklassische Theorie der Wohlfahrtsökonomie.328 Diese sieht das zentrale Ziel jeder Wirtschaftspolitik darin, die Wohlfahrt der Gesellschaft (verstanden als Befriedigung der Bedürfnisse aller Mitglieder) zu maximieren.329 a) Problemstellung Die neoklassische Wohlfahrtsökonomie hat einen positiven und einen normativen Teil: 330 Sie versucht zum einen zu erklären, wie sich bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen oder Ordnungssysteme auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft auswirken. Zum anderen will sie soziale Zustände bewerten, indem sie ermittelt, welche durch eine Maßnahme ausgelösten Effekte als Wohlfahrtssteigerung oder Wohlfahrtsminderung zu betrachten sind.331 Hierzu wurde die klassische Wohlfahrtsökonomie als positive Theorie formuliert, die 323 Behrens, Ökonomische Grundlagen des Rechts, S. 33 f.; van Aaken, „Rational Choice“, S. 76 ff. 324 Riesenhuber/Kirchner, Europäische Methodenlehre, S. 132, 144; Rühl, Statut und Effizienz, S. 96. 325 Braun/Gautschi, Rational-Choice-Theorie, S. 74. 326 Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 47. 327 Fleischer/Zimmer Schwalbe, Effizienz, S. 43, 47. 328 Ott/Schäfer, JZ 1988, 213, 217; Eidenmüller, Effizienz, S. 41, jeweils zur ökonomischen Analyse des Rechts. 329 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, S. 1053. 330 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 47. 331 Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 25; Labrenz, Anfechtungsklage, S. 15.
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ihre normativ vorgegebenen Ziele im Sinn der angestrebten „Wertfreiheit“ (Max Weber) 332 als exogen gegeben betrachtet,333 um sich nicht dem Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit auszusetzen,334 anstatt den normativen Charakter ihrer Aussagen offen zu legen und sich damit der wissenschaftlichen Diskussion zu öffnen. Dies geschah in der Weise, dass die Wertprämissen (etwa die Herstellung allokativer Effizienz im Rahmen des Pareto- und des Kaldor-Hicks-Kriteriums335) als allgemein anerkannt betrachtet wurden.336 Der normative Charakter des Effizienzprinzips ist heute weitgehend unstreitig337 und wird deshalb aus rechtlicher Sicht als der wohl problematischste Bestandteil der Wohlfahrts ökonomie angesehen.338 Aus zivilistischer Sicht regt vor allem der Umstand zur Kritik an, dass in der Wohlfahrtsökonomie der zweite Zielkomplex der klassischen Nationalökonomie keine Rolle spielt, also das aus ökonomischer Sicht gesellschaftspolitische Freiheitsziel.339 Damit löst sich die Wohlfahrtsökonomie vom normativen Freiheitsverständnis Adam Smiths, der induktiv von der Freiheit der Individuen ausging und den Wettbewerb deshalb als Garanten der Freiheit auffasste,340 zu Gunsten eines Verständnisses, in dem die Freiheit des Einzelnen nicht mehr ein individuelles Recht, sondern eine funktionale Freiheit ist.341 Andererseits wäre es übertrieben, der Wohlfahrtsökonomie eine vollständige Ablösung von der Freiheit des Individuums zu unterstellen. So basieren die wohlfahrtstheoretischen Konzepte – allen voran das Pareto-Kriterium – auf dem methodologischen Individualismus, wodurch sie jedenfalls nach ihren Grundannahmen gewisse Verbindungen zum Schutz des freien Wettbewerbsprozesses aufweisen.342 Auch hat der „homo oeconomicus“ jedenfalls in einer logischen Sekunde die Freiheit der Wahl unter verschiedenen Alternativen als Voraussetzung für marktliche Transaktionen und damit für die Ingangsetzung des Marktmechanismus. Aus rechtlicher Sicht geht es somit nicht um ein schlichtes Entscheiden zwischen (gutem) Freiheitsschutz und (schlechter) Effizienzorientierung, son332 Zum Werturteilsstreit vgl. statt anderer Engelkamp/Sell, Volkswirtschaftslehre, S. 338 ff. 333 Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Wohlfahrtsökonomie. Dabei wird nicht immer ausreichend klargestellt, ob positive oder normative Effizienz gemeint ist; vgl. Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 55. 334 Vgl. Eidenmüller, Effizienz, S. 47. 335 Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 285. 336 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 48; Heise, Regulierung und Kartellrecht, S. 42. 337 Schwalbe, ZWeR 2010, 454, 459; Sell/Kermer, Aufgaben und Lösungen, S. 2 23. 338 Leistner, Richtiger Vertrag, S. 27. 339 Herdzina, Wirtschaftstheoretische Fundierung der Wettbewerbspolitik, S. 24. 340 Siehe oben Teil 4 C. II. 341 So kritisch Leistner, Richtiger Vertrag, S. 28. 342 Möschel, in: FS Rittner, 1991, S. 405, 414 ff.; Eidenmüller, Effizienz, S. 47 f.; Schwalbe, ZWeR 2010, 454, 460.
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dern um eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Prämissen und Wertungen der Wohlfahrtsökonomie in einer sozialen Marktwirtschaft. b) Utilitaristische Wohlfahrtsökonomie Die Entwicklung der modernen Wohlfahrtsökonomie wurde maßgeblich vom Utilitarismus geprägt, wie er von Jeremy Bentham begründet und von John Stuart Mill und Henry Sidgwick weiterentwickelt worden ist.343 Nach Bentham streben alle Menschen nach individuellem Glück bzw. Nutzen.344 Das Glück bzw. der Nutzen ist im Rahmen einer Kosten-/Nutzen-Betrachtung mathematisch zu ermitteln, und zwar nach Stärke, Wahrscheinlichkeit des Eintritts und Anzahl der beteiligten Personen (Prinzip des größten Glücks der größten Zahl).345 Indem Bentham die Addition individueller Nutzenwerte für möglich hielt, unterstellte er, dass diese kardinal (in absoluten Größen, nicht nur in einer Reihenfolge) bestimmbar sind und interpersonell verglichen werden können. Bentham ging mit anderen Worten davon aus, dass sich nicht nur sagen lässt, um wieviel es Personen besser und schlechter geht, sondern auch, dass es eine objektiv gültige Skala ihrer Befindlichkeiten gibt.346 Hiernach bestand die Gesamtwohlfahrt aus einer Addition der individuellen Nutzenwerte. Dabei verstand Bentham sein Konzept nicht nur als positives Analyseinstrument, sondern auch als kollektive Entscheidungsregel im Rahmen der Gesetzgebungstheorie.347 c) Pareto-Kriterium aa) Grundaussagen In Auseinandersetzung mit der utilitaristischen Wohlfahrtsökonomie Benthams, die von einer kardinalen Messbarkeit individuellen Nutzens und dessen interpersoneller Vergleichbarkeit ausging, entwickelte sich im 20. Jahrhundert die von Pareto begründete neue Wohlfahrtstheorie.348 Diese geht davon aus, dass individueller Nutzen lediglich ordinal (größer, kleiner oder gleich) und nicht kardinal (in absoluten Größen) gemessen werden kann.349 Individuelle Nutzenbewertungen sind hiernach nicht verrechenbar. Als Werkzeug für die 343 Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation; Mill/Mill, Liberty and Utilitarianism, S. 135 ff.; Sidgwick, The Methods of Ethics. Ausführlich Eidenmüller, Effizienz, S. 22 ff. 344 Vgl. Schumann/Schumann, Kosmos der Ökonomie, S. 248, 252; Eidenmüller, Effizienz, S. 28. 345 Schumann/Schumann, Kosmos der Ökonomie, S. 248, 252. 346 Eidenmüller, Effizienz, S. 26 f. 347 Eidenmüller, Effizienz, S. 27. 348 Pareto, Manual d’économie politique, S. 145 ff.; vgl. auch Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 45. 349 Schumann/Schumann, Kosmos der Ökonomie, S. 248, 254; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 48.
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Herstellung einer Rangordnung zwischen verschiedenen Zuständen gilt vielmehr das Prinzip der Pareto-Verbesserung. Danach wird ein Zustand A als „pareto-besser“ („pareto-superior“) gegenüber einem Zustand B angesehen, wenn keine Person in A schlechter gestellt ist als in B und mindestens eine Person in A besser gestellt ist als in B.350 Ein Zustand ist „pareto-optimal“ („pareto-effizient“), wenn es keinen anderen Zustand gibt, den mindestens ein Individuum vorzieht und den alle anderen zumindest nicht ablehnen.351 Das Pareto-Kriterium verlangt somit Einstimmigkeit.352 Stuft ein einziges Individuum eine beabsichtigte Maßnahme gegenüber dem bisherigen Zustand als schlechter ein, tritt keine paretianische Wohlstandsverbesserung ein, sondern es bleibt beim status quo. Da in ökonomischen Kontexten ein Zustand durch die Verwendung knapper Ressourcen entsteht, wird statt des Begriffs „Zustand“ auch derjenige der „Allokation“ gebraucht.353 Die Pareto-Effizienz beinhaltet hiernach einen Maßstab für eine gesellschaftlich effiziente Ressourcenallokation.354 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass es der auf der Neoklassik aufbauenden Wohlfahrtsökonomie zunächst einmal nur darum geht, wie die zur Verfügung stehenden Ressourcen verwendet werden (Allokation), wohingegen die Frage nicht betrachtet wird, durch wen dies geschehen soll (Distribution).355 Die „zutreffende“ Distribution lässt sich bei Ablehnung kardinaler Nutzenmessung und interpersoneller Nutzenvergleiche nicht mathematisch bestimmen.356 bb) Rechtfertigung idealer Austauschverträge aus dem Nutzen aller Vertragsparteien Das Pareto-Kriterium hat grundlegende Bedeutung in Zusammenhang mit der Erklärung des Marktmechanismus auf idealen Märkten.357 Es trägt damit wesentlich zur normativen Rechtfertigung freiheitlicher, auf dem Grundsatz materialer Selbstbestimmung aufbauender Wirtschaftsordnungen bei.358 Schließen zwei Parteien freiwillig einen Vertrag, der nicht durch Willensmängel oder 350
Wigger, Finanzwissenschaft, S. 25; Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 46. Eidenmüller, Effizienz, S. 48; Knieps, Wettbewerbsökonomie, S. 11; Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 190. 352 Van Aaken, „Rational Choice“, S. 212; Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 190; Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 29. 353 Wigger, Finanzwissenschaft, S. 25. 354 Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 190; Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 46. 355 So – konkret zum Kaldor-Hicks-Kriterium – Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 285. 356 Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 135. 357 Eidenmüller, Effizienz, S. 48 f.; Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 191. Siehe zur Preistheorie noch Teil 4 C. III. 5. 358 So zu Recht Möschel, in: FS Rittner, 1991, S. 405, 414; van Aaken, „Rational Choice“, S. 212. 351
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sonstige Störungen der Vertragsparität beeinflusst ist, ist auf der Grundlage der neoklassischen Verhaltensannahme des „homo oeconomicus“ davon auszugehen, dass beide an den Ergebnissen des Vertragsschlusses profitieren. Indem die Rechtsordnung den Bürgern die Möglichkeit einräumt, privatautonome Verträge zu schließen und so ihre Rechtsverhältnisse selbst zu regeln, ermöglicht sie ihnen also Transaktionen, die zu pareto-superioren Ergebnissen führen können. Ein ideal funktionierender Marktmechanismus führt somit zu einem Gleichgewichtszustand, in welchem sich die Position irgendeines Marktteilnehmers nur noch dadurch verbessern lässt, dass zugleich diejenige anderer Personen verschlechtert wird. Alle Akteure haben hier das Potenzial für freiwillige Transaktionen vollständig ausgeschöpft (erster Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomie).359 Es ist mit anderen Worten jede Allokation, die durch ein Marktgleichgewicht erzeugt wird, pareto-optimal, weshalb keine durch ein Marktgleichgewicht erzeugte Allokation allein aufgrund des Pareto-Kriteriums als nicht wünschenswert verworfen werden kann.360 Welches konkrete Gleichgewicht erreicht wird, hängt freilich von der Ausgangsausstattung der Marktteilnehmer ab; wird diese verändert, ändert sich auch das Gleichgewicht, weshalb im Ergebnis jedes beliebige Gleichgewicht erzielt werden kann (zweiter Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomie). Um ein bestimmtes Pareto-Optimum zu erreichen, muss nur die anfängliche Verteilung der Ressourcen entsprechend bestimmt werden; der Markt erzeugt sodann das gewünschte Pareto-Optimum. Dem zweiten Hauptsatz zufolge ist also jede nach irgendwelchen Kriterien wünschenswerte Allokation dadurch erreichbar, dass man die Anfangsausstattung an Ressourcen zwischen Individuen umverteilt; ein zusätzlicher staatlicher Eingriff in das Marktgeschehen scheint damit nicht erforderlich. In den beiden Hauptsätzen der Wohlfahrtsökonomie liegt eine starke Rechtfertigung dafür, bei wirtschaftlichen Sachverhalten auf wettbewerblich organisierte Märkte zu vertrauen. Staatliche Eingriffe, die über die Umverteilung der Anfangsausstattung hinausgehen, müssen zwar nicht schädlich sein, sind den beiden Hauptsätzen zufolge aber auch nicht (ökonomisch) nützlich.361 Allerdings gelten die Hauptsätze der Wohlfahrtsökonomie nur in einer eingeschränkten Modellwelt, was diese Sichtweise auch einräumt.362 Auf realen Märkten gibt es eine Reihe von möglichen Ursachen für die Verfehlung der Pareto-Effizienz.363 Hierzu zählen öffentliche Güter,364 ungewollte oder gewollte externe Effekte, asymmetrisch verteilte Informationen und die im Recht der 359 Siehe hierzu sowie zu den erforderlichen „Pareto-Bedingungen“ van Aaken, „Rational Choice“, S. 212 f. i. V. mit Fn. 990. Zu den Bedingungen des ersten Hauptsatzes der Wohlfahrts ökonomie statt anderer Wigger, Finanzwissenschaft, S. 30 und insbesondere S. 32. 360 Vgl. zum Folgenden Grüner, Wirtschaftspolitik, S. 31. 361 Grüner, Wirtschaftspolitik, S. 31. 362 Bester, Industrieökonomik, S. 2. 363 Grüner, Wirtschaftspolitik, S. 31. 364 Hier kommt man auch ohne das Zahlen eines Preises in den Genuss des Gutes. Stan-
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Regulierung der Netzwirtschaften im Zentrum stehenden natürlichen Monopole aufgrund der dort möglichen Skalen- und Verbunderträge.365 Führt der Markt in solchen Situationen nicht zu einer effizienten Allokation, wird in der Wohlfahrtstheorie von einem Marktversagen gesprochen,366 weshalb aus ökonomischer Sicht ein korrigierender staatlicher Eingriff in das Marktgeschehen indiziert ist.367 Erreicht der Staat trotz eines Eingriffs keine Effizienzverbesserung, so liegt ein Staatsversagen vor.368 cc) Bewertung Das Pareto-Kriterium – in der Wirtschaftstheorie häufig zu Unrecht gleichgesetzt mit „Effizienz“369 – gründet auf dem methodologischen Individualismus und der Autonomie des Einzelnen als oberstem Wert, weshalb es trotz seiner Verwurzelung in der Wohlfahrtsökonomie eine enge Verbindung zum „gesellschaftspolitischen“ (zivilistischen) Freiheitsziel aufweist.370 Gleichwohl ist es in der praktischen Wirtschaftspolitik nur bedingt bedeutsam, da Märkte oft von unterschiedlichen Freiheitsgraden und Marktstrukturen geprägt sind. Nach Ansicht von Martin Hellwig könnten bei Anwendung des Pareto-Kriteriums nicht einmal schwerste Verstöße gegen die materiale Selbstbestimmung der Marktteilnehmer wie Preiskartelle oder monopolistische Preisüberhöhungen untersagt werden, ohne dass den Wettbewerbsverletzern eine Kompensation für die Veränderung des Status quo gewährt werden müsste.371 Das ParetoKriterium gebe den Individuen auf der Grundlage der bestehenden Ressourcenverteilung nämlich eine Art Vetorecht, mit dem sie belastende Maßnahmen verhindern könnten.372 Das Kriterium eigne sich somit nicht als Konfliktschlichtungsmechanismus,373 sondern sei nur ein normatives Minimalkonzept.374 Diedardbeispiele: innere und äußere Sicherheit; vgl. Bartling, Leitbilder der Wettbewerbspolitik, S. 17. 365 Wigger, Finanzwissenschaft, S. 33; Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 53. 366 Grundlegend zur Legitimation von Staatseingriffen unter dem Gesichtspunkt des Marktversagens Bator, Quat. J. Econ. 72 (1958), 351 ff.; siehe auch Vahlens Kompendium/ Kerber, S. 369, 375. 367 Hellwig, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit?, 2006, S. 3. 368 Statt anderer Wigger, Finanzwissenschaft, S. 141 ff. 369 Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 29. 370 Möschel, in: FS Rittner, 1991, S. 405, 414. 371 Vgl. Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 30: „Interpretiere ich freilich die Ineffizienz von Kartellen und Monopolen im Sinne des Pareto-Kriteriums, so muss ich feststellen, dass Wettbewerbsrecht und Wettbewerbspolitik damit nichts zu tun haben. Das Wettbewerbsrecht beschränkt die Handlungsspielräume von Unternehmen, potenziellen Kartellisten und Marktbeherrschern, ohne dass die Unternehmen und ihre Eigentümer dafür kompensiert würden. Solche Eingriffe sind mit dem Pareto-Kriterium nicht zu begründen.“ 372 Albert, Traktat über rationale Praxis, S. 130; Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 307. 373 Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 192. 374 So Wigger, Finanzwissenschaft, S. 25.
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se Sichtweise knüpft an das Tätigkeitwerden der Wettbewerbsbehörden an. Man kann jedoch bereits den Abschluss eines (Preis-)Kartells oder eine monopolistische Preisüberhöhung (und nicht erst die Reaktion der Wettbewerbsbehörden oder Privatbetroffener darauf) am Pareto-Kriterium messen.375 In diesem Fall führt die Analyse aufgrund der negativen tatsächlichen Drittwirkungen zur Pareto-Ineffizienz des wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens und damit zur Rechtfertigung eines staatlichen Eingriffs. Eine Anwendung des Pareto-Kriteriums setzt aus rechtswissenschaftlicher Sicht voraus, dass man sich der ihm zugrunde liegenden Werturteile bewusst ist: 376 Zum Ersten ist das Kriterium prozessunabhängig. Es ist mit anderen Worten zur Beurteilung, ob eine Allokation pareto-effizient ist, nicht entscheidend, auf welche Weise die Allokation erreicht wurde, etwa in einer Zentralverwaltungswirtschaft oder einer Marktwirtschaft oder durch einen „wohlmeinenden Planer“.377 Darüber hinaus erlaubt das Pareto-Kriterium eine Zunahme von Ungleichheit, da es allein auf die Maximierung des Nutzens von Individuen abstellt, solange es den anderen nicht schlechter gegenüber ihrer Erstausstattung geht. Ausgehend von einem bestimmten Status der Einkommens- und Vermögensverteilung werden also distributive Aspekte nicht betrachtet.378 Wenn man die Erstausstattung der Individuen mit Ressourcen in die Überlegungen mit einbezieht, gibt es somit nicht nur einen, sondern viele pareto-optimale Zustände. Vielfach wird deshalb die bestehende Erstausstattung als gegeben hingenommen.379 Eine isolierte Anwendung des Pareto-Kriteriums setzt deshalb tendenziell eine konservative Grundhaltung voraus.380 Im Ergebnis würde eine strikte Anwendung des Pareto-Kriteriums – die freilich nur selten vertreten wird381 – zum Einfrieren eines jeden Zustands führen.382 Man kann das Pareto-Kriterium wie geschildert aber auch zur Rechtfertigung eines auf Selbstbestimmung basierenden Marktmechanismus heranziehen, der unter idealen Bedingungen zur bestmöglichen Versorgung der Bürger mit knappen Gütern und Dienstleistungen führt. Sofern die Selbstbestimmung der Marktteilnehmer beeinträchtigt ist, erlangt der Staat auf dieser Grundlage eine Rechtfertigung für einen Eingriff in das freie Marktgeschehen zur Gewährleis375
Ebenso von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 906, 947. folgende Darstellung orientiert sich an Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 47 f. 377 Albert, Traktat über rationale Praxis, S. 130. 378 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 52. Nach der wohl zu pointierten Sichtweise von Sen (Resources, Values and Development, S. 95) könne eine alleinige Anwendung des Pareto-Kriteriums dazu führen, dass Menschen verhungern müssten. 379 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 52. 380 Bartling, Leitbilder der Wettbewerbspolitik, S. 16; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 53. 381 Eine Ausnahme aus jüngerer Zeit: Fornasier, Freier Markt, S. 27 ff. 382 Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 285. 376 Die
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tung der Möglichkeit für alle Individuen, ihre Präferenzen in den Prozess des Aushandelns einzubringen, und so – ohne dass dies eine Voraussetzung der Gültigkeit von Verträgen wäre383 – zu effizienten Marktergebnissen zu kommen. Zusammenfassend spricht für das Pareto-Konzept, dass es dem Willen der Individuen große Relevanz zuspricht.384 Es kann auf dieser Grundlage zur ökonomischen Rechtfertigung einer freiheitlichen, auf dem Grundsatz der Selbstbestimmung basierenden Privatrechtsordnung herangezogen werden. Diesem „Vorteil“ stehen die vorbenannten praktischen Schwierigkeiten gegenüber, weshalb die Rechts- und Wettbewerbsökonomie in den zurückliegenden Jahren zunehmend zum Kompensationskriterium von Kaldor und Hicks übergegangen ist. Dieses begegnet jedoch aus zivilistischer Sicht – wie wir uns im Folgenden vor Augen führen – grundsätzlichen Bedenken. d) Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium aa) Grundaussagen Das Pareto-Kriterium ist aufgrund seiner strengen Vorgaben zur Bewertung sozialer Zustände nicht ausreichend.385 Es geht wie gesehen vom Modell eines freien, nicht durch staatlichen Zwang gestörten Marktes aus.386 Will man es deshalb für eine staatliche Wirtschafts- und Rechtspolitik fruchtbar machen, bedarf es gewisser Modifikationen.387 Diese können aus zivilistischer Sicht aus dem Schutz der Marktteilnehmer vor wirtschaftlicher Macht, also aus ethisch-rechtlichen Gesichtspunkten abgeleitet werden. In der Wohlfahrtsökonomie wird das Pareto-Kriterium durch das sog. Kaldor-Hicks-Kriterium ergänzt, wonach ein sozialer Zustand A auch dann gegenüber einem anderen Zustand B vorzugswürdig sein soll, wenn zwar einige Individuen schlechter gestellt werden, die Individuen im Zustand A jedoch die Individuen im Zustand B (fiktiv) entschädigen könnten und ihnen gleichwohl noch ein Residualvorteil verbliebe.388 Effizienz bestimmt sich nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium also auf der Grundlage einer Kosten-Nutzen-Analyse,389 weshalb sich das Kriterium anders als das Pareto-Kriterium auch für Situationen bzw. Situationsänderungen „nach Umverteilung“ eignet.390 383 Zur Frage, ob der Verbrauchernachteil ein Merkmal der Tatbestände gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist, siehe Teil 5 B. II. 384 Van Aaken, „Rational Choice“, S. 213. 385 Posner, Economic Analysis of Law, S. 13. 386 Van Aaken, „Rational Choice“, S. 212. 387 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 56. 388 Grundlegend Kaldor, Econ. J. 49 (1939), 549 ff.; Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696 ff.; vgl. dazu statt anderer Eidenmüller, Effizienz, S. 51 ff.; Labrenz, Anfechtungsklage, S. 18. 389 Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 193 bezeichnet das Kaldor-Hicks-Kriterium als „Mutter der Kosten-Nutzen-Analyse“. 390 Van Aaken, „Rational Choice“, S. 217.
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Gemäß dem Kaldor-Hicks-Kriterium ist zur Bestimmung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit sozialer Zustände grundsätzlich kein interpersoneller Nutzenvergleich nötig. Entscheidend ist vielmehr, dass die Gewinner die Verlierer so entschädigen könnten, dass alle theoretisch einen Vorteil von einer Maßnahme haben.391 Soll zum Beispiel eine Änderung des status quo dazu führen, dass A ein Haus und eine Weltreise bekommt, während B seinen Arbeitsplatz verliert, so sei diese Situation gleichwohl für beide Parteien nutzenmaximierend, wenn B gegenüber dem status quo ante indifferent sei, sofern A ihm entweder das Haus oder die Reisemöglichkeit überträgt.392 Bejaht B diese Gegebenheiten, erfüllt der neue Zustand das Kaldor-Hicks-Kriterium. Um in der wirtschaftspolitischen Praxis Aussagen über die Möglichkeit einer Entschädigung treffen zu können, müssen die jeweiligen Vor- und Nachteile allerdings regelmäßig in Geld bewertet werden. Auf dieser Grundlage werden die von einer Veränderung negativ Betroffenen nicht (mehr) gefragt, bei welcher Ausgleichszahlung sie sich indifferent fühlen; entscheidend soll vielmehr allein der positive Saldo aus Vor- und Nachteilen sein.393 Nach dem Kaldor-HicksGrundsatz – der von Vertretern der ökonomischen Analyse des Rechts auch als „Reichtumsmehrungsprinzip“ bzw. „Vermögensmehrungsprinzip“ bezeichnet wird394 – ist also eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen: 395 Solange die Kostenersparnis der Gewinner höher ist als die Einbuße der Verlierer, könnten die Verlierer theoretisch entschädigt werden, so dass in der Gesamtsumme eine Wohlfahrtssteigerung vorläge. Würde eine solche Kompensation tatsächlich erfolgen, wäre quasi das Pareto-Kriterium erfüllt; denn bei einer monetären Bewertung von Vor- und Nachteilen würde kein Teilnehmer schlechter gestellt. Die subjektiven Wertvorstellungen der Akteure hinsichtlich der Bewertung ihrer Gewinne und Verluste werden dadurch ausgeblendet, was ein normativ zu rechtfertigendes Werturteil bedeutet.396 Kaldor und Hicks hielten zur Überwindung des Zielkonflikts zwischen den Interessen der Begünstigten und denjenigen der Benachteiligten eine tatsächliche Kompensation für entbehrlich; ausreichend sei vielmehr bereits die Möglichkeit einer Entschädigung.397 Ob eine solche Entschädigung tatsächlich er391 Schumann/Schumann,
Kosmos der Ökonomie, S. 248, 257. Beispiel nach Eidenmüller, Effizienz, S. 51. 393 Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 308. 394 Posner, Economic Analysis of Law, S. 13; dazu Eidenmüller, Effizienz, S. 5 4 f.: in der praktischen Anwendung führten beide Kriterien zu vergleichbaren Ergebnissen. Siehe auch van Aaken, „Rational Choice“, S. 217, wonach das Reichtumsmaximierungsprinzip nur konsequent zu Ende führe, was im Kaldor-Hicks-Kriterium bereits angelegt sei, nämlich die Erhöhung der materiellen Wohlfahrt eines Landes. 395 Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 136. 396 So im Ergebnis auch Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 312. 397 Kaldor, Econ. J. 49 (1939), 549, 550; Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696, 711; vgl. auch Klump, Wirtschaftspolitik, S. 259. 392
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folge, sei eine verteilungspolitische Entscheidung des Gesetzgebers.398 Diesem stehe es frei, ob er eine Kompensation vornehme oder nicht, da auf längere Sicht praktisch jede Gesellschaftsgruppe von dem Kriterium profitiere. Das Kaldor-Hicks-Kriterium zielt damit auf eine potenzielle, nicht aber auf eine tatsächliche Pareto-Verbesserung.399 bb) Bewertung Das Kaldor-Hicks-Kriterium ist aus zivilistischer Sicht kritisch zu bewerten: 400 So ist die relevante Messgröße zwar im Gegensatz zum klassischen Utilitarismus nicht der gesellschaftliche Nutzen, sondern der individuelle Reichtum, mit anderen Worten die hypothetische Zahlungsbereitschaft für eine zuzuteilende Ressource.401 Zur Feststellung derselben bräuchte man bei Kollektiventscheidungen aber einen allwissenden Ökonomen, der die notwendigen Informationen vollständig zusammentragen und die Wohlfahrtswirkungen exakt berechnen kann, was unmöglich ist.402 Die Neue Institutionenökonomik stellt deshalb zu Recht heraus, dass „in einer Welt voller Transaktionskosten“ nicht nur die Individuen, sondern auch die Normgeber regelmäßig auf der Grundlage von Informationsdefiziten entscheiden. Die Beschränkung auf monetäre Variablen hat außerdem eine kurzfristig-statische Betrachtungsweise zur Folge, weshalb längerfristige dynamische Aspekte kaum berücksichtigt werden können.403 Weiterhin ergeben sich erhebliche Probleme bei der Umrechnung nicht-monetärer Güter in geldwerte Einheiten.404 So gibt es für bestimmte Güter keine Marktpreise, und ihr Wert muss deshalb geschätzt werden. Selbst wenn in soweit Marktpreise existieren (im Schadensrecht spricht man von Kommerzialisierung immaterieller Güter), geben diese nicht notwendig den sozialen Nutzwert eines Gutes an (Bäume eines Waldes). In diesem Fall muss der Marktpreis durch sog. Schattenpreise ermittelt werden.405 Auch insoweit sind subjek-
398 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 6 4 f., erklärt den Verzicht auf eine tatsächliche Entschädigungsleistung damit, dass Kaldor und Hicks ihre Konzeption in Zusammenhang mit der Abschaffung protektionistischer Maßnahmen aufgestellt hätten, bei denen es ebenso wie etwa bei der Abschaffung der Sklaverei ungerecht gewesen wäre, die vormals Begünstigten tatsächlich zu entschädigen. Ansonsten sei nämlich nicht zu erklären, warum generell auf die Notwendigkeit einer tatsächlichen Entschädigung verzichtet werde. 399 Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 308. 400 Eidenmüller, Effizienz, S. 51 ff.; van Aaken, „Rational Choice“, S. 218 ff.; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 60 ff. 401 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 62 f. 402 Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 137; Künzler, Effizienz statt Wettbewerbsfreiheit?, S. 31; die entsprechenden Schwierigkeiten konzedieren auch Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 41. 403 Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 312. 404 Klump, Wirtschaftspolitik, S. 260. 405 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 2 2.
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tive Wertungen des Entscheidungsgremiums unausweichlich.406 Schließlich wird gegen das Kaldor-Hicks-Kriterium (ebenso wie gegen utilitaristische Kollektiventscheidungsregeln überhaupt) vorgebracht, dass hier zwar Zahlungsbereitschaften und nicht Nutzeneinheiten verglichen würden, der soziale Nutzen von Geldeinheiten nach dem Grundsatz des abnehmenden Grenznutzens jedoch unterschiedlich zwischen armen und reichen Menschen verteilt sein kann.407 Es wird somit implizit doch ein interpersoneller Nutzenvergleich vorgenommen.408 Aus rechtsdogmatischer Sicht ist besonders problematisch, dass die Gewinner die Verlierer nicht tatsächlich, sondern nur theoretisch entschädigen müssen. Damit begünstigt das Kaldor-Hicks-Kriterium tendenziell vermögendere („mächtigere“) Marktteilnehmer und führt auf längere Sicht dazu, dass die Vermögensaufteilung in der Gesellschaft ungleich wird.409 Denn die Zahlungsbereitschaft hängt nicht nur vom individuellen Nutzen ab, sondern auch von der individuellen Zahlungsfähigkeit („ability to pay“). Da Letztere bei armen Menschen geringer ist als bei reichen, wird Erstere bei den Armen regelmäßig auch geringer sein.410 Problematisch ist außerdem, dass nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium die tatsächliche Kompensation ausgeblendet und auf die staatliche Verteilungspolitik verwiesen wird; 411 denn eine staatliche Kompensation wird in der Praxis nicht selten unterbleiben.412 Weiterhin sieht sich das Kriterium dem Vorwurf der logischen Inkonsequenz ausgesetzt, da es für eine Bewegung von einem gesellschaftlichen Zustand A zu einem gesellschaftlichen Zustand B erfüllt sein kann, aber auch für die Bewegung in die umgekehrte Richtung. Gefordert wird deshalb, dass nach dem Kaldor-Hicks-Test in beide Richtungen immer dieselbe Situation als überlegen anzusehen ist.413 Vor allem aber konfligiert das Kaldor-Hicks-Kriterium anders als das Pareto-Kriterium mit dem Schutz der wirtschaftlichen Selbstbestimmung und dem Schutz der daraus erwachsenden Wettbewerbsprozesse, da es sich nicht durch einen auf die material-freie Willensentschließung des Einzelnen zurückzufüh406 Das konzedieren auch Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 2 2: häufig nicht zu vermeiden. 407 Arrow, Social Choice and Individual Values, S. 38; Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 60; Martini, Hoheitliche Verteilungslenkung, S. 194. Siehe zum Utilitarismus auch Eidenmüller, Effizienz, S. 192; Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 25. 408 Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 60. 409 Siehe zu den Auswirkungen auf „künftige Generationen“ Eidenmüller, Effizienz, S. 150 ff. 410 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 65; siehe auch Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 299, 315 ff. 411 Krit. auch Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 26. 412 Deutlich Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 30; zust. von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 9 06, 946. 413 Vgl. Scitovsky, Rev. Econ. Stud. 9 (1941), 77 ff.; graphische Darstellung bei Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 61.
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renden Konsens begründen lässt.414 So lassen sich in Anwendung des KaldorHicks-Kriteriums die Rechte der Einzelnen entgegen den Prämissen des (methodologischen und normativen) Individualismus beschneiden, wenn dadurch die volkswirtschaftliche Effizienz gefördert wird.415 Besonders deutlich wird das am Beispiel des „Trade off-Modells“ von Oliver Williamson, wonach eine Wettbewerbsbeschränkung durch die Steigerung der produktiven Effizienz der Unternehmen gerechtfertigt werden könne, auch wenn dadurch signifikante Einbußen an allokativer Effizienz zu Lasten der Verbraucher einträten.416 Zur Entkräftung dieser Bedenken wird von Befürwortern des Kaldor-Hicks-Kriteriums vorgebracht, dass jedenfalls auf lange Sicht alle Individuen von den Effizienzwirkungen profitierten.417 Für eine solche „Generalkompensation“ gebe es empirische Belege, wie der Umstand zeige, dass die meisten Länder der Welt für ein effizienzorientiertes Wirtschaftssystem plädierten, weil sie sich davon die größte Mehrung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands versprächen.418 Freilich kann eine Benachteiligung der chancengleichen Selbstbestimmung im Einzelfall so erheblich sein, dass sie sich mit Blick auf die Freiheitsrechte der Individuen nicht durch eine übergeordnete Gemeinwohlerwägungen folgende „Generalkompensation“ ausgleichen lässt.419 Wernhard Möschel spricht insoweit pointiert von der Gefahr einer „wohlstandsfördernden“ Sklaverei.420 Darüber hinaus ist nicht erwiesen, dass Menschen langfristig tatsächlich in den Genuss der Kompensationsleistungen kommen,421 zumal die Verhaltensökonomie ermittelt hat, dass Individuen einen sicheren Verlust in der Gegenwart höher bewerten als einen unsicheren Gewinn in der Zukunft.422 Vor diesem Hintergrund schränken Schäfer/Ott das Kaldor-Hicks-Kriterium auf Sachverhalte ein, bei denen angenommen werden kann, dass in einem überschaubaren Zeitraum durch die Summe vieler Kollektiventscheidungen eine Generalkompensation eintrete, auch wenn jemand im Einzelfall gravierende Einbußen erleide, oder wenn die Kompensation durch ein leistungsfähiges Sozialsystem erfolge.423 Auch dieser Ansatz beruht jedoch auf nicht beweisbaren Werturteilen: Was ist ein überschaubarer Zeitraum? Wann ist ein Sozialsystem leistungsfä414
Möschel, in: FS Rittner, 1991, S. 405, 416 f. Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 65. 416 Williamson, AER 58 (1968), 18 f.; dazu (im Ergebnis krit.) I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 123 ff.; Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 421 ff. 417 Von Weizsäcker, Effizienz und Gerechtigkeit, 1983, S. 2 2 f.; Klump, Wirtschaftspolitik, S. 260. 418 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 25: „All will be rich, some will be first.“ 419 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 67. 420 Möschel, in: FS Rittner, 1991, S. 405, 417: „moralische Monstruosität“, da Produzenten den Verbrauchern eine Art „Konsumsteuer“ auferlegen könnten. 421 Ebenso Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 23. 422 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 67; dazu noch Teil 4. D. III. 423 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 42. 415
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hig? Letztlich sind die vorbenannten Zugeständnisse nur ein Ausdruck der Erkenntnis, dass das Konzept einer wertungsfreien Wohlfahrtsökonomie gescheitert ist. Wenn jedoch Wertungen in die ökonomischen Modelle eingeführt werden, müssen sich diese – sollen hieraus praktisch verwertbare Handlungsempfehlungen abgeleitet werden – an der geltenden Wirtschaftsverfassung orientieren. e) Wohlfahrtstandard Innerhalb der sog. Post-Chicago-Economics und des „more economic approach“ der Kommission als deren europäischer Variante ist streitig, ob es für die Beurteilung der Wohlfahrtswirkungen auf einen Gesamtwohlfahrtstandard („total welfare standard“) oder aber auf die Konsumentenwohlfahrt ankommt („consumer welfare standard“), in dessen Rahmen die Gesamtwohlfahrtswirkungen im Wege einer „konsumentenbezogenen Betrachtung“ kontrolliert und ggf. korrigiert werden.424 Aufgrund des Sachzusammenhangs wollen wir dieses Problem bereits an dieser Stelle und nicht erst beim „more economic approach“ erörtern. aa) Problemstellung Bei der Operationalisierung des „wohlfahrtsökonomischen Referenzpunkts“ – sofern man wettbewerbspolitisch also die Herstellung allokativer, produktiver und dynamischer Effizienz als ausschlaggebend erachtet425 – ist zu entscheiden, wessen Wohlfahrt optimiert werden soll; denn die Entscheidung über die Adressaten hat maßgeblichen Einfluss auf die Berechnung und Ermittlung der zu berücksichtigenden ökonomischen Effizienzvorteile.426 Die Effizienz ist mit anderen Worten das Mittel zur Erzielung eines bestimmten Wohlfahrtstandards. Die Vorschriften des Wettbewerbs- und Regulierungsrechts können idealtypisch einem Gesamtwohlfahrtstandard („total welfare standard“) oder einem Konsumentenwohlfahrtstandard („consumer welfare standard“) dienen.427 Im Kern geht es um das Problem, ob insbesondere auf Marktmacht basierende Verteilungseffekte von Wettbewerbshandlungen berücksichtigt werden sollen oder nicht.428 Wenn sich Unternehmen etwa zu einem Kartell zusammenschließen und die Preise anheben, führt dies aus ökonomischer Sicht neben „Effizienzverlusten“ zu einer Umverteilung volkswirtschaftlicher Rente von den Nachfra424
Siehe zusammenfassend Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 438 ff. Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 28 f. 426 Wolf, Effizienzen, S. 163. Zur praktischen Relevanz Baker, Antitrust L. J 73 (2006), 483, 515 ff. 427 Christiansen, „More Economic Approach“, S. 334; Rule, Consumer Welfare, Efficiencies, and Mergers, S. 2 ff. 428 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1060. 425
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gern zu den Produzenten.429 Im Rahmen liberaler Markttheorien und des Ordoliberalismus wurde es deshalb als wichtiges Ziel angesehen, dass die im Wettbewerb erzielten Gewinne von Unternehmen auf Leistungen für die Konsumenten beruhen, weshalb die Aneignung von Kooperationsgewinnen aufgrund von Marktmacht (oder durch staatlich veranlasste Wettbewerbsbeschränkungen wie Subventionen) verhindert werden sollte.430 Verteilungswirkungen erscheinen hier also von vornherein als ein konstitutives Element der Wettbewerbspolitik.431 In der deutschen Diskussion über die zutreffende Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik wurde hierzu der Begriff des „Leistungswettbewerbs“ geprägt, der in der Konstitutionenökonomik auch heute noch eine tragende Rolle spielt.432 Allerdings ergibt sich der normative Maßstab für die Beschränkung von Rechten und Möglichkeiten von Marktteilnehmern im Ordoliberalismus nicht aus einem utilitaristischen Verteilungskalkül, sondern aus der grundlegenden Erkenntnis, dass die Wettbewerbsfreiheit des einen ihre Grenze in der Wettbewerbsfreiheit des anderen findet.433 Dies deckt sich mit den Ergebnissen der modernen Vertragstheorie, die ihre innere Rechtfertigung in der Sicherung einer material-chancengleichen Selbstbestimmung vor übermäßigen Beeinträchtigungen sieht. Gegen die dadurch erforderliche Abwägung von Freiheitspositionen richtet sich aktuell die Kritik der Wirtschaftswissenschaften, da eine solche Vorgehensweise vermeintlich „dem Schutz der Wettbewerber und nicht des Wettbewerbs“ diene.434 Wie wir jedoch schon gesehen haben, kommen die Wettbewerbstheorie und die Wettbewerbspolitik ebenfalls nicht ohne Werturteile aus. bb) Gesamtwohlfahrtstandard Ein Gesamtwohlfahrtstandard („total welfare standard“) beurteilt wettbewerbliche Sachverhalte allein nach den Auswirkungen auf die Gesamtwohlfahrt auf dem jeweiligen Markt. Hiernach haben sich der Staat und seine Organe so zu verhalten, dass die Summe von Produzenten- und Konsumentenrente maximiert wird, und zwar unabhängig davon, wer von der Wohlfahrtsteigerung profitiert.435 Verteilungsfragen und damit auch Fragen wirtschaftlicher Macht werden nicht behandelt. Hierum sollen sich andere Bereiche der Politik kümmern (Steuerpolitik). Wohlfahrtsökonomisch entspricht der Gesamtwohl429 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe,
Einl. Rn. 1057. Einl. Rn. 1057; siehe Teil 4 D. I. 4. b). 431 Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 30. 432 Überzeugend Vanberg, Consumer Welfare, Total Welfare and Economic Freedom, S. 14. 433 Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 30 f. 434 Hierzu Hellwig, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit?, S. 30. 435 Hierfür etwa Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, S. 408 ff.; Bester, Industrieökonomik, S. 8 ff.; Motta, Competition Policy, S. 19 ff. 430 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe,
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Teil 4: Wettbewerbstheorien
fahrtstandard damit vor allem dem Kaldor-Hicks-Kriterium, das aufgrund der theoretischen Möglichkeit zur Kompensation der Wohlfahrtseinbußen bei Konsumenten durch die Produzenten eine Saldierung erlaubt, während der Konsumentenwohlfahrtstandard darauf beharrt, dass wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen sich nie so auswirken dürften, dass die Konsumenten ökonomisch schlechter als vorher gestellt werden.436 Zugespitzt formuliert blendet der Gesamtwohlfahrtstandard bei stringenter Anwendung durch Marktmacht bewirkte Umverteilungen von Konsumenten zu Produzenten systematisch aus,437 weshalb er aus (privat-)rechtsdogmatischer Sicht zu korrigieren ist. Als eine derartig normative Korrektur des Gesamtwohlfahrtstandards ist Art. 101 Abs. 3 AEUV anzusehen, wonach Wettbewerbsbeschränkungen nur dann aufgrund überwiegender Effizienzgewinne freigestellt werden können, wenn die Verbraucher auch tatsächlich in absehbarer Zeit von ihnen profitieren.438 Insoweit folgerichtig ist Art. 101 Abs. 3 AEUV als Aufhänger für einen Konsumentenwohlfahrtstandard zu sehen. Auch ein solcher blickt freilich nicht notwendig auf die materiale Selbstbestimmung der Marktteilnehmer, sondern korrigiert den Gesamtwohlfahrtstandard durch eine Analyse der Verteilungswirkungen von Regelungen und Maßnahmen. cc) Konsumentenwohlfahrtstandard Bei einem Konsumentenwohlfahrtstandard („consumer welfare standard“) ist entscheidend, ob die Konsumentenrente maximiert wird, was auf der Grundlage ökonomischer Modellannahmen insbesondere dann gegeben sein soll, wenn bei gleichbleibenden Leistungen die Preise sinken.439 Es ist jedoch umstritten, welche Gruppe der Marktteilnehmer als Verbraucher anzusehen sind.440 So kann als Konsument sowohl der private Endverbraucher als auch die jeweils betroffene Marktgegenseite verstanden werden. Bei einer weiten Betrachtung fallen sogar alle Individuen einer Volkswirtschaft unter den Verbraucherbegriff, da sie alle situationsspezifisch als Verbraucher auftreten werden.441 Während einige den Verbraucherbegriff deshalb allgemein mit Effizienz, also mit Gesamtwohlfahrt gleichsetzen,442 stellen andere auf die Wohlfahrt aller Teil436 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe,
Einl. Rn. 1058. So MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1066. 438 Siehe Teil 5 C. II. 2. 439 Siehe MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1058. Für einen Konsumentenwohlfahrtstandard Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 35. 440 Ausführlich Möller, Verbraucherbegriff und Verbraucherwohlfahrt, S. 47 ff. 441 MünchKommEUWettbR/Habermeier, Art. 81 EG Rn. 676; Möller, Verbraucherbegriff und Verbraucherwohlfahrt, S. 57. Siehe zum Verbraucherbegriff schon oben Teil 1 B. VI. 442 Siehe etwa Bork, The Antitrust Paradox, S. 110: „Those who continue to buy after a monopoly is formed pay more for the same output, and that shifts income from them to the monopoly and its owners, who are also consumers. This ist not a deadweight loss due to the restriction in output but merely a shift in income between two classes of consumers.“ Dazu 437
C. Ökonomische Sicht auf wirtschaftliche Macht
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nehmer der Marktgegenseite ab, so dass bei zweiseitigen Märkten nicht nur Wohlfahrtsverluste von Abnehmern, sondern auch solche von Zulieferern zu berücksichtigen sind.443 Gemäß den Implikationen der neoklassischen Theorie geht es dabei allerdings nie um das Wohl tatsächlicher Individuen, sondern allein um eine analytische Betrachtung.444 dd) Praktische Relevanz Große praktische Bedeutung hat der Streit über einen Gesamt- oder einen Konsumentenwohlfahrtstandard etwa im Bereich der – nicht vertieft zu behandelnden – wettbewerbsrechtlichen Zusammenschlusskontrolle.445 Der Unterschied lässt sich am besten am „Trade-off-Modell“ von Williamson aufzeigen, das den Zielkonflikt zwischen Wohlfahrtsverlusten bei den Verbrauchern durch eine Monopolisierung und Wohlfahrtsgewinnen durch Effizienzverbesserungen bei den Unternehmen thematisiert.446 Hiernach können Unternehmenszusammenschlüsse einerseits zu Kostensenkungen (produktive Effizienz), andererseits aber auch zur Bildung von Marktmacht und damit zur Heraufsetzung der Preise bzw. zur Einschränkung der produzierten Menge führen (allokative Ineffizienz). Will man diesen Zielkonflikt auflösen, ist zu entscheiden, ob allein auf den Nutzen der Verbraucher (verstanden als Marktgegenseite oder als Endverbraucher) oder auf einen Gesamtwohlfahrtstandard (Summe aus Konsumentenund Produzentenrente) abgestellt wird.447 Stellt man auf einen Gesamtwohlfahrtstandard ab, so wird nur berücksichtigt, ob die allokativen Effizienzverluste, die aufgrund der Marktmacht entstehen, größer oder kleiner sind als die aufgrund der fusionsbedingten Kosteneinsparungen erzielten Gewinne an produktiver Effizienz (sog. Williamson-Trade-Off). Die gleichzeitig stattfindende Umverteilung von den Nachfragern zu den Anbietern aufgrund des höheren Preises aufgrund zusätzlicher Marktmacht wird in diesem Fall nicht beachtet. Beim Konsumentenwohlfahrtstandard würde diese Umverteilung hingegen insoweit berücksichtigt, als es hier im Ergebnis auf die Auswirkungen auf die Konsumentenrente ankommt. Wären die Effizienzvorteile durch die Fusion (theoretisch) so groß, dass es trotz erhöhter Marktmacht zu fallenden Preisen und damit zu einer erhöhten Konsumentenrente käme, würde einer Genehmigung dieser Fusion nichts im Wege stehen; in praktischer Hinsicht scheint dieMöller, Verbraucherbegriff und Verbraucherwohlfahrt, S. 92; siehe zur Post Chicago School auch Baker, Antitrust L. J 73 (2006), 483, 512 f. 443 Vgl. Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 35, unter Hinweis auf Zimmer. 444 Möller, Verbraucherbegriff und Verbraucherwohlfahrt, S. 239. 445 Von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 9 06, 944; I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 941 f. 446 Williamson, AER 58 (1968), 18 f.; dazu (im Ergebnis krit.) I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 123 ff.; Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 421 ff. 447 Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 438 ff.
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ser Fall jedoch nur bedingt wahrscheinlich.448 Beim Konsumentenwohlfahrtstandard ist folglich keine Saldierung der Wohlfahrtsverluste für die Konsumenten mit den Wohlfahrtsgewinnen für die Produzenten möglich wie beim Gesamtwohlfahrtstandard.449 Aus diesem Grunde steht ein Verbraucherwohlfahrtstandard zivilistischem Denken näher als ein Gesamtwohlfahrtstandard, der nicht normativ durch eine verbraucherbezogene Sicht korrigiert wird. ee) Bewertung Für den Gesamtwohlfahrtstandard450 wird angeführt, dass die Berücksichtigung von Konsumenten- und Produzentenrente mehr wohlfahrtserhöhende Entwicklungen ermögliche als die alleinige Beachtung der Konsumentenrente.451 Weiterhin käme eine Erhöhung der Produzentenrente über die Gewinnausschüttungen von Publikums-Kapitalgesellschaften denjenigen Konsumenten zugute, die als Gesellschafter an den Unternehmen beteiligt seien. Für den Konsumentenwohlfahrtstandard werden vor allem „institutionelle“ Argumente vorgebracht. So sei es den Konsumenten im Gegensatz zu den Unternehmen schwerer möglich, ihre Interessen im politischen Prozess hinreichend durchzusetzen, so dass diese in der Wettbewerbspolitik eine zusätzliche „Absicherung“ benötigten. Darüber hinaus sei die Ausnutzung von Informationsvorteilen von Unternehmen gegenüber Wettbewerbsbehörden (über angebliche Effizienzvorteile) dann nicht mehr so leicht möglich.452 Schließlich spreche für einen Konsumentenwohlfahrtstandard, dass sich die Nutzenwirkungen aus Veränderungen von Marktpreisen und Veränderungen des Verhaltens im Markt relativ leicht ermitteln ließen; 453 denn er umgehe die Schwierigkeit, die Produzentenrente zu quantifizieren und in Relation zur Konsumentenrente zu setzen.454 Die Entscheidung über die Ziele der Wettbewerbspolitik ist keine positive, sondern eine normative Frage.455 Es kann deshalb nicht überraschen, dass in der Diskussion über den zutreffenden Wohlfahrtstandard auch „polit-ökonomische“ Argumente vorgebracht werden.456 Die Unionsverträge enthalten ebenso 448
Vgl. auch I. Schmidt, WuW 2012, 795.
449 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe,
Einl. Rn. 1058; Künzler, in: FS Ott, 2008, S. 229, 310. 450 Vgl. statt anderer Motta, Competition Policy, S. 20 f. 451 Dieses Argument erscheint auf den ersten Blick durchaus plausibel, berücksichtigt jedoch nicht das Bestehen antikompetitiver wirtschaftlicher Macht. 452 Zum Vorstehenden siehe Besanko/Spulber, J. L. Econ. & Org. 9 (1993), 1 ff. 453 Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 35. 454 Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 141. 455 Statt anderer vgl. Schwalbe, ZWeR 2010, 454, 459. 456 Zum Folgenden siehe MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1059 ff.; von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 906, 943 ff.; Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 140, jeweils m. w. N. Siehe in Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise auch Coyle, ZfW 61 (2012), 103, 108: „Die Makroökonomik, die zum Analysegegenstand hat, wie sich die millionenfachen individuellen Entscheidungen gesamtwirt-
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wie das deutsche Wettbewerbsrecht keine explizite Aussage zu dieser Problematik. Aus einzelnen Vorschriften kann jedoch – sofern sich das Gesetz für wohlfahrtsökonomische Analysen öffnet – auf die Geltung eines Verbraucherwohlfahrtstandards geschlossen werden.457 So benennt Art. 101 Abs. 3 AEUV als Freistellungsvoraussetzung „die angemessene Beteiligung der Verbraucher am entstehenden Gewinn“.458 Dieses Regelungsmodell wurde von der Kommission mittlerweile auf die Zusammenschlusskontrolle und die Kontrolle von Behinderungsmissbräuchen übertragen.459 Die normative Entscheidung für einen Konsumentenwohlfahrtstandard führt freilich zu Folgefragen, schon weil die Gruppe der Verbraucher nicht homogen zusammengesetzt ist. Dies kann komplizierte Abwägungen nach sich ziehen.460 Darüber hinaus normiert Art. 101 Abs. 3 AEUV keine Verbraucherschutzvorgaben im rechtlichen Sinne, sondern berührt lediglich allgemeine wettbewerbspolitische Anliegen. Der Vorschrift geht es gerade nicht um einen Schutz der Selbstbestimmung einzelner Individuen,461 sondern um die Zulässigkeit einer Beschränkung derselben aus über geordneten, langfristig allen oder jedenfalls der überwiegenden Anzahl der Verbrau cher zugutekommenden Effizienzsteigerungen.462 Auch ein Konsumentenwohlfahrtstandard ist deshalb nicht notwendig mit den rechtlichen Grundlagen einer Wettbewerbswirtschaft vereinbar. 4. Effizienzkonzepte In der vertrags- und wettbewerbsrechtlichen Diskussion ist zunehmend von Effizienz zu lesen. Mit diesem Begriff kann jedoch Verschiedenes gemeint sein. Er ist für unsere Untersuchung an mehreren Stellen relevant. Zum einen geht es um die grundsätzliche Frage, ob das marktbezogene Recht einem Schutz materialer schaftlich auswirken, ist im Wesentlichen ideologisch. Wie Makroökonomen die Frage nach dem Effekt einer Begrenzung des Haushaltsdefizits auf das Wirtschaftswachstum beantworten, hängt von ihrer politischen Einstellung ab. Das ist kein wissenschaftlicher Bereich der Disziplin.“ Vgl. zu den unterschiedlichen Sichtweisen in Europa und Amerika auch Aiginger/ McCabe/Mueller/Weiss, Rev. Ind. Org. 19 (2001), 383 ff. 457 Wolf, Effizienzen, S. 163. 458 Hierfür reicht es aus, dass sich eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung für die Gesamtheit der Verbraucher günstig auswirkt; es kommt also nicht darauf an, dass jeder einzelne Verbraucher an den positiven Wirkungen partizipiert; vgl. EuGH v. 23.11.2006 – C-238/05, EuZW 2006, 753 Rn. 70 – Asnef-Equifax. Siehe jedoch auch von Bogdandy/Bast/ Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 9 06, 946, der zu Recht darauf hinweist, dass aus Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht automatisch die normative Verbindlichkeit eines bestimmten Konsumentenwohlfahrtstandards folge. 459 Vgl. Art. 29 FKVO sowie Kommission, Leitlinien horizontale Zusammenschlüsse, Rn. 76 ff. Zur Missbrauchskontrolle siehe EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04 P, EuZW 2007, 306 – British Airways; Kommission, Prioritätenmitteilung, Rn. 28. 460 Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, S. 35. 461 Das intendiert Art. 101 Abs. 1 AEUV; siehe Teil 5 C. II. 1. 462 Siehe Teil 5 C. II. 2.
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Selbstbestimmung oder übergeordneten Gemeinwohlzielen verpflichtet ist, die sich aus wohlfahrtsökonomischer Warte in einer Steigerung der Effizienz bezogen auf den gewählten Wohlfahrtstandard äußern. Zum anderen ist eine auf den Schutz der Selbstbestimmung verpflichtete Rechtsordnung gehalten, unternehmerisches Verhalten nicht als Datum hinzunehmen, sondern auf seine Effizienz zu überprüfen. Diesen scheinbaren Widerspruch gilt es im Folgenden aufzulösen. Grundlegend ist die Differenzierung zwischen positiver und normativer Effizienz. a) Unterscheidung zwischen positiver und normativer Effizienz Der Begriff Effizienz ist für sich genommen aufgrund unterschiedlicher Bedeutungsmöglichkeiten wenig aussagekräftig.463 In den Wirtschaftswissenschaften wird ein Verhalten dann als effizient eingestuft, wenn es ein vorgegebenes Ziel mit möglichst geringem Aufwand erreicht.464 Dabei wird zwischen statischen und dynamischen Effizienzen unterschieden.465 In der Betriebswirtschaftslehre spricht man auch vom „ökonomischen Prinzip“ oder vom „Prinzip der sparsamen Ressourcenverwendung“, das in Form des Minimal- bzw. des Maximalprinzips einen Zusammenhang zwischen Output und Input herstellt.466 Das Optimierungskalkül wird zuweilen auch als „Zweck-Mittel-Paradigma“ bezeichnet.467 Wir haben uns damit bereits im Rahmen des ökonomischen Paradigmas beschäftigt. Soweit im Schrifttum von Effizienz gesprochen wird, ist zwischen einem positiven und einem normativen Begriffsverständnis zu differenzieren: 468 In seiner positiven Form gibt das Prinzip der Effizienz die zu verfolgenden Ziele nicht vor; diese werden vielmehr kraft Wertentscheidung eingeführt, beispielsweise mit dem Als-ob-Wettbewerbsmaßstab.469 Demgegenüber beinhalten Begriffe wie allokative Effizienz ein normatives Element, indem sie zugleich das Ziel bestimmen, das mit dem effizienten Verhalten erreicht werden soll, wie die Steigerung der Gesamtwohlfahrt.470
463 FK/Pohlmann,
Art. 81 Abs. 3 EG Rn. 214; siehe auch Taupitz, AcP 196 (1996), 114, 123. Effizienz, S. 9, 13. 465 I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 942; Oberender/Böge, Effizienz und Wettbewerb, S. 131, 132. 466 Wildmann, Volkswirtschaftslehre, Mikroökonomie und Wettbewerbspolitik, S. 9 f. 467 Streissler/Streissler, VWL für Juristen, S. 5 mit Rn. 21; Kirchner, in: FS Schäfer, 2008, S. 37, 42. Ausführlich Homann, Die Interdependenz von Zielen und Mitteln, S. 1 ff. Das Zweck-Mittel-Paradigma wird auch der Jurisprudenz als Forschungsziel nahegelegt; so etwa Fleischer, ZGR 2007, 500, 502. 468 FK/Pohlmann, Art. 81 Abs. 3 EG Rn. 214. 469 Fleischer/Zimmer/dies., Effizienz, S. 9, 13. 470 Möschel, in: FS Rittner, 1991, S. 405, 414; I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 941 ff. Zum Adressatenkreis vgl. Wolf, Effizienzen, S. 163. 464 Fleischer/Zimmer/dies.,
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Rechtliche Vorschriften nehmen zuweilen direkt oder indirekt auf die Effizienz Bezug und machen sie damit zu einem juristischen Fachterminus.471 So ermöglicht Art. 101 Abs. 3 AEUV bei der Beurteilung eines Verhaltens als wettbewerbsbeschränkende Verhaltenskoordination die Berücksichtigung von Effizienzgewinnen, auch wenn von diesen dort nicht explizit die Rede ist.472 Anders ist dies bei Art. 29 FKVO, wonach Effizienzvorteile der Einstufung eines Zusammenschlusses als wettbewerbsbehindernd entgegenstehen können (sog. „efficiency defense“). Die Kommission will neuerdings – mit Billigung des EuGH – auch beim Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gem. Art. 102 AEUV eine Effizienzeinrede zulassen.473 § 31 Abs. 1 Satz 2 TKG gibt schließlich, wie wir schon gesehen haben, das für alle regulierten Sektoren dogmatisch grundlegende Konzept der „Kosten effizienter Leistungsbereitstellung“ (KeL-Konzept) wider.474 Da dem Gesetzgeber die Kompetenz zur Festlegung der mit den Vorschriften gegen Wettbewerbsbeschränkungen (einschließlich der wettbewerbsfördernden Regulierung der Netzwirtschaften) verfolgten Ziele obliegt, ist Effizienz in diesem Zusammenhang deshalb in einem positiven Sinne zu verstehen. Hiernach sind die vom Gesetzgeber gebilligten Ziele mit möglichst geringem Aufwand zu erreichen.475 Darauf ist zurückzukommen. b) Allokative (Pareto-)Effizienz Im Zentrum der (wohlfahrts-)ökonomischen Effizienzkonzepte steht die Allokationseffizienz. Auf ihr beruht auch das Gedankengebäude der ökonomischen Analyse des Rechts.476 Unter Allokation wird allgemein die Aufteilung gegebener Ressourcenbestände (Produktionsfaktoren) auf unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten verstanden.477 Eine effiziente Allokation ist dann erreicht, wenn die in einer Volkswirtschaft vorhandenen Ressourcen (zum Beispiel die Produktionsfaktoren oder die Güter) so eingesetzt werden, dass bei gegebenen Produkten und Produktionsverfahren die wirtschaftlichen Bedürfnisse der In-
471 Fleischer/Zimmer/dies., Effizienz, S. 9, 12 f., mit Beispielen aus dem Kapitalmarktrecht auf S. 18 f. 472 Bekanntmachung der Kommission, Freistellungsleitlinien, Rn. 48 ff.: „3.2 Erste Voraussetzung des Artikels 81 Absatz 3: Effizienzgewinne [. . .] Gemäß der ersten Voraussetzung von Artikel 81 Absatz 3 muss die beschränkende Vereinbarung zur Verbesserung der Waren erzeugung oder -verteilung und zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen.“ 473 Kommission, Prioritätenmitteilung, Rn. 28. Siehe zur Rechtsprechung noch Teil 5 C. III. 1. c). 474 Dazu Säcker/Busse von Colbe, Vor §§ 27 ff. TKG Rn. 2 2 ff., wonach solche Kosten ineffizient sind, die sich bei funktionsfähigem Wettbewerb nicht einstellen würden. 475 Zum Kartellverbot vgl. FK/Pohlmann, Art. 81 Abs. 3 EG Rn. 215. 476 Fleischer/Zimmer/dies., Effizienz, S. 9, 14. 477 Günter, Betriebswirtschaft, 2004, S. 18.
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dividuen optimal befriedigt werden (Pareto-Effizienz).478 Das ist der Fall, wenn die Wohlfahrt der einzelnen Individuen im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse weder durch einen anderen Einsatz der Produktionsfaktoren bei der Herstellung von Gütern noch durch eine andere Verteilung der produzierten Güter auf die Nachfrager erhöht werden kann, ohne gleichzeitig andere schlechter zu stellen. Eine solche Situation wird als pareto-optimal bezeichnet, da keine andere Güterverteilung möglich ist, durch die mindestens ein Akteur besser gestellt würde, ohne gleichzeitig einen anderen Akteur schlechter zu stellen.479 Dem Konzept der Allokationseffizienz liegt somit grundsätzlich ein Gesamtwohlfahrtstandard zugrunde.480 Von der Allokation der Ressourcen ist deren Distribution zu unterscheiden, also die Frage, wer welche Güter erhält. Das Konzept der Pareto-Effizienz macht bewusst keine Aussage über die Verteilung der Güter, weshalb auch eine extrem ungleiche und als ungerecht empfundene Verteilung pareto-effizient sein kann.481 Aus diesem Grunde werden normative Korrekturen – wie etwa durch den Konsumentenwohlfahrtstandard – diskutiert.482 c) Produktive Effizienz („economies of scale“ und „economies of scope“) Durch das Kriterium der produktiven Effizienz (Produktionseffizienz) werden unternehmens- bzw. industrieinterne Abläufe bewertet.483 Die produktive Effizienz beschreibt das Verhältnis der von den Unternehmen eingesetzten Ressourcen und deren Ausbringung.484 Es handelt sich also um ein engeres Konzept als die allokative Effizienz.485 Ebenso wie die allokative Effizienz stellt auch die produktive Effizienz ein statisches Konzept dar, das sich im Rahmen der Gleichgewichtstheorie der vollkommenen Konkurrenz definieren lässt.486 Aufgrund der Knappheit der Ressourcen ist allgemein anerkannt, dass Effizienzsteigerungen im Bereich der Produktion ein wirtschaftspolitisch wünschenswertes Ziel sind; 487 denn ein technischer Fortschritt – also die Generie478 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe,
Einl. Rn. 1054. Wolf, Effizienzen, S. 31 mit Fn. 60. 480 Der Gesetzgeber kann den Gesamtwohlfahrtstandard durch eine konsumentenbezogene Betrachtung ergänzen („korrigieren“), wie dies etwa in Art. 101 Abs. 3 AEUV der Fall ist. 481 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1054. 482 Siehe oben Teil 4 C. III. 3. e). 483 Wolf, Effizienzen, S. 30: Benchmarking für betriebswirtschaftliche Abläufe. 484 Vgl. Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, S. 7 78 ff.; Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 8. 485 Das betont Oberender/Böge, Effizienz und Wettbewerb, S. 131, 132. 486 Behrens/Braun/Nowak/Behrens, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 13, 15; I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 942. 487 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 16 f., wonach drei Ansatzpunkte für die Reduzierung der Güterknappheit in Betracht kommen: Erweiterung des Gütervolumens (Wirtschaftswachstum), Verbesserung der Güterstruktur (optimale Allokation) und Verbesserung der Güterverteilung (Verteilungsgerechtigkeit). 479
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rung dynamischer Effizienz – setzt für die Mehrzahl der Produkte technisch und betriebswirtschaftlich optimale Betriebsstätten voraus.488 Dieser Erkenntnis tragen auch die wettbewerbs- und regulierungsrechtlichen Verbotsvorschriften Rechnung, indem sie das Innehaben wirtschaftlicher Macht nicht generell untersagen, sondern diese so domestizieren, dass die Unternehmen im eigenen Interesse gehalten sind, ihren Absatz durch gute Qualität und niedrige Preise zu sichern.489 Ein einzelnes Unternehmen produziert dann effizient, wenn bei gegebener Technologie jeder Output mit dem geringstmöglichen Einsatz von Inputfaktoren erzeugt wird, bzw. umgekehrt bei einem gegebenen Einsatz von Inputgütern der größtmögliche Output hergestellt wird.490 Im Falle der einzelwirtschaftlichen Produktionseffizienz ist dies in der Regel durch die Verhaltensannahme der Gewinnmaximierung sichergestellt.491 Die produktive Effizienz wird erhöht, wenn ein Unternehmen Größenkostenersparnisse („economies of scale“) erzielen kann.492 Hiermit sind Kostenersparnisse gemeint, die bei gegebener Produktionsfunktion (Produktionstechnik) infolge konstanter Fixkosten auftreten, wenn die Ausbringungsmenge wächst, da bei wachsender Betriebsgröße die durchschnittlichen totalen Kosten bis zur sog. mindestoptimalen technischen Betriebs- bzw. Unternehmensgröße sinken (der Anteil der fixen Kosten je produzierter Einheit wird immer kleiner).493 Für die produktive Effizienz eines Unternehmens muss auch seine interne Organisationsstruktur berücksichtigt werden. Um effizient zu produzieren, müssen die Entscheidungsträger innerhalb des Unternehmens die richtigen Anreize haben, das Unternehmensziel der Gewinnmaximierung und nicht ihre eigenen, davon abweichenden Interessen zu verfolgen (luxuriöse Büroausstattung oder teuere Dienstwagen).494 Solche und ähnliche Ursachen für Produktionsineffizienzen werden in den Wirtschaftswissenschaften auch mit dem Begriff der „X-Ineffizienz“ bezeichnet.495 Bei kooperierenden Unternehmen kann sich die produktive Effizienz auch auf die Verteilung der Produktion zwischen den Unternehmen beziehen.496 Wenn steigende Skalenerträge vorliegen, kann ein Zusammenlegen der Produktion eines Gutes durch zwei verschiedene Unternehmen die Produktionseffizi-
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Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. 490 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1055. 491 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1055. 492 Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 141. 493 Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Economies of Scale. 494 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1055. 495 Leibenstein, AER 56 (1966), 392 ff.; dazu I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 120 ff.; ders., in: FS Säcker, 2011, S. 939, 944. 496 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1055. 489
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enz erhöhen. 497 Dasselbe gilt, wenn Verbundvorteile („economies of scope“) vorliegen, indem mehrere Güter in einem einzigen Unternehmen wegen des Vorliegens von Synergieeffekten mit weniger Inputs hergestellt werden können als von mehreren Unternehmen. In diesem Fall wäre die gemeinsame Produktion in mehreren Unternehmen ineffizient.498 Gesamtwirtschaftlich sind die Produktionskosten minimal, wenn für die Herstellung eines oder mehrerer Produkte die jeweils beste Technologie eingesetzt wird.499 Die Pareto-Effizienz einer Allokation (die allokative Effizienz) impliziert, dass auch die produktive Effizienz gegeben ist.500 Ansonsten könnte man durch eine Reallokation der Ressourcen im Produktionsbereich Inputs einsparen und trotzdem die gleiche Menge an Outputs herstellen. Die eingesparten Inputs könnten sodann dazu verwendet werden, weitere Güter herzustellen, die hiernach den Konsumten zur Verfügung stünden, weshalb mindestens ein Konsument besser gestellt werden könnte, ohne dass ein anderer schlechter dastünde. Die ursprüngliche Situation wäre hier also ineffizient, da eine bessere Alloka tion möglich wäre. Wenn von allokativer Effizienz gesprochen wird, wird also zumeist die produktive Effizienz mit einbezogen. d) Dynamische Effizienz (Innovationen) aa) Herausragende wettbewerbstheoretische Relevanz In der neueren wirtschaftswissenschaftlichen Forschung ist anerkannt, dass der technische Fortschritt in Form neuer Produkte und Produktionstechnologien der wohl wichtigste Faktor für die langfristige Steigerung des Wohlstands ist.501 Bei der allokativen und der produktiven Effizienz handelt es sich jedoch um statische Konzepte, weshalb Veränderungen der Technologien, des Know-hows oder der Industriestrukturen nicht erfasst werden.502 Demgegenüber will das Konzept der „dynamischen Effizienz“503 die Entwicklung der Wirtschaft über bestimmte Zeitspannen hinweg ermitteln, im Sinne von Effizienzvergleichen unterschiedlicher Prozesse.504 Es ist von sog. intertemporalen Modellen zu unterscheiden, die – obwohl sie mehrere oder sogar unendlich viele Perioden um497 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe,
Einl. Rn. 1055. Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 8 ; I. Schmidt/A. Schmidt, Europäische Wettbewerbspolitik, S. 31 f.; I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 128 f. 499 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1055. 500 Zum Folgenden siehe Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 49. 501 So MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. 1048. Es existiert deshalb auch ein breiter Konsens, dass die Innovation und Diffusion neuer Produkte und Technologien zu den wesentlichen Funktionen des Wettbewerbs gehört, vgl. a. a. O. Rn. 1025; grundlegend Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, S. 88 ff. 502 Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 9. 503 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1030: die dynamische Effizienz bezwecke die Generierung und Verbreitung von Innovationen. 504 Kirchner, in: FS Ingo Schmidt, 1997, S. 33, 41. 498
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fassen können – ihrer Natur nach statisch sind.505 Statisch bedeutet insoweit, dass alle Akteure zu Beginn einer Periode ihre Entscheidungen für die Zukunft treffen, weshalb es weder notwendig noch sinnvoll noch möglich ist, in einer späteren Periode etwas an den Entscheidungen zu ändern. Eine dynamische Betrachtung zeichnet sich im Gegensatz zu einer statisch-intertemporalen Betrachtung durch ihren Prozesscharakter aus, da auch neue Produkte, Prozesse und Organisationsformen betrachtet werden, die zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung noch nicht – auch nicht wahrscheinlichkeitstheoretisch – vorhersehbar sind.506 Dynamik ist in diesem Sinne also durch ein „Bewegungsgesetz“ sowie durch evolutionäre Entwicklungen gekennzeichnet.507 bb) Begrenzte modelltheoretische Erfassbarkeit Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass die dynamische Effizienz in der Wohlfahrtstheorie nicht dieselbe modelltheoretische und praktische Bedeutung wie die Konzepte der Allokations- und Produktionseffizienz hat.508 Das liegt zum einen daran, dass die Entwicklung der ökonomischen Theorie durch statische Gleichgewichtsmodelle geprägt war, in denen die Entstehung neuer Produkte und Produktionsprozesse ausgeschlossen wird; denn sowohl im Modell des vollkommenen Wettbewerbs als auch in der Theorie des allgemeinen Gleichgewichts mit dem Resultat einer effizienten Allokation der Ressourcen wird von gegebenen Produkten und Technologien ausgegangen, weshalb die Dimension des technischen Fortschritts ausgeblendet wird.509 Zwar könnte man den Wirtschaftsprozess per definitionem als dynamisch effizient ansehen, wenn Veränderungen im Zeitablauf mit der gesellschaftlich optimalen Rate stattfinden, mit anderen Worten, wenn die zusätzlichen Kosten einer weiteren Investition in Forschung und Entwicklung genauso groß sind wie der erwartete zusätzliche Ertrag aus einer solchen Investition.510 Es hat sich jedoch gezeigt, dass es wegen der hohen Ungewissheiten, die mit der Suche nach „neuem Wissen“ und speziell mit Investitionen in Forschung und Entwicklung verbunden sind, schwierig zu ermitteln ist, ob sich der Wirtschaftsprozess in dynamisch effizienter Weise vollzieht.511 So haben sich die viel diskutierten sog. Neo-Schumpeter-Hypothesen im Sinne abstrakt-genereller Bedingungen für ein innovations505 Die Darstellung orientiert sich an Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 66 ff. sowie – zur intertemporalen Effizienz – S. 61 f. 506 Siehe zur Wettbewerbstheorie von Hayeks noch Teil 4 C. V. 2. 507 Vgl. neben den Vorstehenden Kirchner, EuR-Bei 2011, 103, 115: Bei der dynamischen Effizienz gehe es nicht um den Vergleich verschiedener Zustände des Wettbewerbs, sondern um den Wettbewerbsprozess als solchen. 508 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1056 mit Fn. 117; von Bogdandy/Bast/Drexl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 9 05, 937 f. 509 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1056. 510 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1056. 511 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1025; Vahlens Kompendium/
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freundliches Klima (wie die Unternehmensgröße oder die Konzentration eines Marktes) nach empirischen Untersuchungen als nicht hinreichend aussagekräftig erwiesen.512 Die Bevorzugung statischer Effizienzanalysen durch die Ökonomie liegt somit nicht allein in dem Umstand begründet, dass sie dynamische Effizienzen für weniger wichtig erachtet, sondern auch darin, dass diese nach aktuellem Stand der Forschung noch nicht so quantifizierbar sind wie statische Effizienzen,513 auch wenn insoweit in den letzten Jahren gewisse Fortschritte gemacht wurden. Auch die spieltheoretisch fundierten Fusions-Simulationsmodelle können aufgrund der modellhaften Abbildung des Marktes und des Fehlens geeigneter Daten dynamische Aspekte wie die Repositionierung von Produkten durch Konkurrenten, Investitionen oder Marktzutritte bislang nicht adäquat abbilden.514 cc) Dynamische Effizienz und Marktmacht Vor diesem Hintergrund kann es im Rahmen wohlfahrtsökonomischer Ana lysen zu einem Widerspruch zwischen der Verfolgung statischer und dyna mischer Effizienz kommen; 515 denn es liegt nahe, dass Unternehmen für die dynamische Effizienz jedenfalls über ein gewisses Maß an zeitlich begrenzter Marktmacht verfügen müssen, da kompetitive Monopolgewinne eine wichtige Funktion als Investitions- und Innovationsanreize haben.516 Diese Erkenntnis ist auch für die Privatrechtstheorie von grundlegender Bedeutung, da wirtschaftliche Macht hiernach nicht per se gut oder schlecht ist, sondern ein ambivalentes Phänomen darstellt, das einer rechtlichen Regulierung zu unterwerfen ist, um die positiven Effekte zu fördern und die negativen Effekte zu verhindern.517 Letzteres ist der Fall, wenn sich eine zeitweilig gerechtfertigte wirtschaftliche Machtposition durch ausbleibenden nachstoßenden Wettbewerb, also durch fehlende Imitation oder durch Behinderungspraktiken des marktmächtigen Unternehmens verfestigt und so als antikompetitiv zu bewerten ist.518
Kerber, S. 369, 390 f.; zur Fusionskontrolle Oberender/Schwalbe, Effizienz und Wettbewerb, S. 63, 79 ff.; Oberender/Böge, a. a. O., S. 131 ff. 512 MünchKommEUWettbR/Kerber/Schwalbe, Einl. Rn. 1031; I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 134 ff. 513 Budzinski, „Wettbewerbsfreiheit“ und „More Economic Approach“, S. 13. 514 Böge, WuW 2004, 726, 732; Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, S. 265; I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 945. Zur Spieltheorie siehe noch unten Teil 4 C. IV. 2. b) und Teil 4 D. III. 1. 515 Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 388. 516 Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 387; I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 942. 517 Säcker, JJZ 2013, S. 9, 12. 518 Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 387 f.
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e) „Längerfristige“ Betrachtung von Marktprozessen versus „kurzfristiger“ Schutz vor Ausbeutung Die praktischen Schwierigkeiten bei der Ermittlung dynamischer Effizienzen entbinden nicht davon, diese im Rahmen – normativer, nicht praktischer – Marktanalysen angemessen zu berücksichtigen.519 In den Wirtschaftswissenschaften ist streitig, wie dies zu geschehen hat. Hingewiesen sei etwa auf die Theorie dynamischer Spiele.520 Aus ordnungsökonomischer Sicht sollte die Wettbewerbspolitik insgesamt nicht an kurzfristigen Effizienzen ausgerichtet werden, da es nicht ihr Ziel sein kann, Effizienzgewinne zu Lasten der langfristigen Verbraucherwohlfahrt zu generieren. Geboten ist vielmehr eine dauerhafte Betrachtungsweise, im Rahmen derer der Schutz des Wettbewerbsprozesses und der diesen konstituierenden individuellen Freiheiten im Vordergrund steht.521 So scheidet bei einer dynamischen Betrachtung die Bewertung eines bestimmten Innovationsergebnisses als gut oder schlecht aus, da der Wettbewerb ein Prozess mit ungewissem Ausgang ist.522 Es ist deshalb bereits der Wettbewerbsprozess an sich schützenswert, und das gerade in längerfristiger Hinsicht.523 Dies ist ein wesentlicher Gesichtspunkt moderner Workable-competition-Theorien, die den Schutz einer kompetitiven Marktstruktur sowie ergänzend eine am Als-ob-Wettbewerbsgrundsatz ausgerichtete Verhaltenskon trolle ins Zentrum ihrer Analysen stellen; denn eine längerfristige Betrachtung darf nicht – wie dies im Rahmen der Diskussionen um die Schaffung einer energiesektorspezifischen Preiskontrollvorschrift in § 29 GWB geschehen ist 524 – als Rechtfertigung dazu dienen, die Verbraucher kurzfristig auszubeuten. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich trotz erheblicher Forschungsanstrengungen bislang noch keine überwiegend anerkannte Innovationstheorie herausbilden konnte.525 Allerdings lassen sich näherungsweise einige Aussagen über die Funktionsfähigkeit eines Innovationsprozesses treffen.526 Im Zentrum steht das Setzen von Investitions- und Innovationsanreizen durch langfristige Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbsdrucks, was nach derzeitigem Stand der Erkenntnis vornehmlich durch die Sicherung einer offenen Marktstruktur erreicht werden kann.527 Das Konzept der dynamischen Ef519
Budzinski, „Wettbewerbsfreiheit“ und „More Economic Approach“, S. 13. Effizienz, S. 43, 67. 521 So A. Schmidt, ORDO 59 (2008), 209, 226 f.; siehe auch S. 230. 522 I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 942; vgl. auch von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3 ff. 523 Wolf, Effizienzen, S. 266 f. 524 Dazu Teil 5 C. IV. 525 I. Schmidt, ECLR 28 (2007), 408; Vahlens Kompendium/Kerber, S. 369, 389. 526 Weiterführend Wolf, Effizienzen, S. 304 ff. 527 Oberender/Böge, Effizienz und Wettbewerb, S. 131, 133; I. Schmidt, in: FS Säcker, 2011, S. 939, 945. 520 Fleischer/Zimmer/Schwalbe,
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fizienz lässt sich somit bis zu einem gewissen Grade mit dem privatrechtlichen Konzept eines Schutzes realer wirtschaftlicher Selbstbestimmung vor Ausbeutung in Einklang bringen; denn eine derartige Ausbeutung liegt nicht vor, wenn einem Unternehmen durch die Gewährung von zeitweiligen Monopolrenten finanzielle Anreize für eine effiziente Investitions- und Innovationstätigkeit gesetzt werden, die im Erfolgsfall langfristig den Verbrauchern zugute kommen. 5. Anwendung der Effizienzkonzepte auf die Analyse von Märkten (Neoklassische Preistheorie) Aus dem Blickwinkel der neoklassischen Wettbewerbstheorie ist wirtschaftliche Marktmacht die Fähigkeit eines Anbieters, die Preise durch Reduzierung der Angebotsmenge über das Niveau wie bei vollkommener Konkurrenz zu heben und dadurch antikompetitive Gewinne zu erzielen, die bei wirksamem Wettbewerb nicht möglich wären.528 Wie wir noch sehen werden, ist diese allgemeine Definition für die Identifikation eines Missbrauchs wirtschaftlicher Macht durch Ausbeutung des Vertragspartners immer noch bedeutsam. Blicken wir aber zunächst in der gebotenen Konzentration auf die wesentlichen Aussagen der Preistheorie. a) Pareto-Effizienz und Marktwirtschaft Wie wir schon gesehen haben, beschreibt das Konzept der Pareto-Effizienz ein effizientes Verhalten in einem allgemeinen Rahmen, ohne auf die Organisation der Volkswirtschaft abzustellen, etwa als Zentralverwaltungs- oder als Marktwirtschaft.529 Demgegenüber fragt die „Theorie des allgemeinen Gleichgewichts“, unter welchen Voraussetzungen eine Marktwirtschaft, in der Güter auf Märkten gehandelt werden und jedes Gut einen Preis hat, pareto-optimale Ergebnisse erzielt (Preistheorie).530 Sie kann aufzeigen, dass in einer marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft unter bestimmten – allerdings sehr restriktiven 531 – Voraussetzungen ein Zustand existiert, in dem alle Haushalte bei den gegebenen Preisen ihren Nutzen maximieren,532 alle Unternehmen ihren Gewinn maximieren und zugleich auf allen Märkten Angebot und Nachfra528
Wurmnest, Verdrängungsmissbrauch, S. 133. Siehe oben Teil 4 C. III. 3. c). Die nachfolgende Darstellung orientiert sich an Fleischer/ Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 52 ff. 530 Grundlegend sind Arbeiten von Debreu, Arrow und McKenzie, vgl. Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 52 mit Fn. 13. 531 Unter Anwendung von Ceteris-Paribus-Klauseln werden bis auf einen oder wenige Faktoren alle anderen Einflussgrößen konstant gesetzt; vgl. Fehling/Ruffert/Leschke, Regulierungsrecht, S. 281, 284. 532 Wobei unterstellt wird, dass die Haushalte nicht mehr ausgeben, als sie an verfügbarem Einkommen haben. 529
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ge übereinstimmen.533 Demgemäß sind hier die Pläne aller Wirtschaftsteilnehmer miteinander vereinbar, weshalb jeder Konsument diejenigen Waren beziehen kann, die seinen Präferenzen und seinem Einkommen entsprechen, und kein Unternehmen seine Waren nicht veräußert bekommt (Wettbewerbsgleichgewicht, allgemeines Gleichgewicht). Sind die restriktiven Voraussetzungen des Modells erfüllt, so liegt ein allgemeines Gleichgewicht vor, das zugleich pareto-effizient ist. Dies wird – wie wir bereits oben gesehen haben – auch als erster Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie bezeichnet.534 Damit wird jedoch noch keine Aussage über eine „faire“ oder „gerechte“ Verteilung der Güter getroffen. Hier greift der zweite Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomie ein, wonach jede pareto-effiziente Allokation als Wettbewerbsgleichgewicht erreicht werden kann, sofern die entsprechenden Umverteilungen im Hinblick auf die Startbedingungen der Marktteilnehmer erfolgen. Hierin liegt zugleich die Aussage, dass es nicht geboten ist, die marktwirtschaftliche Organisation aufzugeben, sondern dass ein System von Wettbewerbsmärkten bei entsprechender Reorganisation der Anfangsausstattungen in der Lage ist, jede pareto-effiziente Allokation zu erreichen. Das Pareto-Kriterium selbst ist wie erläutert hinsichtlich der konkret gewünschten Verteilung indifferent. Hierzu stehen verschiedene Kriterien zur Auswahl: neben dem bereits behandelten Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium auch sog. soziale Auswahlregelungen535 sowie die bereits behandelten Wohlfahrtsfunktionen.536 Diese beruhen jeweils auf einer Wertentscheidung, welche die Ökonomie nicht selbst herleiten kann.537 Aus zivilistischer Sicht begründen sie folglich keine durchgreifenden Einwände gegen ein Konzept materialer Selbstbestimmung.
533
Siehe Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 49 f. Das formale Fundament der neuen Wohlfahrtstheorie wurde insbesondere von Arrow gelegt (Arrow, Social Choice and Individual Values, S. 22 ff.). 535 Durch die sog. sozialen Auswahlregeln werden die Präferenzordnungen der Individuen zu einer gesellschaftlichen Präferenzordnung aggregiert. Die gesellschaftlich präferierte Alternative wird als pareto-optimal angesehen. Diskutiert werden verschiedene soziale Auswahlregeln wie die Mehrheitsregel, die diktatorische Auswahlregel oder die „Paretianische Auswahlfunktion“, vgl. Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 56. 536 Die bekanntesten Beispiele sind die utilitaristischen Nutzenfunktionen sowie die Rawls´sche Nutzenfunktion, vgl. Fleischer/Zimmer/Schwalbe, Effizienz, S. 43, 56. 537 Arrow (Social Choice and Individual Values, S. 2 2 ff.) hat nachgewiesen, dass es unter der Annahme bestimmter Mindestbedingungen an die Regelfindung nicht möglich ist, eine soziale Auswahlregelung zu formulieren, die zu einer konsistenten (transitiven) gesellschaftlichen Präferenzordnung führt (sog. „Arrow-Unmöglichkeitstheorem“). Das Theorem formuliert somit die Grenzen der Wohlfahrtsfunktionen, sofern man keine kardinale Nutzenmessung und interpersonellen Vergleiche vornimmt. Dazu ausführlich Söllner, Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 107 ff. Siehe auch Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 29 ff., wonach die Bedeutung des Arrow-Unmöglichkeitstheorems darin liege, dass es die Wertungsabhängigkeit jeder Kollektiventscheidungsregelung aufzeige, die eine Rangordnung sozialer Zustände herstellen will. 534
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b) Vollkommene Konkurrenz als Situation ohne Ausbeutungspotenzial Im Mittelpunkt des neoklassisch-statischen Modells der vollkommenen Konkurrenz steht eine graphische Darstellung der Preiskurve, die in ihrer Grundform aus zwei sich schneidenden Kurven von Angebot und Nachfrage besteht.538 Diese basiert auf der Vorstellung, dass eine Volkswirtschaft aus vielen kleinen und mittleren Anbietern und Nachfragern bestehe.539 Auf dieser Grundlage habe der einzelne Marktteilnehmer keinen Einfluss auf den Marktpreis (keine „wirtschaftliche Macht“), weshalb er sich nur als sog. Mengenanpasser betätigen könne. Für das Marktverhalten dieser Mengenanpasser wurde im Rahmen der Marktstruktur des zweiseitigen Polypols (atomistische Markstruktur mit vielen Anbietern und Nachfragern) ein Modell gesucht, wonach diese ihre Entscheidungen ausschließlich am vorgegebenen Marktpreis orientieren. Anderweitige Entscheidungsparameter wie Qualität, Standort, Lieferzeit oder etwa persönliche Präferenzen wurden deshalb ausgeklammert.540 Das auf dieser Grundlage entwickelte Modell der vollkommenen Konkurrenz541 hat grundsätzlich folgende Prämissen: 542 Homogene Güter ohne Qualitätsunterschiede oder Produktdifferenzierungen, alle Marktteilnehmer handeln mit feststehenden Präferenzen, die Märkte sind vollständig transparent,543 es besteht eine unendlic