Die Liebe zum Kind: Generationale Beziehungen im Spannungsfeld von strukturaler Psychoanalyse, Pädagogik und Geschlechtertheorie 9783839463550

Die Liebe zum Kind ist ein theoretisch wenig beleuchteter Gegenstand. Mit der Psychoanalyse Jacques Lacans kann diese Li

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Die Liebe zum Kind: Generationale Beziehungen im Spannungsfeld von strukturaler Psychoanalyse, Pädagogik und Geschlechtertheorie
 9783839463550

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Liebe als Thema der Pädagogik
Einleitung
1.1 Das Kind als Objekt der Pädagogik
1.2 Emotionale Verflechtungen: Eine pädagogische Liebe
1.3 Von der Liebe als Ideal zur Liebe als Struktur bei Freud
1.4 Freuds Erbe: Todestrieb und Gesellschaft bei Lacan
1.5 Eine pädagogische Liebe: Vorgehen der Arbeit
2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen
Einleitung
2.1 Das Subjekt als Unterworfenes
2.2 Der doppelte Irrtum in der Unterwerfung
2.3 Das Begehren und das Phantasma
2.4 Liebe als Metapher
2.5 Liebe und die Würde des Subjekts
2.6 Schluss: Die Liebe, das Sexuelle und die Pädagogik
3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind
Einleitung
3.1 Lacan liest Marx: Vom Mehrwert zum Mehrgenießen
3.2 Das Wissen als Mittel des Genießens
3.3 Die postödipale Autorität und das neue Über-Ich
3.4 Die Liebe zum Begründerkind
3.5 Das pädagogische Erbe des Herren
3.6 Schluss: Ein pädagogisches Selbstverhältnis
4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis
Einleitung
4.1 Es gibt kein Geschlechtsverhältnis
4.2 Die Formeln der Sexuierung: Hochstapelei und Maskerade
4.3 Hysterisches Genießen: Die weibliche Beziehung zum Phallus
4.4 Jenseits des Phallus: Das Genießen des Triebs und S(Ⱥ)
4.5 Schluss: Das gefährliche Genießen der Mutter
5. Mutterliebe und die Zärtlichkeit der Analytikerin
Einleitung
5.1 Subjekt und Familie
5.2 Vater und Mutter im Kastrationskomplex
5.3 Das Problem des mütterlichen Begehrens
5.4 Die Zärtlichkeit der Analytikerin
5.5 Jenseits des Phantasmas
6. Ausblick: Generationalität und Trauer
Abgekürzt zitierte Werke
Literaturverzeichnis
Danksagung

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Marianne Dolderer Die Liebe zum Kind

Psychoanalyse

Marianne Dolderer studierte Musik, Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Hochschule für Musik und Theater und der Universität Leipzig. Gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung promovierte sie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie interessiert sich für ästhetische Theorie, feministische Psychoanalyse und pädagogische Philosophie.

Marianne Dolderer

Die Liebe zum Kind Generationale Beziehungen im Spannungsfeld von strukturaler Psychoanalyse, Pädagogik und Geschlechtertheorie

Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät III der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Inhalt

Einleitung .................................................................................7 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Liebe als Thema der Pädagogik ....................................................13 Das Kind als Objekt der Pädagogik ................................................... 16 Emotionale Verflechtungen: Eine pädagogische Liebe................................ 26 Von der Liebe als Ideal zur Liebe als Struktur bei Freud .............................. 38 Freuds Erbe: Todestrieb und Gesellschaft bei Lacan ................................. 48 Eine pädagogische Liebe: Vorgehen der Arbeit ...................................... 54

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen ................................... 69 Das Subjekt als Unterworfenes ..................................................... 73 Der doppelte Irrtum in der Unterwerfung ............................................ 84 Das Begehren und das Phantasma .................................................. 95 Liebe als Metapher ................................................................. 114 Liebe und die Würde des Subjekts.................................................. 130 Schluss: Die Liebe, das Sexuelle und die Pädagogik ..................................142

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind ................................149 Lacan liest Marx: Vom Mehrwert zum Mehrgenießen ................................ 160 Das Wissen als Mittel des Genießens ................................................172 Die postödipale Autorität und das neue Über-Ich ....................................178 Die Liebe zum Begründerkind ...................................................... 189 Das pädagogische Erbe des Herren .................................................196 Schluss: Ein pädagogisches Selbstverhältnis ....................................... 208

4. 4.1 4.2 4.3 4.4

Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis............................... 217 Es gibt kein Geschlechtsverhältnis ..................................................221 Die Formeln der Sexuierung: Hochstapelei und Maskerade .......................... 229 Hysterisches Genießen: Die weibliche Beziehung zum Phallus ....................... 244 Jenseits des Phallus: Das Genießen des Triebs und S(Ⱥ) ............................ 257

4.5 Schluss: Das gefährliche Genießen der Mutter ...................................... 272 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Mutterliebe und die Zärtlichkeit der Analytikerin ................................ 277 Subjekt und Familie................................................................ 285 Vater und Mutter im Kastrationskomplex ........................................... 292 Das Problem des mütterlichen Begehrens .......................................... 302 Die Zärtlichkeit der Analytikerin.....................................................316 Jenseits des Phantasmas.......................................................... 338

6.

Ausblick: Generationalität und Trauer ........................................... 347

Abgekürzt zitierte Werke .............................................................. 363 Literaturverzeichnis ................................................................... 365 Danksagung ............................................................................ 383

Einleitung Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein. Das hab ich auserkoren, sein eigen will ich sein. Eia, eia, sein eigen will ich sein.   In seine Lieb versenken will ich mich ganz hinab; mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab. Eia, eia, und alles, was ich hab.   O Kindelein, von Herzen dich will ich lieben sehr in Freuden und in Schmerzen, je länger mehr und mehr. Eia, eia, je länger mehr und mehr. Friedrich Spee (Gotteslob 239.)

In dem Lied »Zu Bethlehem geboren« von Friedrich Spee, das vermutlich im frühen 17. Jahrhundert entstanden ist, wird eine innige Liebe besungen, die das lyrische Ich ganz für sich einnimmt: Für seine Liebe gibt es sein Herz, alles, was es hat, ja, es will gar selbst dem geliebten Objekt »eigen« sein. Die Liebe trägt durch Freuden und Schmerzen, ist also durch nichts anfechtbar, sie ist ewig und nimmt mit der Zeit sogar noch zu. Wenn sich das Ich in diese Liebe versenkt, gibt es sich meditativ selbst auf, zugleich klingt in dieser Formulierung auch Selbstfindung, ja, Erlösung an. Diese hingebungsvolle Liebe gilt nicht – wie in Liebeslyrik üblich – einem potentiellen sexuellen Partner, meist der wunderschönen Frau, die alle Vorzüge ihres Geschlechts auf sich vereint. Nein, sie gilt einem Kind, einem ohnmächtigen, zap-

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Die Liebe zum Kind

pelnden Säugling, einem winzigen Neugeborenen. Wenn sich der oder die Liebende also ganz dem geliebten Objekt hingibt, unterwirft sich der oder die Mächtigere dem Machtlosen. Diese Vertauschung der Machtpositionen könnte man im Rahmen einer christlichen Umwertung der Werte deuten, wie sie Nietzsche der Sklavenmoral des Monotheismus unterstellt, denn sie befindet sich in einem Kontext, in dem die Armen, Machtlosen, Schwachen generell eine Aufwertung erfahren (vgl. Nietzsche 1988 [1886]). Das besungene Kind hat dabei eine besondere Stellung: Es ist die Inkarnation des Göttlichen: der Gottessohn, in dem der Mächtigste sich im Ohnmächtigen zeigt. Dass jedoch ausgerechnet das »Kindelein« geeignet ist, die Position als Liebesobjekt zu füllen, mag mit seiner Stellung in der Moderne zusammen hängen. Phillipe Ariès spricht von einer »Entdeckung« der Kindheit (Ariès 1985 [1978]): In Darstellungen der Kunst und in der Literatur wird aus dem kleinen, unvollkommenen Erwachsenen des Mittelalters eine Gestalt, deren kindliche Merkmale ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Neben dem Jesuskind betreten zahlreiche Putten die Bilderwelt; die Kindlichkeit ist auch losgelöst vom Gottessohn und dem Wunder der Fleischwerdung etwas, das Aufmerksamkeit verdient. Dabei spiegelt sich im Kind etwas, das für die Moderne zentral wird: die menschliche Unbestimmtheit, die das Subjekt aus seiner traditionellen Stellung in der Welt heraushebt. Diese Unbestimmtheit liegt in jedem Kind, das als Neuanfang das ganz Andere, die Überschreitung von allem bisher da Gewesenen verspricht. So ist das Wunder des Kindes als unbestimmtem Neuanfang am besten geeignet das christliche Wunder der Menschwerdung Gottes zu bebildern. Wenn das zärtliche Wiegenlied Friedrich Spees zirka zweihundert Jahre später als »Die Blümelein, sie schlafen« zum weltlichen Schlaflied wird, das dann tatsächlich mit verliebtem Blick zum Kind im Arm gesungen werden kann, bleibt das abstrakte Kind in dieser intimen Situation präsent. Das »Kindelein« ist eine bedeutsame imaginäre Figur, ohne die der liebende Blick nicht zu denken ist. Das spezifische Verhältnis von Liebendem und »Kindelein«, in dem dem liebenden Erwachsenen in einer Situation des Machtungleichgewichts die eigene Unbestimmtheit begegnet, macht die Liebe besonders und abstrahierbar von jeder konkreten Beziehung. Deshalb lässt sich die Liebe zum Kind als ein eigener Liebestypus verstehen, der sich beispielsweise von der »romantischen« Liebe, also der Liebe zwischen sexuellen Partnern, unterscheidet. Obwohl diese Liebe gegenwärtig eine enorme Bedeutung hat, hat sie anders als etwa die romantischen Liebe, die Freundschaft oder die Nächstenliebe wenig theoretische Beachtung erfahren. Diese Lücke will die folgende Arbeit schließen und die Liebe zum Kind mit Hilfe dreier Zugänge beschreiben, die sich aus ihrer jeweiligen Perspektive mit der Liebe beschäftigen und sich wechselseitig ergänzen: der Pädagogik, der (strukturalen) Psychoanalyse und der (psychoanalytischen) Geschlechtertheorie.

Einleitung

Pädagogik Das Kind als imaginäre Figur lässt sich nicht losgelöst von der Pädagogik betrachten. Die Pädagogik entsteht als eine Wissenschaft in der Moderne, als der Mensch den Halt in letzten Gründen verliert und seine eigene Unbestimmtheit entdeckt. Die Pädagogik widmet sich der Fragestellung, wie dieser Unbestimmtheit des Menschen zu begegnen ist. Im Kind findet diese ihren Ort; im Kind entdeckt die Pädagogik all das, was dem Menschen möglich ist und was das bisher Dagewesene übersteigt. Das Kind ist als imaginäre Figur also zutiefst mit der Pädagogik verstrickt. Das bedeutet auch, dass eine spezifische Liebe zum Kind nicht ohne Pädagogik zu denken ist und nicht aus diesem historischen Zusammenhang gelöst werden darf. Zugleich ist die Liebe zum Kind auch für die Reflexion der Pädagogik selbst von Bedeutung. Es ist anzunehmen, dass die Liebe zum Kind mit all ihrer verführerischen Macht in jeder pädagogischen Interaktion eine Rolle spielt. Deshalb ist es für Pädagoginnen und Pädagogen wichtig, über die Liebe zum Kind und ihrem Verhältnis zu ihrer Tätigkeit nachzudenken. Aber in welchem Verhältnis steht die Liebe zum Kind und die Pädagogik? Dieser Frage wird sich das erste Kapitel widmen und drei mögliche Verhältnisse erörtern: Zum einen könnte Liebe als eine »Grenze der Erziehung« im Sinne Bernfelds (Bernfeld 1973 [1925]) verstanden werden, die als irrationales Element jedes zielgerichtete Handeln torpediert. Diese Vorstellung hätte zur Folge, dass Liebe zu überwinden wäre, beispielsweise indem Übertragungen und Idealisierungen analysiert und abgelegt werden, indem sich Pädagoginnen und Pädagogen um einen fruchtbareren Einsatz ihrer Libido kümmern und ihr pädagogisches Handeln davon frei halten. Zum zweiten könnte Liebe gerade das sein, was die Unmöglichkeit zielgerichteten Handelns in der Pädagogik überbrückt (vgl. z.B. Nohl 1988 [1933/35]). Wenn wir davon ausgehen, dass Pädagoginnen und Pädagogen weder über ihr Objekt verfügen, noch einen letzten Grund haben, aus dem sie ihr Handeln begründen können, haben sie es mit einer doppelten Unmöglichkeit zu tun, in der der Liebe eine vermittelnde Funktion zukommen könnte. Liebe in diesem Sinne wäre dann die Voraussetzung jedes pädagogischen Wirkens; Pädagoginnen und Pädagogen müssten sich vor allem anderen fragen, wie ihnen eine Liebe zu ihren Zöglingen gelingen kann. Liebe wäre dann etwas Verfügbares und gleichbedeutend mit einem Gelingen von Pädagogik. Während die erste Verhältnisbestimmung von der Möglichkeit einer Pädagogik ohne irrationale Interferenzen ausgeht und die vielfältigen Paradoxien der Pädagogik für auflösbar hält, macht sich die zweite die Liebe selbst verfügbar, um der Unverfügbarkeit der Pädagogik zu begegnen. Wie aber könnte eine dritte Verhältnisbestimmung aussehen, die weder die Unmöglichkeit der Pädagogik zu überwinden glaubt, noch Liebe zu einer ambivalenzfreien Haltung vereinfacht? An diese Frage

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Die Liebe zum Kind

kann die Psychoanalyse anknüpfen, die Liebe in ihrer Ambivalenz zu beschreiben versucht. Psychoanalyse Theorien der Liebe laufen Gefahr, ihren Gegenstand auf das rationales Interesse eines psychologisierten Subjekts zu reduzieren, und verfehlen damit ihren irrationalen Kern. Gerade dieser Kern ist aber für eine Pädagogik, die an Selbstaufklärung interessiert ist, relevant. Die Psychoanalyse Freuds stellt diesen ins Zentrum ihrer Überlegungen. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich Menschen nicht ihren rationalen Interessen entsprechend verhalten, entwickelt sie nicht nur eine Theorie der Psyche als unauflösbarem Konflikt, sondern mit dem Begriff des Sexuellen und des Triebs auch die Vorstellung eines Genießens, das nicht identisch ist mit dem Erreichen eines Ziels. Jacques Lacan formuliert diesen Gedanken sprach- und subjekttheoretisch neu zu einer strukturalen Theorie des dezentrierten, begehrenden Subjekts. Diese Theorie des Subjekts soll im zweiten Kapitel Ausgangspunkt einer Theorie der Liebe werden, die der Ambivalenz von Scheitern und Genießen gerecht wird. Um die Liebe vom Begehren abgrenzen zu können, wird das Kapitel zunächst grundlegende Begriffe Lacans einführen und diese besonders vor dem Hintergrund von Lacans Theorem der vier Diskurse neu interpretieren, denn diese sind eine Systematisierung, die bei der Abgrenzung und Verhältnisbestimmung von Begehren und Liebe hilfreich ist. Mit dieser Bestimmung lassen sich die Idealisierungen, das Spiel mit Täuschung und Enttäuschung, aber auch die scheinbare Selbstlosigkeit der Liebe besser verstehen. So ermöglichen Lacans Theoreme Pädagoginnen und Pädagogen ein neues Nachdenken über ihre Tätigkeit und die eigene emotionale Verstrickung in diese. Zugleich kann die pädagogische Selbstreflexion für die Psychoanalyse fruchtbar werden. Das dritte Kapitel stellt die zuvor entwickelte Liebestheorie in den Kontext von Lacans Historisierung der Psychoanalyse und fragt nach ihrer geschichtlichen Stellung. Lacan konstatiert angesichts des zunehmenden Verfalls traditioneller Autoritäten eine neue Ordnung, die nicht mehr durch das ödipale Modell der Psychoanalyse eingefangen werden kann. In der »postödipalen« Ordnung gibt es kein verbietendes Über-Ich mehr, sondern eines, das zum Genießen auffordert, so dass ein zentraler psychischer Konflikt – der zwischen dem verbietenden Über-Ich und dem Befriedigung fordernden Es – in sich zusammenfällt. Damit verlieren zentrale Konzepte der Psychoanalyse ihre Aktualität, die oft a-historisch argumentierende Psychoanalyse muss sich ihrer Geschichtlichkeit stellen, Begehren und Liebe werden zu historischen Phänomenen. Lacans Historisierung der Psychoanalyse ist ein unabgeschlossenes Projekt und lässt viele Fragen offen. Mit der Pädagogik lässt sich jedoch an diesen offenen En-

Einleitung

den weiterdenken. Denn sie ist nicht nur Expertin für eine Autorität, die nicht mehr auf das Verbot setzt, sie kennt sich auch mit dem Kind aus und kann deshalb auf seine neue, bedeutende Stellung im Postödipalen hinweisen. Die postödipale Antwort auf den Verlust des Antagonismus zwischen ödipalem Verbot und Übertretung, zwischen Herr und Knecht, kann sie als einen pädagogischen Antagonismus analysieren, in dem dem Kind eine konstitutive Funktion zukommt. Geschlechtertheorie Nachdem der historische Ort der Liebe zum Kind in den Blick genommen wurde, grenzt das vierte Kapitel die Liebe weiter ein, indem es ihr Verhältnis zu dem untersucht, was Lacan das »Geschlechtsverhältnis« nennt, und fragt nach dem Zusammenhang von Geschlecht und der Liebe zum Kind. Zunächst zeigt sich, dass sich Begehren und damit auch die daraus abgeleitete Liebe nicht einfach von der Geschlechtlichkeit lösen und beliebig auf andere Objekte übertragen lassen. Diese Gebundenheit zeigt sich darin, dass es sich beim »Geschlechtsverhältnis« nicht um ein Verhältnis zwei polarer Geschlechtscharaktere, sondern um das Verhältnis des universalen »Eins« als Ursache des Begehrens zu dem »Anderen Geschlecht« handelt. Das Begehren – und damit auch die daraus abgeleitete Liebe – benötigt eine passive Ressource des Genießens, die es dem Weiblichen unterstellt. Mit diesem Weiblichen ist untrennbar die Mutterschaft verbunden, die das fünfte Kapitel genauer untersucht. Die Mutter und insbesondere ihre Liebe zum Kind hat in der psychoanalytischen Geschlechtertheorie und ihrer feministischen Rezeption eine Schlüsselstellung. Denn verbunden mit der Frage nach der mütterlichen Liebe ist die Frage nach der weiblichen Zuständigkeit für Care, die auch im Neopatriarchat (Soiland 2014) nichts von seiner Aktualität verloren hat. Dabei wird die Mutterliebe sowohl als eine Folge der patriarchalen Begrenzung weiblicher Liebesansprüche auf Heim und Herd interpretiert, als auch, weil das autonome Subjekt nur in Zurückweisung dieser Liebe entstehen kann, als Ursache der Abwertung des Weiblichen. Zuletzt taucht in der feministischen Auseinandersetzung mit der mütterlichen Liebe auch ein utopisches Versprechen auf Beziehungen jenseits der patriarchalen Ordnung auf. Obwohl das utopische Potential der Mutter-Kind-Beziehung im Konzept des Triebes in Lacans Psychoanalyse bereits anklingt, begründet eine immer schon als problematisch gedachte Mutterliebe die Notwendigkeit einer väterlichen Intervention und damit des Verbots, das mit der Abwertung des Weiblichen einhergeht. Aber liegt diese problematische Liebe in der weiblichen Struktur selbst? Und was hat sie mit dem postödipalen Versprechen zu tun? Das fünfte Kapitel wird die Erkenntnisse der bisherigen Kapitel verknüpfen und die Liebe zum Kind als ein postödipales Phänomen mit der Beobachtung eines Neopatriarchats verbinden.

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1. Liebe als Thema der Pädagogik Doch als ich Janets Tür hinter mir schließe und sie in ihrem Bett sitzen sehe, das schwarze Haar wildzerzaust in Elfenlocken, das kleine bleiche Gesicht [meines] lächelnd, da verschwindet die Erbitterung unter der gewohnten Disziplin und wird fast im selben Moment zu Liebe. (Doris Lessing: Das goldene Notizbuch. 1962: 415.)

Anna, die Protagonistin von Doris Lessings Roman, muss früh aufstehen und sich unwillig aus der Umarmung ihres Geliebten reißen, um ihr Kind zu versorgen. Ein Kind zu haben, das reflektiert sie kurz vor dieser Szene, es zu versorgen, geht einher mit Disziplin, mit einer Fülle von kleinteiligen Aufgaben, mit ständiger Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse des Kindes, für die es eigene Bedürfnisse zurückzustellen gilt. Das Nachdenken über diese mütterliche Dauerbereitschaft ist für Anna voller Bitterkeit. Insbesondere mit dem Blick auf ihren männlichen Geliebten, der sich – obwohl er Vater ist – nicht diesem Regime der Fürsorglichkeit unterwerfen muss, stellt sich ein Gefühl von Verlust ein. In der zitierten Textstelle findet jedoch eine Verwandlung statt: Die Bitterkeit wird angesichts des Kindes – in bereits eingeschliffenen Bahnen – sofort zu Liebe, einer Liebe, die jedes Opfer rechtfertigt, die die Opfer möglicherweise sogar zu lustvoll gegebenen Geschenken werden lässt und die aus den vielfältigen Zwängen, in denen sich die Protagonistin befindet, gewählte Aufgaben macht. Was ist das für eine rätselhafte Macht, die in der Lage ist, Lust aus Unlust zu machen, Hingabe aus Verzicht? Obwohl jede konkrete Beziehung und damit jede Liebe von der Individualität ihrer Beteiligten abhängt, ist ein Teil der Liebe zwischen Anna und Janet überindividuell. Denn Anna und Janet befinden sich in einer Konstellation, die sich millionenfach wiederholt und der ich mich hier annähern möchte. Eine Konstellation, die Emotionen mobilisiert, die Realität formt und Genießen organisiert. Annas Liebe

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Die Liebe zum Kind

gilt sicherlich Janet als Individuum, als einer Person mit spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten. Vor allem aber gilt Annas Liebe dem Kind, das Janet für Anna ist. Diese Liebe zum Kind ist in mehrfacher Hinsicht eine besondere Liebe. Erstens geht ihr oft keine Wahl voraus, sie sucht sich kein passendes Objekt, sondern gilt dem Kind unabhängig von seiner konkreten Erscheinung, seinem Verhalten, seinen Eigenschaften – denn es ist das eigene: nicht ausgesucht, sondern, gar unter Schmerzen, bekommen. Das Kind in diesem Sinn ist Nachfahre, Erbe, möglicherweise vom »eigenen Blut«. Anna erkennt im »kleinen bleichen Gesicht« ihr eigenes. Die Verwandtschaft mit dem Kind erleichtert zweitens etwas, das auch in anderen Beziehungen eine Rolle spielen kann: das Wiedererkennen im anderen, die Identifikation, die Übertragung. Im Erkennen ihres eigenen Kindergesichts in dem ihrer Tochter begegnet Anna ihrer eigenen Vergangenheit, was nicht ohne Auswirkung für die Beziehung bleiben wird. Vielleicht erkennt sie in Janet jedoch auch etwas, das ihr fremd ist und das sie dem Vater zuschreibt. Schließlich ist das Kind Zeugnis einer Verbindung zwischen zwei Erwachsenen, die ihre Spuren in der Beziehung zum Kind hinterlässt. Annas Liebe zu Janet findet drittens nicht zwischen gleichberechtigten Partnern statt, sondern ist asymmetrisch: Anna hat Janet geboren, diese verdankt ihr schon deshalb das Leben und ist auch darüber hinaus existenziell abhängig. Aus dieser Abhängigkeit resultiert Verantwortung: Wenn Janets Existenz daran hängt, dass Anna sich um sie kümmert, kann diese die Sorgearbeit nicht zurückweisen, ohne sich schuldig zu machen. An dieser Stelle spielt auch das Geschlecht eine Rolle: Anna fühlt sich vielleicht als Frau besonders für ihr Kind zuständig oder befindet sich in einem gesellschaftlichen Kontext, der die Sorge für Kinder den Frauen überlässt. Die Liebe zum Kind könnte somit für sie als Mutterliebe Teil ihrer weiblichen Identität sein, Ideal, das sie zu erfüllen hat, oder subjektive Seite ihrer Anpassung an geschlechtliche Normen. Angesichts der Sorgearbeit, die die Liebe zum Kind für Anna bedeutet, scheint Anna viertens die einzig Gebende in der Beziehung zu sein. Gleichzeitig wird diese Einseitigkeit des Gebens unterwandert durch die Liebe selbst: Janets Präsenz in Annas Leben ist zwar immer wieder Last, aber auch Quell der Freude. Wenn Janet im Roman aus Annas Perspektive dargestellt ist, trifft man sie in Bildern an, die von Annas Blick voller Liebe und ihrer zärtlichen Bewunderung sprechen. Man könnte fast sagen, dass Janet Anlass zu ästhetischer Hingabe, zu interesselosem Wohlgefallen ist. Gleichzeitig ist die Liebe Annas zu Janet fünftens alles andere als heiter und gleichmütig: Ihre Bereitschaft, ihre persönliche Freiheit ohne zu zögern zu beschneiden, das eigene Leben dem Kind unterzuordnen, zeugt von der wilden Heftigkeit dieser Liebe, die in ihrer Intensität die Selbsterhaltung überrollt. Die Liebe macht Anna bereit, Opfer zu bringen, lässt sie Situationen akzeptieren, die sie eigentlich bitter machen wie die Ungleichberechtigung zwischen ihr und ihrem Liebhaber. Das ungerechte Geschlechterarrangement macht die Liebe erträglich.

1. Liebe als Thema der Pädagogik

Dabei ist sechstens Janet für Annas Alltag eine wichtige Bezugsgröße. Sie ist die Person, mit der sie ihren Alltag teilt, die sie in den intimsten Situationen kennt. Die beiden haben eine lange geteilte Geschichte, Anna begleitet Janets Leben von ihrer ersten Sekunde an und hatte schon vor ihrer Geburt eine Beziehung zu ihr. Ihre heutige Beziehung basiert auf einem über Jahre entwickelten Tanz von Aktion und Reaktion, von gemeinsam entwickelten Ritualen, zwischen ihnen ist eine Bindung gewachsen, eine innige Vertrautheit, die aus den gemeinsamen Erfahrungen gewachsen ist. Siebtens ist Janet auch schon vor jeder gemeinsamen Geschichte liebenswert, einfach weil sie ein Kind ist. Das konkrete Kind verweist auf ein gesellschaftliches Imaginäres, das Kindliche, ein emotional besetztes Bild, in dem bestimmte Eigenschaften verschmolzen und mit Bedeutung aufgeladen sind. Mit dem Kind können in unterschiedlichen Kontexten Eigenschaften assoziiert sein wie Unschuld, Vorläufigkeit, Unwissenheit, Naivität, Wahrhaftigkeit usw. Dabei stellt das Kind als Teil einer generationalen Ordnung das Gegenstück zur Welt der Erwachsenen dar und kann entsprechend utopisch aufgeladen werden. Das imaginäre Bild vom Kind spielt in der Liebe zu ihm eine so bedeutende Rolle, dass es auch bei Menschen, die jenseits einer familiären Beziehung mit ihm zu tun haben (Pädagoginnen, Erzieher, Lehrerinnen, Sozialpädagogen) selbstlose Hingabe mobilisiert: In seiner Kindlichkeit rührt das Kind, es ist niedlich, es fordert Anteilnahme und Schutz. Das Verschwinden der Erbitterung Annas angesichts des kleinen Gesichts ist nicht ohne die Wirkungen des kindlichen Imaginären zu verstehen. Janet verdankt ihre Existenz der Tatsache, dass Anna ein Kind wollte, sich für ein Kind entschieden hat, noch bevor es das konkrete Kind Janet gab. Ihre Liebe gilt zum Teil also auch immer dem, für das sie sich entschieden hat: der abstrakten Idee eines Kindes. Zugleich muss sie selbst angesichts des kindlichen Gegenübers zur Erwachsenen werden, sich verantwortlich verhalten und an den Bedürfnissen des gegenwärtigen Kindes und seiner Zukunft ausrichten. Mit der Idee des Kindes ist also auch eine entsprechende Haltung verbunden und eine spezifische Beziehungsform, die die Liebe zum Kind von anderen Arten der Liebe unterscheidet. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass sich diese abstrakte Idee des Kindes mit der Entstehung der Pädagogik in der Moderne entwickelt. Die in der Moderne gesellschaftlich notwendig gewordene Pädagogik benötigt das Kind als Gegenüber, zugleich diskreditiert die in das Kind eingelagerte Kontingenz jede Pädagogik, die sich ein diese Kontingenz begrenzendes Ziel setzt. Die Liebe zum Kind verstehe ich als eine Antwort auf diesen pädagogischen Widerspruch, der immer auch ein generationaler ist, insofern die Pädagogik Schleiermacher’sche Frage beantwortet, was die ältere Generation mit der jüngeren will. Die Liebe ist Antwort auf den Widerspruch nicht, indem sie ihn auflöst, sondern indem sie einen genießenden Umgang mit ihm gestattet. Die Liebe ermöglicht ein pädagogisches und generationales Verhältnis, das nicht an seinen Paradoxien scheitert. Über diese

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Die Liebe zum Kind

Liebe kann jedoch das Subjekt nicht verfügen: Mit der Psychoanalyse werde ich zeigen, dass Liebe sich nur als eine Modifikation des Sexuellen denken lässt. Sie hat deshalb ihre Wurzeln im Selbstverhältnis des Subjekts und ist somit keine zu erlernende Technik, keine ideale Haltung oder gar vorgesellschaftliche Natur, sondern steht in Zusammenhang mit der konflikthaften Konstitution des Subjekts.

1.1

Das Kind als Objekt der Pädagogik Kindheit ist ein Stichwort, zu dem jeder Erfahrungen beisteuern kann. Sie existiert nachweisbar in den Köpfen Erwachsener als verlorenes Paradies, als unerreichbares Utopia, als Erinnerung an erlebte Ohnmacht. Kindheit kommt aber nicht nur als Bewusstseinstatsache vor, sondern auch als spezifische Lebensphase und besonderer sozialer Status. Dass es sie in dieser Form nicht immer gegeben hat und noch nicht in allen Gegenden der Welt gibt, ist mittlerweile bekannt. […] Kindheit ist eine kaum zu rechtfertigende Tatsache. (Hengst 1981: 11f.)

Dass das Kind nicht aus seiner Natur heraus eine emotionale Reaktion produziert, sondern ein imaginäres Bild ist, in dem Körperproportionen und Hilflosigkeit untrennbar mit Vorstellungen von Unschuld und »Bildbarkeit« verwoben sind, hat die sozialhistorische Kindheitsforschung herausgearbeitet. Seit Philippe Arièsʼ »Geschichte der Kindheit« (Ariès 1985 [1978]) wird Kindheit nicht als natürliche Gegebenheit, sondern als etwas historisch Gewordenes und sozial Konstruiertes in den Blick genommen, das in Zusammenhang mit der ökonomischen und kulturellen Struktur einer Gesellschaft steht (vgl. exemplarisch: Honig 1999, Alaanen 1994, Bühler-Niederberger 2005a). Die Kindheitsforschung betrachtet Kindheit als ein relationales Konstrukt, das in seiner Definition auf ein Anderes angewiesen ist. Ein Kind ist ein Kind, weil es kein Erwachsener ist und umgekehrt: »Wenn wir beschreiben, was ein Kind ausmacht, dann beschreiben wir auch, was ein Erwachsener ist« (Lenzen 2004: 343). Der Erwachsene und das Kind sind also soziale Konstrukte, denen komplementäre Eigenschaften zugeschrieben werden. Das abhängige Kind steht beispielsweise im Gegensatz zum autonomen und verantwortlichen Erwachsenen, die kindliche Spontaneität und Irrationalität komplementiert die erwachsene Vernunft. Diese komplementäre Struktur ist jedoch asymmetrisch: »Es ist nicht möglich, vom Kind zu sprechen, ohne eine Position des Erwachsen-Seins einzunehmen« (Honig 2001: 36). In der Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern hat die erwachsene Seite ein privilegiertes Verhältnis zum Allgemeinen: Das Kind ist das Andere einer erwachsenen Normalität. Alles, was sich vom Kind sagen lässt, trägt deshalb die

1. Liebe als Thema der Pädagogik

Spuren der erwachsenen Perspektive, die sich stets auch über ihre eigene Vergangenheit äußert.1 Im Eingangszitat weist Heinz Hengst auf die Doppelbedeutung von Kindheit hin, die einerseits als Sehnsuchtsort und überwundene Vergangenheit Bestandteil einer Kultur von Erwachsenen ist, zugleich jedoch als Lebensphase und sozialem Status konkreten Individuen zugerechnet wird. In der Bezugnahme auf diese konkreten Individuen, die konkreten Kindern, spielt erstere Kindheit, das imaginäre Bild der Erwachsenenkultur, eine bedeutsame Rolle. Zugleich wird in der Beziehung zum Kind zwangsläufig auch das Erwachsensein thematisiert. Nur im Medium des Kindes kann definiert werden, was das Erwachsensein ausmacht; nur in seinem Anderen erkennt sich der oder die Erwachsene.2 Psychoanalytisch betrachtet externalisiert die Beziehung zum Kind so ein erwachsenes Selbstverhältnis, im konkreten Kind begegnet der oder die Erwachsene einer Version seiner oder ihrer Vergangenheit, die sich in eine imaginäre Erzählung seiner oder ihrer selbst einfügt. Dieses Selbstverhältnis spielt für die Pädagogik eine zentrale Rolle, die mit der Ausbildung einer eigenen Sphäre der Kindheit in engem Zusammenhang steht. Die Entdeckung der Kindheit ist untrennbar mit ihr verbunden, es besteht ein komplexes Wechselverhältnis zwischen der Kategorie der Kindheit und dem pädagogischen Zugriff auf sie. Das Kind ist ein »Appell an die gesellschaftliche Kategorie, die über das Kind mit definiert ist« (Bühler-Niederberger 2005b: 10); das ohnmächtige und hilfebedürftige Zukunftswesen Kind lässt das erwachsene Gegenstück verantwortlich werden, es fordert es zum Handeln heraus. Als Auseinandersetzung mit der Frage, was denn die ältere Generation mit der jüngeren will, ist Pädagogik die Instanz, die diesem Handeln einen Rahmen gibt und reflektiert, welches Handeln angesichts des Kindes angemessen und wünschenswert ist. Rolf Nemitz geht deshalb sogar so weit, die Erwachsenen-Kind-Differenz »pädagogische Differenz« zu nennen (vgl. Nemitz 1996). Die »pädagogische Differenz« ermöglicht ein generationales Arrangement, das verschiedene Bereiche des Lebens umfasst (z.B. Arbeitsteilung, Zugang zu Res1

2

Vor diesem Hintergrund gibt es einige theoretische Versuche, die Erwachsenen-Kind-Differenz mit anderen »Achsen der Ungleichheit« zu synchronisieren (vgl. insbesondere Alaanen 1994) und so insbesondere auf das Machtungleichgewicht hinzuweisen. Diese Beschreibung wird jedoch durch die Spezifik der Erwachsenen-Kind-Differenz erschwert, die sich dadurch auszeichnet, dass die Differenz sich selbst auflöst: Alle Erwachsenen waren einmal Kinder und umgekehrt – alle Kinder werden erwachsen. Die Erwachsenen-Kind-Differenz ist also permanent durch Kontinuitäten bedroht und muss durch Übergangsrituale und andere Grenzziehungen abgesichert werden. Rieger-Ladich bezeichnet das Schlagwort Mündigkeit, das die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen definiert, als etwas, das sich nur angesichts des Kindes zeigt (vgl. RiegerLadich 2002).

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Die Liebe zum Kind

sourcen, politische Mitsprache), weshalb sich von einer generationalen Ordnung der Gesellschaft sprechen lässt (vgl. Bühler-Niederberger 2005a). Es ist jedoch eine spezifische Gesellschaftsformation, in der der Erwachsenen-Kind-Differenz und damit der Pädagogik eine so zentrale Bedeutung zukommt (vgl. Honig 1996): die Moderne. Unter dem Begriff der Moderne möchte ich jene gesellschaftliche Konstellation fassen, in die die generationale Differenz als Struktur eingebettet ist und jeden Bereich des Lebens durchzieht. Sie ist das Ergebnis zahlreicher Transformationen, von denen hier nur einige aufgezählt werden können: Der Anbruch der Moderne ist beispielsweise markiert durch den Zusammenbruch der ständischen Gesellschaft, die »Entdeckung der neuen Welt«, die Reformation, die Renaissance und die Entstehung des humanistischen Menschenbildes. In allen Bereichen lösen sich gesellschaftliche Fundierungen auf. Letztbegründungen gehen verloren, die dem Einzelnen Sinn und der Gesellschaft Zusammenhalt garantierten: Eine Ständegesellschaft, in der die Position des Vaters die des Sohnes definiert, wird abgelöst durch eine zunehmend funktional differenzierte Gesellschaft, in der der Einzelne seinen Platz suchen muss. Das Menschenbild der Renaissance öffnet den Raum ins Unbestimmte: Der Mensch wird zum Möglichkeitswesen, das gerade durch seine Unbestimmtheit bestimmt ist. Die »Entdeckung« neuer Kontinente entgrenzt den Raum des Bekannten. Reformation und Säkularisierung lassen eine göttliche Ordnung, die sich hinter der wahrgenommenen Welt verbirgt, sich in dieser zeigt und diese begründet, fraglich werden. Vor diesem Hintergrund erscheint die gesellschaftliche Ordnung nicht länger als göttliche Natur und Notwendigkeit, sondern nur als eine Möglichkeit unter anderen. Die Wirklichkeit erweist sich als kontingent. Die aufgezählten gesellschaftlichen Umwälzungen lassen sich als einzelne Ereignisse betrachten, die jedoch einer gemeinsamen Logik folgen. Diese Logik ist in der Soziologie und angrenzenden Disziplinen sehr unterschiedlich gedeutet worden. Sie wurde als Zivilisierungsprozess (Elias), Durchsetzung des Kapitalismus als gesellschaftliche Organisationsform (Marx), Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft (Tönnies) oder als Rationalisierungsprozess, der alle Bereiche des Lebens durchdringt (Weber), beschrieben. Gemeinsam ist diesen Beschreibungen, dass sie die Moderne als allumfassende Transformation verstehen, die nicht nur die Organisationsweise der Gesellschaft betrifft, sondern auch das menschliche Selbstverhältnis. Dieses Selbstverhältnis spiegelt in das erwachsene Verhältnis zum Kind hinein, denn das Kind kann in seiner Deutungsoffenheit Platzhalter für die zu zivilisierende menschliche Natur, für die Kontingenz und damit die Möglichkeit einer anderen als der gegebenen Gesellschaft stehen oder für das Nicht-Wissen, das sich in jeder Behauptung versteckt. Im Folgenden möchte ich einige Schlaglichter auf die Verflechtungen von Moderne, Pädagogik und Kindheit werfen.

1. Liebe als Thema der Pädagogik

Erwachsene Subjektivität und kindliche Triebnatur Dass Kindheit überhaupt als ein von der Erwachsenenwelt abgetrennter Bereich entsteht, lässt sich mit der gesteigerten Anforderung auf Selbstregulierung erklären, die die Moderne an das Individuum stellt. Wenn Norbert Elias den modernen Menschen als Produkt einer Zivilisierung beschreibt, weist er auf die lange Genese einer Subjektivität hin, die als Zentralisierung der Psyche parallel zu einer gesellschaftlichen Zentralisierung entsteht. Dabei fordern die zunehmende Rationalisierung aller Lebensbereiche, die Differenzierung der Gesellschaft sowie die dadurch zunehmende Abhängigkeit der Menschen voneinander vom Einzelnen das Zurückstellen emotionaler Impulse und die verstärkte Kontrolle des eigenen Handelns. Wo Fremdzwänge in Selbstzwänge übersetzt werden müssen, bedarf es einer innerpsychischen Instanz, die Affekte und Handlungen kontrolliert. Diese durch eine interne Kontrollinstanz zivilisierte Subjektivität zeigt sich beispielsweise in einem veränderten Verhältnis zur Sexualität, die nun stärker tabuisiert und schambesetzt ist (vgl. Elias 1976). Auch Foucault beschreibt, wie der »gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang« die moderne Subjektivität machtvoll hervorbringt; Mechanismen der Disziplin kontrollieren Körper mit dem Ziel, Denken, Fühlen, Handeln umfassend zu regieren (vgl. Foucault 1976, dazu Rathmeyer 2011).3 Durch diese Bearbeitung des Selbst entsteht ein »Erwachsenenhabitus« (vgl. Wimmer 1984: 90), der durch verschiedene Techniken erst mühsam erworben werden muss. Dieser »Erwachsenenhabitus« grenzt sich von der unbearbeiteten Triebnatur ab, die in seiner Vergangenheit, der Kindheit, liegt. Der Gegensatz von erwachsener Selbstkontrolle und kindlicher Triebnatur macht Erziehung zur gesamtgesellschaftlichen Notwendigkeit. Pädagogik in diesem Sinne zielt auf die Überwindung der kindlichen Natur und die Produktion eines Erwachsenen. So wird das Kind für den Erzieher zum Feind, der mehr oder weniger gewaltvoll bekämpft werden muss. Dabei ist die Bekämpfung des Kindes – als Repräsentant der Triebnatur – die Fortsetzung eines Kampfes, die der Erzieher bereits gegen sich selbst geführt hat oder immer noch führt: Im Kind begegnet der Erzieher, der als Persönlichkeit ein Ergebnis eines langen Prozesses der Disziplinierung und Triebunterdrückung ist, seiner eigenen Triebvergangenheit. Deshalb ist seine Gewalt gegen das Kind ein Echo der Gewalt, die nötig war, um ihn selbst zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft zu machen.4 Auf die Zivilisierung des Triebwesens Kind richten sich die Bemühungen der Moralisten und Erzieher, die Ariès als bedeutsame, bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgbare geistige Strömung analysiert (Ariès 1985 [1978]: 182ff.). Deren Vertreter

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Zur Rezeption von Foucault in der Pädagogik zusammenfassend Coelen 1996 sowie der Sammelband Ricken/Rieger-Ladich 2004. So argumentiert Siegfried Bernfeld: »Sich meint er, doch den Zögling schlägt er« (Bernfeld (1973 [1925]: 141).

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gehen von der Annahme einer Erbschuld aus und fordern eine Überwindung der kindlichen Schwäche sowie eine Verpflichtung auf die Tugenden zugunsten des kindlichen Seelenheils. Dabei konzentriert sich die moralistische Erziehung insbesondere auf die Kontrolle des kindlichen Sexuellen, das Indiz der menschlichen Sündigkeit sei. Obwohl dieses alte moralistische Bild von der bösen Kindnatur heute durch andere Bilder vom Kind überlagert ist, geht die lange Erziehungskindheit, die von der Erwachsenensphäre abgetrennt ist, zum großen Teil auf dieses zurück.5 Es hat nicht nur die Institutionalisierung von Erziehung befördert, sondern beispielsweise auch eine von sexuellen Versuchungen gereinigte Literatur für Kinder hervorgebracht. So wurde der Boden bereitet für die Annahme einer eigenwertigen kindlichen Andersheit. Pädagogische Absicht und kindliches Medium Die Auflösung der ständischen Ordnung und die Entstehung einer funktional differenzierten Gesellschaft stellt die Pädagogik vor eine neue Situation: Erziehung, die lange durch Gewohnheit und herrschende Sitte definiert war, wird in der Moderne fraglich (vgl. Wimmer 2005: 77), denn die Zukunft der Söhne ist nicht länger definiert durch den Stand ihrer Väter, und so taugen diese nicht mehr als alleinige Vermittler des für die Söhne notwendigen Wissens. Die Pädagogik der Moderne muss sich deshalb zunehmend von der Sozialisation lösen, die das Gegebene reproduziert. Mit der Trennung der Pädagogik von der Sozialisation ist die Pädagogik auf ihre zentrale Unmöglichkeit gestoßen: Wo Sozialisation absichtslos verlief, ist Erziehung darum bemüht, ihre Effekte zu kontrollieren. Diese Kontrolle des Ergebnisses ist jedoch unmöglich: Erziehung lässt sich nicht von ihrer Wirkung her beschreiben. Wie sich ein Kind, ein Jugendlicher oder sonstiger Zögling entwickelt, lässt sich nicht eindeutig auf die Bemühungen der Erziehenden zurückführen. Entsprechend definiert Wolfgang Brezinka Erziehung vom erziehenden Subjekt aus: Mit Erziehung sind Handlungen gemeint, durch die Erwachsene (»Erzieher«, »Lehrer«) versuchen, in den Prozess des Werdens heranwachsender Persönlichkeiten (Kinder, Jugendliche = »Zöglinge«, »Zu Erziehende«, »Erziehungsobjekte«, »Adressaten der Erziehung«, Schüler, Lehrlinge) einzugreifen, um Lernvorgänge zu unterstützen oder in Gang zu bringen, die zu Dispositionen und Verhaltensweisen führen, welche von den Erwachsenen als seinsollend oder erwünscht angesehen werden. (Brezinka 1971: 26f.) 5

Die umfassende Durchsetzung der Erziehungskindheit hängt von einer Vielzahl weiterer politischer, kultureller und ökonomischer Faktoren ab: Das Verbot von Kinderarbeit und Arbeitsschutz macht Kinder arbeitslos, so dass die Schulpflicht politisch durchsetzbar ist; die Struktur des male breadwinner sorgt für verfügbare Zeit bei den Kindern, die von Haushalt und Erwerbsarbeit freigestellt sind usw. (vgl. Honig 2010: 341).

1. Liebe als Thema der Pädagogik

Erziehung ist hier definiert als »Einwirkungsversuch mit Förderabsicht« (ebd.) in Absehung einer tatsächlichen Wirkung und unabhängig von dem Erleben des pädagogischen Objektes. Da die Förderabsicht darüber entscheidet, ob Erziehung stattgefunden haben wird, ist es schwierig, Erziehung zu beobachten: Fast zu jeder Tätigkeit kann eine Förderabsicht hinzutreten. Diese auf eine Absicht reduzierte Definition von Erziehung kalkuliert ihr mögliches Scheitern nicht nur mit ein, sie geht sogar davon aus, dass sich ihr Erfolg nicht beobachten lässt oder möglicherweise gar nicht existiert.6 Auf die Unmöglichkeit der Erziehung hat prominent Niklas Luhmann hingewiesen, der diesen Umstand mit dem Unterschied zwischen selbstreferentiellen Maschinen und Trivialmaschinen erklärt: Nur bei Trivialmaschinen führt ein bestimmter Input immer zum gleichen Output. Lernende sind jedoch nach Luhmann selbstreferentielle Maschinen, »die durch eigene Operationen selbst bestimmen, wovon sie bei der anschließenden Operation ausgehen, also von Moment zu Moment neue Maschinen werden.« (Luhmann 2005: 209). Die Entdeckung der Kindheit macht dieses Unmögliche jedoch möglich. Die Konstruktion eines bildbaren und der Erziehung bedürftigen Kindes ist, wie Luhmann argumentiert (vgl. ebd.), die notwendige Voraussetzung der Erziehung: Die Vorstellung eines Kindes mit offener Zukunft, das empfänglich ist für die Einwirkungen des Pädagogen7 , rückt das Unmögliche – in Luhmanns Begriffen: die Spezifizierung eines psychischen Systems durch Kommunikation – in den Bereich des Möglichen (wenn auch Unwahrscheinlichen). Die Fiktion des Kindes als etwas, das vollständig ergründet und entsprechend geformt werden kann, macht es den Pädagogen möglich, an ihren Erfolg zu glauben und ihn ihrer Arbeit zuzuschreiben. Um es zu präzisieren: Die Konstruktion Kind stellt nicht das Gelingen von Erziehen sicher, sondern ermöglicht die Möglichkeit des Gelingens.8 Der Umstand, dass Adressaten der Pädagogik nicht wie »Trivialmaschinen« mit vorhersagbaren Reaktionen auf pädagogische Interventionen reagieren, wird für

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Streng genommen ist Erziehung dann etwas, das sich nur durch den Pädagogen selbst erkennen lässt. Auf diesen Zirkelschluss weist Schäfer hin, wenn er zeigt, dass Brezinka für seine Definition von Erziehung als Gegenstand einer rein empirischen Erziehungswissenschaft auf die a-rationale Praktische Pädagogik angewiesen ist, die die zu erforschende Erziehungswirklichkeit erst herstellt (vgl. Schäfer 2012b: 273ff.). Angesichts des von Faulstich-Wieland herausgestellten Androzentrismus der traditionellen Erziehungswissenschaft, die sowohl Subjekt als auch Objekt von Pädagogik geschlechtslos, doch implizit männlich denkt (vgl. Faulstich-Wieland 1995), halte ich es für verfälschend, für das Abstraktum eines pädagogischen Subjekts auch die weibliche Bezeichnung zu verwenden. Deshalb verwende ich den Kollektivsingular »der Pädagoge«, wo es um das Subjekt der Pädagogik geht. In späteren Texten sieht Luhmann nicht mehr im Kind, sondern im Lebenslauf das Medium der Pädagogik (vgl. Luhmann 1997: 11).

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an der Machbarkeit von Erziehung festhaltenden Pädagogiken durch unzureichendes Wissen über das pädagogische Objekt Kind erklärbar. Entsprechend erscheint es notwendig, Kinder genau zu erforschen, um sie adäquat bedienen zu können. Wer das neu entdeckte Kind versteht, kann die pädagogische Unmöglichkeit überwinden. Diese Annahme begründet zahlreiche pädagogische »Hilfsdisziplinen«: So lässt sich beispielsweise die Entstehung der Kindheitsforschung als Reaktion auf ein wahrgenommenes Scheitern der pädagogischen Praxis verstehen, die auf eine Optimierung dieser Praxis zielt. Ellen Keys leidenschaftliche Schrift »Das Jahrhundert des Kindes« gehört zu einer Fülle von Texten aus der Zeit der Jahrhundertwende, die eine grundlegende Kritik an der Pädagogik äußern, zugleich aber ihre Erneuerung fordern. Mythischer Referenzpunkt, der diese Kritik ermöglicht, ist das Kind, in dessen Namen die Schule als nicht kindgemäß analysiert wird (vgl. Kelle 2005: 141). Fuhs spricht gar von »Kindheit als Kritik an der Schule« (Fuhs 2005: 161): Der Gegensatz zwischen Schule/Pädagogik und Kind ist jedoch auflösbar, wenn erstere vom Kinde aus gedacht wird; die Möglichkeit der Erziehung hängt am Wissen um das Wesen des Kindes. Entsprechend ist dieses Wesen des Kindes Gegenstand neuer Wissenschaften: Die Kindheitsforschung entsteht als eigene Disziplin, zahlreiche Zeitschriften zur Kinderpsychologie werden um die Jahrhundertwende gegründet (vgl. Dudek 1990; Kelle 2005: 141).9 In den letzten Jahrzehnten verspricht die Hirnforschung für eine empiristische Pädagogik das, was einst die Kindheitsforschung leistete, nämlich eine genaue Erfassung des pädagogischen Objekts: Heute nehmen Neuropsychologen für sich in Anspruch, die Pädagogik vom Kinde aus denken zu können (vgl. beispielsweise Bauer 2007, Spitzer 2014, Hüther 2006, Roth 2006). Die Erkenntnisse der Hirnforschung bieten sich als das relevante Wissen für Lehrer an und versprechen eine »evidenzbasierte Pädagogik« (vgl. Spitzer 2006: 24). Die neuropsychologische Kartierung der Lernenden überbrückt das pädagogische Scheitern und suggeriert die Machbarkeit des Unmöglichen: Von dem »uralten Rätsel«, wie man Lernenden etwas lehren kann, gehe kaum noch eine Beunruhigung aus, konstatiert Käte MeyerDrawe mit Blick auf die Neuropsychologie kritisch (Meyer-Drawe 2008: 29). Denn aus den Erkenntnissen über hirnphysiologische Zusammenhänge werden konkrete Forderungen für die pädagogische Praxis, so dass die Differenz zwischen Lehren und Lernen überbrückbar scheint. Wenn die Hirnforschung in die Fußstapfen der Kindheitsforschung tritt, reagiert sie auf das moderne Problem, dass Erziehung nicht kann, was sie zu leisten behauptet.

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Die Sakralisierung des Kindes in diesem Zusammenhang leistete nicht nur die Überwindung der Unmöglichkeit der Erziehung, sondern war auch imaginärer Referenzpunkt, der Erziehung ein Ziel gab. Eine Erforschung des Wesens des Kindes verspricht nicht nur, das Scheitern der Pädagogik zu überwinden, sondern auch das fragwürdig gewordene pädagogische Handeln zu legitimieren.

1. Liebe als Thema der Pädagogik

Entgründetes Wissen und kindliches Nicht-Wissen In der Moderne wird das fraglich, was Pädagogik überhaupt vermitteln könnte. Die Moderne impliziert eine neue Ordnung des Wissens: Vor den tiefen Einschnitten der Moderne ruhte die Wahrheit in einer göttlichen Letztinstanz. Die Welt war göttlich geordnet und kannte, in Zygmunt Baumans Worten, weder »Notwendigkeit noch Zufall« (Bauman 1992: 17). Ereignisse mussten nicht erklärt werden, denn ihr Sinn war unanzweifelbar, wenn auch dem Menschen nicht zwangsläufig einsichtig. Dem erkennenden Subjekt war die göttliche Ordnung nur als Offenbarung zugänglich, es verfügte weder über Werkzeuge, aus eigener Kraft in sie vorzudringen, noch darüber, zu entscheiden, ob es sich bei seinen Erkenntnissen um die Wahrheit handelte. Die Wahrheit fiel in göttliche Zuständigkeit, Wissen bestand in der Erkenntnis der göttlichen Ordnung. Die moderne Einsicht, dass die Wirklichkeit auch anders sein kann, lässt Zweifel an der göttlichen Ordnung aufkommen. Kann man nicht mehr auf diese vertrauen, verändert sich der Status des Wissens; es findet keinen Halt mehr in einer göttlichen Wahrheit und kann sich nicht mehr auf die hinter der Wirklichkeit liegende göttliche Ordnung beziehen. Vielmehr richtet sich das Wissen nun auf die Erfassung der Wirklichkeit selbst, wobei die jetzt als kontingent erfahrene Wirklichkeit einen Raum der Möglichkeit enthält. Wenn Wissen nicht auf eine göttliche Wahrheit zielt, sondern auf die Erfassung der Wirklichkeit, wird die Wahrheit zur unerreichbaren Instanz. Wissen wird zum »hypothetischen Wissen«, dessen Wahrheitsgehalt aus einem sozialen Prozess resultiert: einer verwissenschaftlichten Wahrheitsfindung (vgl. Schäfer/ Thompson 2011: 12). Gültigkeit können Aussagen behaupten, die an vorhergehende Aussagen anknüpfen, so ihre Voraussetzungen transparent und einem nachvollziehenden Subjekt zugänglich machen. Wissen entsteht durch seine Abgrenzung von Nicht-Wissen, Wissenschaft besteht also in einer Grenzziehung, die reguliert, was als anerkanntes Wissen gelten darf. Dabei spielen, wie Foucault in »Die Ordnung des Diskurses« zeigt, vielfältige machtförmige Mechanismen eine Rolle, mit der sich der wissenschaftliche Diskurs gegen seine bedrohlichen Kräfte abgrenzt und subjektive Wahrheiten, Wahnsinn oder andere zerrüttende Dynamiken einhegt (vgl. Foucault 1991). Mit der Konzentration auf die Methode versucht moderne Wissenschaft ihr Wissen dem Kontingenten zu entreißen. Dadurch verliert das Wissen jedoch seinen Bezug zur Wahrheit. Mit Lacan könnte man sagen, dass sich die Wissenschaft der Moderne auf die Realität und nicht das Reale bezieht und so beständig das Wissen vermehrt, mit der Wahrheit jedoch nichts zu schaffen hat.10 Wissen produziert mehr Wissen, Wissen bezieht sich auf anderes Wissen, Wissen begründet sich durch Wissen. Das so erzeugte wissenschaftliche Wissen ist »seinsvergessen« im 10

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Heidegger’schen Sinne, weil es sich mit seinen Voraussetzungen, seinem Verhältnis zur Kontingenz der Realität nicht beschäftigen kann. Dennoch kann es durch die Regulierung der Grenze zum Nicht-Wissen Gültigkeit beanspruchen. Wissenschaftlich erzeugtes Wissen behauptet, wahr zu sein, der fehlende Bezug auf einen göttlichen Grund wird ersetzt durch eine prozessuale Logik, die scheinbar ohne Letztbegründung auskommt. Wenn der konkrete Pädagoge als Vertreter dieses Wissens auftritt, begegnet ihm im Kind sein Anderes: Es ist das, das noch nicht weiß. In seiner Differenz, in seiner Unwissenheit, bestätigt es den Pädagogen, der als fehlbares Subjekt nur angesichts des Unwissenden Vertreter des Wissens sein kann.11 Die Konstruktion des Kindes ermöglicht also nicht nur, dass die unmögliche Erziehung möglich erscheint, sondern auch die hochstaplerische Identifikation des konkreten Pädagogen mit der zu Wissen geronnenen Realität, mit dem, was Gegeben ist. Die pädagogische Bezugnahme auf das Kind stellt so die fehlende Letztbegründung wieder her. Entsprechend findet Wissenschaft in der Moderne vornehmlich an Universitäten statt, wo sich Forschung und Lehre ergänzen. Nicht nur sichert die Nähe zur Forschung die Qualität der Lehre. Die Lehre ermöglicht der Forschung, ihr Wissen durch ihre Konfrontation mit dem Nicht-Wissen in Bezug zur Wahrheit zu setzen. Kontingenz und kindliche Andersheit Das Kind als Nicht-Erwachsenes und erforschbares Medium der Erziehung behauptet jedoch einen Eigenwert, der die Gründe seiner Hervorbringung durchkreuzt. Erziehung zielt auf die Zukunft ihrer Zöglinge, in der Moderne jedoch ist diese Zukunft mehr als je zuvor unbestimmt: Gesellschaftliche Umbrüche, die »Entdeckung« neuer Kontinente, Revolutionen, der rasante Wissenszuwachs durch neue Erfindungen wie den Buchdruck lassen nur noch eine Aussage über den Menschen zu, nämlich dass er ein Möglichkeitswesen ist. Das Subjekt der Moderne ist sich seiner Position in der Welt nicht mehr sicher, es erfährt das Gegebene als kontingent: Alles, was ist, könnte anders sein. Während vormoderne Gesellschaften sich in einem transzendenten, einem göttlichen Grund versicherten, der jedem menschlichen Zugriff entzogen war und so letztlich die Wirklichkeit undurchdringlich machte, fehlt der Moderne die Instanz, die die gesellschaftliche Wirklichkeit fundiert. Auch das Subjekt selbst kann aufgrund seiner Gesellschaftlichkeit kein Ort sein, von dem aus das Gegebene kritisiert oder begründet werden könnte.

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Jacques Rancière weist in »Der unwissende Lehrmeister« auf diese Voraussetzung hin: »Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt. Er ist es, der den Unfähigen als solchen schafft. Jemandem etwas erklären heißt, ihm zuerst zu beweisen, dass er nicht von sich aus verstehen kann« (Rancière 2007: 16).

1. Liebe als Thema der Pädagogik

Im Kind, das noch keinen Lebensentwurf realisiert hat, spiegelt sich das moderne Möglichkeitswesen. Das Kind als Statthalter des Möglichen stellt den Geltungsanspruch der Wirklichkeit in Frage, öffnet einen Raum des Außerdem-nochMöglichen und virtualisiert so die Realität. »Das Kind verkörpert die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Wirklichen vor dem Möglichen« (Schäfer 2018: 116). Damit wird die Pädagogik zu einer »Antwort auf das Problem des modernen Subjekts« (Ricken 1999: 314), sie bearbeitet die Kontingenz, die den modernen Menschen ausmacht. Mit der Schleiermacher’schen Frage, was die ältere Generation mit der jüngeren will, die das theoretische Programm der Pädagogik beschreibt, werden also stets ungelebte Varianten der Wirklichkeit diskutiert, insofern die Wirklichkeit nun eine Möglichkeit unter vielen ist. Das Kind wird zum »Reflexionsmedium gesellschaftlicher Kontingenz« (ebd. 118), mit dessen Hilfe die Frage diskutiert werden kann, welche Überführung des Unbestimmten des Kindes in Bestimmtes wünschenswert ist. Das Kind eröffnet den Spielraum des anders Möglichen und verbietet so seinem Gegenüber, dass dieser Raum gleich wieder geschlossen wird: Wenn der Mensch ein Wesen ist, das die Möglichkeit zur Transzendierung des Bestehenden hat, kann Erziehung nicht bedeuten, den Nachwuchs in die bestehende Gesellschaft einzuführen und ihn an ihre Erfordernisse anzupassen, sondern muss der über das Gegebene hinausweisenden kindlichen Unbestimmtheit Raum geben. Eine Pädagogik, die dem Rechnung trägt, muss folglich die Seiten wechseln, der Pädagoge darf nicht mehr zugunsten des Gegebenen Gegner des Kindes sein, sondern muss die kindliche Andersheit gegen die Forderungen der Erwachsenenwelt verteidigen. Doch diese Verteidigung ist ohne transzendenten Bezugspunkt unmöglich: Wie kann der Pädagoge erkennen, dass das Kind sich nicht an das Bestehende anpasst und das anders Mögliche oder zumindest seine ihm eigene richtige Möglichkeit verwirklicht? Denn der Pädagoge kann weder auf einen inneren Entwicklungsplan setzen, dessen automatische Logik er nur beobachten muss, noch kann er dem Kind die Entscheidung über seinen Weg selbst überlassen, da er das Selbst, das diese Entscheidung treffen könnte, noch nicht voraussetzen kann. Jede eigene Entscheidung des Kindes über seine Zukunft würde diese auf die Verlängerung der Gegenwart festlegen. Auch die eigene Setzung des Pädagogen bliebe im Rahmen des Gegebenen, denn sie wäre nur innerhalb des Gegebenen artikulierbar. Eine Pädagogik, die sich auf das Kind als Möglichkeitswesen bezieht, muss ein Ziel erreichen, ohne es anvisiert zu haben, muss das Gegebene überschreiten, ohne sich auf einen jenseitigen Halt stützen zu können. Aus der im Kind aufscheinenden Kontingenz, zu deren Anwalt sich der Pädagoge macht, ergibt sich das Pädagogische. Alfred Schäfer begreift dieses in Analogie zur Differenz zwischen der Politik und dem Politischen als Reflexion des Umstands, dass sich

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jede pädagogische Praxis auf Gründe stützen muss, die notwendig kontingent sind (vgl. Schäfer 2012a).12 Die Versuche, das Wesen des Menschen in Begriffen wie Freiheit, Autonomie und Verantwortung zu bestimmen, stellen imaginäre Bilder dar, die pädagogisches Handeln fundieren. Anders als die reformpädagogische Sakralisierung des Kindes handelt es sich jedoch bei diesen Gründungsversuchen um Vorstellungen eines Erziehungsziels, das von Beginn an das Zeichen seiner Unmöglichkeit trägt. So ist anzunehmen, dass die unerreichbaren »sakralisierten Möglichkeitsräume« (Schäfer 2012a: 9) der Bildungstheorien eher in der Lage sind, der Unmöglichkeit der Pädagogik Rechnung zu tragen und einen Raum aufzuspannen, in dem das Unmögliche stattfinden kann, als die imaginäre Behauptung eines kindlichen Wesens, aus dem pädagogische Handlungen ableitbar zu sein scheinen.

1.2 Emotionale Verflechtungen: Eine pädagogische Liebe Die Moderne bringt das Kind als Anderes hervor, das Verhältnis zu diesem Anderen ist jedoch voller Paradoxien, die es im Folgenden zu systematisieren gilt. Dabei wird sich zeigen, dass gerade die Paradoxien, in die sich das Subjekt angesichts des Kindes verstrickt, Anlass für ein Genießen sein können, das ich Liebe nennen werde. Erziehung als unmöglicher Beruf Das Kind fordert von dem erwachsenen Gegenüber völlig Widersprüchliches. Sigmund Freud bezeichnet Erziehung folgerichtig neben dem Regieren und dem Analysieren als »unmöglichen Beruf«. Ein solcher zeichne sich dadurch aus, dass man sich »des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann« (Die endliche und die unendliche Analyse, GW 16: 94). Im Vergleich mit den anderen unmöglichen Berufen, die im Verlauf dieser Arbeit noch eine Rolle spielen werden, lassen sich die oben genannten Verflechtungen von Moderne, Kindheit und pädagogischem Zugriff auf diese systematisieren. Erziehen, Herrschen und Analysieren sind unmögliche Berufe, weil sie es mit Objekten zu tun haben, die sich entziehen, mit widerständigen Objekten, die einen nicht kontrollierbaren Eigensinn haben. Das Regieren scheitert regelmäßig an der Kluft zwischen dem Befehl und der Handlung des Regierten, die ihn realisiert. Befehl und Handlung sind auch mit aller Gewalt, die ein Herrscher zur Verfügung hat, nicht identisch, der Befehl muss

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Die Unterscheidung des Politischen von der Politik, die auf Carl Schmitt zurückgeht und insbesondere durch eine französische politische Philosophie rezipiert wurde, verweist auf die Kontingenz jeder Gründung von Gesellschaft, die jedoch Politik notwendig voraussetzt. Zur politischen Differenz zusammenfassend Marchart 2010, kritisch dazu Flügel-Martinsen 2017.

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vielmehr von den Regierten interpretiert und in eine Handlung übersetzt werden. Seine Realisation hängt damit von der Übersetzungsleistung der Regierten ab. Darüber hinaus können diese den Befehl nicht nur auf verschiedenste Weise interpretieren, sie können sich ihm entziehen oder entgegenstellen. Aus der reinen Geste der Gewalt lässt sich nicht das ableiten, worauf diese Gewalt zielt. Auch in der Psychoanalyse ist der Widerstand des Analysanden13 eine zentrale Größe: Eine Intervention des Analytikers kann völlig unterschiedliche Handlungen provozieren, gerade auch solche, die der Intention des Analytikers zuwiderlaufen. Entsprechend kann die gleiche pädagogische Intervention bei dem einen Kind zum erwünschten Verhalten führen, bei einem anderen jedoch das Gegenteil bewirken. Eine gute Erklärung kann eine Einsicht bringen, aber auch genauso gut nur in Teilen verstanden oder gar zu völlig absurden subjektiven Theorien verarbeitet werden. Weil es keine vollständige Kontrolle über das pädagogische Objekt, den Schüler, das Kind, die Zu-Erziehende gibt, existiert zwischen pädagogischer Handlung und ihrem Effekt, zwischen Lehren und Lernen, zwischen Erziehen und dem Ergebnis der Erziehung eine unüberbrückbare Differenz. Erziehung versucht folglich zum einen etwas Unmögliches, ihr Scheitern ist vorprogrammiert. Freuds zentrales Thema, wenn er über die Unmöglichkeit der Analyse nachdenkt, ist jedoch das Problem des Subjekts, denn sein Ausgangspunkt ist die Frage nach der Eignung des Analytikers. Dessen Position ist angesichts der Annahme, dass es normal ist, etwas neurotisch zu sein, schwer zu rechtfertigen. Denn der Analytiker müsste ein vollkommenes Wesen sein, um nicht seine eigenen Konflikte mit in die therapeutische Beziehung zu tragen. Er bräuchte zumindest also ein »höheres Maß von seelischer Normalität und Korrektheit« (ebd., GW 16: 94). Letztlich ist jedoch sein Beruf selbst eine Anmaßung, die sein Unvermögen verdeckt, für den Kranken den Gesunden zu geben. Die Differenz, die das analytische Setting ermöglicht, nämlich die zwischen Analytiker und Analysanden, zwischen Helfendem und Hilfebedürftigen, ist höchst prekär, weil kein Analytiker völlige seelische Gesundheit behaupten kann. Genauso steht der Regierende vor dem Problem des eigenen Unvermögens: Die Gewaltgeste, die seine Regierung begründet, ist nie so rein, wie sie sein müsste. Wie der Analytiker scheitert jeder Herrscher am eigenen Unvermögen, vollkommen das zu sein, was seine herausgehobene Position rechtfertigt, das Allgemeinwohl oder die reine Verfügungsgewalt. Denn der Herrscher

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Im deutschen Sprachraum bezeichnet man gewöhnlich diejenigen, die sich einer Analyse unterziehen, als Analysanden. Auch im Französischen existierte diese Bezeichnung. Um jedoch die Aktivität des Analysanden hervorzuheben und diesen vom zu Analysierenden abzugrenzen, spricht Lacan vom analysant(e). Da diese Konstruktion im Deutschen, wie Nemitz überzeugend argumentiert (Nemitz 2014), nicht funktioniert (dass der Analysant aktiver ist als der Analysand erschließt sich nur über diverse Umwege), bleibe ich bei dem unter NichtLacanianern geläufigen Begriff Analysand.

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ist letztlich ein Subjekt mit persönlichen Interessen, er ist fehlbar, abhängig und nicht identisch mit der Macht, die er verkörpert. Dass dieses fundamentale Unvermögen des Herren mit seinem Gegenüber zusammenhängt, zeigt sich in Hegels Herr-Knecht-Dialektik: Der Herr ist nach Hegel nur Herr, weil er in einem Akt der Gewalt bereit war, sein Leben dranzusetzen. Jedoch riskiert er mit genau diesem Akt der Gewalt auch seine Herrschaft, denn diese hängt am Leben des Knechtes.14 Die »unmöglichen Berufe« Freuds sind also nicht nur aufgrund der Unbeherrschbarkeit ihres Objektes unmöglich, sondern auch aufgrund des Unvermögens ihres Subjekts, jene Position vollständig auszufüllen, die es sich anmaßt.15 Dieses Unvermögen betrifft auch den Pädagogen. Auch seine Position verdankt er einer Differenz, die höchst prekär ist: der Differenz zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Bereits-Sozialisiert und Noch-nicht-Sozialisiert, zwischen Erwachsenem und Kind. Mit dem Bezug auf das Kind kann sich das Wissen konsolidieren und als Wahrheit bestätigen. Die prekäre Andersheit des Kindes ist jedoch nicht nur notwendig, um eine pädagogische Position einzunehmen, sie legitimiert zugleich ihre Interventionen: Der pädagogische Zwang unterscheidet sich vom Zwang des Hegel’schen Herren dadurch, dass ersterer sich mit der Zukunft seines Gegenübers rechtfertigt. Pädagogik muss sich begründen, kann sich jedoch auf keine letzten Gründe mehr beziehen: Angesichts des Kindes und seiner ungewissen Zukunft stellt sich nicht nur die Frage, welches Wissen überhaupt relevant ist, welche Fertigkeiten benötigt, welche Werte erstrebenswert sind, sondern jedes Wissen, jede Fertigkeit, jeder Wert wird in seiner Begründung fraglich, weil all das nur innerhalb der kontingenten Gegenwart gedacht werden kann. Das Ziel von Erziehung kann nicht mehr durch das Gegebene angegeben werden, gleichzeitig hängt die Position des Pädagogen, seine Definition als NichtKind, an der Frage einer Zielbestimmung. Der Pädagoge als Sisyphos Der Bezug auf das Kind öffnet den Raum des Pädagogischen als ein Feld, das durch Paradoxien bestimmt ist. Gerade weil diese Paradoxien unauflösbar sind, ermöglichen sie einen Diskurs, in dem die Frage der Generationalität verhandelt werden kann, jedoch nie abschließend geklärt wird. Für eine pädagogische Wissenschaft, die permanent neues Wissen produzieren muss, ist die paradoxale Konstellation wenn nicht gar unabdingbar, so zumindest günstig, denn sie verhindert, dass eine

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Zur psychoanalytischen Interpretation der Dialektik von Herr und Knecht auch 2.2 und 3.1. Ich lehne mich mit der Unterscheidung von Unmöglichkeit und Unvermögen an eine Systematik Lacans an, die dieser in Bezug auf die unmöglichen Tätigkeiten in Seminar XVII entwickelt. Während sich der Begriff der Unmöglichkeit auf die Unerreichbarkeit jeglicher (pädagogischer) Ziele bezieht, ist das Unvermögen mit der Unmöglichkeit jeglicher Zielsetzung verbunden.

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letztgültige Klärung der Fragen den Diskurs still stellt. Für den einzelnen Pädagogen jedoch, der angesichts des Kindes eine Entscheidung treffen und handeln muss, ist die paradoxale Struktur der Pädagogik auf den ersten Blick weit weniger erfreulich. Seine Tätigkeit ist doppelt unmöglich: Er kann nicht, was er zu tun behauptet; er ist nie vollständig in der Lage, seine pädagogischen Objekte, die Kinder, seine Zöglinge, zu erreichen; er kann nicht direkt auf sie einwirken. Befriedigung kann er also nicht in seinen Erfolgen finden. Die Unmöglichkeit seiner Tätigkeit korrespondiert mit einem fundamentalen Unvermögen: Obwohl sich jede pädagogische Handlung nur durch ihr Ziel in der Zukunft ihrer Zöglinge legitimieren kann, ist diese Zukunft nie auf die ursprüngliche Intention zurückführbar, weshalb jede, auch nachträgliche Autorisierung scheitern muss. Sein Handeln ist, obwohl es der Begründung bedarf, letztlich nicht begründbar. So kann er auch keine edlen Motive für sich in Anspruch nehmen, die seinem Scheitern Tragik verleihen und seine Mühen aufwerten würden. Siegfried Bernfeld fand für den in seinen Paradoxien verfangenen Pädagogen das Bild des Sisyphos (Bernfeld 1973 [1925]), einer Gestalt aus der griechischen Mythologie, die als Strafe für ihr Vergehen im Tartaros unendlich einen Felsbrocken auf einen Berg rollt, nur um ihn kurz vor dem Gipfel wieder herabrollen zu sehen. Sisyphos wird von Bernfeld in seiner durchaus polemischen Schrift als eine tragische und zugleich lächerliche Gestalt eingeführt: Er kann unmöglich Erfolg haben, lässt aber dennoch nicht von seiner paradoxen Aufgabe ab und scheitert jeden Tag aufs Neue. Jedoch bietet das Bild des Sisyphos Deutungen jenseits der Tragik an: Im Gegensatz zu anderen Gestalten im Tartaros liegen die Gründe von Sisyphos’ Beharrlichkeit im Dunkeln. Während Hunger und Durst beispielsweise Tantalos dazu zwingen, unendlich vergeblich nach Früchten und Wasser zu schnappen, ist unerklärlich, was Sisyphos dazu bringt, an seiner Tätigkeit festzuhalten. Denn was soll der Stein auf dem Gipfel? Sisyphos’ Erfolg böte keinerlei ersichtliche Befriedigung, er wäre genauso sinnlos wie sein Scheitern. Diese doppelte Sinnlosigkeit der Tätigkeit des Sisyphos nimmt Albert Camus zum Anlass, Sisyphos zu heroisieren und in ihm den modernen Menschen zu erkennen, der die Spannung zwischen Sinnlosigkeit und Sinnsehnsucht aushält. In Camus’ Interpretation löst Sisyphos diese Spannung nicht auf, er fällt nicht auf falsche Sinnversprechen herein, resigniert aber angesichts des Fehlens eines letzten Sinns genauso wenig in der Untätigkeit, sondern beharrt in dem sinnlosen Tun, das seine Existenz ausmacht (vgl. Camus 2016). Auch Bernfeld lässt in Nebenbemerkungen eine Deutung des Sisyphos fallen, die ihn jenseits der Tragik sieht, wenn er darüber spekuliert, dass Sisyphos den Stein selbst anstoßen und so sein Herunterrollen verursachen könnte (Bernfeld 1973: 115). So gesehen läge keinerlei Tragik in dessen Kampf mit Stein und Berg, der dann als »eine Art Sport« (ebd.) zu betrachten sei; Sisyphos wäre nicht länger eine bedauernswerte Gestalt. Diese fast ästhetische Deutung des Sisyphos verfolgt Bernfeld jedoch nicht weiter, obwohl es aus der psychoanalytischen Perspektive,

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die Bernfeld einnimmt, durchaus naheläge, anzunehmen, dass in der Arbeit an der doppelten Unmöglichkeit, in dem quälenden Kampf mit Stein und Berg, etwas Lustvolles liegen könnte, etwas, das die Beharrlichkeit rechtfertigt und über die heroisierende Deutung Camus’ hinausgeht. Die Spur eines lustvollen Sisyphos verliert sich bei Bernfeld, weil er sie nicht mit seiner Analyse der Grenzen der Erziehung verbinden kann: Für Bernfeld, der die Grenzen der Erziehung in ihrem Außen verortet (in der Gesellschaft, in ihrem durch diese Gesellschaft korrumpierten Personal) und nicht als ihr konstitutives Unvermögen fasst, bleibt der pädagogische Sisyphos letztlich doch eine tragische, der Erlösung bedürfende Gestalt. Das Genießen in der doppelten Unmöglichkeit Fasst man den mythischen Sisyphos wie Bernfeld als tragische Gestalt, eignet er sich als Metapher für den Pädagogen nur bedingt: Bei Sisyphos’ Felsbrocken handelt es sich um eine Strafe der erzürnten Götter; Sisyphos hat sich im Mythos nicht aus freien Stücken in seine unmögliche Lage gebracht. Der Pädagoge hingegen wählt seinen Beruf, Eltern haben sich heute – mehr noch als zu Bernfelds Zeiten – zum großen Teil selbst für ihre Kinder entschieden. Ihre pädagogische Aufgabe ist weder unausweichliches Schicksal, dem es sich im Sinne Camus’ zu stellen gilt, noch mehr oder weniger gerechte Strafe für ein früheres Vergehen. Pädagogin oder Pädagoge wird man, weil man gerne mit Kindern arbeitet, Mutter oder Vater wird man, weil man einen Kinderwunsch verwirklicht – notfalls mithilfe einer Kinderwunschbehandlung. Die Lust der Pädagogen taucht bei Bernfeld genau in diesem Zusammenhang wieder auf: Der Erzieher, nimmt er an, hat seinen unmöglichen Beruf gewählt, weil er Kinder liebt. Anders als andere Erwachsene, die sich von Kindern und ihrem Lärm gestört fühlten und höchstens ihre eigenen Kinder liebten, weil sie sie nicht hassen dürften, sei der Erzieher eben ein »gute[r] Onkel, der schrulligerweise Kinder liebt […] der Gute weiß eben nicht, wie sie wirklich sind« (ebd. 135). Dass der pädagogische Sisyphos überhaupt in seine paradoxale Situation geraden ist, begründet Bernfeld mit seiner »schrulligen« Liebe zu Kindern. Diese Liebe sieht Bernfeld mit Rückgriff auf die psychoanalytische Theorie als ein Problem für die Erziehung. Dabei unterscheidet er zwischen einer gänzlich sublimierten Liebe, die sich »Briefmarken oder Kindern« widmen könnte und die sich in sich selbst befriedige, und einer Liebe, die von ihrem ursprünglichen Ziel, einer Befriedigung der Triebe, eigentlich nicht abgelassen habe, jedoch aufgrund einer Gesellschaft, die auf Hass gegründet sei, von ihrem Ziel abgedrängt wurde. Obwohl die pädagogische Liebe sich stets als die erstere gebe, sei sie jedoch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Umstände nie vollständig sublimiert, sondern eine vom Ziel abgedrängte, unbefriedigte Liebe, die im Gegenüber nach Antwort sucht und mit ihm den nicht bewältigten ödipalen Konflikt reinszeniert (vgl. ebd. 137ff.).

1. Liebe als Thema der Pädagogik

Bernfeld bezieht sich also auf das noch zu erläuternde ödipale Konfliktmodell Freuds, in dem die dem Vater zugeschriebene Kastrationsdrohung zur Aufgabe bzw. der Verdrängung der inzestuösen Triebe führt. Im Kind begegnet dem Pädagogen nach Bernfeld das verdrängte Triebwesen; in seiner Beziehung zu diesem aktualisiert sich der Konflikt zwischen dem verdrängten Es und der verdrängenden Instanz des Ichs, das die Forderungen des ödipal-gesellschaftlichen Über-Ichs gegen das Befriedigung suchende Triebwesen ausagiert. Der Pädagoge reagiere auf seinen unbewussten Wunsch nach verbotener Vereinigung entweder, indem er diesen am Kind sanktioniert und so ihm gegenüber den Untergang des Ödipus durch die verbietende väterliche Über-Ich-Instanz wiederholt, oder indem er den Forderungen des Es nachgibt und sich gegen das Über-Ich schuldig macht. Im ersten Fall wende sich der Pädagoge nach Bernfeld seinen Idealen zu, weil er seine Zurückweisung des Kindes mit ihnen rechtfertigt und in dem »Dank der Menschheit« (ebd. 142) die Befriedigung sucht, die ihm mit dem Kind nicht gestattet war, im zweiten Fall versuche der Pädagoge mit den Idealen das Schuldgefühl zu übertönen, das sich aus dem Verrat an seinem Über-Ich ergibt. Die Idealisierung seiner Tätigkeit ergibt sich folglich in beiden Fällen aus dem Scheitern einer Versöhnung zwischen Über-Ich-Forderungen und den Wünschen des Es. Die pädagogischen Ideale treten erst im zweiten Schritt dazu, sie kaschieren das Scheitern der Liebe und sind ihr nicht immanent. So begreift Bernfeld die pädagogischen Ideale als Symptome eines Scheiterns der Liebe zum Kind und zugleich als ein Effekt einer gescheiterten Beziehung: Der Pädagoge, der seine Tätigkeit idealisiert, ist an seine subjektive Grenze gestoßen. Die psychischen Verstrickungen, die mit der Liebe verbunden sind, lassen sich demnach als Grenze der Erziehung fassen. Liebe als Ideal und Antwort auf die Paradoxien Damit kritisiert Bernfeld einen wichtigen Topos der zeitgenössischen Pädagogik. Diese konzipiert, anders als Bernfeld, der die Liebe der Pädagogen problematisiert und mit den Grenzen der Erziehung in Verbindung bringt, Liebe als etwas, das Grenzen überwindet. Dieser Begriff der Liebe wird beispielsweise in folgendem Eintrag zum Begriff Liebe aus einem pädagogischen Wörterbuch von 1954 entwickelt:16 16

Ich möchte nicht weiter auf die historische Bedeutung des Artikels eingehen, weil mich hier nur die Produktivität der Figur interessiert. Jedoch sei darauf hingewiesen, dass er aus einem Kontext stammt, in dem Herman Nohls pädagogischer Bezug relevant war, der ebenfalls auf die Spannung zwischen gegenwärtigem Zögling und seinem zukünftigen Potential abhebt. Nohl formuliert: »Die Grundlage der Erziehung ist also das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme« (Nohl 1988 [1933/35]: 134; vgl. auch Klika 2003). Diese Spannung zwischen aktuellem Liebesobjekt und seinem Potential ist bereits in Platons Eros angelegt und verbindet alle pädagogischen Liebeskonzeptionen mit theoreti-

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Die überragende erzieherische Bedeutung der L. ist zu allen Zeiten hervorgehoben worden. Sie macht den Erzieher hellsichtig für das, was dem zu Erziehenden not tut und seiner Wesensart gemäß ist. Sie schenkt ihm dadurch – nach dem Maße ihrer Kraft – ein unmittelbares Wissen um das rechte erzieh. Tun, das durch theoret. Reflexionen nicht ersetzt, sondern nur geklärt und ergänzt werden kann. Darüber hinaus wirkt sie – in realer Zuwendung – als wahrhaft erschließende und erweckende Kraft auf den Zögling ein: Zunächst dadurch, dass sie dem tiefsten Verlangen des Menschenherzens, in seinem Eigenwert bejaht und gewürdigt zu werden, Erfüllung gewährt. Ohne solche Erfüllung steht der Mensch in der schwersten Gefahr, in der Sorge um sein Ich gefangen zu bleiben und sich nicht weltoffen nach außen wenden zu können. Sodann dadurch, daß sie die befreite L.skraft des Menschen zu antwortender Gegenliebe hervorlockt und damit seine Hingabefähigkeit zur Entfaltung bringt. Schließlich dadurch, daß sie wie ein fortwährender Anruf wirkt, sich der entgegengebrachten L. würdig zu erweisen. – Diese Hinweise machen verständlich, daß alle anderen erzieh. Wirkungsmöglichkeiten der L. nachgeordnet sind. L. schafft die »päd. Situation«, innerhalb deren die planvollen Erziehungsbemühungen erst wahrhaft fruchtbar werden können. Alle großen, begnadeten Erzieher haben aus der Kraft der L. gewirkt. (Haase 1954: 330f.) In diesem Lexikoneintrag spielt die Liebe für die Pädagogik eine zentrale Rolle, denn sie öffnet einen utopischen Raum, in dem das Unmögliche, pädagogisch Notwendige stattfindet. Liebe wird hier als Gegenbegriff zur theoretischen Reflexion verstanden, die lediglich eine Ergänzung darstellt. Wo Wissen nicht weiterhilft, wirkt Liebe »unmittelbar«. Unter anderem weil sie »hellsichtig« macht für das Gegenüber und dessen Bedürfnisse, deren Rätselhaftigkeit die pädagogische Unmöglichkeit bedingen. Darüber hinaus verspricht die Liebe einen echten Zugang zu diesem Gegenüber: Die Liebe erreicht den Zögling in seinem Kern; seine Erziehung besteht in diesem Sinne nicht nur darin, Wissen anzuhäufen, sondern berührt sein Wesen, seine Stellung in der Welt, sein Begehren. Ihre Wirksamkeit verdankt die Liebe einer Spannung, die sie selbst erst produziert. Denn zunächst verschafft die Liebe des Erziehers dem Zögling Anerkennung, er wird in dem, was er ist, bestätigt und angenommen, »in seinem Eigenwert bejaht und gewürdigt«. Gerade die Bestätigung des Eigenwerts, die den Charakter eines ungedeckten Schecks hat, sorgt aber für den Wunsch, dieser Unterstellung gerecht zu werden, und wirkt so als »fortwährender Aufruf«, als Aufruf, das Bisherige zu überschreiten. Der Zögling, der durch die Liebe in seinem Eigenwert bestätigt wird, der Geliebte, wird selbst

schem Fundierungsanspruch. Wenn jedoch Peter Brozio die (demokratisierte) pädagogische Beziehung als zeitgemäße Erbin des pädagogischen Bezugs versteht, unterschlägt er dessen grundlegende Funktion für das pädagogische Selbstverständnis (vgl. Brozio 1995).

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zum Liebenden. Geliebt zu werden ermöglicht selbst zu lieben; die angenommene narzisstische Selbstzufriedenheit öffnet sich zum anderen hin und befähigt letztlich dazu, ebenfalls Gegenliebe zu produzieren. Im Zögling produziert die Liebe also eine imaginäre Spannung zwischen dem idealen Bild, das der Liebe würdig ist, und dem realen Selbst, das sich in Differenz zu diesem Ideal befindet. Diese Spannung macht die Liebe produktiv, sie treibt den Zögling über seine Grenzen hinaus, er versucht nun seinerseits das Unmögliche: Liebe überträgt sich. Mit der Überwindung der Unmöglichkeit, das Gegenüber zu erreichen, überwindet die Liebe auch das Unvermögen der Pädagogik, ihr Ziel zu begründen: In der hellsichtig erkannten »Wesensart« des Zöglings liegt der Schlüssel zu dem, was Erziehung anvisieren sollte. Mithilfe der Liebe kann der Erzieher in dieser Vorstellung also ein Ziel erreichen, das er gar nicht anvisiert hatte: Die Liebe ermöglicht das Unmögliche, nämlich das Überschreiten des Bisherigen. Damit ist die Liebe der nicht operationalisierbare Aspekt, der pädagogische Beziehungen ausmacht, sich jedoch nicht rationalisieren und im Sinne einer Handlungsanweisung produzieren lässt. Die Liebe kompensiert so sowohl die Unfähigkeit, ein Ziel mit schematischen Mitteln zu erreichen, als auch die Unmöglichkeit dieses Ziel zu bestimmen. Deshalb ist Liebe für die Pädagogik kein Additiv. Sie ist eine Struktur, die sich aus den paradoxen Anforderungen der Pädagogik ergibt und damit eine Notwendigkeit; sie ist kein Eigenwert, sondern Mittel zum Zweck. Sie ermöglicht dem Pädagogen, doppelt zu sehen: Zum einen den »Seelenzustand«, die gegenwärtige Verfassung des Zöglings zu erkennen und Zugang zu seinem Realen zu haben und zugleich seine ideale Zukunft vorwegzunehmen, das Imaginäre des Zöglings. An der Spannung, die sich aus diesen Zuständen ergibt, kann der oder die Erziehende sein oder ihr Handeln ausrichten. Die Liebe bereichert das mechanische, »planvolle« pädagogische Handeln um echten Sinn, der sich nur aus dem Imaginären ergeben kann, der jedoch nur intuitiv erfasst werden kann, also der Vernunft entzogen bleibt. Der pädagogisch Liebende kennt kein Scheitern mehr, da er den Sinn seines Handelns nicht mehr am Ergebnis messen muss, sondern diesen Sinn immer schon im Zögling antrifft. Zugleich bleibt die doppelte Unmöglichkeit der Pädagogik gewahrt: Die Liebe ist als Wunder außerhalb des Bereichs des Handhabbaren, sie lässt sich nicht erzwingen oder schematisch erzeugen, sondern befindet sich im a-rationalen Bereich. Die Liebe als Beziehungsform und Modus der Organisation von Subjektivität schließt das pädagogische Feld nicht, das sich durch die pädagogischen Paradoxien eröffnet, indem es handhabbare Handlungsleitfäden oder Zielvorgaben gibt, sondern beantwortet die Frage, wie sich das erwachsene Subjekt zu der doppelten Unmöglichkeit, die das Kind in der Moderne verkörpert, positionieren soll. Die Unterschiede zu Bernfelds psychoanalytischem Begriff der Liebe liegen auf der Hand: Hier wird Liebe und damit die Subjektivität des Pädagogen nicht zuvorderst als eine Grenze der Pädagogik verstanden, sondern als das, was ihre inhä-

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renten Unmöglichkeiten überwindet oder zumindest aus Unmöglichkeiten Möglichkeiten macht, die zwar unwahrscheinlich und unkontrollierbar sind, jedoch die Kraft haben, das Pädagogische als Spannungsfeld zu öffnen. Gegenwärtigen Theoretisierungen von Pädagogik mag dieser Liebesbegriff näher stehen als die mit Bernfelds Liebesbegriff verbundene Utopie einer gelingenden Erziehung im Sozialismus. Jedoch fehlt ihm gerade das, wofür Bernfeld sich des Liebesbegriffs bedient, nämlich ein Bezug auf das Lustvolle in der Pädagogik, auf das Genießen des Erziehers. Das obenstehende Zitat entspricht so dem, was Bernfeld spöttisch als Predigen eines »Evangelium[s] der Liebe« (Bernfeld 1973 [1925]: 57) bezeichnet: Eine idealisierende Liebesethik, die sich ihrer lustvollen Anteile nicht bewusst ist. Historisierung der Liebe in der feministischen Kritik der Mutterliebe Darüber hinaus gibt sich die pädagogische Beschwörung der Liebe als produktive Kraft ahistorisch. Nicht »zu allen Zeiten«, sondern spezifisch in der Moderne gewinnt die Liebe zum Kind an Bedeutung. Denn erst mit der Entdeckung der Kindheit kann diese emotionalisiert und idealisiert zum Objekt der Liebe werden. Die pädagogische Liebe des oben stehenden Zitats bedarf eines spezifischen Gegenübers, das sich durch das komplexe Gemenge von Unbestimmtheit und Aufforderung zur Intervention auszeichnet. Die pädagogische Liebe und die Entdeckung der Kindheit sind also untrennbar verbunden. Philippe Ariès beschreibt detailliert, wie das Kind, sobald es nicht mehr als unfertiger Mensch, sondern als spezifische Andersheit betrachtet wird, durch seine spezifisch kindlichen Gesten, seine Drolligkeit, in Entzücken versetzt, gerne »gehätschelt«, mit Zärtlichkeiten überschüttet und liebkost wird (Ariès 1985 [1978]: 211ff.). Das neu entdeckte Kind weckt zärtliche Gefühle und wird durch seine spezifische Kindlichkeit zum Liebesobjekt. Ohne Zweifel hängt die Liebe zum Kind mit der Gefühlskultur zusammen, die in der Neuzeit entsteht und eine vom Öffentlichen geschiedene Sphäre des Privaten definiert, die eine »lebbare Gegenwelt« (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 9) zu den Zumutungen einer enttraditionalisierten und abstrakten Gesellschaft bildet. Entsprechend fällt die Liebe zum Kind zunächst in den Zuständigkeitsbereich der Mutter, die mit der Kinderpflege betraut ist. Diese Liebe, die dem Kind gilt, lässt sich als Reaktion auf eine veränderte gesellschaftliche Norm verstehen, als eine Verwirklichung des kulturellen Anspruchs, der sich besonders an Mütter richtet und diese dazu bringt, der Kinderaufzucht mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Deutung findet sich insbesondere in der feministischen Auseinandersetzung mit der Geschichte mütterlicher Liebe. So beschreibt beispielsweise Elisabeth Badinter, wie sich die Mutterliebe als ein Ideal im 18. Jahrhundert etabliert hat und als ein »zugleich natürliche[r] und auch gesellschaftliche[r] Wert verherrlicht [wird], der sowohl der menschlichen Gattung als auch der Gesellschaft förderlich sei« (Badinter 1981: 113). Die Entstehung ei-

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nes Ideals der Liebe sieht sie in Verbindung mit einem gesellschaftlichen Wandel: Während es zuvor (im Absolutismus des Ancien Régime) darum ging, fügsame Untertanen zu produzieren, also vor allem die Disziplinierung durch die väterliche Autorität bedeutsam war, wird zunehmend wichtig, die hohe Sterblichkeit in den ersten Jahren zu verhindern und »Menschen zu produzieren, die dann den Reichtum des Staates bilden werden« (ebd. 114). Mütter werden verantwortlich für diese Aufgabe, ihre Sorgetätigkeit wird aufgewertet, zugleich jedoch mit der Notwendigkeit, sich vollständig den Bedürfnissen des Kindes zu unterwerfen, verbunden. Das Kind fordert also in erster Linie Selbstlosigkeit – eine Selbstlosigkeit, die den Frauen im 18. Jahrhundert erst gewaltvoll beigebracht werden musste, wie Badinter betont. Für den deutschsprachigen Diskurs leistete Yvonne Schütze einen vergleichbaren Beitrag (Schütze 1986). Wie Badinter richtet sich ihr Argument besonders gegen die Vorstellung einer natürlichen Mutterliebe, die impliziert, dass Mutterschaft weibliche Bestimmung ist. Sie schlägt stattdessen vor, Mutterliebe als »kulturelles Deutungsmuster« zu verstehen, »das nicht nur die Mutter-Kind-Beziehung, sondern gleichermaßen die Binnenstruktur der Familie und die Rolle der Frau normativ interpretiert« (ebd. 7). Schütze hebt stärker als Badinter hervor, dass die Mutterliebe als normatives Muster mit der Entstehung des Geschlechtscharakters der Frau im Sinne Hausens verkoppelt ist (vgl. Hausen 1976) und damit für die Ungleichberechtigung von Mann und Frau mitverantwortlich ist. Dabei versteht Schütze die Liebe als Erzählung, die ein soziales Arrangement, nämlich die geschlechtliche Arbeitsteilung und die weibliche Zuständigkeit für den Nachwuchs naturalisiert und idealisiert. Sie untersucht das Sprechen über Liebe als eigengesetzliches Phänomen, das mit einer tatsächlichen Veränderung der Beziehung zum Kind wenig zu tun haben muss. Nicht zufällig beschäftigen sich feministische Autorinnen in den 80ern mit der Liebe zum Kind. Angesichts des zunehmenden Abbaus von diskriminierenden Strukturen im Arbeitsmarkt, angesichts zunehmender Gleichstellung bezüglich Bildungschancen und politischer Mitsprache scheint es insbesondere die »Arbeit aus Liebe« (Bock/Duden 1977) zu sein, die Frauen dennoch aus der öffentlichen Sphäre verbannt und an Haus und Herd fesselt. Die Liebe zum Kind ist aus feministischer Perspektive kritikwürdig, weil sie Frauen dazu animiert, ihre Bedürfnisse Mann und Kindern unterzuordnen, sich gerade in dieser Unterordnung aufzuwerten und diese als (bessere) weibliche Natur zu verherrlichen. Als Historikerinnen betonen die genannten Autorinnen deshalb die Geschichtlichkeit der Liebe zum Kind, sprechen ihr die Natürlichkeit ab und betonen den Zusammenhang zwischen der Liebe zum Kind und der Hierarchisierung der Geschlechter. Die Liebe zum Kind stellt sich Feministinnen zumeist als etwas Problematisches dar, das die weibliche Unterwerfung zementiert und die weibliche Kollaboration an patriarchalen Strukturen motiviert.

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Dabei verkennt die feministische Auseinandersetzung mit der Mutterliebe, für die Badinter und Schütze beispielhaft stehen, dass diese Liebe auf ein pädagogisches Problem antwortet, obwohl Badinter die Pädagogik für die Ideologie der Mutterliebe verantwortlich macht. Tatsächlich sind es insbesondere Pädagogen wie Rousseau oder Pestalozzi, deren Ideen die Debatte um eine natürliche mütterliche Liebe prägen. Mit Julie (Rousseau 2003 [1761]) oder Gertrud (Pestalozzi 1994 [1801]) entwerfen sie Kunstfiguren, die vorbildhaft das Ideal mütterlicher Liebe verkörpern. Sicher stehen diese Figuren, wie Badinter analysiert, auch im Kontext einer Geschlechterpolitik, die Frauen im Medium der Beziehung zum Kind die vorkulturelle Natur zuordnet und sie so auf den Bereich des Privaten beschränkt. Zugleich lässt sich die mütterliche Liebe von Julie und Gertrud jedoch als Reaktion auf ein pädagogisches Problem bzw. ein Problem der Moderne verstehen, das in Gestalt des Kindes auftritt. Die Liebe wird zur angemessenen Reaktion auf das Kind, das mit seiner offenen Zukunft dazu aufruft, diese zu gestalten und gleichzeitig nicht zu vereinnahmen. Die mütterliche Liebe verbindet eine Hellsichtigkeit den Bedürfnissen des Kindes gegenüber mit der Anwaltschaft für deren ideale Zukunft. Wenn das »Mutterauge« bei Pestalozzi intuitiv die Stimmungen, den »Seelenzustand« des Kindes erahnt (vgl. Stenger 2007: 187), Julie ein Gefühl für die natürliche Disposition ihrer Kinder hat und deren Entwicklungszustand aufgrund ihrer mütterlichen Aufmerksamkeit erspürt, überwindet die mütterliche Liebe die Entzogenheit des Objekts, ohne es jedoch vollständig in der Hand zu haben: Die Liebe lässt die Liebende das Geliebte unmittelbar erfassen, wo die Vernunft nicht weiterkommt, gleichzeitig bleibt diese Erkenntnis des Objekts im A-Rationalen und weder begründ- noch vermittelbar. Die Unmöglichkeit, das pädagogische Objekt zu erreichen, es zu verstehen und auf es einzuwirken, scheint in der Liebe überwunden, ist jedoch dem Subjekt nicht verfügbar, sondern ist ereignishafte Gewalt, die ihm ohne eigenes Zutun widerfährt. Julies Erziehung zielt auf die Freiheit und Vernunft, die in der Natur des Kindes bereits angelegt ist. Pestalozzi als Schöpfer der Gertrud erkennt in jedem Kind die göttliche Natur, die sich erst im Erziehungsprozess zu den »herrlichsten Anlagen und Fähigkeiten entfaltet« (Stenger 2007: 190). Das im Kind liegende Ideal seiner selbst, das die Liebe bereits vorwegnimmt, überwindet so das Unvermögen der Pädagogik, ein Ziel zu setzen, indem sie ein Ideal anvisiert, dem sich nur angenähert werden kann. Damit ist die mütterliche Liebe in erster Linie eine Antwort auf die Unmöglichkeit der Erziehung, weil sie einen intuitiven Zugang zu ihrem Objekt verspricht, und auf das Unvermögen des Pädagogen, weil sie Ziele setzt, ohne sich auf diese festzulegen. Die Liebe antwortet auf das Problem des modernen Subjekts zwischen Autonomie und Heteronomie: Sie gibt, ohne zu beherrschen, sie richtet sich an ein Gegenüber, ohne dieses auf seine Gegenwart festzulegen.

1. Liebe als Thema der Pädagogik

Dass die Liebe zum Kind zunächst der mütterlichen Natur zugeschrieben wird, lässt sich vor diesem Hintergrund, nämlich ihrer pädagogischen Notwendigkeit, als eine rhetorische Strategie verstehen: Als Natur kann die Liebe eine Wahrheit behaupten, die gegen die deformierende Gesellschaft verteidigt werden muss. Die Behauptung einer Natürlichkeit immunisiert die Liebe. In Zusammenhang mit der Annahme einer vernünftigen Natur ist die Liebe und damit eine Pädagogik, die auf Überschreitung zielt, gerechtfertigt. Der männliche Pädagoge, der nicht auf diese Natur zurückgreifen kann, muss das »Mutterauge« erst erwerben, seine Liebe bleibt eine Haltung, die er scheinbar einer souveränen Entscheidung verdankt. Über den Umweg einer Naturalisierung, der mit einer Verweiblichung erkauft ist, kann sich die Liebe zum Kind als eine Struktur etablieren, die auf Unmöglichkeit und Unvermögen der Erziehung und damit auf die in der Moderne auftauchende Frage reagiert, was denn nun die ältere Generation mit der jüngeren will. Die Liebe zum Kind ist so Bestandteil einer generationalen Ordnung, die sich auf die Erwachsenen-Kind-Differenz stützt.17 Das Lustvolle in der Liebe Badinter beschreibt die Mutterliebe als eine Ideologie im Sinne eines normativen Ideals, dem sich Frauen mehr oder weniger unterwerfen mussten, wobei man Widerständigen »den Krieg« machte (Badinter 1981: 115). Die Liebe zum Kind begreift sie folglich als die Unterwerfung der einzelnen Subjekte unter eine diskursive Norm, wobei sie herausstellt, dass die Norm durchaus auch gewaltsam durchgesetzt wird. Dabei geht sie davon aus, dass die Mutterliebe im Interesse eines Regimes ist, das auf Kontrolle des Lebens der Regierten zielt, also mit politischer Herrschaft eng verflochten ist. Gleichzeitig legt Badinter nahe, dass das Ideal der Mutterliebe nicht ohne ein Glücksversprechen wirksam werden kann: Die Liebe zu den Kindern wird seit der Aufklärung für Frauen als vollständig erfüllend und höchstes Glück dargestellt (ebd. 153); die disziplinierende Norm ist also verbunden mit einem verführerischen Ideal, in dessen Zentrum das neu entdeckte, liebenswerte Kind steht. Bei Philippe Ariès finden sich zahlreiche Zeugnisse einer neu entstandenen Lust an der Beschäftigung mit dem Kind. So lässt er beispielsweise Madame Sévigné zu Wort kommen, die über ihre Enkelin schreibt: »Sie ist in jeder Beziehung reizend. Ich vergnüge mich ganze Stunden mit ihr.« (Ariès 1985 [1978]: 111).

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Badinter zeigt, dass mit der Erfindung der mütterlichen Liebe ein Verfall der Bedeutung der väterlichen Rolle einhergeht, zunächst der Staat die Rolle der väterlich-urteilenden Autorität übernimmt und als Lehrer, Jugendrichter oder später Psychiater den väterlichen Platz einnimmt (vgl. Badinter 1981: 231). Im dritten Kapitel werde ich jedoch argumentieren, dass erst die neue pädagogische Liebe zum Kind den Gegenpol einer väterlichen Autorität entstehen lässt, die jedoch problematisiert und zu überwinden ist.

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Die spezifischen Verhaltensweisen des Kindes, sein kindlicher Körper, alles, was es vom Erwachsenen unterscheidet, wird »niedlich« (ebd.), Gegenstand von Entzückung und Bewunderung und Anlass zur Liebkosung. Die Unlust, die es bedeutet, zu Gunsten des Kindes und seiner Zukunft auf die Durchsetzung eigener Bedürfnisse, ihrer Wünsche und Werte verzichten, scheint mit einer ganz eigenen Lust verbunden zu sein. Dieses Vergnügen, das die Beschäftigung mit dem Kind bedeutet, kann eine Theorie nicht fassen, die Liebe nur als normatives Ideal fasst, dem sich Individuen unterwerfen. Die feministisch-historische Debatte um die Mutterliebe hat hier eine ähnliche Leerstelle wie der pädagogische Liebesbegiff: Beide haben keinen Begriff des Genießens, beide können Liebe nur als Ideal verstehen und müssen deshalb die subjektive Seite der Liebe, das individuelle Erleben empirischer Personen, als Unterwerfung unter dieses Ideal begreifen. Mit der Psychoanalyse lässt sich dieser Liebesbegriff kritisieren. So hält Bernfeld den Pädagogen, die sich auf diese idealisierte Liebe stützen, vor, dass die pädagogische Liebe nicht so selbstlos ist, wie sie sich gibt. Der liebende Pädagoge verwirkliche keine ideale Haltung, seine Liebe sei nicht selbstlos und nur am Wohle des Kindes interessiert, sondern habe ihre Wurzel in einer von ihrem ursprünglichen Ziel abgedrängten Libido, die sich mit dem Kind ein problematisches Ziel wähle und deshalb notorisch unbefriedigt sei. Bernfeld bestreitet also nicht, dass die Liebe für das Verhältnis des Pädagogen zum Zögling eine Rolle spielt – wie die Pädagogen seiner Zeit gesteht Bernfeld der Liebe eine zentrale Rolle zu –, jedoch nimmt er eine wichtige theoretische Verschiebung vor: Mit seiner Annahme einer Verstrickung der Liebe ins Sexuelle ist Liebe keine Haltung mehr, die auf einer Entscheidung basiert. Liebe lässt sich auch nicht als eine Narration verstehen, als eine imaginäre Figur, ein diskursives Element. Indem Bernfeld sich auf Freuds Theorie der Libido bezieht, betrachtet er Liebe als eine Struktur, die sich in dem pädagogischen Diskurs quasi symptomatisch zeigt, jedoch jenseits seiner eigenen Beschreibungen liegt. Die Liebe hat der Pädagoge nicht in der Hand, er kann sie nicht als Mittel zum Zweck wie ein Werkzeug einsetzen, vielmehr hat die Liebe ihn in der Hand. Die Konzepte Freuds, die für Bernfelds Einschätzung der pädagogischen Liebe die Grundlage bilden, sind jedoch nicht geeignet, die Liebe als produktives Element pädagogischer Beziehungen zu fassen. Das werde ich im Folgenden zeigen.

1.3 Von der Liebe als Ideal zur Liebe als Struktur bei Freud Sie vermeiden die Schwankungen und Enttäuschungen der genitalen Liebe dadurch, dass sie von deren Sexualziel ablenken, den Trieb in eine zielgehemmte Regung verwandeln. Was sie auf diese Art bei sich zustande bringen, der Zustand eines gleichschwebenden, unbeirrbaren, zärtlichen Empfindens, hat mit

1. Liebe als Thema der Pädagogik

dem stürmisch bewegten, genitalen Liebesleben, von dem es doch abgeleitet ist, nicht mehr viel äußerliche Ähnlichkeit. Der heilige Franciscus von Assisi mag es in dieser Ausnützung der Liebe für das innere Glücksgefühl am weitesten gebracht haben; was wir als eine der Techniken der Erfüllung des Lustprinzips erkennen, ist auch vielfach in Beziehung zur Religion gebracht worden, mit der es in jenen entlegenen Regionen zusammenhängen mag, wo die Unterscheidung des Ichs von den Objekten und dieser voneinander vernachlässigt wird. (Freud: Das Unbehagen in der Kultur [1930], GW 14: 461.) Freud stellt hier eine provokante These auf: Die Liebe zum Nächsten und zu Gott, diese »Bereitschaft zur allgemeinen Menschen- und Weltliebe« kann verstanden werden als eine Abwandlung des sexuellen Triebs, nämlich seine Lösung vom Objekt. Der Trieb wird in Bezug auf das Ziel gehemmt und entgeht damit dem Risiko einer Enttäuschung. Die Caritas eines Franciscus stellt Freud dar als ein geschicktes Manöver, Befriedigung unabhängig von unsteten Objekten zu machen; die »moralisch übertreffliche Haltung«, die Selbstlosigkeit eines Heiligen wird in dieser Deutung zu einer gut getarnten Allmachtsphantasie, eine Erhebung über das Objekt, von dem die eigene Befriedigung abhängig war. Mit dieser Deutung stellt Freud die den idealistischen Liebesbegriff ausmachende, saubere Trennung der geistigen Liebe von einer abgewerteten, auf die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse ausgerichteten Sexualität in Frage. Dieses Freud’sche Manöver fasst den psychoanalytischen Einsatz in die zeitgenössischen Debatten ganz gut zusammen: Als Kernthese der Psychoanalyse lässt sich der Hinweis auf die verdrängten Wurzeln des Subjekts und dessen Rationalität verstehen, der Hinweis auf das Unbewusste, dessen Entdeckerin sie war. Freud zeigt, wie die den Menschen ausmachenden Konflikte temporär gelöst werden, so dass die für die moderne Subjektivität so zentralen Annahmen wie Rationalität und Autonomie überhaupt erst entstehen können durch die Aufspaltung von Bewusstem und Unbewusstem. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, über die Liebe in pädagogischen Beziehungen neu nachzudenken. Denn Franciscus’ selbstlose Liebe zur Welt ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern ein allgemeines Phänomen, das für Kultur konstituierend ist. Freud zeigt sich in seinen kulturtheoretischen Schriften als Pessimist, der sich nicht nur gegen die Vorstellung von der Perfektibilität des Menschen und der Kultur ausspricht, sondern nachweist, dass jeder kulturelle Fortschritt mit neuen Entsagungen einhergeht und Kultur für das Individuum immer ambivalent ist. Was Freud im oben stehenden Zitat als Strategie eines Einzelnen einführt, stellt er im nächsten Schritt in den Zusammenhang seiner allgemeinen Kulturtheorie: Kultur, das Zusammenleben von Menschen in größeren Einheiten, fordert genau diesen Verzicht des Triebobjekts von all ihren Mitgliedern, um Zusammenhalt zu stiften. Das Kulturgebot der Nächstenliebe analysiert Freud als Komprimierung

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der Zumutungen, die Kultur für die Individuen bedeutet. Die Forderung Liebe deinen Nächsten wie dich selbst beinhaltet nicht nur die Zielhemmung des Eros, der von konkreten Objekten wie dem Selbst abgezogen, dem unkonkreten Nächsten gelten und damit entwertet werden soll. Die Nächstenliebe bedeutet auch die Unterdrückung der Aggression, die Freud in seinen späten Schriften dem Eros als Gegenpart zugesellt und die er als Lehre der Geschichte betrachtet. Kulturmenschen müssen also sowohl den Eros als auch die Aggression hemmen, auf ihre konkreten Objekte verzichten. Dieser Verzicht auf die Auslebung der Triebe ist für Freud der Ursprung des Unbehagens in der Kultur: Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung der Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, dass es den Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden. (Ebd. 474.) Gleichzeitig ist der Verzicht aufs konkrete Objekt der Ursprung der Kultur selbst: Indem die Mitglieder einer Gesellschaft ihre Triebe hemmen, vom konkreten Objekt abziehen und verallgemeinern, werden die für die Gemeinschaftsbildung nötigen Bindungen gestärkt. Die Nächstenliebe, auch wenn sie für das Individuum voller Ambivalenzen und in ihrer Radikalität ein Ding der Unmöglichkeit ist, bildet die Grundlage einer Kultur, die über die durch konkrete Objektbezüge hergestellte Kleinfamilie oder Sippe hinausreicht. Für Freud besteht die Wirkung der Kultur darin, die Triebstrebungen aufzunehmen, von ihrem Objekt zu lösen und für sich fruchtbar zu machen. Kultur lässt sich also nicht als Gegensatz zu den Trieben verstehen, sie verbietet nicht, wie es eine trivialisierende Psychoanalyse-Rezeption proklamierte, die beispielsweise unter den politisch ambitionierten »68ern« der sexuellen Befreiung verbreitet war.18 Kultur basiert vielmehr auf der Umwandlung und Neuausrichtung des Triebes auf andere oder allgemeine Objekte. Diese Vorstellung einer Verwandlung des Triebes im Dienste der Kultur bedachte Freud mit dem Begriff der Sublimierung.19 Der Trieb wird als sublimierter in eine höhere Sphäre gehoben, in das Feld des Erhabenen (Sublimen), der Kunst und Kultur. Unter Sublimierung versteht Freud in diesem Sinn die Ausrichtung des Triebs auf sozial höherstehende Ziele wie sie in der künstlerischen Produktion zu sehen seien (vgl. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1917], GW 11: 16). Gleichzeitig schwingt eine zweite Bedeutung mit, die sich aus der Verwendung des Begriffs Sublimierung in der Chemie ergibt: Dort bezeichnet er den Vorgang, in dem ein fester Körper in den gasförmigen Zustand

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Auf dieses Psychoanalyse-Verständnis und insbesondere Lacans Auseinandersetzung damit werde ich im dritten Kapitel zurückkommen. Wie Laplanche und Pontialis feststellen, handelt es sich bei der Sublimierung jedoch nicht um eine konsistente Theorie. Aus den »theoretisch recht wenig bearbeiteten Elementen in Freuds Schriften« lasse sich auch keine solche ableiten (vgl. Laplanche/Pontialis 1973: 479).

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wechselt. Stoff und Masse bleiben erhalten, aber der Aggregatzustand verändert sich. In Freuds energetisch gedachter Triebkonzeption bleibt die Energie, die den Trieb ausmacht, wie die Masse eines chemischen Stoffes bei der Sublimierung die gleiche. Sie fließt nun in neue Ziele, in künstlerische oder intellektuelle Leistungen, in die Arbeiten, auf denen die Kultur basiert. In diesem Sinne sind Kulturleistungen nur möglich durch die Abwandlungen des Triebes. Entsprechend ist für die Kultur die Realisierung der Triebe und das Beibehalten der sexuellen Triebziele problematisch, da dies einen Verlust ihrer Grundlagen bedeuten würde. Darüber hinaus kann sie ihre eigenen sexuellen Wurzeln nicht anerkennen und muss »von diesem ganzen Gebiet ablenken«: Die Gesellschaft glaubt an keine stärkere Bedrohung ihrer Kultur, als ihr durch die Befreiung der Sexualtriebe und deren Wiederkehr zu ihren ursprünglichen Zielen erwachsen würde. Die Gesellschaft liebt es also nicht, an dieses heikle Stück ihrer Begründung gemahnt zu werden, sie hat gar kein Interesse daran, dass die Stärke der Sexualtriebe anerkannt und die Bedeutung des Sexuallebens für den einzelnen klargelegt werde, sie hat vielmehr in erziehlicher Absicht den Weg eingeschlagen, die Aufmerksamkeit von diesem ganzen Gebiet abzulenken. (Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916], GW 11: 16.) Das Anerkennen der sexuellen Wurzeln der Kultur ist für ihre Institutionen nicht ratsam; gerade die Pädagogik als Instanz, die aus dem Triebwesen ein kulturelles machen soll, muss auf die Trennung vom Sexuellen und dessen Verleugnung bestehen. Dass also gerade in pädagogischen Institutionen – Institutionen, die sich besonders eindringlich dem (unkonkreten) Nächsten zuwenden – die Liebe besonders vehement von ihren sexuellen Wurzeln getrennt werden muss, liegt auf der Hand. Der idealistische Liebesbegriff wird von Freud also als ein Ergebnis einer notwendigen Verleugnung des Sexuellen betrachtet. Entgrenzung des Sexuellen und der Konflikt Doch wenn an dieser Stelle klar erscheint, was unter dem Sexuellen und dem Trieb zu verstehen ist, so ist es an anderen Stellen in Freuds Werk schwierig zu fassen, wie das Sexuelle definiert und wie es von einem Nicht-Sexuellen abzugrenzen ist. Klar ist, dass das psychoanalytische Verständnis des Sexuellen über das hinausgeht, was üblicherweise als solches gefasst wird, nämlich dass »unter sexuellen Bedürfnissen nichts anders verstanden wird als das Bedürfnis nach dem Koitus oder analogen, den Orgasmus und die Entleerung der Geschlechtsstoffe bewirkenden Vornahmen. […] Der Begriff des Sexuellen umfasst in der Psychoanalyse weit mehr; er geht nach unten wie nach oben über den populären Sinn hinaus.« (Freud: Über wilde Psychoanalyse, GW 8: 120.) Mit dieser Erweiterung des Sexualitätsbegriff geht jedoch auch die Gefahr einer begrifflichen Unschärfe einher.

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Zu Beginn seiner Vorlesung über das menschliche Sexualleben stellt Freud die Frage, was man unter diesem überhaupt zu verstehen habe, und zeigt seinen Hörerinnen und Hörern, dass der scheinbar so selbstverständliche Begriff des Sexuellen sich einer präzisen Definition leicht entzieht. Die verschiedenen alltagssprachlichen Möglichkeiten, das Sexuelle zu definieren, stellt er nacheinander als unzureichend heraus: Wird das Sexuelle beispielsweise als das auf den Unterschied der Geschlechter Bezogene verstanden, fällt Verschiedenes aus der Definition, was man allgemein als Bestandteil der Sexualität verstehen würde, wie die Homosexualität oder die Onanie. Auch die Definition des Sexuellen durch die Fortpflanzungsfunktion weist Freud zurück: Gerade in den Perversionen zeigt sich eine Sexualität, die sich von der Fortpflanzungsfunktion völlig gelöst hat. Durch die Auseinandersetzung mit den Perversionen, die sich von der allgemeinen Norm durch abweichende Sexualobjekte und Sexualziele unterscheiden, kann er den Sexualitätsbegriff erweitern und präzisieren. Er zeigt, dass es sich bei ihnen nicht etwa um kuriose Abirrungen handelt, die nur Ausnahmefälle betreffen, sondern dass sich die Perversionen von Erwachsenen als Rückfall in ein schon durchlaufenes Stadium einer Entwicklung deuten lassen. So entwickelt er eine Theorie der Sexualität, die bereits (vor den Erwachsenen verborgen) in der Kindheit beginnt, sich entwickelt und in ihren Stadien verschiedenen Perversionen der Erwachsenen entspricht, bis sie sich mehr oder weniger zum erwachsenen genitalen Sexuellen vereindeutigt. Das, was scheinbar die extremste Abweichung ist, erklärt Freud dabei zur Voraussetzung einer erwachsenen Sexualität, deren Eindeutigkeit er jedoch gleichzeitig in Frage stellt. Alenka Zupančič fasst seine Argumentation schlicht zusammen: »Die (menschliche) Sexualität ist eine mit Paradoxien beladene Abweichung von einer Norm, die es nicht gibt.« (Zupančič 2009: 13.) Obwohl Freud immer wieder an Theorien arbeitet, die die Libido rein physiologisch erklären sollen, unterscheidet er das Sexuelle scharf vom biologischen Instinkt, der einfach vorhanden ist und sich nur Bahn brechen muss. Bei seinem Versuch, zu ergründen, wie das Sexuelle entsteht, wie es Form annimmt und warum es empirisch so oft in den herkömmlichen Bahnen landet, beginnt er seine Erklärung folgendermaßen: Die Lippen des Kindes haben sich benommen, wie eine erogene Zone, und die Reizung durch den warmen Milchstrom war wohl die Ursache der Lustempfindung. Anfangs war wohl die Befriedigung der erogenen Zone mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesellschaftet. Die Sexualbetätigung lehnt sich zunächst an eine der zur Lebenserhaltung dienenden Funktionen an und macht sich erst später von ihr selbständig. (Freud: Drei Abhandlungen [1905], GW 5: 82.) Freud beschreibt die Entstehung des Triebs, hier noch ein Partialtrieb, der sich mit anderen Partialtrieben später mehr oder weniger unter dem Primat des Genitalen vereinigen wird, als einen Prozess der Anlehnung. Ein körperliches Gefühl

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der Unlust, der Hunger, wird ausgeglichen und befriedigt, zu der Befriedigung des körperlichen Bedürfnisses gesellt sich eine zweite Befriedigung hinzu, die sich von der ersten ablöst und unabhängig von ihr wiedergesucht wird. Das Saugen an Brust, Daumen oder Schnuller wird zur ersten sexuellen Betätigung, die losgelöst ist von ihrem ursprünglichen Befriedigungsobjekt, der Milch. Gleichzeitig ist die neue Befriedigung nicht mehr nur möglich als Reaktion auf einen Hunger – dieser ist schließlich irgendwann gestillt – sondern wird verallgemeinert in dem Sinne, dass der Trieb sich unabhängig macht von einem verursachenden Reiz. Die Figur, mit der Freud die Entstehung des Sexuellen aus dem Physiologischen und seine Ablösung von ihm erklärt, erinnert nicht unwesentlich an die Sublimierung, war diese doch auch definiert als Lösung des Triebes von seinem primären Objekt und seine Verallgemeinerung. Wie das Sexuelle in Anlehnung an das Stillen eines biologischen Bedürfnisses entsteht, entstehen in der Sublimierung neue Befriedigungsweisen in Anlehnung an das Sexuelle. Damit wird jedoch die Unterscheidung zwischen sublimierter Liebe und dem sexuellen Trieb noch schwieriger. Wenn das Sexuelle gerade das Moment des Wiederaufsuchens eines Objekt bezeichnet, das jedoch dann ein anderes ist, wenn das Sexuelle also genau den Überschuss bezeichnet, der beim Verfehlen des Objekts entsteht, ist jeder Trieb zielgehemmt. Und im Gegenschluss: jede Sublimierung geht nicht über das Sexuelle hinaus.20 Damit wird der Begriff des Sexuellen entgrenzt, es lässt sich nicht mehr sagen, was nicht sexuell ist. Es sind nicht spezielle Handlungen oder Haltungen, die sich als sexuell klassifizieren lassen, das Sexuelle bildet keine Kategorie im Rahmen menschlicher Verhaltensweisen. Vielmehr muss dann ein Zug jeder menschlichen Tätigkeit sexuell genannt werden, das Sexuelle ist an jeder psychischen Regung, in jeder menschlichen Beziehung beteiligt, auch wenn es auf den ersten Blick nicht als solches zu erkennen ist. Mit diesem entgrenzten Begriff des Sexuellen muss die Psychoanalyse für ihre Zeitgenossen in verschiedenen Hinsichten eine Provokation gewesen sein: So stellt die Psychoanalyse zum einen das philosophisch-theoretische Projekt des Rationalismus in Frage, das das Subjekt unabhängig vom Sexuellen verstand und es universal und geschlechtsneutral konzipierte. Zum anderen stellte es die Alltagspraxis in Frage, die das Sexuelle in bestimmte Bereiche verbannte, die der Öffentlichkeit verborgen waren, so dass der öffentliche Mensch quasi asexuell auftreten konnte. Die Ablehnung, die der Psychoanalyse so heftig entgegenschlug, lässt sich damit erklären, dass sie das Sexuelle dort hervorhob, wo es sich anders kleidete.

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Zum widersprüchlichen Verhältnis des Sexuellen zur Sublimierung vgl. auch Härtel 2009: 91ff. Ähnlich argumentiert Zupančič, die den Kern des psychoanalytischen Begriffs vom Sexuellen in der Figur des Überschusses sieht und damit gerade in der Möglichkeit zur Sublimierung (vgl. Zupančič 2009).

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Auch innerhalb der psychoanalytischen Bewegung war die Bedeutung des Sexuellen sehr umstritten und spielte in den berühmtesten Kontroversen eine Rolle. So stellte beispielsweise Karen Horney Freuds Libido-Theorie in Frage, indem sie das Lusterleben des Säuglings beim Gestilltwerden nicht sexuell nennen will. Sie plädierte stattdessen dafür, Lustempfindungen in verschiedenen Lebensbereichen anzunehmen, von denen nur einer sexuell zu nennen ist (vgl. Horney 1977 [1938]). Damit stellte sie die zentrale Stellung der Sexualität in der Psychoanalyse radikal in Frage, was nicht nur einen theoretischen, sondern auch einen organisatorischen Bruch mit der »Bewegung« bedeutete. Eine andere Veränderung nimmt Carl Gustav Jung vor, der das Freud’sche Sexuelle, die Libido, zu einer allgemeinen Lebensenergie umdeutet.21 Mit dieser Umdeutung der Libido geht jedoch eine Entschärfung des Begriffs einher. So hängt nämlich gerade an dem erweiterten Begriff des Sexuellen seine Deutung als konflikthafte Natur des Menschen. Diese Einsicht lässt Freud schließlich zu dem pessimistischen Schluss kommen: Ich glaube, man müsste sich, so befremdend es auch klingt, mit der Möglichkeit beschäftigen, dass etwas in der Natur des Sexualtriebs selbst dem Zustandekommen der vollen Befriedigung nicht günstig ist. (Freud: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens [1912], GW 8: 69.) Diese konflikthafte Natur des Sexuellen begründet sich nach Freud in zwei Momenten: Zum einen liegt der Konflikt in der Überschussbewegung des Triebs selbst, die ihn sein Objekt stets verfehlen lässt.22 Zum anderen gründet der Konflikt in der ödipal-väterlichen Forderung, bestimmte Partialtriebe aufzugeben, die sich nicht in die gesellschaftliche Form des Zusammenlebens einpassen, deren Reste als verlorene jedoch die genitale Sexualität prägen. Die zweite Begründung des Konflikts überlagert jedoch die erste. So lässt sich der Umstand, dass das erste Objekt immer verloren ist, auch als eine Folge des väterlichen Verbots interpretieren: Dass der Trieb sein Objekt nie erreicht, verdankt sich dem Inzestverbot, der dem Kind das erste mütterliche Objekt raubt. In diesem Sinn sind es immer Forderungen der Kultur, die das Sexuelle als etwas vom Biologisch-Organischen Gelöstes entstehen lassen und gleichzeitig für die Unmöglichkeit seiner Befriedigung sorgen.

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Zur Auseinandersetzung zwischen Freud und Jung vgl. Dührssen 1994 und Bokanowski 1995. Dieses bei Freud schon angelegte zwangsläufige Verfehlen des Objektes begründet Lacan später mit dem sprachlichen Zugang zur Welt: Nur wo ein Objekt auch als abwesendes anwesend sein kann, kann es auch wieder gesucht werden. Die anwesende Abwesenheit ist Definition des Signifikanten. Wie ich später noch zeigen werde, ist damit eine Einschreibung der Kultur ins Sexuelle zu denken, die nicht ödipal organisiert ist und die Freud ohne die Theorie des Signifikanten noch nicht denken kann.

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Ödipale Vereinfachungen Das zweite topische Modell Freuds lässt sich leicht als eine Vereinfachung dieses komplexen Verhältnisses von Kultur und Sexuellem lesen. Der ins Sexuelle eingeschriebene Konflikt wird hier zu einem Kampf zwischen verschiedenen innerpsychischen Instanzen, die der Kultur unterschiedlich nahe stehen: Die sexuellen Wünsche des unersättlichen Es als Sitz der Triebe stehen den Verboten des nach kulturellen Vorbildern erworbenen Über-Ichs gegenüber. An genau dieses Verständnis des Verhältnisses von Trieb und Gesellschaft knüpfen auch Bernfelds Überlegungen zur Liebe des Pädagogen an, wenn er ihm eine Reinszenierung ödipaler Konflikte vorwirft. Die Gefahren einer solchen Konzeptionierung des psychischen Konflikts liegen nicht nur darin, eine der beiden Parteien zu privilegieren, also etwa gegen dessen gesellschaftliche Unterdrückung die Befreiung des Triebes zur politischen Forderung zu machen oder für die Fortexistenz des Gesellschaftlichen den Triebverzicht zur Notwendigkeit zu erklären. Sondern sie liegen, wie Hans-Christoph Koller überzeugend darlegte, darüber hinaus auch darin, letztlich auf die Stärkung des Ichs als Vermittlungsinstanz zwischen Über-Ich und Es zu setzen (vgl. Koller 1990: 35): Dieses könnte befriedigende Kompromisse zwischen Über-Ich und Es moderieren, auf der einen Seite die sexuellen Wünschen des Es gegen das Über-Ich verteidigen, auf der anderen Seite dessen Forderung nach gesellschaftlicher Anpassung gegenüber der Irrationalität des Triebes durchsetzen. Jedoch lässt gerade die Annahme eines Ichs, das in der Lage ist, die verschiedenen Ansprüche von Es und Über-Ich auszubalancieren, das Konflikthafte, das Freud der menschlichen Natur unterstellt, auflösbar erscheinen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Bernfeld mit seiner Vorstellung einer gänzlichen Sublimierung, die so unabhängig von ihren Objekten ist, dass sie Briefmarken wie Kinder wählen kann, von einer Auflösbarkeit des ödipalen Konflikts auszugehen scheint.23 Besonders in der Auseinandersetzung mit Jungs monistischer Libidotheorie besteht Freud auf die Unauflöslichkeit des psychischen Konflikts und äußert vehement Vorbehalte gegenüber Vorstellungen von harmonischen Konfliktlösungen. Theoretisch hat er jedoch Schwierigkeiten, diese Unauflöslichkeit zu fassen und aufrecht zu erhalten. Seine Bemühungen um Modelle des Konflikthaften führen zu verschiedenen Dualismen wie der Gegenüberstellung der sexuellen Triebe und den Ich-Triebe in den Jahren zwischen 1912 und 1915. In dieser Phase zeichnet er ein äußerst düsteres Bild vom Sexuellen. Es taucht hier auf als etwas, das der Selbsterhaltung des Menschen entgegensteht. Die Ich-Triebe füllen die Notwendigkeit einer Instanz, die das Sexuelle in seine Schranken weist und dagegen die Selbsterhaltung durchsetzt. Mit diesem Dualismus führt Freud auch ein neues Verhältnis

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Weil diese gänzliche Sublimierung utopisch bleibt, verbindet sie sich mit Bernfelds Hoffnung auf eine utopisch-sozialistische Gesellschaft.

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von Liebe und Sexuellem ein, indem er die Liebe den Ich-Trieben zuordnet und damit an den Narzissmus annähert. Jedoch lässt sich auch dieser Dualismus theoretisch nicht aufrechterhalten: In der spekulativen Auseinandersetzung mit verschiedenen bisher unerklärlichen Phänomenen wie dem Wiederholungszwang und dem erogenen Masochismus lässt Freud in »Jenseits des Lustprinzips« Ich-Triebe und Sexuelles zusammenfallen. Denn die Unterscheidung zwischen den Ich-Trieben und den auf ein Objekt gerichteten sexuellen Trieben wird vor allem weniger überzeugend, wenn auch das Ich als ein Objekt des Triebes gedacht wird (vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips [1920], GW 13: 66). Mit dem Todestrieb entwickelt er einen Antagonisten zu diesen Trieben, die er im Dienste der Erhaltung des Lebens konzipiert. Der Todestrieb hingegen strebt zum Anorganischen, er erklärt Phänomene, in denen Menschen Unlust statt Lust suchen, in denen sie selbstzerstörerisch oder gegen andere destruktiv sind. Auch die letzte Triebkonzeption dient also der theoretischen Aufrechterhaltung des Konflikthaften. Dabei geht Freud von einer permanenten Triebmischung aus: In jeder Beziehung zu einem Objekt spielen sowohl sexuelle Strebungen wie destruktive Wünsche eine Rolle. Die Unterscheidung zwischen den beiden Triebarten ist gerade durch die Annahme einer permanenten Mischung immer prekär. Freud muss so auch seine Konzeption des sexuellen Triebes fundamental umdeuten, weil er dessen destruktive Anteile jetzt dem Todestrieb zurechnet. In dem neuem Dualismus suchen sexuelle Triebe Bindung, Vereinigung zu immer größeren Einheiten. Der Todestrieb strebt hingegen die Auflösung dieser Einheiten und Zerstörung an. Liebe jenseits des ödipalen Modells Vor dem Hintergrund des neuen Triebdualismus stellt sich auch die Frage nach der Liebe neu: In »Massenpsychologie und Ich-Analyse« aus dem folgenden Jahr beschäftigt sich Freud mit der Verliebtheit, die er mit Phänomenen wie der Schwärmerei für ein Idol, der Hypnose und der Unterwerfung einer Masse unter einen Führer in Verbindung bringt. In allen Fällen ist das Individuum bereit, auf Befriedigungen zu verzichten, sich gegen jeden vernünftigen Einwand selbst aufzuopfern und gar gegen die Stimme des Gewissens sich und andere zu schädigen. Freud sieht hier nicht nur die Lebenstriebe suspendiert und den Todestrieb am Werk, sondern erklärt sich diese Phänomene mit der Externalisierung einer eigentlich innerpsychischen Instanz: »Das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt.« (Massenpsychologie und Ich-Analyse 1921, GW 13: 125.) Das Objekt ist idealisiert, jedoch auf eine Art und Weise, die es an das Ich bindet: Das Objekt ist ideale Version des Ichs. Durch diese Idealisierung des Ichs im Objekt ist gerade in der Unterwerfung eine narzisstische Befriedigung möglich.

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Wenn sich Freud in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Idealisierung stellt, löst er die Liebe zum einen aus dem privaten Rahmen. Gerade die Liebe fügt sich ein in eine gesellschaftliche Struktur, sie hat eine Funktion in einem kulturellen Kontext, sie bezieht sich auf ein gesellschaftliches Imaginäres. Zum anderen deutet Freud ein neues Verhältnis von Über-Ich und Es an: Diese werden nicht mehr als Kontrahenten im zentralen psychischen Konflikt aufgefasst, der für die Struktur des Unbewussten verantwortlich ist. Das Über-Ich, das aus der Idealisierung entsteht, fordert nicht länger den Triebverzicht, sondern fusioniert mit dem Es zu einer Instanz, die ungebremst in tödlicher Konsequenz nach Befriedigung sucht. Diese Neukonzeption des psychischen Konflikts bedeutet auch eine neue Vorstellung des Verhältnisses von Gesellschaft und Sexuellem: Nicht länger unterdrückt das kulturelle Verbot das sexuelle Triebwesen. Bernfelds Vorstellung einer pädagogischen Liebe geht jedoch von dieser älteren Vorstellung des psychischen Konflikts aus, entsprechend kann er auch nicht erklären, welche Rolle Ideale für die pädagogische Liebe spielen: In Bernfelds Augen wendet sich der Pädagoge den Idealen zu, weil er in seiner Liebe zum Kind scheitert. Was aber, wenn die Ideale notwendiger Bestandteil der Liebe zum Kind sind? Und was, wenn das Scheitern in diese Liebe konstitutiv eingeschrieben ist? Das Scheitern also keinen Abbruch der Liebe bedeutet, sondern ihr Motor ist? Bernfeld geht von anderen Voraussetzungen aus als diese Arbeit: Für Bernfeld ist eine gelingende Erziehung – zumindest im utopischen Kontext einer sozialistischen Gesellschaft – denkbar; weder die Unmöglichkeit noch das Unvermögen spielen für seine Vorstellung von Erziehung eine Rolle. Die Erziehbarkeit des Kindes hält er für keine bedeutsame Grenze der Pädagogik und setzt große Hoffnungen in eine empirische Erziehungswissenschaft, von der er sich genauere Kenntnis über Ursache-Wirkungszusammenhänge erhofft. Die Annahme, Kinder seien unterschiedlich erziehbar, kritisiert er als die Selbstberuhigung einer Pädagogik, die sich nicht bewusst ist, dass sie eigentlich soziale Unterschiede reproduziert. So wendet er sich auch ab von pädagogischen Heilsversprechen, die sich von der Erziehung eine gesellschaftliche Veränderung erhoffen: »Erziehung ist konservativ« (ebd. 119), behauptet er und geht davon aus, dass eine kapitalistische Gesellschaft durch ihre Erziehung genau die Verschiedenheiten produziert, die sie benötigt. Den Sozialismus aber erreichte man nicht durch Erziehung, sondern durch Revolution. Jede Erziehung, die jedoch dennoch den Sozialismus in einer kapitalistischen Gesellschaft anvisiert, ist langfristig zum Scheitern verurteilt, denn sie durchbricht nicht die »sozialen Grenzen«, die von dieser gesetzt sind (vgl. ebd. 128). Den Anspruch der Pädagogen verspottet er: Zu furchtsam und zu fein, den Motor gesellschaftlicher Umwandlung zu erkennen und sich zur Bedienung an dies lärmende und gefährliche Ungeheuer zu stel-

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len, haben sie es mit der Kultur. Und hier noch einmal zu furchtsam, wenden sie sich an die Kinder, die weder ihnen noch ihren Allmachtsgelüsten gefährlich sind, denn dies »Jähen und Säen in Kinderseelen« ist eine idyllische Art Agrarbetätigung. (Ebd. 124f.) Wenn er den Pädagogen unterstellt, ihre politischen Ambitionen aufzugeben und sich den Kindern zuzuwenden, um ihre Allmachtsphantasie aufrecht zu erhalten, liefert er bereits Hinweise, wie man die Liebe zu Kindern jenseits eines ödipalen Konfliktmodells verstehen könnte. Mit dem frühen Freud kann Bernfeld jedoch das Zusammenspiel von Idealisierungen und pädagogischer Liebe noch nicht fassen. Entsprechend versteht Bernfeld die Liebe nicht als strukturellen Bestandteil der Erziehung, sondern als eine ihrer Grenzen: Pädagogen, die aus Liebe zu Kindern die Erziehung zum Beruf machen, tragen einen Konflikt in ihre Beziehung zum Kind, der ihrer Aufgabe im Weg steht. Entsprechend müssten Pädagogen, die im richtigen Maß sublimiert haben, die ihre neurotischen Konflikte ohne größere Unzufriedenheiten lösen, durchaus in der Lage sein, nicht an ihrem Felsbrocken zu scheitern. Eine strukturelle Theorie pädagogischer Liebe, die Erziehung in ihren Paradoxien ernst nimmt, kann die Wirkung der »Ideale« nicht in einem ödipalen Modell deuten. Dazu muss sie sich auf den Todestrieb beziehen, denn erst durch die Annahme eines Todestriebs wird es möglich, ein Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu denken, in dem der Trieb zum Grenzbegriff zwischen Biologie und Gesellschaft wird und in dem Gesellschaft nicht mit der Unterdrückung des Triebes identisch ist. Jedoch bleibt Freuds Theorie des Todestriebs unabgeschlossen, widersprüchlich, integriert sich nie voll in andere Theoreme und ist unter seinen Nachfolgern einer der umstrittensten Begriffe (vgl. Laplance/Pontalis 1975: 495). Die strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans nimmt die Idee des Todestriebs auf und baut sie theoretisch aus. Für das Verständnis einer pädagogischen Liebe als Struktur ist Lacans Theorie des Subjekts notwendig, die an Freuds Todestrieb anschließend das Sexuelle konzeptioniert. Mit dieser Theorie ist es möglich zu erklären, warum Sisyphos weiterhin den Felsbrocken auf den Berg rollt, statt aufzugeben und sich der Literatur zu widmen.

1.4 Freuds Erbe: Todestrieb und Gesellschaft bei Lacan War die Psychoanalyse an Universitäten lange verpönt, scheint sie in letzter Zeit in den Gesellschaftswissenschaften einen regelrechten Aufschwung zu erfahren. Oliver Marchart spricht gar von einem psychoanalytic turn in den politischen Theorien (Marchart 1999). Rezipiert wird in aktueller politischer Theorie – Butler, Jameston, Žižek, Laclau etc. – insbesondere Lacans strukturalistische Relektüre Freuds,

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die im Gegensatz zu einer an der Praxis orientierten deutschsprachigen FreudRezeption die kulturalistischen und pessimistischen Anteile Freuds hervorhebt.24 Sie ist damit anschlussfähig für poststrukturalistische Gesellschaftswissenschaften. Es liegt nahe, dieses neue Interesse an der Psychoanalyse als Reaktion auf einen Mangel in aktuellen Gesellschaftstheorien zu deuten. Mladen Dolar sieht das Problem der Rezeption des Strukturalismus in den Gesellschaftswissenschaften darin, dass mit ihr die Tendenz einherging, »eine Dimension ›hinter‹, ›unter‹ oder ›vor‹ dem Subjekt zu konzipieren, wobei der ganze Begriff des Subjekts sozusagen in Verruf geriet und mit ›Selbsttäuschung‹ gleichbedeutend wurde, einer notwendigen Illusion, einer grundsätzlichen Blindheit gegenüber den Bedingungen, die es hervorbrachte« (Dolar 1999: 44). Indem strukturalistische Theorien das autonome Subjekt in Frage stellten und auf die Strukturen hinwiesen, die es hervorbrachten, ging ihnen auch das Subjekt verloren, das Moment des Widerstands und der Emanzipation sein könnte. Wenn nun gerade eine psychoanalytische Theorie an dem problematisierten Begriff des Subjekts festhält, klingt das zunächst paradox, war doch die Psychoanalyse in ihren Anfängen der Angriff auf das souveräne Subjekt, auf das Cogito, das (sich) denkende Wesen, das rational seinen Interessen folgt. Wenn Lacan sich auf den Begriff des Subjekts bezieht, geht es jedoch nicht darum, es wieder auf seinen Thron zu setzen, wie es beispielsweise die humanistische Psychologie anstrebt. Lacan versucht sich an einer Theorie einer »Struktur mit einem Subjekt« (Dolar ebd.), wobei weder Subjekt noch Struktur ohne das jeweilige andere zu denken ist. Es geht also um eine Theorie des Verhältnisses von Subjekt und Struktur. In diesem Verhältnis ist das Subjekt kein Effekt des Diskurses, es ist nicht völlig vom Gesellschaftlichen beispielsweise in Form von Normen oder Anrufungen determiniert. Wie Joan Copjec formuliert, ist dies für die Psychoanalyse eine Frage der Ethik (Copjec 2004: 241): Sie bekennt sich zu einem Subjekt, das zwar nicht souverän über die Struktur verfügen kann, aber auch nicht in ihr aufgeht. In diesem Sinne bedeutet ihr Festhalten am Subjekt ein Festhalten an einer radikalen Unzugänglichkeit des Subjekts. Diese radikale Entzogenheit ist der Ausgangspunkt psychoanalytischer Praxis wie Theoriebildung. Einen emphatischen Fürsprecher fand die an den linguistischen Strukturalismus anknüpfende Psychoanalyse in Louis Althusser, der ihre politische Essenz wie folgt zusammenfasst:

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Zur Rezeption Lacans bei Laclau beispielsweise Glynos/Stavrakakis 2007; zur Auseinandersetzung prominenter politischer Theorien mit der Psychoanalyse beispielsweise die Korrespondenz zwischen Butler, Laclau und Žižek (2011). Zum theoretischen Status der Psychoanalyse Lacans und ihrem Verhältnis zur Philosophie ausführlich Ragland-Sullivan (1989), Juranville (1990) oder Sciacchitano (2008).

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Marx hat seine Theorie auf die Zurückweisung des Mythos vom »homo oeconomicus«, Freud auf die Zurückweisung des Mythos vom »homo psychologicus« gegründet. Lacan hat den befreienden Bruch Freuds gesehen und verstanden. Er hat den Bruch im vollen Sinne des Wortes erfasst, indem er Freud rigoros ernst nahm und ihn seine eigenen Folgerungen hervorzubringen nötigte, ohne Zugeständnisse oder Schonung. (Althusser 1976: 36, Anm. 1.) Althusser stellt hier eine Analogie zwischen der Marx’schen und der Freud’schen Theorie sowie seiner eigenen Marx-Lektüre und Lacans Freud-Interpretation her. Er interpretiert die Zurückweisung des homo oeconomicus als zentrale Figur der Marx’schen Theorie, was erst paradox anmutet, angesichts einer Theorie, die Hegel vom Kopf auf die ökonomischen Füße stellen will. Die Zurückweisung des homo oeconomicus und der Annahme einer menschlichen Natur, aus der sich die kapitalistische Ökonomie begründen lässt, geschieht jedoch für Althusser nicht im Zusammenhang mit einem anderen, beispielsweise humanistischen Menschenbild. Stattdessen interpretiert Althusser Marx im Sinne eines »theoretischen Antihumanismus« als Strukturalisten, der die kapitalistische Ökonomie untersucht als etwas, das das einzelne Subjekt als entfremdetes hervorbringt. Folgt man der Analogie, die Althusser in dem Zitat vorschlägt, ist es nun Freuds Verdienst, den homo psychologicus zurückzuweisen. Auch diese Behauptung scheint zunächst paradox, wo doch die Psychoanalyse mit der Psychologisierung des Menschen am meisten in Verbindung gebracht wird. Der homo psychologicus ist jedoch parallel zur Marx’schen Zurückweisung des homo oeconomicus aus der Perspektive einer Althusser’schen Freudlektüre abzulehnen, weil er eine Durchdringbarkeit der Psyche impliziert und vor allem, weil die Annahme eines vorgesellschaftlichen, mit einer Psyche ausgestatteten Menschen problematisch ist. Althusser liest Freud entsprechend als einen Theoretiker der Gesellschaftlichkeit des Subjekts. Folgt man diesem Fürsprecher der Psychoanalyse, so ist Lacan der legitime Erbe Freuds, der dessen »Entdeckung« gegen die Revision verteidigt.25 Diese Entdeckung Freuds ist für Althusser das Unbewusste, das er als »Wirkung der Menschwerdung« (Althusser 1976: 20) interpretiert: Das Unbewusste entsteht aus den Opfern, Narben und Wunden, die das kleine von Menschen geborene Wesen auf dem »Gewaltmarsch« (ebd.: 21) erleidet, der es zum Subjekt werden lässt. Die Psychoanalyse besteht nach Althusser entgegen der Psychologie darauf, dass diese Menschwerdung beherrscht ist »von dem Zwang, den die menschliche Ordnung 25

Althusser hat sich darüber hinaus auf verschiedene Art und Weise für Lacan eingesetzt: Nach dem, was Lacan selbst als seine Exkommunikation bezeichnete (der Streichung seines Namens aus der Liste der Lehranalytiker der International Psychoanalytic Association), besorgte Althusser ihm einen Lehrauftrag an der École pratique des hautes études. Indem er seinen Schülerinnen und Schülern immer wieder nahelegte, sich mit Lacans Werk zu beschäftigen, sorgte er für die philosophische Rezeption des Lacan’schen Werks (vgl. Roudinesco 1996: 451ff.).

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ausübt« (ebd.), und eben nicht aus der Biologie oder einer menschlichen Natur erklärt werden kann. Diesen gesellschaftlichen Begriff des Unbewussten gilt es nach Althusser gegen die Revision zu verteidigen, die die Freud’schen Begriffe für ihr eigenes ideologisches Projekt zu vereinnahmen sucht.26 Die Gefahr des Revisionismus entstehe besonders, wenn nur der frühe Freud gelesen wird – Texte, in denen dieser noch stärker mit den damals zur Verfügung stehenden Begriffen arbeitet und noch nicht zu seinem eigenen Werk gefunden hat.27 Wichtig sei es hingegen, den reifen Freud zu lesen, eine Theorie in ihrer Blüte. Der späte Freud ist der pessimistische Freud nicht nur von »Unbehagen in der Kultur«, sondern auch von »Jenseits des Lustprinzips«. Die späten Freud’schen Texte zeichnen sich zum einen durch einen Pessimismus gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen und eine grundsätzliche Kritik an der Idee des Fortschritts aus. Zum anderen findet Freud mit dem Todestrieb eine Figur, das zu fassen, was im Menschen lustvoll an der eigenen Zerstörung arbeitet. Genau diese Figur ist es, die die Psychoanalyse von einer funktionalistischen Medizin und einer Psychologie der Interessen trennt: Etwas in der menschlichen Natur scheint dem eigenen Glück entgegenzustehen. Dabei darf dieses Etwas nicht als pathologische Abweichung von einem gesunden Normalzustand verstanden werden, sondern muss konstitutiv in die menschliche Verfasstheit eingeschrieben gedacht werden. Althusser markiert nun die Zurückweisung des Todestriebs als Revisionismus, der den Kern der Freud’schen Entdeckung verfehlt, nämlich die Unauflösbarkeit des Konflikts, und damit anfällig dafür ist, in ideologische Projekte eingespannt zu werden und die Subjekte an die herrschende Ideologie anzupassen. Lacan hingegen macht sich gerade die provokante Idee des Todestriebs zu eigen, stellt sie ins Zentrum seiner Überlegungen und hält den Vertretern der Neopsychoanalyse entgegen: »Wer vor dem Todestrieb seiner [Freuds, MD] Lehre ausweicht, verkennt sie absolut« (Sch II: 337). Entsprechend intensiv setzt sich Lacan mit den destruktiven Zügen der Psyche auseinander und interessiert sich gerade für die Fälle, die allgemeines Entsetzen auslösen, wie beispielsweise den Fall der Schwestern Papin, die auf grausame Weise ihre Arbeitgeberinnen töteten (vgl. Roudinesco 1996: 108ff). Das Zerstörerische in der menschlichen Psyche theoretisch genauer zu fassen, ist Lacans Anliegen. 26

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Er sieht die Gefahr des Revisionismus in Freuds Werk bereits angelegt, da Freud »selbstgefertigte Begriffe im Schutze geborgter Begriffe« (Althusser 1976: 11) herstellt und seine Entdeckung in Begriffe kleiden muss, die aus einer Wissenschaft stammen, die den spezifischen Gegenstand der Psychoanalyse noch nicht kennen. Entsprechend fordert Althusser, um dem Revisionismus entgegenzustehen, von der Psychoanalyse eine neue Sprache, die Freuds Entdeckung gegen die Vereinnahmungen schützt. Er begegnet so der Kritik an Lacans hermetischem Stil. Diese Unterscheidung entspricht der Unterscheidung zwischen einem frühen, humanistischen und dem reifen, späten Marx, die zentral für Althussers Marx-Interpretation ist.

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Dass im Subjekt etwas wirksam ist, was nicht nur seinen Interessen entgegensteht, sondern seine Zerstörung in Kauf nimmt, erklärte Freud aus einem Prinzip, das dem Subjekt und seinem Streben vorausgeht – ein Prinzip, das seine ökonomische Triebtheorie an ihre Grenzen brachte. Im Zusammenhang mit dem Masochismus beschrieb Freud dieses Prinzip als eine Schrift ohne Autor, die wirksam ist, ohne dass sich eine Instanz für sie verantwortlich zeigt. Diese Interpretation ermöglicht Lacan seine zeichentheoretische Relektüre der Psychoanalyse: Er bezeichnet seine eigene Auslegung der Freud’schen Entdeckung als einen »Kommentar des Freud’schen Werkes«, wobei sein entscheidender Beitrag ist, »an erster Stelle als notwendig für jede Aufgliederung des analytischen Phänomens den Grundbegriff des Signifikanten einzuführen, insofern er in einem Gegensatz zu dem des Signifikats steht in der modernen sprachwissenschaftlichen Analyse« (Sch II: 196). Die Conditio humana ist durch seine Teilnahme an der Sprache bestimmt; das Subjekt ist also bei Lacan zuvorderst ein Sprachwesen, das Unbewusste strukturiert wie eine Sprache. Wenn Freud den Todestrieb als Schrift ohne Autor bezeichnet, kann Lacan mithilfe seiner strukturalistischen Interpretation der Thesen Freuds den Todestrieb mit dem automatischen Fortschreiten der Signifikantenkette in Zusammenhang bringen. Jedoch bleibt es nicht bei dieser Verwendung des Signifikantenbegriffs. In der Zeit seit seiner konsequenten Interpretation psychoanalytischer Konzepte mithilfe des Signifikantenbegriffs, also seit 1953, deutet Lacan das Verhältnis von Signifikant und Todestrieb immer wieder neu. Einen »epistemologischen Bruch« des Lacan’schen Werks in Bezug auf die Interpretation des Todestriebs macht Massimo Recalcati im Seminar VII aus (Recalcati 2000: 40): Waren zuvor Todestrieb und Signifikant miteinander identifiziert, werden sie in Seminar VII mit der Einführung des Dings als Signifikatsaußerhalb und des Begriffs der Jouissance (Genießen) zum Gegensatz: Der Signifikant streicht nun das Ding, das Reale, durch, er stellt die Grenze des Lustprinzips dar und schützt vor dem jenseitigen tödlichen Genießen. Damit sind Genießen und Signifikant als Antagonisten eingeführt. Doch auch die Theoretisierung dieses Verhältnisses verändert sich im Verlauf des Schaffens Lacans: Es zeigt sich die Gleichursprünglichkeit von Genießen und Signifikant im Spätwerk.28 Obwohl der Gedanke bereits in früheren Seminaren auftaucht, ist es diese Gleichursprünglichkeit von Signifikant und Genießen, die das Genießen als etwas Unmögliches definiert.29 Das Genießen, wie es Lacan formuliert, beschreibt Žižek

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Die bekannteste Phaseneinteilung findet sich bei Miller (Miller 2000). Ich beziehe mich zwar zum Teil auf dessen Unterscheidungen, eine Isolierung der Werkphasen, die alle Widersprüchlichkeiten auflöst, versuche ich jedoch zu vermeiden. Für meine Lesart des Lacan’schen Begriffs des Genießens werde ich im zweiten Kapitel ausführlich argumentieren, weshalb ich mich hier auf eine knappe Darstellung beschränke.

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als das »Reale par excellence: jouissance existiert nicht, sie ist unmöglich, aber sie produziert eine Menge traumatischer Wirkungen« (Žižek 1991: 131). Dieses Genießen taucht in der ödipalen Konstellation als Effekt des Verbots auf: Es ist das, was das Verbot zu verbieten vorgibt, was aber ohne sein Einschreiten nicht als Illusion möglich wäre. Paradoxerweise verbietet das Verbot also, was es durch sein Eingreifen erst hervorbringt: das Genießen des mütterlichen Körpers. Zugleich verdeckt das verbotene, durch den Signifikanten hervorgebrachte Genießen das traumatische Jenseits des Signifikanten, nämlich das bedrohliche Begehren des (mütterlichen) anderen. Genießen – so könnte man kurz formulieren – wird durch den Eingriff des Signifikanten erst als Unerreichbares und Erstrebenswertes hervorgebracht, der Signifikant bringt es in eine bewältigbare Form. Mit diesem Begriff des Genießens knüpft Lacan an die Freud’sche Idee des Todestriebs an. Denn als Unmögliches, das zugleich jedoch erstrebenswert ist, treibt das Genießen das Subjekt über die Grenzen der Selbsterhaltung hinaus. Zentral für Lacans Denken des Todestriebs ist die Unmöglichkeit, die er mit dem Signifikantenbegriff verbindet: Jeder Sprechakt, jeder Versuch, mit einem Gegenüber in Beziehung zu treten, ist in sich eine fundamentale Unmöglichkeit oder in Lacans Begriffen eine unüberwindbare »Kluft«:30 Da das Subjekt nicht Herr über sein Sprechen ist, ist es ihm unmöglich, sich tatsächlich verständlich zu machen, das zu sagen, was es wirklich meint, ja: Im Moment des Sprechens ist das, was das Subjekt eigentlich sagen wollte, schon längst verloren. Hinzu kommt, dass das Gegenüber, das das sprechende Subjekt zu erreichen versucht, ein Produkt seines Sprechens ist: Das Sprechen erzeugt einen bestimmten Adressaten – beispielsweise die geduldige Erklärung das verständige Kind –, jedoch ist der andere nie völlig verfügbar. Mit der Erzeugung des Adressaten entsteht ein nicht kontrollierbarer Überschuss – beispielsweise ein Rest Unverständnis, ein Rest, der das Subjekt dazu animiert, mit der Erklärung fortzufahren. Zugleich gelingt Lacan durch diesen Begriff des Genießens ein gesellschaftstheoretischer Subjektbegriff. Hatte zuvor sein Subjektbegriff ontologische Tendenzen, bindet er ihn in Seminar XVII in einen Begriff des sozialen Bandes ein, das er als Organisationsweise des Genießens durch den Signifikanten versteht. Neben dem ödipalen Verbot und der damit verbundenen Subjektstruktur werden so andere Formen denkbar, Genießen und damit Subjektivität zu organisieren. Zugleich deutet Lacan eine Verschiebung gesellschaftlicher Strukturen an, die mit neuen hegemonialen Formen der Subjektivierung verbunden sind. Diese Historisierungen psychoanalytischer Konzepte des späten Lacans sind für ein Verständnis der Liebe zum Kind besonders relevant. Sie ermöglichen eine strukturelle, nämlich an den 30

So steht im Zentrum jeden Diskurses eine fundamentale Unmöglichkeit, die Lacan als Kluft fasst: »Die Eigentümlichkeit eines jeden dieser kleinen vierfüßigen Schemata ist es, daß es seine Kluft hinterläßt« (XVII: 29).

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Die Liebe zum Kind

Begriff des Genießens angebundene Deutung der Liebe, die jedoch nicht a-historisch, sondern an eine spezifische gesellschaftliche Konstellation angebunden ist, nämlich eine Konstellation, in der väterliche Autoritäten und die mit ihnen verbundenen Ideale sich zunehmend auflösen und als Vorlage für eine Subjektivierung immer weniger zur Verfügung stehen. Diese Theorie ermöglicht es, Liebe und damit auch die Liebe zum Kind als ein historisches Phänomen zu betrachten und als Bestandteil einer gesellschaftlichen Konstellation zu analysieren, in der die Pädagogik eine zentrale Rolle spielt. Der damit verbundene exzessive Begriff des Genießens stellt keine harmonischen Lösungen ödipaler Konflikte oder eine Sublimierung ohne zerstörerische Anteile in Aussicht. Entsprechend ist eine selbstlose, nur ihren Zöglingen verpflichtete Pädagogik nicht denkbar, denn eine solche würde eine vollständige Sublimierung erfordern. Im Verhältnis des individuellen Pädagogen zu seinen Zöglingen wird jenes exzessive Genießen eine Rolle spielen, das nicht durch Handlungsanleitungen und Berufsethiken in Griff zu bekommen ist. Die Subjektivität des Pädagogen, sein nicht kontrollierbares Genießen, muss von einer Pädagogik, die sich ihrer Unmöglichkeiten bewusst ist, mitgedacht werden. Dazu bedarf es einer strukturalen Theorie der pädagogischen Liebe.

1.5 Eine pädagogische Liebe: Vorgehen der Arbeit Wenn die Liebe für die Pädagogik eine derart zentrale Rolle spielt, stellt sich die Frage, warum die pädagogische Liebe »in Zeiten pädagogischer Professionalisierung« (Drieschner/Gaus 2011) kaum noch thematisiert wird. Während im oben zitierten Lexikon aus dem Jahr 1954 der Liebe eine ganz zentrale Stellung beigemessen wurde, während sie sogar als eine die Pädagogik begründende Figur formuliert wurde, taucht das Stichwort Liebe in neueren pädagogischen Wörterbüchern gar nicht mehr auf. Zugleich kommen aktuelle Erziehungsratgeber, also Literatur, die sich vorwiegend an Eltern richtet, nicht ohne den Hinweis aus, dass Kinder zuvorderst Liebe brauchen. Es scheint, als sei die Liebe zum Kind in den Bereich der Familie verbannt worden und dort den selben Idealisierungen und Naturalisierungen ausgesetzt, die bereits Badinter kritisierte. Dort fällt sie, auch wenn zunehmend Väter (Mit-)Verantwortung für Kinder übernehmen, immer noch häufig in weibliche Zuständigkeit.31 Nicht zuletzt deswegen ist sie im Bereich der Familie durchaus problematisiert und mit Erfahrungen von Überforderung, Nichtgenügen

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Im Zusammenhang mit der persistenten weiblichen Zuständigkeit für die mit der Liebe verbundenen Sorgetätigkeiten trotz zunehmender beruflicher und gesellschaftlicher Integration und sich verändernden Rollenbildern prägte Regina Becker-Schmidt den Terminus der doppelten Vergesellschaftung der Frau (Becker-Schmidt 1987).

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und Schuldgefühlen verbunden (vgl. Donath 2015). In der Pädagogik hingegen, wo die Liebe mit Distanz reflektiert werden könnte, ist die Liebe als Gegenstand des Nachdenkens abwesend. Diese Abwesenheit der Liebe im professionellen pädagogischen Diskurs könnte Indiz für ihre Irrelevanz sein. Ich möchte sie jedoch mit Reinhard Uhle als Tabu aktueller pädagogischer Auseinandersetzungen begreifen (Uhle 2011: 85), erklären, warum sich die Pädagogik gegenwärtig mit dem Begriff Liebe schwer tut, und so eine Leerstelle markieren, die Ursache dieser Arbeit ist. Dazu knüpfe ich an Siegfried Bernfelds Versuch einer strukturellen Erklärung einer pädagogischen Liebe an. Seiner am frühen Freud orientierten psychoanalytischen Interpretation der Liebe zum Kind werde ich eine Deutung entgegenstellen, die dem Todestrieb des späten Freuds Rechnung trägt und die Gesellschaftlichkeit dieser Liebe und die Historizität der Konstruktion Kind berücksichtigt. Anders als Bernfeld betrachte ich so die Liebe zum Kind nicht als eine Grenze der Erziehung, sondern werde sie als eine Struktur beschreiben, die sich aus deren Grenzen ergibt. Dazu beziehe ich mich auf die Psychoanalyse Lacans, seine Theorie des Subjekts zwischen Signifikant und Genießen und den damit verbundenen Begriff der Liebe. Dieses Unterfangen steht jedoch vor einigen Schwierigkeiten: Lacan hat weder homogenes »Werk« vorgelegt, noch handelt es sich bei seinen Texten um wissenschaftliche Arbeiten. Meinen Umgang mit dieser Besonderheit der Lacan’schen Theorie stelle ich knapp dar, bevor ich schließlich einen Überblick über die folgenden Kapitel geben werde. Fehlende Thematisierungen der Liebe in der Pädagogik Dass Liebe heute ein »fast vergessenes Thema in der Pädagogik« (Pazzini 1992) ist, hat meines Erachtens zwei Gründe: Zum einen ist Liebe in pädagogischen Konstellationen außerhalb des intimen Rahmens der Familie verdächtig geworden und in die Nähe von sexueller Übergriffigkeit gerückt. Der pädagogische Eros als die für die Reformpädagogik noch zentrale Thematisierung des affektiven Aspekts pädagogischer Beziehungen sei sogar in der öffentlichen Wahrnehmung zur Chiffre für sexuellen Missbrauch geworden (Klinger 2011: 15). Auch die im obenstehenden Zitat beschworene Liebe geht weit über Klaus Mollenhauers »kontrafaktische Mündigkeitsunterstellung« und ähnliche Konzepte einer Produktivität von (imaginärer) Erwartung und realer Unfertigkeit hinaus. Im Zitat fällt die emotionale Aufgeladenheit auf, mit der die Beziehung zwischen Erzieher und Zögling beschrieben wird. Es fallen mit Ausdrücken wie »Verlangen«, »Erfüllung« und »Hingabe« Begriffe, die sonst eher ins Register des Sexuellen gehören. Angesichts zahlreicher Fälle von sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen macht eine derartige Begrifflichkeit schnell verdächtig und wird heute gemieden. Mit dem Begriff des »pädagogischen Eros« waren diese sexuellen Konnotationen der pädagogischen Liebe eine Weile Bestandteil des pädagogischen Diskurses.

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Der »pädagogische Eros«, der sich auf eine Figur aus dem Platon’schen Symposion bezieht, öffnet wie die Liebe bei Rousseau und Pestalozzi eine Spannung zwischen der Realität des Zöglings und einem über ihn hinausweisenden Wert. Platon legt die Idee einer Liebe, die die Menschen dazu antreibt, »ihre Mangelhaftigkeit zu überwinden und für immer in den Besitz des Schönen, Wahren und Guten zu gelangen« (Müller 1993: 48), Sokrates in den Mund, der sie wiederum von der weisen Diotima bekommen habe. Der Eros ist bei Platon (bzw. Sokrates bzw. Diotima) ein Daimon, ein Wesen zwischen Gott und Mensch, der zwar zum höheren Abstrakten strebt, sich aber am Leiblich-Sinnlichen entzündet. Im Symposion weist Sokrates trotz seines erotischen Interesses die sexuellen Verführungsversuche des schönen Alkibiades zurück zugunsten einer Liebe, die auf das Wahre, Gute und Schöne zielt. Der Eros ist in Sokrates’ Beschreibung nicht nur ein Mittler zwischen Mensch und Gott, sondern ein Mittel zum Zweck: Er führt zu einem Streben nach Wissen.32 Als Mittel zum Wissen ist er für pädagogische Zwecke interessant. Dabei steht Platons Symposion in einem Kontext, in dem die Liebe zwischen älteren Männern und männlichen Jugendlichen als gesellschaftliches Ideal in eine homoerotische Ästhetik des jugendlichen Körpers eingebunden ist. Die Beziehung zwischen älterem Liebenden (Erastes) und jüngerem Geliebten (Eronemos) hat eine gesellschaftsstiftende Funktion: Sie stellt männliche Gemeinschaft her, indem sie ein Band zwischen Älteren und Jüngeren stiftet, in dem der Jüngere von dem Wissen, den Beziehungen, der sozialen Stellung des Älteren profitiert. Die antike Knabenliebe verbindet also die antike Verehrung der Jugend (die Knaben werden aufgrund ihrer Schönheit geliebt) mit einem elitären Erziehungsideal, das auf einer Wahl des Erziehenden basiert.33 In diesem Kontext wird der Platon’sche Eros in der Pädagogik der Jahrhundertwende interpretiert. Der Eros greift Momente auf, die sich auch schon in der pädagogischen Liebe bei Rousseau oder Pestalozzi finden. Der Begriff des »pädagogischen Eros« wird jedoch besonders dort rezipiert, wo ein elitäres Bildungsideal gepflegt, die männliche Jugend idealisiert und gegen die verachtete Gesellschaft in Stellung gebracht wird. Eine sexuelle Konnotation der Beziehung zwischen Erzieher und Zögling ist dabei nicht ausgeschlossen. Eine solche Verschränkung analysiert Magdalena Klinger im George-Kreis bzw. dem »Geheimen Deutschland« um Stefan George, in der schwärmerischen Beschreibung des Wandervogels bei Hans 32

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Auf das Symposion bezieht sich auch Lacans Seminar VIII, das sich besonders mit der Liebe und der Übertragung beschäftigt. Im zweiten Kapitel werde ich deshalb auf diese Figurenkonstellation zurückkommen. Carola Reinsberg legt dar, dass die Praktik der Knabenliebe eine spezielle Art der sexuellen Asymmetrie beinhaltete: Das sinnliche Verlangen stand allein dem älteren Erastes zu, der jüngere Eronemos hatte ihm Bewunderung und Dankbarkeit entgegenzubringen, durfte jedoch nicht selbst sexuell erregt sein, sondern hatte einen kühlen Kopf zu bewahren, da er sonst zum unterlegenen Sexualobjekt degradiert wäre (vgl. Reinsberg 2007).

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Blüher und der auf den pädagogischen Eros gegründeten Pädagogik Gustav Wynekens (vgl. Klinger 2011). Schon in der Figur des Sokrates selbst ist die Idee angelegt, die »unterste Stufe des Eros« (Sielert 2000: 185), die sexuelle Attraktion, zurückzudrängen und damit Sexualität von einer idealen Liebe zu trennen, erstere abzuwerten. Gleichzeitig verdankt die Beziehung ihre Existenz der erotischen Attraktion, so dass die körperliche Dimension der Beziehung trotz ihrer Abwertung im Spiel bleibt. Diese Ambivalenz gegenüber dem Sexuellen zeichnet auch die reformpädagogische Rezeption des pädagogischen Eros aus, die zeitgenössische Bildungsinstitutionen einerseits für ihre Leibfeindlichkeit, ihre Abwertung des Sexuellen kritisiert, sich andererseits selbst vehement dagegen wehrt, dass der pädagogische Eros mit dem Sexuellen verwechselt wird, und so an einem Ideal einer von niederen Motiven gereinigten Liebe festhält.34 Zu seinen Wurzeln im Sexuellen können sich die, die sich auf den Eros berufen, nie ganz bekennen. Obwohl der Eros möglicherweise eine produktive Reflexionsfigur für die Pädagogik hätte werden können, ist der Begriff heute zu Recht problematisiert. In den genannten Fällen diente der Eros als Legitimation für sexuellen Missbrauch in Abhängigkeitsbeziehungen, für Männerbünde, die alles Weibliche abwerteten, und nicht zuletzt für eine Konzentration auf charismatische Führerfiguren, die ihren Schülern keine abweichende Meinung zugestanden.35 Aber auch wenn pädagogische Liebe sich nicht auf die Tradition des Eros bezieht, macht das ungeklärte Verhältnis der Liebe zum Sexuellen jedes Bekenntnis zu ihr problematisch. Im Kontext der Thematisierung von sexuellem Missbrauch wird Liebe zu einer Bedrohung, auf die die Profession mit Sicherheitsszenarien reagiert: Mehr Transparenz kann gefährliche Abweichungen im NäheDistanz-Verhältnis früher erkennen, die Standardisierung von Lehr-Lern-Arrangements kann die bedrohlichen Persönlichkeiten der Beteiligten in den Hintergrund drängen, Ethiken und Verhaltenskodexe appellieren an die Selbstkontrolle der Beteiligten.36 Zum anderen kann die Liebe nur zentrales Thema einer Pädagogik sein, die sich bewusst ist, dass sie Wunder zu tun beabsichtigt. In den sogenannten »Zeiten 34

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Klinger arbeitet beispielsweise die Widersprüche zwischen einer leidenschaftlichen Kritik Wynekens an der massiven Unterdrückung des jugendlichen Sexuellen durch eine Pädagogik heraus, die auf Disziplinierung und Triebunterdrückung aus ist, und der Interpretation des Eros als »geistigem Urphänomen« (Kinger 2011: 225ff.). Oelkers weist darauf hin, dass Wynekens Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Eros nicht losgelöst von seinem Prozess gelesen werden kann, in dem er, des sexuellen Missbrauchs an zwei Minderjährigen beschuldigt, eine zweistündige Verteidigungsrede hielt, die später unter dem Titel »Eros« veröffentlicht wurde (vgl. Oelkers 2011). Zum George-Kreis vgl. Karlauf 2008, zu Wyneken Maasen 2018. Diese Vorschläge sind beispielsweise in der Presseerklärung der GEW zu finden oder im Band von Baldus und Utz (Baldus/Utz 2012).

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pädagogischer Professionalisierung«, in der sich Pädagogik jedoch von Standardisierung und Qualitätsmanagement eine Effektivierung ihrer Tätigkeit verspricht, wirkt die Liebe mit ihrer Hoffnung auf ein Wunder antiquiert. Eine derart optimistische Pädagogik ist eben keine »Wissenschaft von dem Unmöglichen« (Wimmer 2014), sondern hält ihr »Normproblem« (Ruhloff 1980) für gelöst.37 Gegenwärtig diagnostiziert Wimmer ein »Verschwinden des Pädagogischen« (Wimmer 2014: 24): Die Pädagogik beschäftigt sich nicht mehr damit, dass sie ihre Praxis imaginärer Schließungen verdankt, die notwendig kontingent bleiben, sondern hat diese Gründungsfiguren verdrängt. Eine Pädagogik, die sich als Wissenschaft des Möglichen versteht, braucht keine Liebe mehr, denn sie wälzt keine herunterrollenden Steine mehr auf einen Berg. Diese Pädagogik hat weder damit zu kämpfen, dass sich ihr Objekt entzieht, noch dass ihr dieses Objekt jede Zielsetzung verbietet. Noch viel weniger ist ihr bewusst, dass Erziehung ein pädagogisches Subjekt impliziert, dessen Handeln sich niemals vollständig aus einer theoretischen Handlungsanleitung ableiten lässt, ein Subjekt, das nicht Herr im eigenen Haus ist und dessen Handlungen durch sein unbewusstes Begehren torpediert werden. Gerade wo die Pädagogik ohne begehrendes Subjekt zu sein scheint, ist es deshalb sinnvoll, ein Subjekt zu unterstellen und nach seinem Begehren zu fragen. Der Selbstlosigkeit einer Pädagogik des Möglichen ist noch weniger zu trauen als den idealisierenden Beschreibungen einer pädagogischen Liebe. Lacan als Theorie lesen Für meine psychoanalytische Interpretation der Liebe zum Kind werde ich mich auf Lacans »vier Diskurse« beziehen, mithilfe derer sich eine klare Unterscheidung zwischen Liebe und Begehren darstellen und eine Beziehung zu einer historischen Situation herstellen lässt. Im Zusammenhang mit seiner Theorie eines gesellschaftlichen Bandes unterscheidet Lacan zwischen vier Diskursen, vier Arten der Organisation des sozialen Bandes und damit vier Arten, sich zu Signifi-

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Trotz einer Konjunktur von Begriffen wie Konstruktion, Kontingenz, Alterität und Differenz in der systematischen Erziehungswissenschaft oder Erziehungsphilosophie (vgl. Masschelein/ Wimmer 1996; Ricken 1999; Schäfer/Wimmer 2004), kommt die Pädagogik in ihrem Versuch, sich als Disziplin zu behaupten, nicht ohne Möglichkeitsphantasmen aus. In »Genealogie der Pädagogik« zeigt Alfred Schäfer, wie sich die Pädagogik durch ihre Gründung in der Praxis ihrer Paradoxien entledigt. Gerade die empirische Erziehungswissenschaft, die als Kritik der geisteswissenschaftlichen Pädagogik aufgetreten ist, muss sich auf deren Begründung in der Praxis beziehen, da die Erziehungswissenschaft ihren Gegenstand, nämlich die Erziehungswirklichkeit, nicht aus sich heraus definieren kann. Die Pädagogik bezieht sich auf eine Erziehungswirklichkeit, die jedoch auf metaphysische Setzungen wie »das wahre Kind« angewiesen ist, imaginäre Figuren, die gegen Wissenschaft und Gesellschaft in Stellung gebracht werden können. Diese imaginären Figuren ist eine Pädagogik, die sich als Wissenschaft von der Praxis für die Praxis versteht, nicht mehr zu reflektieren in der Lage (vgl. Schäfer 2012b).

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kant und Genießen zu positionieren. Angelehnt an die drei unmöglichen Tätigkeiten Freuds – das Regieren, das Erziehen und das Analysieren, die er um eine vierte Tätigkeit, das Verführen oder Begehrenmachen ergänzt – entwirft er vier Diskurse als vier differente Verhältnisse zwischen einem Subjekt und seinem Gegenüber, die jeweils durch Sprache hervorgebracht werden. Indem er die unmöglichen Tätigkeiten zum Ausgangspunkt nimmt, stellt Lacan die Unmöglichkeit bzw. vier differente Unmöglichkeiten ins Zentrum seines Diskursbegriffs. Lacans Diskursbegriff geht damit weder von der Möglichkeit einer »herrschaftsfreien Verständigung« aus, von dem Ideal einer gelingenden Intersubjektivität, noch von einer alles umfassenden, Struktur gewordenen Macht, die das einzelne Element determiniert und eine spezifische historische Situation abbildet. Vielmehr unterscheidet Lacan mit seinen Diskursmathemen38 vier Arten des Scheiterns von Sprache, die er aus dem Signifikantenbegriff ableitet. Sie sind also die Konsequenz des Signifikanten sowie der Gleichzeitigkeit seiner Trennung und Verbindung vom und mit dem Signifikat.39 Nun zeigt Lacan, dass diese vier Arten des Scheiterns in und durch Sprache nicht nur jeweils vier Arten der Organisation von Subjektivität und der Objektivierung des Gegenübers sind, sondern vier Organisationsweisen des Genießens bedeuten. Das Seminar XVII aus dem Jahr 1969/1970 wendet sich an die Akteurinnen und Akteure der Studentenproteste von 1968. Mit seiner Theorie der vier Diskurse reagiert er auf ihre Forderung nach einem von gesellschaftlicher Unterdrückung befreiten Genießen – und hält ihnen entgegen, dass gerade ihr Protest gegen die Autoritäten und ihr scheinbar befreites Sexuelles im Dienst einer neuen Organisation des Genießens steht, im Dienste eines neuen Herren (XVII: 33). Der ödipalen, auf dem Verbot basierenden Organisation des Genießens, das er im Diskurs des Herren beschreibt, stellt Lacan eine postödipale Genießensökonomie gegenüber, in der das Verbot durch den Imperativ zu Genießen ersetzt wird.40 Auf die französische Veröffentlichung des Seminars 1991 sowie insbesondere die Übersetzung ins Englische durch Russell Grigg 200741 folgte eine Vielzahl von Publikationen, die die Vieldeutigkeit der Lacan’schen Diskursmatheme interpre-

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Zum Begriff des Mathems s.u. Im dritten Kapitel werde ich zeigen, dass die Konsequenz dieser Ableitung der vier Diskurse aus dem Signifikantenbegriff nicht bedeuten muss, diese a-historisch zu denken. Vielmehr muss ein bestimmtes Symbolisches historisch und damit veränderbar gedacht werden. Vor allem weil dieses Symbolische die Hierarchisierung der Geschlechter voraussetzt. Das dritte Kapitel wird sich mit dieser zeitdiagnostischen Lesart der vier Diskurse beschäftigen und die hier angedeuteten Zusammenhänge weiter ausführen. Eine deutsche Übersetzung ist bisher noch nicht veröffentlicht, eine Privatübersetzung von Gerhard Schmitz kann jedoch über das Lacan Archiv Bregenz bezogen werden. Diese Übersetzung wird im Folgenden zitiert.

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tierten.42 Insbesondere der Lacan’sche »Diskurs der Universität« wird in vielen Veröffentlichungen als Zeitdiagnose interpretiert, mit der sich eine »society of enjoyment« und das postmoderne Verhältnis zur Autorität beschreiben lassen (vgl. beispielsweise McGowan 2004). Auch Žižek benutzt den Diskurs der Universität als Formel, die aktuelle Phänomene auf den Punkt bringt, nämlich die Verbindung eines Kapitalismus, der auf einer Logik des Exzesses und der ständigen Selbstüberschreitung basiert, mit einer totalitären Bürokratie, in der Regierung eine Aufgabe von Experten ist und mit scheinbarer Alternativlosigkeit umzugehen hat (vgl. beispielsweise Žižek 2004). Gerade in politischen Interpretationen der vier Diskurse hat sich eine zeitdiagnostische Deutung des Verhältnisses von Diskurs des Herren und Diskurs der Universität etabliert. Diese Formulierung wirft jedoch verschiedene Fragen auf. Lacan bezeichnet die vier Diskurse als die Pfeiler/Brückenbögen der Realität, die das Soziale strukturieren und alles determinieren, was gesagt und getan werden kann (vgl. XVII: 13). Sie bilden den Rahmen jeder Handlung und damit den Rahmen jeder geschichtlichen Entwicklung. Als Pfeiler der Realität scheinen die vier Diskurse zu koexistieren, ja sogar aufeinander angewiesen zu sein. Gleichzeitig nennt Lacan verschiedene historische Erscheinungspunkte einzelner Diskurse. Sowohl Lacans eigene Unklarheit bezüglich der (notwendigen) Koexistenz und der Annahme einer historischer Abfolge der Diskurse, sowie Žižeks Deutung eines Hegemonialwerdens eines einzelnen Diskurses43 lässt den Punkt offen, warum einzelne Diskurse historisch bedeutsam werden, wenn doch gleichzeitig eine Struktur jenseits dieser Diskurse selbst – »es gibt keine Metasprache« (Sch II: 350), wird Lacan nicht müde zu betonen – ausgeschlossen ist, die die Veränderung determinieren würde. Das betrifft z.B. sich entwickelnde Produktivkräfte. Neben der historisch-diagnostischen Lesart der vier Diskurse hat sich deshalb eine zweite Lesart etabliert. Ausgehend von der Koexistenz untersucht sie die Diskurse als Strukturen, die sich in konkreten Texten oder spezifischen sozialen Verhältnissen analysieren lassen. So schlägt Marc Bracher die vier Diskurse als analytisches Instrument vor: Lacan’s theory can provide the means of determinating the dialogical discoursive structure of any given speech act, text or discourse, and on that basis, the means

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Trotz fehlenden Publikationen des Seminars sind Lacans vier Diskurse auch im deutschsprachigen Raum schon zu Beginn der 80er rezipiert worden, insbesondere in der Zeitschrift Wunderblock, die Vorträge veröffentlichte, die im Zusammenhang mit einem Seminar über die Diskursmatheme von der Sigmund Freud Schule gehalten wurden (vgl. Haas 1980; Mai 1983). Žižek bezeichnet die Diskurse als vier unterschiedliche politische Verhältnisse, vier Arten eines »political bond«, die zu unterschiedlichen Zeiten »hegemonial« werden (Žižek 2004: 156).

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for gauging the psychological and (thereby) socio-political impact it might have on various types of subjects. In doing this, Lacan’s schema not only allows us to expose the ideological force of a discourse; it also puts us in a position to intervene more effectively either to counter or to promote that force. (Bracher 1994: 127.) Diese Lesart impliziert, dass der jeweilige Text oder Diskurs ein soziales Band unter anderen aufspannt, dass es also ein polyphones Nebeneinander verschiedener Diskurse gibt. Dieser Lesart möchte ich mich vorerst anschließen, jedoch nicht die Frage aus den Augen verlieren, welche historische Bedeutung die einzelnen Diskurse haben. Um die vier Diskurse systematisch zu unterscheiden, entwirft Lacan vier Formeln, die er bei seinen Versuchen, seine Theorie mithilfe mathematischer Ausdrücke zu formalisieren, in Anlehnung an Lévi-Strauss’ Mythem »Mathem« nennt. Matheme sind kleinste theoretische Einheiten, komprimierte Theorie, deren Eigenschaft es ist, sich zwar übermitteln zu lassen, jedoch nicht vollständig verständlich zu sein: »Man weiß absolut nicht, was sie sagen wollen, aber sie lassen sich übermitteln.« (XX: 119.) Ausgehend von der Annahme, dass es keine Metasprache gibt, keinen Ort, von dem aus der Diskurs als Ganzes in den Blick genommen werden kann, fasst Lacan die Matheme als »Indizes einer absoluten Bedeutung« (Sch II: 354), die vielfältigste Deutungen ermöglichen. »Matheme sollen nicht verstanden, sondern verwendet werden«, formuliert Dylan Evans (Evans 2002: 184). Für meine Interpretation des Zusammenhangs von Liebe und Begehren werde ich mich Paul Verhaeghes Position anschließen, dass diese Matheme Lacans wichtigste Formalisierung der Psychoanalyse darstellen, die gleichzeitig eine Synthese und einen Höhepunkt seines Schaffens bilden (vgl. Verhaeghe 1995). Mit der Formalisierung, die zuerst Lösung von der sonst üblichen, imaginär erfassbaren Bildersprache der Psychoanalyse und eine Präzisierung der Theoreme sein sollte, geht jedoch zum einen einher, dass sich die Matheme nicht ohne Bezugnahme auf andere theoretische Elemente lesen lassen. Zum anderen verbirgt die Formalisierung schwache Punkte in der Argumentation und unausgesprochene Voraussetzungen. Diesen Problemen werde ich begegnen, indem ich den späten Lacan mit dem frühen lesen und die Lücken und Unbestimmtheiten in späten Formulierungen mit früheren Theoremen füllen werde. In gewisser Weise kehrt dieses Verfahren Lacans eigenes Vorgehen um, der frühere Theoreme und Bilder auch nach fundamentalen theoretischen Verschiebungen in neue Ansätze integriert und seinen Zuhörern signalisiert: Ich hab’s doch immer schon gesagt, ihr müsst nur besser zuhören! Deshalb werde ich späte Ansätze wie die Matheme der vier Diskurse oder die »Formeln der Sexuierung« mit früheren Lacan’schen Theoremen konfrontieren, um erstere mithilfe der älteren Annahmen zu kritisieren und begrifflich zu schärfen. Die Gefahr eines derartigen Vorgehens liegt darin, Lacans »Antisystem« (Fink 2011: 197) unzulässig zu verkürzen und die bewussten Auslassungen imaginär aus-

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zukleiden. Autorinnen und Autoren, die über Lacan schreiben, versuchen solche Vereindeutigungen zu vermeiden und verweisen gerne darauf, dass Lacans Werk immer mehr ist als die eigene Interpretation. So warnt Bruce Fink: … glaube nicht, dass das Buch, das du gerade gelesen hast, dir gestatten wird, alles, was Lacan jemals sagte oder schrieb, zu verstehen, und bereite dich darauf vor, zahllose Passagen in seinem Werk zu finden, die das hier Vorgebrachte einschränken oder ihm vielleicht sogar widersprechen. (Fink 2009: 287f.) Fink wendet sich insbesondere an psychoanalytische Praktiker und versucht, für diese eine handhabbare Einführung zu schreiben. Wenn er jedoch Lacans wichtigste Theoreme gut verständlich erklären kann, muss er sich die Frage stellen, warum Lacan selbst diese verständliche Erklärung nicht genügt hat und warum es einen Übersetzer braucht, der Lacan verständlich macht. Diese Frage lässt sich meines Erachtens einfach beantworten: Fink erklärt Lacan, Lacan aber erklärt nicht sich, sondern will Psychoanalytiker ausbilden: »Zweck meiner Lehre war und bleibt Analytiker auszubilden« (XI: 242). Zum Analytiker wird man jedoch durch die Analyse. Lacans Sprechen in den Seminaren entspricht also dem, was er von dem Analytiker fordert, nämlich das »Halb-Sagen« der Wahrheit. Ich werde im fünften Kapitel auf diese Formulierung zurückkommen. Für den Anfang jedoch möchte ich festhalten, dass der Lacan’sche Diskurs sich davor hütet, eindeutig zu sein, denn die Übertragung ist in ihn eingeschrieben. Als Subjekt, dem Wissen unterstellt wird, lässt sich Lacan gerade nicht auf die Position dessen ein, der dem Analysanden seine Welt erklärt. Er strebt nicht eine Analyse an, an deren Ende sich der Analysand mit dem wissenden Analytiker identifiziert, sondern zielt darauf, dem Subjekt zu ermöglichen, seinen Signifikanten auf sich zu nehmen. Das Lacan’sche Werk ist vieldeutig. Jede Vereindeutigung darf nicht behaupten, sich in Lacans Text begründen zu können, sondern muss letztlich die Verantwortung für sich übernehmen. In diesem Sinne handelt es sich im Folgenden um meine Interpretation, die ihre Notwendigkeit in meiner Fragestellung hat. Es geht mir hier also keinesfalls um einen Kommentar zu Lacans Text. Ich will gerade nicht dessen Vielstimmigkeit herausarbeiten, jeder möglichen Anspielung nachgehen oder eine möglichst erschöpfende Interpretation einer Textstelle bieten, sondern eine Zuspitzung erarbeiten, die sich gegen die pädagogische Subjektvergessenheit wendet. Deshalb ist diese Arbeit keine »lacanianische«, sie ist keine Arbeit über Lacans Theorie, sie sucht nicht nach einer Wahrheit, die bereits von Lacan formuliert wurde.44 Vielmehr sollen Lacans Theoreme in Dialog mit pädagogischen Problem treten. 44

Ein derartiges Vorgehen würde Lacans Diskurs zu einem Diskurs des Herren machen und gerade nicht als einen Diskurs des Analytikers, wie ich ihn in den folgenden Kapiteln beschreiben werde, betrachten. Lacan als Instanz, die seinen Diskurs vereinigt, würde so zum

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Dabei stehe ich vor zwei Schwierigkeiten: Zum Ersten ist das Lacan’sche Werk relativ schlecht zugänglich. Die unter dem Titel »Schriften« veröffentlichten Texte Lacans liegen gerade in zwei neu erschienenen Bänden vor, die im Gegensatz zu den vorherigen Ausgaben der Schriften tatsächlich alle Texte des französischen Originals enthalten. Viele wichtige Texte sind also gerade erst in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden. Die meisten dieser Texte sind jedoch nicht primär für eine schriftliche Veröffentlichung entstanden, sondern zunächst als Vorträge in verschiedenen Tagungskontexten gehalten und erst nachträglich verschriftlicht und von Lacan überarbeitet worden. Die ursprüngliche Mündlichkeit der Texte haben die Schriften mit den »Seminaren« gemeinsam, die den weit größeren Teil des »Werks« ausmachen und aus Mitschriften des Seminars bestehen, das Lacan wöchentlich für seine Schülerinnen und Schüler abhielt. Die Sitzungen wurden von unterschiedlichen Personen transkribiert und sind nur teilweise noch von Lacan selbst autorisiert veröffentlicht worden. Dabei sind bisher jedoch nicht alle Seminare verlegt, längst nicht alle übersetzt.45 Wer von einem Lacan’schen Werk sprechen will, muss sich also auf einen recht unüberschaubaren Textkorpus beziehen, der mehr oder weniger dem Autor zugerechnet werden kann. Zum Zweiten: Lacan findet im Verlauf der Jahre völlig gegensätzliche Beschreibungen für das, was in der Analyse stattfindet. Dabei ist jedoch nicht klar, ob sich nur die Beschreibungen einer gleichbleibenden Praxis verändern oder ob sich auch die Praxis selbst verändert. Daran schließt sich die Frage nach dem Verhältnis von Praxis und Theorie in der Psychoanalyse an: Behauptet die Psychoanalyse eine Theorie zu sein, die sie aus Beobachtung der Praxis entwickelt? Oder ist es eine philosophische Spekulation, die eine spezifische Praxis erklärt? Ist psychoanalytisches Wissen Praxiswissen, das zu einer speziellen Tätigkeit qualifiziert? Oder sind Praxis und Theorie völlig unverbunden? Ich werde mich mit dem Status des psychoanalytischen Wissens im fünften Kapitel beschäftigen. Für mein Vorgehen bis dahin versuche ich jedoch, die Widersprüche, die zwischen Formulierungen aus unterschiedlichen Zeiten bestehen, nicht allzusehr durch die Annahme verschiedener Werkphasen zu neutralisieren, sondern diese Widersprüche produktiv zu machen.

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»absoluten Herr und Meister« – eine Gefahr, die in der Lacan-Rezeption durchaus besteht (vgl. Borch-Jacobsen 1999). Man könnte denken, dass sich das Seminar, das von angehenden Analytikern besucht wird, abgeschlossenes Expertenwissen präsentiert, während die Schriften sich an ein Publikum von interessierten Laien wenden und eine verständliche Einführung bieten. In Lacans Fall ist es jedoch umgekehrt: Die Seminare wenden sich gerade an Menschen, die noch keine Analytiker sind. Die Seminarmitschriften lassen sich als Protreptik lesen, die vom Außen ins Innere der Theorie holt (vgl. Milner 2014: 29). Diese Bewegung wird in den Schriften schon vorausgesetzt, deshalb gelten sie als unlesbar.

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Aufbau der Arbeit Pädagogik muss in der Moderne etwas Unmögliches versuchen. Die Liebe, die mit ihrem Selbstopfer ihr Gegenüber idealisiert, verschiebt dieses Unmögliche in den Bereich des Möglichen, ohne es jedoch technisch handhabbar zu machen. Die Liebe ist eine Antwort auf die paradoxale Situation der Pädagogik, sie reagiert auf die Unmöglichkeit pädagogischer Wirksamkeit und das Unvermögen der modernen Pädagogik, sich letzte Gründe zu geben. Als Antwort löst die Liebe jedoch die Paradoxien nicht auf, vielmehr nimmt sie ihnen den Stachel des Frustrierenden, indem sie sie »genießbar« macht, indem sie eine Befriedigung bereitstellt, die jenseits einer Erfüllung von Versprechen liegt: die Liebe. Diese Liebe zum Kind ist nicht nur für die Pädagogik relevant. Weil die Pädagogik selbst auf die Grundlosigkeit des Subjekts in der Moderne reagiert, ist die Liebe zum Kind eine Antwort auf das Problem des modernen Subjekts – eine Antwort, die insbesondere an Frauen delegiert wurde. Um zu verstehen, welche Befriedigungen die scheinbar unbefriedigende Situation des Sisyphos’ bereithält, werde ich im folgenden, zweiten Kapitel untersuchen, wie die Psychoanalyse das Genießen der Unlust interpretiert. Ausgehen muss diese Unternehmung von Lacans Begriff des Begehrens, denn das Begehren markiert die Stelle, an der sich das Genießen von der Befriedigung biologischer Bedürfnisse trennt. Nach Lacan ergibt sich das Begehren aus der Sprachlichkeit des menschlichen Weltzugangs, der jedem direkten Kontakt mit dem Sein im Wege steht. Sprache verhindert so ein unmittelbares Erleben des Dings, eine unmittelbare, vermeintlich vollständige Befriedigung, zugleich ermöglicht sie jedoch ein Mehr-Genießen, eine zusätzliche Lust, die sich aus dem Verfehlen des Objekts ziehen lässt. Begehren definiert Lacan als die metonymische Bewegung, die sich daraus ergibt, dass das Objekt nie erreicht wird und deshalb weiter gesucht werden muss. Diesen Begriff des Begehrens werde ich mit dem Phantasma verbinden und als eine sprachliche Struktur beschreiben, die auf der im Herrensignifikanten begründeten Allmachtsphantasie basiert, Objekte vollständig in den Griff zu bekommen. Mithilfe der Diskursmatheme aus Seminar XVII kann ich dann Begehren und Liebe voneinander abgrenzen und mit Lacans fragmentarische Theorie der Liebe aus Seminar VIII Liebe als Sublimierung des Begehrens verstehen. Die Liebe hat nach Lacan eine metaphorische Struktur, die sich aus der Verdrängung des Begehrens ergibt, einer Bewegung, die den Herrensignifikanten scheinbar ausschließt, jedoch weiterhin durch ihn bestimmt ist. Diese metaphorische Struktur werde ich mit dem Diskurs der Universität beschreiben, einer sublimierenden Modifikation des Diskurses des Herren, mit dem ich das Begehren verbinde. Während das Begehren ein vermeintlich ursprüngliches Genießen auf seinen sprachlichen Bahnen zwangsläufig verfehlt, idealisiert die Liebe ihr Gegenüber, hält es in ausreichender Distanz, um nicht seinem Realen zu begegnen. Die Diskursmatheme des Semi-

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nars XVII verwende ich also im zweiten Kapitel, um Begehren und Liebe voneinander abzugrenzen und die Bewegung sichtbar zu machen, die Begehren zu Liebe werden lässt. Dabei kann ich zeigen, dass die das Begehren bestimmende ödipale Allmachtsphantasie, das Phantasma eines verfügbaren Genießens, sich auch in der Liebe verborgen am Leben hält. Statt sich seine Objekte wie der Begehrende zu unterwerfen, unterwirft sich der Liebende selbst seinem scheinbar abhängigen Objekt, opfert sich auf, um im Objekt die prekär gewordene Phantasie eines kontrollierbaren Genießens wieder aufstehen zu lassen. Beide Verhältnisse zum Objekt sind jedoch unmöglich: Wie der Begehrende sein Objekt letztlich stets verfehlt, verfehlt der Liebende im Objekt sich selbst. Die Liebe ist mit Lacan beschreibbar als eine vom Begehren klar unterscheidbare Art, das Genießen zu organisieren. Im Zentrum der Genießensökonomie der Liebe steht das Opfer, das Leiden für das Gegenüber, das sich auch in der unendlichen Mühe des Sisyphos wiederfindet. Mit Lacan lässt sich zeigen, wie dieses Leiden selbst zum Genießen werden kann: Genossen wird in der Liebe die Allmachtsphantasie eines absoluten Genießens, das dem Gegenüber – beispielsweise dem Kind in der Pädagogik – unterstellt wird. Zugleich wird mit Lacans Beschreibung der Liebe deutlich, dass der Liebende, obwohl er seinem Gegenüber alles opfert, diesem nie gerecht wird bzw. sich in ihm täuscht und von ihm enttäuscht wird. Diese zwangsläufige Enttäuschung in der Liebe hat jedoch das Potential einer Überschreitung des Phantasmas. Während ich im zweiten Kapitel die Liebe systematisch und a-historisch untersucht habe, stelle ich sie im dritten Kapitel in den Kontext einer Zeitdiagnose, die Lacan in Seminar XVII angesichts der protestierenden Studierenden entwickelt. Mit seinem Seminar XVII wagt Lacan eine umfassende Theorie eines gesellschaftlichen Wandels, die nicht nur psychische Strukturen auf gesellschaftliche bezieht und damit – wenn man so will – die Psychoanalyse politisiert, sondern psychoanalytische Kategorien historisiert. Die Feststellung, dass sich gesellschaftliche Herrschaft und die Herrschaft des Selbst fundamental verändert haben, sowie die Einführung einer Theorie des Postödipalen brechen mit der Zeitlosigkeit der psychoanalytischen Begriffe: Das ödipale, durch das Verbot gezeichnete Subjekt ist keine strukturelle Notwendigkeit mehr, die sich aus dem Umstand der Sprachlichkeit ergibt. Vielmehr handelt es sich um ein spezifisches historisches Phänomen, das sich in einer längst vergangenen Gesellschaft verortet – eine Gesellschaft, die sich auf einen allgemeinen letzten Grund bezieht, den es in der Moderne nicht mehr gibt. Damit wird nicht nur Liebe allgemein in ihrem geschichtlichen Kontext situiert, sondern insbesondere die Liebe zum Kind: Nach dem »Kollaps der väterlichen Funktion« (Verhaeghe 2000), die als gründende Figur das Symbolische zentriert und Gesellschaft ermöglicht hatte, scheint die »atonale Welt« (Badiou 2010) ohne Grundton auskommen zu müssen. Mit Lacan zeige ich jedoch nicht nur,

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dass der scheinbar verschwundene Herrensignifikant als Genieße-Imperativ weiter wirksam ist, sondern auch, dass die Figur des Kindes als Verbindung von Unbestimmtheit und Unschuld diesen unsichtbaren Herrensignifikanten hervorbringt. Das desexualisierte Kind als Idealich, dem ein unkastriertes Genießen zugeschrieben wird, legitimiert eine neue, pädagogische Autorität. Gleichzeitig ist es Fixpunkt einer »Gesellschaft des Genießens« (McGowan 2004), die einen permanenten Überschuss produziert. Die Frage nach der pädagogischen Liebe ist damit nicht nur für die Pädagogik relevant, sie betrifft nicht nur den »Onkel, der schrulligerweise Kinder liebt«, vielmehr ist die Liebe zum Kind Kern einer postödipalen Ordnung, in der die Allmachtsphantasie eines unkastrierten Genießens, das die väterliche Autorität nicht länger zu verkörpern im Stande war, im Kind fortlebt. Jedoch richtet sich die Phantasie gegen das Subjekt: In der pädagogischen Liebe steckt das zerstörerische postödipale Über-Ich, das das Subjekt mit seiner unbarmherzigen Forderung, das Beste aus dem Leben zu machen, vor sich her treibt. Die postödipale Figur des Kindes lese ich als einen Versuch, die väterlich-autoritäre Geste der Macht als Fundierung des Sozialen zu überwinden. Jedoch lebt die mit dieser Geste verbundene Allmachtsphantasie weiter und mit ihr ein bestimmtes Verhältnis zum Anderen, dessen Wurzeln im Geschlechterverhältnis liegen. Vor diesem Hintergrund ist die pädagogische Liebe zum Kind sexuiert, sie geht mit einer mit dem Weiblichen verbundenen Verleugnung von Abhängigkeit einher. Den Herrensignifikanten, der das Begehren begründet, identifizierte Lacan ursprünglich mit dem Phallus. Das begehrende und liebende Subjekt ist also männlich. Im vierten Kapitel untersuche ich deshalb mit der Lacan’schen Geschlechtertheorie die Voraussetzungen dieses männlichen Subjekts, das auf ein weibliches Anderes angewiesen ist. Als Pointe der Lacan’schen Interpretation des Geschlechterverhältnisses werde ich herausstellen, dass es den Herrensignifikanten nicht gibt und auch nie gegeben hat: Die durch den Herrensignifikanten hergestellte Männlichkeit ist nicht nur Hochstapelei, sondern vor allem eine Abwehr der Unverfügbarkeit des (bzw. der) Anderen. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit der Psychoanalyse, über Weiblichkeit zu sprechen, da jede Aussage über Weiblichkeit nicht von der Perspektive des männlichen Subjekts abstrahieren kann. Denn einerseits ist das Weibliche als Voraussetzung des männlichen Subjekts als Anderes beschreibbar, gleichzeitig trägt es als solches die Spuren der männlichen Abwehr. Das zwanzigste Seminar, auf das sich meine Interpretation des Zusammenhangs zwischen Liebe und dem Geschlechtsverhältnis stützt, wird in der Sekundärliteratur als eine Auseinandersetzung Lacans mit seinen feministischen Kritikerinnen interpretiert. Doch auch in die dort entworfenen Formeln der Sexuierung ist eine Geschlechterhierarchie eingeschrieben, die eben Gegenstand dieser Kritiken war: Alterität wird in ihnen geschlechtlich konnotiert und findet sich als Sediment im Symbolischen. Es bleibt unklar, ob Lacan diese Asymmetrie als Notwendigkeit betrachtet oder ob sie eine Problembeschreibung darstellt. Ausgehend von der in Seminar XX formulierten

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Geschlechtertheorie Lacans versuche ich mit den Diskursmathemen zwei Arten weiblicher Bezogenheit zu definieren, die den Herrensignifikanten im Gegenüber ansiedeln. Dabei werde ich besonders nach dem nur angedeuteten weiblichen Genießen »jenseits des Phallus« fragen und dieses als das »azephale« Genießen des Triebs interpretieren. Die Figur des Triebs, erst relativ spät in Seminar XI eingeführt, ist jedoch bei Lacan ein Desiderat – ich versuche dieses auszufüllen. Ambivalent bleibt jedoch angesichts des Status des psychoanalytischen Begriffs der Weiblichkeit die Beschreibung eines weiblichen Genießens, das sich auf ein Jenseits des Phallus bezieht und so die Vorstellung einer nicht-ödipal hergestellten Alterität möglich macht. »Daß die Frau je nur genommen wird quoad matrem« (XX: 39), betont Lacan in Seminar XX. Das, was das spezifisch weibliche Genießen jenseits des Phallus ausmacht, könnte deshalb in Zusammenhang mit der Mutterschaft, also dem Verhältnis zum Kind stehen. Um diesen Zusammenhang zu untersuchen, rekapituliere ich im fünften Kapitel die unterschiedlichen Rollen der Eltern in der Genese des Subjekts. Dabei zeige ich, dass der Vater in der Subjektwerdung als Deus ex Machina fungiert, der den Protagonisten aus dem bedrohlichen Begehren der Mutter zu retten vorgibt. Jedoch bringt die Vatermetapher das Subjekt nicht nur dazu, die mütterliche Subjektivität zu verleugnen und quasi einen »Muttermord« (Irigaray 1989: 30) zu begehen, sie verteidigt die Andersheit des Kindes nur als geschlechtliche: Ein von der Mutter gelöstes Subjekt zu werden, ist nicht dem Mädchen, sondern nur dem Jungen möglich, der durch die vergeschlechtlichte Subjektivität zum paranoiden Verteidiger seiner Männlichkeit werden muss. Mit dem Diskurs des Analytikers zeige ich, dass in der im Kastrationskomplex beschriebenen Beziehung zwischen Mutter und Kind etwas angelegt ist, das eine Subjektwerdung ohne eine Verleugnung der mütterlichen Subjektivität ermöglichen könnte. Jedoch fordert diese Art der Beziehung von der Mutter und dem Pädagogen die radikale Geste der Subjektivierung des eigenen Genießens. Verbunden mit diesem radikalen Schritt kann die Trauer um das phantasmatische Objekt sein, das den primordialen Verlust des Subjekts kompensieren könnte. Jenseits des Phantasmas liegt ein Verhältnis zum anderen, das diesen nicht vereinnahmt und sein Genießen in der Kopflosigkeit des Triebes findet, in dem Signifikanten ohne ein abstraktes Absolutes zirkulieren. Dieses Genießen werde ich der postödipalen Idealisierung des unkastrierten Kindes entgegensetzen – nicht, weil es dem Kind als anderem gerechter würde, sondern weil es ein Subjekt ermöglicht, das die Unverfügbarkeit des anderen nicht nur annimmt, sondern aus ihr die Grundlage seines Genießens macht. In meiner Auseinandersetzung mit der Liebe zum Kind verknüpfen sich Pädagogik, Geschlechtertheorie und Psychoanalyse. Die Frage nach der Liebe zum Kind ist für die Pädagogik höchst relevant, weil sie das unbewusste Genießen in den Blick nimmt, das den pädagogischen Sisyphos seine Bemühungen fortsetzen

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lässt. Mit einem psychoanalytischen Begriff der Liebe kann die Bedeutung der Subjektivität des Pädagogen für die generationale Beziehung untersucht werden. Für die Geschlechtertheorie ist die Liebe zum Kind mit der Frage nach dem Weiblichen verbunden, das entweder als aus der männlichen Norm abgeleitetes Anderes gefasst werden kann oder als eigenwertige Andersheit, die sich dieser Norm entzieht. Mit einer geschlechtertheoretischen Relektüre der Psychoanalyse Lacans kann diese Ambivalenz als eine Ambivalenz der Liebe und deren Beziehung zu der Pädagogik untersucht werden. Schließlich ist die Liebe zum Kind als pädagogische für die Psychoanalyse Lacans relevant, weil sie einen blinden Fleck seiner Theoretisierung der Moderne ergänzt. Die drei Perspektiven ergänzen sich also nicht nur hinsichtlich des Gegenstands, sondern werden auch in sich von einander kritisiert und erweitert.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen Von der Liebe sprechen, in der Tat, nichts anderes tut man im psychoanalytischen Diskurs. (XX: 90.)

Lacan wird nicht müde zu betonen, dass Liebe das zentrale Thema der Psychoanalyse sei. Dennoch hat die Liebe in der psychoanalytischen Rezeption keine prominente Stellung.1 Breiter wird der Lacan’sche Begriff des Begehrens rezipiert, dem eine besondere Bedeutung in seiner Subjekttheorie zukommt und der als Bestandteil einer »Ethik des Begehrens« normativen Gehalt hat. Die zentrale theoretische Stellung des Begehrens zeigt sich auch in Lacans Auseinandersetzung mit der Liebe. Diese ist nur abhängig vom Begehren zu verstehen: als eine Modifikation, eine Idealisierung des Begehrens. Um meine Lesart des Lacan’schen Begriffs der Liebe plausibel zu machen, muss ich also einen Umweg über das Begehren nehmen. Da Lacan in seiner Theorie des Begehrens die Psychoanalyse Freuds, den Strukturalismus und die philosophische Erkenntnistheorie verknüpft, legt das folgende Kapitel nicht nur die Grundlagen für die Unterscheidung von Liebe und Begehren, sondern auch für die folgenden Kapitel, die diese Grundlagen voraussetzen. Wie Freud geht Lacan davon aus, dass die Liebe ihre Wurzeln im Sexuellen hat. Dabei hält er an Freuds erweitertem Begriff des Sexuellen fest: Mit seiner linguistischen Relektüre der Psychoanalyse kann er das Sexuelle als eine Grenzregion zwischen Natur und Gesellschaftlichem, zwischen Lusterleben und Signifikanten beschreiben. Zentraler Begriff für die Konzeption des Sexuellen ist das Genießen (Jouissance), das nicht mit der Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses identisch ist, sondern sich genau auf diese Grenzregion bezieht. Wenn Lacan also Liebe

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Beispielsweise hat das Stichwort Liebe in dem psychoanalytischen Standardwörterbuch von Laplanche und Pontalis keinen eigenen Eintrag (Laplanche/Pontalis 1973). Die meisten LacanEinführungen kommen ohne den Begriff der Liebe aus (z.B. Braun 2007, Žižek 2008, Fink 2011, Recalcati 2000). Mit der Übersetzung des Seminar VIII durch Bruce Fink ist der Begriff der Liebe in der englischsprachigen Literatur angekommen (Fink 2016).

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als eine Modifikation des Sexuellen bzw. des Begehrens fasst, lässt sich diese als eigener Modus des Genießens verstehen oder genauer als ein eigenständiger Umgang mit dem Genießen. Für die selbstlose Liebe des heiligen Franciscus fand Freud unter anderem den Begriff der Sublimierung: Das Sexuelle wird in eine höhere, sozial anerkanntere Sphäre gehoben, ursprüngliche Objekte dafür aufgegeben; die Energie, die aus dem Sexuellen kommt, bleibt jedoch erhalten (vgl. Kapitel 1.3). Im Zentrum von Lacans Theorie der Liebe steht hingegen der Begriff der Metapher. Wo Freud seine Begriffe den Naturwissenschaften entlehnt und entsprechend sein Denken der Logik dieser Zusammenhänge folgt, wählt Lacan linguistische Termini. Die Metapher beschreibt eine ähnliche Struktur wie die Sublimierung: Etwas wird in eine höhere Form überführt. Jedoch lässt sich mit der Metapher präziser fassen, dass bei dieser Überführung ein spezifischer Überschuss entsteht. Denn die Metapher beschreibt eine Ersetzung eines unerwünschten Begriffs, der zu anstößig oder zu trivial ist, durch einen anderen, der weniger problematisch ist. Charakteristisch ist für die Metapher jedoch, dass die ursprüngliche Bedeutung auf den neuen Begriff übergreift und diesen entstellt, so dass es beispielsweise unmöglich werden kann, unschuldig eine Aprikose zu essen. So ermöglicht die Metapher ein Genießen an einer Stelle, an die dieses gar nicht zu gehören scheint. Diese Struktur erkennt Lacan in der Liebe: Das Sexuelle ist in ihr scheinbar abwesend, zugleich ist es jedoch übermächtig gegenwärtig. Die Form dieser Gegenwärtigkeit und ihre Konsequenzen werde ich im Verlauf dieses Kapitels genauer herausarbeiten. Während Siegfried Bernfeld, wie ich im ersten Kapitel gezeigt habe, die pädagogische Liebe zum Kind aus dem Scheitern der Sublimierung erklärte, werde ich mit Lacan Liebe allgemein – und damit auch die Liebe zum Kind – als Sublimierung beschreiben. Diese Sublimierung ist jedoch alles andere als unproblematisch, sondern durchaus gewaltvoll. In Lacans theoretischem Unternehmen ist keine harmonische Auflösung der grundsätzlichen Konflikthaftigkeit des Subjekts denkbar. Diese Konflikthaftigkeit steht in Zusammenhang mit dem Signifikanten, dessen Theorie Lacan von Ferdinand de Saussure übernimmt, zum zentralen psychoanalytischen Begriff macht und mit seiner Hilfe das Freud’sche Verbot neu interpretiert. Das unterschiedliche Verhältnis von Genießen und Signifikanten macht nun den Unterschied von Liebe und Begehren aus. Ich werde in den folgenden Kapiteln zeigen, dass im Begehren Signifikant und Genießen in einem dialektischen Verhältnis stehen, in der Liebe hingegen der Signifikant selbst erotisiert wird und so Signifikant und Genießen in eins fallen. Diese zwei Beziehungen von Signifikant und Genießen sind Gegenstand des Seminars XVII, dem Seminar, in dem Lacan seine Theorie der vier Diskurse entwickelt. Während das dialektische Verhältnis von Signifikant und Genießen von Lacan im Mathem des Diskurses des Herren zu einer genauen Formulierung kommt, findet die Erotisierung des Signifikanten seine präzise Darstellung im Mathem des Diskurses der Universität. Deshalb werde

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

ich das Lacan’sche Verständnis des Verhältnisses von Liebe und Begehren mithilfe dieser Diskursmatheme durchleuchten. Dazu werde ich zunächst meine Interpretation der zentralen Lacan’schen Begriffe einführen. Im ersten Unterkapitel werde ich Lacans Relektüre der Freud’schen Spaltung zwischen Unbewusstem und Bewusstsein rekapitulieren, die zentrale Figuren der philosophischen Tradition aufgreift. Mehr als Freud hebt Lacan mit Rückgriff auf philosophische Theorien des Bewusstseins hervor, dass diese Spaltung aus der Angewiesenheit des denkenden bzw. sprechenden Menschen auf ein Gegenüber resultiert, durch das dieser erst zu einem Begriff seiner selbst kommen kann. Das Gegenüber ist dem Subjekt jedoch vorgängig; es ist der übermächtige »große Andere«, die personifizierte Struktur, in die das Individuum hineingeboren wird. Diese Konzeption einer Vorgängigkeit der Struktur ermöglicht Lacan die Verknüpfung einer Theorie des Unbewussten mit dem Begriff des Signifikanten. Im zweiten Unterkapitel beschreibe ich die Unterwerfung unter diese Signifikanten-Struktur, die das Subjekt entstehen lässt. Entscheidend ist für Lacans Interpretation des Verhältnisses von Subjekt und Struktur, dass diese Unterwerfung des Subjekts auf einem fundamentalen Irrtum besteht, der nicht ohne Folgen bleibt: So reduziert das Subjekt die inkonsistente Sammlung von Signifikanten auf eine verständliche Ordnung, in der jedem Signifikanten Sinn zukommt. Dieser Irrtum ermöglicht einen zweiten: Die Unterwerfung geht mit der Vorstellung einher, ein Objekt verloren zu haben, das als Hoffnung auf Kompensation Ursache des Begehrens wird. Diese Theoretisierung der Ursache des Begehrens lese ich im dritten Unterkapitel als eine Neuinterpretation der Freud’schen Urszene, einer traumatischen Szene aus der Vergangenheit des Subjekts, auf die sich zahlreiche Produktionen des Unbewussten zurückführen lassen, die jedoch nie erinnert wird. Lacan interpretiert diese Szene als Einsetzen des Herrensignifikanten, der ein vermeintlich ursprüngliches Genießen verbietet, zugleich jedoch Sprachlichkeit und damit Sozialität und Bewusstsein ermöglicht. Das Begehren entsteht durch diesen Herrensignifikanten als unendliche Bewegung, in der das Subjekt nach Kompensation des Verlustes, nach dem phantasmatischen vollständigen Genießen jenseits des Verbotes, sucht. Das Genießen definiert sich im Begehren also als etwas, das jenseits des Signifikanten vermutet wird, aber erst durch den Signifikanten als Phantasma entsteht. Mit dem Diskurs des Herren, den Lacan als Mathem in Seminar XVII entwirft, findet das Begehren schließlich eine präzise Formulierung. So kann ich im vierten Unterkapitel schließlich zu Lacans Liebesbegriff kommen. Mit der Liebe setzt sich Lacan insbesondere in Seminar VIII auseinander, das er unter anderem einer Lektüre von Platons »Symposion« widmet. Seinen dort entwickelten Begriff der Liebe werde ich mit späteren Formulierungen präzisieren und schließlich mit dem Diskurs der Universität beschreiben. Liebe kann so definiert

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werden als eine Modifikation des Begehrens, in der das Gegenüber zur Ursache des Begehrens erhoben und zugleich der für das Begehren zentrale Herrensignifikant verdrängt wird. Der oder die Liebende scheint auf die Durchsetzung eigener Wünsche, auf sein Genießen, zu verzichten und richtet sich ganz an dem Genießen seines Gegenübers aus, das er jedoch idealisiert und zu dem macht, was sein Phantasma eines vollständigen Genießens aufrechterhält. Charakteristisch für die Liebe ist also der Verzicht, der jedoch in den Dienst des Phantasmas gestellt wird. So wird das Nicht-Genießen selbst zur Grundlage des Genießens; aus Unlust wird Lust. Das Gegenüber in der Liebe wird Lacans Formulierung folgend als Ursache des Begehrens »verstümmelt zu etwas, das mehr ist als es selbst«. Folglich verfehlt die Liebe ihr Objekt; obwohl Liebe auf Gegenseitigkeit zielt, bleibt diese, selbst wo sie sich augenscheinlich herstellt, immer eine Illusion. Schließlich zeige ich im fünften Kapitel, dass die Liebe das Potential hat, das Phantasma zu überschreiten. Gerade weil Liebe mit der Unmöglichkeit der Kompensation konfrontiert, weil Liebe zwangsläufig enttäuscht, kann sie das sichtbar machen, was im Phantasma verfehlt wird. Deshalb hat die Liebe als Übertragung eine zentrale Funktion für die psychoanalytische Kur. Jedoch hängt von der Reaktion des Gegenübers ab, ob es zu dieser Überschreitung des Phantasmas kommt. Mit Lacan deute ich die Selbstlosigkeit, die den idealistischen Liebesbegriff auszeichnet, um. Ich zeige, dass die Liebe tatsächlich selbstlos ist, weil ihr die Instanz verloren geht, die vom Signifikanten repräsentiert wird. Dass die Liebe sich dem Gegenüber unterwirft, dass der Liebende sich in den Dienst des Anderen stellt, interpretiert ich als ein Aufrechterhalten des Phantasmas, als Erzwingen der Illusion eines vollständigen Genießens durch Leiden. Nur ein Gegenüber, das Liebe erwidert und das verlorene Selbst produziert, kann der Entgrenzung des Leidens in der Liebe temporär Einhalt gebieten. Wie dem Begehren wohnt der Liebe bei Lacan also etwas grundsätzlich Zerstörerisches inne, das nur partiell im Zaum zu halten ist. Der Liebesbegriff Lacans löst also die Konflikthaftigkeit, die im Sexuellen gegeben ist, nicht auf. Eine pädagogische Bezugnahme auf die Liebe ist deshalb ein problematisches Unterfangen. Mit diesem Liebesbegriff ist darüber hinaus noch nicht geklärt, warum sich der Pädagoge Kindern und nicht anderen Liebesobjekten (wie den von Bernfeld angeführten Briefmarken) zuwendet, die er als Ursache seines Begehrens einsetzen kann. An diese offene Frage wird schließlich das dritte Kapitel anknüpfen. Lacan versteht die Psychoanalyse als eine Theorie der Liebe, betont jedoch immer wieder, dass man nicht über die Liebe sprechen kann, ohne sich zum Idioten zu machen (vgl. XX: 16). Entsprechend rätselhaft klingen viele Passagen seiner Liebesreflexionen. Diese Rätselhaftigkeit und Dunkelheit zahlreicher Metaphern darf aber nicht Anlass sein, Lacans theoretische Unternehmungen in Bezug auf die Liebe zurückzuweisen. Vor dem Hintergrund seiner Annahme, dass Wahrheit immer »Halb-Sagen« ist (Seminar XVII: 59), weil sie sich gerade an der Grenze des Denk-

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und Sagbaren findet, ist das enigmatische Sprechen über die Liebe nicht zu vermeiden. Liebe bezieht sich auf diese Grenzregion, sie stellt eine Umgangsweise mit der Unmöglichkeit dar, die Wahrheit vollständig zu erfassen.

2.1 Das Subjekt als Unterworfenes Zentraler Begriff in Lacans innovativer Relektüre Freuds ist das Subjekt, ein Begriff, mit dem er an die philosophische Tradition anknüpft. Lacan spielt mit den Assoziationen, die der Begriff Subjekt (frz. Sujet) aufruft. Der französische Begriff bedeutet auch Unterworfenes/Untertan und deutet so die Nachgeordnetheit des Subjekts gegenüber dem Symbolischen an. Kürzt Lacan das Subjekt in seinen formelhaften Tafelanschrieben ab, erscheint es als Buchstabe S, der nicht zufällig homophon mit dem Es der Instanzen Freuds ist. Tatsächlich entspricht das Subjekt am ehesten dem Es der Freud’schen Trias von Es, Ich und Über-Ich, ist jedoch mit diesem keinesfalls deckungsgleich. Vielmehr stehen die von Lacan entwickelten Begriffe teilweise unsynchronisiert neben denen Freuds, teilweise ergänzen und präzisieren sie diese. Dass Lacan den Begriff Subjekt verwendet, der bei Freud noch nicht vorkommt, ist ein Resultat seiner Rezeption der philosophischen Tradition, insbesondere der Erkenntnistheorie Descartes’.2 Dieser nimmt den radikalen Zweifel an der eigenen Fähigkeit zum Erkennen des Seins zum Ausgangspunkt seiner Subjekttheorie. Keine Erkenntnis kann für Descartes mehr als gesichert gelten, alles Gedachte kann sich als Traum oder Trug herausstellen, außer das Denken selbst: Cogito ergo sum – Dass ich denke, auch wenn ich möglicherweise Falsches denke, beweist meine Existenz. Das reflexive Subjekt in seiner Bewegung auf sich selbst zurück wird so zur Grundlage des Erkennens. Dieses reflexive Subjekt mit seinen Zweifeln an der Möglichkeit seiner eigenen Erkenntnis führt Lacan in die Psychoanalyse ein. Dabei bleibt er jedoch pessimistischer als Descartes, der die Spaltung zwischen gedachtem Selbst und denkender Substanz noch vernähen kann. Er besteht auf der Inkommensurabilität von Cogitans und Cogitatum, auch wenn er ihre Abhängigkeit voneinander betont. Damit steht im Zentrum der Lacan’schen Subjektkonzeption – anders als in der philosophischen Tradition der Subjekttheorie – ein unauflösbarer Konflikt (vgl. Recalcati 2000: 43).

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Bereits in den frühen Texten zum Spiegelstadium setzt Lacan sich mit Descartes auseinander. Die Figur des Cogito bleibt bis ins Spätwerk zentral und wird gleichzeitig als Abgrenzungsfolie und als Illustration der eigenen Auffassung genutzt, wobei Lacan betont, dass sich das Cogito in einem göttlichen Anderen absichert (z.B. III: 222; XI: 42; XVII: 159).

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Alterität des Bewusstseins Das Spiegelstadium ist Lacans bekannteste Metapher, die ähnlich wie Freuds Ödipus oft als Chiffre für sein gesamtes Werk gelesen wird.3 Obwohl den frühen Versionen des Spiegelstadiums noch der später zentrale Begriff des Signifikanten fehlt und die hier entwickelten Begriffe begrenzte Geltung für spätere Konzepte beanspruchen können, ist das Spiegelstadium für das Verständnis des späten Begehrensbegriffs wichtig, da hier Lacans Auseinandersetzung mit Hegels Herr-KnechtDialektik ihren Ausgangspunkt nimmt, die für seine Neuformulierung der Psychoanalyse zentral ist.4 Im Spiegelstadium begründet Lacan die Spaltung des Subjekts und seine Unterworfenheit unter eine illusorische Vollständigkeit. Um die Spaltung des Subjekts zu illustrieren, verwendet Lacan in seinem frühsten Text zum Spiegelstadium »Das Spiegelstadium als Gestalter der Funktion des Ichs«, ein »Faktum vergleichender Psychologie« (Sch I: 109), das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Das Menschenjunge erkennt – im Gegensatz zu motorisch bereits weiter entwickelten Schimpansenjungen – in einem gewissen Alter im Spiegel sein eigenes Bild als solches. Dieses Erkennen löst eine »jubilatorische Geste« desjenigen aus, das im Gegensatz zur Spiegelimago ausgezeichnet ist von »motorische[m] Unvermögen und Abhängigkeit vom Genährtwerden« (ebd. 110).5 Diese Situation deutet Lacan nun folgendermaßen: Das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innerer Drang sich aus dem Ungenügen in die Vorwegnahme überstürzt – und das für das mit dem Köder der räumlichen Identifizierung eingefangene Subjekt die Phantasien ausheckt, die in ihrer Abfolge von einem zerstückelten Bild des Körpers bis zu einer Gestalt seiner Vollkommenheit, die wir orthopädisch nennen werden, und zum am Ende auf sich

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Nicht selten beginnen Lacan-Einführungen mit einer Auseinandersetzung mit dem Spiegelstadium. So die Einführungen von Christoph Braun (Braun 2007), August Ruhs (Ruhs 2010) und Gerda Pagel (Pagel 1989). Trotz dieser Bedeutsamkeit des Spiegelstadiums für das Gesamtwerk Lacans ist die in ihm entwickelte innerpsychische Dynamik jedoch vor allem charakteristisch für das Frühwerk, in dem er sich mit der konstitutiven Funktion des Narzissmus auseinandersetzt, die Freud für das Selbstverhältnis und die Beziehung zu jedem Gegenüber angenommen hatte. Entsprechend ist der Begriff des sexuellen Begehrens in dieser Phase noch stark an den Narzissmus angelehnt und nicht gegen die Liebe differenziert. Eine gute Darstellung des frühen Begehrensbegriffs bietet Recalcati (vgl. Recalcati 2000: 15). Hier sei darauf hingewiesen, dass das Spiegelstadium nicht als zu durchlaufende Phase einer stufenhaften kindlichen Entwicklung zu verstehen ist. Der französische Begriff stadion kann sowohl als eine zeitliche (Stadium) als auch eine räumliche (Stadion) Begrenztheit verstanden werden. Letztere Bedeutung würde ich in diesem Zusammenhang bevorzugen und das Spiegelstadiums topologisch, d.h. als Metapher für die Struktur von Subjektivität deuten. Während im Frühwerk letztere Lesart zwar immer angelegt, aber nie eindeutig nahegelegt wird, lässt sich das Spätwerk kaum noch anders verstehen.

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genommenen Panzer einer entäußernden Identität, die mit ihrer starren Struktur seine ganze mentale Entwicklung prägen wird, reichen. (Sch I: 114.) Die jubilatorische Geste des Kleinkinds vor seinem Spiegelbild versteht Lacan als Moment, in dem das Subjekt aus der Identifizierung mit dem Spiegelbild entsteht, als das, was dieses Bild zu repräsentieren scheint. Lacan trennt hier also zwei Instanzen, die bei Freud nicht klar geschieden sind: nämlich das (Spiegel-)Ich (moi) und das Subjekt (je), die er zu Elementen seiner neuen psychoanalytischen Topologie macht. In der Metapher des Spiegelstadiums tauchen diese beiden Instanzen auf als Betrachtetes und Betrachtendes, als Objekt und Subjekt des Betrachtens, zwischen denen eine unüberbrückbare Distanz besteht. Wenn sich Lacan auf Descartes bezieht, so gerade indem er seine Begriffe aufgreift, aber seine These letztlich zurückweist: Er versteht das Spiegelstadium als eine Gegenrede zum Cogito der Descartes’schen Philosophie (vgl. ebd. 103), die schließlich eine Kommensurabilität von Subjekt und Ich postuliert. Dem entgegen besteht Lacan darauf, dass das denkende Subjekt nicht identisch mit dem ist, was es denkt, wenn es an sich selbst denkt. Das Spiegel-Ich ist Objekt des Betrachtens; Lacan bezeichnet es auch als Ideal-Ich (ebd. 111) und rechnet es der Ordnung sekundärer Identifizierungen zu, die zu der primären Identifizierung mit einem Platz, von dem aus weitere Identifizierungen stattfinden, additiv hinzukommen, diese ausfüllen oder bebildern. Dabei betont Lacan den Illusionscharakter dieses imaginären Bildes: Die Spiegelimago ist nicht nur eigentlich zweidimensional und Oberfläche ohne Körper, sie befindet sich darüber hinaus in einem virtuellen Raum, der hinter der reflektierenden Spiegelfläche zu sein scheint. Das Erkennen des Spiegelbilds ist ein Verkennen, das zwangsläufig geschehen muss. Nun bringt aber die Identifizierung, die Lacan als sekundär bezeichnet, das Spiegelbild, das Subjekt, also das eigentlich primäre, erst hervor. Erst das Bild einer Ganzheit vereinigt die partiellen Empfindungen – in Lacans Worten: den zerstückelten Körper – in einem Punkt, nämlich an dem Ort, an den das Bild projiziert wird. Die Spiegelimago beinhaltet eine Perspektive auf sich, sie bringt den Ort hervor, von dem aus sie gesehen wird. Das Bild erzeugt den Blick auf sich; das Sekundäre erzeugt das Primäre. Die Identifizierung mit dem Spiegelbild ist dabei ambivalent: Das Spiegelgegenüber ist Objekt der Begeisterung, faszinierendes Idealich, das alles Wünschenswerte zu haben scheint, und so Anlass zum Jubel, aber auch Bedrohung und Anlass zu äußerster Aggression: Der Spiegelandere ist Konkurrenz, da er als dem Subjekt Gleicher dieses zu ersetzen und auszulöschen droht. Die Beziehung zum Spiegelbild, die imaginäre Beziehung, ist demnach immer bedrohlich und instabil. Hier grenzt sich Lacan von anderen psychoanalytischen Theorien wie der Anna Freuds ab: Das Ich ist eben nicht auf das Wahrnehmungs- und Bewusstseinssystem zentriert und nach dem Realitätsprinzip organisiert, es ist keine stabile Instanz, sondern Ergebnis einer Illusion und als solche

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ambivalent. Trennt man nicht zwischen Subjekt und Ich, lässt sich die imaginäre Verstrickung nicht auflösen und so muss unweigerlich Destruktionswunsch und sexuelle Attraktion zusammenfallen. Genau diese Ambivalenz ist Kennzeichen einer imaginären, also dyadischen Situation. Unübersehbar scheint Hegels Herr-Knecht-Dialektik aus der »Phänomenologie des Geistes« auf, die Lacan durch das Seminar Alexandre Kojèves kennenlernte, das er in den 30ern besuchte. Seine Hegelinterpretation ist deshalb auch von Kojèves politischer Hegellektüre stark geprägt, die sich besonders für das Potential in der Figur des Knechtes interessiert.6 Die reflexive Geste, die auch Descartes’ Cogito bestimmt, ist mit Kojèves Hegel als tödliche Konfrontation zu verstehen, denn sie benötigt eine zweite gleiche Instanz. Selbstbewusstsein kann bei Hegel nur durch die Begegnung eines Bewusstseins mit einem anderen entstehen: Das Bewusstsein wird zum Selbstbewusstsein, indem es sich den Blick eines anderen auf sich selbst zu eigen macht. Zum Selbstbewusstsein kann es also nur in einer interpersonalen Dynamik kommen – eine Dynamik, die Lacan im Spiegelstadium zunächst zwischen zwei psychischen Instanzen, also intrapersonal, verortet, wobei er jedoch immer stärker betont, dass die eine psychische Instanz von außen kommt. Aus diesem Gedanken einer Abhängigkeit des Bewusstseins von einem anerkennenden Gegenüber versucht Lacan im Spiegelstadium eine neue Topologie der Psyche zu entwickeln. Das Ich kommt im Spiegelstadium vom anderen, von einem Gegenüber, das als Spiegelung Identität verleiht, so wie auch das Selbstbewusstsein Hegels nur durch ein spiegelndes, eben anerkennendes Gegenüber zustande kommen kann. Im Folgenden werde ich zeigen, wie Lacan die Herr-Knecht-Dialektik mit dem Begriff der »erzwungenen Wahl« aufgreift und mit dem Einschlag des Signifikanten verbindet. Die Position des Knechts nutzt er zur Veranschaulichung des Subjekts, das sich selbst in seinem Genießen entfremdet ist. Wie Kojève sieht er diese Position aber als Ausgangspunkt für eine Emanzipationsbewegung: Die Psychoanalyse schlägt er als eine Möglichkeit vor, die Unterwerfung des Subjekts zu beenden. Wenn das sujet, das Unterworfene, bei Lacan die Position des Knechts einnimmt, ist die Frage, wem oder was in Lacans Adaption der Herr-Knecht-Dialektik die Position des Herrn zukommt, dem sich das Subjekt unterwirft. Eine Antwort,

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Die Bedeutung von Kojève für Lacan lässt sich aus seinen eigenen Äußerungen ersehen: Er nannte ihn beispielsweise seinen Lehrmeister (XVII: 183). Auch stilistisch muss sein Seminar Eindruck gemacht haben. Roudinesco beschreibt Kojèves charismatische Auftritte folgendermaßen: »Herrisch und launig, narzisstisch und geheimnisvoll riss er sein Auditorium durch den respektlosen Ton seiner Stimme mit, die mit einer Selbstsicherheit und einer rhetorischen Kraft, der sich niemand entziehen konnte, den Grund der Dinge zu durchdringen schien.« (Roudinesco 1996: 159): Eine Beschreibung, die auch auf Lacans eigene Seminare zutreffen könnte.

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die vermutlich das zusammenfasst, was gemeinhin unter Lacans Lesart der Psychoanalyse verstanden wird, wäre, dass das Subjekt der Struktur, der Sprache unterworfen ist. Vielfach wird sein Verdienst deshalb als strukturalistische Relektüre psychoanalytischer Konzepte verstanden; er selbst wird als Poststrukturalist bezeichnet und sein theoretisches Verdienst zusammengefasst als die Theorie, dass das Subjekt von der Sprache hervorgebracht ist.7 Diese geläufige Lesart Lacans ist jedoch grob verkürzt, denn obwohl sich Lacan auf den Strukturalismus bezieht, trennt ihn von diesem vor allem sein Festhalten am Subjekt, das er als Überschuss zur Struktur und nicht etwa ihr Element begreift. Während die übrige strukturalistische Generation sich anti-cartesianisch positioniert, versteht sich Lacan trotz seiner kritischen Auseinandersetzung mit ihr als Erben dieser Tradition. Seine Theorie lässt sich als ein Versuch lesen, das Subjekt zu retten und gegen eine Theorie zu verteidigen, die das Subjekt als von der Struktur determiniert versteht. Kojèves Lesart der Herr-Knecht-Dialektik ist für ihn deshalb so fruchtbar, weil dieser die Unterworfenheit des Knechts erklären kann und darin die Möglichkeit zur Emanzipation erkennt. Um die Pointe vorwegzunehmen: Der Herr, dem sich das Subjekt Lacans unterwirft, ist bei Lacan eine Erfindung des Subjekts. Die wichtigste Eigenschaft des »Herrensignifikanten«, der das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft etabliert, ist, dass er nicht existiert. Das Lacan’sche Subjekt konstituiert sich um einen Verlust – von etwas, das es nie gegeben hat. Im Folgenden wird es darum gehen, wie Lacan das Verhältnis von Sprache, Verlust und Subjekt denkt – ein Verhältnis, das für sein Verständnis von Begehren und Liebe zentral ist. Mit dem Spiegelstadium hat Lacan eine neue Deutung des Cogito vorgeschlagen, in dem er das Subjekt in seiner Spannung zu seinem Werden, in seinem Verhältnis zum imaginären Ich, konzipiert. Mit seiner Bezugnahme auf den Strukturalismus kann er die Bedeutung der Sprache in diesem Verhältnis herausarbeiten. Die Möglichkeit dieser Verknüpfung findet er bei Kojève bereits angelegt, der die Bedeutung der Sprache herausstreicht, als er das Selbstbewusstsein mit dem Begriff des Ich verbindet: Der Mensch ist Selbstbewusstsein. […] Der Mensch wird in dem Augenblick seiner selbst bewusst, in dem er – zum ersten Male – »Ich« sagt. Den Menschen durchs Verstehen seines Ursprungs verstehen, heißt daher dem Ursprung des durchs Wort offenbarten »Ich« verstehen. (Kojève 1975: 20) 7

Beispielsweise führt Urs Stäheli neben Deleuze und Guattari, Foucault, Baudrillard, Laclau und Mouffe, Derrida und Butler Lacan als zentralen Vertreter des Poststrukturalismus an und betont zwar die Verschiedenheit dieser Autorinnen und ihrer Theorien, geht jedoch von einer »wahlverwandten theoretischen Geste« aus, die die Positionen verbindet und die er als »Doppel-Geste« bezeichnet, »die auf einen Sinnbruch verweist, ohne diesen Riss wieder in Sinn aufgehen zu lassen« (Stäheli 2000: 7). Zur Problematik des Begriffs Poststrukturalismus jedoch allgemein Angermüller 2007.

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Bei Kojève ist das Selbstbewusstsein klar an die Sprache gebunden, die Werkzeug des Bewusstsein ist, in dem sich das Selbst erkennt. Und hier spielt das Wort »Ich« eine herausragende Rolle: Das Selbstbewusstsein entsteht durch die Identifizierung mit dem Pronomen. Strukturalistische Interpretation der Alterität In dem Vortrag »Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale« aus dem Jahr 1953 arbeitet Lacan diese sprachliche Vermittlung des Bewusstseins aus. Nicht nur führt er hier die drei Register des Psychischen ein, die von da an zu seinem Begriffsrepertoire gehören werden. Insbesondere argumentiert er, warum das Imaginäre, die Macht des Bildes, die das Spiegelstadium regiert hat, nicht ausreicht, um psychische Phänomene zu erklären, und führt den Begriff des Symbolischen ein. Die spiegelnde Macht des Bildes bezeichnet Lacan nun als Teil einer eigenen Ordnung, der Ordnung des Imaginären. Diese Ordnung ist in dem sichtbar, was sich als Illusorisches in jeder sexuellen Befriedigung findet, die eben nicht ein körperliches Bedürfnis befriedigt, sondern einen Anteil hat, der sich jenseits einer Bedürfnisbefriedigung befindet und über diese hinausgeht. Die illusorischen Befriedigungen des Subjekts sind offensichtlich von einer anderen Ordnung als seine Befriedigungen, die ihr Objekt im reinen und schlichten Realen finden. Niemals hat ein Symptom den Hunger oder Durst auf dauerhafte Weise anders als durch eine Aufnahme von Nahrungsmitteln, die sie befriedigen, gestillt. (Lacan 2013: 19f.) Die Befriedigung, die beispielsweise das neurotische Symptom verschafft, lässt sich unterscheiden von der Befriedigung eines Hungers oder eines Schlafbedürfnisses, da es sich verschieben lässt, Befriedigung nicht an »organische Rhythmen« (ebd.: 20) gebunden ist. Im Sexuellen kann ein Bild, ein Gegenstand – Lacan verwendet das Beispiel des Pantoffels für den Fetischisten –, eine Phantasie zu Befriedigung führen, ein Bild kann jedoch keinen Hunger stillen. Mit dieser Interpretation bleibt Lacan nahe bei Freud, der das Sexuelle ebenfalls als Überschuss gegenüber der Befriedigung eines organischen Bedürfnisses betrachtet hatte. In Lacans Auseinandersetzung mit dem Symptom wird nun aber deutlich, dass das imaginäre Element, ein phantasiertes Bild etc., nicht für sich stehen muss und in sich befriedigend ist, sondern auf etwas anderes verweist. Als etwas, das »etwas anderes repräsentiert als sich selbst« (ebd.: 26), bezeichnet Lacan es als Symbol. Doch nicht die Repräsentationsbeziehung zu einem Referenten macht das Symbol aus – für diese Beziehung würde Lacan den Begriff Zeichen verwenden.8 Um den 8

Obwohl Lacan in diesem systematischen Text zwischen Symbol und Zeichen klar unterscheidet – das Symbol, das auf ein Symbolsystem verweist, und das Zeichen, das direkt auf einen Referenten bezogen ist – verwendet er diese Differenzierung nicht durchgängig.

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Unterschied des Symbols vom Zeichen zu illustrieren, gibt Lacan das Beispiel des Losungsworts. Der Sinn des Losungsworts besteht gerade nicht darin, dass es auf etwas referiert, sondern darin, dass sich der Sprecher einem anderen darin zu erkennen gibt und – hier besteht Lacan auf die existenzielle Bedeutung der Sprache für das Überleben des Subjekts – deshalb nicht getötet wird (vgl. ebd., 29). Das Losungswort konstituiert die Gruppe; wer es benutzt, erkennt diese an. Lacan besteht also darauf, dass das Symbolische nichts Akzidentelles ist, das zum Subjekt hinzutreten kann. Das Symbol steht an der entscheidenden Stelle, um über Leben und Tod, Existenz oder Nicht-Existenz zu entscheiden. Seine Verwendung verändert den Benutzer, indem er zum Teil einer Gemeinschaft wird, der er sich unterordnet. Mit dieser Einführung des Symbols als zentrales Element für die psychoanalytische Theoriebildung beginnt Lacans Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus als Zeichentheorie. Eine besondere Rolle wird für diese Auseinandersetzung der Zeichenbegriff Saussures spielen.9 Dessen Unterscheidung von Signifikant und Signifikat und seine Beschreibung des Signifikanten als differenzielles Element in einer Signifikantenstruktur findet Eingang in die Sprache Lacans, so dass er alle psychoanalytischen Begriffe nun in linguistischen Begriffen reformuliert. Im Text »Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud« von 1957 fasst er seine Saussure-Lektüre zusammen und führt ihre Gedanken weiter. Der Text lässt sich als Lacan’sches Manifest lesen (vgl. Weber 2000: 64), da er hier den Gebrauch linguistischer Termini für die Psychoanalyse rechtfertigt. Lacan beginnt seine Ausführungen bei dem Zeichenbegriff Saussures, der Signifikant, das Bezeichnende, und Signifikat, das Bezeichnete, trennt und auf jeweils eigene Ordnungen besteht. Dies fasst er in der Formel:

Abb. 1: Signifikantenformel

Der Signifikant steht über dem Signifikat und ist von diesem durch einen Balken (Barre) getrennt. Nun geht es Lacan aber nicht um die Arbitrarität der Zeichen, also dass der Signifikant in einer willkürlichen und nicht zwangsläufigen 9

Auch in der Sekundärliteratur taucht meist nur Saussure als Quelle Lacans auf. Braun weist darauf hin, dass sich Lacans Sprachverständnis nicht nur aus Saussures ableiten lässt. Schon vor seiner Saussure-Lektüre beschäftigt er sich beispielsweise mit der Sprachtheorie Benvenistes. Dementsprechend gehe er davon aus, dass bevor Sprache etwas bedeutete, sie jemandem bedeute. Dadurch wird Sprache zur Möglichkeitsbedingung von Subjektivität (vgl. Braun 2007: 65).

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Beziehung zum Signfikat steht, sondern er erklärt, dass die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat nicht eindeutig ist; Ober- und Unterglied der Formel sind nicht parallel. Um dies zu illustrieren, verwendet er folgende Graphik:

Abb. 2: Schema mit den zwei Türen (Sch I: 590)

Zwei Signifikanten und ihre Beziehung stehen nun über dem Balken, unter dem Balken befindet sich aber nicht, wie man vermuten könnte, eine Illustration, die schematisch einen Mann und eine Frau darstellt, sondern zwei Türen. Dass Lacan hier einen Witz als Illustration verwendet, ist angesichts der von Freud analysierten Beziehung des Witzes zum Unbewussten nicht überraschend, wenn man im Hinterkopf hat, dass der Signifikantenbegriff für Lacans Verständnis des Unbewussten so bedeutsam ist. Zunächst zeigt das Beispiel, dass sich Bedeutung aus der Differenz von Signifikanten ergibt. Dass wir verstehen, was sich hinter den Türen befindet, dass wir wissen, wofür die Signifikanten stehen, ergibt sich aus ihrem Kontext: Erst in ihrem Zusammenspiel miteinander (und mit den Türen – hier zeigt sich die Grenze dieser Illustration) wird einem Kenner des ganzen kulturellen Systems klar, auf was die Signifikanten hinweisen. Bedeutung ergibt sich aus der Differenz der Signifikanten, auf der Signifikatsebene hingegen ist keine Differenz feststellbar. Lacan stellt hier gerade nicht Bilder von Männchen und Weibchen unter die Signifikanten, wie es die geläufige Darstellung der Signifikantentheorie – das vielzitierte Schema mit dem Baum, das Lacan als problematisch zurückweist (vgl. Sch I: 589) – tun würde, also nicht differente Bilder von etwas, das man als Wortvorstellungen interpretieren könnte, sondern etwas Identisches. Signifikate lassen sich nicht gegenüberstellen, das Signifikat ist nicht zergliederbar, es kann nicht angeordnet, gegenübergestellt werden. Lacan lässt in diesem Beispiel nicht irgendwelche Signifikanten auftreten, sondern zwei, die für seine Theorie besondere Bedeutung haben: Männer und Frauen. An diesem konkreten Beispiel lässt sich sehen, dass der Signifikant das, was er zu repräsentieren vorgibt, durchstreicht. Die Signifikanten in diesem Beispiel

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ersetzen etwas, das selbst bei der Erläuterung des Beispiels nicht mehr zur Sprache kommt, nämlich das, was hinter diesen Türen stattfindet. Dies ist eine weitere Bestimmung der Funktion des Signifikanten: Er gibt dem Unaussprechlichen, Intimsten einen Namen und lässt damit die Erfahrung, das Ding verschwinden. Zuletzt ist in diesem Beispiel etwas angelegt, das uns im späteren Verlauf dieses Kapitels noch beschäftigen wird: Lacan verknüpft hier bereits die Frage nach der Signifikation mit der Sexuierung: Dass wir hinter der Tür sanitäre Anlagen vermuten, ergibt sich aus der Differenz Mann-Frau. Wir werden sehen, dass erst das Geschlechtsverhältnis, das in diesem Bild die Signifikantenebene aufspannt, den Kurzschluss zwischen Signifikant und Signifikat ermöglicht, ja, sogar grundlegend mit der Signifikation verbunden ist. Denn die Unmöglichkeit des Geschlechtsverhältnisses produziert erst die Signifikantenkette. Gleichzeitig basiert Geschlechtlichkeit auf der Unmöglichkeit des Signifikanten. Im Geschlechtsverhältnis fängt die Psychoanalyse eine Unmöglichkeit ein, die sie mit der konstitutiven Unmöglichkeit, die im Signifikanten liegt, verbindet. Ich möchte mich hier mit diesen Andeutungen begnügen, werde diese Beziehung des Signifikanten zur Sexuierung im vierten Kapitel jedoch ausführlich darstellen. Signifikantenstruktur und Subjekt Lacan behauptet nun an dieses Beispiel anknüpfend ein »unaufhörliches Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten« (ebd. 594): Kein einzelnes Element hat Konsistenz in seiner Bedeutung; die Bedeutung jedes Elements in einem Satz kann sich immer noch verschieben bis zum Ende. Bedeutung entsteht also immer rückwirkend. Veranschaulichen lässt sich das folgendermaßen: S1 ← S2 Der erste Signifikant (S1 ) erhält seine Bedeutung aus der Differenz zu dem zweiten Signifikanten (S2 ). S2 steht hier jedoch für den letzten Signifikanten oder auch die Menge aller Signifikanten, denn erst wenn kein weiterer Signifikant mehr hinzutritt, kann sich die Bedeutung von S1 nicht mehr verschieben. S2 taucht in Lacans Formeln deshalb immer wieder auf und steht für das Wissen, die »Batterie der Signifikanten« (XVII: 12) oder die »Kette des Signifikanten« (Sch II: 594). S2 ist also diachron wie synchron zu lesen: als gleichzeitig existierende Menge aller Signifikanten und als unendlich sich fortsetzende Kette. Daraus entsteht jedoch ein unauflösbarer Widerspruch, den Copjec mit Kant als Antinomie der Signifikantenregel oder Antinomie der Sprache beschreibt (Copjec 2004: 237). Die Stelle von S2 ist nicht abschließbar, da es keine abgeschlossene Menge aller Signifikanten geben kann – jeder Versuch, eine Grenze zu ziehen, würde einen neuen Signfikanten einführen, dies bedeutet eine unendliche Progression (vgl. Fink 2011: 54). Gleichzeitig kann S1 nur zu einer Bedeutung kommen, wenn S2 abgeschlossen ist. Nur

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wenn temporär das Fortschreiten der Signifikantenkette gestoppt wird, so dass eine scheinbare Vollständigkeit entsteht, haben Signifikanten Sinn.10 Doch auch dieser temporäre Abschluss ist trügerisch – zumindest, wenn wir dem späten Lacan folgen. Der Signifikant, den Lacan in seinen Schemata mit S1 abkürzt und Herrensignifikant nennt, ist der Signifikant, der nicht existiert. Als erster Signifikant, der die Rede in Gang gesetzt hat, würde S1 eine bedeutungsgebende Begrenzung darstellen. Er wäre ein Ursprung, ein letzter Grund, auf den sich alle anderen Signifikanten zurückführen lassen. Als erster Signifikant wäre er der Ausnahmesignifikant, der keinen Vorgänger hatte, der Signifikant, der die Regel, die Kette begründet. Auch S1 ist eine Illusion, denn es gibt keinen begründenden ersten Ursprungsignifikanten. Die Kette der Signifikanten ist also in beide Richtungen unendlich. So beinhaltet die Theorie des Signifikanten einen konstitutiven Widerspruch: Einerseits muss, damit Bedeutung entstehen kann, die Menge der Signifikanten begrenzt sein, andererseits ist, weil das Sprechen ein Prozess in der Zeit ist, die Menge der Signifikanten unendlich. Dieser Widerspruch lässt sich nur durch imaginäre Kurzschlüsse auflösen. Die Signifikantenkette, die Lacan das Register des Symbolischen nennt, ist gezeichnet von ihrer Nicht-Abschließbarkeit. Die Signifikanten kombinieren sich in verschiedenen Figuren immer neu, metonymische und metaphorische Verbindungen knüpfen die Kette. Das Register des Imaginären dagegen, das wir im Spiegelstadium kennengelernt haben, zeichnet sich dadurch aus, dass seine Produkte Vollständigkeit behaupten. Imaginäre Bilder geben Sinn. In dieser Hinsicht könnte man das Imaginäre mit dem Signifikat identifizieren. Das Register des Symbolischen hingegen bedeutet ein unaufhaltsames Gleiten der Signifikanten. Temporäre Schließungen – durch imaginäre Bilder – ermöglichen eine Vernähung von Signifikant und Signifikat. Im Seminar XI mit dem Titel »Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse«, in dem Lacan rekapituliert, wie er Freuds Begriffe neu interpretiert, definiert Lacan schließlich den Signifikanten folgendermaßen: Ein Signifikant ist, was ein Subjekt repräsentiert, für wen? – nicht für ein anderes Subjekt, sondern für einen anderen Signifikanten. (XI: 208.) Dieser Satz markiert Lacans Abstand zum Strukturalismus: Aus seiner psychoanalytischen Perspektive ist der Signifikant nicht ohne das Subjekt als Instanz zu denken, der die Artikulation zugerechnet wird und so für ihren Sinn einsteht. Wenn

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Aus diesem Grund, nämlich, dass die Interpunktion, der künstliche Abschluss temporär Bedeutung ermöglicht bzw. feststehende Bedeutung verschiebt, wählte Lacan für seine analytische Praxis die variable Sitzungsdauer: Durch das Ende der Sitzung an überraschenden Stellen, so die Theorie, erhält das Gesprochene der Sitzung seine (neue) Bedeutung (vgl. Langlitz 2003).

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der Signifikant nun das Subjekt nicht für ein anderes Subjekt, sondern für einen anderen Signifikanten repräsentiert, kann das zum einen gelesen werden als Definition eines initialen Signifikanten, des Signifikanten »Ich«, der dem Rest der Signifikantenkette Sinn aufzwingt. Der erste Signifikant stellte dann im Sinne eines »Herrensignifikanten« das Subjekt für den anderen Signifikanten vor. Zum anderen lässt sich der Satz interpretieren als ein soziales Verhältnis, das durch Sprache hergestellt ist und sich mit folgendem Schema beschreiben lässt:

Abb. 3: Signifikantenstruktur und Subjekt

Das Subjekt ist definiert als das, was der Signifikant S1 repräsentiert, es existiert also nur als ein Jenseits dieses Signifikanten. Es ist ein Ort, der hervorgebracht wird durch den Signifikanten, der wiederum nur in Differenz zu einem anderen Signifikanten S2 bedeuten kann, wobei S2 für die Menge aller anderen Signifikanten steht, die Struktur der Signifikanten, die Subjekt als Gesamtheit gegenübertritt, als »großer Anderer«. Wenn sich das Subjekt als Bedeutung von S1 aus S2 ableitet, bleibt ein realer Rest: Denn jedes Gegenüber, das der zweite Signifikant repräsentiert und so den Anderen inkarniert, ist mehr als nur der Gegenstand einer identitätsstiftenden Abgrenzungsbewegung. Der Buchstabe klein a, der sich in dem Mathem unter S2 befindet, lässt sich hier lesen als die sich stets dem Verständnis entziehende Andersheit des Anderen, die letztlich verunmöglicht, dass sich das Subjekt seiner sicher sein kann. Mit dem obenstehenden Schema, das sich aus Lacans Begriff des Signifikanten ableiten lässt, sind bereits die vier Terme eingeführt, mithilfe derer Lacan verschiedene sprachliche Strukturen qualifizieren kann: Mit vier unterschiedlichen Konstellationen dieser vier Terme unterscheidet Lacan in Seminar XVII vier Diskurse, die vier unterschiedliche Arten der Subjektivität implizieren. Ich werde im Folgenden Begehren und Liebe als zwei unterschiedliche Verhältnisse dieser Terme beschreiben. Im Spiegelstadium hat Lacan die Angewiesenheit des Bewusstseins auf ein anderes Bewusstsein und damit die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem (kleinen) anderen als existenzielle Abhängigkeit entwickelt. Dabei hat er die Spaltung des Menschen in eine imaginäre Vollständigkeit und einen dahinter verschwindenden Mangel eingeführt und das Subjekt so als ein Unterworfenes konzipiert.

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Mit dem Signifikantenbegriff, der auf einer Paradoxie basiert, tritt ein zweiter Gedanke hinzu, nämlich der von einem in sich widersprüchlichen Symbolischen, das dem Subjekt als Anderer gegenübertritt. Dass das Symbolische dem Subjekt nicht als neutrales Netz von Signifikanten begegnet, sondern mit Genießen aufgeladenes Gegenüber ist, dem ein Begehren unterstellt wird und das am Genießen des Subjekts Anteil hat, bleibt nicht ohne Konsequenzen für das Subjekt. Im folgenden Kapitel werde ich deshalb die Entstehung des Subjekts als ein Verhältnis zum »großen Anderen« beschreiben.

2.2 Der doppelte Irrtum in der Unterwerfung Anhand des Begriffspaars Alienation und Separation, das Lacan im Seminar XI einführt und in »Position des Unbewussten« (Sch II: 369–395) zuspitzt, lässt sich darstellen, wie das Subjekt vom großen Anderen als personalisiertem Netz der Signifikanten her denken lässt.11 Lacan nennt Alienation und Separation die zwei Operationen, »über die das Subjekt sich in signifikanter Abhängigkeit vom Ort des Anderen realisiert« (XI: 218). Diese »Operationen« können gedacht werden als zwei aufeinander folgende Schritte in der Entstehung des Subjekts, gleichzeitig können sie aber auch als einander ergänzende Strukturmomente verstanden werden, die die Einbindung des Subjekt ins Symbolische beschreiben. In der Alienation, der Entfremdung, entsteht das Subjekt als geteiltes aufgrund seiner Definition durch den Anderen. In der Separation, der Trennung, entsteht das Begehren des Subjekts als Antwort auf das Begehren des Anderen. Damit artikulieren diese zwei Operationen, wie Christoph Braun griffig formuliert, »in grundsätzlicher Weise zwei Grunddimensionen der Psychoanalyse: Das Unbewusste und das Lusterleben bzw. Genießen« (Braun 2007: 109) und schaffen somit die Voraussetzung für die zwei Achsen der Lacan’schen Diskursmatheme. Ich werde meine Lektüre der zwei Begriffe, die Lacan besonders im Seminar von 1964 dargestellt hat, mit den Hegel’schen Begriffen Herr und Knecht, wie sie Lacan in den späten Seminaren verwendet, verbinden, da Lacan eine leichte inhaltliche Verschiebung vornimmt, die auch die zwei Operationen Alienation und Separation präzisieren.12

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Die Neuübersetzung der Schriften verwendet nicht mehr die Termini Alienation und Separation, sondern übersetzt diese als Entäußerung und Trennung. Ich werde bei Alienation und Separation bleiben, weil diese nur in diesem Kontext verwendet werden und somit auf das spezifische Lacan’sche Konzept bezogen sind. Bereits in Seminar XI verbindet Lacan die Alienation mit Hegels Unterwerfung des Knechtes unter den Herren (vgl. XI: 223). Er führt jedoch die Beziehung zwischen der Herr-Knecht-Dialektik und seinen zwei »Grundoperationen« nicht weiter aus. Mit einer Relektüre der Begriffe vor dem Hintergrund der Präzisierungen aus Seminar XVII kann vor allem die Rolle des Ge-

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Erzwungene Wahl in der Alienation Der Begriff der Alienation taucht in Lacans Schaffen schon in seinem frühen Artikel zum Spiegelstadium auf und wird in den folgenden Jahrzehnten immer wieder aufgegriffen und modifiziert (vgl. Fink 2011: 78). Immer geht es bei der Alienation um die Entfremdung des Subjekts aufgrund seiner notwendigen Definition durch den Anderen. Mit Hegel könnte man sagen: In der Alienation unterwirft sich das Bewusstsein dem Anderen, um zum Selbstbewusstsein zu werden. Entfremdend ist an dieser Unterwerfung nicht nur, dass es sich damit durch den Anderen wahrnimmt, sein Selbst ab jetzt vom Anderen kommt, sondern auch, dass es sich selbst fremd wird, weil die Alienation mit der Teilung des Subjekts verbunden ist. Denn die Alienation bedeutet die Markierung des Subjekts durch den Signifikanten und diese geht damit einher, »dass das Subjekt, indem es mit dem Signifikanten entsteht, als ein geteiltes entsteht.« (XI: 209). Die Alienation beschreibt Lacan als eine Wahl, die er mit dem mathematischen vel, dem Term eines Entweder-Oder, charakterisiert. Die Entscheidung sei so beschaffen, dass das vel, das wir Entäußerung heißen, eine Wahl zwischen zwei Gliedern nur erzwingt, indem eines unter ihnen, und zwar stets dasselbe, welches auch die Wahl sein mag, eliminiert. (Sch II: 383f.) Es handelt sich also bei dem vel, dem entweder-oder, nicht nur um eine Entscheidung zwischen zwei Termen, die sich gegenseitig eliminieren, sondern um eine Wahl mit ungleichen Alternativen. Lacan vergleicht sie mit der Wahl zwischen »Geld oder Leben« – eine Wahl, die niemand freiwillig trifft und in der sich wohl nur Wenige für die erste Möglichkeit entscheiden: Entscheidet sich jemand angesichts der Pistole im Nacken für das Geld, wird es ihm nicht mehr viel nützen. Aber auch die vernünftigere Entscheidung für das Leben bedeutet dessen Beschädigung, denn ein Leben ohne Geld ist »ein beschädigtes Leben« (XI: 223). Die Wahl ist immer eine erzwungene, da nie die Chance bestand, nicht zu wählen, das Subjekt (sujet) ist der Wahl unterworfen. Diese begründet stets einen Verlust: es ist »was bleibt, in ohnehin beschädigt« (Sch II: 384). Die Struktur der Wahlmöglichkeiten entspricht nach Lacan der mathematischen Operation der Vereinigung zweier Mengen: Es gibt bei der Vereinigung eine Schnittmenge, die in beiden Mengen enthalten ist. Wenn eine Wahl für etwas getroffen wird, geht mit dem Verlust des anderen auch immer ein Verlust eines Teils des Gewählten einher. Vor dieser Wahl sieht Lacan das entstehende Subjekt gestellt: Es hat zu wählen zwischen »Sein und Sinn«, zwischen der tierischen Unmittelbarkeit seines Erlebens und dem reflexiven Selbstbewusstsein, das durch sein Gegenüber vermittelt nießens in den zwei Operationen deutlicher herausgearbeitet werden. In Seminar XI kommt das Genießen in diesem Zusammenhang nicht vor.

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ist. In diesem Gegenüber fasst das Subjekt die ganze Welt zusammen, es ist alles, was das Subjekt nicht selbst ist. Dieses erste Gegenüber des Subjekts nennt Lacan den »großen Anderen« und unterscheidet ihn vom kleinen anderen, dem konkreten Nebenmenschen. Während letzterer Objekt imaginärer Identifizierungen ist, die sich durch eine dyadische Verschränkung von Liebe und Hass auszeichnen, zeichnet sich der Andere durch seine Rolle in Alienation und Separation aus: Er ist die Welt, die Struktur, in das das Subjekt hineingeboren ist, von der es sich abgrenzt und aus deren Perspektive es auf sich selbst blickt. Dabei ist es die Mutter, die »schwanger geht mit diesem Anderen« (Sch II: 199). Als erste Bezugsperson, von der alles Gute aber auch alles Leid kommt, bedeutet sie für das Kind zunächst die ganze Welt und damit das Gegenüber, von dem nicht nur die Existenz abhängt, sondern auch das Selbstbewusstsein. Die erzwungene und immer beschädigende Wahl der Alienation stellt sich angesichts des Anderen zwischen Sein und Sinn: Das Sein in seiner Unmittelbarkeit zu wählen würde bedeuten, in dieser Unmittelbarkeit zu verbleiben und auf das Symbolische zu verzichten. Fällt die Wahl hingegen auf die ungleiche Alternative des Sinns, nimmt das Subjekt seinen vorgesehenen Platz in der Ordnung des Anderen ein und erkennt damit dessen Ordnung an. Diese Entscheidung für den Sinn impliziert einen Verlust der Unmittelbarkeit des Seins. Man könnte formulieren, dass die Alienation erst ein von der Welt getrenntes Subjekt hervorbringt, indem es die Grenze zwischen Welt und Subjekt einführt und gleichzeitig die Beziehung zwischen Welt und Subjekt auf das Symbolische reduziert: Jede Bezugnahme auf die Welt ist von nun an durch die Mechanismen des Symbolischen strukturiert und durch das Gleiten der Signifikanten entstellt. Das Sein ist durch den Signifikanten ersetzt worden. Jedes Objekt, jedes andere Subjekt ist nur noch als Signifikant zu haben. Mit der Wahl des Sinns verliert das Subjekt das Sein, mit der Wahl des Seins verliert es den Sinn (was bedeuten würde, kein Subjekt zu werden). Jedoch bedeutet die Wahl nicht nur einen Verzicht auf den anderen Term, auch das Gewählte ist durch den Verlust des anderen beschädigt: Wählt man den Sinn, wird ein Teil des Sinns mitgerissen durch den Verlust des Seins: Wenn wir den Sinn wählen, besteht der Sinn allein fort verkürzt um jenen Teil des Nicht-Sinns, der eigentlich gesprochen, das Unbewusste bei der Subjektrealisierung konstituiert. (XI: 222.) Der Sinn ist nie ganz zu haben, wer ihn wählt, erhält ihn nur verkürzt um den ihm zugehörenden Nicht-Sinn oder Un-Sinn, der in der Überschneidung von Sein und Sinn besteht und in dem das Unbewusste angesiedelt ist. Lacan stellt diese Überschneidung mit folgendem Schema dar:

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Abb. 4: Schema der Alienation (XI: 222)

Mit Hegels Herr-Knecht-Dialektik lässt sich besser verstehen, was Lacan unter diesem »Nicht-Sinn«, der Schnittmenge der zwei Kreise, versteht. Denn mit der Wahl, die die Alienantion strukturiert, greift Lacan den Gedanken Hegels einer erzwungenen Wahl auf, vor die sich das Bewusstsein in Hegels Phänomenologie gestellt sieht und die zu Herrschaft und Knechtschaft führt. Lacan nimmt aber, indem er den Herrensignifikant als unmöglichen definiert, eine fundamentale Veränderung vor: Die Unterwerfung des Knechtes – die Unterwerfung des Subjekts – basiert auf einem Trugschluss. Der Irrtum der Unterwerfung Bei Hegel führt die Konfrontation mit einem anderen Bewusstsein zu einem erzwungenen Kampf um Anerkennung, der bis zum Tod geht: Das Verhältnis beider Selbstbewußtsein ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Anderen und an ihnen selbst erheben. Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewährt wird, daß dem Selbstbewußtsein nicht das Sein, nicht die unmittelbare Weise, wie es auftritt, nicht sein Versenktsein in die Ausbreitung des Lebens das Wesen, – sondern daß an ihm nichts vorhanden, was für es nicht verschwindendes Moment wäre, daß es nur reines Fürsichsein ist. (Hegel 1988 [1806]: 130f.) Um wahres Selbstbewusstsein zu werden, muss das Bewusstsein das Lebens »dransetzen«, es muss alle Bindung an das Leben aufgeben, um »reines Fürsichsein« zu werden. Es darf also an nichts anderem hängen, für das es wäre. Selbstbewusstsein zu werden, bedeutet also ein völliger Verzicht auf das Sein. Das Hegel’sche absolute »Fürsichsein«, die absolute Selbstidentität wäre aus zeichentheoretischer Perspektive die vollständige Identität von Signifikant und Signifikat – völlige Selbstidentität, die jedoch die Psychoanalyse als illusorisch zurückweist.

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Weil Lacan Hegel mit Kojève liest, kann er die Hegel’sche Figur dennoch produktiv machen: Denn im Gegensatz zu Hegel hat Kojève die Tendenz, die Position des Knechtes zu privilegieren: Diese identifiziert er mit der des historischen Subjekts: »Die Geschichte ist die Geschichte des Arbeiter-Knechtes« (Kojève 1996: 38) konstatiert er, denn die Arbeit des Knechtes, die er für den Herrn verrichtet, ist »Quelle allen menschlichen, gesellschaftlichen und sozialen Fortschritts« (ebd.). Während der Herr auf seine Herrschaft, für die er sein Leben riskiert hat, fixiert ist, ist die Position des Knechts »zur Veränderung bereit«. Der Herr hingegen hat, um Anerkennung eines anderen zu erhalten, sein Leben aufs Spiel gesetzt, doch das, was er als Herr bekommt, ist nicht das, was er ursprünglich gesucht hatte. Indem er zum Herrn wird, macht er den anderen zum Knecht, zu einem Ding, dessen Anerkennung wertlos ist. Nach Kojève wird der Herr deshalb niemals befriedigt sein, er befindet sich in einer Sackgasse. Die Arbeit des Knechtes, in der dieser sich mit der Natur auseinandersetzt, hat jedoch ein utopisches Potential. In ihr kann er sich von seiner Natur befreien, die ihn zum Knecht werden ließ und damit die Dialektik von Herr und Knecht transzendieren. Das Subjekt nimmt in Lacans Alienation die mit Kojève aufgewertete Position des Knechtes ein. Das entstehende Subjekt bzw. das Bewusstsein steht angesichts des Anderen zwischen zwei ungleichen Alternativen: Zum Selbstbewusstsein kann es nur durch das anerkennende andere Bewusstsein werden, die Konfrontation mit diesem ist jedoch ein Kampf um Leben und Tod. Mit dem Kampf riskierte es aber nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch die Möglichkeit, von einem Gegenüber anerkannt zu werden. Die Unterwerfung ist also eine Entscheidung gegen den Kampf, gegen die Auslöschung einer der beteiligten Parteien und das Festhalten an der Beziehung beider. Statt des Entweder-Oder des Kampfes auf Leben und Tod sichert die Unterwerfung die Fortexistenz beider Kontrahenden. In Lacans Alienation zeigt sich jedoch, dass die Unterwerfung des Knechtes auf einem Irrtum basiert, der weitreichende Konsequenzen hat: Seine Einnahme der Position des Knechtes geht davon aus, dass der Andere den eigenen Tod in Kauf nimmt, dass der Andere also das Hegel’sche Fürsichsein ist. Dieses Fürsichsein des Anderen entspräche dem vollständigen, in sich ruhenden Sinn. In der Lacan’schen Graphik lässt sich dieser komplette und eindeutige Andere als der vollständige rechte Kreis interpretieren, jedoch ohne dessen Überlappung mit dem Subjekt. Der Andere als Vollständigkeit hat mit dem Subjekt nichts zu schaffen – er benötigt es nicht. Wenn Lacan behauptet, dass die Entscheidung für die Unterordnung unter den Anderen und gegen das eigene Sein den Anderen beschädigt, dann bezieht er sich auf diese Zone der Überschneidung zwischen Subjekt und Anderem, Sein und Sinn. Diese Überschneidung identifiziert Lacan nun mit dem »einzigen Zug« (XI: 269), einen Begriff, den er von Freud entlehnt. Dieser hatte in Massenpsychologie und Ich-Analyse gezeigt, dass nur eine winzige Geste, ein kleinstes Merkmal, eben ein »einziger Zug« Verbindung zu ei-

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

nem Identifikationsobjekt herstellt. So führt Freud das Beispiel einer infekthaften Verbreitung von Symptomen bei Mädchen im Pensionat an und zeigt, dass die Mädchen die hysterischen Symptome einer Freundin übernehmen, die diese nach dem Erhalt eines ihre Eifersucht weckenden Briefs von ihrem Geliebten produziert. Freud zeigt, dass nicht das Mitgefühl die Freundinnen zur Übernahme des Symptoms bringt. Vielmehr identifiziert er das Symptom als eine »Deckungsstelle der beiden Ich, die verdrängt gehalten werden soll« (Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921] GW 13: 118). Lacan deutet diesen einzigen Zug als symbolische Identifikation (vgl. VIII: 434). Diese Identifikation unterscheidet sich von der imaginären Identifikation mit dem Ideal eines vollständigen Bilds dadurch, dass der einzige Zug selbst die Gesamtheit der Identifikation ausmacht. Was Freud als »Deckungsstelle der zwei Ich« bezeichnet, die Stelle, die »verdrängt gehalten werden soll«, ist im Beispiel der Pensionatsschülerinnen die Vorstellung eines fantastischen Genießens der Liebesbeziehung. Die Mitschülerinnen übernehmen das Symptom als das Zeichen, das im Moment des Verlusts des Genießens entstand. Wenn Lacan den »einzigen Zug« Freuds aufnimmt, so macht er darin zwei Aspekte stark: Das Genießen wird erst relevant, wenn es verloren ist. Das Genießen ist also immer ein unmögliches, verlorenes oder verbotenes. Und: Als etwas Verlorenes macht es Raum für den Signifikanten. Im Zusammenhang mit der Unmöglichkeit des Genießens entsteht das Zeichen, das an die Stelle des unmöglichen Genießens tritt. Das Zeichen, das auf etwas verweist, was immer schon abwesend war, setzt die Signifikantenstruktur ein: Der einzige Zug als »einfachste Form von Markierung, die, eigentlich gesagt, der Ursprung des Signifikanten ist« (XVII: 55), ist der verdrängte Signifikant im Sinne der Freud’schen Urverdrängung, die Bedingung aller weiteren Verdrängungen ist: Das Verdrängte ist der Ort, an dem Sein und Sinn übereinstimmen würden, wäre es noch zugänglich (vgl. Dolar 2000: 52). Jedoch bleiben alle Versuche, an diesen mytischen Ort zurückzukehren, sinnlose Wiederholung: Der »Ursignifikant« ist unwiederbringlich verloren; die Versuche, den Verlust rückgängig zu machen, produzieren zahlreiche neue Signifikanten, die den verlorenen doch nie wieder treffen. Diesen Ursignifikanten schreibt Lacan als S1 ; dieser ist abwesender Ursprung von S2 , allen weiteren Signifikanten. S1 produziert also S2 (vgl. Recalcati 2000: 73).13 Lacan beschreibt dieses Verhältnis von S1 zu S2 mithilfe der Zahl Eins: Das Subjekt selbst zeichnet sich durch diesen einzigen Zug aus, und zunächst markiert es sich als Tätowierung, der erste der Signifikanten. Sobald dieser Signifikant, dies Eine, instituiert ist – ist es möglich ein Eines zu zählen. Das Subjekt

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Deshalb geht es in der Analyse nicht darum, den Sinn des Unsinnigen zu rekonstruieren, sondern vielmehr die Signifikanten auf den Nicht-Sinn zurückzuführen (vgl. Lacan XI: 222).

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situiert sich als solches auf der Ebene nicht des Einen, sondern eines Einen, auf der Ebene des Zählens. (XI: 148.) Der einzige Zug, S1 , markiert das Subjekt und macht es zählbar. Erst durch die Markierung durch den einen Signifikanten reiht es sich ein in die, die gezählt werden können. Aus der Zählbarkeit folgert Lacan die Existenz im Symbolischen. Gezählt werden können die, die Signifikant geworden sind. Der Eintritt in die Sprache bedeutet also, zur zählbaren Einheit zu werden. So formuliert Jean-Bertrand Pontalis in seiner Zusammenfassung von Seminar V: »Wenn das menschliche Subjekt mit Sprache operiert, zählt es sich« (Pontalis 2000: 160). S1 als einziger Zug ist der Signifikant des (verlorenen) Genießens. Das Genießen als zentrales Moment in der Herr-Knecht-Dialektik arbeitet Lacan in Seminar XVII heraus: Wenn der Knecht sich aus einer Erfahrung der Unterlegenheit dem Gegenüber zu unterwirft, wird auch das Gegenüber versehrt und um das verkürzt, was seine Überlegenheit ausmachte: Der Herr hat, um Herr zu sein, den Tod in Kauf genommen und das bedeutet für Lacan, dass er auf sein Genießen verzichtet hat (vgl. XVII: 107). Dieser Verzicht auf ein Genießen ist die Voraussetzung für das absolute Genießen, das der Herr dann im Gegensatz zum Knecht haben wird: Der Herr wird vermittelt durch den Knecht Zugang zum Ding haben, zum Objekt des Genießens, er »genießt es rein« (Hegel 1988 [1806]: 133). Die Produkte der knechtischen Arbeit gehören dem Herren, der Knecht muss auf etwas verzichten, etwas dem Herren überlassen, das dieser dann ganz genießt. Um dieses Genießen wird es besonders in dem folgenden zweiten Stadium, der Separation, gehen. Aber auch in der Alienation geht es um ein Genießen: Die Vollständigkeit des Gegenübers hat in der Alienation nämlich an der Stelle eine Lücke, an der es sich mit dem Subjekt überschnitten hat. Diese Überschneidung steht mit dem fehlenden Genießen in Zusammenhang: Sie ist das Nicht-Genießen des Subjekts und das Nicht-Genießen des Anderen. Begreift man das Subjekt als das Kind, den Anderen als die Mutter, so ist dieses Nicht-Genießen zu verstehen als das, was die Mutter im Kind nicht befriedigt und es nach mehr dürsten lässt. Etwas Imaginäres ist unbefriedigt, genau deshalb können hier Zeichen entstehen. Das Symbolische entsteht dort, wo das Imaginäre, das Gegenüber als Ganzheit, eine Lücke hat, die durch das Reale verursacht wird als Hunger, Schmerz, Unlust, Unzufriedenheit. Aber auch auf Seiten der Mutter gibt es eine Unzufriedenheit, auf die das Kind aufgrund seiner eigenen Unzufriedenheit schließt. Weil die Mutter das Kind nicht ganz befriedigt, nicht seinem imaginären Anspruch genügt, muss auch sie aus dessen Perspektive von ihm nicht ganz erfüllt sein: Das Kind reicht ihr nicht, sie hat auch andere Interessen oder Verpflichtungen. Seine Unzufriedenheit synchronisiert das Kind also mit der mütterlichen Unzufriedenheit. Weil die Mutter nicht befriedigt scheint, muss das Kind nach ihrem Begehren fragen. Diese Frage leitet von der Alienation zur Separation als zweite Operation über.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

Separation und Objekt a Die Separation fasst Lacan zusammen als diese »Teilhabe des Mangels am Mangel« (Sch II: 385). Den Begriff Separation benutzt Lacan als Wortspiel, indem er die Beziehungen herstellt zu den Verben separare, se parare, se parer, se parere: Die Separation ist Trennung, Sich-Anziehen und Sich-Verteidigen, aber auch das SichErzeugen (ebd.: 386). Letztere Bedeutung ist besonders passend, denn in der Separation wird das begehrende Subjekt durch seine Trennung vom Anderen erzeugt. Während Lacan die Wahl, vor der das Subjekt in der Alienation steht, in mathematischen Begriffen mit der Vereinigung zweier Mengen zusammenbringt, ist es in der Separation die Durchschnittsmenge, die zur Veranschaulichung der Wahl herangezogen wird: In der Separation geht es um die Schnittmenge zweier Mengen, die genauer betrachtet, das Überlappen zweier Arten des Fehlens sind. Der Verlust des unmittelbaren Seins in der Alienation, die Unterwerfung unter den Anderen, hat auch in diesem ein Loch hinterlassen. Diesem Loch begegnet das Subjekt in der Rede des Anderen: »Er sagt das, aber was will er?« (XI: 225), muss sich das angesprochene Subjekt fragen. Dass der Andere dem Subjekt begegnet, dass er sich mit ihm abgibt und es adressiert, zeigt dem Subjekt, dass es dem Anderen nicht gleichgültig ist, dass es irgendeine Rolle für ihn spielt. Jedoch ist diese Rolle nicht geklärt. Der Andere begegnet dem Subjekt nach der Alienation als Sprache, die interpretiert und beantwortet werden muss. Der Andere scheint etwas zu wollen, das dem Subjekt jedoch unverständlich und der Deutung bedürftig bleibt. Für das Kind-Subjekt ist das Begehren der Anderen-Mutter von höchster Bedeutung: Von ihm erwartet es einen Halt, den Sinn der eigenen Existenz. Auf diese Forderung [das Rätsel des Begehrens der Erwachsenen; MD] antwortet das Subjekt […] mit dem vorgängigen Mangel seines eigenen Schwindens, das es an dieselbe Stelle bringt, an der es den Mangel im Anderen erfuhr. Und das erste Objekt, das es dem elterlichen Begehren, dessen Objekt unbekannt bleibt, vorsetzt, ist der Verlust seiner selbst – Will er mich verlieren? Das erste Objekt, das das Subjekt bei dieser Dialektik einzusetzen hat, ist die Phantasie seines eigenen Todes, seines eigenen Schwindens. (XI: 225.) Das »Rätsel des Begehrens der Erwachsenen« (ebd.) versucht das Kind zu lösen, in dem es seinen eigenen Tod imaginiert. Indem das Kind dem Anderen sein eigenes Nicht-Sein anbietet, prüft es, ob es für ihn Bedeutung hat. Damit formuliert es die ursprüngliche Frage – was will er? – um zu: Besitze ich, was er will? Es gibt, was es nicht hat: sein Sein, das doch in der Alienation verloren ging, hier aber als hypothetisches Objekt erneut auftaucht. Genau dieses hypothetische Objekt ist es, was Lacan Objekt a nennt und ins Zentrum seiner Theorie des Begehrens stellt. Es ist etwas, das das Subjekt nicht hat, das den Anderen zufrieden stellen würde. Das Objekt a ist das Objekt, in dem beide Mängel, der Mangel des Subjekt und der Mangel

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des Anderen, zur Deckung kommen. Im Schema mit den zwei Kreisen würde das Objekt a die Schnittstelle zwischen den Kreisen einnehmen:

Abb. 5: Separation

Das Objekt a ist das Sein, das das Subjekt nicht hat, aber dem Anderen als Nicht-Sein anzubieten versucht, um sein Begehren zu verstehen, gleichzeitig ist es das fehlende Objekt des Anderen. Das Objekt a ist Schlüssel zum Genießen des Anderen. Mladen Dolar formuliert, das Objekt a sei »die Quelle seiner unergründlichen jouissance, der geheime Schlüssel zu dem, was den Anderen genießen lässt und an dem man Anteil haben möchte« (Dolar 1999: 57). Mit der Vorstellung des Objekt a greift S1 , der verlorene Signifikant des Genießens, auf S2 über. Die rätselhaften Zwischenräume in der Signifikantenstruktur, das, was nicht gesagt wurde und für das Subjekt Hinweise auf das geheimnisvolle Genießen des Anderen liefert, sind die Löcher, die der Herrensignifikant hinterlassen hat. In der Separation werden diese Löcher gedeutet und ihr Inhalt rekonstruiert. Das Objekt a tritt an die Stelle dessen, was als unerklärlicher Rest in den Äußerungen des Anderen bleibt. Es ist das hypothetische Objekt, das den Mangel von Subjekt und Anderem verschließen würde. Die Konzeption des Objekt a hielt Lacan für seinen wichtigsten Beitrag zur Psychoanalyse (vgl. Fink 2011: 117). Das Symbol a tritt schon in frühen Texten Lacans auf und repräsentiert zunächst den (kleinen) anderen (frz. autre) im Sinne des Spiegelgegenübers (beispielsweise noch im Seminar I), hat also vor allem Aspekte des Imaginären. Im Laufe seines Schaffens verändern sich die Konnotationen von a; bis zum Ende seines Wirkens ist er damit befasst, seine Beschreibung zu präzisieren und geeignete Bilder für die Wirkungen von Objekt a zu finden. Das Objekt a bildet den Kern der Separation. Damit lässt sich die Separation auch deutlicher von der Alienation unterscheiden: Während die Alienation das Subjekt spaltete und das Unbewusste als Schauplatz des Anderen einführte, spaltet die Separation das Objekt (vgl. Sch II: 385): Auch das Objekt ist als Sein, als Reales, verloren. Aus diesem

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Verlust entsteht jedoch eine Objekt-Wirkung, etwas, das dem Subjekt das verlorene Objekt wieder anbietet und den Verlust zu kompensieren verspricht. Die Bezeichnung von a als hypothetischem Objekt ist missverständlich und lässt sich leicht im Sinne einer poststrukturalistischen Diskurstheorie interpretieren: Das Objekt ist nichts als eine Diskurswirkung; es gibt nichts, was nicht Diskurswirkung ist. Lacan stellt jedoch heraus, dass das Subjekt tatsächlich etwas verloren hat; es ist entstanden durch einen Verlust an Ganzheit, eine primordiale Trennung. Diese Trennung darf nach Lacan aber nicht verstanden werden als eine Trennung von einer anderen Hälfte, die das Subjekt wiederfinden könnte. Als die Trennung von einem Objekt, das wiedergefunden werden kann. Ausgehend von dem Aristophanes’schen Kugelmenschen-Mythos entwirft Lacan eine alternative Erzählung des Verlusts, der mit der Alienation einherging. Der Kugelmenschenmythos hatte die Liebe bzw. das Begehren aus einer ursprünglichen Ganzheit erklärt, die das geschlechtliche Wesen in der Suche nach seinem Gegenstück wieder herzustellen versuchte. Damit werden die Geschlechter zu komplementären PuzzleTeilen und die Wiederherstellung der Ganzheit möglich. Lacan setzt diesem Bild seine Metapher von der Lamelle entgegen. Sein Alternativmythos beginnt ebenfalls mit einer initialen Teilung, einer Trennung, die aber weit asymmetrischer als die Trennung bei Aristophanes ist. Lacans neuer Mythos besagt nun, dass das Neugeborene bei der Geburt von etwas getrennt wird, das als seine Ergänzung zu einer ursprünglichen Vollständigkeit gehört hat: Daraus folgt, dass mit dem Zerschneiden der Schnur das Neugeborene nicht, wie die Analytiker meinen, seine Mutter verliert, sondern sein anatomisches Komplement. Was die Hebammen die Nachgeburt nennen. (Sch II: 388f.) Der abgetrennte Teil – die Nachgeburt – ist aber kein symmetrisches Gegenstück, ein anderer Mensch etwa wie die Mutter, sondern ein Unwesen, das Lacan als »körperlosen Organ« bezeichnet und ihm den Namen »Hommelette« (ebd. 389) gibt. Dieses Hommelette beschreibt Lacan in sehr eindrücklichen Bildern, die an Horrorfilme erinnern: Unterstellen wir sie, als ausgedehnter Pfannkuchen, der sich verschiebt wie eine Amöbe, ultra-flach, um unter Türen durchzukommen, allwissend, weil sie vom reinen Lebenstrieb geleitet wird, unsterblich, weil sie sich durch Teilung fortpflanzt. Das ist etwas, das nicht gut wäre, wenn Sie spüren, dass es Ihnen über Ihr Gesicht kriecht, geräuschlos, während sie schlafen, um es zu versiegeln. (Ebd. 389.) Mit dem Hommelette wählt Lacan nun ein eindrückliches Bild um das Reale darzustellen, das verloren wurde – aber deshalb noch lange nicht tot ist. Das körperlose Organ Hommelette müsste eigentlich tot sein, lebt aber als Untotes, nämlich

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als Abwesenheit, weiter14 . An dem Hommelette zeigt sich, dass das Reale nicht mit Realität (im Gegensatz zu einer Illusion) zu verwechseln ist. Im Gegenteil: Das, was wir in unserer Alltagssprache als Realität fassen, entspricht dem, was symbolisierbar und Teil einer Ordnung geworden ist. Die Realität ist das, was wir verstehen können, denn nur das Symbolisierte ist Bestandteil der sozialen Wirklichkeit: Das Symbolische existiert. Das Reale hingegen, das sich der Symbolisierung wiedersetzt, existiert in Lacans Begriffen nicht. Lacan benutzt für das Reale die Heidegger’sche Formulierung: Ex-sistenz. Das Reale ex-sistiert. Es ist außerhalb der Ordnung und außerhalb dessen, was wir denken können (vgl. Fink 2011: 48). Als Außen der symbolischen Ordnung ist es seine Begrenzung, die sich als »Tod, die Gewalt, den Wahnsinn, den sexuellen Akt, das Lusterleben« (Lipowatz 1986: 26) vorstellen lassen. Wie die Lamelle ist das Reale der Moment des Grauens und Genießens, in dem die Realität zusammenbricht und etwas Namenloses, Unfassbares geschieht. Lacan macht klar, dass das Reale alles andere als ein Effekt des Symbolischen ist, ist es doch gerade »das, was nicht von meiner Vorstellung von ihm abhängt« (XXI, zitiert nach Fink 2011: 190). Objekt a tritt an die Stelle dieses verlorenen Realen, das wie das grauenhafte Hommelette immer wiederzukehren droht. Das Objekts a ist bei Lacan also immer mindestens zweideutig: Es tritt auf als imaginäres Objekt phantasmatischer Vervollkommnung, verweist aber immer auf das Reale, das bedrohliche Genießen, das jede Ordnung torpediert. Im Folgenden werde ich das Objekt a in seiner Stellung im Phantasma untersuchen, das ich als den Versuch begreife, das Reale in seiner Bedrohlichkeit in den Griff zu bekommen. Das Phantasma als Vorstellung der Beherrschbarkeit des Realen lässt das Objekt a als etwas entstehen, das zwar verboten ist, aber besessen werden kann. Das Phantasma ist eine Abwehr: »die Abwehr dagegen, eine Grenze im Genießen zu überschreiten« (Sch II: 365) und damit die Grenze zu halten, die das Subjekt garantiert. Es hält das Reale in erträglicher Distanz, ermöglicht ein Genießen, das um das Bedrohliche, nämlich die Unberechenbarkeit jedes Gegenübers, reduziert wurde. Auf diesem Phantasma eines beherrschbaren Genießens basiert das Begehren, wie ich es im folgenden Kapitel darstellen möchte.

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Mit der Wahl der Nachgeburt als Bild für das Verhältnis des Subjekts zum Realen spielt Lacan auf die Bedeutung des mütterlichen Körpers für die Konstitution des Realen an. Das, was der Nährboden des Subjekts war, seine Voraussetzung, kehrt in diesem Bild zurück als bedrohliches, namenloses Grauen. Ich werde im fünften Kapitel danach fragen, in wie fern es sich dabei um eine Analyse der patriarchalen Verfasstheit des Subjekts oder um eine patriarchale Beschreibung des Realen handelt.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

2.3 Das Begehren und das Phantasma Desidero, das ist das Freudsche cogito. (XI: 162) Lacan legt Freud seine Lesart der Beziehung von Psychoanalyse und der Erkenntnisphilosophie Descartes’ in den Mund: Desidero ersetzt cogito. Das Begehren tritt mit der Psychoanalyse also an die Stelle einer Geste, die das Subjekt begründet: Das Begehren spaltet das Subjekt und ermöglicht ihm so ein reflexives Selbstverhältnis. Mit der Analogiebildung zwischen Denken und Begehren geht jedoch ein Problem einher: Die reflexive Geste des Cogito lässt sich aus der Sprache ableiten, die Struktur des Cogito ist eine Notwendigkeit, die sich aus der Sprachlichkeit des Denkens und aus der Tatsache ableiten lässt, dass der Mensch ein Sprachwesen ist. Das Cogito behauptet also Universalität. Für das Desidero ist diese Universalität fraglich und sehr an die Interpretation des Lacan’schen Begehrensbegriff gebunden, der sich nicht nur im Verlauf der Zeit leicht verschiebt, sondern auch immer wieder mit anderen Begriffen wie beispielsweise dem Trieb verschwimmt. Freud hatte seinen Begriff des Sexuellen aus der Beobachtung entwickelt, dass in Anlehnung an eine Bedürfnisbefriedigung ein Reiz entsteht, der unabhängig vom ursprünglichen Bedürfnis zu einem neuen Ziel wird. Das Sexuelle ist bei Freud eine unendliche Bewegung, in der der Mensch ein verlorenes Objekt wieder aufsucht, aber sein Ziel immer verfehlt (vgl. Kapitel 1). Diese Definition des Sexuellen macht Lacan zur Grundlage seines Begriffs des Begehrens. Dabei unterscheidet er es zunächst vom (realen) Bedürfnis und dem (imaginären) Anspruch und siedelt es im Zwischenraum an15 : Somit ist das Begehren weder das Verlangen nach Befriedigung noch der Anspruch auf Liebe, sondern die Differenz, die aus dem Abzug des ersten vom zweiten resultiert, das eigentliche Phänomen ihrer Spaltung*. (Sch II: 199.)16 Das Bedürfnis will Lacan streng vom Begehren unterschieden wissen und spottet über Psychoanalytiker, die diese Trennung nicht verstehen (vgl. ebd. 199). Das biologische Bedürfnis, etwa der Hunger, ist nicht durch die Interventionen eines Anderen verschoben: Hunger ist ein physiologisches Phänomen, nach einer Mahlzeit verschwindet er, bis wieder Energie benötigt wird. Das abhängige Menschenwesen erfährt sich jedoch in der Befriedigung seiner Bedürfnisse abhängig von einem (einer mütterlichen) Anderen. Wenn Bedürfnisse also nicht befriedigt sind, ruft das Menschenkind nach diesem Anderen: Sein Schrei fordert nicht nur die 15

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Ich werde im Zusammenhang mit der präödipalen Beziehung zwischen Mutter und Kind im fünften Kapitel diese Beziehung zwischen Bedürfnis, Anspruch und Begehren noch etwas genauer ausführen und diese Trias ins Verhältnis setzen zum Genießen. Der Asterisk steht in diesem Zitat sowie in allen folgenden Lacan-Zitaten nach einem Ausdruck, der auch im französischen Original auf Deutsch verwendet wird.

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Befriedigung des Bedürfnisses, sondern die Anwesenheit der Figur, von der jede Befriedigung kommt. Der Schrei artikuliert also einen Anspruch auf Anwesenheit und Verfügbarkeit: auf Liebe, die alles zu geben bereit ist. Während das Bedürfnis befriedigbar war, ist der imaginäre Liebesanspruch konstitutiv unbefriedigbar: die vollkommene Anwesenheit des Anderen wäre die Abwesenheit von Bedürfnissen, ein Erleben ohne Unlust und Mangel – eine Unmöglichkeit. In Verbindung mit dem Anspruch entsteht ein Überschuss in der Befriedigung von Bedürfnissen: Diese bestehen jetzt nicht mehr nur in der Sättigung, die das Bedürfnis beendet, sondern werden durch den Anspruch zur »Gabe« (ebd.), zu einem Zeichen der Liebe des Anderen. Dass der Andere das Bedürfnis des Subjekts befriedigt, bekommt also eine Bedeutung, die über die Befriedigung selbst hinausweist. Die Bedürfnisbefriedigung gibt Auskunft darüber, was der Andere will. Sie wird also zum Zeichen – zum Zeichen, das nicht eindeutig ist, das also gedeutet werden muss. Wenn Lacan formuliert, dass »das Begehren des Menschen das Begehren des Anderen ist« (Sch II: 352), geht es um diese Zeichen des Anderen: Das Subjekt begehrt das Begehren des Anderen, es sehnt sich nach Zeichen, die darauf hindeuten, was der Andere von ihm will bzw. dass der Andere etwas von ihm will, an ihm interessiert ist und bleibt.17 Das Subjekt begehrt also vom Anderen begehrt zu werden. Mit dem »Graph des Begehrens«, den Lacan im Seminar V (1957/1958) einführt und in dem Text »Subversion des Subjekts« zuspitzt, deutet er seine Formel vom »Begehren des Menschen als Begehren des Anderen« noch einmal neu. Der Mensch begehrt als Anderer (vgl. Sch II: 352), formuliert er: Durch den Anderen hindurch, in seinen Bahnen, auf dessen Objekt ausgerichtet also. Mit dieser Formulierung gelingt es ihm, den Begriff des Begehrens zu präzisieren und an das Phantasma zu binden. Durch diese Verknüpfung, die ich im Folgenden darstellen möchte, unterscheidet Lacan nicht nur das Begehren vom Trieb, sondern kann auch, was ich im dritten und vierten Kapitel untersuchen werde, die Universalität des Begehrens konkretisieren als eine Partikularität, die Universalität behauptet. Phantasma und Urszene Mit dem Begriff Phantasma nimmt Lacan Freuds Idee einer Ur-Phantasie bzw. gar einer Urszene auf, einer traumatischen Phantasie des Analysanden, die seine psychische Struktur begründet. In der berühmten Analyse des jungen Mannes, der als Wolfsmann bekannt wurde, findet der Begriff Urszene bei Freud zum ersten

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Das Subjekt zielt auf das Begehren des Anderen und nicht etwa sein Genießen. In dem Begehren steckt immer die Unbefriedigbarkeit, das Begehren verweist auf ein zukünftiges Genießen. Als Lacan seinen Satz vom Begehren des Subjekts als Begehren des Anderen formuliert, ist der Begriff des Genießens noch nicht ausgearbeitet. Dennoch deutet sich hier schon an, dass bereits das Subjekt, das auf das Begehren des Anderen zielt, eine phantasmatische Vorstellung von einem Genießen jenseits des Gegenwärtigen beinhaltet.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

Mal Erwähnung (vgl. Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose GW 12: 27–157).18 Er beschreibt eine traumatische Beobachtung des elterlichen Verkehrs durch den Analysanden im Kindesalter, die Freud mithilfe von Deutungen verschiedener Träume und Symptome im Laufe der Analyse rekonstruiert. Diese Urszene, die zentrale Bedeutung für die Struktur der Pathologie des Wolfsmanns hat, verknüpft die Einsicht in die Geschlechterdifferenz mit einer Beobachtung sexueller Lust. Von der Szene geht also sowohl die Drohung der Kastration aus, die Einsicht, dass es Menschen ohne Penis gibt, als auch eine Rahmung des Sexuellen: Während die Szene zum Zeitpunkt ihrer Beobachtung noch keine pathogene Wirkung entfaltete, wird sie nachträglich nicht nur Auslöser für verschiedene neurotische Symptome, sondern auch für die Einsetzung des Begehrens, indem sie eine Vorlage liefert, nach der die für den Analysanden erregenden Szenen gestaltet sind. Lacan nimmt den Gedanken einer Konstellation auf, die sowohl die pathologische Struktur als auch die sexuierte Position einrichtet. Die phantasmatische Urszene gibt dem Subjekt scheinbar darüber Auskunft, wo das Genießen (wieder) zu finden ist, das verloren wurde. Lacan integriert Freuds Begriff der Urszene in seine Theorie des Subjekts als Sprachwesen und verknüpft ihn mit der Einsetzung des Begehrens. Die Urszene bzw. das Phantasma ist die Phantasie vom Genießen des Anderen. Damit ist sie eine Abwehr des Mangels im Anderen, mit der die Gefahr gebannt wird, die von der dramatischen Frage des »Che vuoi?«, des »Was willst du von mir?«, ausgeht, die nach Lacan den Kern der Angst ausmacht. Das Phantasma ist also eine Reaktion auf das in der Separation auftauchende Genießen des Anderen und sorgt dafür, dass die bedrohliche Lamelle auf Distanz gehalten wird.

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Die Publikation der Fallstudie des Wolfmanns fällt in eine dramatische Zeit für die psychoanalytische Bewegung, nämlich die der »Sezession« von Adler und Jung. Klammer weist darauf hin, dass der Wolfsmannstudie in dieser Zeit, in der um die Fundamente der Psychoanalyse gerungen wurde, die Funktion zukommt, zentrale Thesen Freuds zu verteidigen, nämlich die Wurzeln der Neurose in der Kindheit und ihren sexuellen Ursprung (vgl. Klammer 2013: 41). Laplanche/Pontalis dazu: »Was Freud jenseits der Diskussion über das Reale und Phantasierte bei der Urszene wohl im Auge hat und aufrechterhalten will, besonders gegen Jung, ist der Gedanke, dass diese Szene zur – ontogenetischen oder phylogenetischen – Vergangenheit des Individuums gehört und ein Ereignis darstellt, das mythischer Natur sein kann, aber bereits besteht, bevor ihm eine nachträgliche Bedeutung verliehen wird« (Laplanche/ Pontalis II: 578). Es ist hier nicht meine Absicht, den Fall des Wolfsmanns neu zu interpretieren oder gar Aussagen über die zugrunde liegende psychische Struktur zu treffen. Der Fall ist von Bedeutung, weil Freuds Begriff der Urszene mit ihm assoziiert ist und weil Lacan an ihm seine strukturale Neuinterpretation der Urszene illustriert.

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Lacan beschäftigt sich in verschiedenen Zusammenhängen mit dem Freud’schen Fall des Wolfsmanns.19 In Seminar XI bietet Lacan eine Deutung der Urszene an, in der er diese als Einschlag des Signifikanten interpretiert: Was zeigt Ihnen jener Fall überhaupt? Er zeigt, dass in jedem Abschnitt im Leben des Subjekts etwas auftrat, das in jedem Moment den Wert jenes determinierenden Index, den jener Ursignifikant konstituiert, umgeprägt hat. […] Denken Sie bitte an die logische Notwendigkeit jenes Moments, in dem das Subjekt als X sich ausschließlich durch die Urverdrängung* konstituiert, durch den notwendigen Sturz jenes ersten Signifikanten. (XI: 264.) Das, was Freud im Fall des Wolfsmanns die Urszene nennt, ist eine Erinnerung, an die sich der Analysand im Laufe seiner Analyse paradoxerweise jedoch nie erinnert. Gegenstand der Sitzungen sind vielmehr verschiedene verschlüsselte Bilder, Szenen und Träume, die auf etwas verweisen, das für den Analysanden bedeutsam ist, weil es sein Begehren definiert, seine Ängste hervorbringt und sein Handeln ausmacht. Anhand verschiedener Indizien rekonstruiert Freud eine Erinnerung hinter diesen Produktionen des Unbewussten – eine Erinnerung, die aber im Verlauf der Analyse nie als solche auftaucht: Hat der Analysand tatsächlich seine Eltern beim Geschlechtsverkehr beobachtet? Hat er – wie Freud auch in Betracht zieht – vielleicht nur Hunde bei der Kopulation beobachtet und von ihnen auf die Eltern geschlossen? Die Urszene ist für immer verloren und wird nicht wieder auftauchen. Ihre pathogene Wirkung erhält die verdrängte Szene in verschiedenen Kontexten; sie verbindet sich mit völlig verschiedenen Symptomen: mit der Angst vor Wölfen, mit homosexuellen Wünschen, einer Faszination für Hinterteile, fanatischer Religiosität usw. Alles, was den Patienten ausmacht, steht im Zusammenhang mit dieser Urszene als initialem Moment, gleichzeitig lässt sich aus der Urszene keine Folge linear ableiten, sie ist offensichtlich nicht vollständig determinierend. Lacan interpretiert nun die Urszene als traumatischen Schnitt, in der ein ursprüngliches Genießen hinter dem Signifikanten verschwindet, gleichzeitig ein entfremdetes Genießen, ein Genießen des Anderen mit dem Anderen und durch den Anderen entsteht. Der Einschnitt ist gleichzeitig determinierend und lässt offen: Der Ursignifikant hinterlässt einen »determinierenden Index«, ein Negativverzeichnis, eine Markierung, die auf eine zu schließende Lücke verweist. Diese Lücke kann unterschiedlich gefüllt werden, man könnte sagen, dass das Subjekt erst zu

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Lacan hat dem Fall des Wolfsmanns, der um die Idee einer Urszene strukturiert ist, ein Seminar gewidmet: Das sogenannte Seminar 0, das er im Jahr vor dem ersten in Saint Anne gehaltenen Seminar in seiner Privatwohnung gehalten hat. Anders als bei den späteren Seminaren gibt es keine Stenotypie oder Transkription eines Mitschnitts, sondern nur Aufzeichnungen von Hörern, die aber weder veröffentlicht noch gar übersetzt sind (vgl. Roudinesco 1996: 759). So ist dieses Material leider nicht zugänglich.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

einer Variabel (X) wird, weil der Ursignifikant ein Loch hinterlässt, das Bedingung der Möglichkeit verschiedener Füllungen ist. Der Schnitt des Signifikanten lässt also das Phantasma entstehen: Die Vorstellungsrepräsentanz in der absoluten Bedingung ist an ihrem Platz im Unbewussten, an dem sie das Begehren gemäß der Struktur des Phantasmas, die wir daraus entnehmen werden, verursacht. (Sch II: 351.) Das Phantasma ist die Phantasie einer Vernähung des Mangels, einer Welt ohne Unlust. Lacan schreibt das Mathem des Phantasmas, das im Zusammenhang mit dem Graph des Begehrens in Seminar VI erstmals als solches auftaucht,20 folgendermaßen: $ a Das durchgestrichene, barrierte $ steht für das Subjekt nach der erzwungenen Wahl. Es hat den Zugang zu seinem Sein verloren, sein Sein wurde durch den Signifikanten durchgestrichen. Das Subjekt hat so einen Bereich, von dem es ausgesperrt (barré) ist. Mit dem Einschnitt durch den Signifikanten ist auch die Verdrängung verbunden, die zwischen Bewusstsein und Unbewusstem trennt. Der Strich, der das $ quert, ist also sowohl eine Durchstreichung als auch ein Einschnitt, der das Subjekt in zwei Teile teilt. Dieses barrierte Subjekt wird mit einer Raute als Symbol für die Beziehung mit dem Objekt a verbunden. Zusammengesetzt aus einem Größer- und einem Kleinerzeichen steht die Raute für die Bestimmung eines Verhältnisses, das paradox ist: Der folgende Term ist größer und kleiner, mehr und weniger zugleich. Er ist ein Teil des Subjekts, aber liegt doch jenseits von ihm. Darüber hinaus lässt sich die Raute auch als eine Zusammensetzung von v und ^ lesen, die für den Minimal- und den Maximalwert stehen und so eine Begrenzung, einen umschlossenen Innenraum, markieren. Lacan bringt schließlich v und ^ auch mit Alienation und Separation zusammen. Das v steht für die Alienation als Abkürzung des vel, des oder, in dem die Alienation kulminiert. ^ steht für die Separation, in der der Durchschnitt gebildet wird, in der zwei Mängel zur Überlappung gebracht werden (vgl. XI: 222ff). Damit kann er die Raute definieren als:”Einwicklung – Entwicklung – Konjunktion – Disjunktion« (Sch II: 132).21 20 21

In Seminar V findet sich bereits die Formel $ a, die allerdings noch nicht mit dem Phantasma in Verbindung gebracht ist (vgl. Pontalis 2000: 126). Norbert Haas wählt in seiner Übersetzung des Seminars XI den Begriff Punze. Punze als Begriff der Typographie bezeichnet den Innenraum eines Zeichens, die leere Fläche die beispielsweise der Buchstabe o umschließt. Der Begriff Punze steht also für die Einschließung durch einen Signifikanten, eine Einschließung, die aber nichts enthält. Gleichzeitig ist Punze ein vulgärer Begriff für das weibliche Geschlechtsteil. Das Verhältnis des Subjekts zu a ist also nicht zuletzt ein sexuiertes, in dem dem Weiblichen eine besondere Rolle, nämlich die der Vermittlung, zukommt. Dazu auch Kapitel 4.

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Objekt a als Ursache Das Subjekt, das macht die Formel des Phantasmas deutlich, darf nicht unabhängig von seinem Objekt verstanden werden. Es ist also nicht eine denkende Substanz, die den Objekten unabhängig gegenübertritt und sich von ihnen abstrahieren kann. Objekt a und Subjekt stehen in einem unauflösbaren Zusammenhang. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass das Objekt a im Zusammenhang mit der Unterordnung unter den Signifikanten erscheint: Die analytische Erfahrung definiert das Objekt nicht in seiner Allgemeinheit als Korrelat des Subjekts, sondern in seiner Singularität als das, was das Subjekt in dem Moment stützt, in dem es seiner Existenz (im radikalen Sinne des Ek-sistierens in der Sprache) ins Gesicht sehen (faire face) muss, in dem Moment, in dem es sich als Subjekt hinter einem Signifikanten ausstreichen (effacer) muss. An diesem Panik-Punkt klammert es sich am Objekt des Begehrens fest. (Zusammenfassung von Seminar VI bei Pontalis 2000: 163.) Im Moment des Verschwindens des Subjekts hinter dem Signifikanten tritt das Objekt a hervor als das, was die Verbindung zum Sein wieder herzustellen verspricht. Objekt a steht also in direktem Zusammenhang mit dem Einschlag des Signifikanten, mit der symbolischen Kastration. Man könnte formulieren, dass das Objekt a Zugang zum Realen des Genießens verspricht, in dem Moment, in dem es als verlorenes auftaucht. Damit ist Objekt a »ein Produkt der Sprache, obwohl es genau das bezeichnet, was die Sprache nicht gänzlich in ein Symbol aufzuheben vermag« (Recalcati 2011: 36f). In früheren Schriften verwendete Lacan den Buchstaben a noch als Bezeichnung für den kleinen anderen (autre) im Sinne eines konkreten Nebenmenschens, der die Stelle des Objekts im Begehren besetzt. Im Verlauf seines Schaffens verändert sich die Bedeutung von a fundamental: Objekt a wird zu autre chose, zum nicht assimilierbaren Rest, zu dem, was nach der Befriedigung durch ein Objekt als Negativität zurück bleibt: Das kann es doch jetzt noch nicht gewesen sein! Als negativer Überschuss, als ein Rest von Unbefriedigtsein, der auf eine andere, weitere Befriedigung drängt, ist es Ursache und nicht etwa Befriedigung des Begehrens. Objekt a setzt das Begehren in Gang, indem in einer unendlichen Folge Objekte die Stelle des verlorenen Objekts einnehmen, dessen Verlust aber nie ungeschehen machen, dessen Fehlen nie vollständig verdecken können. Der unbefriedigte Rest zwingt zum Fortsetzen der Suche des Verlorenen, der autre chose, in neuen Objekten. Als konkretes Nichts, das die Versprechung beinhaltet, eines Tages gefüllt zu werden, nimmt das Objekt a strukturell den Platz der Ursache des Gleitens der Signifikanten ein. Es sorgt dafür, dass sich die Signifikanten-Kette endlos fortsetzt. Mit dieser Definition des Begehrens als unendliche Bewegung nimmt Lacan auf, was Freud mit dem Begriff der Verschiebung eingeführt hatte. Lacan macht

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den Mechanismus der Verschiebung zu einer das Subjekt begründenden Bewegung. Bei Freud ist die Verschiebung in der Arbeit des Unbewussten ein Mittel, die Zensur (und damit das Inzestverbot) zu umgehen, indem eine Vorstellungsrepräsentanz durch eine andere ersetzt wird. Genau dieses Verhältnis zum Verbot lässt uns das Begehren, das der Verschiebung entspricht, als ein Ergebnis der ödipalen Konstellation begreifen. Im Freud’schen Ödipus-Komplex ist das väterliche Verbot die Instanz, die eine Beziehung zu sexuellen Objekten ermöglicht, indem es das ursprüngliche mütterliche und ohnehin unmögliche Objekt verbietet, aber eine identifizierende Nachfolge anbietet, die eine Befriedigung in die Zukunft verschiebt. Für Freud stellt die ödipale Konstellation den Übergang zwischen Natur und Kultur dar. Lacan greift mit seiner Figur des Herrensignifikanten dieses Freud’sche Motiv auf, interpretiert es jedoch strikt symboltheoretisch. Damit ergibt sich eine weitere Verschiebung: Ödipal ist nicht nur eine bestimmte, irgendwann überwundene Konstellation, eine Phase in der Geschichte des Subjekts, sondern die Struktur des Unbewussten selbst: Der Herrensignifikant, der die ödipale Konstellation bestimmt, wird zu einem Strukturmoment im Begehren des Subjekts. Schon in den frühen Seminaren behauptet Lacan eine Spaltung des Objekts und begründet diese als strukturelle Notwendigkeit: Es gibt also immer eine wesentliche, grundsätzliche und konflikthafte Teilung im wiedergefundenen Objekt und selbst in der Tatsache der Wiederfindung, es besteht also stets eine Diskordanz vom wiedergefunden Objekt zum gesuchten Objekt. […] Diese Grunderfahrung setzt voraus, dass im Verlauf der Latenzzeit eine Bewahrung des Objekts im Gedächtnis und im Ungewussten des Subjekts, das heißt eine signifikante Transmission erfolgt. Dieses Objekt wird im weiteren als Diskordanz wirken und eine verstörende Rolle spielen in jeder Objektbeziehung des Subjekts. (IV: 59.) Das Objekt begegnet dem Subjekt immer als wiedergefundenes. Es tritt an eine Leerstelle, die schon einmal besetzt war (oder schien). Es verspricht, ein ursprüngliches Genießen wiederherzustellen, genügt dann aber diesem Versprechen nicht. Das wiedergefundene Objekt bleibt also stets hinter dem verlorenen zurück. Eine Konzeption des Begehrens als Suche nach dem verlorenen Objekt setzt jedoch nicht voraus, dass es dieses ursprüngliche Objekt je gegeben hat. Der Objektverlust hat vielmehr strukturellen Charakter, wie Massimo Recalcati betont: Ein solcher Verlust impliziert nämlich keineswegs die Vorstellung, dieses Objekt ursprünglich (vor dem Signifikanten und vor der Sprache) besessen zu haben. Er verweist vielmehr auf die Beschaffenheit des menschlichen Begehrens, das der fundamentalen Unmöglichkeit unterworfen ist, in der Realität das mythische Objekt der ersten Befriedigung wiederzufinden. Die Unmöglichkeit, dass das, was

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man sucht (das verlorene Objekt), mit dem zusammenfällt, was man findet. (Recalcati 2000: 36.) Prinzipiell ist eine vollständige Wiederholung unmöglich, weshalb jedes wiedergefundene Objekt enttäuscht. Nun ist jedes Objekt ein wiedergefundenes, denn es tritt an die Stelle, die vorangegangene Objekte leer hinterlassen haben. In diesem Sinne ist das Objekt a also ein Produkt der Unmöglichkeit einer echten Wiederholung. Doch auch hier deutet sich schon die spätere Beziehung des Objekt a zum Phantasma an: Das wiedergefundene Objekt verweist auf ein verlorenes, das vollständig befriedigend war. Objekt a als Unbefriedigung in der Befriedigung fordert Kompensation. In Seminar XVII bezeichnet Lacan diese Fassung des Objekt a als Mehrlust/Mehrgenießen (plus-du-jouir).22 Das Mehrgenießen ist das Genießen, das über das gegenwärtige Genießen hinausgeht. Dieses Mehrgenießen steht in Zusammenhang mit dem Herrensignifikanten, denn es ist an das Phantasma eines absoluten Genießens gebunden – ein Genießen, das sich der Knecht bei seinem Herren erträumt. Phantasma und Phallus Mithilfe der Urszene des Wolfsmanns lässt sich nun das durch den Herrensignifikanten produzierte Phantasma als ein ödipales Szenario analysieren, die alle Motive aufweist, die die Freud’sche Ödipuserzählung ausmachen: Die Interpretation der Geschlechterdifferenz als An- und Abwesenheit, die daraus folgende Kastrationsangst, die den Jungen dazu bringt, auf das mütterliche Objekt zu verzichten und sich mit dem Vater zu identifizieren, das mit dieser Identifizierung verbundene Versprechen auf ein »Später«. Darüber hinaus zeigt sich nun, dass ein bestimmtes Zeichen den Platz des Herrensignifikanten einnimmt, nämlich der Phallus. Nicht nur stellt sich damit der Herrensignifikant, eine zunächst nur sprachtheoretisch begründete Figur, als ein Bestandteil einer patriarchalen Geschlechterordnung heraus, auch das durch das Phantasma konstituierte, barrierte Subjekt, das universelle Geltung beansprucht, ist ein männliches. Lacan formuliert: Was gesehen worden ist, jedoch allein auf der Seite des Mannes ist, dass er es zu tun hat mit dem Objekt a und dass seine ganze Realisierung beim Geschlechtsverhältnis hinausläuft auf das Phantasma. (XX: 94.)

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Schmitz übersetzt plus-du-jouir mit Mehrlust. Ich werde im Folgenden von Mehrgenießen sprechen, da sich der Begriff Genießen als Übersetzung von jouissance durchgesetzt hat, während Lust für plaisir steht. Da Lacan diese beiden Termini in Seminar VII als Gegensätze definiert – das Genießen ist das, was das lebenserhaltende Lustprinzip überschreitet – halte ich es für sinnvoller, die Unterscheidung an dieser Stelle zu machen.

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Subjekt, Phantasma und Begehren sind also für Lacan an den männlichen Part im Geschlechtsverhältnis gebunden. Begehren lässt sich nicht losgelöst von der Theorie des Kastrationskomplexes und der sexuellen Differenz verstehen. Die von Freud im Fall des Wolfsmanns rekonstruierte Szene eines beobachteten coitus a tergo der Eltern lässt sich als der verdrängte Auftritts des Herrensignifikanten interpretieren. Betrachtet man die ödipale Konstellation als eine Struktur, die das Unbewusste ausmacht, lässt sich verstehen, warum die Symptome, Träume, das Verhalten des Wolfsmanns in unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Art und Weise auf diese Szene zurückführen lassen. Damit wird es unwichtig, ob die Szene sich tatsächlich ereignet hat oder ob es sich bei ihr um eine Phantasie des Analysanden handelt. In der Urszene des Wolfsmanns wird der Herrensignifikant getragen durch den Vater, den Akteur, dem Genießen unterstellt wird. Doch nicht als die konkrete Vaterperson, denn zu dem einen genießenden Akteur wird er, weil die Szene das Genießen mit dem Auftauchen der Geschlechterdifferenz verbindet; der Analysand konnte in der Szene das »Genitale der Mutter wie das Glied des Vaters sehen« (GW 12: 64). In den verschiedenen Umbildungen, die die Szene erfährt, wird deutlich, dass die Geschlechterdifferenz nicht als Verschiedenheit sondern als eine An- und Abwesenheit des Penis interpretiert wird. Diese Interpretation zeigt sich in den Phobien des Wolfsmanns, in denen die Geschichte des Wolfs, dem der Schwanz ausgerissen wird, eine große Rolle spielt. Der Wolf hat seinen Schwanz durch einen gewaltsamen Akt verloren; keinen Penis zu haben, deutet der Analysand deshalb als Ergebnis eines Übergriffs, der ihn auch treffen kann. Es gab ein gewisses Bilderbuch, in dem ein Wolf dargestellt war, aufrecht stehend und ausschreitend. Wenn er dieses Bild zu Gesicht bekam, fing er an wie rasend zu schreien, er fürchtete sich, der Wolf werde kommen und ihn auffressen. (Ebd. 39.) Die Angst vor dem aufgerichteten Wolf mit einem Schwanz lässt sich verstehen durch die mit dem Wolfstraum assoziierte Geschichte vom Wolf, dem der Schneider den Schwanz ausreißt (ebd. 56). Der phallische Wolf, der Wolf mit Schwanz, der die Haltung des Vaters in der Urszene einnimmt, wird mit der Kastrationsdrohung verknüpft. Der Wolf ist also ein Bild für den Vater, wobei die Markierung des Schwanzes eine besondere Rolle spielt. Nur mit Schwanz ist der Wolf bedrohlich; ohne ihn steht er für die Angst vor dem gleichen Schicksal. Der Vater erhält seine Bedeutung also nicht durch seine Person, seine individuellen Eigenschaften oder seine besondere Beziehung zum Analysanden, sondern nur durch das Tragen der Markierung, die Anwesenheit eines Zeichens, das ihn unterscheidet und zum Einen macht. Diese Markierung lässt ihn zum Träger des Genießens und gleichzeitig zu dem werden, der die Kastrationsdrohung und damit das Verbot des vollständigen Genießens artikuliert. Der Vater ist also nicht die kastrierende Instanz – hier ent-

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fernt sich Lacan von Freud – vielmehr inkarniert der Vater im ödipalen Geschehen den Vater an sich, den Urvater; er ist Träger des Namen-des-Vaters, von dem Legitimierung und Verbot ausgehen. Lacan argumentiert, dass der Vater seine Bedeutung im ödipalen Geschehen durch eine Markierung erhält, die ihn auszeichnet. Als diese Markierung fungiert das männliche Genital, der Phallus: Man kann sagen, dass dieser Signifikant als das Hervorstechendste aus dem ausgewählt wird, was man im Realen der sexuellen Kopulation zu fassen bekommen kann, sowie das Symbolischste im buchstäblichen (typographischen) Sinne dieses Ausdrucks, da er darin der (logischen) Kopula gleichgilt. Man kann auch sagen, dass er durch seine Geschwollenheit das Bild des Lebensflusses ist, insofern er in der Fortpflanzung übergeht. (Sch II: 200.) Der Phallus als idealisierte Version des männlichen Genitals könnte als Stellvertreter für den Geschlechtsverkehr verstanden werden. Er ist das wahrnehmbarste Zeichen sexueller Erregung und damit von der Eigengesetzlichkeit und Unkontrollierbarkeit des eigenen Körpers. Damit aber der Phallus »privilegierte[r] Signifikant dieser Prägung, in welcher der Part des Logos sich mit der Ankunft des Begehrens verbindet« (ebd.: 200), werden kann, muss er zum Signifikanten ohne Signifikat werden. Der Phallus markiert den Punkt, an dem die Signifikantenlogik auf den Körper mit seinem Genießen und seinem Leiden trifft, den Punkt, an dem das Subjekt als durchgestrichenes entsteht. Der Phallus in der Freudschen Lehre keine Phantasie, sofern darunter ein imaginärer Effekt verstanden werden muss. Er ist ebenso wenig als solcher ein (partiales, inneres, gutes, böses usw.) Objekt, insofern dieser Terminus darauf abzielt, die an einer Beziehung beteiligte Realität einzuschätzen. Er ist noch viel weniger das Organ, Penis oder Klitoris, das er symbolisiert. […] Denn der Phallus ist ein Signifikant. (Ebd.: 197f.) Bei Lacan nimmt nun der Phallus den Platz des Signifikanten an, »der dazu bestimmt ist, die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, insofern der Signifikant sie durch seine Anwesenheit als Signifikant bedingt« (ebd.). Die theoretische Privilegierung des männlichen Genitals begründet Lacan also damit, dass dieses – in unserer Kultur – zum Zeichen wird, das sprachtheoretisch notwendig die Stelle des Signifikanten einnimmt, der für die Gesamtheit der Signifikanten einsteht, für ihre bedeutungsgebende Funktion ansich.23 Er geht davon aus, dass es

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Diese psychoanalytische These hat verständlicherweise heftigen Protest nach sich gezogen: Warum ist es ausgerechnet das männliche Genital, das für Geschlecht an sich und damit für die Markierung als Sprachwesen stehen soll? In die Defenisve gedrängt begründen aktuelle psychoanalytische Theoretiker diesen Umstand folgendermaßen: »Die Praxis der Psychoana-

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einen Signifikanten geben muss, einen Signifikanten, der sich dadurch auszeichnet, dass er »der Einzige ist, der nichts bedeuten kann« (XX: 80). Diese Paradoxie des Phallus, Signifikant ohne Signifikat, einziger bedeutungsloser Signifikant zu sein, erlaubt, dass er für die Gesamtheit der Signifikanten einsteht und ihnen so ermöglicht, Bedeutungen zu haben. Wie ausgeführt konzipiert Lacan das Symbolische als System von Differenzen, in dem jedem Signifikanten seine Bedeutung aus der Differenz zu allen anderen Signifikanten zukommt. Diese Vorstellung impliziert eine »Antinomie der Signifikantenlogik« (Copjec 2004: 236): Die Totalität des Systems der Signifikanten ist gleichzeitig vorausgesetzt – denn ohne sie wäre keine Bedeutung möglich – und logisch ausgeschlossen. Der Phallus reagiert nun auf diese Unmöglichkeit der Sprache: Als der Signifikant, der keine Bedeutung hat, kann er für die Signifikantheit selbst stehen und bietet sich als die für die Signifikatswirkung notwendige Begrenzung an. Der Phallus als Signifikant sichert die Signifikanten in ihrer Ordnung ab und sorgt so für einen Kurzschluss zwischen Signifikant und Signifikat. Damit zeigt sich, dass der Herrensignifikant in unserer Kultur der Phallus ist. Dabei ist es wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass der Phallus bei Lacan auch als imaginärer Phallus auftritt – die Allmacht, die einer Figur unterstellt wird – und als realer Penis. Nur als symbolischer Phallus entspricht er dem Herrensignifikanten. Er ist dann der Namen-des-Vaters, in dessen Namen das Inzestverbot artikuliert wird, der aber ein Genießen verheißt. Herrensignifikant und die Mythen der Psychoanalyse Im um den Herrensignifikanten kreisenden Kastrationskomplex verbindet Lacan also die zwei zentralen Mythen der Psychoanalyse: Den Mythos von Ödipus und den des Mordes am Urvater aus »Totem und Tabu«. Zunächst scheinen beide Mythen völlig gegensätzlich: Im Ödipus-Mythos ermöglicht der Mord am Vater den Zugang zum idealen Objekt, im Mythos vom Urvater ist es gerade die durch den Vatermord entstehende Schuld, die den Zugang zum idealen Objekt verhindert. Beiden gemeinsam ist jedoch die Konkurrenz mit dem Vater und die inzestuöse Beziehung zur Mutter. Als Kern des Ödipus-Mythos macht Lacan jedoch nicht diese Dreieckskonstellation aus, sondern das »er wusste nicht« als die Formel, die das Bewusste vom Unbewussten trennt. Ödipus ist die tragische Figur, die alles richtig machen will – er flieht vor seinen vermeintlichen Eltern, um diese nicht zu gefährden – die versucht, das Verbrechen zu vermeiden und es gerade dadurch

lyse legt, wie auch andere Praktiken, den Schluss nahe, dass dieser Signifikant in der westlichen Kultur im Allgemeinen der Phallus ist« (Fink 2011: 140). Dass dem Phallus die Funktion zukommt, Signifikant ohne Signifikat zu sein und damit für die Gesamtheit der Signifikanten zu stehen, erklärt Fink hier mit der Klinik, in der der Phallus in dieser Funktion auftrete. Der Phallus wird hier also als empirische Erscheinung bezeichnet.

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begeht (vgl. VII: 363). Ödipus weiß nicht, dass er seine Mutter liebt und seinen Vater tötet und bricht nur deshalb das Gesetz. Nur an einem abgetrennten Ort des Nichtwissens (oder auch des Traums) ist die Begegnung mit dem idealen Objekt möglich. Die Realität wird von dem väterlichen Verbot bestimmt. Eine vergleichbare Struktur ergibt sich im Mythos des Urhordenvaters. Nach dem kollektiven Vatermord verzichten die Söhne auf die, die Grund für den Mord waren: die Mütter und Schwestern. Der Mord überwindet also nicht das väterliche Verbot, den väterlichen Anspruch auf die inzestuösen Objekte, sondern macht ihn als untote Instanz nur stärker: Durch seine Ermordung bleibt er der Einzige, der Zugang zu dem absoluten Genießen hatte und ist damit das phantasmatische Ausnahmesubjekt, das für die Möglichkeit eines absoluten Genießens steht. Als in der Phantasie seiner Söhne »lebender Toter« genießt er weiter, nicht wissend, dass er tot ist. Die psychoanalytische Figur des Vaters ist eine in sich selbst gedoppelte (vgl. Žižek 1991: 108): Der untot genießende Vater aus »Totem und Tabu« ist die obszöne Kehrseite des ödipal-verbietenden Vaters. Das kastrierende Verbot verdankt seine Wirksamkeit der Phantasie, dass ein absolutes, unkastriertes und ausnahmeförmiges Genießen möglich ist. Und umgekehrt: Das Verbot ermöglicht erst die Abtrennung des Raumes des Nichtwissens, in dem sich Ödipus vor der Aufdeckung seines Verbrechens sowie der genießende Urvater befindet. Das Verbot produziert damit, was es verbietet. Auf diesen Zusammenhang von Verbot und Genießen weist Lacan vielfach hin und spielt unter anderem mit der Homophonie von Non-du-pére und Nom-du-pére: Nein-des-Vaters und Namen-des-Vaters. Das väterliche Nein, das Inzestverbot, geht einher mit der durch den väterlichen Namen hergestellten Identifikation, die dem Subjekt ermöglicht, die Nachfolge des Vaters anzutreten und nach dessen Genießen zu streben.24 Das soziale Band, das das Begehren herstellt und in dem sich das begehrende Subjekt verortet, lässt sich mit dem Mathem des Diskurses des Herren beschreiben, den Lacan in Seminar XVII einführt und dessen verschiedene Bestandteile nun eingeführt sind. Die Formalisierung des Mathems ermöglicht, die Beziehung von Phantasma und Herrensignifikanten präzise darzustellen, die metonymische 24

Der Name des Vaters, den er seinen legitimen Kindern geben wird, ist auch der Name dessen Vaters und verweist auf unendliche Linie der Weitergabe der Position. Nicht zufällig ist die Konstellation Im-Namen-des-Vaters auch ein Bestandteil christlicher Rituale: Die Linie der Väter findet ihren Beginn in Gott. Gott ist die Fiktion, die die Reihe der Väter ermöglicht. Den Begriff Namen-des-Vaters benutzt Lacan, wenn es ihm um den Vater als symbolische Instanz geht, die er vom realen Vater als empirische Person und dem imaginären Vater als bildhaftes Vaterideal unterscheidet. Der Namen-des-Vaters wird bisweilen mit dem Herrensignifikanten gleichgesetzt (vgl. auch Fink 2011: 108), zumindest ist er eine mögliche Version des Herrensignifikanten. Im fünften Kapitel werde ich die Rolle des Namen-des-Vaters in der Entstehung des Subjekts als eine Abwehr gegen die Abhängigkeit vom mütterlichen Begehren analysieren.

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Struktur des Begehrens zu verstehen und das Begehren klar von der Liebe zu unterscheiden. Lacan schreibt in der ersten Sitzung des Seminar XVII folgende Buchstabenkombination an die Tafel:

Abb. 6: Diskurs des Herren

Das Mathem ist in vier Felder unterteilt, die sich durch eine vertikale und eine horizontale Teilung ergeben. Die einfachste Lesart funktioniert folgendermaßen: Auf der linken Seite befindet sich das Subjekt, auf der rechten sein Gegenüber. In der oberen Hälfte ist das Bewusste dargestellt, in der unteren das Unbewusste. Beide Seiten, Subjekt und Gegenüber, sind also horizontal gespalten. Jedoch betrifft auch die vertikale Spaltung das Subjekt selbst: Das Gegenüber ist ein Produkt der spezifischen Beschaffenheit des Subjekts. Alle vier Terme hängen also untrennbar miteinander zusammen. In der oberen Hälfte findet sich das Verhältnis von S1 und S2 , also der Versuch, Bedeutung zu erzeugen; in der unteren Hälfte lässt sich die Formel des Phantasmas erkennen. Das Phantasma ist im Diskurs des Herren ausgeschlossen, formuliert Lacan (XVII: 107), gleichzeitig ist es seine unbewusste Wahrheit: Das Sprechen, das an eine eindeutige Bedeutung glaubt, basiert auf dem Phantasma. Lacan erläutert das Verhältnis von S1 , S2 und Subjekt folgendermaßen: Ist S1 erschienen – erstes Zeitmetrum –, wiederholt er sich bei S2 . Durch dieses In-Bezug-Treten taucht das Subjekt auf, das von etwas repräsentiert wird, einem gewissen Verlust, der jene Anstrengung wert ist, die man auf den Sinn hin gemacht hat, um seine Zweideutigkeit zu verstehen. (XVII: 17.) S2 , also alle Signifikanten in ihrer Präsenz und in ihrer linearen Verkettung, sind eine Wiederholung von S1 , der Gründungsgeste des Herren. Diese wird jedoch durch keinen einzigen Signifikanten der Signifikantenkette je wieder eingefangen. Das Subjekt versteht Lacan als einen Effekt der Beziehung von S1 und S2 : Das Subjekt taucht an der Stelle auf, an der sich S1 in S2 wiederholt als Instanz, die insistiert und in den Sinn investiert. Es ist das, was der Signifikant repräsentiert: »Der Signifikant repräsentiert das Subjekt für einen anderen Signifikanten« (XI: 165). Als Repräsentant verweist der Signifikant auf etwas, das jenseits seiner liegt und nicht mit ihm identisch ist. Das Subjekt ist also ein Versprechen des Signifikanten. Da-

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bei ist zu beachten, dass es sich um ein Versprechen handelt, das einem anderen Signifikanten gegeben wird, der genauso ein Subjekt zu repräsentieren verspricht für einen anderen Signifikanten. Das Subjekt wird behauptet in einer unendlichen Struktur der Versprechen – jeder Signifikant verspricht einem anderen ein Subjekt zu repräsentieren – eine Struktur, die Halt findet in S1 , im Herrensignifikanten, dem einzigen Signifikanten, der dieses Versprechen eingelöst hat, da sein Sinn und sein Sein deckungsgleich waren. Der Herrensignifikant ist das Subjekt ohne Barre, das Subjekt als Satzglied, um das sich der Satz gruppiert, dem alle anderen Satzglieder dienen (vgl. Fink 2011: 110). In dem Mathem stellt Lacan das barrierte Subjekt $ an den Platz unter den Herrensignifikanten, den Platz, den Lacan als den der Wahrheit definiert, weil jeder Herr, jeder König, jeder Vater, eigentlich ein barriertes Subjekt ist. Die Position des Herrn einzunehmen ist ein Akt der Anmaßung, in der der eigene Mangel verborgen werden muss. Diese Anmaßung vollzieht jedoch jedes Subjekt: Das Subjekt entsteht gerade durch seine symbolische Identifizierung mit dem Herrn, die ihm einen Platz in dessen Ordnung gewährt. Der Herr wird als Herr gewählt, was die Position des Knechts impliziert, die Unterwerfung unter ihn bedeutet aber auch eine Teilhabe an seiner Macht, eine Teilhabe an der Position des Herren gegenüber dem »Ding«, der Substanz des Genießens: den Urhorden-Frauen. Somit lässt sich das über die Figur des Herrn strukturierte Subjekt als eine Lacan’sche Übersetzung des Ödipuskomplexes verstehen, der die Struktur der Persönlichkeit, die »Neurosenwahl«, sowie die Ausrichtung der Sexualität bestimmt. Wie das Subjekt aus der Verbindung von S1 zu S2 entsteht, so entsteht auch das Objekt a aus dieser Verbindung, nämlich als Scheitern der Sprache: Das Objekt a als das, was der Signifikant nicht erfassen kann, entsteht aus dem Anspruch, Signifikant und Signifikat zusammenzuhalten: Zunächst kann die Sprache, und selbst die des Herrn, nichts anderes sein als Anspruch, Anspruch, der scheitert. Nicht aus seinem Erfolg – aus seiner Wiederholung heraus erzeugt sich etwas, das eine andere Dimension ist, die ich den Verlust genannt habe – Verlust, aus dem heraus die Mehrlust Gestalt annimmt. (XVII: 122.) Objekt a wird produziert als negativer Überschuss oder Verlust unter S2 als Abstand zu dem, was S1 , der selbstidentische Signifikant, gegenüber S2 zu besitzen schien. Objekt a, das Mehrgenießen, ist also ein Produkt des Diskurses des Herren. In Seminar XX unterscheidet Lacan zwischen zwei Arten des Scheiterns, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Thermen seiner Matheme bestimmen: der Unmöglichkeit und dem Unvermögen, die er folgendermaßen darstellt:

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Abb. 7: Diskurs des Herren (XX: 21)

Zwischen S1 und S2 herrscht eine Beziehung der Unmöglichkeit: Unmöglich kann der Herrensignifikant sich in S2 wiederholen. Diese Unmöglichkeit lässt sich mit der Unmöglichkeit von Kommunikation illustrieren: Der Empfänger wird nie ganz verstehen, was der Sender gemeint hat. Eine Verständigung ohne Missverständnisse ist nicht möglich – auch weil jede Botschaft durch die darunter liegende Wahrheit verzerrt wird: Der Sender ist nie vollständig Herr über seine Botschaft. Diese Unmöglichkeit korrespondiert mit einem radikalen Unvermögen auf der Unterseite des Mathems: Das, was im Diskurs als Überschuss entsteht, deckt sich nicht mit dem, was den Diskurs initiierte. Das Objekt a als Produkt des Diskurses entspricht nicht der geheimen Wahrheit, $. Zwischen a und $ besteht ein radikales Unverhältnis: Sie stehen in keinem logischen Zusammenhang, lassen sich nicht auseinander ableiten oder können zu einem ganzen zusammengefügt werden. Das Objekt a verschließt nicht den Mangel von $. So kommt es nie zu der abschließenden Befriedigung, die den Diskurs endgültig stillstellen würde. Gerade weil Objekt a immer verfehlt wird, setzt sich der Diskurs fort. Genießen Wie schon im Zusammenhang mit Alienation und Separation beschrieben, ermöglicht die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft die Vorstellung eines absoluten Genießens. Der Herr hat um Herr zu werden auf sein Sein verzichtet und hat gerade deshalb vermittels des Knechtes den Zugriff darauf. Denn dieser muss ihm die Produkte seiner Arbeit abgeben bzw. den Überschuss, den er erwirtschaftet, der über seine Lebenserhaltung hinausgeht:25 Allein dadurch, daß er seine Funktion als Herr ausfüllt, verliert er etwas. Dieses verlorene Etwas, zumindest aus diesem Grund muß ihm etwas vom Genießen zurückgegeben werden – eben die Mehrlust. (XVII: 107.) Was also auf Seiten des Knechtes als Verlust auftaucht, ist aufseiten des Herren Gewinn. Verlust und Gewinn beziehen sich auf das Genießen. Jedoch ist die Fra-

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An dieser Stelle verbindet Lacan das Mehrgenießen mit dem Marx’schen Mehrwert. Diese Verbindung werde ich im dritten Kapitel genauer untersuchen.

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ge, was unter diesem Genießen zu verstehen ist. Lacan beschreibt das Genießen folgendermaßen: Das Genießen – das ist das Faß der Danaiden, und wenn man einmal in es eintritt, dann weiß man nicht, bis wohin das geht. Das fängt beim Kitzel an und endet damit, daß man sich mit Benzin übergießt und anzündet. Und immer ist es das Genießen. (XVII: 83.) In den letzten Kapiteln sind verschiedene Begriffe des Genießens verwendet worden, die ich jetzt etwas genauer differenzieren und aufeinander beziehen möchte: Zum ersten das Genießen, das mit der Lamelle assoziiert war, das traumatische Genießen des Realen, zum zweiten das mythische vollständige Genießen, das dem Herren unterstellt wird, das aber unmöglich ist, zum dritten das Genießen, das sich aus dem Phantasma des vollständigen Genießens ergibt.26 In Seminar VII definiert Lacan das Genießen (jouissance) erstmals als einen von der Lust (plaisir) deutlich unterschiedenen Begriff. Das Lustprinzip zielt paradoxerweise in Lacans Freud-Interpretation gerade nicht auf das Genießen, sondern hat als Prinzip des geringeren Leidens die Aufgabe, vom Genuss fernzuhalten (vgl. VII: 224). Das Lustprinzip dient der Fortsetzung des Lebens, während hingegen sein Jenseits, das Genießen, von Lacan mit dem Todestrieb in Verbindung gebracht wird. Dieses Genießen, vor dem das Lustprinzip schützt, lässt sich mit der Metapher der Lamelle besser verstehen: Es ist das traumatische Reale ohne den distanzschaffenden Herrensignifikanten. Das Genießen als Reales, als LibidoLamelle, ist ein unkontrollierbares, kopfloses Wesen, das dem Subjekt nicht nur fremd, sondern widerwärtig ist. Von ihm geht Gefahr aus – eine Gefahr, die der Herrensignifikant in den Griff zu bekommen verspricht. Dieses Genießen – ich werde in den folgenden Kapiteln insbesondere im Zusammenhang mit der Weiblichkeit, dem Vorödipalen und dem Trieb darauf zurückkommen – ist das Genießen in seiner ursprünglichen Bedeutung. Das Sprachwesen meidet es, denn es ist sein Gegenteil. Jedoch darf das Genießen nicht mit einer naturhaften Bedürfnisbefriedigung verwechselt werden, denn es ist die Befriedigung eines Triebs (vgl. VII: 253), steht also im Zusammenhang mit dem Symbolischen. Von diesem traumatischen Genießen unterscheidet sich das Genießen, das dem Herren unterstellt wird. Ich habe vorgeschlagen, den Herren als eine Fiktion des Knechts bzw. des Subjekts zu interpretieren. Diese Fiktion des Herren gibt dem Knecht einen Platz in der Welt; durch ihn vermittelt kommt der Knecht zum Selbstbewusstsein. Darüber hinaus hat er eine entlastende Funktion. Er hält das Subjekt in Distanz zum Genießen: Der Herr nimmt dem Knecht die Produkte 26

Diese verschiedenen Begriffe des Genießens betrachte ich also nicht als verschiedene Fassungen des Begriffs, die die unterschiedlichen Werkphasen definieren, sondern behaupte eine Gleichzeitigkeit und einen Zusammenhang dieser drei Genießensbegriffe.

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seiner Arbeit, er nimmt ihm das, was er dann selbst vollständig genießen kann. Die Herren-Fiktion entlastet den Knecht also von dem problematischen Genießen. Gleichzeitig liefert sie eine Erklärung, warum der Knecht stets unbefriedigt bleibt und stellt ein unproblematisches Genießen in Aussicht. Der Herrensignifikant produziert also das Phantasma eines vollständigen, nicht-bedrohlichen Genießens. Schließlich gibt es das Genießen, das dem begehrenden Subjekt bleibt. So schreibt Lacan: »Das Phantasma schafft die dem Begehren eigene Lust« (Sch II: 300). Das am Phantasma ausgerichtete Begehren ermöglicht dem Subjekt ein spezifisches Genießen bzw. eine spezifische Stellung zum Genießen, die mit den ersten beiden Genießensvarianten zusammenhängt. Das Genießen im Begehren ist ein entfremdetes Genießen; die Entfremdung macht es erträglich, zugleich ist es dadurch entwertet: Lacan nennt das Genießen, das durch das Phantasma entsteht, eine »unechte, schundhafte Mehrlust« (XVII: 86). Das Phantasma verortet das Genießen bei dem Herren, der das Genießen verbietet und das Verbotene dann für sich selbst reklamiert. Durch die Verortung des Genießens beim Herren wird das Genießen entproblematisiert. Wenn sich der Herr als Stütze des Selbstbewusstseins zur Identifikation anbietet, steht auch seine Beziehung zum Genießen zur Verfügung. Da diese Identfikation nie gänzlich gelingt, scheitert auch das Genießen des begehrenden Subjekts. Nur temporär kann es sich mit dem Herren verwechseln und hat so kleine Dosen des Herren-Genießens: ein Genießen, das unproblematisch ist, weil es die Andersheit des Anderen auslöscht, sein Genießen unabhängig von dem Genießen des unberechenbaren Gegenübers denkt. Das Genießen im Begehren ist also das Genießen des selbstidentischen Herren, des Für-sich-sein: Wessen Genießen? Eines einzigartigen Wesens, daß nichts zu sagen hat als: Ich bin, was Ich bin. (XVII: 73f.) Das Subjekt, das im Begehren temporär genießt, genießt als Herr bzw. indem es sich zum Herren macht. Das Begehren hat deshalb eine innige Beziehung zur Gewalt: Der Begehrende kann nur genießen, wenn er sich temporär als Herr fühlt. Sein Gegenüber muss er deshalb unterwerfen und zum Objekt ohne eigenen Willen machen. Durch diese kurzlebige Herrengeste hält er das traumatische Reale auf Distanz. So ist das Subjekt davor geschützt sich im Genießen des Gegenübers zu verlieren; es erfährt eine Lust, die sich an die Grenzen des Lustprinzips hält. Die Dynamik zwischen Herr und Knecht ist also bei Lacan auch als eine innerpsychische zu verstehen: Das Subjekt ist zugleich unterworfener Knecht und durch seine Identifizierung phantasmatischer Herr. Als Knecht verzichtet es auf sein (sprachloses) Genießen, es verzichtet auf die »tierische« Unmittelbarkeit. Zum Selbstbewusstsein wird es durch die Identifikation mit dem Herren, durch diese Identifikation hat es vermittelt Zugang zu dem, worauf es als Knecht verzichtet hat. Was als ein

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Nullsummenspiel erscheint, ist jedoch ein komplexer Mechanismus, der das Genießen im Zaum hält und aus dem bedrohlichen und unverständlichen Genießen ein kontrollierbares macht. Im dritten Kapitel werde ich auf diesen Mechanismus zurück kommen. Ein Begehren jenseits des Phantasmas Bisher habe ich nur die gewaltvolle Seite des Begehrens beschrieben, die das Gegenüber auf einen Signifikanten reduziert. Zum Schluss des Kapitels möchte ich dieses Bild jedoch ergänzen um einen Begriff des Begehrens, der die Allmachtsphantasie loslässt und damit S1 neu definiert. In der Rezeption spielt dieser Aspekt des Begehrens meist die größere Rolle.27 Ein (nur) so begriffenes Begehren bezieht sich nicht primär auf das Phantasma und wird normativ verstanden als Kraft, die imaginäre Verhärtungen überwindet und Genießen partiell ermöglicht. Es handelt sich um einen Begehrensbegriff, der in den früheren Seminaren und den Schriften vorherrscht, in denen das Ziel der Analyse in der »Entdeckung des unbewussten Begehrens und seine[r] Realisierung« (Braun 2007: 265) besteht.28 Dieser normative Begehrensbegriff findet sich bei Lacan beispielsweise in Seminar VII, in dem er das Begehren ins Zentrum seiner Ethik stellt: Ich behaupte, dass es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, zumindest in analytischer Perspektive, und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren. (VII: 380.) In Seminar VII entwickelt Lacan diese Ethik des Begehrens in Abgrenzung von der traditionellen Ethik, wie er sie beispielsweise bei Aristoteles findet. Dessen Ethik sei ausgerichtet auf das objektive Gute, für das das Individuum seine Ansprüche mäßigen und sich zurückstellen muss. Die Vorstellung eines objektiv Guten mache

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Verbunden mit diesem Begriff des Begehrens ist seine Universalisierung, die die Sexuiertheit des Begehrens unterschlägt. So beispielsweise bei Fink, der seine klinische Einführung um den Begriff des Begehrens aufbaut und nur im letzten Kapitel relativiert (Fink 2009) oder bei Widmer, der ebenfalls den Begriff des Begehrens ins Zentrum seiner Einführung stellt und ihn so universalisiert (Widmer 1990). So lange das Ziel der Analyse so formuliert ist, kann nicht zwischen einem im Phantasma gegründeten Begehren und dem Begehren unterschieden werden, auf das die Analyse zielt und das im Zentrum einer Ethik des Begehrens steht. Schließlich wird in Seminar XVII ersteres problematisiert, was ermöglicht, das Begehren neu zu interpretieren. Hier beziehe ich mich besonders auf das Seminar VII, in dem Lacan mit der Antigone eine Durchquerung des Phantasmas beschreibt und einen utopischen Begehrensbegriff entwickelt, der jedoch noch nicht scharf vom phantasmatischen Begehren abgesetzt ist. Auf diesen Begriff des Begehrens aus dem Frühwerk bezieht sich Kollers Auseinandersetzung mit Begehren und Liebe in pädagogischen Konstellationen (Koller 1990), ohne jedoch nach dessen Voraussetzungen zu fragen.

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aber das Gute zu einem verfügbaren Objekt und ist damit auf eine höchste Autorität und damit auf die bestehende Ordnung zentriert. Die Logik einer Ethik des Guten zeigt Lacan an Augustinus, der das Gute als ein höchstes Gut verstehe, das sich in allen Objekten, allen Gütern wiederfinde: Augustinus behaupte, dass alles was existiert, gut ist, weil es von Gott kommt (vgl. ebd. 265f). Aus dieser Setzung folge, dass, wenn das Gute von den Dingen abgezogen wird, von diesen nichts mehr übrig sein kann. In Augustinus’ Konzeption des Guten gebe es durch die Zentrierung auf ein höchstes Gut, Gott, nichts, was vom Guten abweicht. Er habe keinen Begriff von etwas jenseits des Guten. Lacan stellt nun eine Verbindung her zwischen dem Guten und der Lust – einer gemäßigten Lust, die die Grenzen des Lustprinzips nicht überschreitet. Damit wird das Gute als Gegenstand einer Lust, die sich am Lustprinzip orientiert, zum Objekt, über das das Subjekt verfügt: »Der Bereich des Guten ist die Entstehung von Macht« (ebd. 276) behauptet Lacan. Deshalb versteht Lacan auch die Aristoteles’sche Ethik als »Herrenmoral, gemacht für die Tugenden des Herren und gebunden an eine Kräfteordnung« (ebd. 375). Diese »Moral der Macht« (ebd.) ist die Forderung, das Begehren zu verraten, zurückzustellen zugunsten der Erhaltung der Ordnung: das Ablassen vom Begehren. Wenn das Subjekt von seinem Begehren ablässt, und sich selbst verrät oder den Verrat eines anderen hinnimmt, verzichtet es auf die eigenen Ansprüche. Das Ablassen vom Begehren ist ein Abkommen vom schon gefundenen Weg »getrieben von der Idee des Guten« (ebd. 383). Das Begehren wird hier also als die Zurückweisung des Guten gedacht und damit eine Abwendung von der Beschränkung durch das Lustprinzip. Bei diesem Begehren handelt es sich um ein anderes Begehren als das bisher formulierte, das sich gerade durch seine Orientierung am Herrensignifikanten, dem »höchsten Gut«, auszeichnete. Das Begehren, auf das die Analyse abzielt, ist ein utopisches Begehren, das sich nicht an einem Herrengesetz orientiert. Lacan formuliert: Was das Subjekt in der Analyse erobert […] es ist sein eigenes Gesetz. (Ebd. 358.) Dieses Begehren, das von einem eigenen Gesetz ausgeht, lässt sich als ein Ergebnis der Analyse verstehen, die das ödipale Phantasma überschreitet und dem Subjekt ermöglicht, seinen Signifikanten S1 als leeren Signifikanten auf sich zu nehmen – und sich nicht mit ihm als Namen-des-Vaters in eine ödipale, patriarchale Tradition einzuschreiben. Mit diesem »Auf-sich-nehmen« des sinnlosen Signifikanten geht ein neues Verhältnis zum Anderen, zur Anderen einher – genau diese Veränderung kann Lacan mit seinem frühen Begehrensbegriff noch nicht fassen und deshalb kommt dieser Aspekt in der Rezeption meines Erachtens zu kurz: Der sinnlose Signifikant leitet sich aus keiner Ordnung her, er vervollständigt den Anderen nicht und gesteht ihm oder besser ihr ein eigenes Begehren zu. Der oben schon zitierte Satz:

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Wessen Genießen? Eines einzigartigen Wesens, daß nichts zu sagen hat als: Ich bin, was Ich bin. (XVII: 73f.) ist dann anders zu deuten: Das Begehren ist das Verhältnis des »azephalen Subjekts«, des kopflosen, weil unbegründbaren Subjekts, das seine Handlungen nicht aus dem Anderen begründen muss, sondern als »reiner Wille« im Sinne Schellings grundlos ist.29 Dieses vom Anderen gelöste Begehren hat als Ziel der Analyse utopischen Charakter, denn es zeichnet sich durch eine radikale Neudefinition von S1 aus, die nicht ohne Voraussetzungen ist. Genau diese Voraussetzungen werde ich im vierten und fünften Kapitel weiter untersuchen. Im auf das Phantasma zentrierten Begehren ist S1 der Herrensignifikant, den ich mit dem Phallus, dem Namen-des-Vaters, identifiziert habe und der die Phantasie eines unkastrierten Genießens enthält: Im Begehren stehen Genießen und Gesetz in einem spezifischen Verhältnis, einem Verhältnis, das auch bestimmte, hierarchisch strukturierte Gesellschaftsordnungen auszeichnet: Das Gesetz verbietet und ermöglicht gleichzeitig dadurch das Verbotene als Übertretung und Ausnahme. Das im Herrensignifikanten inkarnierte Gesetz verbietet das Genießen und ermöglicht es dadurch zugleich. Gesetz/Signifikant und Genießen stehen also in einem dialektischen Verhältnis. Dieses Verhältnis ändert sich in der Liebe grundlegend.

2.4 Liebe als Metapher Im Anfang der analytischen Erfahrung, rufen wir es uns in Erinnerung, war die Liebe. (VIII: 15.) Die Liebe ist der Anfang der Analyse, behauptet Lacan in seiner Reformulierung des Beginns des Johannes-Evangeliums: »Im Anfang« ist die Übertragungsliebe zwischen Anna O. und Josef Breuer – dargestellt in den Studien über Hysterie –, denn diese ist verantwortlich für die Erfindung der »talking cure« und damit das, was sich allmählich als Praxis der Psychoanalyse herausstellt. Liebe und Übertragung stehen also bei Lacan in enger Beziehung oder sind sogar identisch. Diesen Zusammenhang entwickelt Lacan besonders in Seminar VIII, das sich die theoretische Ausarbeitung der Übertragung vornimmt. Ein großer Teil dieses Seminars widmet sich der Lektüre des Platon’schen Symposions, in dem Sokrates seine berühmte Konzeption des Eros als Mittler zwischen Menschlichem und Göttlichen erläutert. Diese Figur hat die Pädagogik lange für sich beansprucht: Sie schien eine genuin pädagogische Liebesethik zu beschreiben. Der Eros war für die Pädagogik vor allem interessant, weil sein Fürsprecher Sokrates auf den ersten Blick 29

Die Beziehung von S1 zu Schellings »reinen Willen« stellt Žižek her (Žižek 1991: 127).

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einen idealen Pädagogen darstellt: Sokrates lehrt nicht etwa durch ein überlegenes, autoritäres Wissen, sondern bringt mithilfe einer subtilen Fragetechnik seine Schüler dazu, selbstständig nach der Wahrheit zu suchen. Seine Pädagogik scheint zu intellektueller Freiheit zu führen, zu einer Bereitschaft, alles zu hinterfragen, nach Wahrheit zu streben, und zu einer Begeisterung für das Lernen selbst. Vielfach wurde Sokrates entsprechend als Pädagoge interpretiert;30 seine Konzeption des Eros ist oft in einem pädagogischen Rahmen gedeutet worden. Auch Lacan interessiert sich für die Verbindung zwischen der Wirkung des Sokrates auf seine Schüler, die sich auch – zumindest im Sinne seines Verständnisses der Psychoanalyse im Frühwerk – als Wirkungen einer Analyse interpretieren ließen, und seine Behauptung eines diese begründenden Eros. Lacans Lektüre des Symposions steht im Kontext des Versuchs, die Analyse nicht als Ansammlung von Techniken, sondern strukturell als eine Beziehung zu definieren, die durch das spezifische Begehren des Analytikers erzeugt ist. Sokrates, der Ursache des Begehrens nach Wissen seiner Schüler ist und seine Wirkung mit einer speziellen Leidenschaft erklärt, erscheint für dieses Anliegen hilfreich. Jedoch begnügt sich Lacan nicht mit einer Rezeption des sokratischen Eros und damit nur der Rede des Sokrates im Symposion, sondern setzt sich mit dem gesamten Text Platons auseinander: den vielfältigen Reden über die Liebe der Teilnehmer des Gastmahls und der Dynamik zwischen den Figuren, die den Inhalten der Reden teilweise entgegenläuft. Damit betrachtet er den Sokrates’schen Eros, der auch die Vorlage des pädagogischen Eros ist, nicht als isolierbares Theorem, als eigentliches normatives Ideal Platons, sondern als Figurenrede in einer komplexen Konstellation, die er als gesamte interpretiert.31 Sokrates’ Rede vom Eros deutet Lacan als »schöne Geschichte«, die einen Kontext hat: Alle diese schönen Geschichten, so faszinierend sie scheinen, es braucht nur einen Tumult, einen Auftritt betrunkener Männer, um uns von dort gleichsam ins Reale zurückzuführen. (VIII: 171.) Sokrates’ zentrale Eros-Rede wird in Lacans Interpretation zu einem imaginären Ideal, das durch die flankierenden Geschehnisse konterkariert wird, die es zu deuten gilt. Diese Geschehnisse weisen nun gerade nicht Sokrates als Liebenden aus, sondern Alkibiades, der betrunken erscheint, sich in seiner Verliebtheit lächerlich 30

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So macht beispielsweise Hartmut von Hentig Sokrates zur pädagogischen Gründungsfigur, indem er seinen pädagogisch-initiatorischen Eid in Analogie zum hippokratischen der Medizin einen sokratischen nennt (vgl. Hentig 2003). Lacans vielschichtige Deutungen der verschiedenen Reden des Symposions kann ich an dieser Stelle nicht darstellen. Ich konzentriere mich hier auf einige Aspekte, die für meine Fragestellung und meine Interpretation der Liebe mit dem Diskurs der Universität relevant sind. Eine ausführliche Lektüre der Auseinandersetzung Lacans mit Platons Text findet sich bei Fink 2016.

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macht und zugleich offenbart. Im Folgenden werde ich ausgehend von Lacans Beschreibung der Beziehung zwischen Alkibiades und Sokrates einen Begriff der Liebe entwickeln, der sich schließlich mit dem Diskursmathem des universitären Diskurses fassen lässt und Liebe als Idealisierung des Begehrens begreift. Metonymie und Metapher Im Zentrum von Lacans Deutung der Liebe steht der Begriff der Metapher, der ihm ermöglicht, zwischen Liebe und Begehren zu unterscheiden. Die Liebe als Signifikant – denn für uns ist sie ein solcher und ist sie nur dies –, die Liebe ist eine Metapher – wenn überhaupt die Metapher, dann haben wir sie als Ersetzung zu artikulieren gelernt. (VIII: 59.) Lacan beschreibt die Liebe wie das Begehren als ein sprachliches (bzw. symbolisches) Phänomen: als Signifikanten.32 Dass Sprache in der Liebe eine besondere Bedeutung hat, ist leicht nachzuvollziehen; Lieben scheint doch zu einem großen Teil aus Sprechen zu bestehen: Liebende bekennen dem geliebten Gegenüber ihre eigenen Gefühle, versichern sich Treue, bedauern die Unerreichbarkeit des oder der anderen, versprechen ewige Liebe, schwärmen zärtlich über die Einzigartigkeit der oder des Geliebten, verleihen der Sehnsucht Ausdruck, entwerfen gemeinsame Zukünfte… »Liebe machen, wie der Name es anzeigt, das ist Poesie« (XX: 79). Liebe bedeutet für Lacan ein endloses Sprechen – ein Sprechen, das sich dadurch auszeichnet, dass es die Form einer Metapher hat. Die metaphorische Struktur der Liebe beschreibt Lacan in Seminar VIII als den Moment, in dem ein Liebender, ein erastes, zu einem Geliebten, einem eronemos, wird: Insofern die Funktion des erastes, des Liebenden, soweit er das Subjekt des Mangels ist, an die Stelle des eromenos, des geliebten Objekts, tritt, seine Funktion ersetzt, wird die Bedeutung der Liebe hervorgebracht. (VIII: 60.) Die Liebe taucht auf, wenn das begehrende Subjekt selbst zum Liebesobjekt wird: Aus dem Liebenden wird ein Geliebter, aus dem Geliebten ein Liebender. Lacan zeigt dieses Moment an der Beziehung zwischen Alkibiades und Sokrates: Im Symposion wird der schöne Alkibiades, der von dem älteren, hässlichen Sokrates begehrt wird, also ein Geliebter ist, von Liebe zu Sokrates ergriffen. Der Liebende

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Ich werde hier nur eine vorläufige Theorie der Liebe entwickeln, denn der interessante Punkt an Lacans Konzeption der Liebe ist gerade, dass sie zunächst a-geschlechtlich erscheint, aber einen Bezug zum Sexuellen herstellt, indem sie den Herrensignifikanten-Phallus als Wahrheit hinter dem Symptom, dem Sprechen über Liebe, entlarvt. Vollständig wird Lacans Theorie der Liebe also erst im vierten Kapitel in Verbindung mit der Theorie des Geschlechtsverhältnisses.

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(Sokrates) tritt an die Stelle des Geliebten, der Geliebte (Alkibiades) an die Stelle des Liebenden. Es findet also eine Ersetzung des einen Signifikanten durch den anderen statt. Diese Ersetzung geht mit einem Bedeutungswandel einher: Sokrates, der Unvollkommene, der nach der Vollkommenheit strebt, liebte an Alkibiades seine schöne Gestalt als Verweis auf das göttliche Schöne. Alkibiades hingegen liebt Sokrates wegen etwas, das sich hinter dessen Unvollkommenheit versteckt, für etwas, das sich in seinem Nicht-Wissen zeigt, das Alkibiades selbst zum Unwissenden werden lässt. Alkibiades wird als Geliebter von Sokrates zum Liebenden, dabei wird er jedoch infiziert von etwas, das Sokrates ausmacht, nämlich dessen Liebe zum Wissen. Der vormals Vollkommene, der schöne Alkibiades, wird als Liebender zum Unvollkommenen, zum Schüler des verehrten Sokrates. Das, was seine Vollkommenheit ausmachte, seine Schönheit, erfährt einen Bedeutungsverlust: Die Schönheit ist nun nicht mehr der Maßstab der Vollkommenheit. Durch Sokrates erfährt Alkibiades, dass es etwas gibt, das jenseits der Schönheit des Körpers liegt. Sokrates’ Mangel erfährt eine Transformation: Er wird zum Versprechen von etwas, das bisher, in seinem Begehren, keine Rolle spielte und das die körperliche Schönheit transzendiert: eine göttliche Schönheit der Ideen, die sich hinter Sokrates’ unvollkommener Gestalt verbirgt. Diese Schönheit bleibt reines Versprechen: Gerade dadurch, dass Sokrates, der weiß, dass er nichts weiß, sich nie im Besitz der Wahrheit behauptet, sondern als Fragender anderen in ihrer Wahrheitssuche hilft, ist es möglich, ihm Weisheit zu unterstellen. In Alkibiades’ Liebe zu Sokrates erkennt Lacan eine Ersetzungsbeziehung zwischen Signifikanten, in der der ersetzte Signifikant (Sokrates) den ersetzenden (Alkibiades) transformiert. Genau diese Beziehung zwischen Signifikanten lässt sich mit dem Begriff der Metapher fassen. Mit dem Begriff der Metapher gelingt es Lacan Liebe und Begehren zu unterscheiden und dennoch aufeinander zu beziehen. Indem er Begehren mit dem Begriff der Metonymie und Liebe mit dem der Metapher verknüpft, kann er beide als unterschiedliche sprachliche Verhältnisse fassen. Dabei bezieht sich Lacan auf die Sprachtheorie Roman Jakobsons, der die Aphasien anhand der beiden schon von Saussure konstatierten Achsen der Sprache, der Similaritätsachse und der Kontiguitätsachse, unterschied. Die vertikale Similaritätsachse ergibt sich aus der Notwendigkeit, an jeder Stelle des Satzes aus einem Paradigma möglicher, einander entsprechender Wörter auszuwählen, die horizontale Kontiguitätsachse besteht in der linearen Verknüpfung von Wörtern zu Sätzen und größeren Zusammenhängen (vgl. Jakobson 1960). Jakobson konnte in der Auseinandersetzung mit den Aphasien feststellen, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Typen der Sprachstörung gibt: Zum einen fand er Aphatiker vor, die zwar Satzsplitter ergänzen können, also horizontale Beziehungen zwischen Signifikanten verstehen, aber weder Identitätsbeziehungen zwischen Wörtern herstellen, noch gar ein Wort wiederholen können. Mit dieser von Jakobson als Similaritätsstörung bezeichneten Form der

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Aphasie geht die Unmöglichkeit einher, Metaphern zu bilden, also ein Wort durch ein anderes zu ersetzen. Wortersetzungen sind jedoch möglich, wenn die Wörter gewöhnlich gemeinsam verwendet werden, also in einer horizontalen Beziehung stehen. Dieser Art der Ersetzung entspricht die Sprachfigur der Metonymie. Die komplementäre Erkrankung, die Kontiguitätsstörung, lässt sich daran erkennen, dass die Betroffenen im Endstadium keine Sätze mehr bilden können, die Kontextbildung also nicht mehr möglich ist, ihnen die selektive Funktion jedoch erhalten bleibt. Diesen Aphatikern ist es möglich, Metaphern zu bilden, aber keine Metonymien.33 Jakobson schloss daraus, dass Metaphern und Metonymien die zwei Dimensionen markieren, in denen sich Bedeutung im Sprechen entwickeln kann.34 Demnach sind Metonymie und Metapher komplementäre Beziehungen von Signfikanten, die einerseits dafür sorgen, dass das Signfikat unter den Signifikanten gleitet, andererseits der Grund dafür sind, dass überhaupt Bedeutungseffekte entstehen. Als solche sind sie für Lacan interessant, denn er kann sie mit den Mechanismen des Unbewussten in Zusammenhang bringen.35 Die Ersetzung eines Signifikanten durch einen anderen ist für Lacan nämlich genau das, auf das Freud in seiner Traumdeutung stößt: So geht es in der Traumdeutung auf all den Seiten nur um das, was wir in seiner Textur, in seinen Verwendungen und in seiner Immanenz zu der zu verhandelnden Sache den Buchstaben des Diskurses nennen. (Sch I: 603) In seinen Deutungen bestehe Freud darauf, ein Traumbild als Signifikanten zu lesen, das seine Bedeutung nicht aus sich selbst erhalte, sondern durch sein Verweisen auf etwas Anderes. Die Mechanismen der Traumarbeit, Verschiebung und Verdichtung, sind so als Verknüpfung von Signifikanten zu verstehen; Traumbilder unterstehen den entfremdenden Wirkungen des Symbolischen. Der Königsweg des Traums führt also zu dem wie eine Sprache strukturierten Unbewussten. Entsprechend sind es Begriffe der Linguistik, mithilfe derer das Unbewusste am besten erfasst werden kann. Deshalb identifiziert Lacan Freuds Mechanismen der Ver-

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Beide Sprachfiguren fand Jakobson auch in der Kindersprache: Schon Kinder reagieren auf ein Stichwort entweder mit einer Metonymie oder einer Metapher (Hütte – ist abgebrannt oder – ist ein kleines Häuschen). So formuliert er: »Der Gegenstand der Rede kann sowohl durch die Similaritätsrelation als auch durch die Kontiguitätsrelation in einen anderen Gegenstand überführt werden.« (Jakobson 1960: 65). Jakobson selbst stellt bereits einen Zusammenhang zu Freuds Mechanismen der Traumarbeit her, der der Lacan’schen Übersetzung jedoch nicht entspricht. Die Metonymie brachte er mit Freuds Verschiebung und Verdichtung zusammen, die Metapher mit Identifizierung und Symbolismus (Jakobson 1960: 69). Ich hoffe zeigen zu können, warum Lacans Adaption der Begriffe hilfreicher ist.

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schiebung und Verdichtung mit der Metonymie und der Metapher als den zwei Achsen der Sprache. Diese zwei Achsen der Sprache machen das Verhältnis des Subjekts zu seinem Gegenüber aus: Im Begehren entspricht dieses Verhältnis der Metonymie, in der Liebe der Metapher. Und die Rätsel, die das Begehren »natürlichen Philosophie« aufgibt, seine den Abgrund des Unendlichen mimende Raserei, das intime Zusammenspiel, in dem es die Lust zu wissen und die zu herrschen mit dem Genießen umhüllt, hängen mit keiner anderen Entregelung des Triebes zusammen als seiner Einfassung in den – ewig in Richtung Begehren nach etwas anderem erstreckten – Schienen der Metonymie. (Sch I: 613.) Das Begehren ist, zum Erstaunen der »natürlichen Philosophie«, einfach nicht zufrieden zu stellen. Das Begehren dient also nicht der »Natur« des Subjekts, es lässt sich nicht erklären als Bestandteil seiner Selbsterhaltung. Seine Suchen »nach etwas anderem« ist zerstörerisch, eine irrationale »Raserei« – also ein Exzess ohne Zweck. Kein Objekt genügt dem Begehren, weshalb es endlos unbefriedigt ist. Dieser Umstand verdankt sich seinem Gefangensein in den Bahnen der Signifikantenkette, in der ein Signifikant für einen anderen einsteht, wieder ersetzt wird und so weiter. Das Begehren als metonymische Wort-für-Wort-Verknüpfung zu verstehen, bedeutet, Begehren als eine lineare Struktur zu begreifen, in der ein Signfikant auf den nächsten folgt. Die hier von Lacan konstatierte »Raserei« des Begehrens habe ich als das spezifische Verhältnis des Begehrens zum Gesetz interpretiert: Im Begehren verbietet das Gesetz das (unmögliche, vollständige) Genießen, gleichzeitig bietet es sich zur Identifikation an und verspricht so Zugang zu diesem Genießen. Die metonymische Kette ergibt sich aus der langen Reihe der nur als Signifikanten zugänglichen Objekte, in denen das Subjekt das verlorene Genießen sucht, aber stets einem Rest Unbefriedigtsein begegnet, weshalb es seine Suche endlos fortsetzen muss. Die unabschließbare Kette der Signifikanten findet sich im Begehren am Platz des Gegenübers. Hier folgt das Begehren einer individuellen und bei jedem Begehrenden völlig neuen, kontingenten Spur. Der zweite Mechanismus, die Metapher, stellt eine neue Beziehung zwischen zwei Signifikanten her, wobei der eine den anderen auf Basis einer Analogie substituiert, der erste aber durch seine horizontale Verknüpfung mit dem Rest der Kette gegenwärtig bleibt. Die Metapher ist deshalb eine Form, die der Phantasie besonderen Raum einräumt, denn sie ermöglicht das Spiel mit Mehrdeutigkeiten. Lacan identifiziert sie mit dem Freud’schen Mechanismus der Verdichtung – in Verdichtung analysiert Lacan treffend die Beziehung zur Poesie – als »Übereinanderlegen der Signifikanten« (ebd.: 604). Wenn also Alkibiades an die Stelle des liebenden Sokrates tritt, er ihn also als Subjekt ersetzt, bleibt etwas, das Sokrates ausmachte,

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an dem hängen, der seine Stelle eingenommen hat. Sokrates Liebe zur Wahrheit hat nun auch Alkibiades infiziert. Die Liebe als Metapher hat eine Beziehung zum Symptom, das Lacan ebenfalls als Metapher definiert: Zwischen dem rätselhaften Signifikanten des sexuellen Traumas und dem Terminus, an dessen Stelle er sich dann in einer aktuellen signifikanten Kette setzen wird, ergeht der Funke, der in einem Symptom – Metapher, in der das Fleisch oder aber die Funktion als signifikantes Element erfasst werden – die dem bewussten Subjekt, worin es sich auflösen kann, unzugängliche Bedeutung fixiert. (Sch I: 613.) Das Symptom, selbst ein Zeichen, das »mit Fleisch geschrieben« ist, substituiert ein verdrängtes, traumatisches Element, das aber anwesend bleibt als Überschuss. Das Symptom »stößt den unerträglichen Signifikanten aus der Kette« (Lang 1987: 238), ein Rest dieses Signifikanten bleibt aber an jedem Signifikanten bestehen, der ihn ersetzen soll. Das, was als Rest des verdrängten Signifikanten im Symptom fortwirkt, wird Lacan in seinen späteren Seminaren als Genießen fassen. Das Symptom ist kein Zeichen, das auf etwas verweist, das es zu entschlüsseln gilt. Das Symptom ist das Zeichen, das einen bestimmten, zentralen Signifikanten ersetzt hat. Dieser wirkt im Symptom als rätselhaftes Genießen an einer Stelle, an die es nicht hinzugehören scheint. Die Metapher, die das Symptom strukturiert, beschreibt also wie die Metonymie ein spezifisches Verhältnis von Signifikant und Genießen. Wenn Lacan die Liebe ebenfalls als Metapher versteht, handelt es sich bei ihr, wie ich im Folgenden zeigen werde, um dieses spezifische Verhältnis zum Genießen. Damit ist die Liebe kein kontingentes Ideal im Sinne eines bestimmten imaginären Bildes, sondern definiert als eine Struktur, die individuell gefüllt und interpretiert wird. Diese Struktur lässt sich mit dem Diskurs der Universität, den Lacan in Seminar XVII entwickelt, beschreiben. Liebe und der Diskurs der Universität Lacan entwickelt seine Theorie der vier Diskurse ausgehend vom Diskurs des Herren, den er als den primären bezeichnet und den er aus seiner auf den Signifikantenbegriff bezogenen Subjekt-Theorie ableitet. Durch diese Theorie sind die oben beschriebenen vier Terme definiert, die in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen und so vier Plätze definieren. Damit ergibt sich eine Verdopplung: Die Terme definieren vier Plätze, die sich von ihrem Inhalt ablösen lassen:

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Abb. 8: Erläuterung des Diskursschemas I (XVII: 94)

Schließlich abstrahiert Lacan die Funktion der vier Felder weiter:

Abb. 9: Erläuterung des Diskursschemas II (XVII: 182)

Das ermöglicht ihm, die Terme von ihrem ursprünglichen Platz zu verschieben.36 Jeder Term kann so zum Agenten werden oder zu dem, an den sich der Diskurs richtet. Dabei definiert Lacan den Platz oben rechts einerseits als den anderen, an den sich der Diskurs richtet, aber auch als das, was der Diskurs zu beherrschen versucht (vgl. XVII: 79). Der Diskurs der Universität ergibt sich aus einer Vierteldrehung der Terme: An die Stelle des Agenten rückt nun die Signifikantenkette, während als Gegenüber das Objekt a adressiert wird:

Abb. 10: Diskurs der Universität (XVII: 48)

Mit dem Diskurs der Universität lässt sich die Unterscheidung von Liebe und Begehren anhand der Begriffe Metapher und Metonymie weiter ausbauen. Die metonymische Struktur des Begehrens habe ich bereits mit dem Verhältnis von S1 und S2 im Diskurs des Herren beschrieben. Wenn die Liebe als Gegensatz zur Metonymie des Begehrens die Struktur einer Metapher hat, so ist der Signifikant,

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Theoretisch wären so 24 Diskurse möglich. Lacan bezieht sich nur auf die Diskurse, die aus einer Rotation der Terme entstehen und behauptet ihre Empirie, in der diese zwar kooexistieren, jedoch an unterschiedlichen Punkten der Geschichte auftauchen.

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der in der Metapher ersetzt wird, wie im Begehren der Herrensignifikant. Allerdings wird er nicht in einer horizontalen, sondern in einer vertikalen Beziehung ersetzt. Das Verhältnis von S1 und S2 wird sich also nicht wie im Begehren in der Horizontalen (im vollen Wortsinn) abspielen, sondern in der Vertikalen. Während im Fall des Begehrens der Herrensignifikant in der oberen Hälfte des Mathems bleibt, wird er in der Liebe, die eine metaphorische Struktur hat, in die untere Ebene verdrängt. Die Liebe scheint sich keinem absoluten Herren mehr zu unterwerfen; sie scheint keine Phantasie vollständigen Genießens, die ständig ein Gefühl des Unbefriedigtseins hinterlässt, mehr zu kennen. Jedoch ist Liebe nur zu verstehen als eine Modifizierung des Begehrens. So schreibt Lacan: »Die Liebe ist […] aus der Idealisierung des Begehrens gemacht« (X: 239). Die Allmachtsphantasie, die das Begehren begründet, die gründende Geste der Gewalt, ist in der Liebe scheinbar verschwunden, als Ersetzte wirkt sie jedoch noch nach: Sie ist abwesend anwesend. Diese anwesende Abwesenheit der Gründungsgeste lässt sich mit der höfischen Liebe illustrieren. Liebe als höfische Liebe Liebe ist höfische Liebe, formuliert Lacan in Seminar XXI (zitiert nach Fink 2016: 136). Lacan vergleicht das Auftreten der höfischen Liebe mit dem Erscheinen eines Meteors: überraschend, rätselhaft und in die Geschichte ausstrahlend (vgl. XX: 93), ein Meteor, der den Diskurs der Universität vorwegnimmt. Als Diskurs, der eine Position des Subjekts beschreibt, die sich an ein spezifisches Gegenüber wendet, lässt sich die Liebe als Struktur beschreiben. Dieses strukturelle Verständnis der Liebe ermöglicht es, diese nicht als ein bestimmtes Ideal begreifen, was der Individualität jeder Liebe nie gerecht würde, sondern als eine spezifische Stellung zu Idealen, die sich vom Begehren unterscheidet. Die Epoche der höfischen Liebe datiert Lacan zwischen dem elften und dreizehnten Jahrhundert. Bei der höfischen Liebe handelt es sich – wie Lacan klar macht – in erster Linie um ein literarisches Phänomen; die Existenz tatsächlicher »Liebeshöfe« ist umstritten. Die höfische Liebe zeichnet sich nach Lacan vor allem dadurch aus, dass sie eine »Scholastik der unglücklichen Liebe« (VII: 180) darstellt. Besungen wird eine unerreichbare »Hohe Frau«, zu der aus den verschiedensten Gründen keine Liebesbeziehung realisiert werden kann: Sie ist zumeist bereits verheiratet oder/und von höherem Stand. Gegenstand der Liebesdichtung ist eine ritualisierte Zusammenstellung von Motiven: Das Preisen einer verehrten Hohen Frau, in deren Dienst sich der Dichter zu seiner sittlichen Vervollkommnung gestellt hat, die Klage über die Unmöglichkeit einer Realisierung der Liebe (vgl. Wilpert 2001: 522f). Die Liebe dreht das Gewaltverhältnis des Begehrens scheinbar um: Auffällig ist für Lacan, dass die Liebe in einem Kontext auftaucht, der Frauen extrem abwertet. Frauen sind um das 12. Jahrhundert vor allem Tauschobjekte einer kom-

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plexen Heiratspolitik und zirkulieren als Zeichen der Macht in einem männlichen Beziehungssystem. Lacan nennt verschiedene historische Beispiele wie die zahlreichen Heiraten des Peter von Aragon, der mit jeder Hochzeit seine politische Position strategisch ausbaute und dabei gegenüber seinen Ehefrauen wenig Zartgefühl zeigte. Frauen sind nach Lacan in dieser Zeit »nichts anderes als ein Korrelativ der Funktionen des gesellschaftlichen Tausches, Träger einer bestimmten Zahl von Gütern und Zeichen der Macht.« (VII: 181) Es handelt sich also um den Diskurs des Herren, in dem der Frau als Gegenüber die Funktion zukommt, die Macht ihres Mannes zu bestätigen. Was die Frau attraktiv macht, ist ihre Fähigkeit, Zeichen zu sein. Ich machte dann eine Anspielung auf die höfische Liebe, die an dem Punkt erscheint, wo das hommosexuelle âmusement im äußersten Verfall geraten war, in dieser Art unmöglichem schlechten Traum der sogenannten Feudalzeit. Auf dieser Ebene von politischer Degenerierung sollte es wahrnehmbar werden, dass auf Seiten der Frau etwas war, das durchaus nicht mehr gehen konnte. (XX: 93.) In diesem späten Mittelalter, im zugespitzten Diskurs des Herren der Feudalzeit, sind Frauen also gerade nicht Person; ihre Bedürfnisse, ihre Subjektivität, ihr Begehren spielt keinerlei Rolle, sie sind verschiebbare Objekte in »hommosexuellen« Beziehungen, Beziehungen zwischen Männern hergestellt durch weibliche Tauschobjekte. An diesem historischen Punkt entsteht die höfische Liebe, die mit diesem weiblichen Objekt völlig anders verfährt: Der höfisch Liebende, der sich in den Dienst seiner Dame stellt, dreht die Machtverhältnisse um, unterwirft sich der Machtlosen und macht sie damit zur Mächtigen. Die Liebe wendet sich an das Objekt a, das im Begehren, im Diskurs des Herren, ein realer Rest von Unbefriedigtsein war, das auf eine mögliche Vollständigkeit verwiesen hat. An dieses Objekt a, das Nicht-Genießen und Unbefriedigtsein, das Zugang zum Sein, zum Realen des anderen, zu seinem Begehren verspricht, richtet sich nun die Liebe. Die Liebe erhebt das, was im Begehren Rest oder gar Abfall war, zu ihrem Objekt, zu ihrem anderen, zu dem, was sie beherrschen möchte. Im Bild der höfischen Liebe lässt sich die Fokussierung der Liebe auf das Objekt a als das Begehren nach »dem Begehrenden im anderen« verstehen (VIII: 435). Die Liebe wertet gerade das am Objekt auf, was das Begehren verfehlt, nämlich den Eigenwillen des Objekts. Im Gegensatz zum Begehren, das auf Gegenliebe verzichten kann, beansprucht die Liebe Gegenseitigkeit. Anders als das Begehren, in dem ein Objekt auf das nächste folgen kann, glaubt sich der Liebende mit seinem Gegenüber zu zweit.37 37

Im vierten Kapitel wird die Frage, ob Liebe Zweisein oder Einseinwollen bedeutet, ausführlicher verhandelt, denn »die Liebe ist unvermögend, mag sie auch reziprok sein, denn sie weiß nicht, dass sie nur das Begehren ist, Ein zu sein, was uns heranführt an das Unmögliche, die

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Das Imaginäre in der Liebe Wenn Lacan davon spricht, dass Liebe reziprok ist, lässt das die dyadische Spiegelbeziehung anklingen: Die Liebe bedarf der Wechselseitigkeit, wobei diese Wechselseitigkeit auf das Imaginäre verweist. Diese zentrale Bedeutung des Imaginären zeigt sich in Wahn und Täuschung der Liebe: Als spiegelbildlicher Wahn ist die Liebe wesentlich Täuschung. Sie situiert sich auf dem Feld, das auf der Ebene der Lustbeziehung eigentlich nur durch den einen Signifikanten instituiert wird, den es braucht, eine Perspektive einzuführen, die auf den Idealpunkt, groß I, hin zentriert ist, dessen Ort irgendwo im Anderen ist, von wo aus der Andere mich so sieht, wie ich gerne gesehen werden möchte. (XI: 282.) Lacan greift hier Freuds Idee aus »Massenpsychologie und Ich-Analyse« auf, dass in der Verliebtheit das Objekt an die Stelle des Ichideals gesetzt und so eine psychische Instanz externalisiert wird (vgl. Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], GW 13: 125). Freud problematisierte diese Konstellation: Mit der Externalisierung seines idealen Bilds entzieht das Ich dieses Ideal der Kritik, es wird nicht durch die Realität zurechtgestutzt. Gleichzeitig schweigt die Kritik, die vom Ichideal als Stimme des Gewissens ausging: »in der Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher« (ebd.). Während Freud die Begriffe Idealich, Ichideal und Über-Ich teils synonym, teils nicht trennscharf verwendet, unterscheidet Lacan klar zwischen Idealich und Ichideal und kann so die Konstellation der Verliebtheit genauer beschreiben. Den Unterschied formuliert er folgendermaßen: Es ist angebracht, Ichideal und Idealich radikal zu unterscheiden. Das erste ist eine symbolische Introjektion, während das zweite die Quelle einer imaginären Projektion ist. (VIII: 434.) Das Idealich ist in Lacans Interpretation das Objekt narzisstisch-imaginärer Identifizierung, die ideale Version des Ichs, das nicht durch den Mangel geschlagen ist. Als imaginäre Projektion ist das Idealich ein Bild seiner Selbst, das das Subjekt in seinem Außen vorfindet. Es entspricht also dem Spiegelbild im Spiegelstadium. Dieses Idealbild bringt die zweite Instanz, das Ichideal hervor als den Ort im Symbolischen, von dem aus der Glanz des Idealichs wahrgenommen werden kann. Das Ichideal zentriert also das Symbolische und macht aus dem unverständlich begehrenden Anderen einen verständlichen Anspruch. Wenn in der Liebe nun eine zentrierende Instanz ins Objekt verlegt wird, verliert der Andere seine Rätselhaftigkeit. So entsteht eine imaginäre Dyade, die kein Außen braucht: Der Liebende Beziehung von ihnen herzustellen. Die Beziehung d’eux, wem? – zwei Geschlechtern.« (XX:11) Die Liebe ist eine weitere elegante Art, die Zwei zu vermeiden, da sie – wie auch das Begehren – diese auf das Ein des Herrensignifikanten reduziert.

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ist einzig an der Anerkennung durch sein Liebesobjekt interessiert und glaubt sich in der Lage, den Anderen zu befriedigen. Wenn also der Liebende in seinem Gegenüber das Objekt a erkennt, lässt sich dieses a als »Blick des Anderen« verstehen: Im Gegenüber sucht der Liebende die Instanz, die seiner Existenz Sinn verschafft. Diese Suche nach dem Blick des Anderen im Gegenüber beschreibt Lacan auch als Anliegen der Übertragung: Der Analysand will seinen eigenen Blick auf sich durch den des Analytikers vertauschen (vgl. X: 237), er sucht im Gegenüber eine Autorität, in deren Augen er selbst gerechtfertigt sein könnte. Die Aufwertung des Gegenübers durch die höfische Liebe ist deshalb ambivalent: Zwar ist die geliebte Hohe Frau nicht mehr verschiebbares, willenloses Objekt – Lacan spricht kalauernd in dem Zusammenhang davon, dass man die Frau »diffâmiert« (XX: 92)38 –, jedoch bedeutet das nicht, dass ihr ein individueller Willen zugestanden wird: Auffällig ist in der höfischen Liebesdichtung, dass die verehrte Hohe Frau wenig individuelle Züge trägt. Sie erscheint vielmehr als ein Idealtypus, der sich stets wiederholt: »Auf diesem poetischen Feld ist das weibliche Objekt bar jeder realen Substanz« (VII: 183). Dabei ist das, was die Hohe Frau ausmacht, nicht ihre Eigenschaftslosigkeit, sondern ihre Unerreichbarkeit. Lacan interpretiert sie deshalb als eine symbolische Funktion. Wenn Lacan Freuds Massenpsychologie aufgreift, legt er eine Verwandtschaft zwischen der Liebe und der Unterwerfung einer Masse unter einen Führer nahe. In beiden Fällen unterwirft sich das Subjekt einem ins Objekt externalisierten und so der Kritik entzogenen Ichideal, und ist bereit, ihm jedes Opfer zu bringen. Das Opfer ist für die Liebe ganz wesentlich: In der höfischen Liebe unterwirft sich der Ritter oder Dichter seiner Dame und stellt sein Leben in ihren Dienst. Er opfert ihr seine Existenz, indem er für sie in Kämpfe zieht, verzichtet auf andere möglicherweise befriedigendere Beziehungen, er gibt alles, was er hat, für sie. Dieses Moment des Gebens in der Liebe spitzt Lacan weiter zu, indem er aphoristisch formuliert: Liebe ist »Geben, was man nicht hat« (vgl. beispielsweise VIII: 52). Dieser Satz wird häufig interpretiert als Geben des Mangels (Fink 2016: 33): Während das Begehren auf das Phantasma besteht, dass der Mangel überwindbar ist, und sich weigert, die symbolische Kastration anzuerkennen, setzt die Liebe an ihren Anfang die Kastration: Anders als der Begehrende, für den die Allmachtsphantasie eines kontrollierbaren Genießens charakteristisch ist, tritt der Liebende als unvollkommer auf, er weiß, dass ihm etwas fehlt. So beschreibt Lacan »den Geliebten als denjenigen, der in diesem Paar der einzige ist, der etwas hat.« (VIII: 53). Der Liebende bekennt sich hingegen zum eigenen Mangel, den er mit dem Geliebten in Verbindung bringt. Aus dieser Funktionalisierung des Mangels für die Liebe

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In dieser Formulierung verschmelzen die Aussagen: Man nennt sie Frau, man entseelt sie, man verleumdet sie.

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schließen Autoren wie Bruce Fink, dass Liebe Anerkennung der Kastration bedeutet (Fink 2016: 36). Auch Lacan beschreibt Alkibiades’ Liebesbekenntnis und seine Forderungen an Sokrates als eine »weibliche Szene« (VIII: 201), weil sie sich durch die Abwesenheit von Kastrationsangst auszeichne. Wie ich zeigen werde, bedeutet dieses Bekenntnis zum Mangel jedoch keinen Verzicht auf die Allmachtsphantasie. Wenn der Liebende gibt, was er nicht hat, so gibt er seinem Gegenüber den Phallus. Diese Figur müsste bereits bekannt sein: Etwas wird negiert, um überhaupt zur Existenz zu kommen. Genau so verhielt es sich mit dem Genießen des Herren: Der Herr verzichtet auf das Sein/Genießen, um es dann als absolutes zu erhalten. Dabei ist der Herr eine Fiktion des Subjekts und der Verzicht des Herren auf das Genießen das Moment, das seine Unterwerfung rechtfertigt. In seiner Unterwerfung unter den Herren, mit dem es sein Scheitern im Genießen erklärt, stellt das Subjekt also das Phantasma eines absoluten Genießens her. Diese Verschiebung des Genießens, die es erst hervorbringt, findet auch in der Liebe statt. Das Genießen in der Liebe Freud nennt die zärtliche Liebe »zielgehemmt« (GW 13: 123). Sie sucht augenscheinlich gerade nicht nach (sexueller) Befriedigung. Daran anschließend beschreibt Lacan, dass für die Liebe die »Techniken des Zurückhaltens, des Aufschubs, des amor interruptus« (VII: 187) charakteristisch sind, also das, was nach Freud in den Bereich der Vorlust fällt. Genau das macht den paradoxen Charakter der Liebe aus, denn Liebe bedeutet vor allem, die Liebe selbst zu lieben: »Solange die Lust zu begehren aufrechterhalten wird, das heißt, strenggenommen, die Lust, Unlust zu empfinden, können wir von einer sexuellen Valorisierung der Vorstadien des Liebesakts sprechen« (ebd.). Die Liebe ist also nicht nur der Versuch, Befriedigung zu vermeiden, um das Ende des Begehrens hinauszuzögern.39 In der Liebe entsteht Lust aus der Unlust, indem diese erotisiert wird: Genossen wird nicht die Begegnung mit dem Objekt, sondern der Umstand, dass es gar nicht zu der Begegnung kommt, und die Unbefriedigung, die daraus resultiert. Die Liebe ist also das paradoxe Phänomen, dass aus Unlust Lust wird. Mit dem paradoxen Phänomen eines Genießens der Unlust beschäftigte sich Freud besonders im Zusammenhang mit dem moralischen Masochismus, also dem Phänomen, dass Personen hartnäckig das Leiden suchen – nicht nur das körperliche Leiden, das ihnen die begehrte Person zufügt, wie beispielsweise im erogenen Masochismus, sondern »das Leiden selbst […] es mag auch von unpersönlichen

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Das Begehren endet, wenn es keinen Rest Unbefriedigung mehr gibt, der dem Begehren erlaubt, weiterzuleben. Eine Welt, in der alle Bedürfnisse befriedigt werden, bevor die Erfahrung des Mangels gemacht werden kann, wäre entsprechend eine Welt ohne Begehren. Aus psychoanalytischer Perspektive ist der Traum von dieser absolut befriedigenden Welt deshalb ein Alptraum.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

Mächten oder Verhältnissen verursacht sein« (Das ökonomische Problem des Masochismus [1924], GW 13: 349). Der Masochismus war zu Freuds Zeit ein höchst interessantes Phänomen, da es nicht nur mit der funktionalistischen Medizin unerklärlich, sondern auch für die ökonomische Theorie der Psychoanalyse ein Problem war. Das »Subjekt, das sich gegen sich selbst wendet« (Recalcati 2000: 43) ließ sich weder aus einer positivistischen Klinik, noch aus der ökonomischen Theorie des Lustprinzips erklären. Freuds Beschäftigung mit diesem Problem führte ihn zum Todestrieb, mit dessen Hilfe er den Masochismus als eine Schrift ohne Autor bezeichnen konnte: Etwas im Subjekt drängt gegen seine vermeintlichen vitalen Interessen auf die Ruhe der anorganischen Welt. Wie ein Fremdkörper ist im Subjekt also etwas wirksam und fordert das Gegenteil seiner eigenen Wünsche. Genau diese »Schrift ohne Autor« ist im Symptom und in der Liebe am Werk: S2 , die Schrift selbst, hat sich an die Stelle des Agens gesetzt und scheint kein Subjekt mehr zu benötigen, keine ihr äußerliche Intention, keinen Autor. Freud besteht im Fall des moralischen Masochismus darauf, dass der Schmerz bzw. die Unlust zu etwas dient, das er unbewusste Schuld bzw. präziser: Strafbedürfnis nennt. Der moralische Masochist sucht die Unlust, weil er die Moral sexualisiert (vgl. GW 13: 382). Dabei handelt es sich um eine Gegenbewegung zur Entstehung der Moral: Das Über-Ich als Instanz der Moral entstand aus der Desexualisierung der Elternfiguren. Das so entstandene Verbot diente dem Begehren, indem es sich zur Identifikation anbot und so ein Genießen der Übertretung ermöglichte. Diese Sexualisierung der Moral kehrt diese Entwicklung um: Das desexualisierte Verbot wird sexualisiert, der »Ödipuskomplex neu belebt« (ebd.). Die Sexualisierung des Verbots wird nach Freud zu einem Sadismus gegen die eigene Person. Freud stellt einen Zusammenhang her zwischen diesem Sadismus gegen die eigene Person und der kulturellen Triebunterdrückung: Wenn destruktive Triebe ins Außen zurückgehalten werden müssen, wendet sich die Aggression des Gewissens gegen das Selbst. Wird die Selbstzerstörung libidinös besetzt, mischen sich sexueller Trieb und Todestrieb, was besonders gefährlich ist. Nicht zufällig taucht das Genießen der Unlust im Zusammenhang mit der Moral auf: Massimo Recalcati weist darauf hin, dass für das Verständnis des von Freud beschriebenen moralischen Masochismus wichtig ist, die »moralische Essenz des Masochismus« zu verstehen: Der Masochist fleht nach einem rücksichtslosen und uneingeschränkten Gesetz, um auszuschließen, dass der Andere einen Mangel besitzt. (Recalcati 2000: 55.) Das Leiden des moralischen Masochisten wird nicht selbst genossen, sondern ist Mittel zu einem darüber hinausgehenden Zweck, nämlich durch das Leiden des Körpers, das Abarbeiten an den Grenzen des Lustprinzips, das Gesetz als absolutes hervorzubringen: Das Absolute des Gesetzes zeigt sich darin, dass es an den kontingenten Grenzen des Körpers keinen Halt macht. Der moralische Masochist

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genießt also die Allmacht des Anderen, die er durch sein Leiden beweist. Er sucht durch sein Leiden die Grenzen des Lustprinzips, jedoch nur, um an dieser Grenze die Ordnung aufzurichten. Der moralische Masochist beschäftigt sich mit der Grenze des Lustprinzips, um sich vor dem Jenseits des Lustprinzips, vor dem Realen und der Abwesenheit des Gesetzes, zu schützen. Er opfert sich also dem Gesetz, das ihn vor dem Realen bewahrt. Liebesopfer Dieser Exkurs zum moralischen Masochismus ermöglicht eine weitere Interpretation des Lacan’schen Aphorismus: Zu geben, was man nicht hat, bedeutet dann, sich selbst, das Sein, das man nicht mehr hat, für ein höheres Ziel zu opfern. Lacan illustriert die Liebe mit der auch in Platons »Symposion« erwähnten Alkestis. Sie ist bereit, für ihren Mann zu sterben, und ist deshalb ideale »Verkörperung der Liebe« (VIII: 67). Sie opfert ihr Leben für das Leben des geliebten Gatten, indem sie an seine Stelle tritt und für ihn in den Tod geht. Sie substituiert mit ihrem Opfer also den Gatten im Sinne der Metapher, denn gerade durch das Opfer ihres Lebens wird sie unsterblich. Lacan lässt im Unklaren, ob das Liebesopfer nur geschehen ist, »damit man davon spricht, damit der Diskurs sie für immer unsterblich macht« (VIII: 165). Wenn Alkestis aus Liebe ihr Leben gibt, erhält sie es in absoluter Form, als ewiges Leben zurück. Ihre Bereitschaft zu Sterben macht sie unsterblich. Erst ihr Opfer stellt das her, was sie opfert. Wenn also der Liebende sich selbst dem Geliebten opfert, erhält er dieses Selbst als absolutes zurück. Das Opfer des Selbsts bringt es also erst hervor. Die Liebe in diesem Sinn ist ein Mittel: Sie führt zur Unsterblichkeit. Paradoxerweise entspricht damit die Liebe, die sich im Symposion auf Seiten des Alkibiades zeigt, dem von Sokrates beschriebenen Eros, dem Daimon, der zwischen Menschlichem und Göttlichen vermittelt und zum ewig Wahren, Guten und Schönen führt, zum Absoluten, das sich psychoanalytisch nur als phantasmatisch verstehen lässt. Das Opfer des Selbsts erhöht zum einen das Gegenüber, indem es dieses zum legitimen Anlass eines Opfers macht. Der/die Geliebte wird idealer, je größer das Opfer ist, das der/die Liebende bringt. Zum anderen trägt das Opfer dazu bei, die Unzugänglichkeit des Gegenübers zu sichern. Alkestis’ Liebesopfer besteht in der Trennung von ihrem geliebten Ehemann, wodurch er idealer Gatte bleiben kann. Der Ritter, der sich in den Dienst seiner Dame stellt, reitet auf der Suche nach dem geeigneten Kampf zu ihren Ehren von ihr fort. Das Opfer sorgt also für die Unberührbarkeit des Gegenübers und steht so in Zusammenhang mit dessen Möglichkeit, als undurchdringliche Oberfläche das Ding zu verstecken. So lässt sich auch die Liebe als Vermeidung der Konfrontation mit dem Realen verstehen: Er (der Spiegel; MD) übernimmt aber eine andere Aufgabe – die der Grenze. Er ist das, was man nicht überschreiten kann. (VII: 186.)

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

Der Spiegel in der Liebe ist ein Spiegel, der für eine Begrenzung sorgt. Er markiert die Grenzen des Lustprinzips und verhindert ein Einbruch in das Genießen. Auch die Liebe hält sich an den abgegrenzten Bereich des Lustprinzips und überschreitet die Grenzen nicht, die durch den Herrensignifikanten markiert sind. In diesem Sinn könnte man die Liebe als Versuch betrachten, durch die Idealisierung des Objektes das gefährliche Reale zu bannen und den Herrensignifikanten unbeschädigt zu lassen. Der scheinbare Verzicht auf das Begehren hält so die Bedrohung in Schach, die vom Anderen ausgeht: Alles für den anderen, meinen Ebenbildlichen, verkündet man dabei, ohne darin die Angst zu erkennen, die der Andere (mit einem großem A) dadurch einflößt, dass er kein Ebenbildlicher ist. (Sch II: 109.) Das Opfer des Begehrens gilt keinem radikal Anderen, sondern macht aus dem rätselhaften Anderen einen verstehbaren. Das Opfer erzeugt also die Illusion, den Anderen kontrollieren zu können; es macht den Anderen abhängig: Er, sein Genießen, scheint auf das Opfer des Subjekts angewiesen. Die phantasmatische Leugnung der eigenen Abhängigkeit wird in der Liebe also transformiert in die Annahme der Abhängigkeit des Anderen; dessen Genießen scheint kontrollierbar. Obwohl der Liebende sich ganz seinem Gegenüber unterwirft und so auf jedes Begehren zu verzichten scheint, steckt sein Begehren im Akt der Unterwerfung selbst. So befindet sich der Liebende in einem Paradox, das dem der masochistischen Unterwerfung entspricht: »Sie [die impasse des Masochisten, also die Paradoxie; MD] besteht in der Unmöglichkeit, sich zum Objekt zu machen, ohne dass in diesem Passiv-Machen seiner selbst eine Initiative von Seiten des Subjekts, wie gering sie auch sein mag, zum Vorschein kommt« (Recalcati 2000: 55). Wenn der Liebende sich vollständig dem Geliebten unterwirft, so bleibt doch auf seiner Seite die Entscheidung zur Unterwerfung, die sich nicht aus seinem Objekt ableiten lässt. Diese Entscheidung lässt sich als der Herrensignifikant interpretieren, der im Diskurs der Universität an der Stelle der Wahrheit steht. Mit dieser Stellung des Herrensignifikanten verändert sich dessen Verhältnis zum Genießen: Während im Diskurs des Herren das Genießen jenseits des Signifikanten vermutet wurde – das Verbot markierte jedoch, wo das Genießen zu finden war –, ist das Genießen im Diskurs der Universität mit dem Signifikanten verschmolzen. Es liegt in der Unterwerfung, die das absolute Genießen beim anderen zu erzwingen meint. Unter dem Opfer des Liebenden verbirgt sich also der Herrensignifikant. In diesem Sinne geht die Liebe aus einer Metamorphose des Begehrens hervor, das auf dem Phantasma eines absoluten Genießens basiert, der Vorstellung, dass das Subjekt seinen Mangel durch ein Objekt (Objekt a) endgültig vernähen kann. Die Liebe hält dieses Phantasma aufrecht, es hält am Herrensignifikanten fest. Wie das Begehren ist jedoch auch die Liebe mehrdeutig, da die Terme des Mathems wandelbar sind: S1 kann im Begehren sowohl Phallus sein als auch leerer Signifikant

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des Begehrens des Subjekts. Auch Liebe ist jenseits des Phantasmas denkbar, wenn das Objekt a als Hülle für den Abgrund des Realen steht.

2.5 Liebe und die Würde des Subjekts … die Du mir das Ich gegeben hast, indem Du mich das Du entdecken ließest… Die Liebe ist ambivalent: In der Übertragung steckt sowohl die Gefahr einer Unterwerfung unter eine externe Autorität, die eine Konfrontation mit dem Realen vermeidet, als auch das Potential zur Überschreitung des Phantasmas. Diese Unterscheidung entspricht der Trennung von Hypnose und Analyse, wie sie Lacan in Seminar XI formuliert. Die Hypnose definiert er als »punktuelle Verwechslung des idealen Signifikanten, in dem das Subjekt sich auszeichnet, mit dem a« (XI: 287). Diese Definition entspricht der oben erläuterten Verliebtheit. Der Analytiker habe jedoch die Aufgabe, das a »auf größtmögliche Distanz zum I« zu bringen: Der Analytiker muß von dieser Idealisierung herunter, um Träger des trennenden a sein zu können und zwar, soweit sein Begehren es ihm erlaubt, in einer Art umgekehrter Hypnose, den Hypnotisierten zu verkörpern. (Ebd.) Der Analytiker darf die ihm angebotene Rolle des Ichideals nicht akzeptieren, die ihm erlauben würde, über das Subjekt zu urteilen, Forderungen zu stellen und vorzugeben, es zu kennen. Stattdessen muss er den Platz der Ursache des Begehrens einnehmen. Liebe, die in ihrem Gegenüber auf etwas stößt, was sich nicht zum Ideal machen lässt, sondern zur Ursache des Begehrens wird, hat so das Potential, das Phantasma eines absoluten Genießens zu überwinden. Die ambivalente Schönheit des Objekts Das Objekt der Liebe ist bereits mehrdeutig und keineswegs notwendig Ideal. In Seminar VIII stellt Lacan den Bezug der Liebe auf ihr Objekt mithilfe des Begriffs agalma (άγαλμα) dar. Agalmata sind Schmuckstücke, wertvolle Artefakte, Götterbilder, die in der griechischen Antike als Votivgaben im Tempel geopfert wurden. Im Symposion Platons beschreibt Alkibiades Sokrates als Silen, also eine äußerlich abstoßende Satyr-Figur, die aber wie ein Schatzkästchen – Lacan vermutet, dass Silenfiguren als solche gebräuchlich waren – wertvolle unsichtbare Schätze, Agalmata, enthält. Grund seiner Liebe zu Sokrates ist also nicht eine äußere Schönheit – deren Bedeutung für die Liebe hatten seine Vorredner gepriesen –, sondern etwas Verborgenes. Die Unterstellung, dass Sokrates einen geheimen Schatz verbirgt, wird dadurch ermöglicht, dass er sein Begehren nicht offenbart:

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

Eingeschlossen in das Objekt a ist es das άγαλμα, der unschätzbare Schatz, von dem Alkibiades verkündet, er sei in der hölzernen Hülle verschlossen, die für ihn die Figur Sokrates bildet. Doch beachten wir, dass es mit dem Zeichen (-)versehen ist. Eben weil er Sokrates’ Schwanz nicht gesehen hat – man erlaube uns, das nach Platon, der uns die Einzelheiten nicht erspart, zu behaupten –, preist der Verführer Alkibiades in ihm das άγαλμα, das Wunder, von dem er gewollt hätte, dass Sokrates es an ihn abtritt, indem er sein Begehren eingesteht […] Solcher Art ist die Frau hinter ihrem Schleier: Die Abwesenheit des Penis macht sie zum Phallus, Objekt des Begehrens. (Sch II: 365.) Weil Sokrates für Alkibiades rätselhaft bleibt, sein Begehren nicht offenbart, wird die Vorstellung möglich, dass er etwas verbirgt. Sokrates wird zur Hülle eines Verborgenen. Seinen Wert hat er nicht mehr aus irgendwelchen Eigenschaften heraus, die man ihm zurechnen könnte, sondern weil ihm etwas unterstellt wird. Die Oberfläche, die das Objekt der Liebe präsentiert, kann als Leere dem Realen Raum geben, sie lässt im Objekt das Ding aufscheinen. Als uneinsehbarer Körper, der etwas zu verbergen scheint, steht das Objekt der Liebe in enger Beziehung zu Lacans Begriff der erhabenen Schönheit und mit der Sublimierung. Schönheit ist bei Lacan nicht zu verstehen als harmonische Form oder als Übereinstimmung mit einem kulturellen Ideal: Nicht Alkibiades, der das Ideal männlicher Schönheit verkörpert, ist das Objekt der Liebe, sondern Sokrates’ satyrhafte Gestalt, die plötzlich für ein Verborgenes steht. Das Schöne hat bei Lacan Züge des Kant’schen Erhabenen:40 Es ist eine herrliche Erscheinung, ein »Glanz, der gleichzeitig fesselt und uns einschüchtert« (VII: 298). Diese extreme Wirkung des Schönen leitet sich nicht aus den besonders vorteilhaften Eigenschaften des schönen Objekts ab, sondern aus der Funktion des Objekts für den Betrachter. Lacan erklärt die Schönheit mit Sophokles’ Antigone, einer dramatischen Figur, die er als zwischen zwei Toden stehend beschreibt und die gerade deshalb eine große Wirkung hat. Antigone hat zu Beginn der Handlung versucht, ihren Bruder zu bestatten, den der erste, physische Tod ereilt hat, dem aber aus Gründen der Staatsräson der zweite Tod, die Bestattung und damit die Entlassung aus der sozialen Welt der Lebenden, verweigert wurde. Antigone kümmert sich darum, dass ihr Bruder diesen zweiten, den sozialen Tod erhält und widersetzt sich damit dem königlichen Gebot ihres Onkels Kreon. Sie weiß um die Folgen ihrer Tat, die Todesstrafe, und handelt dennoch gegen das Gesetz. Zur Strafe soll sie, deren Bruder als Toter nicht begraben ist, als Lebende begraben werden. Ihre Schönheit scheint in dem Moment auf, in dem sie, die das Leben liebt, in den Tod geht: Antigone steht in diesem Moment zwischen zwei Toden, denn sie ist bereits tot, obwohl sie

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Die Vermischung von Kants Begriffen des Schönen und des Erhabenen bei Lacan zeigt überzeugend Zupančič (ebd. 1999).

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noch lebt. Durch ihren zweiten Tod wird sie unberührbar, sie steht außerhalb der Gesellschaft der Lebenden, gleichzeitig ist sie voller Sehnsucht nach Leben. Gerade diese Unberührbarkeit in ihrem Begehren bringt nach Lacan ihre Schönheit hervor, denn Schönheit ist das, was nicht berührt werden darf (vgl. VII: 288). Das Berührungsverbot bedeutet eine Grenze für das Subjekt, an der es innehalten muss: Es darf betrachten, aber nicht berühren – sich sein Gegenüber nicht zu eigen machen: nicht begreifen. Damit sorgt die Schönheit dafür, dass das besitzergreifende Begehren in seiner Bewegung stillsteht: »Die Erscheinung des Schönen schüchtert das Begehren ein, sie untersagt es« (VII: 287). Die Schönheit kann nicht assimiliert werden, sie bleibt dem Subjekt äußerlich als undurchdringliche Oberfläche, die ein Jenseits verspricht, ohne dieses Jenseits zu offenbaren. Antigone fungiert als geheimnisvolle Oberfläche für den Betrachter. Ihre Schönheit ist erhabene Schönheit und geht weit über ein imaginäres Ideal als Korrelat des Phallus hinaus, weil sie eine irritierende, verstörende Tiefe hat. Der Moment, in dem ihre Schönheit erscheint, bedeutet im Drama eine Umwertung der Werte: Das vernünftige Gesetz Kreons wird angesichts Antigones Schönheit zum Verbrechen. Antigones Schönheit steht in Zusammenhang mit ihrem Verhältnis zum Gesetz: Mit ihrer Entscheidung, den Bruder zu bestatten, hat sie etwas gewählt, was jenseits des Gesetzes liegt. Lacan betont in seiner Antigone-Interpretation, dass Antigone nicht etwa, wie Hegel auslegt, Kreons Staatstugend das göttliche Recht der Familie entgegenhält, sondern dass Antigone auf etwas zielt, das jenseits des »Ate« (ἄτη) liegt, mit dem ihr Geschlecht geschlagen ist: »weil etwas jenseits der Grenzen der ἄτη für Antigone zum eigensten Gut geworden ist, ein Gut, das nicht das aller anderen ist…« (VII: 324). Lacan besteht darauf, dass ἄτη nicht mit Unheil übersetzt werden sollte und bezieht sich wohl auf eine geläufige Übersetzung (im Deutschen beispielsweise bei Böckh). Er interpretiert Ate als »zugeteilten Sinn« (ebd. 317), als das Übel, das der Mensch für sein Wohl hält (ebd. 324). Mit diesen Formulierungen wird deutlich, dass Antigone nach etwas verlangt, das jenseits der Grenze der symbolischen Ordnung liegt, die zentriert ist auf einen Herrensignifikanten und so Sinn ergibt. Antigones Begehren versteht Lacan als »Todesbegehren«, es zielt auf etwas jenseits des Gesellschaftlichen, auf den sozialen Tod. Antigones Schönheit steht deshalb in doppelter Beziehung zum Tod: Sie scheint auf in dem Moment, in dem der zweite Tod über sie verhängt ist, in der sie als Lebende zur Toten und so der Welt der Sterblichen entzogen wird. Gleichzeitig ist der Anlass ihres zweiten Todes ihr Begehren nach dem, was jenseits der Grenzen des gesellschaftlichen Lebens liegt – sie weist nicht nur die weltlichen Gesetze Kreons zurück, sondern auch das unglückliche Schicksal, das ihre Familie verfolgt und besteht auf ihre davon gelöste Entscheidung. Der zweite Tod hält die Sterblichen von ihrer radikalen Geste fern: Antigone hat eine Grenze übertreten, die der Betrachter, der ihre Schönheit wahrnimmt, nicht übertritt. Lacan bezeichnet das »Trugbildes des Schönen als das, was das Subjekt in seiner Beziehung mit dem Tod leitet, in-

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sofern es durch das Unsterbliche zugleich auf Distanz gehalten und auf sich hin ausgerichtet wird« (VIII: 164). Das Schöne ermöglicht ein »geschütztes« Verhältnis zum Tod und damit zum Realen: Antigones Schönheit als Unberührbarkeit stellt Distanz zum Realen her, das ihren Kern ausmacht. Dieser Kern liegt im ἄτη selbst, dessen Grenze sie überschreiten will: ἄτη lässt sich auch als Verblendung übersetzen. Die Verblendung – das Phantasma – spielt in Antigones Familie eine ganz zentrale Rolle, sie ist Wurzel des Unheils, das die Familie verfolgt: Antigone ist Tochter des Ödipus, des Namensgebers des ödipalen Phantasmas, das ein absolutes Genießen hinter dem Verbot platziert und damit das mütterliche Begehren negiert. Genau diesen Punkt ignoriert Žižeks Deutung der Antigone, denn er heroisiert sie als eine Figur, die den reinen Todestrieb verkörpert und damit aus dem Gesetz heraustritt (vgl. Žižek 2010: 361). Antigones Überschreitung des ἄτη ist die Überschreitung des Phantasmas, jedoch nicht als leere, gegen das Gesetz gerichtete Geste, sondern weil sie dem mütterlichen Begehren zu seinem Recht verhilft. Antigone überschreitet nicht ohne Anlass das Gesetz. Es geht ihr um den Bruder, der in ihren eigenen Worten nicht wie ein Ehemann oder ein Kind ersetzbar ist, sondern als Kind ihrer verstorbenen Mutter unersetzbar und einzigartig ist. Lacan sieht im Begehren der Mutter »den Ursprung von allem«, das Begehren, das sich in den Brüdern Etokles und Polyneikes spaltet in »Macht und Verbrechen« (VII: 339). Weil Kreon seine gesellschaftliche Ordnung auf dem Ausschluss des verbrecherischen Bruders basieren lassen will, wird Antigone »Hüterin des Seins des Verbrechers« (ebd.). Die Produkte der Mutter, Iokastes Kinder, spaltet Kreon in einen verständlichen Teil, der der Ordnung dient, und einen, der ausgeschlossen sein muss, weil er die Ordnung stört. Damit geht er so vor, wie es seinem Schwager gemeinhin unterstellt wird: Das Weibliche macht er zur passiven Ressource seiner Macht, indem er einen wesentlichen Teil seiner Vieldeutigkeit ausschließt und so die bedrohliche Uneindeutigkeit vereindeutigt. Die Verblendung, die auf Antigones Familie liegt, ist der Glaube, das weibliche Begehren ausstreichen zu können. Für diesen verleugneten Teil des mütterlichen Begehrens tritt Antigone ein. Damit vertritt sie das, was »am Signifikanten leidet« (ebd. 146): das Ding. Es ist das Freud’sche »Jenseits des Lustprinzips«, das Lacan nicht auf den physischen, sondern den »zweiten Tod«, nämlich den Ausschluss aus dem Sozialen, zielen lässt. Das Ding ist der bedrohliche Part des mütterlichen Begehrens (des Begehrens des Anderen) – bedrohlich, weil er unbegreiflich ist.41 Ich möchte die Argumentation des fünften Kapitels hier schon vereinfacht vorwegnehmen: Ich werde das Ding

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Den Begriff des Dings als Signifikatsaußerhalb entwickelt Lacan insbesondere im Seminar VII. Im Ding verknüpft sich das mütterlich Reale mit dem Todestrieb und dem Genießen. In späteren Texten taucht der Terminus kaum noch auf, was einer theoretischen Neufassung des Todestriebes geschuldet sein könnte (vgl. auch Recalcati 2000).

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Die Liebe zum Kind

interpretieren als die durch die Abwesenheit der Mutter verursachte Leere, die aus ihrer in Liebesgaben ausgedrückte Anwesenheit das Ergebnis einer Wahl werden lässt. Das Ding ist die undurchdringliche Subjektivität der Mutter, von der das Kind abhängt, eine mit Genießen geladene Zuwendung, die sich in ihrer Abwesenheit unkontrollierbar zeigt. Dass Antigone die Position des Dings einnimmt, geht nach Lacan damit einher, dass sie »den einmaligen Wert des Seins« ihres Bruders behauptet, der »nichts anderes als der Einschnitt, den die Gegenwart der Sprache im Leben des Menschen einrichtet,« (ebd. 335) sei. Antigones Tat bezieht sich auf Polyneikes jenseits seiner konkreten guten oder schlechten Taten, es geht ihr auch nicht um einen halbverwesten Körper. Antigone steht für ihn in seiner Einmaligkeit und Unersetzbarkeit ein, die immer eine sprachliche ist: sein Name, der seine Abwesenheit markiert. Der Signifikant des Namens ist das Gegenüber des mütterlichen Dings, denn er steht für die Unverfügbarkeit des Kindes für die Mutter und ist das Gegenstück der Unverfügbarkeit der mütterlichen Liebe für das Kind. Der Name ist der leere Signifikant, der das Subjekt verspricht, ein Subjekt, dessen Sein der Liebe entzogen bleibt. Das Bestehen auf die Unverfügbarkeit des Genießens, die Bedrohung des ödipalen Subjekts, macht die Schönheit der Antigone aus. Das, was Antigone hervorruft, ist mit der bisher geschilderten Liebe verwandt, denn in ihrer Schönheit begegnet der Betrachtende sich als unverwechselbares Subjekt. Anders als Žižek lese ich Antigone nicht als heroisches Beispiel eines vom Anderen gelösten Subjekts. Vielmehr zeigt sich in Antigone und den Wirkungen ihrer Schönheit die Position des Analytikers, der seinem Gegenüber zu dieser Loslösung verhilft. Am Ende der Tragödie steht nicht Antigones eigene Loslösung von der »Herrenmoral« Kreons, sondern nach Lacan Kreons Befreiung:42 Am Ende von Antigone spricht Kreon von sich nur noch als von einem Toten unter den Lebenden, da er buchstäblich alle seine Güter bei diesem Geschäft verloren hat. Durch den tragischen Akt befreit der Held auch seine Gegner. (VII: 382.) Kreon, der für eine Moral der Güter stand, die Mäßigung des Begehrens zugunsten des objektiv Guten forderte, ist durch Antigones Akt dieser Güter beraubt. Seine 42

Diese Wirkung auf Kreon unterschlägt Judith Butler in ihrer Lacan-Lektüre. Sie liest Antigone bei Lacan als Repräsentantin dessen, was das Symbolische nicht erfassen kann und ignoriert damit ihre Transformation des Ödipalen. In Antigones Tat sieht sie den Anspruch, gehört zu werden, wo das Recht die Artikulation untersagt (vgl. Butler 2007). Wenn Antigone als Ausgeschlossene gelesen wird, die Inklusion fordert, wird ihre Tat auf einen leeren formalen Akt, einen Angriff auf den Herren, reduziert. Antigone in diesem Sinn entspräche der Hysterika, wie ich sie im vierten Kapitel beschreiben werde. Die unterschiedliche Interpretation der Antigone bei Lacan und Butler hängt mit einem grundsätzlich unterschiedlichen Verständnis der Wirksamkeit des Symbolischen zusammen. Zu dieser Differenz beispielsweise Copjec 2004 oder Soiland 2010.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

Werte wurden entwertet, seine Moral diskreditiert. Obwohl er letzter Lebender zwischen Toten ist – am Ende sind nicht nur seine Neffen, sondern auch seine Nichte, seine Frau und sein Sohn tot – beschreibt er sich als Toten zwischen Lebenden und hat damit die Position eingenommen, die Antigone zu Beginn des Stückes für sich beansprucht hat. Auch er ist jetzt »zwischen zwei Toden«: er hat keinen Halt mehr im Anderen, keine scheinbar objektive Logik, die sein Handeln sinnvoll begründen könnte. Er ist von allen Möglichkeiten befreit, sein Handeln im Anderen zu begründen und muss so die Entscheidung im Sinne des »reinen Willens« auf sich nehmen. Wenn Lacan also Kreons Schicksal als eine psychoanalytische Erfahrung deutet, weist er auf die tragische Dimension dieser Erfahrung hin: Durch das Phantasma zu gehen ist schmerzlich, die Psychoanalyse bedeutet einen tragischen Verlust für das Subjekt, den Verlust seiner Güter. Antigone nimmt für den Betrachter die Position des Objekt a ein, jedoch nicht als imaginäres Versprechen eines zugänglichen Realen, sondern als realer Rest, der sich im Objekt entzieht. Sie bezeugt dieses Reale, ohne es in die phantasmatische Struktur zu integrieren. Sie nimmt deshalb eine andere Position als das phantasmatische Objekt ein: Ist es legitim, das Phantasma des Phallus und die Schönheit des Menschenbildes auf die selbe Ebene zu stellen? Oder gibt es zwischen ihnen nicht vielmehr einen unmerklichen Unterschied, eine irreduzible Differenz? (VII: 357.) Lacan beantwortet diese Frage mit dem Unterschied, den die Analyse macht: Die Differenz zwischen einer Liebe, die sich auf das phantasmatische Genießen bezieht und ihr Gegenüber zur Hülle des Phallus macht, und einer Liebe, die im Gegenüber die Schönheit des Dings, die Unverfügbarkeit des Anderen/anderen, erkennt, liegt in dem, »was das Subjekt in der Analyse erobert« (VII: 358): sein eigenes Gesetz, den leeren Signifikanten seines Namens. Hier ergibt sich eine Tautologie: Wenn die Voraussetzung des »Gangs durchs Phantasma« die Konfrontation mit der erhabenen Schönheit Antigones ist, kann nicht die Voraussetzung für die Wahrnehmung ihrer Schönheit der »Gang durchs Phantasma« sein. Diese scheinbare Tautologie erklärt sich durch die Bedeutung der Übertragung für die Analyse. Erst die Liebe, die das Objekt aufwertet, ermöglicht die Konfrontation mit dem Realen. In der Liebe wird ein einzelnes Objekt herausgehoben und zum einzig relevanten Objekt: zur Ursache des Begehrens. Dieses eine Objekt wird in der Liebe zum Repräsentanten des Begehrens selbst. Beispielsweise kann es als Hohe Frau für das stehen, was allgemein als begehrenswert gilt. Es kann das Begehren repräsentieren, weil es wie Sokrates für das Begehren aller relevant erscheint, weil es mit dem Kern des Subjekts in Zusammenhang steht, dem einzigen Zug, der das Subjekt begehren lässt. Die Liebe sucht seinen Kern jedoch im Begehren des Gegenübers und öffnet sich somit für etwas, das die Selbstbeschreibungen möglicherweise durchkreuzt.

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Die Liebe zum Kind

Die Produktivität der Übertragungsliebe Dieses Potential zeigt sich in der Beziehung von Alkibiades und Sokrates. Lacan bleibt bei der Deutung von Sokrates’ Rolle für Alkibiades ambivalent. In Seminar VIII stellt er ihn als Analytiker vor, zugleich besteht er jedoch darauf, dass Sokrates sich grundsätzlich bezüglich seines eigenen Begehrens irrt. Dabei bleibt unklar, ob er dennoch als Analytiker erfolgreich ist, denn das Begehren zu wissen, das er in seinen Schülern initiiert, ist noch zu nahe an dem, was Lacan als Ziel der Analyse ausmacht. Erst mit den vier Diskursen des Seminars XVII lässt sich das, auf das die Analyse zielt, von einem Begehren zu wissen deutlich abgrenzen. Aus der Perspektive dieses Seminars gelingt es Sokrates zwar, die Übertragungsliebe zu mobilisieren, jedoch lässt er letztlich die Phantasmen seiner Schüler unangetastet. Alkibiades versucht, wie er selbst in seinem Liebesmonolog schildert, wiederholt Sokrates zu verführen. Obwohl allen bekannt ist, dass Sokrates großes Interesse an Alkibiades hat, weist dieser ihn zurück. Diese Zurückweisung macht ihn für Alkibiades rätselhaft und zwingt diesen dazu, sich um Verständnis zu bemühen. Sokrates wird zur Silenfigur, er scheint ein Geheimnis zu verbergen, das Alkibiades ergründen muss. Alkibiades beschreibt das Faszinierende an Sokrates als seine Fähigkeit, die Menschen mit seiner Rede zu erschüttern: »wir sind davon besessen« (VIII: 194) reformuliert Lacan. Alkibiades liebt Sokrates nicht wegen seiner Schönheit und auch nicht wegen seiner Weisheit, sondern wegen seines Vermögens, für das Wissen zu begeistern. Diese Begeisterung für das Wissen ist jedoch Ergebnis einer spezifischen Frage-Technik: Sokrates stellt kein besseres Wissen in Aussicht, motiviert nicht durch positives Beispiel, sondern stellt jede Gewissheit seines Gegenübers in Frage. Gerade weil Sokrates dabei bleibt, nichts zu wissen und nie selbst eine Wahrheit formuliert, scheint er mehr als jeder andere Zugang zur Wahrheit zu haben. Als Fragender, der durch seine Fragen Erkenntnisse verursacht, ist er Ursache des Begehrens und nie dessen Befriedigung. Vor diesem Hintergrund ließe sich das Agalma interpretieren als die Illusion einer Wahrheit, die sich hinter Sokrates’ Spiel des Nicht-Wissenden verbirgt. Indem Sokrates mit scheinbar naiven Fragen die vermeintlichen Wahrheiten seiner Gegenüber erschüttert, wird sein Nicht-Wissen zur Maskerade, die eine nie einzulösende Wahrheit verheißt. Das Agalma bestünde dann also in der Wahrheit, seinem absoluten Wissen, das seine Zuhörer hinter seinem Nicht-Wissen vermuten müssen. Sokrates weist Alkibiades ab, »weil Sokrates weiß, dass er es [das Agalma; MD] nicht hat« (VIII: 202). Genau in diesem Punkt täuscht sich Sokrates jedoch über die Natur des Agalma, denn es besteht nicht in seiner Kenntnis der Wahrheit und er besitzt es sehr wohl. Sokrates problematisiert seine Gegenüber, ohne dass er selbst Position bezieht. In Alkibiades’ Fall stellt er durch seine Weigerung, seiner Verführung nachzugeben, dessen Gewissheit in Frage, begehrenswert zu sein. Das unerschütterliche Selbstbewusstsein des schönen Alkibiades wird dadurch gekränkt,

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

sein Maßstab des Begehrenswerten entwertet. Sokrates’ Rätselhaftigkeit bringt ihn aus dem Gleichgewicht: Plötzlich ist er nicht mehr richtig, er muss sich anstrengen und neuen Ansprüchen genügen, die er jedoch nicht verstehen kann. Sein Streben nach Wissen lässt sich als Versuch sehen, seine Attraktivität in Sokrates Augen zu restaurieren. Als Alkibiades mit seiner Lobrede im »Symposion« Sokrates dazu bringen will, sich zu seinem Begehren zu bekennen, reagiert dieser, indem er selbst seine Lobrede auf Agathon hält. Die Aussage dieser Lobrede formuliert Lacan folgendermaßen: »All das, was Du mir da für mich bestimmt sagst, ist für ihn bestimmt.« (VIII: 481). Dabei verhält sich Sokrates wie ein Analytiker, der Alkibiades’ Liebeserklärung deutet. Indem Sokrates Agathon als Liebesobjekt einführt, nimmt er sich aus dem Spiel und übersieht dabei seine eigene Rolle in Alkibiades’ Begehren: Seine Leidenschaft für die Wahrheit ist nur eine imaginäre Hülle für das irritierende Reale, nämlich dass Sokrates Alkibiades begehrt. Sokrates’ Interesse an Alkibiades, das ihm jedoch nicht ausschließlich gilt, sein unergründliches Begehren, beschreibt Lacan als absolut und letztlich unverständlich wie das Begehren der antiken Götter: Deren absolut radikales Begehren fragt nicht nach Erwiderung, denn es lässt sich nicht dazu herab, sich in der »Skala des Begehrenswerten« (VIII: 205) einzuordnen. Das göttliche Begehren bleibt ohne Bezugssystem, es sprengt die soziale Ordnung. Das radikale Begehren von Sokrates ist mit dem Begehren Antigones identisch, das auf den Tod zielt. Lacan deutet diese Beziehung nur an: Nun äußert bei Platon im Philebos Sokrates irgendwo diesen Gedanken, daß das Begehren, das von allen Begierden stärkste Begehren, eben das Begehren des Todes sein muß, da die Seelen, die im Erebos sind, darin bleiben. Das Argument ist wert, was es wert ist, nimmt hier aber einen veranschaulichenden Wert für die Richtung an, in der sich, wie ich Ihnen bereits angezeigt habe, die Reorganisation, die Restrukturierung des Begehrens beim Analytiker begreifen ließe. (VIII: 234.) Dass Sokrates den Gedanken äußert, dass die Seelen leidenschaftlich den Tod wählen, ist kein starkes Argument. Lacan deutet jedoch an, dass Sokrates den Tod nicht als etwas Bedrohliches wahrnimmt, gegen das es sich zu wappnen gilt, sondern als etwas Faszinierendes. Und letztlich hat sein Begehren wie das der Antigone die tödliche Konsequenz des Schierlingsbechers. Sokrates’ Botschaft an Alkibiades lässt sich nach Lacan zusammenfassen als: Kümmere dich um deine Seele (VIII: 224). Denn Sokrates hat Alkibiades’ Wohl vor Augen – ein Wohl, für das nur dieser selbst Verantwortung übernehmen kann. Er weiß, dass er selbst keine Macht darüber hat: Was Sokrates weiß und was der Analytiker zumindest ahnen muß, ist dies, daß auf der Ebene des klein a die Frage eine ganze andere ist als die nach dem Zu-

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gang zu irgendeinem Ideal. Die Liebe kann diese Insel, dieses Feld des Seins nur umkreisen. Und der Analytiker wiederum kann nur denken, daß irgendein Objekt es ausfüllen kann. Da sehen Sie, wohin es uns Analytiker gebracht hat, über dieser Grenze zu schwanken, an der sich, mit irgendeinem Objekt einmal in das Feld des Begehrens eingetreten, die Frage stellt – was bist du? Es gibt kein Objekt, das einen höheren Preis hätte als ein anderes – das ist hier die Trauer, um die herum das Begehren des Analytikers ausgerichtet ist. (VIII: 481.) Alkibiades bietet Sokrates die Rolle des privilegierten Objekts an. Er erkennt in ihm das Agalma, das verlorene Sein. Obwohl Sokrates weiß, dass es kein phantasmatisches Objekt gibt, verweist Sokrates Alkibiades mit seiner Deutung an ein weiteres Objekt und lässt ihn so im Phantasma. Letztlich scheitert Sokrates also als Analytiker, er bringt Alkibiades nicht an den Punkt, an den Antigone Kreon gebracht hat.43 Sokrates irrt sich bezüglich seines Agalmas, seines göttlich-absoluten Begehrens, das sich der Integration in ein Bild phantasmatischer Vollkommenheit entzieht. Dieses absolute Begehren ist das Begehren des Analytikers: Der Analytiker ist der, der nicht das »Unmögliche begehrt« (VII: 358), sein Glück nicht in einem Objekt vermutet. Das Begehren des Analytikers liegt jenseits der ödipalen Phantasie eines absoluten Genießens, denn es fordert kein absolutes hingegebenes Objekt, ja, es fordert sogar die Freiheit seines Gegenübers. Dieses rätselhafte Begehren des Analytikers wird unter anderem Gegenstand des fünften Kapitels sein. Sokrates jedoch gibt sich in diesem Begehren nicht zu erkennen. Stattdessen maskiert er sich, gibt sich als geheimnisvolles Kästchen und bringt Alkibiades dazu, sein Begehren in Liebe umzuwandeln. Diese Liebe bedeutet für Alkibiades das Streben nach Wissen. Weil er den Maßstab verloren hat, der ihm den Zugang zu seinem idealisierten Objekt versprochen hat, muss er nach dem suchen, was ihn in den Augen Sokrates’ auszeichnen würde. Weil er Sokrates liebt und in ihm das ideale Objekt sieht, von dem er sich Zugang zum Absoluten erhofft, versucht er ihn mit Vorträgen über die Liebe zu gewinnen: Vorträgen, die Sokrates nie gut genug sein werden. Liebe und Scheitern In der Liebe entwertet sich das Subjekt und wertet dabei das Objekt auf. Objekt der Liebe ist eine imaginäre Projektion: das Objekt tritt an die Stelle des Ichideals. Damit das Objekt als Ichideal fungieren kann, muss es unerreichbar sein: Das Objekt der Liebe wird gerade nicht »konsumiert« wie im Begehren, sondern bleibt auf Distanz. Das Genießen der Liebe ist somit selbstgenügsam, es kommt im Gegensatz

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Im vierten Kapitel werde ich mit dem Diskurs der Hysterika ein Mathem für Sokrates einführen.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

zum Begehren nicht vom anderen, sondern speist sich aus der unendlichen Kette der Gesten, mit denen das Subjekt sein Begehren substituiert: S2 steht im Mathem des Diskurses an der Stelle des Agenten und hat S1 ersetzt, ein Teil des verdrängten Genießens wirkt jedoch in den Signifikanten weiter, die das Verdrängte ersetzt haben. In der Liebe kommt an die Oberfläche, was das Begehren als ewig Verfehltes angetrieben hatte: das Objekt a, das auch als das im Objekt interpretiert werden kann, was dem Signifikanten entgeht, das Reale. Deshalb steckt in der Liebe das Potential zur Überschreitung des durch den Herrensignifikanten beschränkten Lustprinzips. Die Analyse macht sich dieses Potential zunutze und macht die Übertragung fruchtbar. Jedoch ermöglicht die Liebe auch außerhalb des analytischen Settings die Begegnung mit dem Realen, denn die imaginäre Aufwertung des anderen, seine Einsetzung als Idealich, ist immer prekär. Das Objekt der Liebe kann zur Hülle für das Reale werden und dem Subjekt eine Begegnung mit dem ermöglichen, was das Phantasma verborgen hat, mit der Unverfügbarkeit des Objekts. Zur Hülle für ein Reales wird das Objekt, wenn es sich als ein begehrendes Subjekt erweist, dessen Begehren für den Liebenden unverständlich bleibt. Das Begehren des anderen ist unverfügbar und an dieser Unverfügbarkeit hängt die Würde des Subjekts: Dieses Objekt wiederum [das Objekt der Liebe] ist überbewertet. Und insofern es überbewertet ist, hat es die Funktion, unsere Würde als Subjekt zu retten, das heißt aus uns etwas anderes als ein dem unendlichen Gleiten des Signifikanten unterworfenes Subjekt zu machen. Es macht aus uns etwas anderes als ein Subjekt des Sprechens, eben dieses etwas Einmaliges, Unschätzbares, Unersetzliches letzten Endes, welches der wahrhafte Punkt ist, an dem wir das auszeichnen können, was ich die Würde des Subjekts genannt habe. (VIII: 215.) Im Mathem des Diskurses der Universität steht $ an der Stelle, die Lacan als die der Produktion oder des Verlusts bezeichnet (XVII: 94). Im Diskurs des Herren stand an dieser Stelle das Objekt a, das unmögliche Objekt, das nie erreicht wird und deshalb den Diskurs am Laufen hält. Zugleich entstand das Objekt a im Diskurs des Herren erst als Überschuss, der sich aus dem Fortschreiten der Signfikantenkette ergab. Im Diskurs der Universität tritt $ an diese Stelle, die Anlass für den Diskurs ist, sich fortzusetzen. $ ist definiert als das barrierte Subjekt, das der Signifikant einem anderen Signifikanten repräsentiert. Wenn Lacan davon spricht, dass die Seele ein Effekt der Liebe ist (XX: 182/91), lässt sich $ als diese »Seele« interpretieren, als das, was über den sterblichen, zählbaren Körper hinausgeht, aber auch nicht im Signifikanten aufgeht. $ nennt Lacan auch Hypokaimenon, den Träger oder Substrat, das frei von Eigenschaften ist und sich hinter S1 als Namen und leerer Kern der Identität verbirgt. Dieses Subjekt hinter dem Signifikanten produziert die Liebe, indem sie es permanent verfehlt. Liebe lässt sich so als (die Illusion ei-

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ner) Seelenverwandschaft beschreiben: Liebe gelingt temporär, wenn Indizien den Glauben an diese Seelenverwandschaft ermöglichen, jedoch sprechen schon bald andere Indizien dagegen. Der Liebende sucht in seinem Gegenüber die Ursache seines Begehrens und damit die Antwort auf die Frage nach der eigenen Bedeutung: Im Geliebten sucht der Liebende sich selbst. Diese Suche muss zwangsläufig und doppelt scheitern. Wie der Diskurs des Herren ist der Diskurs der Universität durch eine Unmöglichkeit und ein mit dieser korrespondierendes Unvermögen bestimmt. So ist es zum ersten unmöglich, das zu sein, was das Gegenüber begehrt. Egal, wie sehr sich der Liebende verausgabt, er kann sich nicht sicher sein, dass er das Gegenüber damit überzeugt. Zahllose Liebeslieder zeugen von dieser Unmöglichkeit: Obwohl Liebende zahlreiche Opfer bringen, obwohl sie die verrücktesten Dinge unternehmen, obwohl sie bereit sind, jedes Leiden in Kauf zu nehmen, sich zu verleugnen und sich komplett den Wünschen ihres Gegenübers anzupassen, werden sie von den Angebeteten verschmäht. Kein Opfer kann das Begehren des Anderen erzwingen. Diese Unmöglichkeit ist zweitens begleitet von einem Unvermögen, das sich auf der unteren Seite des Diskursmathems zeigt: Zwischen dem Produkt des Diskurses, $, und S1 , dem Signifikanten der Entscheidung für die Unterwerfung unter den andern, besteht kein Zusammenhang, S1 lässt sich nicht aus $ erzeugen und umgekehrt. Diese Inkongruenz von S1 und $ lässt sich verstehen als das Nicht-Verhältnis von dem, was das Begehren des Subjekts ausmacht, und dem, wofür es vom Gegenüber geliebt wird. Auch wenn der Liebende alles dafür tut, wieder geliebt zu werden, bleibt ihm letztlich unverständlich, was der Geliebte in ihm sieht. So sehr er sich um Spiegelung im Gegenüber bemüht, so sehr er in ihm Halt sucht, nie erreicht er den Punkt abschließender Befriedigung, in dem er vollständig durch die Augen des Geliebten gerechtfertigt ist und sich in dieser Bestätigung wiedererkennt. In der Erwiderung der Liebe muss sich der Liebende zwangsläufig verfehlt fühlen: Denn, wie bereits dargestellt, werden wir nie für das geliebt, was wir sind, sondern dafür, was wir zu haben scheinen. Die Begegnung mit dem Gegenüber spaltet also das Subjekt: Es ist eben nicht nur das, was das Objekt gewählt hat und dessen Begehren durch sein Objekt repräsentiert ist, sondern ein Überschuss zu dieser Wahl. Dieser Überschuss, $, bleibt nicht mehr als ein Versprechen. Weil $, die verborgene und ewig versprochene Wahrheit des Subjekts, nie erreicht wird, setzt sich der Diskurs der Liebe fort. Weil dem Liebenden immer ein Geheimnis bleibt, was der Geliebte in ihm sieht, was er von ihm will, hält er an seiner Selbstsuche im anderen fest. Folglich lässt sich das Ende der Liebe als der Moment verstehen, in dem das Subjekt Klarheit findet, was der andere von ihm will, und sich darin erniedrigt fühlt. Diesen Moment nennt Lacan einen »Gewissensbiss«, der für die »Schwankungen der Liebe« (VIII: 480) verantwortlich ist:

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Wenn dieses Objekt sich so entzogen hat und wenn das bis hin zur Selbstzerstörung ging, war es also nicht der Mühe wert, […] dass ich mich für es von meinem wahren Begehren abgewandt habe. (Ebd.) Es ist das Gewissen, das das Subjekt in seiner selbstzerstörerischen Unterwerfung in der Liebe bremst. Jener »Gewissenseinwurf, gemacht von einem der zwei geschlechtlichen Sein gegen den dem anderen zu erweisenden Dienst« (XX: 12) ist nichts anderes als das partikulare Genießen: Vielleicht liegt da die Bedeutung der Nächstenliebe, die mir die wahrhafte Richtung wiedergeben könnte. Dazu müsste man versuchen, sich der Tatsache zu stellen, dass es der Genuss meines Nächsten ist, sein schädlicher, sein böser Genuss, was sich meiner Liebe als das wirkliche Problem stellt. (VII: 227.) Das Liebesgebot Liebe deinen Nächsten und das damit verbundene Opfer des eigenen Genießens funktioniert nur so lange, wie sich der Nächste nicht in seinem partikularen, ambivalenten und immer fremden Genießen zeigt. Der Verzicht, auf dem die Liebe basiert, benötigt ein Gegenüber, das ebenfalls enthaltsam ist. Die Grenze der Liebe findet sich also im Genießen des Gegenübers, denn dieses Genießen weist darauf hin, dass es letztlich fremd, unverständlich und irreduzibel anders ist und sich nicht mit dem deckt, was das Subjekt anbieten kann. Das Genießen des Nächsten stört die Vorstellung einer Gleichheit und macht darauf aufmerksam, was über die Gegenseitigkeit der Abhängigkeit hinausweist. Die Nächstenliebe wird unmöglich, wo das Gegenüber zu nahe rückt, wo es seine genießende Seite zeigt und die oberflächliche Illusion eines körperlosen Spiegels stört. Jedoch liegt genau in diesem Punkt das Potential der Liebe: Dort wo sich die Liebenden verfehlen, erkennt Lacan die Würde des Subjekts, die er mit seiner Subjekttheorie gegen einen Strukturalismus verteidigt, der das Subjekt als vollständig von der Struktur determiniert sieht. Die Würde des Subjekts als etwas, das jenseits der symbolischen Ordnung liegt, hängt an der Begegnung mit dem konkreten anderen, dessen Genießen sich als rätselhaft und mit dem Subjekt unverbunden herausstellt. Gerade dadurch, dass die identifizierende und vereinnahmende Bewegung der Liebe scheitert, ermöglicht sie ein Moment der Freiheit zu denken. Jedoch zeigt die Beziehung zwischen Alkibiades und Sokrates, dass es zu dieser Begegnung nicht kommen muss: Ob ein Liebender sich im Gegenüber neu erlebt, hängt an der Bereitschaft des Gegenübers, sich aufs Spiel zu setzen. Diese Voraussetzung werde ich im fünften Kapitel genauer untersuchen. Durch das Umschlagen der Liebe in Hass, durch ein Abwenden vom Objekt, eine Rückkehr zum Begehren, entgeht das Subjekt dieser Begegnung.

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2.6 Schluss: Die Liebe, das Sexuelle und die Pädagogik Die Analyse zeigt, dass die Liebe in ihrem Wesen narzisstisch ist und verrät, dass die Substanz des vorgeblich Objektalen – Bluff – in der Tat das ist, was, im Begehren, Rest ist, nämlich seine Ursache und Träger seiner Unbefriedigung, ja, seiner Unmöglichkeit. (XX: 11.) Lacan singt kein Loblied auf die Liebe; ihm lässt sich nicht vorwerfen, er predige das »Evangelium der Liebe«, wie Siegfried Bernfeld es den Reformpädagogen unterstellt (Bernfeld 1973 [1925]: 57). Stattdessen ist seine Liebestheorie anschlussfähig an Bernfelds Anliegen, pädagogische Liebe jenseits des schwärmerischen Pathos zu untersuchen und ihre Beziehung zum Sexuellen herauszuarbeiten. Statt die Liebe zu idealisieren und aus dieser Idealisierung eine Handlungsanweisung abzuleiten, thematisiert Lacan die Notwendigkeit der Idealisierung selbst, die mit der Liebe verbunden ist. Der inhärente Bezug der Liebe auf die Idealisierung macht die Liebe als theoretische Figur für die Pädagogik besonders dann interessant, wenn man wie Bernfeld beobachtet, dass in pädagogischen Kontexten Idealisierungen eine bedeutsame Rolle spielen. Pädagogen, spottet Bernfeld, verschreiben sich in besonderem Maße großen Idealen und geben sich mit nichts Geringerem zufrieden als dem »Dank der Menschheit« (ebd. 142). Mit Lacan können diese Idealisierungen als Bestandteil der Liebe betrachtet werden, die in Zusammenhang mit der Verdrängung des Sexuellen stehen. Zusammenfassung: Ein strukturaler Begriff der Liebe Die Liebe ist bei Lacan – wie auch das Begehren – ambivalent: Weder ist sie abzulehnen, noch taugt sie, für eine psychoanalytische Praxis und darüber hinaus, als Ideal.44 Lacans ambivalenter Liebesbegriff macht es unmöglich, daraus eine Liebeslehre oder einen Beziehungsratgeber zu entwickeln. Die mit der theoretischen Beschäftigung mit der Liebe so häufig verbundene Frage nach einem praktischen Rat in Liebesdingen kann er nicht beantworten. So hilft er wenig dabei, zwischen problematischer und weniger problematischer, zwischen guter und schlechter, angemessener Liebe und pathologischer Versessenheit zu unterscheiden: Im Kern ist für Lacan jede Liebe problematisch. Darüber hinaus erübrigt sich die Frage nach einer Liebe ohne Leiden, da sich Liebe durch ihre Beziehung zur Unlust definiert. Schließlich muss man jedem Beziehungsratgeber, der Hilfestellungen zur Vermeidung von Enttäuschungen gibt, mit Lacan entgegenhalten, dass die Enttäuschung als Konsequenz der Täuschung zwangsläufig mit der Liebe verbunden ist. Lacans generelle Problematisierung der Liebe beinhaltet jedoch keine Forderung, deshalb

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So widerspricht Lacan beispielsweise Balint, der die Liebe zum Ideal der psychoanalytischen Kur macht (vgl. Evans 2002: 175).

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

auf die Liebe zu verzichten. Gerade weil die Liebe es vermag, aus Unlust Lust werden zu lassen, hat sie für das Subjekt große Bedeutung. Wenn Lacan der Liebe bescheinigt, Unerträgliches erträglich zu machen, gesteht er ihr durchaus wichtiges Potential zu. Liebe ist bei Lacan eine Modifikation des Begehrens. Diese Modifikation habe ich mit den Diskursmathemen aus Seminar XVII dargestellt. Mit dem Diskurs der Universität habe ich die Liebe als eine Struktur fassen können, die sich nicht durch ein spezifisches imaginäres Ideal auszeichnet, sondern ein Verhältnis zu Idealisierungen beschreibt. Dazu habe ich die Liebe als Sublimierung des Begehrens beschrieben: Sie verdrängt die für das Begehren zentrale Gründungsgeste und erhebt das, was in jenem nur Abfall oder nicht integrierbarer Überschuss war, das Begehren des Gegenübers, zum privilegierten Objekt. Obwohl sie sich also am Gegenüber auszurichten scheint, ist die Liebe nicht »selbstlos«. Weil sie ihre Wurzel im Begehren hat, bezieht sie sich immer auf dessen Gründungsgeste. Um die Liebe genauer zu verstehen, habe ich zunächst das Begehren beschrieben. Da dieses im Zentrum der Lacan’schen Subjekttheorie steht, war es nötig, deren Grundgedanken zu rekapitulieren. Lacan leitet die metonymische Struktur des Begehrens aus der Sprachlichkeit des Subjekts ab: Da das Subjekt seinen Objekten nur durch Sprache vermittelt begegnen kann, verfehlt es diese zwangsläufig. So entsteht ein realer Rest, eine permanente Unzufriedenheit, die das Begehren antreibt. Das Begehren basiert also auf dem Phantasma einer Vernähung von Signifikant und Signifikat, das sich mit Lacan als Phantasie eines absoluten, vollständig kontrollierbaren Genießens verstehen lässt. Das Gegenüber im Begehren ist immer ungenügend, so dass es notwendig durch das nächste Objekt ersetzt werden muss oder bis in seine Tiefen befragt wird »bis zu dem Punkt, an dem die Frage mit der Zerstörung des Objekts zusammenfällt« (VIII: 474). Das Begehren ist durch das Phantasma strukturiert, das sich auf einen mit dem Vater verbundenen Signifikanten der Allmacht bezieht. Als solches hat es keinen normativen Gehalt, schließlich definiert Lacan es als »Schirm, dessen Funktion es ist, ein absolut Erstes, in der Funktion der Wiederholung Determinierendes jedem Zugriff zu entziehen.« (XI: 66). Das Phantasma, das Versprechen des Herrensignifikanten, dass der Verlust, den das Subjekt beim Eintritt ins Symbolische erlitten hat, wieder gut gemacht werden kann durch ein Objekt, das den Mangel ausgleicht, ist nur Schutz vor einer traumatischeren Erkenntnis: Dass es dieses verfügbare Objekt so nie gegeben hat. Das Begehren bleibt also trotz seiner metonymischen »Raserei« an die Grenzen des Lustprinzips gebunden: Das Phantasma schützt vor einem traumatischen Genießen jenseits des Lustprinzips und damit vor dem Realen des anderen. Der Aufrechterhaltung dieses Phantasmas opfert das Subjekt die Andersheit seiner Gegenüber, die es reduziert auf Zeichen seiner Macht. Dieses Begehren habe ich im Diskurs des Herren formalisiert gefunden. Die Beschreibung des Begehrens mit diesem Diskurs legt eine Verbindung zwischen

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der unmöglichen Tätigkeit des Regierens und dem Begehren nahe. Das Begehren hat wie die Herrschaft seinen Ursprung in der Gründungsgeste, die den Herren zum Herren machte, der Bereitschaft zum Kampf auf Leben und Tod, die eine Abhängigkeit vom anderen leugnet. Das Mathem des Diskurses des Herren zeigt jedoch, dass das Regieren stets scheitert bzw. einen Überschuss produziert, den es nicht integrieren kann: Objekt a ist zugleich Ursache der endlosen metonymischen Bewegung des Begehrens und das, was sich ihm unendlich widersetzt. Dieses Objekt a lässt sich zum einen als Eigenlogik, als Reales des Objekts oder als Begehren des konkreten anderen interpretieren, zugleich ist es jedoch phantasmatisches Objekt des Begehrens des Anderen: das Objekt, das den Mangel des Anderen als Signifikantenstruktur vernähen würde. Die Liebe richtet sich nun genau an dieses Objekt a und ist deshalb als Antwort auf ein Scheitern des Begehren zu verstehen. Die Liebe kompensiert also (scheinbar) das Verfehlen des anderen im Begehren. Sie erhebt ihr Objekt zu dem, was im Begehren nie erreicht wird. Diese Erhebung des Objekts zum Objekt a ist die für die Liebe bedeutsame Idealisierung: Das Objekt wird zu etwas, das mehr ist als es selbst, nämlich zu dem phantasmatischen, den Mangel ausfüllenden Objekt. Das geliebte Gegenüber wird dadurch zwar aufgewertet, wird jedoch trotzdem reduziert auf etwas, das mehr ist, als es selbst: Ich liebe Dich, weil aber, unerklärlich, ich in Dir etwas liebe, das mehr als Du – das Objekt klein a, muss ich Dich verstümmeln. (XI: 282.) Die Liebe mäßigt die Geste der Gewalt, die dem Begehren innewohnt, indem sie seine gewaltvolle Geste verdrängt und das Gegenüber aufwertet. Jedoch ist auch die Liebe nicht in der Lage, eine Beziehung zum anderen als radikal verschiedenem herzustellen. Sie wiederholt das Problem, das im Begehren entstand, nämlich die Trennung des Signifikanten-Subjekts von einem realen Rest, der bedrohlich und verschlingend erscheint. Indem die Liebe ihr Gegenüber zum phantasmatischen Objekt a erhebt, gerät dieses in die Position, den Blick des Anderen zu verkörpern und so dem Subjekt Halt zu geben. Die Idealisierung ermöglicht der Liebende durch seine Unterwerfung: Erst durch sie stellt der Liebende diese als Hülle von Objekt a her. Indem sich das liebende Subjekt seinem Objekt unterwirft, hält es dieses auf Distanz, so dass es sein Versprechen auf das Objekt a bewahren kann. Durch die Unterwerfung erzeugt das Subjekt die Illusion eines abhängigen Anderen. Die Grenze des Lustprinzips, die immer auch eine Grenze zum anderen hin ist, stellt der Liebende also durch seine Unterordnung her. Wie das Begehren beschreibt Lacan die Liebe dabei als eine diskursive Struktur, die nicht anhand bestimmter Inhalte oder Eigenschaften erkennbar ist, sondern diesen individuellen Inhalten und Eigenschaften einen bestimmten vorstrukturierten Raum gibt. Liebe wird bei Lacan nicht als eine von einem externen Standpunkt beobachtbare Beziehungsform, sondern nur aus der Perspektive des Liebenden beschrie-

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

ben.45 Obwohl Liebe Erwiderung fordert, ist eine bestimmte Reaktion des Gegenübers für ihre Definition nicht relevant. Selbst wenn Liebe erwidert wird, verfehlen sich nach Lacan die Liebenden. Dieses gegenseitige Verfehlen in der Liebe will ich zum Schluss des Kapitels mit der rührseligen Weihnachtsgeschichte »Das Geschenk der Weisen« von O. Henry illustrieren (Henry 2018). Die Geschichte erzählt von zwei jungen Eheleuten, die jeweils, um dem anderen ein Geschenk zu machen, das opfern, was ihnen selbst das Wertvollste ist: So versetzt der Protagonist James seine Uhr, sein einziges wertvolle Erbstück, um seiner Liebsten Della Schmuckkämme für ihre wunderschönen Haare zu schenken. Diese hat jedoch ihre Haare verkauft, um ihm wiederum eine Kette für seine Uhr zu kaufen. Die Geschichte ist aus verschiedenen Gründen eine Metapher für Lacans Konzeption der Liebe. Beide Protagonisten geben auf, was ihnen das Wertvollste ist und damit das, was sie ausmacht. Sie bringen das denkbar größte Opfer, nämlich das, was sie als literarische Figur charakterisiert. Jedoch sind beide Geschenke im Moment des Schenkens sinnlos – die Uhrenkette ohne Uhr, die Kämme ohne Haare. Bei genauerem Hinsehen geben die Liebenden nicht nur ihr Wertvollstes, sondern sie geben – in Lacan’scher Formulierung – gerade das, was sie nicht haben. Die wertvolle Uhr ist zu nichts nütze; James schämt sich, sie zu zeigen, weil sie an einem ärmlichen Lederband hängt. Als einziges Erbstück ist die Uhr ein Zeichen für das, was nicht vererbt wurde, für das fehlende Vermögen, das das Leben des jungen Paares bestimmt und verhindert, dass James die Wünsche seiner Frau so erfüllen kann, wie er das gerne würde. Genauso verhält es sich mit Dellas Haaren: Sie lassen sich verstehen als das, was sie begehrenswert macht. Zugleich ist diese Schönheit nichts, worüber sie verfügen kann: Ihr fehlen Kämme, mit denen sie ihr Haar schmücken kann. Das Geschenk des jeweiligen anderen stellt jedoch das Aufgegebene in metaphorisierter Form wieder her und und bestätigt es so in seiner Bedeutung. Die Uhrenkette bestätigt die Bedeutsamkeit der Uhr als wichtiges Erbstück, sie signalisiert ein Vermögen, wo nie eines war – auch wenn die Uhrenkette ohne Uhr ähnlich funktionslos bleibt wie die Uhr ohne Kette. Genauso würdigen die Kämme die Bedeutung von Dellas Schönheit, auch wenn sie für die Kurzhaarfrisur nicht verwendet werden können. Die Liebenden der Geschichte schaffen es also, sich in dem Opfer des anderen selbst zu erkennen, sich gemeint zu fühlen. Sie geben sich auf – etwas, das sie nie hatten – und erhalten sich in neuer, metaphorisierter Form zurück. Sie bestätigen sich gegenseitig in dem, was sie zu sein glauben. Diese Liebe ist Seelenverwandtschaft: Im Gegenüber erkennen beide Liebenden das, was sie für das ihr Eigenstes halten. Der oder die Geliebte fungiert somit in der Liebe als der Spiegel des Spiegelstadiums: Er stellt eine Form, eine illusionäre Ganzheit, her, die es ohne ihn nicht gäbe. Der oder die Liebende sieht seine 45

Diese Vorgehensweise korrespondiert mit Lacans These, dass es keine Metasprache gibt (Sch II: 350), keinen objektiven Ort jenseits des Subjektiven.

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ganze Subjektivität, sein Schicksal, das, was ihn ausmacht, in seinem Gegenüber. Er macht es zur Ursache seines Begehrens und so zum Kern seiner Existenz. Die Liebe ist eine Modifizierung des Begehrens, weil das Phantasma des vollständigen Genießens, das das Begehren auszeichnet, in der Liebe ins Gegenüber verschoben ist. Nun ist jedoch die Pointe der Geschichte, dass die Liebenden selbst nicht mehr das haben, was sie für ihr Pfund hielten: Das, was sie in den Augen des anderen hätte liebenswert machen sollen, haben sie aufgegeben. Somit ist das Opfer auch ein Test: Wird James Della auch ohne ihre wunderschönen Haare lieben? Wird sie noch den Mann ihres Lebens in ihm sehen können ohne seine Uhr? Das Opfer bestätigt den Liebenden jeweils, dass sie für ihr »wahres Selbst« jenseits jedes konkreten Signifikanten geliebt werden – ein »wahres Selbst«, das nur als Negation sichtbar wird: Es ist jedenfalls nicht die Uhr bzw. die Haare, sondern bleibt unausgesprochen und undefiniert. Lacans Aphorismus, Liebe sei »geben, was man nicht hat« (VIII: 52), ergänzt Žižek: »jemandem, der es gar nicht will« (Žižek 2008: 64). Diese Formulierung lässt sich hier so verstehen, dass es zentraler Bestandteil des Opfers ist, das Begehren des anderen zu prüfen: Liebe bedeutet, sich aufzugeben, um vom Gegenüber trotzdem geliebt zu werden. Bestimmt werden die beiden noch einige Opfer bringen, um sich selbst und gegenseitig zu beweisen, dass ihre Liebe auf dieses »wahre Selbst« zielt. An diesem Punkt zeigt sich, was die Liebe scheitern ließe: nämlich der Eindruck, dass der andere doch etwas ganz Bestimmtes fordert. Beispielsweise wenn Della entdecken würde, dass James sie ohne ihre langen Haare einfach nicht mehr attraktiv findet. Dies würde die endlose Kette der das Begehren des anderen prüfenden Opfer abkürzen; der Diskurs der Liebe wäre an ein Ende gekommen. Damit Liebe fortbesteht, bedarf es bestimmter Formen, die diese Konfrontation mit dem realen Genießen des anderen vermeiden. Zugleich sieht Lacan in der Begegnung mit dem Realen des anderen, die gleichbedeutend ist mit dem Scheitern der Liebe, jedoch das für die Analyse produktive Moment der Liebe. Als Übertragung kann die Liebe das Subjekt vom Phantasma befreien und so ein Begehren anstoßen, das auf einem eigenen Gesetz basiert. In diesem Sinn spricht Lacan noch in Seminar VIII von einer »Dialektik von Liebe und Begehren« (VIII: 472). Dieses Potential liegt in dem Moment des Scheiterns der Liebe: dort, wo der andere mehr ist als die Ursache des Begehrens und Stütze des Phantasmas. Während das Begehren seine Befriedigung stets anderswo vermutet und deshalb die Konfrontation mit dem Realen des Objekts stets vermeidet, verweilt die Liebe bei einem Objekt, macht dieses eine zum Ein-und-Alles. Die Treue, das Festhalten an dem einen Objekt, erlaubt dem Liebenden über die Projektion und letztlich auch über die Liebe hinauszugehen.

2. Liebe und Begehren: Verhältnisbestimmungen

Liebe und Pädagogik Der Liebesbegriff Lacans wirft für die Pädagogik einige Probleme auf: Janusz Korczaks Frage, »wie man Kinder lieben soll«, lässt sich vor dem Hintergrund der Lacan’schen Liebestheorie nicht beantworten. Zu sehr betont sie die negativen Aspekte der Liebe, um aus ihr ein normatives Modell zu machen. Anders als die Pädagogik für sich in Anspruch nimmt, ist die Liebe bei Lacan immer projektiv. Sie wird ihrem Gegenüber nicht gerecht, verkennt und reduziert es, spannt es für die Erhaltung ihrer Allmachtsphantasie ein. Zudem weist Lacan auf das Grenzüberschreitende der Liebe hin, das Exzessive, das sich vor allem gegen das Subjekt selbst wendet. Wo also eine Pädagogik um Gründungen ringt und sich legitimieren muss, kann sie sich nicht positiv auf eine Liebe beziehen, die immer schon ambivalent ist. Dafür aber ist der im letzten Kapitel entwickelte Liebesbegriff geeignet, ein Genießen in der Unlust zu erklären, wie sie in der durch die doppelte Unmöglichkeit bestimmte pädagogische Beziehung auftritt. Lacans Theorie der Liebe, die ich bisher unspezifisch, also nicht speziell auf das Kind bezogen, beschrieben habe, ähnelt in einigen Punkten der Liebe, die Bernfeld dem Pädagogen unterstellt hatte. Darüber hinaus entspricht das Verhältnis zwischen Pädagogen und Kind strukturell dem Verhältnis von Liebendem und Geliebten. Wie auch Bernfeld annimmt, hat die Liebe bei Lacan ihre Wurzeln im Sexuellen, im Begehren, das sich durch den ödipalen Konflikt definiert. Lacan besteht jedoch, anders als Bernfeld, auf der Unauflösbarkeit dieses Konflikts: Das Begehren ist per definitionem unbefriedigt. Anders als Bernfeld geht Lacan also von einem immer schon problematischen Sexuellen aus, in dem die phallische Allmachtsphantasie eines absoluten Genießens mit ihrer Unmöglichkeit konfrontiert ist. Liebe, die sich aus dem Sexuellen ableitet, ist auf den Kern des Subjekts bezogen. Sie ist keine a-personale, zu erwerbende Haltung, sondern mit dem verwoben, was das Subjekt ausmacht. Wenn man also annimmt, dass das, was in pädagogischen Beziehungen stattfindet, Liebe im Sinne Lacans ist, ist in der Beziehung die Subjektivität des Pädagogen höchst relevant und unterläuft möglicherweise seine pädagogischen Ansprüche. Die Liebe ist eine Sublimierung des Begehrens. Dabei verdrängt sie zum einen den Herrensignifikanten, der im Begehren zentral ist, und gibt scheinbar die mit ihm verbundene Allmachtsphantasie auf. Zum anderen erhebt sie aber das Objekt zu dem, auf das diese Allmachtsphantasie zielte, und erhält diese so. Diese Erhebung des Objekts ist eine Idealisierung in Lacans Sinn: Sie abstrahiert vom konkreten Objekt und macht es zur überhöhten Instanz, der eine Funktion in der Organisation des Subjekts zugesprochen wird. Im Zentrum der Liebe steht also jene Idealisierung, die bei Bernfeld am Ende der pädagogischen Liebe steht: Die Idealisierung des Objekts, die sein Reales verbirgt, ermöglicht erst die Verdrängung des Sexuellen. In Bezug auf die Pädagogik ließe sich diese Idealisierung als

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der Rückgriff auf die Fiktion des Kindes interpretieren: Dem Pädagogen tritt nicht nur ein konkreter empirischer Mensch gegenüber, er bezieht sich vielmehr auf das Potential, das in diesem verborgen scheint, auf die Fiktion eines Noch-Nicht, mit dem er sich in seinen Bemühungen verbindet. Mit Lacan kann man annehmen, dass diese Bemühungen grenzenlos sind und sich gegen das Subjekt wenden. Lacan geht im Gegensatz zu Bernfeld also davon aus, dass es keine unproblematische Sublimierung gibt. Die Sublimierung als ein »Erheben eines Objekts zur Würde des Dings« (VII: 139) hält an der Phantasie eines zugänglichen Genießens fest, verschiebt diese jedoch in ihr Gegenüber. Da diese Idealisierung des Objektes durch Opfer erkauft ist, hat die Sublimierung immer einen Hang zum Exzess. Es ist also nicht von einer Sublimierung auszugehen, die eine gelungene Vermittlung von gesellschaftlich Erwünschtem und Genießen darstellt und ohne Leid für das Subjekt bleibt. Bei Lacan lässt sich auch in der Sublimierung der das Subjekt konstituierende Konflikt nicht auflösen. Schließlich muss letztlich auch die Sublimierung scheitern, weil das Subjekt sich in seinem Objekt zwangsläufig irgendwann verfehlt fühlt. Wenn die Idealisierung des Kindes zum Statthalter des Kontingenten für die Pädagogik konstitutiv ist, eine Idealisierung, die immer Täuschung ist, gehört auch die Ent-Täuschung zwangsläufig zur Pädagogik – auch wenn es vielleicht nicht immer dazu kommt. Denn kein konkretes Kind verwirklicht das Potential, das in ihm zu stecken scheint. Wenn das Kind enttäuscht, wenn sich zeigt, dass es der Opfer nicht wert war, kann es den Pädagogen wieder mit seinem Begehren konfrontieren. Die bisherige Beschreibung der Liebe kann jedoch nicht erklären, warum der Pädagoge ausgerechnet das Kind als Liebesobjekt wählt. Dass der Pädagoge seine Liebe dem Kind und nicht einer Frau oder den Bernfeld’schen Briefmarken widmet, entspräche dann seiner subjektiven Struktur: Im Kind erkennt er eben etwas, das mit seinem einzigen Zug, seinem Herrensignifikanten, korrespondiert. Im folgenden Kapitel werde ich jedoch argumentieren, dass die Wahl für das Kind als Liebesobjekt keine zufällige ist: Das Kind ist in der Moderne kein der Briefmarkensammlung vergleichbares Objekt. Ich habe die Liebe mit dem Diskurs der Universität beschrieben. Diese Beschreibung stellt bereits eine Beziehung zwischen der Liebe und der unmöglichen Tätigkeit her, die Lacan mit diesem Diskurs verbindet: dem Erziehen. Um die Beziehung zwischen Liebe und Erziehung weiter zu untersuchen, werde ich im folgenden Kapitel den Diskurs der Universität von einer strukturellen Beschreibung der Liebe lösen und in dem Kontext interpretieren, in dem er in Lacans Seminar auftaucht: In Seminar XVII nutzt Lacan die Diskursmatheme, um eine grundsätzliche Verschiebung der gesellschaftlichen Strukturen zu beschreiben. Der Diskurs der Universität ermöglicht ihm eine Zeitdiagnose, für die die Pädagogik eine bedeutende Rolle spielt. Im Zentrum dieser Zeitdiagnose steht, wie ich zeigen werde, die Liebe zum Kind.

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

Abb. 11: Übersicht der vier Diskurse (XX: 21)

Die Theorie der vier Diskurse, die im zweiten Kapitel als Formalisierung von Liebe und Begehren diente, entwickelt Lacan in Seminar XVII, das stark gesellschaftstheoretisch argumentiert.1 Nicht zufällig verhandelt Lacan in diesem Seminar aus dem akademischen Jahr 1969–1970 weit über die Klinik hinausreichende Fragen: Das Seminar tagte erstmals in einem großen Hörsaal der juristischen Fakultät und wurde nicht nur von Anwärterinnen und Anwärtern der psychoanalytischen Ausbildung, sondern von politisierten Studierenden verschiedenster Fachrichtungen besucht, Studierende, die sich – diese Erwartung wird in den Transkriptionen des Seminars deutlich – von der Psychoanalyse Antworten auf drängende gesellschaftliche Fragen versprachen.2 1

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Samo Tomšič schlägt entsprechend vor, das späte Werk Lacans als eine zweite Rückkehr zu Freud vor dem Hintergrund von Marxʼ Kritik der politischen Ökonomie zu lesen (vgl. Tomšič 2015). Zuvor fand das Seminar in Sainte-Anne bzw. später in den Räumen der École Normale Supérieure statt, die Lacan 1979 entzogen wurden. Durch den neuen, größeren Raum veränderte sich

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Das Interesse der protestierenden Studierenden von 1968 an der Psychoanalyse ist groß: Im deutschsprachigen Raum sind es beispielsweise die Werke Wilhelm Reichs, die in unzähligen Raubdrucken zirkulieren und von den Studierenden rezipiert werden. Die Psychoanalyse scheint mit ihrem zwischen Natur und Gesellschaft gelagerten Begriff der Psyche Antworten auf die Frage nach der Befreiung des Subjekts zu liefern. In Deutschland wie in Frankreich ist sexuelle Befreiung der aus dieser Lektüre abgeleitete Slogan der Studierenden: Die Sexualität, das Triebleben, die Lust, soll befreit werden von den Zwängen einer Ordnung, die Sexualität unterdrückt, um die Individuen zu funktionierenden Arbeitern und Staatsbürgern zu machen. Revolution bedeutet folglich, die repressive Sexualmoral zurückzuweisen und den Trieben freien Lauf zu lassen. So ruft ein Hörer des Seminars XVII Lacan zu: Hier sind Leute, die denken, daß die Psychoanalyse, daß das eine Geschichte von Arsch-Problemen ist, man braucht nur ein spontanes love-in zu veranstalten. Gibt’s hier welche, die damit einverstanden sind, das hier in ein spontanes lovein umzuwandeln? [Er zieht sein Hemd aus.] (XVII: 27.) Die Psychoanalyse hat in den Deutungen der Studierenden vor allem gezeigt, dass Neurosen und andere Pathologien das Ergebnis der Unterdrückung des Sexuellen sind. Statt wie Lacan lange über die Möglichkeit der Befreiung zu reden, wäre es also folglich sinnvoller, zur Praxis zu schreiten und enthemmten Sex zu haben. Das Abschütteln gesellschaftlicher Konventionen befreit in diesem Sinne die menschliche Triebnatur; das Leid, das aus ihren Deformierungen entsteht, kann verhindert werden. Erst der sexuell befreite Mensch kann selbst über sein Schicksal verfügen, denn er hat sich auch innerlich von der unterdrückenden Autorität befreit. Diese Annahme der Studierenden ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Tatsächlich kann die Psychoanalyse, die ihr Subjekt nur ödipal denkt, das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft nur als unterdrückend wahrnehmen: Gesellschaftlichkeit greift gemäß dieser Lesart in Form des väterlichen Verbots in die dyadische Beziehung zwischen Mutter und Kind ein, in der selbstzufriedene Triebbefriedigung stattfindet. Dieser Eingriff ist jedoch notwendig, da er dem Kind einen Ausweg aus der narzisstischen Selbstgenügsamkeit und die Trennung vom mütterlichen Körper ermöglicht und es so zum gesellschaftlichen Wesen werden lässt. Diese Auffassung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft prägt auch das im ersten Kapitel zitierte Verständnis Bernfelds einer pädagogischen Liebe zum Kind. Anders als die Psychoanalytiker, die sich mit der Notwendigkeit einer väterlichen Intervention abfinden, fordern die

die Hörerschaft des Seminars. Darüber hinaus fanden einige Sitzungen in Vincennes statt, der neu gegründeten Experimental-Universität, wo sich Lacan besonders mit politischen Positionen konfrontiert sah (vgl. Roudinesco 1996: 507ff.).

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

Studierenden jedoch mithilfe eines psychoanalytischen Vokabulars die Befreiung des Triebes. Genau diese Vorstellung der Studierenden ist es, die Lacan über eine Struktur nachdenken lässt, die ohne das ödipale Verbot auskommt, aber dennoch keine Befreiung bedeutet. Eine Entfesselung des Triebes, eine Erlaubnis oder gar Aufforderung zum Genießen kann in seinen Augen das Subjekt nicht befreien. In dem Hang der Studierenden, ein enthemmtes Sexuelles zum Ideal zu machen, nimmt er etwas Repressives wahr, das sich nicht mit den bisherigen psychoanalytischen Konzepten beschreiben lässt. In der Kunst jedoch ist das Thema einer repressiven Stimulierung des Sexuellen bereits thematisiert worden und so bezieht sich Lacan in seinem Versuch, diesen repressiven Exzesses zu beschreiben, auf Marcel Duchamps Junggesellenmaschine: Der Protest läßt mich an etwas denken, das eines Tages erfunden worden ist von, wenn ich mich recht erinnere, meinem guten und verblichenen Freund Marcel Duchamp – Der Junggeselle macht sich seine Schokolade selber. Hüten Sie sich davor, daß der Protestler sich selber Schokolade macht. (XVII: 24.) Der naiven Idealisierung des Sexuellen begegnet Lacan mit dem pessimistischen Bild der Junggesellenmaschine, einer Installation Marcel Duchamps mit dem Titel: »La Mariée mise à nu par ses célibataires, même« (dt.: »Die Neuvermählte/Braut von ihren Junggesellen entkleidet, sogar«). Es handelt sich bei diesem Werk um eine 2,7 m hohe, freistehende Glasplatte, auf der mit verschiedenen Materialien eine zweigeteilte Phantasiemaschine dargestellt ist. In der unteren Hälfte treiben männliche Figuren in einer Art Laufrad oder einer Tretmühle die neben ihnen stehende Schokoladenreibe an. In der oberen Hälfte befindet sich die »Braut«, ein maschinengleiches Wesen, das Duchamps frühere Arbeiten zum weiblichen Akt zitiert und das die Bewegung der männlichen Figuren auslöst. Das Begehren der »Junggesellen« nach der Braut wird in der Maschine verwertet, es treibt eine ganz profane Schokoladenreibe an. Wenn Lacan angesichts der Forderung nach einem Love-in auf die Junggesellenmaschine verweist, so warnt er die Studierenden, dass die sexuelle Befreiung, das hemmungslose Love-in alles andere als revolutionär ist. Gesellschaftliche Funktionalität und Sexuelles sind in der Junggesellenmaschine keine Gegensätze, sondern stehen in direktem Zusammenhang: Das Begehren nach der Braut, das scheinbar Privateste, das Sexuelle, bringt die Junggesellen dazu, ihren Dienst in der Schokoladenreibe zu tun. Das Sexuelle steht im Dienste der Ordnung, einer Ordnung, die längst nicht mehr den Vorstellungen entspricht, die die Studierenden von ihr haben: Sie verbietet und unterdrückt das Sexuelle nicht mehr – nein,

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sie fordert dazu auf, sie befiehlt zu genießen, denn das Genießen stellt ihren Motor dar.3 Das Modell der Junggesellenmaschine schlägt einen neuen Zusammenhang von Sexuellem und Gesellschaftlichem vor, der sich von dem ödipalen Modell unterscheidet. Um zum Teil der gesellschaftlichen Maschine zu werden, muss der Junggeselle nicht auf sein Genießen verzichten. Gerade weil er der Verführung durch die Braut nachgibt, treibt er die Schokoladenreibe an. Wenn Lacan die studentische Aufforderung zum Love-in mit der Junggesellenmaschine in Zusammenhang bringt, weist er die Studenten nicht nur darauf hin, dass die Rebellion als enthemmtes Genießen weit weniger subversiv ist, als sie denken. Auffällig ist, dass es in der Junggesellenmaschine keinen Vater gibt, keine Autorität, die im Geschlechterverhältnis vermittelt, indem sie einerseits verbietet, andererseits kontrollierte Übertretungen ermöglicht. Vielmehr sind die Junggesellen in ihrer Tätigkeit ganz selbstmotiviert. Lacan hält den Studierenden vor, dass sich ihr Protest gegen einen Herren richtet, den es längst nicht mehr gibt, nämlich einen Herren, der Verbote ausspricht und das Genießen untersagt. Nur mit diesem veralteten Bild von Herrschaft lässt sich das hemmungslose Genießen von den Studierenden als emanzipatorisch verstehen. Lacans in Seminar XVII aufgestellte Behauptung der Abwesenheit einer verbietenden Autorität, die den Ödipus ermöglichte, erscheint heute nicht skandalös, da doch das Verschwinden der symbolischen Autorität in allen Lebensbereichen beobachtet werden kann: Gesellschaftliche Instanzen, die unhinterfragbare Autoritäten darstellten, sind diskreditiert, entmachtet oder verschwunden. Todd McGowan spricht deshalb von einem »Niedergang der väterlichen Autorität« (decline of paternal authority, McGowan 2004: 41), Paul Verhaeghe gar von einem »Kollaps der väterlichen Funktion« (Verhaeghe 2000: 131). Aus einer Lacan’schen Perspektive handelte es sich bei diesem Vater um die Inkarnation des Herrensignifikanten, also der Instanz im Symbolischen, die seine Einheit garantierte. Niedergegangen ist demnach die Instanz, die für den gesellschaftlichen und symbolischen Zusammenhang bürgte. Der Herrensignifikant ist Lacans strukturalistische Interpretation dessen, was Freud als Ergebnis des kollektiven Mords am Urvater zu fassen versucht hat: nämlich die gemeinsame schuldhafte Erinnerung, die die Söhne dazu bringt, zuguns-

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Wie jede Metapher ist auch die der Junggesellenmaschine schief: Auch in einer traditionellen ödipalen Ordnung ist das Sexuelle natürlich gesellschaftlich funktional. Das Verbot erst ermöglicht – wie ich im letzten Kapitel gezeigt habe – die Illusion dessen, was es verbietet. Es ist also nicht nur unterdrückend, sondern produktiv-stimulierend. Insofern ist die Metapher der Junggesellenmaschine nicht dafür geeignet, trennscharf zwischen einem ödipalen und einem postödipalen Sexuellen zu unterscheiden, sondern veranschaulicht einen singulären Aspekt.

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

ten des Sozialen auf einen Teil des Genießens zu verzichten. Der Herrensignifikant ist im Ödipalen der tote Vater, der gerade durch seine Abwesenheit in das Leben der Söhne hineinwirkt, die Beziehung zu ihren Objekten reguliert und jeden unmittelbaren Bezug verhindert. Damit ist der Herrensignifikant eine psychische Instanz, die das Subjekt zentriert und sein Selbst- und Weltverhältnis moderiert. Repräsentiert wird der Herrensignifikant als Namen-des-Vaters vom Vater des Kindes; nur aufgrund seiner Eigenschaft als Repräsentant des Namen-des-Vaters ist der Vater nach Lacan überhaupt für die ödipale Konstellation von Bedeutung. Der Herrensignifikant hat jedoch eine Bedeutung über die familiäre Konstellation hinaus: Auch andere traditionale Autoritäten – Könige, Kaiser, Kriegsherren – sind Autorität nur als Repräsentanten des Herrensignifikanten. Denn als solche verkörpern sie die oberste Instanz, von der das Gesetz und soziale Bindung ausgeht und die Forderungen an den Einzelnen stellt. Entsprechend tragen sie zumeist väterliche Attribute: Nicht zufällig spricht man vom Landesvater oder wird der christliche Gott als Vater bezeichnet. Diese zentrale Autorität bestimmte lange Zeit das Ökonomische, das Soziale, das Politische und das Kulturelle. Dass es in allen Bereichen in den letzten Jahrhunderten heftige Verschiebungen gab, ist ein Allgemeinplatz, der kaum weiterer Erklärungen bedarf: Eine feudale Ökonomie wurde abgelöst durch den Kapitalismus, die geordnete hierarchische Gesellschaftsstruktur weicht zunehmend einem Egalitarismus, in den auch Frauen einbezogen sind, Monarchien wurden ersetzt durch Demokratien, und Wissenschaft, Kunst, die Gestaltung von Alltag müssen ohne Letztbegründung auskommen, die ihre Wahrheit garantiert. Die Absetzung des Herren, die schubhaft, diskontinuierlich, ungleichzeitig in verschiedenen Feldern stattfindet, könnte nun durchaus als Emanzipation, als eine Befreiung von (Fremd-)Herrschaft, verstanden werden. Bezogen auf die Autorität im Familienkontext ist jedoch strittig, ob ihr Niedergang zu begrüßen ist. So ist die Diagnose einer Schwächung der väterlichen Autorität durchaus mit einem Ruf nach ihrer Erneuerung verbunden. Nach Todd McGowan führen Autoren wie Dan Quayle, William Bennett und David Blankenhorn einen moralischen Verfall, etwa Kinder, die keine Grenzen bezüglich ihrer eigenen Vorteile akzeptieren, die also ihr eigenes Genießen über alles andere stellen, auf die Abwesenheit eines echten Vaters zurück. Der Vater wurde in der Argumentation dieser Autoren durch den liberalen Egalitarismus diskreditiert und kann so seiner sozialisierenden Aufgabe nicht mehr nachkommen, die narzisstischen Regungen des Kindes zugunsten einer sozialen Verträglichkeit zu mäßigen. Entsprechend fordern diese Autoren eine Wiederherstellung der väterlichen Autorität (McGowan 2004: 43).4 Dieser Argumen-

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Todd McGowan sieht in diesem konservativen Ruf nach einer Erneuerung der väterlichen Funktion bereits die postödipale Herrschaft am Werk. Indem er Phänomene wie die »Promise-Keepers« untersucht, eine christliche Männerorganisation, die sich als Verteidiger und Wiederbeleber einer traditionellen väterlichen Autorität versteht, kann er zeigen, dass der

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tation widerspricht beispielsweise Paul Verhaeghe heftig: So sieht Verhaeghe das Problem nicht in einer »vaterlosen Gesellschaft«, wie Federn sie schon 1919 beklagte (vgl. Federn 1919): Nicht die Väter als abwesende seien, so Verhaeghe, gefährlich – etwa weil sie so ihrer Aufgabe nicht nachkommen, die narzisstische Beziehung zur Mutter zu unterbrechen –, sondern ihre väterliche Funktion, das Ichideal zu verkörpern, sei zum Problem und deshalb überwunden worden. Deshalb hält er den Niedergang der väterlichen Identifikation für einen wichtigen Fortschritt. Bereits die Aufklärung betrachtet er als eine Infragestellung der väterlichen Autorität. Endgültig diskreditiert sei sie jedoch durch die zwei Weltkriege: Der Erste Weltkrieg habe den Glaube an die zivilisierende und schützende Funktion der Autorität zerstört, die Opfer für die gesellschaftlichen Ideale erwiesen sich in den Materialschlachten als sinnlos, die Vaterfiguren als Lügner. Das Ichideal zeige seine tödliche Dimension in der Forderung, sich für es zu opfern – fürs Vaterland, den Kaiser, die Ehre zu sterben. Das Trauma des Ersten Weltkriegs wiederholt sich im Zweiten, auch hier zeigen sich die monströsen Implikationen einer Subjektivität, die sich auf das durch einen Führer verkörperte Ichideal bezieht. In Verhaeghes Deutung gelingt es der 68er-Generation, das Trauma – den Verlust bzw. die Diskreditierung des Ichideals – durchzuarbeiten: Das Patriarchat sei verschwunden, folgert er schließlich, und das sei auch gut so (vgl. Verhaeghe 2015). Diese Lesart gibt den Studierenden von ’68 recht, die sich in die Tradition der Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts stellen und gegen eine patriarchale Autorität rebellieren. Sie argumentieren, dass die alten Herren noch nicht gänzlich verschwunden sind und es darum gehen muss, auch die letzten Relikte der alten Autorität zu überwinden. Lacan behauptet nun aber, dass zwar der alte Herr abgeschafft ist, jedoch nur, um einer neuen Art der Herrschaft Platz zu machen. Einer Herrschaft, die von den Studierenden nicht als Herrschaft erkannt wird, zu deren aktuelle Ruf nach der traditionellen Autorität diese bereits fundamental neu interpretiert. Er zeigt, dass der Versuch, die väterliche Autorität zu stärken und damit das Verbot und die Grenze vor dem Genießen neu zu installieren, vor allem dadurch motiviert ist, dieses Genießen wirklich zu ermöglichen. Die Forderung nach einer Rückkehr zur traditionellen Männlichkeit »frees men to enjoy like ›real men‹, to act decisively and freely. Here is perhaps the chief indication that we are in the midst of a society of enjoyment: even the attempt to restore prohibition follows the logic of the demand for enjoyment, albeit in the guise of opposing it.« (McGowan 2004: 45) Auch die scheinbare Wiederbelebung der väterlichen Autorität dient also einer Logik, die das Gesetz nicht als Grenze des Genießens setzt, sondern das Gesetz in den Dienst des Genießens stellt, was einen qualitativen Unterschied zum ödipalen Verhältnis von Gesetz und Genießen darstellt. Diese Neuinterpretation des Verbots zeigt sich beispielsweise im Umgang der Promise Keepers mit der Pornographie: Sie fordern eine Abwendung von der Pornographie nicht, weil diese unmoralisch ist oder gegen die göttliche Ordnung verstößt, sondern weil sie die sexuelle Befriedigung verringere. So wird auf der Startseite der Organisation auf ein Buch verwiesen, das nachweist, dass Pornographie »decreases sexual satisfaction« (vgl. promisekeepers.org, Abruf 17.01.2018).

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Kollaborateuren sie sich gar machen. Denn er geht davon aus, dass sich Herrschaft grundsätzlich gewandelt hat: Das Verbot und die Instanz, von der es ausging, existieren nicht mehr in ihrer alten Form; das neue soziale Band fordert zum Genießen auf, ein Genießen, das im Dienste der Ordnung steht. Wie die Junggesellen in ihrem Begehren nach der Braut die Schokoladenreibe antreiben, ist das Genießen bzw. die Suche nach dem absoluten Genießen für das neue Regime höchst funktional. Doch nicht nur das Genießen dient dem neuen Regime. Auch den Protest der Studierenden, ihre Infragestellung der Institutionen, hält Lacan für problematisch, denn er interpretiert ihn als einen Ruf nach einem besseren Herren und damit als einen Beitrag zur Optimierung von Herrschaft.5 So stellt er nach einer hitzigen Debatte im Seminar bitter fest: Das, worauf Sie als Revolutionäre aus sind, das ist ein Herr. Sie werden Ihn (sic.) bekommen. (XVII: 33.) Die Abarbeitung der Studierenden an einer alten, ödipalen Autorität spielt einem neuen Herren in die Hände: einem Herren, der versteckt agiert und als Vertreter der Interessen des Subjekts auftritt. Dieser neue Herr ist keine gebietende und strafende Autorität mehr, für die das Gemeinwohl nur durch den Verzicht der Einzelnen zu erreichen ist, sondern die Aufforderung zur Selbstverwirklichung, was einen radikalen Bruch mit der ödipalen Vergesellschaftung durch das Verbot bedeutet. Um den Übergang zwischen einer traditionellen Autorität und der gegenwärtigen zu veranschaulichen, entwirft Lacan die Matheme der vier Diskurse, die im letzten Kapitel bereits eine zentrale Rolle gespielt haben. Mit dem Diskurs des Herren beschreibt er eine traditionale, ödipale Gesellschaft, die auf eine letzte, unhinterfragbare Autorität zentriert ist. Diesem Diskurs stellt er eine völlig veränderte Struktur entgegen, die sich aus dem Diskurs des Herren ableitet und eine Modifikation darstellt: Der Diskurs der Universität beschreibt eine Gesellschaft, die scheinbar ohne Fundament auskommt und völlig auf das Genießen – das Mehrgenießen – ausgerichtet ist. In dieser Gesellschaft ist das ödipale Verbot nicht länger wirksam, folglich sind mit ihr völlig neue Arten der Subjektivität verbunden. Die These von einem grundlegenden Wandel in den Subjektstrukturen wird heute von dem »politischen Flügel« der Lacan-Rezipientinnen und Rezipienten,

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Diesen Punkt erläutere ich ausführlicher im Kapitel zum Diskurs der Hysterika (4.4). Lacan geht davon aus, dass die hysterische Herausforderung »den Herren macht«, die Hysterika ihr Gegenüber durch ihre Forderungen erst in die Machtposition bringt. Gleichzeitig argumentiert er, dass die Hysterika dafür verantwortlich ist, dass der Herr sich hinter dem Wissen verschanzt. Den hysterischen Protest bringt er also in Zusammenhang mit dem Übergang vom Diskurs des Herren zum Diskurs der Universität.

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insbesondere den Mitgliedern der Ljubljana-School, vertreten.6 In diesem Zusammenhang hat sich die Rede vom »Postödipalen« etabliert, ein Begriff, der sich bei Lacan selbst noch nicht findet. Slavoj Žižek spricht beispielsweise von »neuen ›postödipalen‹ Formen der Subjektivität« als Folge eines fundamentalen Wandels der gesellschaftlichen Strukturen (Žižek 2010: 500).7 Dabei wird die ödipale Subjektivität, die durch das väterliche Verbot strukturiert ist, mit dem Diskurs des Herren in Verbindung gebracht, die neue, postödipale Subjektivität mit dem Diskurs der Universität beschrieben. Ich werde im Folgenden ebenfalls den Begriff des Postödipalen verwenden, denn anders als Verhaeghe sehe ich in ihm keine Überwindung des patriarchalen Ödipalen, sondern eine Modifikation, die an dem ödipalen Phantasma festhält, jedoch ohne den Vater als Vermittler dieses Phantasmas auskommt. Mit seinem Seminar XVII wagt Lacan eine umfassende Gesellschafts- und Zeitdiagnose, die nicht nur psychische Strukturen auf gesellschaftliche bezieht und damit – wenn man so will – die Psychoanalyse politisiert, sondern psychoanalytische Kategorien historisiert. Die Feststellung, dass sich gesellschaftliche Herrschaft und die Herrschaft des Selbsts fundamental gewandelt haben, und die Einführung einer Theorie des Postödipalen brechen mit der Unzeitlichkeit der psychoanalytischen Begriffe: Das dem Verbot unterworfene, barrierte Subjekt ist keine struk6

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Mit der psychoanalytischen These einer grundsätzlichen Verschiebung der Subjektstrukturen arbeiten beispielsweise Brennan (1993), Copjec (2004), MacCannell (1991; 2000), McGowan (2004), Salecl (2000), Soiland (2014), Žižek (1991, 2010 u.v.m.) oder Zupančič (2006). Den Übergang von einer »alten« zu einer »neuen Ordnung« datieren psychoanalytische Autoren, die Lacans Deutung einer Verschiebung der Strukturen aufgreifen, sehr unterschiedlich. Wichtige Daten sind für sie beispielsweise die Französische Revolution (MacCannell), der Erste Weltkrieg (Verhaeghe), aber auch ’68 (ders.) und der Übergang vom Monopol- zum Konsumkapitalismus (McGowan). Žižek nennt die Aufklärung ein Projekt, das den Herren in Frage stellt, und bezeichnet die ödipalen Väter Freuds bereits als Relikte einer vergangenen Ordnung. Dabei spricht er vom Hegemonialwerden eines neuen Diskurses (Žižek 2004: 156), geht also von Gleichzeitigkeiten und allmählichen Veränderungen aus. Die Diagnose eines grundsätzlichen Wandels gesellschaftlicher Strukturen kann an verschiedene andere Autorinnen und Autoren anknüpfen. Insbesondere liegt eine Verbindung zu Foucaults Konzept der Governementalität nahe, auf das sich auch psychoanalytisch argumentierende Autorinnen wie Copjec und McGowan beziehen (Copjec 2004; McGowan 2004). Nachdem sich Foucault mit verschiedenen Techniken der Disziplinierung der Subjekte beschäftigt hat, untersucht er Ende der 70er Jahre unter dem Begriff Gouvernementalität eine Regierungsform, die Freiheit der Subjekte voraussetzt und fordert und in einer Modellierung der Selbstregierung besteht. Diese moderne »Führung der Führungen« versteht er als ein Erbe des pastoralen Regimes des Christentums, das sich an die als frei gedachten »Seelen« richtet. Das säkularisierte Erbe dieses pastoralen Regimes verknüpft Foucault mit dem Liberalismus, der ein älteres System von Disziplin und Gehorsam ablöst. Der Liberalismus setzt das Entscheidungen treffende Subjekt voraus, überlässt diesem Verantwortung und regiert durch die Bereitstellung von Berechnungen, durch Wissen über Sicherheit und Risiken (vgl. Foucault 2017).

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turelle Notwendigkeit mehr, die sich aus dem Umstand der Sprachlichkeit ergibt, sondern ein spezifisches historisches Phänomen, das sich in einer längst vergangenen Gesellschaft verortet, die sich auf einen allgemeinen letzten Grund bezieht. Diese Historisierung vermeintlich universaler Begriffe bringt einige Probleme mit sich, denn sie wirft die Frage auf, auf welche Konstellation sich die in den vorangegangenen Seminaren entwickelten Annahmen beziehen: Ist beispielsweise der »große Andere« ein ödipales Phänomen, das sich auf den Diskurs des Herren bezieht, oder gehört er zum Postödipalen? Oder ist er für beides relevant, hat jedoch seine Form geändert? Wenn ja, welche Aussagen über den »großen Anderen« beziehen sich auf welchen »großen Anderen«? – Wie fast jeder neue Gedanke in der Lacan’schen Lehre macht die Zeitdiagnose des Seminars XVII deshalb eine grundlegende Relektüre der zentralen theoretischen Begriffe notwendig. Im letzten Kapitel habe ich zwei der vier Diskursmatheme für einen anderen Zweck genutzt: Ich habe sie nicht historisch, sondern systematisch als unterschiedliche Arten gelesen, in Sprache eingelassen zu sein, bzw. als Beschreibung verschiedener subjektiver Ökonomien genutzt: für die Beschreibung von Begehren und Liebe. In diesem Kapitel rolle ich die Theorie der vier Diskurse von einem anderen Ende auf, um später beide Argumentationen zu verbinden. Dabei werde ich mit Lacan zeigen, dass die scheinbare Kontingenz der Gegenwart ihren Halt in einer genuin pädagogischen Figur findet, nämlich der Liebe zum Kind. Den Diskurs der Universität werde ich als etwas lesen, das die Ambivalenzen und Sackgassen der Pädagogik sichtbar macht. Gleichzeitig bedeutet das, dass die Pädagogik eine Disziplin ist, die über die Ambivalenzen und Sackgassen des Postödipalen sinnvolle Auskunft zu geben vermag. Lacan leitet seine Diagnose des Wandels aus dem historischen Materialismus ab, dessen zentrales Element, den Mehrwert, er aus einer psychoanalytischen Perspektive neu interpretiert. Im ersten Unterkapitel werde ich diese theoretischen Voraussetzungen von Lacans Zeitdiagnose darstellen. Den Wandel von einer ständischen Gesellschaft zum Kapitalismus beschreibt er mit der Herr-Knecht-Dialektik Hegels. In Lacans Interpretation befreit sich der Hegel’sche Knecht vom Herren – nicht, indem er den Herren besiegt, indem er dessen Position einnimmt oder die Voraussetzungen seiner Herrschaft in Frage stellt, sondern indem er sich freikauft. Im Kern des vom Herren befreiten Subjekts steckt der Akt des Kaufens, den es permanent wiederholt. Doch der Kauf führt nicht zum absoluten Genießen, zu dem, was der Herr zu haben schien, sondern ist eine Investition in nie realisierte Genussoptionen. Lacan interpretiert an dieser Stelle Marx’ Begriff des Mehrwerts neu, indem er zeigt, dass Investitionen nicht auf Mehrwert zielen, sondern auf »Mehrgenießen«. Das Mehrgenießen ist das unmögliche Genießen, das Element, das im Diskurs des Herren als Verlust in Bezug auf ein Phantasma der Vollständigkeit erfahren wurde, und damit der »Zehnte«, den der Knecht an den Herren abtreten musste. Der Diskurs der Universität richtet sich auf dieses nega-

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tive Element aus und positiviert es: Er zielt auf die Kompensation eines Verlustes von etwas, das es nie gegeben hat. Die Investitionen des Knechts erreichen deshalb zwangsläufig das Genießen nie, auf das sie zielen. Stattdessen häuft der Knecht im Kapital Genuss-Optionen an – Optionen, die sich nie realisieren. Im zweiten Unterkapitel abstrahiere ich von Hegels Herr-Knecht-Dialektik und beschreibe den Freikauf des Knechts und seine scheinbare Emanzipation vom Herren als eine Verselbstständigung des Wissens: Mit der Aufklärung löst sich das Wissen von seiner dienenden Funktion, es ist nicht länger an eine überlieferte göttliche Ordnung gebunden. Nun wird es auch jenseits der konkreten Anwendung und Funktion für die Reproduktion der Ordnung interessant, denn es verspricht Wahrheit: ein Vordringen zum Realen und damit das, was dem Herren vorbehalten war. Aus techne, savoir-faire oder Handlungswissen, wird episteme, absolutes, übermittelbares Wissen. Jedoch kann das Wissen das Versprechen, alles zu sein und so das Reale zu absorbieren, nie abschließend einlösen, es bleibt so immer vorläufig, muss sich deshalb permanent erweitern und die eigene Grenze überschreiten. Nach Lacan entstand das absolute, scheinbar funktionslose Wissen durch eine Beraubung des Sklaven-Knechts, denn im Diskurs des Herren war das Wissen Sklavenwissen, nämlich das, was der Knecht dafür benötigte, den Befehlen des Herren nachzukommen. Wenn nun das Wissen selbst an die Stelle des Herren tritt, erscheint es, als würde nun das regieren, was das Wesen des Knechtes ausmachte. Die Emanzipation des Wissens wäre dann identisch mit einer Emanzipation des Knechtes: Kants Leitspruch der Aufklärung – »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« – folgt dieser Gleichsetzung: Der befreite Verstand, der keiner von außen gesetzten Regel folgt, wird zum Ideal menschlicher Freiheit. Lacans sehr spezielle Kant-Interpretation findet in dieser Entfesselung der Vernunft und dem Glauben, mit ihrer Hilfe zum Absoluten vordringen zu können, eine Verbindung zwischen Kant und de Sade, eine Verbindung zwischen der modernen Wissenschaft und der Perversion. Denn beide Autoren können die Gegenwart des Absoluten nur im Schmerz fassen; der Schmerz ist Beweis für die Abstraktion von dem zufälligen Subjekt und Objekt. Das Zielen auf das Absolute führt also zu einer Wendung gegen das, was angenehm oder im Interesse des Subjekts ist. Wenn das abstrakte Wissen an die Stelle des Agens tritt, regiert der Todestrieb. Diese Herrschaft des Todestriebs unterscheidet sich von der traditionellen ödipalen Herrschaft. Im dritten Unterkapitel zeige ich, wie eine Autorität beschaffen ist, die sich nicht durch die radikale Geste des Herren begründet, sondern sich durch ihr Wissen legitimiert. Die Unterwerfung des postödipalen Subjekts unter diese Herrschaft des Wissens gründet nicht mehr in einer symbolischen Identifikation mit dem Herrensignifikanten, sondern auf einer unbewussten imaginären Identifikation mit der Figur, die als verborgene Wahrheit hinter dem herrschenden Wissen liegt: dem Idealich, der Instanz, der das absolute Genießen zugeschrieben wird. Diese Identifikation geht mit einer veränderten Über-Ich-Struktur einher:

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Während das ödipale, verbietende Über-Ich mit den Wünschen des Es in Konflikt geriet und so das Ich zwischen zwei auseinanderstrebenden Polen in der Waage blieb, geht das postödipale Über-Ich ein Bündnis mit den Triebregungen ein. ÜberIch und Es verschmelzen zu einem kontrollierenden Verfolger, der das Ich vor sich hertreibt. Oder in Lacan’schen Begriffen: Das postödipale Über-Ich mit seinem Imperativ zu genießen setzt das Subjekt viel wirksamer unter Druck als das alte ÜberIch, weil es nicht als externe Instanz erscheint und keinen Raum zur Distanzierung lässt. Die imaginäre Identifizierung, die die Grundlage des neuen Über-Ichs ist, ist nicht nur bedrohlich, sondern hat tatsächlich tödliche Konsequenzen, weil sie die Selbsterhaltung übergeht. Nach dem Bedeutungsverlust des Vaters scheint es keine Vorlage für eine Identifizierung mehr zu geben: Es fehlt eine Figur, der die Aufgabe zukommt, den Anderen zu verkörpern und damit Träger des Phantasmas zu sein. Im vierten Unterkapitel frage ich deshalb, wer das Idealich nach dem »Kollaps der väterlichen Funktion« inkarniert. Damit komme ich zur zentralen These des Kapitels: Ich gehe davon aus, dass der Figur des Kindes diese Aufgabe zukommt. Um diese These zu untermauern, zeige ich, dass das Kind als beschreibbare Qualität eine Figur der Neuzeit ist, die zwar als Spiegel der Erwachsenenwelt immer wieder neue Bedeutungen erhält, deren Kern jedoch bleibt, Adressat von Pädagogik zu sein. Als solcher spannt das Kind ein imaginäres Verhältnis auf: Das Kind ist Versprechen eines zukünftigen, die Gegenwart der Erwachsenen übersteigenden Genießens und gleichzeitig als konkretes Kind Mangelwesen, das hinter diesem Versprechen (noch) zurückbleibt. Wenn das Kind Idealich und Subjekt spaltet, so setzt sich der Pädagoge oder die Pädagogin an die Stelle des kindlichen Idealichs. Die imaginäre Spaltung zwischen Idealich und Mangelwesen erzeugt also auf das Kind bezogen keine innerpsychische Spannung mehr, sondern eine Spannung zwischen Subjekt und anderem; die Figur des Kindes erzeugt also eine imaginäre Beziehung. Im fünften Kapitel zeige ich, dass die postödipale Autorität, die sich im Kind absichert, eine genuin pädagogische ist, die sich durch ihr Wissen, ihren Genießensverzicht und ihre Identifikation mit dem im anderen aufgefundenen Idealich auszeichnet. Diese Autorität entspricht einem gewandelten Selbstverhältnis: Im postödipalen Subjekt treffen nicht mehr Herr und Knecht aufeinander, sondern Pädagoge und Kind, die scheinbar interessensgleich an der Optimierung arbeiten. Schließlich zeige ich im sechsten Kapitel, dass mit der Verschiebung vom Urvater zum Kind als phantasmatischer Figur aus dem Verdrängen der Voraussetzungen des Genießens ein Leugnen wird: Das Genießen des unkastrierten Kindes ist geschlechtslos, es kennt keinen Anderen und ist narzisstisch selbstgenügsam. Das hat Folgen sowohl für die generationalen als auch die sexuellen Beziehungen.

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3.1 Lacan liest Marx: Vom Mehrwert zum Mehrgenießen Gegenüber den protestierenden Studierenden, die ihre sexuelle Befreiung verfolgen, stellt Lacan die These auf, dass das Genießen längst nicht mehr revolutionär ist, sondern die exzessive Suche nach dem eigenen Genießen Teil einer neuen Gesellschaftsordnung ist. Diese erhebt das Genießen zum höchsten Ideal, fördert und verlangt es, statt es zu unterdrücken. Tatsächlich hat sich das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Genießen des Einzelnen fundamental verändert: Gesellschaft fordert entgegen Freuds Annahme der Entstehung der Urhorde vom Einzelnen keinen Verzicht mehr, sondern Gesellschaft stellt sich durch das Genießen der Einzelnen her. Todd McGowan findet deshalb für die von Lacan beschriebene neue Ordnung die treffende Formulierung »Gesellschaft des Genießens« – society of enjoyment (McGowan 2004). Wie in der Junggesellenmaschine Duchamps dient das individuelle Genießen der Gesamtkonstruktion, produziert diese erst und hält sie am Laufen. Genießen ist nicht nur das höchste Gut geworden, sondern sorgt für die gesellschaftliche Integration des Individuums, indem dieses an dem Versprechen eines erreichbaren Genießens teilhat, das die Beziehung zu jedem einzelnen Nächsten regelt. Die Gesellschaft, die ein durch den Herrensignifikanten zentriertes Symbolisches bildet, wurde in diesem Sinn abgelöst von einer Gesellschaft, die aus einem Netz imaginärer Verknüpfungen besteht, die den Einzelnen jeweils Glück versprechen. Indem jeder und jede Einzelne daran arbeitet, das individuelle Glück in seiner Beziehung zu seinen Nächsten zu verwirklichen, wird er oder sie Teil der Gesellschaft. Das Versprechen des Genießens hat somit die gründende Kraft, die in der alten Ordnung der Herr – der Vater, oberste Kriegsherr, Kaiser oder Gott – hatte. Die veränderte Beziehung zum »Nächsten«, zum kleinen anderen, steht im Zentrum dieser gesellschaftlichen Verschiebung. Wie im Folgenden argumentiert werden soll, handelt es sich bei der neuen Ordnung um ein Soziales, in dem der Liebe, wie sie im letzten Kapitel gefasst wurde, eine besondere Bedeutung zukommt. Sie ist die bindende Kraft, die monadische Subjekte in einer endlosen Spiegelbeziehung verknüpft. Bereits in Seminar VII deutet Lacan den Zusammenhang zwischen dem Fall des Verbots und einer veränderten Beziehung zum Nächsten an: Beide Terme, der Tod Gottes und die Nächstenliebe, gehören historisch zusammen, und es ist nicht möglich, das zu verkennen, ohne zumindest allem, was sich in der jüdisch-christlichen Überlieferung erfüllt, den Anstrich eines konstitutionellen Zufalls zu geben. (VII: 234.) Das Ende der göttlichen Autorität, das Ende eines verbietenden Gesetzes, fällt mit dem positiven Gebot der Nächstenliebe zusammen, das soziale Kohäsion auf eine völlig neue Art und Weise herstellt. Die Beziehung zum »kleinen anderen«, zum konkreten Nebenmenschen, wird in der »Gesellschaft des Genießens« nicht mehr

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durch die symbolische Instanz des Herrensignifikanten vermittelt, der Nächste als Liebesobjekt wird vielmehr direkt adressiert. Als Beziehungspartner erscheint er, wie noch zu zeigen sein wird, als Ursache des Begehrens und »Genießen-Potential«. Wird nun aber die Liebe gesellschaftsstiftend, muss ihre Exklusivität vervielfacht werden: Nicht nur der eine Liebespartner, nicht mehr nur die eine Frau, wird zur Repräsentantin des Begehrens und muss mit dem Signifikanten korrespondieren, der den Kern des Subjekts ausmacht, sondern jedes Objekt, das dem Subjekt gegenübertritt, wird zur Bestätigung seiner Identität.8 Mit seiner Theorie der vier Diskurse nimmt Lacan eine grundsätzliche Verschiebung in der Gesellschaftsorganisation an, die jede andere geschichtliche Entwicklung fundiert: Er kümmert sich nicht um die allmähliche Etablierung von Institutionen, wissenschaftliche Innovationen oder die zahlreichen politischen Kämpfe, sondern geht von einem übergeordneten oder vielmehr verborgen zugrundeliegenden, gesellschaftsstrukturierenden Prinzip aus. Mit dieser Trennung von der Geschichte von Politik, Wissenschaft oder Kunst als eine Art Überbau und der davon analytisch zu trennenden Basis, die eigentlicher Motor der Geschichte ist, knüpft er an den historischen Materialismus an, der eine spezifische Differenz jenseits der üblichen Geschichtsschreibung zwischen dem Kapitalismus und seinen Vorgängern ausmachte: Lacan geht also wie Marx von einer »Geschichte hinter der Geschichte« aus. Marx sah diese »eigentliche Geschichte« in der Geschichte sozialer Antagonismen, Klassenkämpfen, die sich um ein bestimmtes Produktionsverhältnis gruppierten. Jedoch kam diese Theorie an ihre Grenzen: Angesichts des Ersten Weltkriegs standen Marxisten vor dem Rätsel, warum die Arbeitervertreter entgegen ihrem objektivem Klasseninteresse für die Kriegsanleihen stimmten. Und auch heutige Linke sind ratlos bezogen auf den Aufstieg rechter Parteien gerade in ihren traditionellen Wählermilieus, deren Interessen die Rechte doch scheinbar widerspricht. Mit einer marxistischen Theorie lässt sich nicht erklären, warum das Individuum sich »gegen sich selbst« wendet. Indem Lacan das Genießen ins Spiel bringt, kann er diesen toten Punkt des Marxismus bearbeiten: Das Genießen entspricht nicht den »objektiven« Interessen des Subjekts, sondern steht diesen als unerklärlicher Überschuss, als »Jenseits des Lustprinzips«, entgegen. Mit dieser theoretischen Konzentration auf das Genießen statt auf das objektive Klasseninteresse verschiebt sich der Klassenantagonismus in die Psyche: Wie ich im Folgenden zeigen will und im zweiten Kapitel bereits bezüglich des Herren bereits angedeutet habe, ist der Herr psychoanalytisch gesehen eine Strukturnotwendigkeit in der Subjektivität des Knechtes, so wie der Reiche in der Subjektivität des Armen: Der Antagonismus macht bei Lacan die 8

Diese Vervielfachung der Exklusivität entspricht der von Reckwitz für die Spätmoderne beschriebenen Verallgemeinerung des Besonderen in einer Gesellschaft, die er eine der Singularitäten nennt (vgl. Reckwitz 2018).

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Struktur des Unbewussten aus. Lacans Diagnose einer grundsätzlichen Verschiebung bezieht sich also auf den psychischen Antagonismus, der eine spezifische Gesellschaftsformation prägt, da er sich in das Außen projiziert. Mit seiner Theorie einer grundsätzlichen Verschiebung des zentralen Antagonismus greift Lacan die Rahmenerzählung von Marx auf und deutet diese nur neu aus. Deshalb muss er sich nicht mit konkreten historischen Analysen aufhalten: Von einem bestimmten Moment der Geschichte an ist im Diskurs des Herrn etwas anders geworden. Wir werden uns nicht damit behelligen, ob das wegen Luther ist oder wegen Calvin oder wegen ich weiß nicht was für einem Schiffsverkehr rund um Genua oder im Mittelmeer oder anderswo, denn der wichtige Punkt ist der, daß von einem bestimmten Tag an sich die Mehrlust rechnet, sich verbucht, sich zusammenzählt. Da beginnt das, was man Akkumulation des Kapitals nennt. (XVII: 190.) Die Beispiele, die Lacan hier als mögliche Marker einer historischen Verschiebung anführt, stehen bei Marx oder Weber in Zusammenhang mit der Entstehung des Kapitalismus. Jedoch bringt er auch, wie oben ersichtlich, die Entstehung des Christentums oder die höfische Liebe in Zusammenhang mit der Entstehung des Diskurses der Universität. Lacan will sich nicht auf ein spezifisches historisches Ereignis fokussieren, sondern behauptet als historisch bedeutsame Veränderung die Zählbarkeit und damit die Akkumulierbarkeit der Mehrlust, also des Genießens. Weil Lacan den Begriff der Ökonomie neu interpretiert, handelt es sich bei dieser Veränderung um eine ökonomische. Traditionell wird Ökonomie – das Gesetz des Hauses oder die Hauswirtschaft – verstanden als die Produktion und Verteilung von Gütern, oder weiter gefasst: von allem, was Bedürfnisse befriedigt. Psychoanalytisch betrachtet sind Bedürfnisse beim Menschen jedoch immer sprachlich überformt. Indem das Sprachwesen das Befriedigungserlebnis zu wiederholen sucht, das es in der Stillung eines Bedürfnisses gefunden hat, entsteht eine Figur des Überschusses, die der metonymischen Struktur der Sprache folgt. In die Organisation der Bedürfnisbefriedigung hat sich durch die Sprache ein Element des Exzesses eingeschlichen, das dafür sorgt, dass die Rechnung nie aufgeht. Dieses Element ist das phantasmatische Genießen, das mit der Gründungsfigur des Herren entstanden ist. Ökonomie geht nach Lacan also nicht einfach von befriedigbaren Bedürfnissen aus, sondern hat mit diesem virtuellen Element zu tun, das er mit dem Mehrwert identifiziert: Natürlich hat nicht Marx den Mehrwert erfunden. Nur kannte vor ihm niemand dessen Platz. Es war derselbe zweideutige Platz wie der, den ich gerade genannt habe, der der Zuviel-Arbeit, der Mehrarbeit. Wofür wird damit bezahlt? sagt er – wenn nicht genau dafür: Genießen, das irgendwo hin muß. (XVII: 18.)

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Im »Genießen, das irgendwo hin muss« hat der Mehrwert seine Wurzeln. Es ist ein Genießensüberschuss, der keine Funktion hat, ein Überschuss, der sich einen neuen Platz sucht. In den Mathemen taucht dieser Überschuss auf als das Objekt a, das im Diskurs des Herren entsteht und das ich bereits als negativen Rest bezeichnet habe, als das Genießen, das stets verfehlt wird. Das Objekt a beschreibt Lacan als das Element der Entropie. Es ist das, was aus der Rechnung herausfällt als Zuwenig, das aber gleichzeitig ein Zuviel ist: Ebendeshalb habe ich es zunächst mittels des Begriffs Mehrlust*, plus-de-jouir, eingeführt. Gerade dadurch, daß es in der Dimension des Verlusts wahrgenommen wird – etwas macht es notwendig, das, was zunächst negative Zahl ist, zu, wenn ich so sagen darf, kompensieren –, gerade dadurch hat dieses gewisse Etwas, das an die Wandungen der Glocke geschlagen, das dort widergehallt hat, Genießen gemacht, und zwar zu wiederholendes Genießen. Allein die Dimension der Entropie verleiht hier dem Gestalt, daß es eine Mehrlust gibt, die wiedererlangt werden soll. (XVII: 58.) Lacan benutzt hier den Begriff der Entropie, der einem Freud’schen energetischen Modell, das nach dem Energieerhaltungsgesetz funktioniert, zu widersprechen scheint: Entropie, in der Physik zunächst Erklärung für einen Energieverlust, ist ein Element, das produziert, aber niemals vernichtet werden kann. Deshalb gibt es Prozessen eine Richtung: Das entropische Element steht in Beziehung mit der Zeit, es markiert die Geschichtlichkeit von Prozessen, indem es ihre Unumkehrbarkeit bedeutet. Lacans thermodynamischer Vergleich ermöglicht also, eine unumkehrbare Überschussbewegung zu denken, die aus einem Verlust entsteht. Das Objekt a als Mehrlust, Mehrgenießen, ist im Diskurs des Herren das, was nur als Verlust wahrgenommen werden kann, was immer fehlt und deshalb wiedererlangt werden soll. Diese Mehrlust beischreibt Lacan nun als »Zehnten«, den der Knecht an den Herren abliefert: Der Herr gab sich zufrieden mit diesem geringen Zehnten einer Mehrlust, an dem letzten Endes nichts verrät, dass der Knecht selbst innerlich unglücklich darüber wäre, dass er ihn abliefert. (XVII: 85.) Der Herr erhält einen »geringen Zehnten«: die Mehrlust. Mit dem Begriff des Zehnten bezieht sich Lacan auf die feudale Gesellschaft und legt so eine Verbindung zwischen dem ödipalen Herr-Knecht-Verhältnis und der feudalen Ökonomie nahe. In der feudalen Gesellschaft verrichten die vom Herren abhängigen Knechte mehr Arbeit, als zu ihrer eigenen Reproduktion notwendig ist, diese Mehrarbeit gewährleistet die Existenz des Herren. Die Mehrlust, der abgelieferte Zehnte, ist also das Genießen des Herren, das aus der Perspektive des Knechtes zugleich Überfluss ist

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– es ist nicht zwingend für die eigene Reproduktion notwendig – und Verlust – es muss abgegeben werden. Bleibt man in diesem Bild der feudalen Gesellschaft und ihrem Zehnten, zeigen sich einige Charakteristika der Mehrlust im Diskurs des Herren: Der Herr erteilt einen Befehl, aber dem Knecht kommt die Aufgabe zu, diesen Befehl zu interpretieren und umzusetzen. Die Arbeit des Knechtes ist initiiert durch den absoluten Akt der Entscheidung des Herren, auf diese Entscheidung lässt sie sich zurückführen, deshalb agiert der Herr durch die Arbeit des Knechtes. Der Knecht hingegen weiß nicht nur, was der Herr will, sondern auch, wie er es ihm verschafft: Das Wissen ist auf der Seite des Knechts. Diese Verteilung von Entscheidung und Wissen zeigt sich in der feudalen Gesellschaft: Der Zehnte ist abhängig von dem technischen Wissen, dem savoir-faire des Knechtes – neben äußeren Faktoren wie dem Wetter und der Bodenqualität. Im Gegensatz zum Kapitalisten hat der feudale Herr also nur begrenzt Einfluss darauf, seinen Ertrag zu steigern, besonders weil er nicht über das technische Wissen verfügt, um die Feldarbeit zu optimieren. Darüber hinaus fällt in der feudalen Ökonomie der Zehnte zwar als Überfluss an, dieser kann aber noch nicht akkumuliert werden, unter anderem, weil der Herr von seinen Untergebenen hauptsächlich verderbliche Naturalien bekommt. Die Mehrlust ist demnach im Diskurs des Herren noch nicht »zählbar«, jedoch bereits durchaus vorhanden. Die entscheidende Verschiebung zur postödipalen Ordnung geschieht dadurch, behauptet Lacan, dass diese Mehrlust »zählbar« wird. Im vereinfachten Bild des Übergangs von der feudalen zur kapitalistischen Ökonomie könnte man diese Äußerung zunächst so interpretieren, dass der Anteil, den der feudale Herr von seinen Knechten erhielt, wenn er sie an die Arbeit schickte, in der neuen Ordnung kein unbeeinflussbarer Überschuss mehr ist, sondern das, auf dessen Produktion die gesamte Ökonomie optimiert ist. Im Kapitalismus wird nicht mehr für die unmittelbare Existenz, sondern für den Markt produziert mit der Zielsetzung, Mehrwert zu schaffen. Diese fundamentale Veränderung in der Organisation der Gesellschaft lässt sich mit dem veränderten Platz des Objekt a in den Mathemen in Zusammenhang bringen. Es wechselt von der Stelle des Produkts zur Stelle des adressierten Anderen und gelangt damit in die obere Ebene (vgl. Abb. 6 und 10). Während die feudale Gesellschaft auf Abkömmlinge des Herrensignifikanten ausgerichtet war, Interpretationen des Befehls sozusagen, zielt die kapitalistische direkt auf das Moment der Entropie. Mit der Veränderung des Platzes von Objekt a ist eine Veränderung seines Charakters verbunden: Eine Etage nach oben verschoben, ist die Mehrlust nicht [mehr] Mehrlust, sondern schreibt sich einfach als Wert ein, der der Totalität dessen, was sich akkumuliert […], entweder einzuschreiben oder von ihr abzuziehen ist. (XVII: 86.)

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Aus der Mehrlust/dem Mehrgenießen, das in der feudalen Ökonomie vor allem negativer Überschuss war – das, was der Knecht an den Herren verlor –, wird im Kapitalismus der Mehrwert, der sich permanent dem Kapital hinzuaddiert. Der Kapitalist unterscheidet sich vom Feudalherren dadurch, dass für ihn das, was der Feudalherr als Folge oder Konsequenz seiner Herrschaft erhält (nämlich einen vermittelten Zugang zum Genießen, das Mehrgenießen), zentrales Motiv wird: Der Kapitalist will vom Arbeiter nichts anderes als den Mehrwert. Die Veränderung vom Diskurs des Herren zum Diskurs der Universität lässt sich als eine Zählbarmachung des Momentes des Überschusses beschreiben. Die Mehrlust, die im Diskurs des Herren noch Überschuss der Arbeit der Knechte war, wird im Diskurs der Universität als zählbare Einheit, als »Werteinheit« akkumuliert. In diesem Sinn lässt sich die neue Zählbarkeit der Mehrlust interpretieren als eine Folge des Geldsystems, das ein allgemeines Äquivalent bereitstellt, in dem sich Gewinne abstrahieren, zusammenrechnen und speichern lassen, was in der auf Naturalien basierenden feudalen Ökonomie noch nicht immer möglich war. Lacan verbindet seinen Diskurs der Universität jedoch nicht primär mit dem Kapitalismus, sondern spricht von der »Konsumgesellschaft« (XVII: 41); McGowan knüpft daran an, wenn er seine »Gesellschaft des Genießens« mit der zum Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Konsumkultur identifiziert, die sich von der auf Verzicht basierenden Ökonomie des frühen liberalen oder kompetitiven Kapitalismus unterscheide (vgl. McGowan 2004: 31). Während der frühe Kapitalismus durch die von Weber beschriebene Arbeitsethik charakterisiert werden könne, zeichne sich die aktuelle Form des Kapitalismus dadurch aus, dass die Widersprüche des Kapitals durch eine Steigerung des Konsums auflösbar erscheinen: Consumer culture emerges with monopoly capitalism in order to provide the demand that the mode of production requires. […] Capitalist ideology itself begins to become a barrier to the full development of the capitalist mode of production in the epoch of monopoly capitalism. In response, ideology undergoes the initial steps toward a transformation, a transformation that would result, finally, in an ideology no longer explicitly prohibiting enjoyment but instead beginning to command it. (Ebd.) Den Übergang vom Diskurs des Herren zum Diskurs der Universität, von der ödipalen zur postödipalen Gesellschaft, datiert McGowan auf eine Transformation der Ideologie Anfang des 20. Jahrhunderts. Während im Konkurrenzkapitalismus eine protestantische Verzichtsethik der kapitalistischen Rationalität entsprochen habe – durch Einsparungen, Rationalisierungen und das Drücken der Löhne gilt es, die Konkurrenz auszustechen –, werde im Monopolkapitalismus des 20. Jahrhundert die protestantische Ethik des Verzichts zum Hemmnis und tauge nicht mehr als gesamtgesellschaftliche Logik, da sie die Nachfrage begrenze. Nach McGowan bindet eine Konsumkultur hingegen die Arbeiter in die kapitalistische Ökonomie neu

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ein, indem er sie zu Konsumenten macht, die die eigenen Produkte abnehmen und so für Nachfrage sorgen. Henry Ford steht beispielhaft für diese Transformation: Durch das Zahlen höherer Löhne versichert sich das Unternehmen nicht nur der Loyalität der Arbeiter, sondern kurbelt die Nachfrage an, indem es die Arbeiter zu den Abnehmern der eigenen Produktion macht. Die höheren Löhne rentieren sich, weil die Arbeiter so zweifach ausgebeutet werden: Zum einen, indem sie nicht für ihre Mehrarbeit bezahlt werden, zum anderen, indem sie mehr für die Produkte bezahlen müssen als der Kapitalist für deren Produktion ausgegeben hat. So scheint das Stimulieren der Nachfrage, eine Ideologie des Konsums, die Widersprüche des Kapitalismus aufzulösen, indem sie die Arbeiter befriedet und immer neuen Produkten Absatz verschafft. Statt Genussverzicht fordert die Konsumkultur also das Genießen – Genießen wird zur strukturellen Notwendigkeit und sozialen Pflicht. Die Pflicht zum Genießen, die McGowan konstatiert, ist jedoch mit der Unmöglichkeit des Genießens konfrontiert. Das Mehrgenießen, das im Diskurs des Herren entstanden ist, war Produkt einer folgenreichen Illusion. Wie kann also das Genießen in der »Gesellschaft des Genießens« überhaupt möglich sein? Will man diese Frage beantworten, reicht das bisher beschriebene Schema der zwei Ökonomien nicht aus. Denn der Diskurs des Herren beschreibt weit mehr als die feudale Ökonomie, nämlich eine spezifische Umgangsweise mit der Unmöglichkeit des Genießens. Wie schon im zweiten Kapitel gezeigt, leitet Lacan das Verhältnis des Subjekts zum Genießen aus dem Hegel’schen Herr-Knecht-Verhältnis her. Die Beziehung zwischen Herr und Knecht ist bei Lacan jedoch eine innerpsychische Dynamik, die sich in das Außen hinein spiegelt. Zunächst nimmt das ödipale Subjekt die Position des Knechtes ein: Es unterwirft sich dem reinen Signifikanten, dem Herren, der bereit war, vollständig auf das Sein zu verzichten. Selbstbewusstsein bzw. Sprachwesen kann es jedoch nur durch seine identifikatorische Beziehung zum Herren werden. Als bewusstes Selbst nur kann es Beziehung zu seinem Außen haben. Sein Verhältnis zur Welt ist also durch den Herren vermittelt (vgl. Kapitel 2.3). Im Mathem des Diskurses des Herren ist diese Spaltung des Subjekts auf der linken Seite zu sehen: Das Subjekt ist gleichzeitig Herr und Unterworfenes. Weil das Subjekt nur als Herr Beziehung zum Anderen hat, wird dieser Andere für das Subjekt zum Knecht. Das Subjekt, das Herr und Knecht zugleich ist, hat entsprechend ein doppeltes Verhältnis zum Genießen des Seins. In Hegels Dialektik hat der Herr, um Herr zu werden, im Kampf um Anerkennung den eigenen Tod in Kauf genommen und somit das Sein zurückgewiesen. Deshalb ist er nicht nur unmittelbar Herr über den Knecht, sondern auch über das Sein. Gleichzeitig ist er zum einen mittelbar Herr über den Knecht durch das Sein, auf das der Knecht nicht verzichten wollte und das deshalb zu seiner »Kette« wird. Zum anderen ist er mittelbar Herr über das Sein durch den Knecht, denn der

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

Knecht bearbeitet die Natur und stellt sie bearbeitet, konsumierbar, dem Herren zur Verfügung. Dem Herren gelingt es deshalb, »im Genüsse sich zu befriedigen«, er kann das »Ding« konsumieren. Vermittels des Knechts gelingt dem Herren also das absolute Genießen des Objekts; er genießt die »Unselbständigkeit des Dinges«, während sich der Knecht mit dessen Selbstständigkeit abmüht. Der Herr lebt also die phantasmatische Allmachtsphantasie einer völligen Verfügbarkeit der Substanz, von der das Genießen kommt. Der Knecht hingegen hat zum Sein ein ambivalentes Verhältnis. Im Gegensatz zu dem Herren hat er im Kampf um Anerkennung nicht auf das Sein verzichtet und sich deshalb dem Herren unterworfen. Das vollständige Genießen gelingt ihm jedoch nicht: Der Knecht bezieht sich als Selbstbewußtsein überhaupt auf das Ding auch negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich selbständig für ihn, und er kann darum durch sein Negieren nicht bis zur Vernichtung mit ihm fertig werden, oder er bearbeitet es nur. (Hegel 1988 [1806]: 133.) Der Knecht kann das Ding nie ganz negieren bzw. konsumieren, denn er hat sich nicht durch seine Geste des Verzichts aus seiner Abhängigkeit von ihm gelöst. Weil er Selbstbewusstsein ist und sich deshalb als Subjekt setzen kann, ist ihm das Ding zwar Objekt. Da das Ding ihm aber als selbstständiges gegenübertritt, kann er nie völlig über es verfügen. Die Beziehung des Knechts zum Ding nennt Hegel deshalb ein »Bearbeiten«: Der Knecht ist wirksam dem Ding gegenüber, kann es sich partiell zu eigen machen. Jedoch bleibt der selbstständige Teil des Dings dem Herren vorbehalten: Die Früchte seiner Arbeit eignet sich der Herr an. Versteht man Herr und Knecht als innerpsychische Instanzen des ödipalen Subjekts, wie ich bereits im zweiten Kapitel vorgeschlagen habe, so lässt sich die Beziehung des Subjekts zum Genießen als doppelte beschreiben. Der Herr kann das Ding ganz genießen, es bleibt nichts von ihm übrig. Damit entspricht er dem Urhordenvater, der als einzige Ausnahme Zugang zum absoluten Genießen hatte: Er konnte über alle Objekte verfügen, nichts an ihnen entzog sich ihm. Deshalb sind seine Objekte – wie er selbst – Signifikanten, die von ihrem selbstständigen Sein vollständig getrennt sind. Als Unterworfenes, das mit dem Herrn nie ganz identisch werden kann, ist dem Subjekt dieses vollständige Genießen nicht vergönnt, jedoch folgt es seiner Bahn. Wenn es seinen Objekten wie der allmächtige Urvater gegenübertritt und sie als Signifikantenobjekte nimmt, so entzieht sich ihm stets ein (realer) Rest: Ganz kann es seine Objekte nie genießen. Nur in den magischen Momenten, in denen das Phantasma aufgeht, wenn sein Mangel vom Objekt a verschlossen wird, wenn es selbstidentisch und damit echter Herr wird, kann es temporäre Befriedigung finden. Erklärung für das Scheitern seines Genießens bleibt für das Subjekt der Herr, den es nie ganz verkörpern kann. Das ödipale Subjekt entspricht also dem Knecht, der durch den Herren Zugang zu sei-

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nen Objekten hat und sich mit ihm das Scheitern seines Genießens erklärt. Die Unterwerfung des Subjekts, dessen Einnahme der Position des Knechtes, hat also für es durchaus Vorteile: In der Identifikation mit dem Herren partizipiert es an der Beherrschung des Seins, wenn es darin scheitert, kann es dieses Scheitern mit dem Herren rechtfertigen, der dem vollständigen Genießen im Weg steht. In diesem Sinn könnte man Gesellschaften, die wie der Diskurs des Herren durch eine zentrale Autorität organisiert sind, beispielsweise die feudale Gesellschaft, als eine Gesellschaft der Knechte interpretieren, die jeweils auf einen höherstehenden Herren angewiesen sind und diesen schließlich in der Fiktion Gottes finden. In dem Erleben der ödipalen Subjekte ist die Mehrlust das, was ihnen versagt bleibt, aber doch eigentlich zusteht:9 ein unbestimmter Mangel, der auf ein Mehr verweist. Der postödipale Diskurs der Universität lagert die Unmöglichkeit des Genießens anders. So erscheint es zunächst, als sei angesichts des Endes des Verbots kein Opfer, kein Verzicht auf Genießen mehr nötig: Während im ödipalen Modell das Verbot eine zentrale Rolle spielte, der Verzicht Voraussetzung dafür war, gesellschaftliches bzw. sprachliches Wesen zu werden – das Genießen also immer verloren und nur mittelbar zugänglich war – scheint es für das postödipale Subjekt ohne Einschränkung erlaubt. Wie ist aber die Zugänglichkeit des Genießens mit seiner strukturellen Unmöglichkeit vereinbar? Einen Schlüssel zum Verständnis des postödipalen Umgangs mit dem Genießen liefert Lacan mit dem Beispiel des Trimalchio, einer Figur aus dem antiken Roman »Satyricon« von Petronius Arbiter (Petron 1982), der den Reichen und damit das Agens des Kapitalismus verkörpert: Der Reiche ist Herr nur – und ebendas ist es, was ich Sie im Satiricon zu sehen bitte –, weil er sich freigekauft hat. Die Herren, um die es am Horizont der antiken Welt geht, sind keine Geschäftsleute. Sehen Sie nur, wie Aristoteles von ihnen spricht – es stößt ihn ab. Dagegen: wenn ein Sklave sich freigekauft hat, dann ist er nur darin ein Herr, daß er anfängt, alles aufs Spiel zu setzen. Genau so drückt sich eine Figur, die niemand anderer als Trimalchio selbst ist, im Satiricon aus. Von dem Moment an, wo er reich ist, warum kann er da alles kaufen, ohne zu bezahlen? Weil er nichts mit dem Genießen zu tun hat. Das ist es nicht, was er wiederholt. Er wiederholt seinen Kauf. Er kauft alles frei oder eher noch: alles, was sich ihm bietet, er kauft es frei. Er ist zum Christen gemacht. Er ist aus Bestimmung der Freigekaufte. (XVII: 88.) Trimalchio ist ein freigekaufter Sklave, der mit seiner neu erworbenen Bildung und seinem immensen Reichtum die Protagonisten des Satyricons zu beeindrucken versucht, sich darin aber völlig lächerlich macht. Seine Bildung ist Halbbil9

Darauf will Lacan hinaus, wenn er formuliert, dass das Mehrgenießen im Diskurs des Herren ausgeschlossen ist (vgl. ebd. 98).

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

dung, sein Prunk geschmacklos. Er erscheint zunächst als Witzfigur für das spottende alte Geld, das differenziert und geschmackvoll genießen kann.10 In dieser Witzfigur macht Lacan das Wesen der postödipalen Subjektivität aus. Denn was Trimalchio auszeichnet, ist, dass er seine Belesenheit, seine luxuriösen Speisen und seine Güter nicht genießen kann. Was Trimalchio permanent wiederholt, ist kein Genießen und hat mit dem Genießen auch nichts zu tun, sondern der Akt des Kaufens. In diesem Akt liegt die für die postödipale Subjektivität zentrale Figur, denn der Kauf impliziert in Lacans Definition einen Verzicht auf das vollständige Genießen. Nur weil der Knecht – oder in Lacans Beispiel der Sklave – einen Teil der Früchte seiner Arbeit spart, weil er nicht ganz genießt, sein Mehrgenießen opfert, gelingt ihm der »Freikauf«. Doch ist mit dem Freikauf seine Knechtschaft nicht beendet. Wenn sich der Sklave nur freikauft, löst er die Position des Herren nicht auf, sondern kauft sich von der Verantwortung frei, Herr zu sein: Er will das, was der Herr hat, das vollständige Genießen, haben, jedoch ohne das Risiko auf sich zu nehmen, das den Herren zum Herren machte. Als Kern der postödipalen Subjektivität macht Lacan also den permanenten Versuch aus, sich vom Herren freizukaufen. Um zum vollständigen Genießen zu gelangen, tut das Subjekt das, was der Sklave tat: Er verzichtet, bringt ein Opfer, in der Hoffnung, damit den Herren als Hindernis vor seinem Genießen loszuwerden. Statt zu genießen fährt Trimalchio fort, sich mit dem Mehrgenießen freizukaufen. Der Reiche kauft alles, was sich ihm bietet, und addiert es seinem Reichtum hinzu. Lacan behauptet im obenstehenden Abschnitt, dass sich das Kaufen des Reichen dadurch auszeichnet, dass er nicht bezahlt. Dieses Nicht-Bezahlen lässt interpretieren als die kapitalistische Logik der Mehrwertproduktion. Der Reiche, der Kapitalist, bezahlt seinen Arbeitern bzw. den Herstellern seiner Konsumobjekte nur deren Reproduktionskosten, nicht aber ihre Mehrarbeit, die seinen Gewinn ausmacht. Seine Käufe sind eine Investition, er will ein Schnäppchen machen. Seine Objekte zeichnen sich demnach dadurch aus, dass sie Mehrwert zu haben scheinen, dass sich mit ihrem Kauf ein Gewinn machen lässt. Der Akt des Kaufens dient also nicht der Versorgung von Bedürfnissen, das postödipale Subjekt sucht im Kauf vielmehr den Mehrwert, der sich dem Kapital hinzuaddiert, mit dem sich der ehemalige Sklave erneut freikaufen kann. Das Streben nach Mehrgenießen als Mehrwert führt also paradoxerweise nicht zum Genießen, das Kaufen dient nicht dem Konsum: Die Wahrheit der Konsumgesellschaft ist, folgt man diesem Bild Lacans, dass eben gerade nicht konsumiert

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»Satyrikon« ist ein nur fragmentarisch erhaltener Sittenroman, der wahrscheinlich in den 60er Jahren ersten Jahrhunderts nach Christus entstanden ist. Ein Kernstück bildet das »Gastmahl des Trimalchio«, das fast vollständig erhalten ist. Ein wichtiges Thema dieser satirisch überspitzten Szenen ist die dekadente Maßlosigkeit, die als »Unfähigkeit zum wahren Genuss dargestellt« wird (Nickel 1999: 797).

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wird, denn das Kaufen ist nicht Genießen, sondern Investition. Statt tatsächlich bis zum Ende zu genießen, das Ding völlig zu verzehren, investiert der Reiche in ein Projekt, das Mehrwert verspricht. Letztlich gelangt er damit nicht zum Ding, sondern vergrößert seinen Reichtum und damit das, was ihn ausmacht: Ein Selbst, das sich immer weiter aufbläht, indem es sich alles, was ihm begegnet, einverleibt. Deshalb ist McGowans Idee einer Veränderung in der kapitalistischen Ideologie nicht zuzustimmen, denn die protestantische Ethik, die Verzicht und Reinvestition forderte, gehört zum Kapitalismus wesenhaft hinzu. Jedoch wird sie im Konsumkapitalismus auf alle ausgedehnt: Auch die Arbeiter haben Teil an dem, was Lacan als das Wesen des Reichen bezeichnet: Und warum läßt man sich vom Reichen kaufen? Weil das, was er Ihnen gibt, teilhat an seinem Wesen als Reicher. (XVII: 88.) Der durch den Lohn ermöglichte Konsum entspricht dem »Freikauf des Reichen«. Objekte des Konsums befriedigen keine Bedürfnisse, aber sie eignen sich auch nicht zum (absoluten) Genießen. Zwar scheinen sie als attraktive Konsumobjekte das Objekt a zu enthalten, das dem Herren vorbehalten war. Jedoch wird das Objekt nicht verzehrt, sondern in Besitz genommen. Die Inbesitznahme erklärt Unabhängigkeit vom Herren und wertet die Identität des Subjekts auf. Diese Deutung von Konsumobjekten erklärt, warum der Akt des Kaufens befriedigender ist als die Beschäftigung mit dem Gekauften selbst, warum »Shoppen« an sich, unabhängig davon, was da eigentlich geshoppt wird, befriedigend ist, warum es wichtiger ist, eine große Musiksammlung zu erwerben und zu besitzen, als tatsächlich Musik zu hören. Es gibt im Konsumkapitalismus also zwei Arten des Genießens: Das unmögliche Genießen, das nie erreicht wird, das in Aussicht gestellt ist und vor dem jetzt kein Herr mehr steht, und das Genießen der Aneignung, ein Genießen, das stets unbefriedigt zurücklässt. Wie sich das postödipale Subjekt auf seine Konsumobjekte bezieht, bezieht es sich auch auf den anderen: Dieses Verhältnis zum kleinen anderen, dem konkreten Nebenmenschen, entspricht dem Verhältnis des Reichen zu seinen Investitionen: Der Nächste wird als Versprechen von Mehrlust zum Investitionsobjekt, in das man Arbeit, Zeit und Kraft steckt. Ein Investitionsobjekt, das sich mehr oder weniger lohnen kann. Gerade der Kontakt zum anderen wird somit beliebig, austauschbar, weil er sich rechnen muss. Deshalb spricht Lacan von einer »schundhaften Mehrlust«: Die Verbraucher-Gesellschaft gewinnt ihren Sinn daraus, daß dem, was in ihr das Element, in Anführungsstrichen, ausmacht, das man als menschliches qualifiziert, das homogene Äquivalent einer x-beliebigen Mehrlust verliehen wird, die das Produkt unserer Industrie ist – eine unechte, schundhafte Mehrlust, um es klar zu sagen. (XVII: 86.)

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

Die kapitalistische Gesellschaft bzw. das kapitalistische Subjekt reduziert den (anderen) Menschen zur Ware, die wie jede andere Ware Mehrwert enthält und Mehrgenießen verspricht. Menschen wie Objekte bieten sich an als Versprechen von Mehrgenießen, als Schnäppchen, bei dem der Verbraucher ein gutes Geschäft macht. In der Konsumgesellschaft begegnet also jedem Verbraucher der andere als Gefäß einer Mehrlust, die sich addieren lässt, aber keinen Moment der Begegnung zulässt. Das Gegenüber ist nicht länger der Andere, über das das Subjekt zu seinem Bewusstsein findet und sekundär genießen kann, sondern inkarniertes Mehrgenießen. Entsprechend muss sich in einer postödipalen Gesellschaft die Einbindung ins Soziale gewandelt haben: Statt einer Integration des Einzelnen durch das Verbot ist in der Gesellschaft des Genießens das permanent wiederholte Freikaufen, ein »Leben als Konsum« (vgl. Bauman 2017) notwendig, um zum Teil der Gesellschaft zu werden. Nicht zufällig gehen die Begründer der ökonomischen Theorie des Kapitalismus davon aus, dass das Mehrgenießen, das in der amerikanischen Verfassung als Recht definierte individuelle Streben nach Glück (pursuit of happiness), dem Gemeinglück dient. In ihrem Streben nach Mehrgenießen stellen die postödipalen Subjekte das Soziale her als ein Netzwerk aus imaginären Beziehungen, in denen der jeweils andere als i(a) auftritt, als Hülle des Mehrgenießens. Das Ergebnis eines solchen Verhältnisses zum anderen könnte das sein, was Robert Pfaller als »Genießen ohne Genießen« bezeichnet hat. Er konstatiert gegenwärtig die Tendenz, das »Schmutzige« des Genießens um jeden Preis zu vermeiden. Indem das Genießen von seiner tödlichen, gefährlichen Dimension bereinigt wird, entstehe ein »Genießen ohne Genießen« (Pfaller 2012), für das er beispielhaft das alkoholfreie Bier, die fettfreie Margarine, die schadstoffarme E-Zigarette anführt. Dies sei ein Genießen, das zwar die äußere Form eines Genießens beibehält, jedoch um den exzessiven und bedrohlichen Kern bereinigt wurde, der das Genießen ausmacht. Eine ähnliche Kritik liest sich bei Žižek (Žižek 2013). Gegen diese Interpretation ist einzuwenden, dass auch Bier, Butter und Zigarette nur leere Formen sind, sobald sie der postödipale Emporkömmling in den Händen hält, (und möglicherweise schon immer waren): Trimalchio, der maßlose ehemalige Sklave, tischt edelste Speisen auf – sicher wären heute auch Bier, Butter und Zigaretten dabei – und dennoch kann er sie nicht genießen. Von all dem Bier und der Butter wird den postödipalen Subjekten schlecht; das Ausweichen auf alkoholfreies Bier, fettarmer Margarine und E-Zigarette erlaubt es, das Moment der Übersättigung etwas weiter hinauszuschieben und so noch mehr zu konsumieren. Lacan geht davon aus, dass sich der Antagonismus, der die Gesellschaft spaltet und diese so hervorbringt, gewandelt hat. Mit Trimalchio wählt er eine Metapher, die viele verschiedene Deutungen zulässt. Seine Figur lässt sich zum einen, wie bisher beschrieben, als freigekaufter Sklave deuten, der den Freikauf und damit seine Sklaventätigkeit wiederholt, weil ihm die Arbeit als das erscheint, was

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das Genießen zugänglich macht. Zum anderen ist für ihn charakteristisch, dass er Menschen bearbeitet: So versucht er den Blick seines Gegenübers, des Anderen, zu beeinflussen – all die auserlesenen Speisen, die ästhetischen Inszenierungen, all das, was dem Genießen dienen sollte, was der Herr möglicherweise einst genossen hat, fährt er nicht zu seinem eigenen Genießen auf, sondern um seine Gäste zu beeindrucken, um sie bewundernd zu machen. Er genießt das scheinbare Genießen der anderen. Aber auch er selbst ist Gegenstand seiner Bearbeitungen. Er eignet sich Wissen an, kleidet sich neu ein und versucht, sich so zu gestalten, dass er als Herr durchgeht. Er bearbeitet sich selbst, bildet sich, eignet sich Dinge an. Trimalchio ist kein Herr, der sich nicht dafür interessiert, wie seine Befehle umgesetzt werden. Er ist aber auch kein Knecht mehr, der sich mit seinem Herren identifiziert. Wenn Trimalchio im Satyricon als lächerliche Gestalt dargestellt wird, über die sich die alten Herren amüsieren, lachen diese, um ihre Angst zu vergessen, denn Trimalchio und Seinesgleichen haben längst die Macht übernommen.

3.2 Das Wissen als Mittel des Genießens Den Übergang vom Diskurs des Herren zum Diskurs der Universität beschreibt Lacan mit einem zweiten Moment, nämlich mit dem einer Veränderung des Status des Wissens. Die Wissensordnung des Diskurses des Herren ist auf eine Gründungsgeste zentriert: Der Diskurs des Herren ist gestiftet durch den jedem Zugriff entzogenen unbewegten Beweger, der keine weiteren Voraussetzungen hat, sondern sich als Wunder offenbart oder als sinnlose Gewalt einschreibt. Entsprechend ist jedes Wissen in diesem Herrensignifikanten begründet, knüpft an diesen an, setzt diesen voraus. Die Wissensordnung des Herrendiskurses lässt sich vorstellen als eine konsistente göttliche Ordnung, in der alles seinen Sinn aus seiner Beziehung zum Höchsten hat. Wissenschaft kann in dieser Ordnung nur die Aufgabe haben, die immer schon vorhandene göttliche Wahrheit freizulegen und immer aufs Neue den Herren zu bestätigen. Die zentrierende, sinnlose und gleichzeitig sinnstiftende Gründungsgeste scheint im postödipalen Wissensregime zu fehlen: Wissen scheint nun ohne begründenden Akt auszukommen, es scheint objektiv und neutral, ohne legitimierende Instanz. Der Übergang vom Ödipalen zum Postödipalen impliziert deshalb eine Veränderung des Selbstverständnisses der Wissenschaft. Lacan geht jedoch noch einen Schritt weiter: Er behauptet, dass sich im Diskurs der Universität das einstige Sklavenwissen von seiner dienenden Funktion gelöst hat und selbst an die Position des Agens gerückt ist. Der Diskurs der Universität beschreibt also eine Herrschaft des Wissens, das Wissen hat den Platz des Herren eingenommen.

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

Mit dieser Entwicklung oder »Modifizierung am Platz des Wissens« (XVII: 40) liefert Lacan eine zweite Erzählung des Übergangs von einer alten zu einer neuen Ordnung, die sich erst auf einen zweiten Blick mit seiner ökonomischen Beschreibung zusammenfügt. Bezüglich des Wissens ließe sich mit Foucault von einem Übergang zwischen zwei Epistemen, zwei Wissensregimen, sprechen (vgl. Foucault 1974). Man könnte den Übergang zwischen den Wissensregimen der Aufklärung zuschreiben, die nach den Voraussetzungen des eigenen Denkens fragt, und damit nicht nur die Fundamente des Wissens in Frage stellt, sondern ein Wissen zu denken versucht, das ohne Fundamente auskommt.11 Dieser absichtsvollen Entgründung des Wissens gehen zahlreiche Erschütterungen seiner Fundamente voraus: Zu nennen wäre beispielsweise die neue Unendlichkeit der Quellen durch zunehmende Rezeption von antiken und nicht-europäischen Texten, die den mittelalterlichen Kanon ablöst, der begrenzt ist durch die Institution der Kirche. Diese Entwicklung erschwert es, einen Einheit stiftenden Rahmen und eine unbezweifelbare Legitimität des Wissens zu denken – das Wissen führt nicht mehr zweifelsfrei zu und kommt nicht mehr von Gott. Wissen wird doppelt entgründet: Es ist zweckfrei und ohne Legitimation. Das Ende des verbindlichen Wissens lässt sich an den verschiedenen Versuchen erkennen, den wegfallenden Kanon zu ersetzen. Beispielsweise lassen sich in der Neuzeit vermehrt Versuche beobachten, das Wissen der Menschheit in Enzyklopädien zu sammeln. Ulrich Schneider spricht von einer »Erfindung des allgemeinen Wissens« in der Aufklärung, das sich in dem Entstehen zahlreicher Enzyklopädien äußert. Dieses allgemeine Wissen ist »kein Wissen zur professionellen Fortbildung, sondern Definitionen, Informationen, Hintergrundwissen im Allgemeinen« (Schneider 2013: 8), das sich an den interessierten Autodidakten richtet. Schneider konstatiert eine »unspezifische und gleichzeitig generelle Neugier« (ebd.) seit der Aufklärung. Wissen ist nicht länger an einen konkreten Handlungszusammenhang gebunden, in Lacans Worten: kein savoir-faire (techne) mehr, sondern wird zu episteme, zum Wissen, das losgelöst von seiner Nützlichkeit interessant ist. Das allgemeine Wissen ist kein Wissen, das nur spezifischen Berufsgruppen oder Stän-

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Die Aufklärung wird begleitet von dem Versuch, die Organisation der Gesellschaft ebenfalls vom irrationalen Gründungsakt zu befreien und nach Maßgabe der Vernunft zu organisieren. Die Befreiung von Gott als Begründung in der Wissenschaft entspricht der Befreiung vom Gotteskönigtum: Die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts entledigten sich der Instanz, die Gesellschaft zentrierte. Mit der Demokratie ist eine politische Organisationsweise eingeführt, die scheinbar ohne Fundament, ohne Letztbegründung auskommt und sich stattdessen, wie Lefort formuliert, durch symbolische Übergänge wie der Wahl temporär legitimiert (Lefort/Gauchet 1990).

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den zusteht, sondern sorgt für die soziale Mobilität, die moderne Gesellschaften behaupten.12 Die Anfänge von episteme datiert Lacan jedoch weit früher als in die Zeit der Aufklärung: Er zitiert eine Stelle aus Platons »Menon«, in dem Sokrates sich mit der Frage beschäftigt, wie Erkenntnis zustande kommt. Dabei zieht er einen Sklaven heran, um ein mathematisches Problem zu lösen und damit zu demonstrieren, dass Erkenntnis auf der Freilegung eines bereits Gewussten basiert:13 Beziehen Sie sich auf den Menon, auf den Moment, in dem es um die Wurzel aus 2 geht und darum, daß sie nicht meßbar ist. Es gibt da einen, der sagt: Aber laßt uns sehen, der Sklave, er möge kommen, der liebe Kleine, ihr werdet schon sehen, er weiß. Man stellt ihm Fragen, Herrenfragen ganz sicher, und der Sklave antwortet auf die Fragen natürlich das, was diese Fragen bereits als Antworten diktieren. Man findet da eine Form von Spott. Es ist eine Weise, die Figur zu verhöhnen, die da bereits wieder zum Ofen zurückgekehrt ist. Man zeigt, daß der Ernst, die Absicht dabei darin liegt, sehen zu lassen, daß der Sklave weiß, jedoch nur, indem man es über diesen höhnenden Umweg eingesteht. Was man verbirgt, ist, daß es nur darum geht, dem Sklaven seine Funktion auf der Ebene des Wissens zu rauben. (XVII: 20.)

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Eine soziale Mobilität, die vor allem durch die Pädagogik hergestellt wird, denn die Erfindung des allgemeinen Wissens hängt eng mit der Entstehung der (allgemeinen) Pädagogik zusammen. Nicht zufällig ist einer der ersten Namen, den die Pädagogik als eigenständige Disziplin für sich reklamiert, Johann Amos Comenius, der sich auf die enzyklopädischen Traditionen des Humanismus bezieht und eine »Allweisheitslehre« entwirft (vgl. Benner/ Brüggen 2011: 62f.). Allgemeines Wissen und allgemeine Pädagogik sind nicht nur bei Comenius eng verschränkt, sie setzen einander voraus und produzieren sich gegenseitig. Die Ablösung des Wissens von seinen konkreten Handlungskontexten macht zum einen eine Pädagogik notwendig, die über das Zeigen der Techniken durch Erfahrenere hinausgeht. Erst wo ein Wissen entsteht, das für alle Menschen jenseits ihrer gesellschaftlichen Funktion und (späteren) Tätigkeit wichtig ist, kann die Wissensübermittlung in allgemeinen, Berufsgruppen übergreifenden Institutionen erfolgen: die Voraussetzung für ein allgemeines, öffentliches Schulwesen und die Einführung der bis heute existierenden Schulpflicht. Erst die Annahme eines Wissens, das über das kontextuelle Handlungswissen hinausgeht, führt zu den Grundfragen der Pädagogik: was wie vermittelt werden soll. Zum anderen ermöglicht und beschleunigt die Pädagogik die Ablösung des Wissens von seinen Handlungskontexten. Allgemein ist Wissen nicht aus sich selbst heraus, sondern es wird dadurch allgemein, dass es allen zur Verfügung steht, dadurch, dass es an den allgemeinen Bildungsinstitutionen unterrichtet wird. Sokrates zeigt seinem erkenntniskritischen Dialogpartner Menon, indem er den mathematisch ungebildeten Sklaven eine geometrische Aufgabe lösen lässt und ihn nur durch Fragen unterstützt, dass Wissen nicht gelehrt werden und von außen kommen muss, sondern bereits als logischer Zusammenhang vorhanden ist. Diese Episode findet sich in Platons »Menon« (vgl. Ebert 2018).

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

Lacan interpretiert diese Szene zum einen als spottendes Eingeständnis der Herren, dass das Wissen bereits beim Sklaven vorhanden ist, zum anderen aber als »Extrahierung« (ebd.) des Wissens des Sklaven: Der Sklave, der Knecht, ist im Diskurs des Herren noch der, der das Wissen hat, das savoir-faire, das ihm ermöglicht, den Befehl des Herren zu interpretieren und zu Handlung werden zu lassen. Es ist ein Wissen, das an einen konkreten Handlungszusammenhang gebunden ist: in Aristoteles’ Begriff techne. Die aufgegriffene Szene ist nun eine Szene des Übergangs zu einer neuen Form des Wissens. Das Wissen löst sich vom Sklaven, von der Tätigkeit, es wird allgemeines Wissen. Dabei spielt nach Lacan die Philosophie eine besondere Rolle: Die Philosophie in ihrer historischen Funktion ist diese Extrahierung, fast würde ich sagen: dieser Verrat, am Wissen des Sklaven, um daraus die Transmutation in Herrenwissen zu erhalten. (Ebd.) Schon die antike Philosophie arbeitet nach Lacan daran, den Sklaven seines Wissens zu berauben. Sie sei »eine faszinierende Unternehmung zugunsten des Herrn« (ebd. 21). Indem sie das Sklavenwissen aus seinem konkreten Handlungskontext enthebt und zum allgemeinen, übermittelbaren Wissen, zu episteme, werden lässt, macht sie daraus Herrenwissen – ein Prozess, an dessen Ende Lacan Hegels absolutes Wissen sieht: ein Wissen, das sich scheinbar von dem Herren emanzipiert hat und selbst zum Herren geworden ist. Die Herrschaft des Wissens ist also ein Produkt der Philosophie, die antike Philosophie ein Vorläufer der Aufklärung.14 Die Herrschaft des Wissens gibt sich jedoch nicht als solche zu erkennen. Um beim Beispiel Enzyklopädie zu bleiben: Während zentrale Texte älterer Gesellschaftsordnungen konsistente Erzählungen waren, die den Menschen ihre Welt erklärten, zeichnet die Enzyklopädie als Text gerade aus, dass er sich nicht als eine konsistente Erzählung lesen lässt. Enzyklopädien sind nicht dafür geschrieben, von Anfang bis Ende durchgelesen zu werden. Sie sind Nachschlagewerke, die aus einzelnen, kürzeren und zusammenhanglosen Artikeln bestehen, die aus einem aktuellen Interesse gelesen werden können. Statt einer göttlichen Ordnung entsteht aus dem postödipalen Wissen eine »Welt wie ein großes Puzzle« (Schneider 2013: 27). Ein Puzzle, das konstitutiv unvollendet ist: Die Enzyklopädisten müssen mit ihren Bemühungen, ein allgemeines Wissen festzuhalten, zwangsläufig scheitern, denn das Wissen veraltet schnell: Durch die Ausdifferenzierung der Wissenschaften und deren ständiger Produktion von neuen Theorien werden wissenschaftliche Wahrheiten immer häufiger als vorläufige angenommen. Das wissenschaftliche 14

Im vierten Kapitel werde ich mit dem »Diskurs der Hysterika« den Zusammenhang zwischen philosophischem Hinterfragen von Autorität und gegebenem Wissen und der Entstehung des Diskurses der Universität genauer beleuchten.

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Wissen behauptet nicht mehr, Aussagen über die Wahrheit machen zu können, sondern bescheidet sich immer mehr damit, die bisher plausibelste Erklärung eines Phänomens geben zu können. Dabei können durchaus mehrere Theorien konkurrieren. Schneider zeigt beispielsweise, dass in den Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts unter einem Stichwort mehrere Theorien und sich widersprechende Aussagen zum Gegenstand gesammelt werden, damit sich der Leser sein eigenes Urteil bilden kann (vgl. ebd. 170). Das enzyklopädische Wissen gibt sich neutral und scheint sich damit völlig in den Dienst des Subjekts zu stellen. Dieser neuzeitlichen Annahme, dass das Wissen im Dienste des Subjekts steht, widerspricht Lacan vehement. Bereits in der »Ethik der Psychoanalyse«, dem Seminar VII von 1959–1960, setzt sich Lacan mit dem kategorischen Imperativ Kants als einer Ethik auseinander, die sich nur in der Vernunft zu begründen glaubt. In der Loslösung der Vernunft von ihrem Subjekt sieht Lacan den Todestrieb am Werk, denn die Kant’sche Vernunft zielt auf ein Absolutes, das das Ende des Subjekts impliziert. Kants Ethik definiert sich dadurch, dass sie das Gute neu fasst: Die entscheidende Neuerung der Kantischen Ethik besteht darin, dass die Hierarchie zwischen dem Begriff des Guten und dem moralischen Gesetz umgekehrt und ersterer von letzterem definiert wird. Es gibt kein anderes moralisches Gut als dasjenige, das definiert ist als: in Übereinstimmung mit der Pflicht und aus der Pflicht vollbrachte Handlung. (Zupančič 2001: 49.) Das Gute ist bei Kant nun durch das Gesetz, die Pflicht selbst definiert. Damit löst sich das Gesetz von jedem konkreten Objekt: Es gibt keinen Zweck, der das Mittel heiligt. Kants Ethik versucht nach Lacan ohne das »pathologische Objekt« auszukommen, ohne Objekt der Leidenschaft: Denn »keinerlei Wohl*, sei es das unsere oder sei es das unseres Nächsten, soll als solches Ziel moralischen Handelns sein.« (VII: 95.) Die Kant’sche Ethik versucht, vom Subjekt und Objekt zu abstrahieren, und verlangt eine Neutralität, die Lacan treffend mit der Programmierung einer Maschine vergleicht, so dass er den Imperativ übersetzt: Handle nur so, dass dein Handeln programmiert werden könne. Die Radikalität einer solchen Forderung findet Lacan gerade bei einem Autor wieder, der zunächst wie das Gegenteil der Kant’schen Ethik erscheint: de Sade, der scheinbar jede Moral zurückweist, mit Kant jedoch die Unbedingtheit seiner Forderung teilt: Wenn man aus der Moral jedes Gefühlselement eliminiert, wenn man uns jede durch unser Gefühl gegebene Führung entzieht, als ungültig erklärt, dann ist de Sades Welt – selbst wenn sie das Gegenteil und die Karikatur davon ist – im Extrem begreifbar als eine der möglichen Verwirklichungen einer von einer radikalen Ethik beherrschten Welt, von der Kantschen Ethik, wie sie 1788 niedergelegt wird. (VII: 99.)

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Die Welt de Sades, in der sich der Libertin für sein Genießen über jedes Gesetz hinwegsetzt, entspricht nach Lacan dem kategorischen Imperativ: De Sade fordert von den »Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt« (vgl. de Sade 2013). Echte Republikaner erkennen keine Schranke mehr an: Schranken der Ehe, des Eigentums, der guten Sitten – Schranken, die einer Welt überkommener Autoritären angehören. Republikaner zu sein, erfordert also die Anstrengung, diese Schranken zu überwinden, auch wenn das für die Subjekte eine Zumutung sein mag. Ja, für de Sade ist gerade der Schmerz notwendig, um der radikalen Forderung nach Überschreitung gerecht zu werden. Genau diese Akzeptanz des Schmerzes bzw. sogar die Betrachtung des Schmerzes als notwendigen Bestandteil der absoluten Moral findet Lacan auch bei Kant: Das allgemeine moralische Gesetz sorgt zwangsläufig für ein Gefühl des Schmerzes, da es die begrenzten Möglichkeiten des Subjekts übersteigt. Die Abstraktion vom konkreten Gegenüber, vom Subjekt wie vom Objekt, verweist auf etwas, das Lacan mit Bezugnahme auf Kants »Ding an sich« in Seminar VII als das Ding bezeichnet, das absolute Objekt, das nie zu erreichende Reale, das »Signifikats-Außerhalb« (ebd. 69). Für diese Absolutheit ist der Schmerz wesentlich: Er erzwingt das Absolute über die Grenzen des Subjekts hinaus und zeigt gleichzeitig in seiner Unerträglichkeit die Gegenwart des Absoluten an, indem er die Grenzen des Subjekts markiert und auf das Jenseits verweist. Das Ding ist bei Lacan in dieser Werkphase definiert als »das, was vom Realen am Signifikanten leidet« (ebd. 154) und mit dem mütterlichen Körper assoziiert ist, der den Platz des Dings einnimmt (vgl. ebd. 84). Vor dem Hintergrund der Produktivität des Verbots – die Lacan in Seminar VII noch nicht fassen kann – ist das Ding mehrdeutig: Es ist zum einen die phantasmatische Vorstellung, die das Verbot produziert hat, die Vorstellung eines absoluten, unmittelbaren Genießens, die jeden Genuss als unzureichend markiert. Gleichzeitig ist es möglicherweise das, wovor das Verbot das Subjekt in seiner Allmachtsphantasie schützt, nämlich die Erfahrung der absoluten Abhängigkeit von dem unergründlichen Begehren des Anderen. Wenn Lacan de Sade und Kant unterstellt, dass sie den Zugang zum Ding im Schmerz finden, so kann er sich nur auf die phantasmatische Vorstellung des absoluten Genießens beziehen: Mit der Logik der Überschreitung, die in der Kant’schen Ethik wie in de Sades Aufforderung an die Republikaner steckt, scheint das absolute Genießen erzwingbar. In diesem Sinn weist Schmerz den Weg zum Realen, zu dem, was der Signifikant verfehlt. Die Kant’sche Vernunft, an der nicht unwesentlich die menschliche Freiheit hängt, verlangt also eine Unterwerfung; will sie sich vervollkommnen, so müssen ihr Opfer gebracht werden: Noch eine Anstrengung ist notwendig, noch eine Rücksichtslosigkeit, noch eine Überschreitung der bisherigen Grenzen, um zum Absoluten zu gelangen. Deshalb lässt sich als Fundament des entgründeten, absoluten Wissens der Exzess ausmachen, denn die Wahrheit der Wissenschaft im Diskurs

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der Universität lässt sich mit Lacan folgendermaßen zusammenfassen: »Mach weiter! Los! Fahre fort, immer mehr zu wissen!« (XVII: 104.) Worauf die Wissensproduktion im Diskurs der Universität zielt, ist die exzessive Vermehrung des Wissens: Eine Theorie ist dazu da, von einer neuen Theorie abgelöst zu werden. Die Neutralität des Wissens mit ihrer Tendenz zur exzessiven Überschreitung des Gegebenen wird im Diskurs der Universität selbst zur Norm. Der Herrensignifikant versteckt sich gerade in der Neutralität des Wissens, in der Forderung, das Wissen auszudehnen, im »Fahre-fort-zu-wissen«: Wissenschaftliche Aussagen zielen darauf ab, dass neue wissenschaftliche Aussagen an sie anknüpfen können. Indem es Inkohärenzen produziert und sich ständig selbst überholt, behauptet das allgemeine Wissen Neutralität und zieht daraus seine Legitimation. Die Verselbstständigung des Wissens, seine scheinbare Neutralität und die damit zusammenhängende Notwendigkeit seiner Ausdehnung sind untrennbar an das Phantasma eines herbeiführbaren, absoluten Genießens geknüpft: Wenn sich das Wissen von seiner dienenden Funktion löst und Unabhängigkeit beansprucht, folgt es einer Logik der permanenten Ausdehnung und Überschreitung. Diese Überschreitung zeigt den libidinösen Kern der Herrschaft des Wissens, nämlich die gewaltsame Produktion des Dings, des absoluten Genießens. Wissen ist »Mittel des Genießens« (XVII: 56). Jedoch ist dieses Genießen nicht im Interesse des Subjekts: Indem die neuzeitlichen Wissenschaften versuchen, das Wissen unabhängig vom Betrachter zu machen, eliminieren sie die Instanz, der Verantwortung zugeschrieben werden könnte: Es gibt kein Subjekt der Wissenschaft. Das Wissen gibt sich vielmehr objektiv und interesselos, so dass es neutrales Werkzeug für die Interessen des Subjekts zu sein scheint, jedoch in seiner permanenten Ausdehnung selbst »automatisches Subjekt« geworden ist, dem sich das postödipale Subjekt zu unterwerfen hat. Was als Projekt zugunsten des Knechts erschien, die Emanzipation des Wissens von seiner dienenden Funktion, wird mit dem Diskurs der Universität zu einer neuen Form der Herrschaft. Das Subjekt ist nicht länger dem Herren unterworfen, sondern unterwirft sich dem, das ihm zu dienen scheint: dem Wissen. Diese Unterwerfung führt zu einer neuen Struktur der Subjektivität.

3.3 Die postödipale Autorität und das neue Über-Ich Den oben zitierten Aufruf zum Love-in des Studenten in Seminar XVII könnte man aus der Perspektive einer traditionellen, vom Ödipalen ausgehenden Psychoanalyse interpretieren als die neurotische Auflehnung gegen ein Über-Ich-Verbot, das ins Außen projiziert wird. Die Pointe dieser Lesart bestünde darin, dass hinter der Auflehnung gegen die Autorität der Wunsch vermutet wird, dass das Außen die Rolle des Über-Ichs übernimmt und mit einem Verbot interveniert. Dieses Verbot

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des Außen hätte dann die Funktion, die Illusion eines absoluten Genießens aufrechtzuerhalten und gleichzeitig das Subjekt von dessen Realisierung zu entlasten. Diese Betrachtungsweise geht also davon aus, dass das neurotisch-ödipale Subjekt mit dem Abarbeiten an einer Autorität seine inneren Konflikte löst. Lacan schlüpft nicht in die ihm angebotene Rolle der verbietenden Autorität, seine Deutung des Aufrufs weist aber über die traditionelle psychoanalytische Deutung hinaus. Einerseits erkennt er in ihm das neurotische Verlangen nach einer verbietenden Autorität, gleichzeitig sieht er in der scheinbaren Provokation eine Kollaboration: Und die ersten, die dabei kollaborieren, sogar hier in Vincennes, das sind Sie, denn Sie spielen die Funktion der Heloten dieses Regimes. Auch was das bedeutet, wissen Sie nicht? Das Regime zeigt es Ihnen. Es sagt: Seht, wie sie genießen. (XVII: 33.) Das neue »Regime«, die neue Autorität, fühlt sich durch das Genießen der Studierenden nicht provoziert, vielmehr dient das Genießen seiner Legitimation – seht, wie sie genießen. Lacan vergleicht die Genießenden mit den Heloten, der Bevölkerungsmehrheit im antiken Sparta, die zwar aus dem militärischen Drill ausgeschlossen ist, jedoch mit ihrer Arbeit die Existenz Spartas ermöglicht: Die Heloten sind Staatssklaven ohne Stimmrecht; »Menschenmaterial« wird Lacan später sagen (XVII: 41). Die verbietende Autorität gibt es also aus Lacans Perspektive nicht mehr, Universitätsleitung und andere politische Figuren spielen nicht mehr die Rolle des alten Herren. Als die Studierenden Pompidou als den Herren bezeichnen, den die Rebellion adressiert, fragt Lacan hämisch: »Sie bilden sich ein, Sie hätten mit Pompidou einen Herrn? Was ist denn das für eine Geschichte?« (XVII: 33.) Pompidou als neugewählter Staatspräsident besetzt zwar den Ort, den die verbietende Autorität eingenommen hatte, übt aber sein Amt auf eine andere Weise aus, nämlich indem er alle Interessen zu vertreten scheint, vermittelt, optimiert und objektiv gute Lösungen findet. Die rebellische Geste, die nach dem Verbot ruft, wird dadurch nicht nur sinnlos: Gerade die rebellische Geste mit ihrer Forderung nach Gehör macht die neue Form der Autorität möglich. Der Student, der zum Love-in auffordert, wird nicht auf Widerstand stoßen, sondern auf eine Autorität, die ihm alles, was er sich wünscht, genehmigt und sich durch ihre Großzügigkeit legitimieren kann: als die Instanz, die das Genießen aller organisiert und optimiert. Die Differenz zwischen der traditionellen, ödipal-verbietenden und der postödipal-verführenden Autorität wurde von psychoanalytischer Seite mehrfach mithilfe des Filmes »Der Club der toten Dichter« aus dem Jahr 1989 anschaulich gemacht (vgl. McGowan 2004: 47ff., Zupančič 2002: 100ff.). Denn das Kernthema des Films ist der Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Autoritäten: einer traditionell ödipal-verbietenden und einer postödipalen, verführenden. Die Handlung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: In einem Internat der 1950er Jahre

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herrscht die alte, die symbolische Autorität; die Eltern und Lehrer fordern bedingungslosen Gehorsam und den Verzicht auf das, was mit Genießen verbunden ist. So soll beispielsweise der Protagonist, der Schüler Neil Perry, auf die ihm heilige Schauspielerei, seine eigentliche »Berufung«, zugunsten eines Medizinstudiums verzichten. Sein Vater droht ihm mit der Militärakademie, dem Ort, an dem Autorität noch absolut funktioniert. Wir haben es also mit einem ödipalen Szenario zu tun, in dem Subjektivität nur durch Verzicht auf das Genießen erreicht wird. In diese Situation kommt der neue Englischlehrer John Keating, der eine andere Art der Autorität verkörpert. Keating fordert die Schüler auf, sich nicht anzupassen, selbst zu denken und – carpe diem – ihrem Genießen nachzugehen. Mit unkonventionellen Methoden bringt er die Schüler dazu, die Autoritäten in Frage zu stellen, eigene Interessen zu entwickeln und dem langweiligen Schulstoff Leben einzuhauchen. Die Geschichte ist bekannt: Der traditionellen Autorität gelingt ein kurzer Sieg, nach dem Selbstmord des schauspielenden Schülers wird dem neuen Lehrer gekündigt, doch dessen Einfluss ist nicht zurückzunehmen. Der Film lässt keinen Zweifel, wer langfristig der Sieger sein wird: In der berühmten Schlussszene steigen die Schüler auf ihre Tische und bekennen sich – »Oh Captain! Mein Captain« – zum suspendierten Keating. Die Verführung ist gelungen. Wenn der Film die Ablösung einer alten Autorität durch eine neue darstellt, stellt er sich dabei unverhohlen auf die Seite letzterer: Die Figuren, die die traditionelle Autorität verkörpern, Perrys Vater oder der Schulleiter, sind maximal unsympathisch dargestellt. Sie sind grausame Tyrannen ohne Verständnis für die Schüler. Zudem sind sie inkompetent: Der Schulleiter, der zuletzt Keatings Literaturunterricht übernimmt, ist gefühllos gegenüber Literatur, hat deren Wesen nicht erfasst und kann sich ihr nur mithilfe eines Kriterienkatalogs nähern. Keating hingegen ist ein Sympathieträger: Ihm gilt nicht nur die Liebe der Schüler, sondern auch die des Publikums. Er zeigt Mitgefühl, ist charmant und witzig. Wie die Schüler wird er als Opfer der übermächtigen symbolischen Autorität inszeniert. Vor dieser erscheint seine Position nicht wie ein konkurrierendes Machtunternehmen, eine andere Form der Einbindung der Subjekte ins Gesellschaftliche, sondern eher als die Vertretung der Interessen der Schüler. Die neue Autorität, die die Schüler ermutigt, sie selbst zu sein, ist als solche kaum noch zu erkennen. Aus diesem Ende des Verbots als gesellschaftsstrukturierendes Prinzip könnte man schließen, dass damit auch das Über-Ich mit seinen repressiven Forderungen verschwindet, das nach dem Vorbild der gesellschaftlichen Autorität gebildet ist. Die Studierenden hätten dann keine psychische Instanz mehr, gegen die sie sich neurotisch auflehnen müssten. Lacan hält jedoch an der Vorstellung eines ÜberIchs als bedeutsamer psychischer Instanz fest und geht davon aus, dass dieses seine Form bis zur Unkenntlichkeit verändert hat: Es ist keine Repräsentanz des verbietenden Gesetzes mehr. Im Seminar XX formuliert Lacan folgenden Aphorismus:

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Das Über-Ich, das ist der Imperativ des Genießens — Genieße! (XX: 9.) Als reiner Imperativ zu genießen stellt das neue Über-Ich keine konkreten, erfüllbaren Gesetze mehr auf, sondern drangsaliert das Subjekt mit der unmöglichen Forderung, permanent und mit aller Leidenschaft das Beste aus dem Moment zu machen. Anders als das alte Über-Ich, das Raum für Übertretungen seiner Gesetze ließ, lässt das neue terrorisierende Über-Ich keinen Rückzug, keine Ausnahme mehr zu. Als Beispiel der Wirksamkeit dieses neuen Über-Ichs nennt Slavoj Žižek die Programmierer, die ihr Hobby zum Beruf gemacht haben und von dem sie beschäftigenden Konzern aufgefordert werden, ganz sie selbst zu sein – inklusive des vor dem Bildschirm verbrachten Wochenendes. Während der alte Angestellte auf das Leben nach der Arbeit hinfieberte, das sein eigener Bereich blieb, darf sich der neue Angestellte selbst verwirklichen, hat aber kein Außen mehr (Žižek 2010: 513). Damit wird das Genießen omnipräsent und zur sozialen Pflicht: Es ist nicht mehr das, was das Subjekt von seiner Gesellschaftlichkeit trennt, sondern gerade das, was es in die Gesellschaft einbindet. Damit steht dem ödipalen Triebverzicht der verordnete Exzess gegenüber, ein Exzess, der den Trieb zu befreien scheint, jedoch das Subjekt mit seiner Forderung terrorisiert. Das alte, ödipale Über-Ich ließ sich dem Symbolischen zuordnen. Es verbat das Genießen zugunsten des Gesellschaftlichen und forderte Triebverzicht. Die symbolische Instanz des Vaters, des großzügigen Vermittlers zwischen den Subjekten, dessen Erbe das ödipale Über-Ich ist, wurde, wie Žižek formuliert, durch die »Über-Ichisierung des imaginären Ideals« ersetzt (ebd.). Nach Todd McGowan ist damit das Über-Ich eine Variante des imaginären Vaters, der irrational strafenden, sadistischen Instanz, die dem mit ihm konkurrierenden Sohn nach dem Leben trachtet. Während der symbolische Vater durch seine Abwesenheit herrschte, ist der imaginäre präsent und verfolgt das Subjekt gnadenlos, weil es mit ihm in eine tödliche Konkurrenz gerät, ihn zu ersetzen und zum Verschwinden zu bringen droht. Das Imaginäre lässt keinen Raum zur Distanzierung, so dass die Forderungen des Über-Ichs mit den Wünschen des Subjekts identisch zu sein scheinen. Deshalb interpretiert McGowan diese gnadenlose und verfolgende Instanz, die das Subjekt mit seiner unerfüllbaren Forderung terrorisiert, das Leben zu genießen, als »analen Vater«, was er folgendermaßen begründet: Anal father because he obsessively attends to every detail of our lives, prying into every private enclave where we might hide enjoyment. His anality consists in his controlling everything. For the anal father, the very conception of a private space (or a private enjoyment) does not hold. (McGowan 2004: 46.) Statt Zonen zu akzeptieren, die außerhalb seiner Verfügungsgewalt sind, fordert der anale Vater die totale Kontrolle. In »Der Club der toten Dichter« verkörpert Keating nach McGowan diesen analen Vater, weil er dazu auffordert, das Genießen

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nicht weiter im Privaten zu verstecken. Und tatsächlich kommt es in dem Film zum Konflikt zwischen alter und neuer Autorität nicht, weil die Schüler einen heimlichen Club gründen, in dem sie sich leidenschaftlich mit Literatur beschäftigen – solange solche Unternehmungen keine Öffentlichkeit beanspruchen, sind sie für die symbolische Autorität kein Problem. Erst der Wunsch der Schüler, insbesondere der Perrys, ihre Leidenschaft nicht mehr verstecken zu müssen, öffentlichen Raum zu belegen und die vom Genießen gereinigte Sphäre des Symbolischen mit ihrem Genießen zu überschwemmen, lässt den Konflikt aufbrechen. Mit der Trennung von symbolischer Öffentlichkeit und privatem Genießen fällt jedoch auch jede Möglichkeit für das Subjekt, sich dem nun öffentlich notwendigen Genießen zu entziehen. Dass die Vertreter der symbolischen Autorität Perrys Selbstmord Keating zur Last legen, erscheint in dem Film wie eine große Ungerechtigkeit, ist es doch das väterliche Verbot (der Schauspielerei Perrys), das dem Selbstmord vorausging. Anders, als es der Film den Zuschauern nahelegt, erkennen jedoch die traditionellen Autoritäten richtig, dass es Keatings Forderung war, dem Leben Sinn zu geben und das Genießen zu verwirklichen, die Perrys Situation unerträglich machte. Mit seinem Selbstmord entgeht er nicht nur der Unmöglichkeit, sein Genießen angesichts der symbolischen Autorität zu verwirklichen, sondern auch der Unmöglichkeit des Genießens selbst: So ist er nicht damit konfrontiert, die banalen, anstrengenden oder frustrierenden Seiten des Theaters oder gar die eigene schauspielerische Unfähigkeit zu erfahren. Der Versuch, das absolute Genießen zu verwirklichen, impliziert also den Tod des Subjekts.15 Es scheint, als sei gerade diese tödliche Tendenz, die Maßlosigkeit der Forderung, die das Subjekt über die letzten Grenzen hinaus treibt, für das postödipale Über-Ich charakteristisch. Die Beobachtung dieser selbstzerstörerischen Kräfte sind Ausgangspunkt von Juliet Flower MacCannells Auseinandersetzung mit dem Postödipalen. Sie fragt wie Žižek und McGowan danach, wer oder was die Nachfolge des ödipalen Vaters angetreten hat, spricht aber weder von einem analen noch einem imaginären Vater als Erbe der symbolischen Autorität. Sie schlägt vor, dass der keinesfalls nun leere Platz des abgedankten Vaters durch ein anderes »Familienmitglied« besetzt worden sei: Die postödipale Gesellschaft nennt sie eine »Herrschaft des Bruders«. Überzeugend argumentiert sie, dass die Aufklärung mit dem »Kult der Vorfahren« bricht und so die generationale Beziehung, die vertikale Dimension der Gesellschaft, zu der auch die Herrschaft des Vaters gehört, an Bedeu-

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Alenka Zupančič deutet Perrys Tod als Realisation des »Dings«, als tatsächliche Verwirklichung des absoluten Genießens (vgl. Zupančič 2002: 102). Dieser Deutung widerspricht meines Erachtens der spätere Begriff des Mehr-Genießens, der den illusorischen Charakter dieses Genießens herausstreicht. Mit diesem Genießensbegriff lässt sich der Selbstmord als ein Versuch verstehen, das Scheitern am Genieße-Imperativ zu umgehen.

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

tung verliert. Den leer gewordenen Platz des Vaters nimmt der Bruder als derjenige ein, der sich nicht wesentlich von den anderen unterscheidet, sondern Erster unter gleichen ist. Diesen Bruder identifiziert MacCannell mit dem Idealich, also der imaginären, besseren Version des Subjekts, die (scheinbar) Zugang zum Objekt a hat. Damit kann sie an Lacans Diskurs der Universität anknüpfen, der das Idealich als die Wahrheit der postödipalen Herrschaft interpretiert:16 Der Mythos vom idealen Ich, vom Ich, das beherrscht, vom Ich, durch das zumindest etwas mit sich selbst identisch ist, nämlich der, der spricht [l’énonciateur], ist ganz genau das, was der universitäre Diskurs nicht von dem Platz wegbringen kann, an dem sich seine Wahrheit befindet. (XVII: 70.) Den Bruder als familiäre Verkörperung dieses Idealichs unterscheidet nach MacCannell von dem Vater, dass er dessen Platz mit all seinen Rechten einnimmt, jedoch nicht Verantwortung für die Generationalität übernimmt und sowohl die generationale als auch die sexuelle Differenz verleugnet. Die brüderlichen Beziehungen sind narzisstisch destruktive Spiegel-Beziehungen und verneinen jede Andersheit des anderen. Mit der Figur des Bruders will MacCannell ein Patriarchat nach dem Ende der väterlichen Herrschaft beschreiben. Denn wie das ödipale Patriarchat auf der Negation der mütterlichen Gabe basierte, ist die Herrschaft des Bruders durch das Opfer der Andersheit der Schwester konstituiert. Indem er die Andersheit ihrer Genitalien verleugnet, kann er die Kastration, seine Abhängigkeit von anderen, leugnen (vgl. MacCannel 1991). Ein zentrales Argument MacCannells geht auf Freud zurück. Sie argumentiert, dass das Idealich anders als das Ichideal kein echtes Symbolisches herstellen kann, das Differenz ermöglicht, sondern imaginär ein Symbolisches simuliert. In diesem imaginären Symbolischen wird das Allgemeine durch Gleichheit hergestellt, also durch die Identifikation mit einem imaginären Ideal statt durch die Identifikation mit dem abwesenden/leeren Signifikanten. Dabei bezieht sie sich auf eine Beschreibung, die Freud für Phänomene findet, die er als Masse bezeichnet und die im zweiten Kapitel bereits im Zusammenhang mit der Liebe auftauchten: Wir haben dies Wunder so verstanden, daß der Einzelne sein Ichideal aufgibt und es gegen das im Führer verkörperte Massenideal vertauscht. Das Wunder, dürfen wir berichtigend hinzufügen, ist nicht in allen Fällen gleich groß. Die Sonderung von Ich und Ichideal ist bei vielen Individuen nicht weit vorgeschritten, die beiden fallen noch leicht zusammen, das Ich hat sich oft die frühere narzißtische Selbstgefälligkeit bewahrt. Die Wahl des Führers wird durch dies Verhältnis sehr

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Entsprechend besteht bei den genannten Autorinnen und Autoren Einigkeit darüber, dass im Postödipalen eine Verschiebung von einer symbolischen Identifizierung mit dem Ichideal zu einer imaginären Identifizierung mit dem Idealich stattgefunden hat.

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erleichtert. Er braucht oft nur die typischen Eigenschaften dieser Individuen in besonders scharfer und reiner Ausprägung zu besitzen und den Eindruck größerer Kraft und libidinöser Freiheit zu machen, so kommt ihm das Bedürfnis nach einem starken Oberhaupt entgegen und bekleidet ihn mit der Übermacht, auf die er sonst vielleicht keinen Anspruch hätte. Die anderen, deren Ichideal sich in seiner Person sonst nicht ohne Korrektur verkörpert hätte, werden dann »suggestiv«, das heißt durch Identifizierung mitgerissen. (Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], GW 13: 144f.) Die Masse ist bei Freud eine künstliche Gruppe, die sich von traditionalen Gesellschaften unterscheidet. Um die Massenbildung zu verstehen, beschäftigt sich Freud vor allem mit Formen der kollektiven Identifizierung, die er als Ursache der Massenbildung versteht. Freud unterscheidet hier noch nicht zwischen Idealich und Ichideal. Der Führer entspricht jedoch offensichtlich dem, was bei Lacan und bisher in diesem Text als Idealich bezeichnet wird, nämlich dem idealisierten (imaginären) Bild des Subjekts von sich selbst: Der Führer, der die Masse vereinigt, zeichnet sich dadurch aus, dass er die Besonderheiten der Identifizierenden »scharf und rein« besitzt und damit erst die Möglichkeit für die Identifikation schafft. Es muss also ein verbindendes Merkmal zwischen Identifizierenden und Gegenstand der Identifikation geben. Als Ideal hat der Führer, der Gegenstand der Identifikation, »größere Kraft« und »libidinöse Freiheit«: Der Führer der Masse ist im Gegensatz zur symbolischen, ödipal-väterlichen Autorität nicht beherrscht und leidenschaftslos, sondern wird gerade durch das, was die symbolische Autorität diskreditieren würde, wirksam: Durch seine emotionalen Entgleisungen, durch seine prahlerische Zurschaustellung von Luxus, sein ungezügeltes Sexualleben. Denn diese »libidinöse Freiheit« lässt ihn im Besitz eines absoluten Genießens erscheinen, an dem die identifizierenden Individuen teilhaben. Individuelle Voraussetzung der Identifikation mit dem Führer ist bei Freud die fehlende Trennung von Ich und Idealich – man könnte übersetzen: die fehlende symbolische Kastration. Der Führer bindet die Individuen libidinös, indem er sich an die Stelle des Idealichs (Ichideal bei Freud) setzt und so das zu sein behauptet, was das Subjekt im besten Falle zu sein wünscht und glaubt. Auch Freud weist bereits darauf hin, dass diese libidinöse Einbindung der Individuen in die Masse keinen Raum für die sexuelle Differenz lässt: Beispielsweise fordert die Kirche als Masse das Zölibat und schließt Frauen gänzlich aus. Wo Frauen Teil der Masse sind, sind sie es nicht als Gegenüber einer sexuellen Beziehung, sondern als geschlechtslose Gleiche (vgl. ebd. 131). Die libidinösen Energien der Mitglieder der Masse sind von der externalisierten Verkörperung des Idealichs absorbiert. Mit der Externalisierung des Idealichs ist dieses jeder Kritik, jeder Konfrontation mit der Realität entzogen und kann so eine narzisstisch übersteigerte Macht behaupten, die sich zerstörerisch gegen jede Infragestellung wendet. Im Entstehungskontext

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dieses Textes werden die Begriffe Ichideal und Über-Ich von Freud noch synonym verwendet (vgl. Das Ich und das Es von 1923).17 Die destruktiven Kräfte der narzisstischen Instanz des Idealichs finden also keine Mäßigung durch eine höhere Instanz. Im Gegenteil: Es ist eine Über-Ich-artige Struktur, die zerstörerisch nach außen und innen wirkt. Freuds Überlegungen zur Masse stehen in einem historisch-politischen Kontext, in dem die väterliche Autorität mit ihrer mäßigenden Funktion in Auflösung begriffen ist. Während sich andere Texte noch mit ödipalen Strukturen beschäftigen, zeigt sich in diesem Aufsatz bereits der zerstörerische Horizont des Postödipalen. Das Massensubjekt zeichnet sich bei Freud einerseits dadurch aus, dass es keine Einschränkungen seines exzessiven Genießens erlaubt – weder durch Moral, äußeren Widerstand oder zur Mäßigung aufrufende Autoritäten. Andererseits verzichtet das Massensubjekt auf das sexuelle Genießen. Sein Genießensexzess ist das Aufgehen in der Masse – beispielsweise der kollektive Lynchmord oder das Hochgefühl bei einem Konzertevent – die durch das geteilte Idealich hergestellt wird. MacCannell sieht dieses kollektive Idealich in der Figur des Bruders, des Primus inter pares, der sich dadurch auszeichnet, dass ihm das Genießen gelingt, das für alle anderen unerreichbar ist. Dieser Bruder verberge sich hinter dem scheinbar neutralen »It« der Aufklärung. Das »It« ist der neutrale dritte Term, »the embodiment of a principle of impartiality« (MacCannell 1991: 9) und damit das, was dem neutralen, absoluten Wissen als Subjekt zugrunde liegt. MacCannell geht also davon aus, dass das neutrale Wissen der Aufklärung eine dunkle Unterseite hat. Das Wissen wird zusammengehalten von einem Idealich, das wie der Führer der Masse für ein Soziales sorgt, welches sich vom ödipalen Symbolischen unterscheidet.18 Der faschistische Führer wäre in dieser Lesart die Realisation der unbewussten Kehrseite einer Herrschaft des Wissens, ein Acting out, in dem die Unterwerfung des Subjekts unter die imaginäre Instanz ins Licht geholt wird.19 Mit dem »It« verbindet MacCannell eine originelle Deutung des neuen ÜberIchs. Der monarchistische, patriarchale Herr als gesellschaftsstiftendes Element und Vorlage für das ödipale Über-Ich wurde durch eine scheinbar neutrale Figur ersetzt: das »It«, das den rationalen Diskurs der Aufklärung bestimmt. Dieses It 17

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Eine klare Trennung der Begriffe Ichideal und Über-Ich versucht Freud erst in der Neuen Folge der Vorlesungen von 1932, wo er das Ichideal als einen von drei Teilen des Über-Ichs (neben Selbstbeobachtung und Gewissen) definiert (vgl. GW 15: 71). MacCannells Deutung dieses Zusammenhangs finde ich nicht überzeugend, der Zusammenhang zwischen »Bruder« und »Wissen« ist für mich nicht ausreichend motiviert. In den folgenden Kapiteln entwickle ich eine alternative Theorie. Im letzten Kapitel habe ich anders argumentiert: In der Liebe hat das geliebte Objekt das Ichideal verkörpert, so dass es dem Liebenden möglich war, sich mit dem Idealich zu identifizieren. Versteht man den Führer wie MacCannell als Idealich, wäre nach diesem Verständnis eine dritte Instanz notwendig, ein Objekt, das Ich und Idealich verbindet.

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ist ein Es, das nicht mit dem Freud’schen Es (id) zu verwechseln ist, aber durchaus mit ihm in Verbindung steht. Es entsteht aus einer Legierung von Es und Über-Ich. Damit hat das Über-Ich seinen Ort im innerpsychischen Antagonismus verändert: So sind bei Freud Über-Ich und Es einander bekämpfende und widersprechende Instanzen. Nun, da Genießen zur sozialen Pflicht geworden ist, spricht MacCannell von einer Allianz zwischen dem dem Es zugeordneten Todestrieb und dem ÜberIch (MacCannell 1991: 10): Statt wie das ödipale Über-Ich die Trieb-Wünsche des Es zu verbieten, ruft das neue Über-Ich zum Genießen auf. Es scheint den Befehl zu dem zu geben, was das Es immer (vergeblich) forderte, nämlich die Realisation des Triebes. Wenn sich im Postödipalen das Über-Ich und das Es versöhnt haben, scheint das Subjekt nicht mehr durch einen Konflikt definiert. Jedoch zeigt sich, dass sich der Konflikt nur anders gelagert hat. Noch weniger als das ödipale Subjekt, dessen Ich als vermittelnde Instanz zwischen Es und Über-Ich entsteht, hat das postödipale Subjekt ein stabiles Ich. Mit den übergriffigen Über-Ich-Forderungen und dem Genießen sind Symbolisches und Reales fusioniert, das Imaginäre steht dem postödipalen Subjekt als externes Ideal gegenüber, das es selbst nie vollständig verwirklichen kann. So ist das Ich etwas, das zwar durch die Spiegelung im Ideal hergestellt wird, aber permanent bedroht und deshalb durchaus aggressiv zu verteidigen ist.20 Wenn Lacan in dem Zusammenhang von einer »Ichokratie [Jecratie]« (XVII: 70) spricht, adressiert er damit den »Mythos vom idealen Ich, vom Ich, das beherrscht« (ebd.). Die Folgen der Forderungen des postödipalen Über-Ichs lassen sich in Der Club der toten Dichter an der Figur des Perry illustrieren: Perry hat Keatings Botschaft, den Genieße-Imperativ, verinnerlicht; er hat ein postödipales Über-Ich, das ihn auffordert, sein eigenes Absolutes zu suchen. Dieses Absolute findet er in der Schauspielerei; sie verkörpert das absolute Genießen. Nun darf der Umstand, dass Perry für seine Schauspielerei vermutlich keinen Lohn bekommt, nicht zur Annahme veranlassen, dass es sich dabei nicht um Arbeit handelt: Schauspielerei dient in erster Linie der Freude des Publikums, seiner Unterhaltung, ästhetischer Erfahrung oder seines Erkenntnisgewinns. Es ist – wie jede Arbeit – die Arbeit eines Knechts, die das Genießen des Herren ermöglicht. Anders aber als das ödipale Subjekt arbeitet das postödipale nicht aus Pflicht- und Verantwortungsgefühl. Die postödipale Arbeit scheint unentfremdet, sie scheint nur dem Genießen des Subjekts zu dienen.

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Eine durchaus vergleichbare Konstellation beschreibt Theweleit in »Männerphantasien«: Der Körperpanzer des soldatischen Mannes ist ein durch Leiden hergestelltes Hilfsich, wo eine ödipale Identifizierung nicht gelingt. Er dient der Abwehr eines als überwältigend empfundenen, differenzlosen Weiblichen und bedeutet ein permanenter Kampf gegen sich selbst (vgl. Theweleit 1980). Mit der Theorie des Postödipalen lässt sich zeigen, dass die Aggression aus der imaginären Spannung rührt, die jedes Ich permanent bedroht.

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

Perry liebt es, auf der Bühne zu stehen, er liebt seine Tätigkeit, auch wenn sie von ihm Opfer fordert. Perry spielt den Puck in Shakespeares Sommernachtstraum und damit die Figur, die die vierte Wand durchbricht: Im berühmten Schlussmonolog spricht er das Publikum an und bietet an, dass bei Missfallen das Theaterstück als Traum betrachtet werden soll. Die Kamera fängt zwischendurch den Vater ein, an den die Worte gerichtet scheinen. Bezeichnenderweise ist das gesamte Theaterstück eine Komödie über die ödipale Struktur: Der Liebestrank und die Elfenwelt fungieren als eine Deus-ex-Machina-Lösung des ödipalen Konflikts, die bittere Wahrheit wird in dem komödiantischen »Stück im Stück« offenlegt: Ohne Liebestrank hätte die ödipale Herrschaft zum Tod der Liebenden geführt.21 Puck bietet im Schlussmonolog zwar dem Publikum die Verweigerung dieser Erkenntnis an; als Perry, der mit Pucks Figur seinen Vater adressiert, fordert er jedoch nicht nur die Anerkennung der Wahrheit des Stückes, die Lächerlichkeit und Verlogenheit der ödipalen Struktur, sondern die Anerkennung seiner Schauspielerei und damit, dass der Vater sich zu seinem Genießen als Zuschauer bekennt. Wie er sein eigenes Genießen in die Hand nehmen will, so will Perry auch das Genießen seines Gegenübers im Griff haben. Wie Alkibiades gegenüber Sokrates wendet sich Perry an das Begehrende im anderen und prüft sich darin. Jedoch wird hier das, was in der Liebe von einem spezifischen Gegenüber verlangt wurde, nämlich für die Ursache des Begehrens zu stehen, zum allgemeinen Anspruch. Perry verlangt die Anerkennung seiner Wahrheit nicht nur von einem singulären geliebten Objekt, sondern tritt vor eine Öffentlichkeit, die seinen Vater miteinschließt. Wenn das postödipale Subjekt arbeitet, verzichtet es auf Genießen mit der Aussicht auf ein absolutes Genießen, dessen Potential es in seinem Gegenüber erkennt. Man könnte das postödipale Genießen mit dem Begriff der Interpassivität in Verbindung bringen, mit dem Robert Pfaller verschiedene Phänomene des Delegierens von Genießen bezeichnet (vgl. Pfaller 2000). Ein prominentes, heute schon sehr altmodisch anmutendes Beispiel ist das Aufzeichnen von Fernsehbeiträgen durch den vorprogrammierten Videorekorder, wobei die aufgezeichneten Sendungen nie angeschaut werden. Der Videorekorder nimmt dem Subjekt das Filmeschauen ab, dieses spart Zeit und Kapazitäten. Das Aufzeichnen ersetzt das Anschauen, das »Genießen« des Videorekorders das Genießen des Rezipienten. Andere Beispiele 21

Hermia entkommt der von ihrem Vater geforderten Todesstrafe nur, weil ein Liebestrank dafür gesorgt hat, dass Demetrius von ihr ablässt und Helena wählt. Dadurch lösen sich die Konflikte der Liebenden vor dem Herrscherpaar so harmonisch auf, dass dieses den zeternden Vater ignoriert. Die Geschichte von Pyramus und Thisbe hingegen schildert einen realistischen Ausgang des Konflikts zwischen dem verbietenden Vater und den begehrenden Kindern, dessen Wahrheit sich hinter der Lächerlichkeit der Darstellung tarnt: Pyramus und Thisbe müssen sterben, weil ihre Liebeswahl von den ödipal-verbietenden Vätern nicht geduldet wird.

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sind das Konservenlachen (canned laughter), das unter Comedy-Sendungen gelegt wird: Ein imaginäres Publikum nimmt dem betrachtenden Subjekt das Amüsement ab. Auch dieses Delegieren von Genießen entlastet das Subjekt: Mit einem Videorekorder kann man Filmliebhaber sein, ohne sich die vielen Filme ansehen zu müssen. Für das postödipale Subjekt ist das Genießen eine tödliche Zumutung, die das Über-Ich von ihm fordert. Žižek stellt fest: Das paradoxe Ergebnis des durch und durch narzisstischen Hedonismus ist somit, dass der Genuss selbst mehr und mehr externalisiert wird: In der totalen Reflexivierung unseres Lebens ist jeder Appell unserer direkten Erfahrung ungültig geworden. (Žižek 2010: 521.) Postödipales Genießen ist vermittelt in einem Netz von Genussangeboten und nimmt so Warenform an, deren Charakteristikum ist, dass das Genießen nicht selbst erlebt werden muss, sondern (durch entsprechende Investitionen) gekauft werden kann. Die »direkte Erfahrung« spielt so nur noch eine sekundäre Rolle, das Genießen muss für den Anderen als solches zu erkennen sein. So ist das bei Instagram gepostete Bild des schön angerichteten Essens wichtiger als das Verzehren dieses Essens, das geteilte und vielfach gelikte Foto von einer lustigen Situation wichtiger als das situative Amüsement. In der bürgerlichen Feuilletonkritik werden diese Inszenierungen gerne als narzisstische Schreie nach Anerkennung einer Generation von Selbstdarstellern gedeutet. Angesichts der Theorie des Postödipalen lässt sich in dieser öffentlichen Darstellung des eigenen Genießens jedoch eine existenzielle Not vermuten: die Furcht vor dem gnadenlos verfolgenden Imperativ des Genießens. Mit der Dokumentation des eigenen Genießens im öffentlichen Raum des Internets entlastet sich das Subjekt, indem es das fordernde Über-Ich zu befriedigen versucht. Letztlich geht es den postödipalen Inszenierungen von Genießen nicht um das eigene Genießen. Perry wendet sich an den Blick des Anderen, den in dieser Szene sein Vater verkörpert. Er hofft, dass ihm das Stück gefallen hat – dass er überhaupt zur Vorstellung gekommen ist, lässt ihn auf väterliche Anerkennung hoffen. Doch hofft er auf eine postödipale Anerkennung: Der Vater soll nicht seine schauspielerische Leistung würdigen, sondern soll seine Leidenschaft verstehen. Perry geht es also nicht um etwas Objektivierbares, das an einen allgemeingültigen Maßstab gebunden ist, sondern um das Besondere. Der Vater soll Perrys Schauspielerei als sein ihm eigenstes Talent, als seine Berufung und Bestimmung erkennen. Das Genießen des Vaters hätte Perry in dem bestätigt, was er zu sein glaubt. Stattdessen wird er von dem Vater zurückgewiesen, Perrys ganze Existenz verliert in den Augen des Anderen ihren Sinn. Was gibt dem Vater jedoch diese Macht?

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

3.4 Die Liebe zum Begründerkind Während in Perrys Welt, am Übergang zwischen ödipaler und postödipaler Ordnung, Autoritäten als Vertreter des Anderen noch eine Rolle spielten, scheint es heute keine Instanz mehr zu geben, die den Anderen verkörpert. Perry wusste noch, in wessen Augen er Anerkennung suchen musste, heute jedoch ist unklar, wer für diese Anerkennung zuständig ist. Der Andere als personalisiertes WeltGegenüber des Subjekts scheint ein Relikt zu sein: Heute tritt uns die Welt als disparate entgegen, es scheint keine letzten Wahrheiten mehr zu geben, keine Ideologie, deren Subjekt der Andere sein könnte. Politische Parteien bekennen sich dazu, nicht ideologisch, sondern sachlich zu argumentieren. Diese Selbstbeschreibung passt zu einer Technokratisierung der Politik, die mit einer scheinbaren weltanschaulichen Neutralität einhergeht: Regierende qualifizieren sich für ihre Aufgabe dadurch, dass sie kompetente Fachleute und Verwalter von Sachzwängen sind, nicht dadurch, dass sie eine bestimmte Position vertreten, die sie unter Ideologieverdacht stellen würde, nicht, indem sie ein Ideal verkörpern oder gar haben. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahrhunderten sind Ideale heute ein Zeichen von Naivität und Beschränktheit. Tove Soiland konstatiert: »Die Möglichkeit, ein Ideal ernst und somit als Vorlage einer Identifikation zu nehmen, ist einer generellen Distanznahme gegenüber jeglichen Idealen gewichen« (Soiland 2014: 118). Heute scheint Ideologie nicht weiter wirksam zu sein, denn niemand scheint sich mehr Illusionen zu machen, stattdessen werden Ideale mit zynischer Distanz, ja mit Misstrauen betrachtet.22 Žižek spricht in diesem Zusammenhang mit Peter Sloterdijk von einer »zynischen Vernunft«, die das postideologische Zeitalter auszeichne, und illustriert sie mit der Abwandelung des berühmten Satzes von Karl Marx: sie tun es, obwohl sie es besser wissen. Marx analysierte noch im Zusammenhang mit dem Fetischcharakter der Ware, dass der Kapitalismus wirksam sei, weil die Menschen nicht wissen, was sie tun: »Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werthe gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie thun es.« (Marx 2007 [1872]: 49) Bei Marx war Ideologie »notwendig falsches Bewusstsein«, das fehlende Verständnis notwendige Voraussetzung der Teilnahme am Kapitalismus. Žižek zeigt, dass Ideologie heute radikal anders funktioniert: Heute wissen alle Beteiligten um den Warenfetisch, um die globalen Zusammenhänge des Kapitalismus, aber das hält sie nicht davon ab, daran teilzunehmen (vgl. Žižek 1991: 118f). Obwohl beispielsweise längst klar ist, dass die Erderwärmung zahlreiche Katastrophen zur Folge haben

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Prominent ist beispielsweise Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte, das er mit dem Ende von Religionen und nationalistischen Ideologien verbindet (vgl. Fukuyama 1992).

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wird – Dürren, Überschwemmungen, Hungersnöte, Trinkwasserknappheit, Artenschwund, Migration und so weiter – ist keine Veränderung des Verhaltens möglich, das für diese katastrophalen Entwicklungen verantwortlich ist. Die Erklärung, die die Psychoanalyse für dieses Phänomen anbietet, illustriert Žižek mit einem Witz, den ich hier aufgreifen möchte:23 Ein Mann ist in der Psychiatrie, weil er glaubt, ein Samenkorn zu sein. Nach langem Klinikaufenthalt wird er als geheilt entlassen; er versichert glaubhaft, dass er jetzt weiß, dass er ein Mensch ist. Kurz nach seiner Entlassung kehrt er jedoch schreiend zurück. Das besorgte Personal fragt nach, ob seine Angst, ein Samenkorn zu sein, wieder zurückgekommen ist. Der Patient schreit: Ich weiß ja, dass ich ein Mensch bin, aber weiß das auch das Huhn? – Befreit hat sich der Patient nur zum Teil von seiner Phantasie. Er scheint geläutert, scheint sich angefreundet zu haben mit der Vorstellung, ein Mensch zu sein. In seiner Angst vor dem Huhn zeigt er aber, dass er seine Illusion einem anderen zugeordnet hat, was sie weiterhin wirksam macht. Nach Žižek steht das Huhn für den großen Anderen: Das Unbewusste hat die Wahrheit, kein Samenkorn zu sein, noch nicht akzeptiert (vgl. Žižek 2009: 97). Das Huhn gibt der unbewussten Phantasie, ein Samenkorn zu sein, einen Körper, einen Ort, da es das nicht anzunehmen scheint, was der Patient oberflächlich gesehen endlich akzeptiert hat. Žižek folgert daraus, dass es Zeit wäre, das Huhn zu schlachten und damit »den Mut auf[zu]bringen, den großen Anderen, durch den wir glauben, fallenzulassen« (ebd. 100). Der Sturz des Herren scheint mit dem Ende des großen Anderen als Instanz, die dem Subjekt als Gesamtheit gegenübertritt und Forderungen an es stellt, einherzugehen, denn es gibt keine Figuren mehr, die als Inkarnationen des Anderen einspringen. Der auf einen zentralen Signifikanten zentrierte »große Andere«, die Welt, die dem Subjekt als Gesetz gegenübertrat, wurde durch das vorgeblich neutrale Wissen ersetzt, das von dem Subjekt nichts Spezifisches mehr zu wollen scheint. Das Subjekt darf mithilfe eines Stabs von Expertinnen, Ratgebern und postideologischen Verwalterinnen selbst seinen Sinn wählen. Noch besser als jeder Experte verkörpert das Internet das neutrale Netzwerk, das den alten Anderen ersetzt hat. Als inkohärentes Netzwerk des Wissens steht es ohne eigene Absichten freundlich zur Verfügung. Es ist universaler Lebensratgeber; wenn es Unklarheiten und Unsicherheiten gibt, lassen sich diese durch Googeln beseitigen. Darüber hinaus ist das Internet der Ort, an dem Anerkennung bzw. gesellschaftlicher Status distribuiert wird. Der Blick auf den eigenen Avatar in verschiedenen Social Media kann darüber Auskunft geben, wie es um die eigene Identität bestellt ist, die sich in der Zahl der Likes, Follower oder Facebookfreunde ausdrückt. Man könnte das Internet demnach als einen Ort betrachten, an dem sich der Einzelne seines

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Žižek verwendet diesen Witz mehrfach (2008: 123, 2009: 97, 2010: 448).

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Selbsts versichert. Der große Andere ist also nicht gänzlich verschwunden, sondern hat seine Struktur verändert: Jetzt ist der Andere Pluralität, eine Vielzahl von einzelnen Gegenübern, die zusammenhanglos und deshalb scheinbar neutral dem Subjekt gegenübertreten. Verhaeghe spricht in diesem Zusammenhang von einem »Big-Brother-Netzwerk« und mit Zygmunt Bauman von einem »Do-it-yourselfPanoptikum« (Verhaeghe 2015: 85), in dem keine höhere Autorität mehr diszipliniert und kontrolliert, sondern sich vernetzte Menschen gegenseitig beobachten und sich in vorauseilendem Gehorsam und aus Angst vor Exklusion angepasst verhalten: ein Netz gleichberechtigter »kleiner anderer«, von denen kein Einzelner als privilegierter Stellvertreter für den großen Anderen einspringt. Wenn der große Andere durch viele »kleine andere« ersetzt wurde, wird das Subjekt in einer endlosen Spiegelung gefangen. Diese imaginäre Verkeilung führt nach Žižek zu einer undefinierten Angst, einem nicht klar benennbaren Gefühl von Gefangensein: Die Ursache dieser Klaustrophobie ist, dass das Fehlen verkörperter Stellvertreter des großen Anderen den sozialen Raum nicht öffnet, indem es alle Herrensignifikanten daraus entfernt, sondern stattdessen den unsichtbaren »großen Anderen«, den Mechanismus, der die Interaktion »kleiner anderer« regelt, omnipräsent und undurchdringlich macht. (Žižek 2009: 103.) Um im Bild des Žižek’schen Witz zu bleiben und der Gefahr bewusst, die Metapher überzustrapazieren: Der entlassene Patient hat vor seiner Begegnung mit dem Huhn scheinbar keine Probleme mehr, er fühlt sich – möglicherweise trotz klaustrophobischem Unbehagen – vollständig geheilt. Seine unbewusste Überzeugung, ein Samenkorn zu sein, wird aber, ohne dass er es merkt, sein Handeln bestimmen. Dieses Stadium des Patienten entspricht der Verfassung des postideologischen Subjekts: Die Irrtümer des Vergangenen scheinen überwunden, die Ratio hat gesiegt. Erst die Begegnung mit dem Huhn aktualisiert den Konflikt zwischen den zwei Selbstbeschreibungen: Dass sich der Patient für einen Menschen hält, gerät angesichts des Huhns in Konflikt mit seiner Angst, dass dieses ihn für ein Samenkorn halten könnte. Wenn Lacan davon spricht, dass es der Psychoanalyse darum gehen muss, ihre Patienten zu hysterisieren (vgl. XVII: 43), dann geht es ihm bildlich gesprochen um die Begegnung des Samenkorn-Patienten mit seinem Huhn als der Instanz, in die er den Glauben, der seine Existenz bestimmt, ausgelagert hat. Diese Begegnung hat aber nicht zum Ziel, dass der Patient sich im Huhn seinen Ängsten stellt, um dann mutig – quasi erwachsen – mit der Gegenwart des Huhnes leben zu lernen. Die vom Analytiker geforderte freie Assoziation soll vielmehr das verleugnete Fundament des Subjekts hervorbringen, das im Huhn verkörperte Phantasma sichtbar werden lassen. Die Voraussetzung, das Phantasma zu durchqueren (bei Žižek: das Huhn zu schlachten) und wirklich die Abwesenheit des Anderen und so unsere

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Existenz auf uns zu nehmen, ist also, die Verkörperungen dieses Anderen ausfindig zu machen und den Glauben aufzugeben, der an diese externe Instanz delegiert wurde. Im Postödipalen gibt es keine Instanz, die sich dazu bekennt, den Anderen zu verkörpern, wie es die ödipalen Vaterfiguren noch taten, die sich als Autorität dem Subjekt zur Verfügung stellten. Jedoch gibt es ein »Huhn«, eine Verkörperung des Anderen im Diskurs des Subjekts, ein Marker für seine unbewusste Wahrheit. Ein Hinweis auf diese Verkörperung kann die Antwort auf die Frage geben, an was der Andere im Diskurs der Universität glauben soll bzw. was er nicht wissen darf.24 Aus psychoanalytischer Perspektive ist selbstverständlich das, was im Diskurs der Universität vermieden wird, die Konfrontation mit der Kastration, mit der Unmöglichkeit vollständigen Genießens. Das zynische postödipale und postideologische Subjekt mag sich zwar damit abgefunden haben, dass echte Befriedigung unmöglich ist, dass keine Ware genug sein wird, ja auch dass die Ressourcen beschränkt sind, trotzdem handelt es so, als wäre das vollständige Genießen möglich. Man könnte deshalb sagen, dass die Wahrheit des abgeklärten, postödipalen Subjekts ein Wesen ohne das Wissen um den Mangel ist, ohne die Erfahrung der symbolischen Kastration – das Huhn, das am alten Phantasma festhält. Dieses Wesen erfindet sich die Moderne im Kind. Während die väterlichen Autorität kriselt und zunehmend erodiert, findet das statt, was Philippe Ariès die »Entdeckung der Kindheit« nennt (Ariès 1985 [1978]) und ich im ersten Kapitel bereits dargestellt habe. Ariès beschreibt, dass sich Kindheit als eine eigengesetzliche, von der Welt der Erwachsenen abgeschiedene Sphäre herausbildet, die zunächst als Noch-Nicht durch ihr Gegenstück bestimmt ist, jedoch zunehmend als Eigenwert an Bedeutung gewinnt. Mit der Herausbildung separierter Sphären kann ein Universales der Erwachsenen entstehen, das sich nicht mehr wie die ältere Gemeinschaft der Söhne, die Freud in Totem und Tabu skizziert, durch die Gründungsgeste des Vatermordes herstellt, sondern durch ihren Ausschluss des Kindes. Die Entstehung des Kindes als ein Anderes geht mit einer Emotionalisierung der Beziehung zu ihm einher, in der das Kind die Ambivalenz einer Idealisierung hat: Das Kind wird zum Objekt zärtlicher Liebe – einer Liebe, die ihre Wurzeln wie im zweiten Kapitel gezeigt in der Verdrängung des Sexuellen hat. Zum anderen hat die Welt der Erwachsenen einen pädagogischen Bezug zum Kind. Mit Ariès lässt sich zeigen, dass die Figur des Kindes eine spezifische Haltung zu ihm produziert. Sobald das Kind als etwas vom Erwachsenen Unterschiedenes aufscheint, muss sich das erwachsene Gegenüber zu ihm verhalten. Die Figur des Kindes fordert eine affektive Reaktion; das Kind zeigt sich in seinen spezifisch kindlichen Gesten, den 24

Das Nicht-Wissen stellt die Grenze zum Unbewussten her: So weiß der Vater nicht, dass er tot ist; Ödipus weiß nicht, wer er ist (vgl. Kapitel 2.3).

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

großen Augen, seiner drolligen Sprache als etwas Liebenswertes.25 Im Kern dieses Liebenswerten steht die Vorstellung der Unschuld: eine Unschuld, die es erstens vom Erwachsenen unterscheidet, es zweitens als privilegiertes Objekt zärtlicher Liebe qualifiziert und drittens zum Adressaten von Erziehung und Bildung werden lässt, die dann als Mittel gegen die Korrumpierung durch die Welt erscheinen. Diese Haltung unterscheidet sich nach Ariès deutlich von der mittelalterlichen Ungezwungenheit, die Kinder ganz selbstverständlich am Sexuellen partizipieren lässt. Ganz selbstverständlich wurde das Kind beispielsweise an den Genitalien berührt oder in anzügliche Witze einbezogen. Ariès nimmt an, dass das Mittelalter noch keine Vorstellung der kindlichen Unschuld kannte, die befleckt werden könnte und zu schützen wäre, sondern betrachtete die Sexualität der Kinder als bedeutungslos.26 Aus psychoanalytischer Perspektive ist es gerade diese Annahme einer kindliche Unschuld, die das Kind zu einer Inkarnation des postödipalen Anderen werden lassen. Das Kind ist unschuldig, weil es asexuell gedacht wird. Das Sexuelle aber ist mit der Kastration verbunden – nämlich der Erkenntnis, nicht beide Geschlechter zu haben, sich nicht selbst reproduzieren zu können, fundamental abhängig zu sein und auch die Eltern abhängig zu erleben. Die Kastration bedeutet die Erfahrung der Abhängigkeit jeden Genießens von einem unberechenbaren Anderen und damit die Unmöglichkeit eines absoluten, vollständigen Genießens. Dem Kind wird also unterstellt, diese fundamentale Kränkung noch nicht erfahren zu haben, es ist asexuell, weil es für die narzisstische Phantasie der unbegrenzten Möglichkeiten steht. Als solche ist das Kind, wie Freud bemerkt, für die Erwachsenen faszinierend: [D]er Reiz des Kindes beruht zu gutem Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit […] Es ist so, als beneideten wir sie um die Erhaltung eines seligen psychischen Zustands, einer unangreifbaren Libidoposi-

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Klaus Lenz und Sylka Scholz argumentieren ausgehend von einer wissenssoziologischen Analyse von Ratgeberliteratur, dass insbesondere der Einfluss der Bindungstheorie seit den 70ern das Bild des aus sich selbst heraus liebenswerten Kindes, das mit der Bereitschaft zu bedingungsloser Liebe und Beziehung auf die Welt kommt, diese affektive Reaktion erforderlich macht. Dieses Bild des Kindes bezeichnen sie als Romantisierung und Sakralisierung (vgl. Lenz/Scholz 2013). Die Sakralisierung des Kindes ist jedoch fester Bestandteil der Geschichte der Kindheit und nicht von ihr zu trennen (vgl. beispielsweise Baader 1996; Zelizer 1993). Neil Postman liefert eine interessante medientheoretische Begründung für die Annahme einer kindlichen Unschuld: Er behauptet, dass mit der Verbreitung der Schrift in der Neuzeit die Trennung zwischen Erwachsenen und Kindern als eine zwischen Eingeweihten und Uneingeweihten entstand, denn mit der Verschriftlichung der Kultur konnten nur noch Leser an ihr teilhaben (vgl. Postman 1983).

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tion, die wir selbst seither aufgegeben haben. (Zur Einführung des Narzissmus [1914], GW 10: 155.) Mit Lacan können wir diesen »seligen psychischer Zustand« als eine nachträgliche Fiktion verstehen: Das vollkommene Glück hat es nie gegeben, erst nachträglich aus der Perspektive nach dem Einschlag des Signifikanten scheint es als phantasmatische Vision auf. Der kindliche Narzissmus ist eine erwachsene Projektion, die erlaubt, an ein Genießen ohne Zugeständnisse zu glauben: eine Projektion, die so heilig ist wie einst der Über-Vater. Gérard Wajcman weist darauf hin, dass das letzte Verbot einer Gesellschaft, die keine Verbote mehr kennt, mit diesem asexuellen Kind zusammenhängt: The sole remaining prohibition, the one sacred value in our society that seems to remain, has to do with children. It is forbidden to touch a hair on their little blond heads, as if children had rediscovered that angelic purity on which Freud managed to cast some doubt. (Wajcman 2008: 68.) Das Kind ist Vertreter des Anderen, der um das Sexuelle und damit die Kastration nicht wissen darf. Man könnte von einer Delegation des Glaubens sprechen, der die Wirksamkeit des Glaubens erst ermöglicht: Der vom Kind verkörperte unwissende Andere ermöglicht dem postödipalen Subjekt so zu leben, als gäbe es die Kastration nicht. Wenn der Glaube in einem kleinen anderen – nie passte dieser Begriff besser – geparkt ist, wird er den Beschädigungen durch die eigenen täglichen Erfahrungen des Scheiterns entzogen. Das unschuldige Kind, das Kind (als Kategorie, mit bestimmtem Artikel) ist jedoch eine Fiktion, die sich vom »real existierenden«, dem konkreten Kind unterscheidet. Wenn die Eltern sich darum bemühen, ihre Konflikte nicht vor den Kindern auszutragen, ist ihnen eigentlich klar, dass die Kinder längst verstanden haben, dass die Eltern sich gerade nicht vertragen. Nicht vor den Kindern dürfen schlüpfrige Witze gemacht, bei Rot die Straße überquert, Drogen konsumiert oder über »Erwachsenenthemen« geredet werden. So entsteht ein Kontext, der von dem Glauben an die kollektiven Illusionen regiert ist, an die eigentlich niemand mehr glaubt. Ein Ort, der nicht mit den »real existierenden Kindern« identisch ist, denn diese sind möglicherweise längst nicht so unwissend und unschuldig. Der Ort, der durch die Kinder markiert ist, ersetzt also deren tatsächlichen Glauben; das Kind ist eine Fiktion, die die erwachsene Wirklichkeit stabilisiert. Das »real existierende Kind« als Inkarnation des Kindes wird dieser Figur mehr oder weniger gerecht: Es ist dann eben doch nicht so unschuldig, doch nicht so niedlich, doch nicht so wissbegierig. Zwischen fiktivem Kindideal, dem unschuldigen Engelchen, und der real existierenden Rotzgöre besteht also eine Differenz; eine Differenz, die dafür verantwortlich ist, den erwachsenen Einsatz im Kampf für die kindliche Unschuld zu begründen.

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Das unschuldige Kind ist für das erwachsene Gegenüber Aufforderung zur Arbeit: Seine Unschuld muss bewahrt und gegen die Welt verteidigt werden. Als Vorläufiges verlangt es eine Ausrichtung auf seine Zukunft; der und die Erwachsene ist verantwortlich für die Vermittlung von Wissen und Vernunft – Mittel, die es aus seiner Hilflosigkeit befreien und zum Erwachsenen werden lassen. Schließlich ist die Unschuldigkeit des Kindes auch gegen das konkrete Kind selbst zu verteidigen, das stets eine Abweichung von der kindlichen Unschuld darstellt.27 Das Kind rechtfertigt Maßnahmen gegen das konkrete Kind: Um seines besseren Selbsts willen ist der pädagogische Zwang vertretbar. Das Kind als unschuldiges Ideal produziert also eine für das Imaginäre typische Spannung, eine zu schließende Distanz zwischen Ideal und Wirklichkeit. In dieser Dyade zwischen idealem Bild und realer Abweichung identifiziert sich nun der oder die Erwachsene mit dem Ideal: Im Namen des Ideals wirkt der oder die Erwachsene auf das konkrete Kind ein. Die Beziehung zum Kind ermöglicht Erwachsenen die Identifikation mit dem Absoluten, dem Phantasma eines vollständigen Genießens – auch wenn es sich bei diesem Genießen nicht um ihr eigenes, sondern um das des Kindes handelt, des Nachkommen, des zukünftigen Selbsts. In der pädagogischen Beziehung zum Kind produziert das postödipale Subjekt etwas, das in der ödipalen Gesellschaft vom symbolischen Vater kam: Sinn. Diese sinnstiftende Funktion der Beziehung zum Kind zeigt sich unter anderem in den Motiven für die Elternschaft: Seit der besseren Verfügbarkeit von Abtreibung und Verhütungsmitteln und der zunehmenden Kontrollierbarkeit der Reproduktion sind Kinder nicht mehr notwendiges Ergebnis von (heterosexuellem) Sex, sondern Folgen von Entscheidungen, oder wie Marcel Gauchet es formuliert: »privates Produkt des Wunsches seiner Erzeuger«. Paradoxerweise fällt die Möglichkeit, sich für oder gegen Kinder entscheiden zu können, mit ihrer ökonomischen Überflüssigkeit zusammen. Hatten Kinder früher in vielen Fällen noch eine überlebenssichernde Bedeutung, etwa als Arbeitskräfte im eigenen Betrieb oder Hof, als Altersvorsorge und soziale Absicherung, sind sie heute eher von ökonomischem Nachteil. Mit einer staatlichen und privatisierten Altersvorsorge sind (eigene) Kinder für die Absicherung nach der Arbeitsfähigkeit nur noch von geringer Bedeutung. Im Gegenteil: Die finanziellen Nachteile, die sich aus einem verringerten Einkommen durch Kindererziehung etc. ergeben, wirken sich auch auf die Höhe der Renten aus. Und nur noch in seltenen Fällen müssen Kinder den Job der Eltern übernehmen, um z.B. ein Familienunternehmen zu erhalten.28 Wenn Elternschaft einen ökonomischen Nachteil darstellt, Freiheitsverlust bedeutet, Abhän-

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Dies entspricht der Lacan’schen Formulierung: »Ich liebe Dich, weil aber, unerklärlich, ich in Dir etwas liebe, das mehr als Du – das Objekt klein a, muss ich Dich verstümmeln.« (XI: 282.) Einen Überblick über den Wandel des generationalen Verhaltens und seinen Bedingungen beispielsweise bei Huinik 2009.

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gigkeit von einem Partner oder einer Partnerin, permanentes Scheitern, Schlafentzug und das Zurückstellen eigener Bedürfnisse, dann können rationale Argumente nicht ins Feld geführt werden, wenn es um den Kinderwunsch geht. So wenig wie eine Verliebtheit oder sexuelle Anziehung ist der Kinderwunsch für die Betroffenen begründ-, hinterfrag- oder interpretierbar. In Studien zum generativen Verhalten werden als Gründe für den Kinderwunsch nur selten instrumentelle Zwecke wie die Stabilisierung der Partnerschaft und die Versorgung im Alter angegeben. Viel häufiger versprechen sich Erwachsene eine Sinnstiftung durch ihre Kinder (Eckard/Klein 2006). Durch das Sinnstiftungsmotiv bekommt Martine Lerudes Wendung vom »Begründerkind« (Lerude 2006) eine zweite Bedeutung: Das Kind als Begründerkind ist nicht nur der Anlass der Familiengründung, sondern auch als Sinnstifter Begründer der Existenz seiner Eltern. Eltern und im weiteren Sinne auch Pädagogen finden ihren Sinn im kindlichen Gegenüber. Damit wird das Kind nicht nur zur Begründungsfigur für eine Pädagogik, die jetzt erst zur Profession wird. Mit dieser neuzeitlichen Pädagogik entsteht die neue Form der Autorität, die mit der väterlichen Funktion konkurriert, sie zunehmend ablöst und sich auf ein »Begründungskind« stützt.

3.5 Das pädagogische Erbe des Herren Die Gründungsfigur der postödipalen Gesellschaft sehe ich weder wie McGowan in einem analen Vater noch wie MacCannell im Bruder. Stattdessen halte ich das Kind und das damit konstitutiv verbundene Pädagogische für den Kern des Postödipalen – nicht ohne Grund nennt Lacan den entsprechenden Diskurs den der Universität und verbindet ihn mit der unmöglichen Tätigkeit des Erziehens.29 Deshalb halte ich es für wenig zufällig, dass sich der Konflikt zwischen der alten symbolischen Autorität und ihrem gegenwärtigen Nachfolger am besten anhand des Films Der Club der toten Dichter darstellen lässt, in dessen Zentrum eine pädagogische Konstellation steht. McGowans Deutung von John Keating als analem Vater greift zu kurz. Denn Keating verkörpert nicht nur das Streben nach Genießen und fordert zur Selbstverwirklichung auf, sondern steht auch für das unabschließbare Wissen, für die unspezifische Neugier, für das allgemeine Interesse an der Welt – was weit über das Programm des analen Vaters hinausgeht. In Keating verschmilzt der Imperativ zu genießen, den »Tag zu nutzen«, mit einer Vorstellung davon, wie das Genießen gelingen könnte.30 Notwendig für diese Legierung ist das Kind bzw. der unferti-

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Einzig Salecl betont das genuin Pädagogische am Diskurs der Universität (Salecl 1994). Die Übersetzung »Nutze den Tag!« ist missverständlich, da sie nahelegt, dass der Tag mit etwas Nützlichem verbracht werden soll. Im Fall des Genieße-Imperativs wird suggeriert, dass es bei den Entscheidungen des Subjekts nicht primär um die Nützlichkeit gehen sollte, son-

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ge Zögling als ein Beziehungsgegenüber, dem das Genießen abgesprochen werden kann und das durch seine Zukünftigkeit die Opfer des Pädagogen rechtfertigt. Der Pädagoge und das Kind sind also wie Herr und Knecht ein komplementäres Paar. Die Figur des engagierten Lehrers hat eine Bedeutung weit über einen Raum der institutionalisierten Pädagogik hinaus, denn sie beschreibt ein postödipales Ideal. So wird der in Der Club der toten Dichter inszenierte Konflikt in unzähligen weiteren Filmen erzählt: Dass sich ein meist junger engagierter Lehrer oder eine Lehrerin gegen traditionell verbietende Autoritäten wehrt und mithilfe »unkonventioneller Methoden« zu der Selbstverwirklichung der Schülerinnen und Schüler beiträgt, ist ein häufig wiederholtes narratives Muster.31 Die traditionelle Autorität wird in diesem Muster als unfähig dargestellt, den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Demgegenüber erkennt die neue, vom pädagogischen Eros beseelte Autorität, der junge Pädagoge, die junge Pädagogin, diese Bedürfnisse nicht nur besser als die Zöglinge selbst. Sie ist sogar bereit, sich für deren Verwirklichung aufzuopfern. So wird den engagierten Lehrerinnen und Lehrern gekündigt, es wird ihnen mit der Kündigung gedroht, sie nehmen finanzielle Einbußen, persönliche Gefährdung in Kauf oder bezahlen selbst für ihre Unterrichtsmittel. Die Lehrerinnen und Lehrer sind in diesen Filmen Sympathieträger, die Filme begleiten ihre Kämpfe gegen veraltete Strukturen voller Mitgefühl und bringen ihrer Opferbereitschaft Respekt entgegen. Der Erfolg dieses Narrativs lässt vermuten, dass die dargestellten Pädagoginnen und Pädagogen einen Wunsch verwirklichen, der sich nicht auf die fiktiven Lernenden begrenzt, sondern von dem breiten Publikum dieser Filme ausgeht. Die Schulfilme erzählen den Sieg der Selbstverwirklichung über die Unterwerfung unter eine fordernde Autorität. Keating, seine Brüder und Schwestern stehen dabei für die allmähliche Überwindung der traditionellen Autorität. Dabei behaupten sie selbst keine Autorität, obwohl sie deren Platz beanspruchen: Sie scheinen kein eigenes Interesse zu haben, sondern unterwerfen sich selbst den (eigentlichen) Interessen ihrer Schützlinge bzw. machen sich diese zu eigen, um ihnen in idealer Weise zu folgen. Ich werde also im Folgenden argumentieren, dass nicht der anale Vater die Nachfolge des symbolischen Vaters, des Herren angetreten hat, sondern eine pädagogische Autorität, die das neutrale Wissen zu sein vorgibt und sich in

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dern um eine Optimierung des Genießens des Subjekts. Dass diese Optimierung durchaus nach Nützlichkeiten fragt, liegt auf der Hand. Während es in älteren Schulfilmen wie der Feuerzangenbowle (1944) oder Die Lümmel von der ersten Bank (1967-1972) vor allem darum geht, die ödipalen Autoritäten zu karikieren, taucht der neue Lehrertypus, der engagierte Pädagoge, der die Sympathie der Schüler und des Publikums hat, ab den 1990er Jahren vermehrt auf: beispielsweise in Dangerous Minds (1995), Die Kinder des Monsieur Matthieu (2004) und der Fack you Göte-Reihe (2017).

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den Dienst seiner Adressaten stellt. Die pädagogische Autorität gehört notwendigerweise zur Figur des Kindes hinzu, sie ist der von ihr produzierte Gegenpart. Meine These ist deshalb, dass der Antagonismus zwischen Herr und Knecht durch den Antagonismus zwischen Pädagoge und Kind ersetzt wurde – ein Antagonismus, der nicht nur eine gesellschaftliche Konstellation beschreibt, sondern auch das Selbstverhältnis des postödipalen Subjekts charakterisiert. Keating, seine Kolleginnen und Kollegen stellen deshalb nicht nur als ideale Pädagogen eine nur im Fiktiven mögliche Auflösung des pädagogischen Konflikts dar, sondern erzählen von der Möglichkeit eines Genießens ohne anderen. Wenn Lacan den postödipalen Diskurs »Diskurs der Universität« nennt, legt er nahe, dass es sich bei dieser Art des Diskurses um eine soziale Konstellation handelt, die eine besondere Beziehung zur Universität hat, also dem unmittelbaren Umfeld seiner Studierenden und den Adressaten des Seminar XVII. Indem er dem Diskurs der Universität Freuds unmöglichen Beruf des Erziehens zuordnet, fasst er die Universität sehr weit und bezieht sich auf das gesamte Bildungs- und Erziehungssystem. Mit seiner Darstellung des Diskurses der Universität stellt er sich gegen die ihm aus der Richtung der Studierenden begegnenden linken Kritik am Erziehungssystem, die sich vor allem gegen einen autoritären Herren richtet. Mit Lacan lässt sich die Pädagogik selbst, der pädagogische Diskurs, als eine permanente Kritik an dem Herrendiskurs verstehen. Das lässt verständlich werden, warum die Auseinandersetzung zwischen Keating und dem Schulleiter in Der Club der toten Dichter nicht nur in verschiedenen Zeiten angesiedelt werden könnte, sondern auch heute noch aktuell erscheint. Auch heute fühlen sich Pädagoginnen und Pädagogen gegängelt durch autoritär empfundene Lehrpläne, Institutionslogiken und staatliche Vorgaben, die ihrer pädagogischen Genialität, ihrem pädagogischen Eros Grenzen setzen und der Individualität ihrer Zöglinge nicht gerecht wird.32 Mit dem Mathem des Diskurses der Universität lässt sich zeigen, dass es in der pädagogischen Logik selbst liegt, dass ständig das Gegebene überschritten und neue Herren überwunden werden müssen. Das Problematische des Erziehungssystems liegt dann nicht in einer Autorität, die sich nur durch die leere Geste der Gewalt legitimieren kann und die sinnlose Unterwerfung fordert. Mit dem Diskurs der Universität lässt sich etwas in den Blick nehmen, was der antiautoritären Kritik an der Pädagogik oft entgeht, jedoch konstitutiv mit der Pädagogik verbunden

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So lässt sich in jeder pädagogischen Generation der ihr spezifische Herr finden, den es zu überwinden gilt. Wie sich die Reformpädagogik an der autoritären Stoffschule abarbeitet, die den kindlichen Bedürfnissen nach Ganzheitlichkeit usw. nicht gerecht wird, und eine vernünftige, durch Kindheitsforschung legitimierte »Pädagogik vom Kinde aus« fordert, argumentieren heute Schulerneuerer gegen standardisierte Schulen für eine an der Hirnforschung orientierte, individualisierte Pädagogik.

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und durchaus problematisch ist: Nämlich dass die Pädagogik das Phantasma des vollständigen Genießens nach dem Sturz ihrer ödipalen Verkörperung perpetuiert. Die pädagogische Autorität des Universitätsdiskurses unterscheidet sich von dem Herren vor allem dadurch, dass sie vom Ort des Wissens her spricht. Renata Salecl, die den Diskurs der Universität explizit als pädagogischen Diskurs liest, weist darauf hin, dass der Herr seine Befehle nicht mit Argumenten begründen muss, die mit Wissen unterfüttert sind. Der Universitätsdiskurs hingegen argumentiert (vgl. Salecl 1994: 163). Nach Lacan ist das Wissen im Herrendiskurs Sklavenwissen: Der Herr ist reduziert auf den Befehl, auf die leere Machtgeste; die ihm Unterworfenen haben das Wissen, den Befehl zu interpretieren und ihn umzusetzen. Der Befehl des Herren setzt also das Wissen des Knechtes voraus; der Herrendiskurs lokalisiert das Wissen beim Anderen. Wie Salecl zeigt, entspricht dieses Verhältnis zum Wissen der Annahme des juristischen Diskurses, in dem Gesetze immer befolgt werden müssen und Nicht-Wissen vor Strafe nicht schützt. Das Gesetz betrachtet also diejenigen, die ihm unterstehen, als Wissende, als in der Lage, das Gesetz zu kennen und es umsetzen zu können. Nur so kann ein Verstoß gegen das Gesetz bestraft werden. Im Gegensatz dazu wird der pädagogische Diskurs von einer Position des Wissens aus artikuliert. Der Pädagoge des Diskurses der Universität spricht aus der Position des Wissenden, seine Äußerungen sind keine leeren Macht-Behauptungen, sondern gründen im Wissen, argumentieren, erklären oder setzen ihre Erklärbarkeit voraus. Das Sprechen aus der Position des Wissens macht das Gegenüber zum Unwissenden, wie Jacques Rancière in Der unwissende Lehrmeister darlegt. Gerade die Erklärung mit der Behauptung, für das Wissen sprechen zu können, produziert die Differenz von Wissendem und Unwissendem: Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt. Er ist es, der den Unfähigen als solchen schafft. Jemandem etwas erklären heißt, ihm zuerst zu beweisen, dass er nicht von sich aus verstehen kann. (Rancière 2007: 16.) Die »Ordnung des Erklärens« bedarf einer Differenz zwischen dem Wissenden und dem Unwissenden. Diese ist jedoch keine Gegebenheit: Der Erklärende muss sie erst erzeugen, indem er das Gegenüber darauf hinweist, was es nicht weiß. Erst wenn das Gegenüber weiß, was es nicht weiß, ist es bereit für die Erklärung. Vor der Erklärung steht also, behauptet Rancière voller Emphase, die Verdummung. Im Kontext des Diskurses der Universität zeigt sich, dass der Begriff der Verdummung nicht unpassend ist. Entscheidend für den Diskurs der Universität ist nämlich, dass die Autorität nicht nur Inhaber eines neutralen Wissens ist; ihr Wissen betrifft den vermeintlichen Kern des Subjekts. Die Figur John Keatings beispielsweise ist nicht nur ein besonders belesener und fachlich kompetenter Lehrer. Dass er auf seine Schüler eine so große Wirkung hat, verdankt sich dem Umstand, dass er

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seine Schüler schon als Individuen sieht, bevor sich deren individuelle Perspektive überhaupt realisiert hat. In einer zentralen Szene des Films bringt Keating den Schüler Todd Anderson dazu, vor der Klasse zu sprechen und seine poetischen Qualitäten zu offenbaren. Keating weiß um Andersons Talent und um seine Unfähigkeit, sich zu seiner Gabe zu bekennen. Ganz offensichtlich gegen dessen Willen holt Keating Anderson, der an der Hausaufgabe, ein Gedicht zu schreiben, gescheitert ist, vor die Klasse und zwingt ihn dazu, sprachlich zu improvisieren. Keating rückt Anderson auf die Pelle, umkreist ihn wie ein Raubtier, kommt ihm körperlich nahe, hält ihm die Augen zu, um ihn zur Fokussierung auf sich selbst zu zwingen. Die Kamera wiederholt Keatings Bewegungen, konzentriert sich ganz auf die Dyade, dann nur noch auf Anderson, blendet die Anwesenheit der Anderen aus und dreht sich mit Keating um den bedrängten Schüler. In der pädagogischen Dyade nimmt die Kamera zeitweise Keatings Position ein, fokussiert sich auf Andersons Stottern, das allmählich zum flüssigen Sprechen wird. Aus dem unsicher zitternden, zum Sprechen gezwungenen Schüler wird ein Poet; die aufgezwungenen Worte, die ihm Keating als Thema gibt, werden zu seinen eigenen.33 Keating und die Kamera lassen Anderson frei, entfernen sich und nehmen die Position des Publikums, der Klasse ein. Schließlich verstummt Anderson, die Kamera fängt den bewundernden Blick des Mitschülers Perry ein, schließlich Keatings andächtige Aufmerksamkeit. Anderson schaut auf und blickt in sein Publikum. Die Szene endet mit dem Applaus Keatings und der Klasse und Keatings zugeflüsterter Aufforderung, dies niemals zu vergessen. Diese Episode lässt sich als die Inszenierung eines pädagogischen Traums verstehen (vgl. Wimmer 2011): Aus der Fremdaufforderung, dem anfänglichen Zwang Keatings, wird Freiheit. Am Ende der Szene ist aus dem unsicheren Teenager ein Dichter geworden, der seine eigene Stimme gefunden hat. Diese eigene Stimme ist das Werk des Pädagogen: Keating zwingt Anderson nicht nur dazu, die Stimme zu erheben, sich von den Erwartungen der anderen zu lösen (»Forget them«), sondern ist der, der durch seinen Blick die Qualität des Gesprochenen bestätigt und schließlich Anderson das, was ihm widerfahren ist, als Eigenes zuschreibt (»Don’t you forget this«). Wie Michael Wimmer bereits hervorgehoben hat, ist die Entstehung des Subjektes hier in ein Unterwerfungsgeschehen eingebettet, Anderson soll diese Urszene nicht vergessen, wohl aber den Zwang, der diese initiiert hat: Die Subjektivierung wird zur Selbstgeburt. Zwar ist Anderson als ein Protagonist des Films Identifikationsfigur, die dem Publikum ermöglicht, an seiner Heldenreise teilzuhaben, die ihn seine durch Kon-

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In dieser Szene erleben wir das Entstehen eines Sinthoms: Die aufgezwungenen Worte werden verwandelt zu einem Werk, das den Eigennamen stützt und so die Ablösung vom terrorisierenden Anderen ermöglicht. Anderson lässt sich also mit Lacan als eine Wiedergeburt von Joyce interpretieren (vgl. Kapitel 5.3).

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ventionen bestimmten Ängste überwinden und seine Bestimmung finden lässt. Jedoch lässt die Kameraführung den Zuschauer in dieser zentralen Szene Keatings Perspektive einnehmen: Angefüttert von dem in vorigen Szenen etablierten Wissen über Anderson will der Zuschauer mit Keating, dass Anderson wird, was er ist, dass er sich offenbart und zu sich bekennt. Wie das Publikum irrt sich auch Keating nicht in seiner Annahme, dass Anderson ein verborgenes Talent besitzt, das auch für die Anderen, die Klasse, offensichtlich ist. Sein anfänglicher Zwang ist durch dieses Ergebnis gerechtfertigt: Anderson brilliert tatsächlich, wie von Keating und dem Publikum schon vorweggenommen, in schillernden Metaphern und rhythmischen freien Versen. Nicht zufällig trifft er damit genau den Stil Walt Whitmans, von dem nicht nur der Impuls stammt, über den Keating Anderson improvisieren lässt, sondern dessen Dichtung im gesamten Film eine wichtige Rolle spielt. Es wäre einfach, an dieser Stelle zu behaupten, dass das Selbst, zu dem Anderson in dieser Szene findet, kein überraschendes ist, sondern ein Ideal realisiert, das Keating von Anfang an propagiert hat: Das romantische Ideal eines authentischen, selbstidentischen Ausdrucks, das dennoch Anspruch auf Allgemeinheit erheben kann.34 Bleibt man bei diesem Gedanken, so muss man diese Szene als Überwindung der Unmöglichkeit dieses Ideals verstehen. Keating, einst selbst literaturbegeisterter Schüler, der in geheimen Treffen den Sinn des Lebens in literarischem Selbstausdruck gesucht hat, ist gerade kein Dichter geworden, keine literarische Existenz, sondern Lehrer. Andersons improvisiertes Gedicht rührt ihn, er ist voller Bewunderung, gleichzeitig weiß er um seinen Beitrag, kann sich auch einen Teil der Schöpfung zuschreiben. In seinem Schüler ist ihm, zumindest temporär, eine literarische Existenz gelungen: eine auf das starke Ich zentrierte Wahrnehmung der Welt, spontaner unmittelbarer Selbstausdruck. Wenn das Publikum durch die Kameraperspektive mit Keating auf Anderson blickt, nimmt es die Perspektive des pädagogisch Liebenden ein, teilt Keatings Stolz und dessen Befriedigung über die Entfesselung des jungen Genies. In dieser Szene ist Anderson eine ideale Gestalt: der Schüler, der seinen Lehrer stolz macht und das pädagogische Wunder ermöglicht. Die Kamera lässt uns jedoch auch aus der Schülerperspektive auf Keating blicken. Keating als fiktive Figur befriedigt den Blick des Zuschauers, er ist der unmögliche ideale Pädagoge, der die Selbstgeburt des Subjekts mediiert. Er kann die

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Dieses Ideal durchzieht Whitmans Schaffen. Im Zentrum von »Song of Myself«, aus dem die ausgewählte Zeile stammt, die Keating Anderson vorlegt, steht ein Ich, das gleichzeitig individuell und universal ist (vgl. Cooke 1950). Dieses starke Ich in Whitmans Text kann verstanden werden als die Produktion eines allmächtigen Idealichs, einer zentrierenden Instanz, die in der Lage ist, die Welt objektiv zu erfassen, sich in ihr zu erkennen, um ihre Position in ihr zu wissen.

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pädagogische Paradoxie einer Freiheit durch Zwang auflösen, weil er das absolute Wissen hat, das seinen Zwang rechtfertigen kann: Er weiß besser als Anderson selbst, was in ihm steckt. Deshalb ist Keating eine Wunschfigur, die die Sehnsucht nach der Auflösung der Unmöglichkeit eines voraussetzungslosen Selbsts bedient. Keatings Idealität liegt in seinem Wissen um die Individualität seiner Schüler. Seine Adressierung des Individuellen lässt sich als ein postödipales Wissen um das Genießen des anderen verstehen. Keating weiß besser als seine Schüler selbst, was zu ihrem spezifischen Genießen notwendig ist, und stellt ihnen dieses Wissen zur Verfügung. Ein großer Teil seiner pädagogischen Interventionen zielt darauf, den Schülern zu zeigen, dass sie keinen optimalen Zugang zum Genießen haben, dass sie von ihrem Genießen nicht genug wissen. Bei dieser Geste Keatings handelt es sich letztlich um eine Verdummung seiner Schüler. Ihr Zugang zu ihrem Genießen wird radikal in Frage gestellt durch die Behauptung eines absoluten Genießens, das der bisher nicht sinnvollen Existenz der Schüler Bedeutsamkeit verschafft. Keating entwertet die heimlichen Vergnügungen der Schüler – beispielsweise ihren Spott über die Institution – und markiert sie als ungenügend. Keatings Versprechen ist eine Behebung des Mangels, auf den er selbst erst hinweist. Das Versprechen des Wissens, auf dem die pädagogische Autorität basiert, geht also einher mit einer Verachtung des partikularen Genießens – einer Verleugnung des Triebes, die schwerwiegende Folgen für die Beziehung zum anderen hat, wie ich im fünften Kapitel ausführlicher darstellen werde. Das Wissen, mit dem sich die Pädagogik identifiziert, gibt sich als neutral und unabgeschlossen. In dem Film Der Club der toten Dichter erweist sich Keating als ein echter Pädagoge, der nicht wie die durch den Schulleiter verkörperte traditionelle Autorität das Auswendiglernen eines Kanons verlangt und einen Kriterienkatalog bereitstellt, woran wie ein gutes Gedicht zu erkennen ist. Voller Pathos fordert er hingegen seine Schüler dazu auf, das Kapitel über die Beurteilung von Gedichten aus dem Lehrbuch herauszureißen. Diese gegen die Autorität gerichtete Geste autorisiert die Schüler scheinbar, einen ästhetischen Maßstab in sich selbst zu suchen. Keating zielt also vermeintlich auf die Freiheit der Schüler; ihre Befreiung aus der von der Bildungsinstitution produzierten Unmündigkeit ist sein Hauptanliegen. Jedoch ergibt sich Keatings Ideal der Freiheit vor allem aus seiner Beziehung zu den alten Autoritäten: Wie Wimmer feststellt, verdankt sich Keatings Idealität vor allem einer »dichotom konstruierten Welt« (Wimmer 2011: 90), in der sein Anliegen den ödipalen Autoritäten entgegengesetzt ist. Keating kann nur als Befreier wirken, indem er die alten Herren überwindet. Authentizität gibt es nur als Befreiung von den entfremdeten Forderungen nach Anpassung, die Freiheit nur als Zurückweisung der Unterwerfung. So hat sich Keating nicht mit den disziplinierenden Aspekten von Pädagogik herumzuschlagen, muss keine Noten geben, die Anwesenheit der Schüler einfordern oder einen bestimmten Kanon festlegen, sondern

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stellt das unmögliche Ideal der Selbstverwirklichung gerade durch die Überwindung dieser Forderungen her. Deshalb ist seine Geste auf den Herren angewiesen, den er zu überwinden vorgibt. Das macht aus seiner scheinbar radikalen Orientierung an den Individualitäten seiner Schüler eine Geste, auf die ich bereits mit Trimalchio hingewiesen habe: Der befreite Sklave Trimalchio nimmt nicht den Akt auf sich, der den Herren zum Herren gemacht hat, sondern glaubt, sich zu befreien, indem er sich freikauft und damit permanent seine Sklaventätigkeit wiederholt. Das unkastrierte Genießen, das Trimalchio dem Herren unterstellt, versucht er zu erreichen, indem er den Herren überwindet. Auch Keatings Ideal des Carpe Diem hängt an der Überwindung der nichtssagenden Welt der traditionellen Autoritäten. Die väterliche Instanz als pervertierte Instanz, von der absolute Ansprüche ausgehen, wird so zu einer notwendigen Figur für das Postödipale.35 Dass dabei die Überschreitung wichtiger ist als das Erreichen eines Objektes, zeigt im Film das Beispiel des Schülers Knox Overstreet. Dass dieser sich getraut hat, der Liebsten ein Gedicht vorzutragen, ist weit wichtiger als ihre Reaktion darauf oder gar eine echte Begegnung mit ihr. Die Pädagogik, die »durch Zwang zur Freiheit« führen will, versucht ihr zentrales Paradox zu lösen, indem sie das von ihr vermittelte Wissen »neutralisiert«, um so die entscheidende Freiheit zu lassen, nämlich die des Standpunktes, die dem Wissen extern erscheint. Dazu muss sie die »heimlichen Herren« aufspüren, also implizite Setzungen, Normen ständig hinterfragen und überwinden. Das von ihr vermittelte Wissen muss unabgeschlossen sein: Es darf keine letzte Wahrheit, keinen letzten Grund geben, der die Freiheit der Schüler endgültig widerlegt. Wissen, das Neutralität beansprucht, muss vorläufig und mit dem Versprechen ausgestattet sein, sich permanent zu erweitern. Entsprechend fordert Keating seine Schüler besonders dazu auf, Neues zu entdecken und eine Haltung der Offenheit zu entwickeln. Sein pädagogisches Ziel ist nicht der Erwerb eines bestimmten Wissens, sondern die Bereitschaft, immer weiter zu lernen. Diese Notwendigkeit einer permanenten Erneuerung des Wissens erfordert von den Pädagoginnen und Pädagogen Selbstlosigkeit. Als Vertreter des Wissens, das ohne Standpunkt auskommt, muss auch der Pädagoge oder die Pädagogin den eigenen Standpunkt aus dem pädagogischen Geschehen heraushalten. Salecl zeigt, dass sich pädagogische Kommunikation besonders durch indirekte Sprechakte auszeichnet. Als Beispiel nennt sie die Formulierung »Could you keep quiet?«.

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Eine Veränderung in der väterlichen Imago beschreibt Irene Berkel bezogen auf die Thematisierung von Missbrauch: Im Zusammenhang mit einer Liberalisierung und der damit verbundenen Problematisierung von Autorität treten die missbräuchlichen, gewalttätigen Aspekte des väterlichen Imaginären in den Vordergrund (vgl. Berkel 2006). Auch Renata Salecl konstatiert eine Verschiebung bezüglich des väterlichen Imaginären und interpretiert diese als eine Wiederkehr des abgedankten Vaters im Realen (vgl. Salecl 2000: 203).

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Anders als John Searle, der diese indirekten Sprechakte als etablierte Form der Höflichkeit interpretiert, um den Befehl »seid still!« abzumildern, sieht Salecl in ihnen den Diskurs der Universität wirksam, in dem ein Befehl wie »seid still!« nicht formuliert werden kann, weil er ein Subjekt voraussetzt, das für diesen Befehl die Verantwortung übernimmt – seid still, weil ich das so will! Im Diskurs der Universität ist der Pädagoge jedoch nur Repräsentant eines Wissens, in dessen Namen er spricht. Salecl formuliert deshalb den Satz weiter: because this is good for you. Letztendlich sieht sie die indirekten Sprechakte der Pädagogik als Forderungen, die dem großen Anderen zugeschrieben werden: because the Great Other wants it (Salecl 1994: 168). Wenn dieser Andere im Diskurs der Universität jedoch das neutrale Wissen ist, das Zugang zum Genießen verspricht, so fällt die Vernunft/der große Andere/das Wissen und das Begehren des adressierten Kindes in eins. Ich würde deshalb noch etwas deutlicher formulieren: Seid still, weil es das ist, was ihr eigentlich wollt! Aus der Perspektive der Adressaten von Pädagogik scheinen der Andere und das Subjekt zusammenzufallen; den Konflikt zwischen Subjekt und Anderem gibt es nicht mehr. Nur als Vertreter des scheinbar neutralen Wissens ist der Pädagoge oder die Pädagogin zum Sprechen berechtigt. Deshalb muss er oder sie sich – genau, wie das Wissen ständig auf seine normativen Setzungen hin überprüft werden muss – immer wieder darauf hin in Frage stellen: Verfolge ich bei den Zöglingen nicht eigene Interessen? Gleichzeitig ist Pädagoginnen und Pädagogen jede Instanz entzogen, in der sie ihr pädagogisches Handeln jenseits ihrer eigenen Setzungen begründen könnten: Es gibt keinen letzten Grund, keine objektive Wahrheit, in der sie sich in ihren Aufgabenstellungen, Bewertungen oder Entscheidungen rechtfertigen könnten. So bleibt ihnen als Quasigründung nur ihre Neutralität: Indem sie ihre Individualität, ihre eigenen Interessen und Vorlieben völlig zum Verschwinden bringen, legitimieren sie sich als Vertreterinnen des neutralen Wissens. So ergibt sich für die Pädagogik die permanente Notwendigkeit, den Herrensignifikanten zu eliminieren. Jedoch zeigt sich der Herrensignifikant gerade in diesem Neutralitätsgebot, das von den Pädagoginnen und Pädagogen eine endlose Überschreitung der eigenen Grenzen fordert. Es liegt nahe, dass dieser Versuch, »alles zu sein«, also ohne eigene Position auszukommen, überfordert und zu der hohen Burn-outRate im sozialen Bereich beiträgt.36 Oder um noch einen Schritt weiter zu gehen: Folgt man Lacans Argumentation in seinem Aufsatz Kant mit Sade, ist der Burnout bzw. die Selbstüberforderung sogar Strategie, die das Absolute erzwingen will:

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Einen Überblick zur Studienlage zu psychischen Erkrankungen im Bildungsbereich gibt das Gutachten des Aktionsrats Bildung: Trotz eines nicht verallgemeinernde Aussagen erlaubenden »Flickenteppichs« von Studienergebnissen könnte davon ausgegangen werden, dass »die Raten von Personen, die sich chronisch überlastet, emotional erschöpft oder ausgebrannt fühlen, in den untersuchten Gruppen beträchtlich hoch« seien (Aktionsrat Bildung 2014: 77).

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Gerade indem sich das Subjekt gegen sich selbst wendet, im Schmerz, in der Aufopferung, eben indem es das Lustprinzip überschreitet, sucht es den Zugang zum unerreichbaren Realen, dem absoluten Genießen. Die Opferbereitschaft, die den Pädagogen oder die Pädagogin auszeichnet, habe ich im Zusammenhang mit der höfischen Liebe im zweiten Kapitel bereits als Mechanismus beschrieben, der eine Phantasie vom absoluten Genießen in sein Objekt verlegt. Damit das Kind als Sinnstifter fungieren kann, müssen die Sinnsuchenden Opfer bringen und ihr eigenes Genießen zurückstellen: »Hauptsache, den Kindern geht es gut«. Der Schmerz bei der Geburt, der Schlafentzug, die ökonomischen Nachteile, das Zurückstellen eigener Bedürfnisse, der Burn-out sprechen nicht gegen das Kind, das Opfer ist konstitutiv in die Beziehung zum Kind eingeschrieben, ja, das Opfer macht die Beziehung zum Kind erst attraktiv. Die Liebe zum idealisierten Kind ist also eine Liebe, wie sie im zweiten Kapitel beschrieben wurde: eine Liebe, die ihr Gegenüber idealisiert, das Sexuelle verdrängt und wie die höfische Minne vor allem Liebesdienst ist – ein Dienst, der permanente Opfer erfordert. Vor diesem Hintergrund wird aus einer Debatte wie die um »Regretting Motherhood«37 Liebeslyrik: In der Größe der Opfer beweist sich der Wert des Objekts, für das diese gebracht wurden. Die ambivalente Haltung zum Kind ist Ausdruck einer gewandelten generationalen Beziehung, in der dem Kind die Aufgabe zufällt, den Herrensignifikanten hervorzubringen. Deshalb steht die Reue, ein Kind bekommen zu haben, in keinem Widerspruch zu der Liebe zum Kind und dessen immenser Bedeutung für das mütterliche Subjekt. Vielmehr ist sowohl die sinnstiftende Liebe als auch der Glaube an das, was geopfert wurde, ohne die Reue über das vermeintlich Geopferte nicht zu haben. Den Kindern geopfert wird nichts anderes als jener Zehnte der Lust, der dem ödipalen Herren zustand und dessen absolutes Genießen ermöglichte. Die Eltern oder Pädagoginnen und Pädagogen ermöglichen mit ihrer Sorge, ihrer Arbeit, ihrer Liebe nicht nur die Existenz des Kindes, sondern im Postödipalen die Illusion seines unkastrierten Genießens. Wenn sie dabei einen Teil ihres eigenen Genießens opfern, ist dieses unwiderruflich beschädigt, es ist durch das Opfer korrumpiert und nicht das absolute Genießen, dass derjenige zu haben scheint, dem geopfert wurde. Wenn also die Eltern aus Liebe für ihr Kind auf ihr unbeschädigtes Genießen verzichten, opfern sie das absolute Genießen und damit etwas Unmögliches, denn dieses Genießen hat es für sie nie gegeben. Es ist also anzunehmen, dass wie

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In Orna Donaths Studie, die sich mit der Reue von Müttern beschäftigt, ein Kind bekommen zu haben, beklagen die Teilnehmerinnen einerseits die unverhältnismäßigen Opfer, die sie für ihre Kinder bringen müssen, betonen jedoch stets ihre Liebe zu ihnen (vgl. Donath 2015). In der Debatte um die Studie spielte besonders die immer noch zum großen Teil bei den Frauen landende Zuständigkeit für die Kinder eine große Rolle.

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beim väterlichen Verbot das Opfer sein Objekt erst entstehen lässt: Wenn die Eltern ihre Selbstverwirklichung der Familie und den Kindern opfern, dann müssen sie sich nicht damit konfrontieren, dass diese Selbstverwirklichung, das absolute Genießen, schon immer eine Illusion war. Das Opfer bringt durch die Negation das Negierte erst hervor. Gerade weil sie für das Kind auf ihr Genießen verzichten, entsteht die Vorstellung, dass dieses Genießen möglich sein muss – möglich nun eben für das Kind. Das Kind gibt so dem elterlichen Opfer Sinn, indem es etwas verspricht, was die ungenügende Gegenwart der Erwachsenen übersteigt: Das Transzendenzversprechen, das dem Kind innewohnt, ist also in diesem Sinne ein Resultat aus der Notwendigkeit, für es Opfer zu bringen. Geht man von Lacans Annahme aus, dass die sinnstiftende Funktion des Herrensignifikanten mit der Annahme eines unkastrierten Genießens verbunden ist, lässt sich folgern, dass das Kind nur als Sinnstifter taugt, weil es das Versprechen eines vollständigen Genießens verkörpert. Es kann nur Sinn geben, wenn es selbst Sinn hat, es selbst keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, es also ohne Notwendigkeit weiterer Begründungen ist. Das Kind muss als Sinnstifter ohne Mangel sein, und das bedeutet vor dem Hintergrund der Lacan’schen Theorie: Es muss genießen. Hätte es jedoch bereits Zugang zum Absoluten, könnte es schon vollkommen genießen, wäre jede Art von Erziehung überflüssig. Es bestünde keine Notwendigkeit, das Kind zu verändern. Das absolute Genießen des Kindes ist also abwesend, jedoch als Potential bereits anwesend. Diese paradoxe Gleichzeitigkeit lässt sich in Kants berühmter Formel erkennen, dass der Mensch erst Mensch durch Erziehung wird. In dem Satz zeigt sich eine charakteristisch imaginäre Struktur, nämlich ein Auseinanderklaffen von realem Mangel und vorweggenommener Vollkommenheit, wie sie Lacan beispielsweise im Spiegelstadium beschreibt. Der Mensch, der durch Erziehung geworden ist, ist imaginäres Ideal, das pädagogisch handlungsleitend und so die normative Essenz einer scheinbar neutralen Pädagogik ist. Mit dem imaginären Ideal des Menschseins ist in Kants Vorstellung die Freiheit verbunden, die er zum Wesensmerkmal des Menschen macht, denn es ist die Freiheit, die den Menschen über das Tier erhebt. Diese Freiheit, die im Gegensatz zu den determinierenden Naturgesetzen steht, weil sie ihre Ursache in sich selbst hat, ist nichts anderes als der Herrensignifikant als unbegründbarer Grund. Die Pädagogik stellt sich also in den Dienst des Herrensignifikanten, den sie im Kind angelegt sieht, gerade deshalb, weil er dort noch abwesend ist. Auf die Freiheit bezieht sie sich auf paradoxe Weise: Sie zielt auf die Freiheit ihrer Adressaten dadurch, dass sie ihnen die Freiheit nimmt. In der imaginären Dyade zwischen Mangelwesen und vorweggenommener Vollkommenheit stellt sich die Pädagogik auf Seite des imaginären Ideals, während sie ihrem Gegenüber, dem Kind, das überlässt, was als realer Mangel hinter dem Ideal zurückbleibt. So ist das konkrete Kind zwangsläufig eine Enttäuschung. Entsprechend spricht Lacan von seinen Studierenden als »Fehlgeburten«:

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Das Objekt a, das ist das, was Sie alle sind, insofern Sie da aufgereiht sind – soviele Fehlgeburten dessen, was, für die, die Sie gezeugt haben, Ursache des Begehrens gewesen ist. Und genau darin müssen Sie sich zurechtfinden, die Psychoanalyse lehrt es Sie. (XVII: 191.) Wenn sich die pädagogische Autorität in den Dienst des Ideals stellt, fordert sie von ihren Adressaten, etwas zu werden, was sie noch nicht sind, was jedoch ihrer geheimen Wahrheit entspricht. So gibt es beispielsweise keine Interessensunterschiede zwischen Keating und seinen Schülern: Er begeistert sich für das, für das sich seine Schüler ebenfalls begeistern. Noch mehr begeistert er sich für das, für das sie sich begeistern werden. Keatings Autorität ist durch seine Fähigkeit legitimiert, zu wissen, was seine Schüler eigentlich wollen, auch wenn ihnen selbst dieses Wollen noch verborgen ist. Er bezieht sich also auf die verborgene Wahrheit seiner Gegenüber, auf ihr Ideal. Der Pädagoge trägt zur Verwirklichung des Idealichs auch gegen das Subjekt und seinen Willen bei. Wenn man so will, rechtfertigt sein Idealich den Zwang, die Gewalt, gegen das Kind.38 Die bessere Version des Adressaten wird gegen die unvollkommene ausgespielt. Mit dieser Figur sichert das Agens seine Neutralität, denn die Agenda kommt aus dem Gegenüber selbst: Der pädagogische Zwang, jede Härte gegen das konkrete Kind ist zu seinem Besten, zu der Verwirklichung dessen, was seine eigentliche Bestimmung ist.39 Das zukünftige Genießen des Kindes, das Ideal, das als verborgene Wahrheit in ihm steckt, ist nur möglich durch die Arbeit von Pädagoginnen, Pädagogen und Eltern: Sie produzieren es, indem sie sich und ihre Energie zur Verfügung stellen, indem sie alle Steine aus dem Weg räumen und das Kind von schädlichen Einflüssen fernhalten, indem sie ihm Wissen vermitteln, das den Zugang zum Genießen sichert. Wenn das Kind in seinem Verhältnis zum Genießen strukturelle Notwendigkeit einer postideologischen Gesellschaft ist, wenn das Kind den Glauben an die Möglichkeit des absoluten Genießen absichert, weil es das Potential dazu zu enthalten scheint, dann basiert diese Gesellschaft wesentlich auf der pädagogischen 38 39

So erklärt sich Robert P. Harrisons Annahme, dass »unsere jugendbesessene Gesellschaft faktisch Krieg gegen die Jugend führt, der sie angeblich huldigt.« (Harrison 2015: 11). Demgegenüber begründet sich das ödipale Verbot in sich selbst und nicht im Subjekt. Folgt man der These Lacans über einen Zusammenhang zwischen einer Herrschaft des Wissens, das sich im Idealich des Beherrschten begründet, und seiner gnadenlosen Unerbittlichkeit, dann gibt es – trotz aller offensichtlicher Unterschiede – eine Verbindung zwischen der postpolitischen Behauptung von Alternativlosigkeit und den Gewaltregimes autoritärer Herrscher: Die Sparprogramme, die neoliberale Regierungen als alternativlos und von den fähigsten Experten erarbeitete beste Lösungen verkaufen, sind bittere Einschnitte, Opfer, die im eigentlichen Interesse der Regierten von diesen zu erbringen sind. Die Gewaltexzesse autoritärer Regimes sind die Kehrseite dieser Opfer: Das autoritäre Regime erscheint gerade deshalb als wahre Verkörperung des Volkswillens, indem es diesen mit Gewalt gegen das entsprechende Volk durchsetzt.

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Arbeit – Arbeit, die dem absoluten Genießen des Kindes gilt – eine Modifikation der Arbeit des Knechtes, die impliziert, Opfer zu bringen. War im Ödipalen der Vater »der, der Liebe verdient« (XVII: 90), übernehmen Kinder in einer postödipalen Gesellschaft die väterliche Rolle, Sinnstifter zu sein. Jedoch nicht, indem sie sich zur Identifikation anbieten, sondern als primäres Objekt der Liebe. Liebe aber bedeutet, formuliert Lacan aphoristisch (VIII: 52), etwas zu geben, was man nicht hat. Im Fall der Liebe zum idealisierten Kind geben die Eltern, die Pädagoginnen und Pädagogen die Vollständigkeit ihres Genießens. Sie versuchen mit ihrer Arbeit, den Kindern das absolute Genießen zu ermöglichen – ein Genießen, das für sie unerreichbar war, ein Genießen, das sie gar nicht haben. Jedoch begründen sie ihre Gabe mit dem absoluten Genießen des Gegenübers. Sie geben also nicht Nichts, keine Zeichen ihres Mangels etwa,40 sondern Zeichen ihres Glaubens an die Möglichkeit eines vollständigen Genießens. Jede Gabe, jede echte pädagogische Handlung hat deshalb eine metaphorische Struktur, wie sie im zweiten Kapitel beschrieben wurde: Im Signifikanten, in jeder an das Kind gerichteten Botschaft, schwingt der verdrängte Herrensignifikant mit, denn jede Gabe ist ein Opfer der Vollständigkeit, jede Gabe beschädigt das absolute Genießen.

3.6 Schluss: Ein pädagogisches Selbstverhältnis Im zweiten Kapitel habe ich, auf der Suche nach einem psychoanalytischen Begriff der Liebe, Begehren und Liebe mithilfe der Diskurs-Matheme Lacans unterschieden. Dabei habe ich Liebe als eine Mutation des Begehrens beschrieben, die zentrale Charakteristika des Begehrens erbt, aber verwandelt. Die Diskursmatheme ermöglichten, Begehren und Liebe als aufeinander bezogene Diskurse zu begreifen, die jeweils eine bestimmte Subjektivität sowie einen bestimmten Adressaten implizieren. So konnte ich Begehren wie Liebe als das Verhältnis eines Subjekts zu seinem projektiven Gegenüber beschreiben, als eine soziale Beziehung. Da Lacan darauf besteht, dass es keine Metasprache gibt, keinen Punkt, von dem aus alle Perspektiven zugleich eingenommen werden können, nahm die Beschreibung dieser sozialen Beziehung jedoch immer die Perspektive eines Subjekts ein. Der Diskurs, der eine Beziehung beschrieb, beinhaltete so auch eine Darstellung eines Selbstverhältnisses, das in das Verhältnis zum Gegenüber hinein spiegelte. Im Verlauf des letzten Kapitels habe ich die zwei dazu verwendeten Diskursmatheme hingegen zunächst in dem Kontext analysiert, den Lacan für sie primär wählte, nämlich als Gegenwartsdiagnose. Der Diskurs des Herren formalisierte so eine vergangene 40

Oder nur insofern, als dass dieser Mangel als ein gewählter, also verschließbarer erscheint. Im Zusammenhang mit dem Diskurs des Analytikers werde ich diese Formulierung präzisieren (vgl. 5. Kapitel).

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

Ordnung, die sich auf eine letzte abwesende Ursache beziehen konnte, in der jedes einzelne Element begründet war. Dieser Ordnung rechnet Lacan den Ödipus zu, einen Traum von Freud (XVII: 116), der als Sehnsuchtsfigur des Gegenwärtigen erscheint. Die Gegenwart beschreibt Lacan mit dem Diskurs der Universität als eine Gesellschaft, die nicht durch das Verbot hergestellt ist, sondern das Verbot zu überwunden haben glaubt, jedoch dieses durch einen weit tyrannischeren Imperativ zu Genießen ersetzt hat. Dabei lässt er im Unklaren, ob die alte Ordnung nicht immer schon eine Phantasie des Postödipalen ist, das gerade in der Überwindung des Verbots das Genießen vermutet. Die Lacan’schen Diskurse habe ich dreifach interpretiert, nämlich jeweils als gesellschaftliche Ordnung, als soziale Beziehung und als Selbstverhältnis. Diese dreifache Interpretation möchte ich hier noch einmal zusammenfassen. Ausgegangen bin ich mit Lacan von einer aus der Theorie des Signifikanten abgeleiteten Struktur, die auf einen primären Signifikanten, den Herrensignifikanten, zentriert ist, den Diskurs des Herren (vgl. Graphik zu Beginn des Kapitels). Dieser Diskurs ließ sich als ein gesellschaftliches Verhältnis deuten, das auf einen entzogenen letzten Grund bezogen ist. Dieses Verhältnis entspricht einer (möglicherweise phantasmatischen) vormodernen Gesellschaft, die eine göttliche Ordnung kennt, in der jedes einzelne Element seinen Sinn findet. Lacan interpretiert diese göttliche Ordnung als eine Struktur, die durch die Identifizierung mit dem zentralen Herrensignifikanten entsteht, der alle anderen Signifikanten zu begründen vermag, und bezieht sich dabei auf Hegels Herr-Knecht-Dialektik. In einer patriarchalen, hierarchisch organisierten Gesellschaft ist jeder (männliche) einzelne Knecht eines anderen, zugleich aber selbst Herr über andere: zumindest durch die Identifikation, die der Herr anbietet, nimmt er an dem Genießen teil, das dem Herren unterstellt wird. Zentrale Figur für diese Struktur ist der Urvater als abwesende letzte Instanz, die die lange Kette der Identifizierungen ermöglicht. Der Diskurs des Herren entspricht der sozialen Beziehung, die das Begehren etabliert: Das auf dem Phantasma eines kontrollierbaren Genießens basierende Begehren eignet sich seine Objekte an und macht diese zur passiven Ressource seines Genießens. Dabei entgeht ihm jedoch etwas am Objekt, es entsteht ein Element, das bei Lacan zugleich als Überschuss und Verlust auftritt: Das Objekt a steht im Begehren für das, was der Begehrende verfehlt, nämlich sowohl das absolute Genießen, das schließlich immer anderswo vermutet werden muss, als auch das Reale des Objekts, dessen Subjektivität und Genießen. Dieses Objekt a ist Ursache des Begehrens, weil es dafür sorgt, dass das Begehren eine endlose metonymische Kette bleibt. Schließlich beschreibt der Diskurs des Herren ein ödipales Selbstverhältnis: Das ödipale Subjekt ist Herr und Knecht zugleich. Es ist ideale verbietende Instanz und Unterworfenes, das durch Identifizierung am Glanz des Herren teilhat. Das Subjekt ist also Herr, aber nicht mit dem Herren identisch. Es gibt etwas in ihm, was über die Identifikation mit dem Herren hinausgeht, möglicherwei-

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se Widerstand leistet, eigenen Logiken folgt und das Genießen der Herreninstanz erst ermöglicht. Dieses Selbstverhältnis entspricht dem Instanzenmodell Freuds: Das Subjekt des Begehrens ist strukturiert durch ein verbietendes Über-Ich, das einem abgewerteten Es gegenübersteht. Durch die Identifikation mit der Instanz, von der das Verbot kommt, – man könnte diese Bewegung mit dem Ich identifizieren – entsteht eine Möglichkeit der Vermittlung: Das Verbot markiert, wo das Genießen zu finden ist. Durch die Identifikation mit der Instanz von der das Verbot kommt, wird ein vermittelter Zugang zu diesem Genießen geschaffen. Aus dem Diskurs des Herren abgeleitet ist der Diskurs der Universität (vgl. Graphik zum Beginn des Kapitels). Zentrales Merkmal dieses Diskurses ist die Abwesenheit des Herrensignifikanten, die Lacan jedoch als Verdrängung analysiert. Dieser Diskurs stellt den Versuch einer Formalisierung der Moderne dar, die sich nach Lacan dadurch auszeichnet, dass es keine Instanz mehr gibt, die sich dazu bekennt, den Herrensignifikanten zu verkörpern. Eine Folge dieser Abwesenheit einer traditionellen, patriarchal-verbietenden Autorität sieht Lacan in dem Exzess, der durch den Imperativ zu genießen entfesselt wird. Ich habe jedoch herausgearbeitet, dass dieser Exzess nicht ein Mehr an Genießen impliziert, sondern im Verzicht, im Opfer-Exzess kulminiert: Das partielle Genießen wird geopfert, um das Phantasma eines vollständigen Genießens zu erhalten. Dabei spielt der Schmerz eine besondere Rolle, denn dieser ist Indikator des Negativen, er beweist das Opfer und verspricht so, das absolute Genießen zu erzwingen. Dieses Verhältnis zum Genießen entspricht der sozialen Beziehung der Liebe, wie ich sie im zweiten Kapitel beschrieben habe, in der sich das liebende Subjekt einem idealisierten Gegenüber unterwirft, ihm sein Selbst opfert, um jedoch in ihm das Phantasma eines absoluten Genießens aufrecht zu erhalten. Zuletzt beschreibt auch der Diskurs der Universität ein Selbstverhältnis, nämlich die Unterwerfung des Subjekts unter ein idealisiertes Lust-Ich, das dem Subjekt nicht als fremde Anforderung entgegen tritt, sondern als eigenes Streben nach Glück. Zwischen Liebe und Moderne existiert also eine strukturelle Verbindung, so wie sie zwischen Begehren und Vormoderne besteht: Einem aristokratischen, »heroischen« Begehren steht eine »bürgerliche« Liebe gegenüber (vgl. MacCannell 1991: 21). Dabei ist die moderne Liebe eine Antwort auf eine Sackgasse des feudalen Begehrens: Lacan behauptet, dass die Liebe an einem Punkt entsteht, an dem etwas »durchaus nicht mehr gehen konnte« (XX: 93). Dieses Scheitern des Begehrens lässt sich in zwei Punkten vermuten: Zum einen setzt das Begehren Objekte voraus, die passive Ressource des Genießens und ohne eigenes Begehren sind, die »diffâmierten« (XX: 92) Frauen. Zum zweiten gründet das Begehren in einer funktionierenden Autorität, die sich in einem entzogenen Herrensignifikanten absichern kann. Die Vorstellung einer a-geschlechtlichen Seele und Infragestellung der Autorität durch den philosophischen Diskurs lassen beide Voraussetzungen prekär werden. Auf diesen Punkt werde ich im folgenden Kapitel in Zusammenhang mit dem Dis-

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

kurs der Hysterika zurückkommen. Lacan jedoch bleibt hinsichtlich eines Übergangs von einer alten zu einer modernen Ordnung spekulativ.41 Den Diskurs der Universität und seinen Genieße-Imperativ untersuchend habe ich vorgeschlagen, dass dieser durch die Figur des (präödipalen) Kindes als Anderes ermöglicht wird, dem noch alle Möglichkeiten offen zu stehen scheinen. Denn das Genießen hat sich vom Verbot gelöst, das es einst ermöglichte, und seine Unmöglichkeit so verschoben. Wenn das Verbot als Erklärung für das Scheitern im Genießen nicht länger zur Verfügung steht, lässt die Figur des unfertigen Kindes das absolute Genießen als ein noch nicht realisiertes erscheinen: Genießen ist im Medium des Kindes etwas, das bereits angelegt, jedoch noch nicht erreicht ist. Es ist ein zukünftiges vollständiges Genießen, für das es Opfer zu bringen gilt, das jedes partikulare Genießen entwertet. Das Kind, das die Annahme eines vollständigen Genießens erlaubt, hat somit den Urvater als Stütze des Phantasmas beerbt. Dabei führt das Kind als phantasmatische Figur zu einer anderen Struktur als sie der väterliche Herrensignifikant erzeugte: Statt die imaginäre Identifizierung zum Ausgangspunkt einer (so entschärften) Beziehung zum Anderen zu nehmen, regiert im Diskurs der Universität das Imaginäre das Verhältnis zum Gegenüber: Der oder die andere ist nur vorläufig anders, ein behebbarer Mangel. Die Liebe zum Kind ist, wenn das Kind als Figur den Urvater als Stütze des Phantasmas beerbt hat, nicht nur für die Pädagogik selbst relevant. Sie begründet dann nicht nur ein pädagogisches Verhältnis, sondern das Selbstverhältnis des postödipalen Subjekts. Die Suche nach einer »Antwort auf das Problem des modernen Subjekts« (Ricken 1999: 314) ist an die Pädagogik delegiert; die Frage nach dem Umgang mit dem Kind, mit der nachfolgenden Generation, ist jedoch ein gesellschaftliches Problem von hoher Tragweite, denn es geht bei ihr um die Beschaffenheit des sozialen Bandes. Lacan verhält sich zu dem Diskurs der Universität ungewöhnlich wertend: Er kritisiert die »schundhafte Mehrlust« (XVII: 86), die er impliziert; er spottet über die vermeintliche Überwindung des Herren durch demokratische Institutionen und weist darauf hin, dass die neue Form der Herrschaft weit effektiver arbeitet, die Herrschaft sich also nicht abgeschafft, sondern optimiert hat. Mit seiner Kritik geht jedoch keine Hoffnung auf Befreiung einher: Jede Revolution produziert nach Lacan neue Herren, jede Befreiung eine neue Unfreiheit. Gerade der Diskurs der Universität, der ein revolutionärer ist, weil er den

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Oliver Feltham weist auf die Leerstelle in der Theorie Lacans hin, die sich aus der Behauptung einer strukturellen Veränderung ergibt, wenn gleichzeitig kein Außerhalb der Diskurse angenommen wird, von dem eine Veränderung ausgehen könnte. Dem setzt er versuchsweise die Philosophie Badious entgegen, die die Unabgeschlossenheit der Diskurse selbst, die Bedeutung von aufrüttelnden Ereignissen im Realen, politischen Vereinnahmungen dieser Ereignisse sowie Subjekten der Veränderung betont (vgl. Feltham 2015).

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Herren scheinbar überwindet, ist effektiv in der Ausbeutung der Subjekte. Lacan nennt ihn deshalb einen »pervertierten Diskurs des Herren« (XVII: 195). Der Revolution setzt er die Psychoanalyse entgegen. Diese entspricht seinem Anliegen, das er den Studierenden in der Aufforderung zuruft, sich wieder zu »hegelisieren« (vgl. ebd.): Von der Psychoanalyse erwartet er nicht die Abschaffung, sondern die Produktion eines neuen Herrensignifikanten, der ein bisschen »weniger blöde« ist, ein bisschen »unvermögender« (XVII: 177). Weniger blöde ist also der Herrensignifikant, wenn er die Distanz zwischen Subjekt und Signifikant nicht auskleidet, wenn er keine Selbstidentität behauptet. Die »Hegelisierung«, auf die Lacan zielt, ist also ein Bemühen um Distanz. So endet er sein Seminar XVII mit dem Versuch sein Publikum zu »beschämen« (vgl. XVII: 205): Er führt die Scham ein als das Moment, das sich zwischen das Subjekt und das Reale stellt. Joan Copjec setzt diese Scham der modernen, von Badiou und Nietzsche diagnostizierten »passion for the Real« entgegen, dem obsessiven Wunsch, das Reale zu vereinnahmen, jede Schranke zu überwinden, jeden Schleier zu lüften (vgl. Copjec 2006: 111). Die Scham hingegen achtet die Distanz, die erst ermöglicht, dass sich das Reale zeigt. Lacans Bemühen, die Scham wieder herzustellen, ist also der Versuch, dem grenzenvernichtenden Exzess des Diskurses der Universität Einhalt zu gebieten. Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung des Diskurses des Herren, jedoch auch nicht um seine Überwindung: Ich bin verdammt kein Progressist, da das, was ich Ihnen erkläre, ist, daß man sich im Kreis dreht. Man dreht sich zwar im Kreis, aber man wechselt die Stufe. (XVII: 177.) Lacan stellt mit der Psychoanalyse also in Aussicht, einen neuen Herrensignifikanten zu produzieren, der zwar weiter in Herren- und Universitätsdiskursen wirksam sein wird, jedoch nicht sein Unvermögen leugnet. Diese politische Aussicht hat insbesondere Feministinnen wenig befriedigt. Mit dem Herrensignifikanten scheint zwar eine neutrale Formulierung gegeben zu sein, die verschiedene Füllungen zulässt. Ich habe jedoch im letzten Kapitel darauf hingewiesen, dass Lacan den Phallus an die Stelle des zentralen Signifikanten setzt: Er ist der einzige »Signifikant ohne Signifikat« und nimmt ganz selbstverständlich den Platz des Herrensignifikanten ein. Entsprechend wären sowohl Begehren als auch Liebe keine Verhältnisse eines universalen Subjekts, sondern hätten nur für ein männliches Subjekt Geltung. Das Weibliche ist nicht nur von der Subjektivierung durch den Herrensignifikanten ausgeschlossen, als seine Voraussetzung wird ihm jegliche Subjektivität abgesprochen. Denn entscheidende Voraussetzung des Phallus ist ein »Anderes Geschlecht«, das Lacan groß schreibt, weil es Beziehung zum großen Anderen hat. Der Phallus ist bei Lacan nicht einfach nur ein Signifikant, der als wahrnehmbarstes Zeichen sexueller Erregung das Begehren markiert. Er markiert die Differenz zum »Anderen Geschlecht«, zum Weiblichen, das er als

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

passive Genussressource voraussetzt: Der Vater, der den mütterlichen Körper verbietet, produziert das Phantasma, dass dieser Körper besessen werden kann, dass er ohne Verbot verfügbar wäre. Der Andere ist im patriarchalen Diskurs des Herren Quelle eines vollständigen Genießens, das zwar nie ganz erreicht wird, jedoch als verfügbar imaginiert wird. Voraussetzung des Diskurses des Herren und seiner Mutation, des Diskurses der Universität, ist also, wie ich im folgenden Kapitel weiter ausführen werde, das »Geschlechtsverhältnis«42 . Wenn sich mit »Verfall der väterlichen Funktion« die gesellschaftliche Integration durch den väterlichen Signifikanten im Postödipalen auflöst, so stellt sich die Frage, ob damit auch die ödipale, hierarchische Geschlechterordnung überwunden ist. Diese Frage kann durchaus unterschiedlich beantwortet werden. Während beispielsweise die Autorinnen der Libreria delle donne di Milano angesichts neuer Freiheiten für Frauen 1996 erklärten, dass das Patriarchat zu Ende sei, aber durchaus besorgt blieben, was dies für Frauen bedeutete (vgl. Libreria delle donne die Milano 1996), beharrt Tove Soiland darauf, dass »trotz Erodierung von überkommenen Vorstellungen von Geschlecht sich die Hierarchie zwischen den Geschlechtern hartnäckig hält« (Soiland 2014: 99) und spricht von »neopatriarchalen« Strukturen (ebd.). Die Geschlechtertheorie der Psychoanalyse könnte beantworten, warum trotz eines Bedeutungsverfalls des Vaters und seiner gesellschaftlichen Instanzen ein Element bestehen bleibt, das das Geschlechterverhältnis weiter trägt. Zunächst ist anzunehmen, dass die Ersetzung des Vaters durch das Kind nicht ohne Folgen für das Geschlechterverhältnis bleibt. Vater und Kind sind unterschiedliche Instanzen einer familiären Konstellation, die in das Beziehungsnetz völlig unterschiedlich eingebunden sind. Die strukturelle Differenz aus der Perspektive der Psychoanalyse besteht darin, dass das narzisstische Kind keine sexuelle Differenz kennt, während das Genießen des Vaters auf einer weiblichen verfügbaren Genusssubstanz basierte. Obwohl im Ödipalen bei der Einsetzung des Sexuellen das mütterliche Begehren verleugnet und diese als passive Ressource des Genießens erzeugt wurde, ist das Weibliche als Anderes und Voraussetzung des männlichen Genießens im Ödipalen noch sichtbar. Wenn aber das Kind den Platz des Vaters einnimmt, ist nicht nur das Begehren der Mutter verleugnet, diese nicht nur passiviert, sondern völlig eliminiert: Es wird unsichtbar, dass Genießen überhaupt eine Voraussetzung hat. Die Mutter, ihre Pflege und Liebe als Voraussetzung des Subjekts, verschwindet im Postödipalen vollständig; das Genießen scheint ohne Anderen auszukommen. Wenn das Kind den Herrensignifikanten verkörpert, löst sich darüber hinaus auch eine zweite Differenz auf – eine Differenz, die für das Ödipale zentral war: 42

Zum Begriff »Geschlechtsverhältnis« (statt Geschlechterverhältnis, sexuelle Differenz o.ä.) Kapitel 4.1. Wenn ich mich auf Lacans Sexuierungstheorem beziehe, verwende ich diesen Begriff.

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die generationale Differenz. Die Figur des Vaters stellte eine vertikale Beziehung zwischen Vätern und Söhnen her, eine unendliche patrilineare Verweisungskette zum mythischen Urvater, jenem entzogenen Grund, der die väterliche Position legitimierte. Neben der sexuellen Differenz – der Vater als Gegenstück zum mütterlichen Körper – stellte der Vater also auch die generationale Differenz her, indem er den Sohn auf seinen Platz als »Noch-Nicht« verwies, ihn aber gleichzeitig als Erben einsetzte, dem er den Zugang zum absoluten Objekt weitergab. Das ödipale Subjekt lebte in einer Vorläufigkeit, die es immer wieder auch überschritt: Es war zur gleichen Zeit loyaler Untertan und dem Vater verzichtend unterworfen, aber auch, in Momenten allmächtiger Verschmelzung mit dem Vater, an dessen unkastriertem Genießen beteiligt, an dessen absolutem Zugang zum Objekt. Die generationale Differenz stellte sich im Ödipalen also durch den Bezug auf ein Drittes her, auf das Weibliche als Genusssubstanz und Anderer. Das Kind als Verkörperung des Herrensignifikanten führt zu einer anderen Struktur: Der sich auf das Kind beziehende Erwachsene ist ein »Nicht-Mehr«, er hat das Genießen freiwillig zugunsten des Kindes hinter sich gelassen. Gleichzeitig identifiziert er sich mit dem Idealich, das dem Kind zugerechnet ist und Zugang zu jenem absoluten Genießen hat, dessen Grundlage er als Erwachsener selbst ist. Der Erwachsene ist gleichzeitig Kind – das Kind, das das konkrete Kind nie erreicht. Das postödipale Subjekt ist also auf eine andere Art gespalten als das ödipale: Der Konflikt des ödipalen Subjekts wurde ausgetragen zwischen dem genießenden Vater-Herr und dem unterworfenen Sohn-Knecht um das Genießen des mütterlichen Körpers. Das ödipale Subjekt ist also zugleich Herr und Knecht, Verbot und Übertretung, Vater und Sohn. Das postödipale Subjekt hat ebenfalls eine konflikthafte Struktur: Es ist vernünftiger Erwachsener und zugleich das dessen Arbeit genießende Kind, Opferndes und Anlass des Opfers, Bearbeitendes und Bearbeitetes. Anders als das ödipale Subjekt benötigt es jedoch für sein Genießen scheinbar keinen Anderen mehr, sein Genießen ist nicht länger auf eine weiblich assoziierte Genießen-Ressource angewiesen. Vielmehr ist Subjekt und Anderer im Diskurs der Universität zusammengefallen: In der »Ichokratie [Je-cratie]« (XVII: 70) verbirgt sich die Herrschaft des idealen Ichs unter dem scheinbar neutralen Wissen. Das Idealich als Subjekt des Genießens und die Substanz seines Genießens haben sich durch die Figur des Kindes verbunden. Als Verkörperung des Herrensignifikanten lässt das Kind deshalb den Anderen und das Subjekt zusammenfallen: Der Erwachsene ist Anderer für das Kind, indem er für es sorgt usw., gleichzeitig ist er mit dessen wahren Kern identifiziert und genießt die Früchte seiner eigenen Arbeit, wie es das real existierende Kind-Gegenüber nie genießen könnte. Das postödipale Subjekt opfert sich scheinbar dem anderen, es verzichtet zu seinen Gunsten, in Wahrheit dient sein Verzicht

3. Eine postödipale Ordnung und die Liebe zum Kind

jedoch dem vom Kind geliehenen Idealich, das seine eigene Wahrheit bildet und wenig mit dem tatsächlichen Kind zu tun hat.43 Obwohl das Kind scheinbar ohne Generationalität nicht existieren kann – das Kind ist nur in Abgrenzung zum Erwachsenen als solches zu erkennen –, verschwindet mit der Figur des idealisierten Kindes als Sinnstifter nicht nur die sexuelle Differenz, die für das ödipale Subjekt die Trennung von Subjekt und Anderem ermöglichte, sondern auch die generationale Differenz. Die Diagnose einer Erschütterung der Generationalität in den letzten Jahrzehnten ist fast zum Gemeinplatz geworden und eine Fülle von Literatur beschäftigt sich mit der Frage, wie sich das Verhältnis der Generationen insbesondere in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Dabei reichen die Diagnosen von der Annahme, dass man keine Kindheit mehr hat,44 bis zu der gegenteiligen Behauptung, dass man nicht mehr erwachsen wird.45 Dass die Generationengrenzen erodieren, Erwachsene ihre Kindheit unendlich verlängern wollen oder Kinder in die Rationalität der Erwachsenenwelt einbezogen werden, lässt sich als eine Konsequenz der endgültigen Ablösung des Vaters als Verkörperung des Herrensignifikanten durch das Kind erklären. Denn obwohl sich die pädagogische Beziehung als eine vertikale ausgibt, sorgt sie mit ihrer Identifikation mit dem kindlichen Idealich für eine Verflachung sozialer Beziehungen: Wie bereits gezeigt, richtet sich die Aggression der postödipalen Subjekte gegen die alten Autoritäten; ihre (vermeintlichen) Vertreter werden, wo es sie noch gibt, problematisiert und demontiert. Doch die scheinbare Gleichberechtigung, die durch die Abwesenheit einer symbolischen Autorität, die Abwesenheit einer vertikalen Dimension des Sozialen entsteht, entpuppt sich als Behauptung, gleich zu sein.

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Entsprechend gehen verschiedene Analytikerinnen und Analytiker davon aus, dass sich zeittypische Pathologien verschoben haben. Wichtigster Vertreter dieses Arguments ist Alain Ehrenberg, der diagnostiziert, dass die Neurosen, Zwangsstörungen und Phobien in den letzten Jahrzehnten der Depression – der Kränkung des narzisstischen Ichs – gewichen sind (vgl. Ehrenberg 2013). Neil Postmans an Marshall McLuhan anknüpfende These ist, dass sich eine Kindheit, die durch das Medium der Schrift von der Erwachsenenwelt abgetrennt wurde, auflöst durch die Entstehung von visuellen und akustischen Kommunikationsmedien wie Fernsehen und Radio, die Nicht-Leser nicht ausschließen (vgl. Postman 1983). Heinz Hengst spricht von einer Liquidierung von Kindheit und diagnostiziert, dass die »Kinderghettos […] sich immer weniger von anderen gesellschaftlichen Bereichen unterscheiden.« (Hengst 1981: 31f.) Beispielsweise geht Susan Neiman davon aus, dass Erwachsenwerden so wenig selbstverständlich ist, dass man dazu philosophisch ermutigen muss (vgl. Neiman 2015). Der Analytiker Holger Salge verweist auf verschiedene empirische Untersuchungen, wenn er feststellt, dass junge Erwachsene immer weniger auf eine stabile, erarbeitete Identität im Sinne Eriksons zurückgreifen können. Sie bewältigen den krisenhaften Übergang zum Erwachsenenalter immer seltener (Salge 2013: 23).

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Eine Behauptung, die dem ungleichen Zugang zum Wissen und anderen Ressourcen völlig entgegensteht. Das postödipale Subjekt ist in dieser Hinsicht wie das fiktive Kind, das die Voraussetzungen seines Genießens nicht kennt und sich selbst für dessen Urheber hält. Nicht ohne Grund findet Todd Andersons Selbstgeburt in Der Club der toten Dichter in einer Sphäre statt, die alles Weibliche ausschließt: Das postödipale Subjekt fühlt sich als Erzeuger seiner selbst. Die postödipale Welt, die sich ein idealisiertes Bild vom Kind zum Vorbild genommen hat, hat ihre Voraussetzungen verleugnet. Diese Verleugnung ist zum Teil ein Erbe des Ödipus: Bereits das ödipale Subjekt stellte den Herrensignifikanten zwischen sich und »das Ding«, das so zum willenlosen Objekt des Genießens wurde. Für das ödipale Subjekt musste so die Frage, »was das Weib will«, in hohem Maße erschütternd sein und auf die Grenzen seiner Ordnung hinweisen. Wenn nun das postödipale Genießen völlig ohne Anderen auszukommen scheint, so stellt sich die Frage nach dem Geschlecht mit noch größerer Dringlichkeit. So formuliert Lacan: Wie auch immer, jedenfalls gibt es eine Ebene, auf der das nicht in Ordnung kommt, und zwar auf der Ebene derer, die die Wirkungen der Sprache produziert haben, denn kein Kind wird geboren, ohne mit diesem Verkehr zu tun gehabt zu haben durch die Vermittlung seiner liebenswerten sogenannten Erzeuger, die in dem ganzen Problem des Diskurses steckten, und auch hinter ihnen stand die vorhergehende Generation. Und auf genau der Ebene hätte man wirklich fragen müssen. (XVII: 191.) Deshalb werde ich im folgenden Kapitel nach den verschütteten Voraussetzungen des Genießens fragen und damit das Weibliche als Genusssubstanz des ödipalen Subjekts untersuchen.

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

Im Zentrum von Lacans Theorie des Subjekts sowie des sozialen Bandes steht der Herrensignifikant. Dieser setzt das Begehren ein, aus dem sich die Liebe ableitet, ist also in den Beziehungen des Subjekts zu seinen Objekten bedeutsam. Er sorgt für die Verknüpfung von Symbolischem, Imaginären und Realem, indem er ermöglicht, dass die sonst haltlos über dem Signifikat gleitenden Signifikanten bedeuten können. Der Herrensignifikant ist der Signifikant, der ohne Signifikat bleibt, so für die Gesamtheit der Signifikanten stehen kann und ihnen damit eine stimmige Ordnung ermöglicht. Dabei vernäht der Herrensignifikant nicht nur Signifikant und Signifikat, sondern auch Subjekt und Gesellschaft: So ist er im Ödipalen die Markierung, in der sich das Subjekt mit seinem Ideal identifiziert, das immer ein gesellschaftliches ist. Nun ist der Herrensignifikant jedoch nicht irgendein Signifikant, sondern steht in Lacans Analysen im Zusammenhang mit dem Phallus. Weil der Phallus eine privilegierte Beziehung zum männlichen Geschlecht hat, ist der Herrensignifikant alles andere als universal, obwohl es ihn gerade ausmacht, Universalität zu behaupten. Die Lacan’sche Subjekttheorie geht, so lange sie ödipal argumentiert, mehr oder weniger explizit von einem männlichen Subjekt aus. Zugleich wird ganz selbstverständlich die Voraussetzung dieses Subjekts mit dem Weiblichen assoziiert: Das phantasmatische Genießen, das der Herrensignifikant verspricht, bedarf eines verfügbaren Objektes als Genusssubstanz, als passive Ressource, die dem Subjekt äußerlich ist. Das männliche Subjekt ist also – und dieser Umstand wird mich im folgenden Kapitel beschäftigen – auf ein Anderes Geschlecht angewiesen. Lacan schreibt dieses Andere Geschlecht mit einem großen A, um darauf hinzuweisen, dass das andere Geschlecht, das weibliche, eine Beziehung hat zum Anderen, zur personifizierten Struktur oder zum Schatz der Signifikanten.1 Man könnte also vermuten, dass sich die Liebe, die ihre Beziehung zum Herrensignifikanten-Phallus verdrängt, auf andere Kontexte – und damit auch auf das Kind – übertragen lässt, das ihr zugrundeliegende Begehren 1

Dabei ist das Andere Geschlecht immer das andere des einen, des männlichen Geschlechts. Ein – der einzige Zug, S1 , der eine Signifikant – und Anderes sind damit zentrale Begriffe der Lacan’schen Geschlechtertheorie (vgl. Seminar XX, insbesondere die Sitzung vom 16. Januar 1973).

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jedoch an den Kontext des Geschlechtsverhältnis gebunden bleibt. Um jedoch die Liebe besser zu verstehen, ist es notwendig ihre Wurzeln im Geschlechtsverhältnis zu untersuchen und das Weibliche als verdrängte Voraussetzung des männlichen Subjekts genauer in den Blick zu nehmen. Lacan greift in seiner sprachtheoretischen Geschlechtertheorie auf eine Asymmetrie zurück, die er bereits in Freuds Geschlechtertheorie vorfindet. Dieser versteht die Libido universal, eingeschlechtlich und männlich, das primäre Sexualobjekt hingegen weiblich: Wir sagen, der Mensch habe ursprünglich zwei Sexualobjekte: sich selbst und das pflegende Weib. (Zur Einführung in den Narzissmus, GW 10: 154.) Entsprechend bleibt es seiner Theorie rätselhaft, was das Weib will – muss doch seine ursprünglich männliche Libido erst zum weiblichen Sexuellen deformiert, also passiv werden und vom ursprünglich mütterlichen (weiblichen) Objekt ablassen. Das weibliche Sexuelle hat in der psychoanalytischen Beschreibung die Tendenz, gegenüber dem männlichen als minderwertig zu erscheinen: Es erscheint passiv und verkümmert. Doch nicht nur bezüglich des Sexuellen im engen Sinn wird das Weibliche bei Freud abgewertet: Da in der ödipalen Konstellation dem Vater die Rolle zukam, Vorlage für das Über-Ich und damit für die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zu sein, nimmt Freud an, dass Frauen nie ganz gesellschaftliche Wesen werden können, da ihnen die Identifikation mit dem kulturalisierenden Vater nicht gelingt. Entsprechend geht er davon aus, dass Frauen weniger zur Sublimierung in der Lage sind, und behauptet, dass »Flechten und Weben« die einzigen Kulturtechniken sind, die die Menschheit den Frauen zu verdanken habe (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW 15: 142). Jedoch sind Freuds Ausführungen zur Weiblichkeit stets mit vielen Fragezeichen versehen: Das Weibliche und sein Genießen bleiben für Freud letztlich ein Rätsel.2 Freuds Auseinandersetzung mit der Weiblichkeit steht im Kontext der Frauenbewegung; er formuliert seine Frage, was das Weib will, gerade zu einer Zeit, in der Frauen auf die Straße gehen und ganz deutlich äußern, was sie wollen. Dass Freud gerade zu dieser Zeit das weibliche Begehren zum Rätsel erklärt, erscheint 2

Innerhalb der psychoanalytischen Debatte haben diese Thesen heftigen Widerspruch hervorgerufen. Beispielsweise ist Freuds Vorstellung einer Genese des Penisneides als Reaktion auf eine anatomische Benachteiligung jenseits einer sozialen Benachteiligung des Mädchens bereits in den 1920ern von Karen Horney kritisiert worden. Teilweise hat Freud diese Kritik in seine späteren Schriften integriert, teilweise jedoch schweigend übergangen (vgl. Fliegel 1992). Dabei zeigt sich, dass die Theoretisierung des Weiblichen nicht nur selbst ein unabgeschlossenes Projekt, sondern Anlass dafür ist, andere psychoanalytischen Konzepte zu hinterfragen und zu überarbeiten. Einen Überblick über Freuds Theorie der weiblichen Sexualität, die Positionen ihrer psychoanalytischen Fürsprecherinnen und Kritikerinnen geben Chasseguet-Smirgel (1974) und Mitscherlich/Rohde-Dachser (1996).

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

paradox. Jedoch ist es diese Betonung der Unverständlichkeit des weiblichen Begehren in einem patriarchalen Rahmen, die die Psychoanalyse für eine feministische Theorie interessant macht, denn sie weist darauf hin, dass die Forderungen der Frauenbewegung in Paradoxien gefangen sind: Der Paradoxie, sich in ihren politischen Forderungen auf eine Vorstellung allgemeiner Humanität und Gleichheit zu beziehen, die jedoch gerade auf dem Ausschluss der Frauen basiert. Dass Freud nach dem Begehren der Frau fragt, gibt dieser Frage Raum, beantwortet sie nicht vorschnell, statt sich mit der Gleichheitsforderung zufrieden zu geben, sondern insistiert auf das, was über die Forderungen, die in einem patriarchalen Rahmen formulierbar sind, hinausgeht.3 Ähnlich verhält es sich mit Lacans bekannter Aussage, dass die Frau nicht existiert: Zur Zeit des Seminars »Encore«, in dem Lacan diesen Aphorismus ausführt, befindet sich die zweite Frauenbewegung in ihrer Hochphase: Frauen beanspruchen Raum im gesellschaftlichen und akademischen Diskurs, sind alles andere als unsichtbar und stellen ihre Existenz unter Beweis. Dennoch behauptet Lacan die geschlechterpolitische Relevanz der Psychoanalyse und besteht darauf, dass sie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Geschlechterverhältnis leisten kann. Er bezeichnet Freud als »gelehrigen Schüler der Hysterikerin« (Lacan 1988: 66) und geht davon aus, dass die Psychoanalyse vor allem von den leidenden Frauen gelernt hat. Diese Aussage trifft auch auf seine eigene Theorie zu: Nicht zuletzt seiner Auseinandersetzung mit feministischen Kritikerinnen, mit seinen Analysandinnen und Seminarteilnehmerinnen verdankt er seine zentralen Thesen. Gerade indem er die Nicht-Existenz der Frau formuliert, kann Lacan auf zwei Aspekte hinweisen, die im zeitgenössischen Feminismus unterzugehen drohen: Zum ersten beschreibt er ein weibliches Genießen, das im Dienste der ödipalen Struktur steht, von ihr profitiert und sie aufrechterhält. Wie ich im Folgenden zeigen werde, baut in Lacans Verständnis auch die patriarchale Herrschaft wie das Verhältnis von Herr und Knecht auf einer genießenden Zustimmung der Unterdrückten auf, die durch ihre Unterwerfung einen Konflikt vermeiden. Zum anderen versucht Lacan ein Genießen zu fassen und diesem theoretischen Raum zu geben, das über den ödipalen Rahmen hinausgeht und die Kraft hat, ihn zu sprengen. Dieses weibliche Genießen »jenseits des Phallus« droht dort, wo feministische Gleichheitsforderungen auf die Integration von Frauen ins männliche Symbolische zielen, unterzugehen. Es ist ein Genießen, das sich nicht an einem Ideal orientiert und sich deshalb einer univer-

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In der feministischen Theorie ist der Beitrag der Psychoanalyse heftig umstritten. Die sehr vielfältige feministische Rezeption der Psychoanalyse kann hier nicht wiedergegeben werden; einen kurzen Überblick bietet beispielsweise Rendtorff 2008.

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salistischen Logik entzieht. Die Theoretisierung eines derartigen Genießens macht Lacan für feministische Theoretikerinnen interessant.4 Die Ambivalenz Lacans für Feministinnen beschreibt Jane Gallop als ein Schillern seiner Rollen: Lacan verkörpere sowohl den Herrensignifikanten und damit die patriarchale Autorität, als auch den Überschuss, den Perversen, der ein Genießen jenseits des Gesetzes sucht. Letztere Anteile Lacans nennt Gallop »phallo-eccentric. Or, in more pointed language, he is a prick« (Gallop 1984: 36). Ein »prick«, ein Schwanz, ist Lacan, weil er den Phallus, der nur wirken kann, so lange er verhüllt ist, ausstellt und angreifbar macht. Gerade deshalb sei Lacan für Feministinnen verführerisch, stellt Elisabeth Grosz fest, jedoch sei die Gefahr, letztlich zum ödipalen Patriarchalen verführt zu werden und die Lacan’sche Ambivalenz zu negieren. Diese Position schreibt sie Mitchell und Kristeva zu: Each actively affirms, not the excessive, self-deconstructive, jouissant Lacan, Lacan the »floozie« as Gallop calls him (42), but Lacan the Lawgiver (Grosz 2004: 184). Verführt durch das Lacan’sche Versprechen eines Jenseits des Phallus wird von manchen Feministinnen schließlich doch der Phallus affirmiert, der sich im Lacan’schen Werk nicht von seinem Jenseits trennen kann. Jedoch gibt es einen anderen Umgang mit Lacan als den, den Grosz den der pflichtbewussten Tochter nennt. In Irigarays Schriften sieht Grosz etwas am Werk, das sie als eine selbstbewusste Antwort auf die Verführung des ambivalenten Lacans sieht: Nämlich auf das Spiel der Verführung verführend zu antworten und damit die Bedeutung des Zusammenspiels in der Verführung wahrzunehmen. Entsprechend lässt sich Lacans Auseinandersetzung mit der Weiblichkeit nicht nur als das Spiel eines Verführers lesen, sondern als das eines Verführten. Wenn Lacan sein Seminar XX einer Theorie des Weiblichen widmet, reagiert er auf feministische Kritik, die sich zu Recht an der Charakterisierung des Weiblichen als minderwertig gegenüber dem Männlichen stieß. Gerade in Seminar XX gibt er sich als Verführter zu erkennen; ein zentraler Satz des Seminars ist die Formel: »Ich glaube an das Genießen der Frau« (XX: 83). Das weibliche Genießen ist Gegenstand des Glaubens und ist somit etwas, das nicht auf direktem Weg erfahren werden kann. Lacan nimmt also einen anderen Weg als Freud und betont die Abhängigkeit des männlichen Subjekts von der Weiblichkeit: Ins Zentrum seiner Relektüre der Freud’schen Theorie stellt er einen Begriff des Weiblichen, das in einem privilegiertem Verhältnis zum Symbolischen steht. Dieses Weibliche ist

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Elisabeth Grosz fasst die feministische Auseinandersetzung mit Lacan folgendermaßen zusammen: »Many feminists use his work on human subjectivity to challenge phallocentric knowledges; others are extremely hostile to it, seeing it as elitist, male-dominated, and itself phallocentric.« (Grosz 2004: 150).

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

verführerisch: Es ist ein uneingelöstes Versprechen, dem man Glauben schenken, über das man jedoch nicht verfügen kann. So bleiben Lacans Aussagen über das Weibliche Versuche einer Annäherung, die immer in ihrer Vorläufigkeit gelesen werden sollten. Ich werde sie als Bekenntnisse eines Verführten lesen, der erkunden möchte, ohne zu vereinnahmen. Im folgenden Kapitel werde ich zunächst die Geschlechtertheorie Lacans rekapitulieren und Weiblichkeit und Männlichkeit als zwei unterschiedliche Verhältnisse zum Phallus und damit zum Scheitern des Symbolischen entwickeln. Weiblichkeit werde ich nicht nur als Voraussetzung des männlichen Subjekts und damit dessen Phantasma interpretieren, sondern als eigenes Verhältnis zum Symbolischen, das sich nicht mit dem Herrensignifikanten identifiziert. Dieses Verhältnis zum Symbolischen impliziert auch spezifisch weibliche Verhältnisse zu einem Gegenüber. In seinen Formeln der Sexuierung stellt Lacan zwei Beziehungen vor, die für Weiblichkeit zentral sind, nämlich den Bezug zum Phallus (S1 ), den ich als hysterische Beziehung zu einem Übervater interpretieren werde, zum anderen die Beziehung zu S(Ⱥ), die äußerst rätselhaft bleibt. Als ein Genießen jenseits des Phallus werde ich diese Beziehung auf die wenig rezipierte Konzeption des Triebes beziehen, die jedoch im Kontext des Geschlechterverhältnisses rätselhaft bleibt und einen Ausblick auf ein generationales Verhältnis ermöglicht.

4.1 Es gibt kein Geschlechtsverhältnis Lacans sprachtheoretische Neubestimmung des Freud’schen Unbewussten – das Unbewusste als Ort des Anderen – impliziert auch eine sprachtheoretische Reformulierung der psychoanalytischen Geschlechtertheorie. Diese Neubestimmung bildet keine Analogie zur de-essentialisierenden Bestimmung des Subjekts als Sprachwesen, sondern ist deren Bestandteil: Die Lacan’sche Psychoanalyse geht – in Anschluss an Freuds Thesen – davon aus, dass die Struktur des Unbewussten bereits sexuiert ist, also ein Geschlecht hat. Damit ist der Eintritt in die Sprache, der das Unbewusste einsetzt, auch verantwortlich für die Sexuierung. Geschlecht wird demnach nicht biologisch verstanden, sondern als ein Effekt der Sprache. Dabei muss die psychoanalytische Geschlechtertheorie jedoch klar von den aktuell sehr verbreiteten Geschlechtertheorien unterschieden werden, die Geschlecht ebenfalls als ein Produkt der Sprache oder genauer: als einen Effekt eines Diskurses verstehen. Obwohl beide theoretischen Ansätze Geschlecht in Zusammenhang mit Struktur denken, die sie jeweils unterschiedlich als Diskurs, Sprache oder Symbolisches fassen, ist ihre Vorstellung des Zusammenhangs von Struktur und sexuiertem Subjekt völlig unterschiedlich. Im diskurszentrierten Ansatz, für den prominent die Geschlechtertheorie Judith Butlers steht, gibt der Diskurs den Subjekten binär strukturierte Geschlechternormen vor, durch die sie

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sich erst als Subjekt hervorbringen können. Männlichkeit und Weiblichkeit sind in dieser Vorstellung polare Identitäten, die aus einem Komplex aus Eigenschaften, Körpervorstellungen, Haltungen etc. bestehen und als Ideal funktionieren, von dem abzuweichen sanktioniert wird.5 Aus der Perspektive der Lacan’schen Theorie sind Geschlechternormen, die zur Identifizierung auffordern, ständig neu verhandelte Identitäten, imaginäre Bilder, die nicht mit der Sexuierung als Stellung zum Symbolischen zu verwechseln sind. Während die Identifikation mit einer imaginären Identität eine Operation des Ichs ist, zeichnet die Sexuierung das Subjekt aus. Das Ich und das Subjekt sind jedoch nie deckungsgleich und so gelingt jede imaginäre Identifizierung nur temporär. »Nur dort, wo diskursive Praktiken scheitern – und ganz und gar nicht dort, wo es ihnen gelingt, Bedeutung hervorzubringen – kommt das Geschlecht zum Sein« (Copjec 2004: 236) formuliert Joan Copjec in ihrer Interpretation der Lacan’schen Theorie und unterscheidet mit dieser Formulierung Geschlecht von anderen »Differenzen«: Geschlecht ist weder Attribut, das zum Subjekt hinzutritt, noch Identität, die mehr oder weniger gelingen kann, sondern die Struktur, die das Subjekt ausmacht, die Form, die sein Begehren annimmt, deshalb lässt sich Geschlecht als ein spezifischer Umgang mit der Unmöglichkeit des absoluten Genießens verstehen. Aus der Perspektive einer feministischen Psychoanalyse, die an Lacan anschließt, begeht die Theorie eines diskursiv erzeugten Geschlechts einen zentralen Fehler, der politisch äußerst brisant ist: Sie denkt nämlich das, was in der Psychoanalyse die männliche Struktur ausmacht, die zwangsneurotische Identifikation mit einem Ideal, universal und begreift es als allgemeine Form geschlechtlicher Subjektivierung, die sowohl weibliche als auch männliche Subjekte als Ergebnisse einer Identifikation mit einer Norm hervorbringt. Verloren geht dabei das, was als Voraussetzung dieser Subjektivierungsweise aus dem Symbolischen ausgeschlossen ist: das Weibliche als anderes Geschlecht.6 Es ist das Verdienst der Psychoanalyse, Geschlecht nicht als Antwort, sondern als eine Frage zu denken. Wie auch später für Lacan ist es für Freud die Weiblichkeit, die als Abweichung von der universell gedachten psychischen Struktur bzw. dem Subjekt der psychoanalytischen Theorie Rätsel aufgibt und sie so nötigt, ihren allgemeinen Überlegungen über die menschliche Psyche eine Theorie der Geschlechtlichkeit hinzuzufügen. So ist die Frage nach dem Geschlecht ein wichtiger 5

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Vgl. beispielsweise Butler 1991 und 2001. Fundierte Auseinandersetzungen mit Butlers Position aus der Perspektive der strukturalen Psychoanalyse beispielsweise bei Soiland 2010, Copjec 2002/2004, 2004, Rendtorff 2008, Žižek 1999. Darüber hinaus ist eine Theorie, die davon ausgeht, dass die Identifikation mit einem normativen Ideal die einzige Möglichkeit ist, gesellschaftliches Subjekt zu werden, nicht in der Lage, eine postödipale Subjektivität zu fassen, die sich durch ihre Beziehung zu ihren Objekten herstellt. Auch dieser Umstand macht sie theoretisch fragwürdig, da sich die daraus folgende politische Strategie, Normen zu überwinden, in ein postödipales Projekt einfügt.

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

Anlass für die Theorieentwicklung der Psychoanalyse insgesamt.7 Trotz der intensiven Beschäftigung mit der Weiblichkeit im speziellen und der Geschlechtlichkeit allgemein, die einen großen Anteil seines Werks ausmacht, gesteht Freud ein, dass es sich bei seinen Überlegungen um unabgeschlossene handelt und das Rätsel der Weiblichkeit letztlich nicht gelöst ist. So schließt er in seiner Vorlesung über die Weiblichkeit aus dem Jahr 1933: Das ist alles, was ich Ihnen über die Weiblichkeit zu sagen hatte. Es ist gewiss unvollständig und fragmentarisch, klingt auch nicht immer freundlich. […] Wollen Sie mehr über die Weiblichkeit wissen, so befragen Sie Ihre eigenen Lebenserfahrungen, oder Sie wenden sich an die Dichter, oder Sie warten, bis die Wissenschaft Ihnen tiefere und besser zusammenhängende Auskünfte geben kann. (GW 15: 145.) Lacan wird später die hier deutliche Schwierigkeit Freuds, Weiblichkeit abschließend zu definieren und auf einen allgemeinen Begriff zu bringen, so dass er auf die partikularen Erfahrungen der Einzelnen und der Literatur verweisen muss, als Kern des Weiblichen interpretieren, nämlich als dessen Eigenschaft, kein Universales zu bilden. Für Freud bleibt Weiblichkeit ein Rätsel, das erst durch seine theoretischen Weichenstellungen als solches zugänglich wird: Zum ersten bekennt er sich zu der Notwendigkeit, Geschlecht nicht durch Biologie determiniert zu verstehen, sondern betrachtet es als Ergebnis eines zu untersuchenden Prozesses, in dem er der Biologie zwar Bedeutung zugesteht, den er aber vor allem durch den kulturellen Kontext geformt sieht. Diese Vorstellung eines geschlechtsdefinierenden Prozesses geht zweitens einher mit der Behauptung einer prinzipiellen Eingeschlechtlichkeit der Libido und damit des Materials, das zu Geschlechtlichkeit wird, sowie drittens der Annahme eines Primats des Phallus, das diese Entwicklung asymmetrisch gestaltet. Ausgangspunkt von Freuds Überlegungen ist die Verworrenheit der Begriffe männlich und weiblich: Es ist unerlässlich, sich klarzumachen, dass die Begriffe »männlich« und »weiblich«, deren Inhalt der gewöhnlichen Meinung so unzweideutig erscheint, in der Wissenschaft zu den verworrensten gehören und nach mindestens drei Richtungen zu zerlegen sind. Man gebraucht männlich und weiblich bald im Sinne von Aktivität und Passivität, bald im biologischen und dann auch im soziologischen Sinne. Die erste dieser drei ist die wesentliche und die in der Psychoanalyse zumeist verwertbare. (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, GW 5: 121, Fußnote.)

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Jacqueline Rose nennt die Auseinandersetzungen um die Weiblichkeit einen Motor für die theoretische Entwicklung Freuds eigener Theorien und der Psychoanalyse nach Freud insgesamt (vgl. Rose 1997).

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Die biologische Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit ist für Freud nicht relevant, unterliegt doch »das Verhältnis, nach dem sich Männliches und Weibliches im Einzelwesen vermengt, ganz erheblichen Schwankungen« (GW 15: 121). Er geht deshalb von einer originären Zweigeschlechtlichkeit oder Bisexualität aus, die sich erst im Verlaufe der Entwicklung vereindeutigt. Entsprechend ist es auch nicht im Interesse der Psychoanalyse, sich nur mit den Ergebnissen dieser Entwicklung, also Männlichkeit und Weiblichkeit im soziologischen Sinne, zu beschäftigen, sondern die Entwicklung selbst zu untersuchen: Der Eigenart der Psychoanalyse entspricht es dann, dass sie nicht beschreiben will, was das Weib ist – das wäre eine für sie kaum lösbare Aufgabe –, sondern untersucht, wie es wird, wie sich das Weib aus dem bisexuell veranlagten Kind entwickelt. (GW 15: 124.) Das rätselhafte Phänomen, dass Individuen empirisch vorwiegend eindeutig männlich oder weiblich, mehrheitlich heterosexuell organisiert sind und ihre Sexualpräferenz biographisch meist beibehalten, darf keinesfalls, darauf hinzuweisen wird er nicht müde, als Selbstverständlichkeit oder Naturgegebenheit betrachtet werden. Ausgehend von der Annahme einer biologischen Mehrdeutigkeit sucht Freud in seiner Theorie nach Erklärungen für die kulturelle Vereindeutigung von Geschlecht und Sexualität. Dabei geht er von einer Eingeschlechtlichkeit der Libido aus, einer Universalität von Sexualität, zu der die zwei empirischen Geschlechter im Laufe ihrer sexuellen Geschichte eine jeweils unterschiedliche Stellung einnehmen: Es gibt nur eine Libido, die im Dienst der männlichen wie der weiblichen Sexualfunktion gestellt wird. Wir können ihr selbst kein Geschlecht geben; wenn wir sie nach der konventionellen Gleichstellung von Aktivität und Männlichkeit selbst männlich heißen wollen, dürfen wir nicht vergessen, dass sie auch Strebungen mit passiven Regungen vertritt. Immerhin, die Zusammenstellung »weibliche Libido« lässt jede Rechtfertigung vermissen. (GW 15: 141.) Die zwei möglichen, im Ödipus entstehenden Geschlechter sind grundsätzlich unterschiedliche Arten, die Libido zu organisieren, die alle folgenden Identifizierungen maßgeblich prägen werden. Dabei gibt es eine Beziehung zur Biologie: Die Merkmale der Genitalien beeinflussen die Bildung der Geschlechtlichkeit, es besteht aber kein klares Ableitungsverhältnis, da die Genitalien eine viel größere Vielfalt zulassen würden. Die zwei Geschlechter zeigen sich schließlich in ihrem Verhältnis zum Penis, der bei Freud noch nicht eindeutig symbolischer Phallus und vom realen Organ unterschieden ist: »Gewachsener Fels«, der auch in einer Analyse nicht bearbeitbar ist, der zum Wesenskern erwachsener Männer und Frauen geworden ist, ist entweder die Kastrationsangst oder der Penisneid (vgl. Die endliche und die un-

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

endliche Analyse, GW 16: 99). Deshalb lässt sich Freuds Geschlechtertheorie auf einen Satz bringen: Männer halten sich im Besitz von etwas, um das sie fürchten müssen; Frauen halten andere im Besitz von etwas, das sie sich umgekehrt wünschen. Ein zentrales Element organisiert also Geschlechtlichkeit, jedoch in einem ambivalenten Verhältnis von An- und Abwesenheit: Der Mann muss um seinen Penis fürchten, imaginiert seine mögliche Abwesenheit in dessen Anwesenheit; die Frau imaginiert eine Anwesenheit angesichts einer Abwesenheit. Diese Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit des Penis in der psychoanalytischen Geschlechtertheorie macht es Lacan möglich, den Phallus als privilegierten Signifikanten zu interpretieren, als Herrensignifikanten und damit als den Signifikanten, dem er eine zentrale Rolle in der Sprachlichkeit des Subjekts zuschreibt. So beharrt Lacan wie Freud darauf, dass sich Geschlecht nicht aus dem Körper ableiten lässt, wählt aber entsprechend seiner Neubestimmung des Unbewussten einen anderen Zugang: Das geschlechtliche Sein […] geht nicht über den Körper, sondern über das, was resultiert aus einer logischen Forderung im Sprechen. (XX: 14.) Geschlecht ist also nicht nur ein Produkt der Sprache, sondern resultiert aus ihrer logischen Forderung, wie ich sie im zweiten Kapitel bereits beschrieben habe: Die Bedeutung eines Signifikanten ergibt sich nur rückwirkend aus seiner Differenz zur Gesamtheit aller anderen Signifikanten. Diese Gesamtheit ist jedoch eine konstitutive Unmöglichkeit; die Summe aller Signifikanten ist unabschließbar, so dass sich eigentlich keine stabile Bedeutung ergeben kann. In dieses Gleiten der Signifikanten interveniert S1 , der Herrensignifikant, der für die Gesamtheit aller Signifikanten steht und so eine Grenze bildet, die der unabschließbaren Signifikantenkette einen Halt gibt. S1 ist der Signifikant, der notwendig und gleichzeitig unmöglich ist: Eine konstitutive Illusion. Der Herrensignifikant ist jedoch ein bestimmter: der für die Geschlechterfrage entscheidende Phallus. Freuds Beobachtung eines Primats des Phallus interpretiert Lacan also zeichentheoretisch: Der Phallus als Symbol, dem das reale Organ Penis nie entspricht, auf das es jedoch verweist, nimmt im Symbolischen den Platz des ersten Signifikanten ein, der für den Sinn aller Signifikanten einsteht. Zu diesem Signifikanten nehmen die Geschlechter eine unterschiedliche Stellung ein. Dabei ist entscheidend, dass der Phallus als ein Symbol sich dadurch auszeichnet, dass er nicht besessen werden kann. In Seminar VI stellt Lacan das unterschiedliche Verhältnis der Geschlechter mit den folgenden grammatisch und logisch mehrdeutigen Sätzen dar: »Il n’est pas sans l’avoir« (er ist nicht ohne ihn zu haben) und »Elle est sans l’avoir« (sie ist ohne ihn zu haben) (VI: 11.02.1959, zitiert nach Braun 2007: 140). Mit diesen Formeln charakterisiert Lacan den Mann durch sein Besitzverhältnis zum Phallus, wobei der Besitz das Sein des Mannes ausmacht: Ohne Phallus ist er nicht. Wenn der Mann durch seinen Phallusbesitz zum Sein kommt, ist sein

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Sein in seinem Besitz bedroht. Denn was besessen wird, kann verloren werden. Zugleich vermeidet Lacan durch die doppelte Negation eine positive Bestimmung des Besitzverhältnisses und der Phallus kann etwas bleiben, das nicht besessen werden kann. Aufseiten der Frau steht dieser männlichen Kastrationsangst der weibliche Penisneid gegenüber: »Sie hat ihn nicht«, er fehlt ihr, sie will ihn haben. Jedoch scheint das Sein der Frau vom Phallusbesitz abgekoppelt: Sie ist auch ohne ihn, ist also nicht völlig von ihm bestimmt. Die positive Bestimmung »sie ist« lässt verschiedene Deutungen zu: Sie legt nahe, dass Lacan der Frau eine nicht entfremdete, unmittelbare Beziehung zum Sein unterstellt.8 Zugleich lässt sich diese Bestimmung auf den Phallus beziehen: Die Frau hat den Phallus nicht, denn sie ist Phallus für den Mann. Die Formulierung lässt sich jedoch auch so verstehen, dass dieses Phallus-Sein, anders als das Phallus-Haben des Mannes, möglich ist, was ein Grund dafür sein könnte, dass Lacan schließlich mit den »Formeln der Sexuierung« in Seminar XX ein treffendere Formulierung für die Geschlechtlichkeit findet. Doch schon in dieser frühen Form definiert Lacan die Geschlechter nicht komplementär, sondern auf ein Drittes, den Phallus, bezogen, zu dem sie ein jeweils anderes, widersprüchliches Verhältnis einnehmen, was Lacan zu der Formulierung veranlasst: »Es gibt kein Geschlechtsverhältnis« (XX: 39). Der Begriff Geschlechtsverhältnis beinhaltet nicht nur das Verhältnis der Geschlechter, sondern auch – der französische Ausdruck rapport sexuel ist da eindeutiger – den Geschlechtsverkehr.9 Lacan will vermutlich nicht darauf hinaus, dass es keinen Sex gibt – was empirisch nicht haltbar wäre. Vielmehr soll der Satz darauf hinweisen, dass es keine komplementäre Beziehung im Sexuellen gibt, dass sich die Geschlechter im Sexuellen zwangsläufig verfehlen. Oder wie Monique David-Ménard formuliert: Das Subjekt stößt »im Akt nicht auf das Objekt seines Begehrens, das der andere ihm zu verhehlen scheint.« (David-Ménard 1999: 147). Im Geschlechtsverhältnis, im Sex, gibt es kein Verhältnis. Die Beteiligten verfehlen einander. Sie können nicht jeweils ihr Gegenüber oder seinen Körper genießen, der sexuelle Genuss ist primär masturbatorisch. Jean Luc Nancy betont in seinem Essay zu Lacans Aphorismus, dass im Begriff Rapport auch die Bedeutung Bericht steckt: der Bericht als das, was sich mitteilt (vgl. Nancy 2012). Mit der Verneinung des Rapports bestehe Lacan auf die 8

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Monique David-Ménard nimmt an, dass diese Formulierung für Lacan unbefriedigend bleibt, weil auf weiblicher Seite mit ihrer Beziehung zum Sein ein naturalistische Beigeschmack bleibt, den sie in den weiter unten erläuterten Formeln der Sexuierung nicht mehr vorfindet (vgl. David-Ménard 1999: 142). Ich werde jedoch behaupten, dass die Formeln der Sexuierung diese Beziehung nur deutlicher herausarbeiten. Um diese Deutung des Begriffs einzufangen wird rapport sexuel zumeist mit Geschlechtsverhältnis und eben nicht mit Geschlechterverhältnis übersetzt. Es geht im Geschlechtsverhältnis nicht nur um das Verhältnis der Geschlechter, sondern um das Verhältnis zum Geschlecht, zum Geschlechtsteil, zum Phallus.

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Unmöglichkeit das Geschlechtsverhältnis sprachlich d.h. im Symbolischen zu fassen. Diese Unmöglichkeit hat Konsequenzen: Alles das, was geschrieben ist, geht aus von der Tatsache, dass es je unmöglich wird, zu schreiben als solches das geschlechtliche Verhältnis. Es ist von da, dass es einen gewissen Effekt des Diskurses gibt, der sich Schrift nennt. (XX: 39.) Das geschlechtliche Verhältnis lässt sich nicht in Worte fassen, es ist nicht greifbar mit den Mitteln des Symbolischen. Seine Abwesenheit ist jedoch Ursache des Symbolischen. Die Produktivität des Nicht-Verhältnisses im Sexuellen lässt sich mit dem im zweiten Kapitel bereits aufgegriffenen Schema mit den zwei Türen veranschaulichen (vgl. Sch I. 590): In Lacans anspielungsreichen Illustration des Signifikantenbegriffs stehen unter den Signifikanten Frauen und Männer nicht etwa Genitalien, die eine Geschlechterdifferenz illustrieren und nach einem komplementären Prinzip zusammenpassen. Genauso wenig tauchen hier zwei Körperbilder auf, die sich bis auf ihre Genitalien gleichen: Männer und Frauen sind weder komplementär, noch gehören sie zur gleichen Kategorie und unterscheiden sich nur in ihren Attributen. Stattdessen befinden sich unter den Signifikanten Frauen und Männer zwei geschlossene Türen, deren Sinn sich nur durch die Differenz der Signifikanten ergibt. Gerade weil das Geschlechtsverhältnis sich nicht schreiben lässt, produziert es das Geschriebene: Weil es unmöglich ist, das Verhältnis herzustellen, können die Versuche nicht aufhören, es zu realisieren. Das Paradox drängt nach Auflösung, ohne dass diese je gelingen könnte. Die Folge dieses Drängens ist die Schrift. Das Wort nécessaire – notwendig – zerlegt Lacan in ne cesser – nicht aufhören und verbindet damit die Notwendigkeit mit einer Unmöglichkeit: Das zessiert nicht, sich nicht zu schreiben dagegen, das ist das Unmögliche, so wie ich es definiere aus dem, daß es sich in keinem Fall schreiben kann, und dadurch bezeichne ich, was mit dem Geschlechtsverhältnis ist — das Geschlechtsverhältnis zessiert nicht, sich nicht zu schreiben. (XX: 102.) Das Geschlechtsverhältnis definiert Lacan als diese Verbindung von Notwenigkeit und Unmöglichkeit und formuliert, dass das Geschlechtsverhältnis »nicht einfach ex-sistent ist, sondern nezessär, daß sie nicht zessiert — wie ich das Nezessäre definiere — sich zu schreiben« (XX: 139).10 Das Geschlechtsverhältnis insistiert in seiner Unmöglichkeit. Das Insistieren der Unmöglichkeit produziert die Schrift, ist also Ursache davon, dass das Symbolische sich ins Reale einschreibt und es kolonisiert. Mit dieser Definition des Geschlechtsverhältnisses als produktives Scheitern vermeidet Lacan eine komplementäre Konzeption der Geschlechter: Es gilt

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Zum Begriff der Ex-sistenz bei Lacan im Kapitel 4.2.

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nicht das Schlüssel-Schloß-Prinzip, sondern Frauen und Männer verfehlen einander. Mann und Frau sind bei Lacan nicht zwei Hälften eines Kugelmenschen, die gemeinsam die verlorene Einheit wiederherstellen können. Weder lässt sich Männlichkeit aus Weiblichkeit, noch Weiblichkeit aus Männlichkeit ableiten. Sie stehen in einem Nicht-Verhältnis und gerade dieses Nicht-Verhältnis sorgt für die andauernden Versuche, das Verhältnis doch herzustellen. Dabei kommt die Sprache ins Spiel: Weil die Verschmelzung und völlige Selbstoffenbarung nicht möglich ist – die Phantasie einer solchen medienlosen Möglichkeit der Mitteilung wird in ScienceFiction-Literatur immer wieder formuliert – bedarf jeder Kontakt zum Gegenüber der Sprache. Durch die Sprache aber werden mögliche biologische Befriedigungen überformt, kolonisiert, mit Sinn aufgeladen: Das sexuelle Genießen ist keine organische Befriedigung, sondern ein Genießen, das nicht nur durch die Sprache entfremdet, sondern erst durch sie produziert ist. Während die organische Befriedigung endlich ist – der Hunger ist irgendwann gestillt –, ist das sexuelle Genießen unendlich – auch, weil es das Ende des Subjekts auf dem Weg des Genießens in Kauf nimmt. Lacan spricht in diesem Zusammenhang von einer »anderen Befriedigung«: Die andere Befriedigung, Sie sollen es hören, ist das, was sich befriedigt auf der Ebene des Unbewussten – und zwar insofern etwas sich dort sagt und nicht sich dort sagt, wenn es wahr ist, dass es strukturiert ist wie eine Sprache. (XX: 57.) Das Genießen ist eine Befriedigung, die sich im Unbewussten abspielt. Weil das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache, ist auch das Genießen im Unbewussten dem Sprechen nachgebildet: Es geschieht, indem sich dort etwas sagt oder nicht sagt. Damit ist das Genießen als ein Genießen, das sich an dem »anderen Schauplatz«, am Ort des Anderen vollzieht, ein Genießen des Anderen – zunächst in der Bedeutung, dass es der Andere ist, der genießt, aber auch in dem Sinne, dass das Subjekt im Gegenüber den Anderen genießt. Die sexuelle Befriedigung ist also immer eine Befriedigung, die aus der Sprache kommt: Sobald das menschliche Sein ein sprechendes ist, ist es aus und vorbei mit diesem harmonischen, vollkommenen Charakter der Kopulation, der sich übrigens nirgendwo in der Natur verorten läßt. (XVII: 42.) Die sprachlose Offenbarung der Science Fiction wäre a-sexuell, erst dadurch, dass diese scheitert, ist das sexuelle Genießen als Genießen des Anderen, der personifizierten Struktur, möglich. Um es noch einmal kurz zu sagen: Das Scheitern des Geschlechtsverhältnis ermöglicht das, was wir als sexuelles Genießen kennen, ein Genießen, das ein Genießen des Anderen ist. Damit steht zwischen Mann und Frau der Andere:

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Leute mit guten Absichten […] haben sich überrascht gefunden, das Echo zu hören, dass ich zwischen den Mann und die Frau einen gewissen Anderen stellte, der wohl so aussah, als wäre es der gute alte Gott von immerschon. (XX: 75.) Im Sexuellen gibt es eine dritte Instanz, die zur Vermittlung notwendig ist, und weder dem einen noch dem anderen vollständig entspricht. Jedoch ist das sexuelle Genießen dann nicht nur ein vermitteltes Genießen, das Genießen kommt von der Vermittlung selbst: vom Anderen. Wenn Lacan davon spricht, »dass wir gespielt werden vom Genießen« (XX: 78), dann verortet er das Genießen im Außerhalb des Subjekts. Für die Fragestellung dieses Kapitels ist nun entscheidend, dass die Geschlechter unterschiedliche Beziehung zu diesem Anderen haben: Dieser Andere, wenn’s nur einen gibt ganz allein, muss doch irgendwelches Verhältnis haben mit dem, was erscheint vom anderen Geschlecht. (XX: 76.) Dem anderen Geschlecht, dem Weiblichen, kommt in Bezug auf das Genießen des Sprachwesens eine besondere Rolle zu. Diese besondere Rolle des Weiblichen für den Anderen und damit für das Genießen des männlichen Subjekts gilt es im Folgenden näher zu untersuchen. Wenn das andere Geschlecht und dessen Genießen Voraussetzung des Genießens des männlichen Subjekts ist, ist dieses weibliche Genießen besonders interessant: Worin gründet es? Wie lässt es sich verstehen?

4.2 Die Formeln der Sexuierung: Hochstapelei und Maskerade Seine Theorie des Geschlechtsverhältnis fasst Lacan in der siebten Sitzung von Seminar XX11 in den »Formeln der Sexuierung« zusammen:12

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Bereits in Seminar XIX taucht die obere Hälfte der Graphik auf. Im Aufsatz »L’Étourdit« von 1973 führt Lacan die im Seminar XX entwickelten Formeln der Sexuierung noch etwas genauer aus. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Seminar XX, da dieses in deutscher Übersetzung vorliegt. Wie bei der Darstellung der vier Diskurse handelt es sich bei den Formeln der Sexuierung nicht um Formeln im eigentlichen Sinn, sondern um das, was Lacan »Matheme« nennt. Da der Begriff »Formeln der Sexuierung« mittlerweile üblich ist, werde ich bei dieser Bezeichnung bleiben.

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Abb. 12: Formeln der Sexuierung (XX: 95)

Der obere Teil der Graphik beschreibt die Struktur der jeweiligen Subjekte als Scheitern – links die männlichen, rechts die weiblichen – jeweils mithilfe zweier sich widersprechenden Aussagen. Diese bestehen jeweils aus einer Quantität (∀ als Allquantor und ∃ als Existenzquantor) und einer Qualität (Φ), die an unterschiedlichen Stellen (durch den Balken über dem Ausdruck) verneint werden können. Das Symbol Φ steht für die phallische Funktion (vgl. XX: 86). Die phallische Funktion definiert Lacan als die väterliche Funktion und damit das, was das Subjekt Subjekt werden lässt: Die symbolische Kastration als »Signifizierung der Abwesenheit des Phallus« (IV: 236). Das Symbol Φ steht für den symbolischen Phallus, der sich auch als Herrensignifikant verstehen lässt. Beide Geschlechter sind also über ihre Beziehung zur phallischen Funktion bzw. dem Herrensignifikanten definiert. Jedoch ist diese Definition paradox, da zwischen den Aussagen über Existenzquantor und Allquantor ein Widerspruch besteht. Lacan bringt damit also Geschlecht nicht nur in Zusammenhang mit der Antinomie der Sprache, mit der Unmöglichkeit und Notwendigkeit von S1 und wählt damit einen sprachtheoretischen Zugang, sondern begibt sich auf das Feld der Logik, indem er Männlichkeit und Weiblichkeit durch ihre Beziehung zu der Unmöglichkeit des Allgemeinen definiert. In Lacans Geschlechtertheorie verbinden sich demnach Sprachtheorie, Logik und Geschlecht. So leitet er nicht nur seine Theorie der Geschlechter konsequent aus seiner sprachtheoretischen Theorie des Unbewussten ab, sondern begründet vor allem seine Theorie des Symbolischen im Geschlechtsverhältnis. In den »Formeln der Sexuierung« ist das ödipale Subjekt, das ich im zweiten Kapitel beschrieben habe, auf der männlichen Seite links oben dargestellt. Diese Struktur lässt sich als Hochstapelei interpretieren, ein Begriff, den Lacan stets im

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Zusammenhang mit der Männlichkeit verwendet.13 Den Mann kann er deshalb als eine Behauptung verstehen, als eine Metapher: Insofern er »wirklich« männlich ist, ist der Mann stets mehr oder weniger seine eigene Metapher, von daher ein Schatten des Lächerlichen… (Zusammenfassung Seminar V, Pontialis 2009: 98.) In den Formeln der Sexuierung gibt Lacan der männlichen Hochstapelei einen logischen Ausdruck, indem er den Widerspruch der Hochstapelei zwischen Sein und Sollen in Formeln bringt. Im dem Viertel links oben in der Graphik, dem Teil, in dem Lacan die männliche Struktur formuliert, gibt es zwei widersprüchliche Aussagen: Die obere Formel (∃x φx) lässt sich übersetzen als »Es gibt ein x, das der phallischen Funktion nicht unterworfen ist«, die untere Formel (∀x Φx) »alle x sind der phallischen Funktion unterworfen«. Mit der unteren Formel bekräftigt Lacan das, was er an anderen Stellen schon betont hat: Männlich zu sein, bedeutet der phallischen Funktion vollständig unterworfen zu sein und das Genießen nur bezogen auf den Phallus zu organisieren. Wenn er den Mann definiert »quoad castrationem« (XX: 40), so bestätigt er ihn als das Subjekt, das sich der Sprache vollständig unterworfen hat. Mann zu sein bedeutet also, vollständig im Symbolischen zu sein und zum Signifikanten zu werden: »Der Mann, das ist nichts anderes als ein Signifikant« (XX: 37). In seiner Formel des Signifikanten steckt deshalb auch die Formel für die männliche Struktur: Mannsein d.h. Signifikant sein bedeutet, sich vom Signifikat, vom Außen der Sprache, vom Sein, als getrennt zu erleben und dieses verlorene Sein in Objekten zu suchen. Die Barre, die Signifikant vom Signifikat trennt, lässt sich verstehen als symbolische Kastration. Der Mann ist also das Sprachwesen, das nach dem Eintritt in die Sprache den unmittelbaren Zugang zum Sein verloren hat, das scheinbar universale, geschlechtslose Subjekt. Nun gibt es aber auch noch den oberen Teil der Formeln, der mit dem bisher ausgeführten im Widerspruch steht und der mit der Sexuierung des scheinbar geschlechtsneutralen Subjekts in Zusammenhang steht: ∃x φx ist übersetzbar mit: »Es gibt ein x, für das die phallische Funktion nicht gilt.« Dieser zweite Satz ist mit dem ersten Satz nicht zu vereinen, die beiden Sätze können nicht gleichzeitig wahr sein. Die untere Aussage formuliert eine allgemeine Regel, die obere den Einzelfall, der der allgemeinen Regel widerspricht und sie aussetzt. Lacans Interpretation dieses logischen Problems ist nun, dass der widersprechende Einzelfall die Regel nicht aussetzt, sondern einsetzt: Der Einzelfall ist die Ausnahme, die die Regel begründet.

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So zum Beispiel schon in Seminar X, wo er behauptet »dass es im Reich des Mannes stets das Vorhandensein einer gewissen Hochstapelei gibt« (X: 240). Die Hochstapelei entwickelt Lacan hier im Gegensatz zur weiblichen Maskerade, auf die später noch eingegangen wird.

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Wobei freilich die Funktion ihre Grenze findet in der Existenz eines x, durch das die Funktion Φx verneint ist, ∃x φx, Das eben ist es, was man die Funktion des Vaters nennt. […] Das Alle beruht hier also auf einer Ausnahme, die als Term gesetzt ist über das, was dieses Φx, es integral verneint (Lacan XX: 86) Der Einzelfall bildet für das Alle eine Grenze und sichert so dessen Ordnung ab, macht sie stabil und konsistent. Bei diesem Einzelfall handelt es sich, wie unschwer zu erkennen ist, um S1 , den Herrensignifikanten und Namen-des-Vaters, der als singulärer Signifikant, als einziger Signifikant ohne Signifikat, für die Gesamtheit der Signifikanten einsteht und so ihre Ordnung ermöglicht. Als »Funktion des Vaters« steht dieser Herrensignifikant S1 in enger Beziehung zur Männlichkeit. Jedoch taucht S1 auf beiden Seiten des Schemas auf und wird auf zwei unterschiedliche Arten ein- und ausgeschlossen. Auf der linken, der männlichen Seite ist S1 als Ausnahme eine Lösung für den Widerspruch in der Signifikantenregel, nämlich dass die Vollständigkeit der Signifikanten gleichzeitig vorausgesetzt und ausgeschlossen wird. Joan Copjec liest entsprechend das Problem der Definition des Signifikanten als ein philosophisches Grundproblem, als Antinomie, die bereits Kant in der Kritik der reinen Vernunft als Widerstreit der Vernunft mit sich selbst beschrieben hat. Nach Copjec zeige Kant, »dass die Vernunft nicht nur einfach scheiterte, sondern auf zwei separaten Bahnen über eine antinomische Sackgasse stolperte; die erste war mathematisch, die zweite dynamisch.« (Copjec 2004: 244). Die männliche Seite der Formeln der Sexuierung interpretiert Copjec mit Kants dynamischer Antinomie. Diese ergibt sich aus den Sätzen: »Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben notwendig.« und »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur«. Die Antithese, der zweite Satz, steht mit dem ersten Satz im Widerspruch, ja er verneint diesen scheinbar. Trotzdem bestehe Kant darauf, dass auch der zweite Satz wahr sei. Während im ersten Satz die Ausnahme (Freiheit) vorgeschlagen wird und damit eine Einschränkung des Geltungsbereichs der Naturgesetze, wird im zweiten Teil des zweiten Satzes das »Alles« (alles in der Welt geschieht nach Gesetzen der Natur) und damit das Universelle wieder behauptet. Spannender noch ist der erste Teil des zweiten Satzes (es ist keine Freiheit): Die Freiheit wird negiert, ist aber als negierte anwesend. Damit – so argumentiert Copjec – kann sie eine Grenze bilden: Mittels dieses negativen Urteils wird die Unbegreiflichkeit der Freiheit auf den Begriff gebracht, und die Reihe der Erscheinungen ist nicht länger eine Reihe mit offenem Ende; sie wird zu einer geschlossenen Menge, da sie jetzt – wenn auch in negativer Form – das einschließt, was von ihr ausgeschlossen ist: das heißt, sie schließt jetzt alles ein. (Ebd.: 260.)

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

Die zwei sich widersprechenden Sätze installieren so eine Universalität vor dem Hintergrund ihrer Unmöglichkeit: Der Existenzquantor fungiert als Grenze für das Alle und stellt damit dieses als Totalität her: Die Begründbarkeit allen Seins ist gewährleistet durch die Unbegründbarkeit des freien Willens, die jedoch dann aus der Gesamtheit der beobachteten Phänomene ausgeschlossen werden muss: Die Anfangsursache kann von dem durch sie begründeten mechanischen Feld nicht toleriert werden, sie verschwindet aus diesem. Was bedeutet, dass auf dieser Seite die Sache stets die ist, dass zu wenig gesagt wird. (Ebd.: 261.) In seiner Graphik stellt Lacan das männliche Subjekt als spezifischen Umgang mit dem Widerspruch zwischen dem Allgemeinen, dem Alle, für das die symbolische Kastration und damit die Trennung von Signifikant und Signifikat gilt, und einer phantasmatischen Ausnahme dar, die der symbolischen Kastration entgeht und in der Signifikant und Signifikat ungetrennt sind. Die Ausnahme ist ausgeschlossen aus der Ordnung des Alle: So ist sie abwesend, aber zugleich als abwesende Ursache anwesend. Lacan versteht seinen Herrensignifikanten als eine strukturale Übersetzung von Freuds Mythos vom Vater der Urhorde. Im Freud’schen Mythos basiert die Gesellschaft der Gleichen, die sich selbstverständlich nur auf Männer bezieht, auf einem primären Ausschluss, einer verdrängten Schuld, die ermöglicht, sich ohne Neid aufeinander zu beziehen. Es ist die Schuld am Vater der Urhorde, der als tyrannischer Herrscher Zugang zu allen Frauen hatte und von den Söhnen in einem gesellschaftsstiftenden Akt gemeinschaftlich getötet wird (vgl. Totem und Tabu, GW 9: 171ff.). Lacan deutet diesen Mythos als »einzigen Mythos zu dem die Moderne fähig war« (VII: 214), als »Mythos einer Zeit, für die Gott tot ist« (ebd. 215). Den zentralen Punkt dieses Mythos sieht er in der Verbindung von der Tötung dessen, der ursprünglich dem Genießen im Weg stand, und der Einrichtung des Gesetzes: Freud, und darin besteht seine Kunst, bringt es [das wesentliche Element bei der Einrichtung des Gesetzes; MD] mit der Vatertötung in Verbindung und identifiziert es mit der Ambivalenz, die hierauf die Verhältnisse des Sohnes zum Vater gründet, das heißt mit der Wiederkehr der Liebe nach vollendeter Tat. Diese Tat ist das ganze Geheimnis. Es verhüllt uns, dass die Tötung des Vaters den Weg zum Genuss, den man durch seine Gegenwart für verboten hielt, nicht nur nicht öffnet, sondern im verstärkten Maße verbietet. (VII: 214.) Der gemeinschaftliche Mord am Vater beseitigt das Hindernis: Der übermächtige Urvater, der alle Frauen für sich beansprucht hat, ist tot und eigentlich steht nun nichts mehr zwischen seinen Söhnen und den Objekten ihres Begehrens. Doch der Mord hinterlässt eine kollektive Schuld, eine Schuld, die das Kollektiv erst hervorbringt und es an das Verbot bindet, das in der Gründung des Kollektivs beseitigt werden sollte. Durch den Mord am Vater wird also das Verbot nicht beseitigt, son-

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dern wird erst in seiner scheinbaren Beseitigung gänzlich wirksam. Die Paradoxie des Gesetzes liegt also darin, dass erst, wenn die Instanz, von der das Gesetz ausgeht, abwesend ist, das Gesetz seine volle Wirksamkeit entfaltet: Das soziale Wesen, das durch den kollektiven Mord entstanden ist und das sich durch eine geteilte Beziehung zu einer Abwesenheit als Element eines symbolischen Universums konstituiert, hat keinen direkten Zugang zum Genießen mehr. Nach dem gemeinschaftlichen Mord an dem Vater der Urhorde sind die ursprünglichen Objekte des väterlichen Genießens, um derentwillen der Mord begangen wurde, tabu: Der Mord hat das Exogamiegebot eingesetzt, das die gesuchten Objekte, die Mütter, Schwestern etc. als Grund für den Mord, von den wiedergefundenen Objekten, den fremden Frauen, trennt. Damit spaltet sich auch der Objektbezug der männlichen Subjekte: Die eigenen Frauen (Mütter, Schwestern) können nur noch zärtlich geliebt werden, denn alles Sexuelle muss aus der Beziehung zu ihnen verdrängt werden. Die leidenschaftliche Liebe – bei Lacan das Begehren – muss sich auf die fremde Frau beziehen, die aber nie das geben kann, was bei den eigenen Frauen vermutet wird. Mit diesem Fokus, der Verknüpfung von Verbot und der Abwesenheit der Instanz, die es verkörpert, kann Lacan den Freud’schen Mythos und damit die psychoanalytische Geschlechtertheorie in eine Frage der Sprachlogik übersetzen, indem er aus dem Mythem ein Mathem macht: Das im getöteten, abwesenden Urvater gegründete Gesetz bezieht Lacan auf seine Theorie des Symbolischen und deren paradoxen Verknüpfung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit eines Gründungsaktes. Der Urvater ist also ein Bild für S1 , den Herrensignifikanten, der nicht nur als einziger kein Signifikat hat, sondern dessen zentrale Qualität ist, abwesend zu sein. Erst als Toter wird der Vater und sein Verbot wirksam: »Der Tote wurde nun stärker, als der Lebende gewesen war« (GW 9: 173), formuliert Freud. Die Sozialität, der Eintritt ins Symbolische, ist erkauft durch einen indirekten Zugang zum Genießen: die Spaltung von gesuchtem und wiedergefundenem Objekt (den eigenen und den fremden Frauen); vollständiges Genießen gefährdet die Sozialität, führt zu Konflikten und Gewalt, ist eigentlich ungenießbar für das Subjekt, weil es seine symbolische Voraussetzung stört, und ist damit das Gegenteil des Lustprinzips, das im Dienste des Weiterexistierens des Subjekts steht. Die Ausnahme, der väterliche Signifikant, bildet nicht nur die Grenze gegen das Außen der Signifikantenordnung, sie stellt gleichzeitig die Vermittlung des Signifikanten mit dem Genießen dar. Mann zu sein, bedeutet für Lacan, von der Kastrationsdrohung getroffen zu sein, sich der Signifikantenordnung vollständig zu unterwerfen und damit den Zugang zum Sein zu verlieren. Dieser Zustand würde den Tod bedeuten, wenn nicht gleichzeitig, mit dem Verbot seine Übertretung als phantasmatisches Szenario mitgeliefert würde: Als Mann gelingt ein Kurzschluss zwischen Sinn und Sein, nämlich durch die temporäre Identifikation mit der Ausnahme, die gelingt durch die immer nur temporär mögliche Verwechslung des Penis

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

mit dem Phallus. David-Ménard spricht in diesem Zusammenhang »von dem ausnahmeförmigen Aspekt des Aktes, durch den ein Mann sich als Mann setzt.« Und weiter: »Indem er sich mehr oder weniger für den Vater der Horde hält, wiewohl er ansonsten weiß, dass alle Männer kastriert sind, ist ein Mann ein Mann« (David-Ménard 1999: 150). Diesen Umstand veranschaulicht Lacan im unteren Teil der Graphik. Der untere Teil der Graphik stellt die Beziehung der Geschlechter zu ihren Objekten dar. Auf der männlichen Seite steht das $ als Zeichen für das barrierte Subjekt, was bekräftigt, dass das scheinbar universale Subjekt, auf das sich die Psychoanalyse bezieht, ein männliches ist. Das Symbol Φ befindet sich im gleichen Feld wie das barrierte Subjekt, weil es das Subjekt als Signifikant stützt (vgl. XX: 87): Φ, der symbolische Phallus, der sich mit dem Herrensignifikanten S1 gleichsetzen lässt,14 ist als Begrenzung der Signifikantenordnung verantwortlich dafür, dass das Subjekt unter dem Signifikant verschwindet. Der symbolische Phallus sorgt also dafür, dass das Subjekt seinen Platz in der Signfikantenordnung einnehmen kann, gleichzeitig strukturiert er das Genießen des Subjekts. Wie ich im zweiten Kapitel bereits beschrieben habe, spielt für beide männlichen Ökonomien des Genießens, das Begehren und die Liebe, das Objekt a eine zentrale Rolle, was in der Graphik durch den Pfeil zu a angezeigt wird. Das Begehren des Subjekts bringt das Objekt a hervor als autre-chose, als Rest von Unbefriedigung, der dafür sorgt, dass die metonymische Kette der Signifikanten fortgesetzt wird. Das Begehren befriedigt sich temporär in einer spezifischen Art und Weise. Lacan spricht von einem phallischen Genießen, das sich aus dem Verhältnis des Mannes zum Phallus ergibt (vgl. XX: 12). Dabei verhindert der Phallus, dass der Mann seinem Gegenüber im Genießen begegnet: Der phallische Genuss ist das Hindernis, wodurch der Mann nicht hinkommt, würde ich sagen, des Körpers der Frau zu genießen. (Ebd.) Den Körper der Frau genießen konnte nur der mythische Urvater, er konnte ihn vollständig in Besitz nehmen und über ihn verfügen, der konkrete Mann jedoch nicht: Wenn der Mann die Frau und ihren Körper genießen könnte, würde er nicht das Geschlechtsverhältnis verfehlen. So aber bekommt von ihr – wie Bruce Fink treffend formuliert – nur »einen Kick« (Fink 2011: 152) und zwar in dem Moment, in dem der Spuk funktioniert und die Frau für den Mann der Beweis seines Phallusbesitzes, seiner Identifikation mit dem Herrensignifikanten, ist. Genau diese Illusion, Herr zu sein, zeichnet das phallische Genießen aus: Es ist die durch die Begegnung mit einem Gegenüber geschaffene Illusion den Phallus zu besitzen. Das phallische Genießen ist so masturbatorisches Genießen, weil nicht der Körper des 14

Wobei der symbolische Phallus nur eine Variante von S1 ist. Es sind andere Varianten denkbar, etwa das Sinthom oder der Eigenname. Dazu in Kapitel 5.

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Gegenübers, sondern die Verwechslung des eigenen Penis mit dem Phallus genossen wird. Der Penis als Organ ist das Instrument dieses Genießens, weil er, in der Konfrontation mit der Abwesenheit des Phallus beim Gegenüber, zum Signifikanten wird. Deshalb formuliert Lacan: Auf der einen Seite ist das Genießen markiert durch jenes Loch, das ihm keinen anderen Weg läßt als den des phallischen Genusses. (XX: 13.) Auf der männlichen Seite ist das Genießen gekennzeichnet durch das Loch, das natürlich die anwesende Abwesenheit des Phallus beim weiblichen Gegenüber ist: Der Mann unterscheidet sich im Geschlechtsverhältnis von seiner Partnerin dadurch, dass diese keinen Phallus hat. Die Illusion, den Phallus zu besitzen, gelingt vor allem, weil das Gegenüber den Phallus nicht besitzt – aber ihn, wie später noch zu zeigen ist, dem Subjekt unterstellt. Wissend, dass das Genießen verloren und durch das Gesetz verboten ist, wird das Genießen nur möglich, indem sich der Mann als Ausnahme setzt, indem er seinen Penis mit Allmacht aufläd und zum Phallus macht – dieser Akt gelingt temporär angesichts des kastrierten Gegenübers. Diese Funktion der Frau für den Mann nennt Lacan pas-toute: Wenn die Frau nicht nicht-alle wäre, wenn in ihrem Körper sie nicht nicht-alle wäre als geschlechtliches Sein, würde von all dem nichts halten. (XX: 15.) Die Frau ist nicht-alle, pas-toute, was sich auch mit nicht-ganz übersetzen ließe.15 Für den Mann ist sie definiert dadurch, dass sie nicht vollständig ist, dass ihr etwas fehlt, was er selbst zu haben glaubt. Als sein »Spiegel mit Loch« ermöglicht sie seine Allmachtsphantasie. Dabei reduziert er sie jedoch auf das Objekt a und vermeidet eine Konfrontation mit ihr als Andere: Es ist ihm gegeben, seinen Geschlechtspartner, der der Andere ist, zu erreichen nur über das Mittel dieses, dass er die Ursache seines Begehrens ist. In dieser Hinsicht, wie es im übrigen in meinen Graphen die pointinierte Konjunktion dieses S und dieses a anzeigt, ist das nichts anderes als das Phantasma. (XX: 87.) Das Gegenüber, das, wie wir sehen werden, das Andere Geschlecht (mit großem A) ist, reduziert das durch das Phantasma strukturierte männliche Subjekt – das Phantasma ist die Unterseite des von mir als Begehren interpretierten Diskurses des Herren – letztlich auf das phantasmatische Objekt a, das seine Vollständigkeit wieder herzustellen verspricht, das es jedoch niemals erreicht, weil es nichts anderes ist als die Markierung des Verlusts. So hat das Subjekt weder ein echtes Verhältnis zum Anderen im Sinne des symbolischen Universums, im Sinne von S2 , 15

Auf die hier gewählte Übersetzung von pas-tous als nicht-alle werde ich im Zusammenhang mit der weiblichen Subjektivität noch zurück kommen.

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

noch zum anderen als konkretes Gegenüber, denn es ist damit beschäftigt »Ein« zu sein, die mythische Ausnahme, die vollständig, unentfremdet und unabhängig von einem Gegenüber in seiner Unberechenbarkeit genießen kann. In Freuds Bildern: Bei der fremden Frau sucht das männliche Subjekt die allversorgende Mutter, auf die es doch verzichtet hat, wird aber in dieser Suche immer enttäuscht. Denn das Begehren geht – wie im ersten Kapitel bereits gezeigt – konstitutiv fehl: Es scheitert permanent und bleibt so produktiv. Weil das Begehren des Subjekts nie sein Objekt trifft, gibt es kein Geschlechtsverhältnis, keine Begegnung des männlichen Subjekts mit seinem Gegenüber. Wenn nun die Liebe an die Stelle des abwesenden Geschlechtsverhältnisses tritt – »die Liebe suppliert der Abwesenheit des Geschlechtsverhältnisses« (XX: 43) – so scheint in ihr der Schlüssel zu einer echten Begegnung mit dem anderen zu liegen. Dass es sich hierbei um eine Illusion handelt, habe ich im zweiten Kapitel bereits gezeigt. Mit Blick auf das Geschlechtsverhältnis zeigt sich, dass die Liebe deshalb nicht den anderen erreicht, weil sie »Verhältnis hat mit dem Ein, nie irgendjemand herausgehen macht aus sich selbst« (ebd.: 52). Wenn sie an die Stelle des abwesenden Geschlechtsverhältnisses tritt, kann sie dieses doch nicht herstellen: Die Liebe ist unvermögend, mag sie auch reziprok sein, denn sie weiß nicht, daß sie nur das Begehren ist, Ein zu sein, was uns heranführt an das Unmögliche, die Beziehung von ihnen herzustellen. Die Beziehung d’eux wem? — zwei Geschlechtern. (Ebd.: 11.) Wie das Begehren ist die Liebe auf dem Herrensignifikanten gegründet, der es unmöglich macht, eine Beziehung zwischen zweien herzustellen, eine Beziehung zum anderen als anderen. Auch in der Liebe stellt finden sich die Liebenden nicht als Kugelmensch zusammen, auch die Vereinigungswünsche der Liebe müssen scheitern. Der Herrensignifikant zeichnet das Subjekt von Begehren und Liebe aus und bestimmt sein Genießen. Männliches Genießen ist also phallisches Genießen, auch wenn der Phallus in der Liebe verdrängt ist. Das, was der Mann genießt, wenn er seinen Penis als Phallus genießt, ist jedoch nicht das Genießen des eigenen Körpers, irgendeine auf das Genital zentrierte, organische Befriedigung, sondern ein Genießen, das vom Anderen kommt. Nun hat aber der Andere ein Verhältnis zum anderen Geschlecht, wie Lacan bekennt: »Das Andere, in meiner Sprache, das kann also nur das Andere Geschlecht sein« (XX: 44). Das Genießen des Anderen Geschlechts ist also das Genießen, das das Genießen des Subjekts erst ermöglicht. Was zeichnet dieses andere Geschlecht aus?

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Wie Männlichkeit sich im Begriff Hochstapelei zusammenfassen lässt, so lässt sich Weiblichkeit durch den Begriff Maskerade beschreiben.16 Bei beiden Phänomenen handelt es sich um Täuschungen, diese haben jedoch eine völlig unterschiedliche Struktur: Während der Hochstapler vorgibt, etwas zu sein, das er gar nicht ist, und sich dabei an dem gesellschaftlich Erwünschten orientiert, geht es, um es aphoristisch zu formulieren, in der Maskerade vor allem um das Verbergen von einer Wahrheit, die man jedoch gar nicht hat.17 In den Formeln der Sexuierung nutzt Lacan zur Beschreibung der Maskerade wie für die männlichen Subjektstruktur zwei logische Aussagen, die einander widersprechen: ∃x Φx (Es gibt kein x, das nicht der phallischen Funktion unterworfen ist) und ∀x Φx (Nicht-alle x sind der phallischen Funktion unterworfen). Auch diese beiden Sätze stehen im Widerspruch zueinander. Allerdings ist die Form des Widerspruchs eine andere. Im zweiten Satz ist der Allquantor verneint, die phallische Funktion hingegen bejaht: Für nicht alle Frauen gilt die phallische Funktion. Die phallische Funktion hat also auch für Frauen Relevanz, jedoch umfasst sie nicht alles: Sie gilt nicht für alle oder möglicherweise auch nicht für alles an ihnen: pas-toute. Bedeutsam an der Formulierung ist, dass das Allgemeine auf der weiblichen Seite nur negativiert vorkommt: Die Frau, betont Lacan immer wieder, ist nicht nur nicht-ganz, sie ist Nicht-alle. Sie bildet keine Allgemeinheit. Deshalb schreibt er die Frau immer wieder mit einem durchgestrichenen Artikel: die Frau. Die Frau existiert nicht: Das ist es, was definiert die… die was? – die Frau justament, bis auf dies, dass Die Frau, das kann sich schreiben nur indem Die gebarrt wird. Es gibt nicht Die Frau, bestimmter Artikel, um zu bezeichnen das Universale. Es gibt nicht Die Frau, denn – ich habe den Ausdruck bereits riskiert, und weshalb sollte ich da zweimal hinschauen – ihrem Wesen nach ist sie nicht alle. (XX: 80.) Lacans bekannter Aphorismus, dass die Frau nicht existiert, lässt sich also vor dem Hintergrund des Nicht-alle interpretieren als die Zurückweisung einer weiblichen Substanz, die sich bestimmen ließe. Wenn die Frau nicht existiert, ist es vielmehr das Wesen der Frau, dass es nicht bestimmbar ist.18 Das Nicht-alle lässt sich auch noch auf eine weitere Art verstehen: Nicht alles an ihr ist der phallischen Funktion unterworfen; etwas von oder an ihr entzieht 16

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Den Begriff Maskerade als Bestimmung der »weiblichen Geschlechtsattitüde« benutzt Lacan bereits früher (beispielsweise XI: 202) und bezieht sich auf die berühmte Arbeit Joan Rivieres von 1929 (vgl. Riviere 1994). Etwa ein geheimnisvolles Agalma, das sich in einer undurchdringlichen Hülle zu verstecken scheint. Diese Formulierung scheint sich mit der dekonstruktivistischen Forderung zu decken, Geschlecht als Attribut und nicht als Substanz zu verstehen. Dem gegenüber sei hier daran erinnert, dass nach Lacan im Gegensatz zur Frau der Mann sehr wohl existiert (vgl. auch Copjec 2004: 258).

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

sich der symbolischen Kastration. Auch das weibliche Subjekt ist der Sprache unterworfen, es ist sprachlich strukturiert, jedoch deutet das Nicht-alle an, dass die Unterwerfung nicht vollständig gelungen ist und das weibliche Subjekt noch Zugang zu einem Rest Genießen hat, der nicht das Zeichen des Phallus trägt. Der zweite Satz steht zunächst im Widerspruch zum ersten: ∃x φx: Es gibt keine Frau, die nicht von der phallischen Funktion betroffen wäre. Mit diesem Satz wird zum einen die Ausnahme, die es auf der männlichen Seite gegeben hat, verneint: Auf der weiblichen Seite gibt es eben kein Äquivalent des Urvaters, keine Urmutter oder Göttin.19 Zum anderen besteht der Satz aus einer doppelten Verneinung, deren Pointe es ist, dass aus zwei Verneinungen noch keine Bejahung wird, denn der Satz ist nicht identisch mit: Es gibt eine Frau, die von der phallischen Funktion betroffen ist. Sowohl die phallische Funktion als auch der Existenzquantor ist verneint. Letztere Verneinung bekommt ein besonderes Gewicht: Weder als Allgemeinheit noch als einzelne Existenz gibt es auf weiblicher Seite eine positive Bestimmung. Der Existenzquantor, die Existenz der Frau, wird zurückgewiesen: Die Frau existiert nicht. Eine zweite Bedeutung ergibt sich aus der Umstellung des Satzes: Nicht der phallischen Funktion unterworfen, existiert die Frau nicht. Gerade dieses Nicht-alle, dieses undefinierbar Entzogene, hat keine symbolische Existenz in dem Sinn, dass es eine Symbolisierung und damit einen Anteil am Gesellschaftlichen findet. Während in den Formeln für die männliche Struktur der Satz mit dem Existenzquantor den Satz mit dem Allquantor absichert, die Existenz des Einen ein Allgemeines ermöglicht, kommt der Existenzquantor dieser Funktion auf der weiblichen Seite nicht nach. Existenz und Allgemeines sind gleichermaßen ausgeschlossen. Nun definiert Lacan Existenz folgendermaßen: Nur, man weiß über die Extension der mathematischen Logik, jener, die sich präzise definiert als intuitionistisch, dass, um ein »es existiert« zu setzen, man es auch konstruieren können muss, nämlich zu finden zu wissen, wo diese Existenz ist. (XX: 111.) Existenz versteht Lacan als Rekonstruierbarkeit. Diese setzt jedoch einen definierten Ausgangspunkt voraus, einen Nullpunkt, einen Stepppunkt, der im Fall des Weiblichen nicht gegeben ist. Antonello Sciacchitano kritisiert diese Auffassung Lacans und entwickelt als Mathematiker und Psychoanalytiker eine eigene Interpretation und, wie er schreibt, »Verbesserung des Meisters«. Die Formeln der Sexu-

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Aus dem Fehlen einer Gründungsfigur auf Seiten des Weiblichen schließt Irigaray, dass eine solche konstruiert werden muss, weil diese eine weibliche Genealogie ermöglichen und so Differenzen zwischen Frauen absichern würde. Bei der Figur der weiblichen Göttin handelt es sich deshalb nicht um eine Essentialisierung, sondern um den Versuch einer quasitranszendenten Gründung, die das Weibliche als differenzierten Raum entstehen lassen würde (vgl. Irigaray 1989; dazu Soiland 2010, insbesondere S. 337ff.).

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ierung zeugten – das habe bereits Alain Sokal nachgewiesen – von mathematischer Unkenntnis und seien falsch geschrieben. Neben seiner Korrektur der Schreibweise versucht er, mithilfe der auf Von Neumann, Gödel und Bernay zurückgehenden, topologischen Weise, die Mengenlehre zu konstruieren, die Lacan’sche Intention zu erfassen und klarer mathematisch auszudrücken. Die weibliche Seite lässt sich nach Sciacchitano mathematisch als echte Klasse ausdrücken. Eine Klasse ist definiert als Vielfalt, die keine Totalität bildet (vgl. Sciacchitano 2004: 129). Sie ist das, was Hegel eine »schlechte Unendlichkeit« nennt: Eine Klasse entzieht sich der Prädikation, nichts lässt sich über sie als Gesamtheit sagen. Mathematisch gesprochen zeichnen sich Klassen dadurch aus, dass sie sich nicht vereinigen lassen und nicht zu einem Element einer anderen Klasse werden können. Weiblichkeit hat damit die selbe Struktur wie Sprache: Als Unendlichkeit lässt sie sich nicht vereinigen, bestimmen oder abschließend definieren. Die männliche Seite der Formeln stellen demgegenüber eine »gute Unendlichkeit« dar, eine (offene) Menge. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich unter einem Element vereinigen und Teil einer anderen Menge oder Klasse werden kann. Die offene Menge ist eine Unendlichkeit, die sich als Endlichkeit entpuppt. Weil das männliche Universum ein Eins bildet, ein endliches Universum ist, ist die Identität jedes einzelnen garantiert.20 Weil Mengen Element von einer Klasse oder einer anderen Menge sein können, kann man über sie sagen, dass sie existieren.21 Klassen hingegen, die nicht Teil eines anderen werden können, existieren nach Sciacchitano »wenig«. Sie entsprechen den »Universalien, über die sich die mittelalterlichen Denker den Kopf zerbrachen«, die nicht aus dem philosophischen System begründbar sind, sondern aus dem dieses selbst abgeleitet wird. Der obere Teil der Formeln definiert Weiblichkeit als etwas, das kein Allgemeines bildet – Unendlichkeit oder Inkonsistenz – das aber die Voraussetzung für ein Allgemeines ist. Das Verhältnis von Weiblichkeit zu Existenz ist problematisiert, gleichzeitig ist sie nach Scacchitano Voraussetzung der Existenz von anderen. Diese Deutung Scacchitanos ermöglicht es, das komplexe Verhältnis von Existenz und Weiblichem besser zu verstehen: Wenn das Weibliche wie die Sprache der Rahmen ist, in dem Existenz verhandelt wird, ist seine Existenz der Verhandlung entzogen: »Es gibt keine Metasprache« (Sch II: 350), formuliert Lacan. So ist es nicht möglich, »von außen« über die Bedeutung von Sprache zu verhandeln, sondern jede dieser Verhandlungen über Sprache findet in Sprache statt, keine objektive Instanz

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Die von Lacan konstruierte Struktur, in der die Ausnahme eine Grenze bildet und damit eine Vereinigung ermöglicht, sei nicht nötig um eine mathematische Existenz zu garantieren und vermutlich ein Erbe des Freud’schen Mythos und der katholischen Theologie. Während nach Sciacchitano im Altertum Wahres und Existierendes identisch waren, in der mittelalterlichen Theologie Gott Existenz garantierte, zeichnet sich die moderne Epistemologie dadurch aus, dass sie Existenz aus Zugehörigkeit ableitet (vgl. Sciacchitano 2004: 135).

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hilft bei der Beurteilung.22 Die Definition des Weiblichen als »schlechte Unendlichkeit« bringt sie bereits in den Zusammenhang mit der Sprache, dem unendlichen Verweisungssystem, das den Rahmen unseres Selbst- und Weltbezugs bereitstellt. Diese spezielle Beziehung des Weiblichen zur Sprache ist Gegenstand von Lacans weiteren Auseinandersetzungen mit dem Anderen Geschlecht. Die weibliche Seite der Formeln unterscheidet sich deutlich von der männlichen. Auf der männlichen Seite war der Widerspruch zwischen den zwei Sätzen als Einsetzung des Unbewussten interpretiert worden: Das Signifikanten-Subjekt kann sich als Endliches konstituieren, indem es die Unendlichkeit im Unbewussten einlagert. Auf der weiblichen Seite gelingt die Doppelstruktur nicht. Wie Copjec mithilfe der Kant’schen Antinomien zeigen kann, unterscheidet sich die weibliche Seite von der männlichen insbesondere darin, dass sich der Widerspruch zwischen den beiden Sätzen nicht auflösen lässt. Darin entspricht sie der dynamischen Antinomie Kants, die sich nur auflösen lässt, indem man ihre Sätze gleichermaßen als falsch zurückweist. Während sich für die männliche Seite der Formeln der Widerspruch in der Struktur einer die Regel bestätigenden Ausnahme zeigt und eine Auflösung machbar erscheint, ist das weibliche Universum inkonsistent und bildet keine Totalität, die seine Existenz absichert. Dementsprechend fasst Copjec die weibliche Struktur als Scheitern der Grenze zusammen (vgl. Copjec 2004).23 Dem gebarrten $ als Zeichen für das von der symbolischen Kastration gezeichnete Subjekt der männlichen Seite entspricht in der Graphik das durchgestrichene die. Strenggenommen dürfte man deshalb nicht von einem weiblichen Subjekt sprechen: Das Subjekt ist männlich, es gibt auf der weiblichen Seite keine gleichwertige Entsprechung. Denn auf weiblicher Seite ist das Äquivalent des Subjekts die Unfähigkeit, ein Allgemeines zu bilden. Das fehlende Universale ist besonders relevant, wenn man Frauen nicht als Subjekt betrachtet, sondern als Objekt. Den Artikel die in die Frau bezeichnet Lacan als einen Signifikant ohne Signifikat, ein

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Der Formel, dass es keine Metasprache gibt, entspricht der, dass es keinen Anderen des Anderen gibt. Der Andere selbst als Gegenüber hat keinen Halt, der für seine Existenz einsteht. Wenn die Grenze die Voraussetzung für die Einsetzung des Unbewussten ist, muss ihr Fehlen für die weibliche psychische Struktur ernsthafte Konsequenzen haben. Lacan deutet an, dass das Unbewusste bei einer Frau sich über ihren Bezug auf den Mann herstellt: »Wenn die Libido nur männlich ist, so ist es nur von da, wo sie alle ist, die liebe Frau, das heißt da, von wo aus sie sieht der Mann, und nur von da, daß die liebe Frau haben kann ein Unbewußtes« (XX: 106). Nur angesichts eines (phallischen) Mannes, der aus der Frau ein »Alle« macht (im Gegensatz zu ihrem unbegrenzten Nicht-alle), eines Don Juans, der Frauen zu Elementen eines Registers macht, stellt sich die Grenze her, die eine Trennung von Bewusstem und Unbewussten ermöglicht. Diese Struktur lässt sich im Diskurs der Hysterika erkennen, der im folgenden Kapitel ausführlich beschrieben wird. Das weibliche Nicht-alle hingegen legt ein Fehlen der verdrängenden Instanz nahe und damit ein Fehlen des Unbewussten.

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Signifikant, »dessen Platz zu markieren unentbehrlich ist, der nicht leer gelassen werden kann« (ebd.): Dieses die ist ein Signifikant, dessen Eigentümliches ist, dass er der einzige ist, der nichts bedeuten kann, und zwar nur daraus, zu gründen das Statut von die Frau in dem, dass sie nicht alle ist. (XX: 80) Diese Formulierung lässt aufhorchen, denn als Signifikanten ohne Signifikat – ebenfalls als den einzigen – bezeichnete Lacan an diversen anderen Stellen den Phallus. Ohne Signifikat gehört der Phallus nicht zur Ordnung der Signifikanten, ist aber als Signifikant ein Teil von ihr. Er ist der Signfikant, der die Grenze markiert und die Ordnung gegen das Außen verteidigt. Wenn Lacan nun das die in die Frau Signifikanten ohne Signifikat nennt und so mit dem Phallus gleichsetzt, könnte er entweder eine Analogie oder eine Identität behaupten. Ersteres würde bedeuten, dass Phallus und »die« als Allgemeinheit der Frau Eigenschaften teilen. Beispielsweise existiert die, also das Allgemeine der Frau, wie der Phallus nicht, ist aber Voraussetzung für Existenz. Der zweite Möglichkeit, die mir sinnvoller erscheint, wäre das die tatsächlich als identisch mit dem Phallus zu interpretieren. Das würde bedeuten, dass die Frau als Allgemeines24 an die Stelle des Phallus tritt und das Funktionieren der männlichen Ordnung mit der Ex-sistenz der Frauen als Allgemeinheit erkauft ist. Mit dieser Interpretation wäre mit der weiblichen Seite weniger über die Frau(en) selbst ausgesagt, als über ihre Funktion im männlichen Phantasma. Das allgemein Weibliche lässt sich somit verstehen als Versuch des männlichen Subjekts, ein phantasmatisches Objekt der Vollständigkeit zu konstruieren. Die Frau, die Allgemeinheit der Frauen, ist das absolute Objekt des genießenden Urhordenvaters: Er kann sie alle haben, er kann sie, das Ding, vollständig genießen. Das Allgemeine der Frau bildet deshalb die Grenze für die männliche Subjektkonstitution. Zugleich ist die Frau das illusorische, idealisierte Objekt der Liebe: Die Geliebte steht als Ideal für die Gesamtheit der Frauen, für die Essenz des Weiblichen. Als die Frau macht die Geliebte aus dem Liebenden den Mann, den Herren, den allgenießenden Urhordenvater. Eine Illusion, denn die Frau gibt es nicht. Alle bisherigen aus den Formeln der Sexuierung abgeleiteten Aussagen über das Weibliche interpretieren dieses als Bestandteil des männlichen Phantasmas: Das Weibliche tritt auf als notwendige Voraussetzung der männlichen Allmachtsphantasie vom Urhordenvater; es ist verfügbare Ressource, die nur wegen des väterlichen Verbot nicht zugänglich ist. Deshalb macht es an dieser Stelle Sinn, über den Status Lacans Sprechens über die Frau und speziell über den der Formeln der 24

Hier sei darauf aufmerksam gemacht, dass nicht Frau mit dem Phallus gleichgesetzt wird, sondern die Allgemeinheit der Frau, die nicht existiert. Niemand, weder Frau noch Mann, kann den Phallus haben oder verkörpern.

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

Sexuierung nachzudenken: Beziehen sich seinen Aussagen über das Weibliche auf das Weibliche im männlichen Phantasma oder beansprucht er, über das Phantasma hinaus Auskunft geben zu können? Festhalten lässt sich, dass die Formeln eine Asymmetrie beschreiben, die in der Geschlechtertheorie der Psychoanalyse mehr oder weniger problematisiert schon immer Gegenstand war. Jedoch ist Lacans Haltung gegenüber der Geschlechterasymmetrie ambivalent: Wenn er in Seminar XIX mit dem Titel »Ou pire« (»oder Schlimmeres«) über das Ende der väterlichen Autorität nachdenkt, scheint er den Verfall der väterlichen Funktion zu betrauern und an einem ödipalen Modell festhalten zu wollen. Jedoch möchte ich die utopische Dimension betonen, die in Lacans Formeln der Sexuierung steckt. Denn das Weibliche ist nicht nur Voraussetzung des männlichen Phantasmas; Lacan spricht von einem weiblichen Genießen »Jenseits des Phallus«. Ein Genießen, das sich der symbolischen Kastration entzieht. Dieses Jenseits des Phallus ist zwar dessen Voraussetzung, hat jedoch auch das Potential das ödipale Phantasma zu überschreiten. Doch was ist dieses Genießen jenseits des Phallus? Auf diese Frage seiner Hörerschaft führt er das Beispiel des unsagbaren Genießens der Mystikerinnen an: Sie brauchen sich nur in Rom die Statue von Bernini [der heiligen Theresa] ansehen zu gehen um sofort zu begreifen, dass sie genießt, da gibt es keinen Zweifel. Und wessen genießt sie? Es ist klar, dass das wesentliche Zeugnis der Mystiker, das ist justament zu sagen, dass sie es empfinden, aber dass sie davon nichts wissen. (XX: 83.) Was genießt die heilige Theresa, die Bernini in dem Moment darstellt, in der ein hübscher Engelsjüngling ihr einen Pfeil in die Brust bohrt? Lacan wählt ein auffällig doppeldeutiges Bild zur Illustration des weiblichen Genießens: Die Ekstase, in der sich Theresa windet, findet nicht nur im Angesicht eines starken Phallussymbols statt – der Phallus tritt in seiner reinsten Form auf: als ein vom Körper ablösbares Instrument, als Pfeil der Liebe Gottes, als Phallus des Herren –, sondern ist in ihrer Darstellung ein Produkt eines männlichen Künstlers, so dass unklar ist, ob es sich beim Genießen der Theresa nicht um eine Phantasie des Künstlers handelt. Theresas halbgeschlossenen Augen, der leicht geöffnete Mund, die Wölbung des Körpers erinnern nicht zufällig an die theatralischen Gesten der Hysterikerinnen des 19. Jahrhunderts. Das orgiastische Genießen, das sich in der Hysterie Bahn bricht, wurde nach Lacan von Charcot und seinen Kollegen auf »Fickgeschichten« (XX: 83) reduziert, ist jedoch weit rätselhafter. Wenn Lacan über das rätselhafte weibliche Genießen nachdenkt, spricht er von einem Genießen »jenseits des Phallus« (XX: 81), eine Formulierung die nicht zufällig an Freuds »Jenseits des Lustprinzips« erinnert. Damit deutet er bereits an, dass es sich um jenes absolute Genießen handelt, das über das Lustprinzip hinausgeht, ja im Widerspruch zu ihm steht, eben jenes Genießen, zu dem das ödipale Gesetz

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Die Liebe zum Kind

eine ausbalancierte Distanz hält. Dieses Genießen zeichnet vor allem aus, dass es sprachlos ist: Es gibt ein Genießen für sie, für diese sie, die nicht existiert und nichts bedeutet. Ein Genießen für sie, von dem sie vielleicht selbst nichts weiß, außer dass sie es empfindet. […] Es geschieht ihnen nicht allen. (XX: 81.) Es lässt sich nichts über das weibliche Genießen sagen, außer, dass es sich nicht sagen lässt. Es scheint sich außerhalb der Sprache – jedenfalls außerhalb der geordneten Sprache des Subjekt – zu befinden. Jedoch darf die Definition des Genießens als außersprachliches nicht dazu verführen, es sich als rein körperliche Befriedigung, als einen Effekt der Biologie vorzustellen: Lacan verurteilt das Sprechen über ein spezielles, nicht phallisches, Lustempfinden, das auf einer Andersheit der weiblichen Anatomie, etwa der Klitoris oder dem Muttermund, basiert, als »Stuss« (ebd. 82), sondern will dieses Genießen als eine Folge der spezifisch weiblichen Stellung zur Sprache verstehen. Das rätselhafte Genießen der Frau ist also nicht ein reales Genießen im Sinne einer vorsprachlichen Befriedigung, sondern steht in Beziehung zur Sprache. Wenn Lacan die Bernini’sche Theresa als Illustration des weiblichen Genießens wählt, deutet er die Ambivalenz des Genießens an: Einerseits ist das weibliche Genießen jenseits des Phallus, es ist nicht fassbar in den männlichen Kategorien und entzieht sich der männlichen Rationalität. Gleichzeitig steht es in Beziehung zum Phallus, es zeigt sich angesichts seines Erscheinens, ist möglicherweise sogar seine Voraussetzung. Mithilfe der Pfeile in der unteren Hälfte der Graphik werde ich deshalb das Verhältnis des weiblichen Genießens zum symbolischen Phallus und dem Term S(Ⱥ) untersuchen.

4.3 Hysterisches Genießen: Die weibliche Beziehung zum Phallus Es sei ein »supplementäres Genießen«, das die Frau auf den Phallus beziehe. Dieses auf den Phallus bezogene Genießen werde ich im Folgenden in Zusammenhang mit der Hysterie bringen und damit als eine eigengesetzliche Struktur verstehen, die zwar einerseits die männliche Verwechslung des Penis mit dem Phallus stützt, gleichzeitig jedoch das männliche Subjekt permanent auf sein Scheitern in der Identifikation mit dem Herren stößt. So ist dieses Genießen des Phallus zwar supplementär, aber niemals komplementär zu dem Begehren des männlichen Subjekts. Wenn Lacan davon spricht, dass sich die Frau einen Phallus »hält« – »der Phallus, ihr Mann« (XX: 81) –, behauptet er ein weibliches Genießen, das wie das männliche durch den Phallus strukturiert ist: Das Genießen, das in der Aneignung des

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

Begehrens ihres Gegenübers liegt.25 Diese Aneignung des Phallus verstrickt eine Frau jedoch in ein Paradox, das sich mit Joan Scott als historisches Grundproblem des Feminismus beschreiben lässt: Die Idee einer universalen Menschlichkeit, formuliert in den verschiedenen emanzipatorischen Programmen der Moderne, macht es Frauen erst möglich, sich als Subjekt zu setzen, nach ihrem Begehren zu fragen und einen Platz einzufordern. Gleichzeitig basiert der Gedanke der Universalität, die Vorstellung des autonomen Subjekts der bürgerlichen Moderne, auf dem Ausschluss der Frauen, der »Schwestern«, die nicht in die Idee der »Brüderlichkeit« eingeschlossen sind (vgl. Scott 1998). Die Bewegung, die Frauen ermöglichte, in sich einen Menschen, ein Subjekt, zu sehen, ist durch ihren Ausschluss begründet. Wenn der Ausschluss des Weiblichen erst die Idee der Gleichheit ermöglicht, bedeutet die weibliche Forderung nach Gleichheit die Verleugnung ihrer spezifischen Andersheit, das Bestehen auf diese Andersheit jedoch lässt das Weibliche im Ausgeschlossenen verbleiben. Wenn die Hysterie sich auf dieses Paradox bezieht, so lässt sie sich als ein Phänomen der Moderne fassen. Indem Lacan einen »Diskurs der Hysterika« beschreibt, legt er jedoch nahe, dass das Hysterische ein strukturelles Moment ist, das an verschiedenen historischen Orten bedeutsam war und das in verschiedenen Konstellationen wirksam ist. Das Paradox von Gleichheit und Andersheit steht im Zentrum des hysterischen Genießens. Dieses resultiert – wie Liebe und Begehren des männlichen Subjekts – aus einer Spaltung zwischen dem Anspruch und der sich dahinter verbergenden Wahrheit dieser Position: Dem Anspruch, ein Subjekt zu sein, das im Symbolischen repräsentiert ist, und dem Problem, genau das zu sein, was konstitutiver, unauflösbarer Rest dieses Anspruchs ist, der sich der Repräsentation entzieht, die in diesem Symbolischen möglich ist. Die Forderung nach Gleichheit wird an die imaginäre Instanz gerichtet, die dafür verantwortlich erscheint, Zugang zu ihr zu gewähren: an die symbolische Autorität, an Figuren, denen der Phallus unterstellt wird. Diese Konstellation – ein Subjekt, das gespalten ist zwischen seinem Anspruch auf »Seele« und seine reale Lage als Voraussetzung der Idee einer Seele, sowie dem Herren als Gegenüber – entwickelt Lacan in einem Diskursschema, das er den »Diskurs der Hysterika« nennt.26 Die Hysterie als spezifische Struktur hat in der Psychoanalyse eine besondere Bedeutung: Wenn sie im 19. Jahrhundert definiert war als Krankheit, die durch

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Ähnlich argumentiert Lillian Rotter, die eine weibliche Lust in der Beherrschung der männlichen Erektion erkannte (vgl. Rotter 1989 [1934]). Der französische Ausdruck l’hystérique kann sowohl männlich als auch weiblich interpretiert werden. Deutsche Übersetzungen müssen sich für eine Variante entscheiden. In der deutschsprachigen oder übersetzten Sekundärliteratur wird sowohl »Diskurs der Hysterika« als auch »Diskurs des Hysterikers« verwendet. Da ich die Beziehung zur weiblichen Struktur hervorheben möchte, bleibe ich bei der weiblichen Form.

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Vorstellungen verursacht wird, ist sie mit der Geburt der Psychoanalyse und ihrem Begriff der Psyche wesentlich verbunden. Nicht zufällig kommt der Begriff Psychoanalyse zum ersten mal in den Studien zur Hysterie Freuds vor; das Verfahren »Redekur« entwickelt Freud in Auseinandersetzung mit seinen berühmten hysterischen Patientinnen. Es ist also ein Gemeinplatz, dass die Psychoanalyse eine besondere Beziehung zur Hysterie hat,27 ja man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Hysterie die Psychoanalyse erst ermöglicht hat. Die Sonderstellung der Hysterie in der psychoanalytischen Theorie schlägt sich auch in den Diskursmathemen nieder: Es gibt zwar einen Diskurs der Hysterika, aber keinen Diskurs des Neurotikers, des Narzissten, des Paranoikers und erst recht nicht des Psychotikers.28 In seiner fragmentarischen Geschichtsphilosophie gesteht Lacan der Hysterika eine besondere Rolle zu: Der Diskurs der Hysterika ist wesentlich für die Entstehung des analytischen Diskurses. Als philosophischen Diskurs macht Lacan ihn darüber hinaus mitverantwortlich für die Entstehung des Diskurses der Universität. In diesem Sinn ist die Hysterie keine partikulare Anhäufung von Symptomen, sondern eine Struktur; die strukturale Definition reicht über die klassisch symptomale Definition der Hysterie weit hinaus. Das bedeutet auch, dass, obwohl die Symptome, die die großen Hysterikerinnen Charcots zeigten und die nicht nur Freud zu tiefst beeindruckten, nahezu ausgestorben sind, die Hysterie als Struktur weiterhin bedeutsam sein kann. Wenn ich im Folgenden die Hysterie mit den Formeln der Sexuierung in Verbindung bringe, gehe ich von einer Überschneidung von hysterischer und weiblicher Struktur aus. Für diesen Zusammenhang häufen sich die Indizien: So sind die meisten Patientinnen, die als Hysterikerinnen in die Geschichte der Psychoanalyse eingingen, Dora, Anna O., Emmy usw., weiblich. Lange wurde die Ursache der Hysterie selbst in der Weiblichkeit selbst gesehen: Der Begriff Hysterie leitet sich vom griechischen Wort für Gebärmutter ab, Hysterie galt als eine Krankheit, die durch eine wandernde Gebärmutter verursacht wurde. Lacan betont jedoch wie schon Charcot und Freud, dass die Hysterie »kein weibliches Privileg« sei: Eben das besagt der Diskurs der Hysterika, geschickt [industrieuse] wie sie ist. Indem wir geschickt [industrieuse: weibliche Form des Adjektivs; MD] sagen, machen wir das Hysterische zur Frau, es ist aber nicht ihr Privileg. Es lassen sich viele Männer analysieren, die, allein aufgrund dieser Tatsache, wirklich gezwungen sind, ebenfalls durch den hysterischen Diskurs hindurchzugehen, weil es das 27

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So ein Gemeinplatz, dass verschiedene Artikel zur Hysterie diese Feststellung an den Anfang stellen: »Its well known that Freud inaugurated an entirely new mode of human relations from listening to hysterics. The birth of psychoanalysis depends on his encounter with hysteria.« (Palomera 1991). Oder: »It is common knowledge that Freud started as the pupil of his hysterical patients.« (Verhaeghe 1994: 1). Obwohl sich der Diskurs des Herren als ein neurotischer Diskurs interpretieren lässt.

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

Gesetz ist, die Spielregel. Es geht darum, welchen Nutzen man daraus zieht hinsichtlich dessen, was mit dem Verhältnis zwischen Mann und Frau ist. (XVII: 42.) Lacan betont hier, dass durchaus auch Männer im hysterischen Diskurs sind, spricht jedoch im Folgenden nur noch in der weiblichen Form von der Hysterika.29 Die Hysterie ist also nicht gleichbedeutend mit Weiblichkeit, dennoch gibt es eine strukturelle Gemeinsamkeit, die beispielsweise Bruce Fink zu der Behauptung bringt, dass dem männlichen Verhältnis zur Zwangsneurose das weibliche zur Hysterie entspricht (Fink 2011: 145ff).30 Im Folgenden werde ich die strukturelle Gemeinsamkeit von Weiblichkeit und Hysterie als ein spezifisches Verhältnis zum Herrensignifikanten analysieren: Es ist das Festhalten am Herrensignifikanten als Positivität, wobei diese jedoch im Anderen verortet wird. Vereinfacht könnte man diese Struktur als Penisneid formulieren: Die Hysterika hält am Phantasma des Phallus fest, jedoch fühlt sie sich diesem gegenüber benachteiligt. Mit Lacans struktureller Lesart lässt sich die Hysterie allgemeiner als eine Position verstehen, die sich aus der Gleichzeitigkeit von Einschluss und Ausschluss in ein Universales ergibt – ein Universales, das durch den (phallischen) Herrensignifikanten entsteht. Diese strukturelle Deutung ermöglicht eine politische Lesart der Hysterie: Der hysterische Diskurs ist in Alenka Zupančičs Worten ein »Diskurs der Ungerechtigkeit« (Zupančič 2006), der sich an die Autorität richtet, sie herausfordert, aber zugleich idealisiert.31 In Seminar XVII findet Lacan für den Diskurs der Hysterika folgendes Mathem:

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Was ist aber hier mit Männlichkeit gemeint? Meine Deutung der Hysterie als weibliche Struktur würde dann diese Männlichkeit als imaginäre Identifikation im Sinne von Gender verstehen, die von dem Geschlecht als Stellung zum Symbolischen zu unterscheiden ist. Auf die Notwendigkeit dieser Unterscheidung weist beispielsweise Barbara Rendtorff hin und betont, dass soziales Geschlecht (Gender, imaginäre Identifizierung) nicht dem Begehren als Stellung zur Sprache (Desire, symbolische Identifizierung) entsprechen muss (vgl. Rendtorff 2008: 136). Entsprechend geht Fink davon aus, dass die Formeln der Sexuierung nur für »normalneurotische« Subjekte Gültigkeit besitzen. In Lacans Systematik sind (Zwangs-)Neurose und Hysterie zwei Unterkategorien der Neurose, der Pathologie, die die Struktur einer Frage hat, nämlich die Frage: Was bin ich (für den Anderen)? Der Zwangsneurotiker formuliert diese Frage um in: Bin ich tot oder lebendig? Stellt sich diese Frage permanent, muss die Lebendigkeit durch Handlungsmacht bewiesen werden. Der Zwangsneurotiker ist also damit beschäftigt, Kontrolle auszuüben und Abhängigkeit zurückzuweisen. Damit entspricht die Neurose der oben beschriebenen normalneurotischen männlichen Struktur (vgl. auch Fink 2009: 166ff). Dieses Verhältnis zur Autorität ist treibendes Moment im Diskurs der Philosophie.

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Abb. 13: Diskurs der Hysterika (XVII: 95)

Lacan selbst nutzt diesen Diskurs sowohl um ein Moment im Protestieren der Studierenden zu beschreiben, die an eine Autorität gewandten Forderungen des unterdrückten Subjekts, als auch um einen wichtigen Aspekt wissenschaftlichen Arbeitens zu erklären, die Entstehung neuen Wissens aus der Infragestellung bisheriger Theorien. In beiden Kontexten ist das Mathem produktiv genug, um in einigen aktuellen Arbeiten aufgegriffen zu werden.32 Eine Interpretation der Formeln der Sexuierung mit dem hysterischen Diskurs impliziert also einen situativen Begriff von Geschlecht: Geschlecht bedeutet die Einnahme einer spezifischen Position zum Anderen, eine Stellung zur Sprache, die in gewissem Maße, wie etwa der Protest der Studierenden, kontextabhängig ist. Zunächst scheint der hysterische Diskurs nichts mit Weiblichkeit zu tun zu haben: Im Mathem nimmt das barrierte Subjekt den Platz des Agens oben links ein, das ich doch in den vorangehenden Kapiteln als dezidiert männliche Figur analysiert habe. Der Term $ ist jedoch bei Lacan, so wie alle vier Terme der Diskursmatheme, zumindest zweideutig. Zum einen steht das $ für das Subjekt als entfremdetes, von der Sprache durchgestrichenes, also für das Produkt der symbolischen Kastration. Zum anderen steht das $ jedoch für das, was ein Signifikant für den anderen repräsentiert, also für jenen Funken, der im Repräsentationsvorgang als Überschuss entsteht. Im Diskurs des Herren verbinden sich noch beide Bedeutungen: $ ist sowohl das, was erst als Distanz hinter S1 entsteht und gleichzeitig verschwindet. Im Diskurs der Universität, den ich als Diskurs der Liebe beschrieben habe, tritt vor allem die zweite Bedeutung hervor: $ wird im Zusammenhang mit der Liebe von Lacan auch als Seele bezeichnet, die in der Liebe erst als Fiktion eines Seins jenseits der sozialen Ordnung, jenseits des Signifikanten und schließlich auch »horsexe«, jenseits (hors: außerhalb) des Geschlechts, entsteht: »Das Horsexe, das ist der Mensch, auf den die Seele spekulierte« (XX: 92). Naiv historisch könnte man formulieren, dass die Idee einer menschlichen Seele, die jenseits der konkreten gesellschaftlichen Stellung und jenseits des Geschlechts existiert, erst möglich wird, als der Diskurs des Herren an einen Punkt der Unmöglichkeit gerät und der Diskurs der Universität entsteht. Das barrierte Subjekt, die Idee einer

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Vgl. beispielsweise Žižeks Hegelbuch (Žižek 1992) oder Copjecs Analyse der Studierendenproteste (Copjec 2006).

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

irreduziblen Seele, die im Diskurs des Herren noch hinter diesem verschwindet, wird erst im Diskurs der Universität als Idee mit universalem Geltungsanspruch produziert. Die Hysterika nimmt die Idee einer ungeschlechtlichen Seele ernst und fordert ein, dass sie auch ihr zugestanden wird. Sie tritt auf als Mensch mit Anspruch auf Einzigartigkeit, auf eine Individualität, die einen spezifischen Platz in der Welt verdient. Dieser Anspruch macht die Beziehung zu ihrem Gegenüber aus, eine Beziehung, die die obere Hälfte des Mathems beschreibt. In ihrem Partner begegnet die Hysterika nämlich demjenigen, der den Schlüssel zur Verteilung von Anerkennung in der Hand hat: An der Stelle des Adressaten, dessen, »was er [der Diskurs; MD] beherrschen zu wollen eingesteht« (XVII: 76), steht im Diskursmathem der Herrensignifikant. Die Hysterika, die sich in ihrem Mann »den Phallus hält«, sucht sich einen Partner, dem sie den Phallus unterstellt oder unterstellen kann: In ihrem Partner sucht sie den Herrensignifikanten, den Herren, der weiß, was er will und es auch bekommt. Er ist der Ausnahmemann, der einzige nicht kastrierte. Die Hysterika ist also auf der Suche nach einem echten Mann, einem Träger des Phallus, der aus der Menge der Schwächlinge und Idioten heraussticht: »Ich will einen Mann, der weiß, wie man Liebe macht« (XVII: 29), reformuliert Lacan ihr Anliegen. Schon in Seminar IV hatte Lacan die Hysterie mithilfe einer Frage beschrieben, nämlich der Frage: »Was ist eine Frau?« (IV: 166). Ich würde diese Frage angesichts der Formeln der Sexuierung und ihrer Zentrierung auf die phallische Funktion folgendermaßen reformulieren: wie kann man als Frau genießen, wenn das Genießen doch dem Mann vorbehalten scheint? Diese Frage versucht die Hysterikerin in ihrer Auseinandersetzung mit ihrem Gegenüber in Griff zu bekommen. Als Teil eines symbolischen Universums, in dem ein Signifikant den Zugang zum Genießen vermittelt, nämlich der Namen-des-Vaters oder Herrensignifikant, hat sie sich diesen zu eigen gemacht: Sie hat ihn akzeptiert als den Signifikanten, der den Zugang zum vollständigen Genießen verkörpert, jedoch hat sie ihn sich nicht, wie der (zwangsneurotische) Mann, auch imaginär angeeignet: Sie glaubt nicht, dass sie den Urvater beerben wird oder beerbt hat, sie hält sich nicht für die mythische Ausnahme, sondern sucht diese Ausnahme in ihrem Gegenüber. Ihr Gegenüber zeichnet sich dadurch aus, ein »ganzer Mann« zu sein: er ist ein phallischer, ein »echter« Mann.33 Die Bezogenheit der Hysterika auf ein phallisches Gegenüber, eine Art »Übervater«, den einzigen Ausnahmemann, der tatsächlich den Phallus besitzt und ihn ihr so möglicherweise geben kann, entspricht dem, was Freud als das aus dem weiblichen Ödipus entstandenen Streben des Mädchens beschreibt: Das Mädchen, von

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Dieser »echte Mann« lässt sich überall dort erkennen, wo sich das hysterische Subjekt angesichts seines Gegenübers benachteiligt fühlt, muss also nicht zwangsläufig die Insignien der Männlichkeit tragen.

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der Mutter schlecht ausgestattet, wendet sich an den Vater, den sie als Phallusbesitzer ausmacht und sich so von ihm eine Entschädigung erhofft, wird aber auch von diesem zurückgewiesen und enttäuscht. In ihren Partnern, nach dem Anlehnungstypus gewählt, wird sie den besseren Vater suchen, der tatsächlich in der Lage ist, das zu tun, was der Vater nicht wollte oder konnte (vgl. Vorlesung zur Weiblichkeit, GW 15: 142ff.). Die Beziehung der Hysterika zu ihrem Gegenüber entspricht dieser weiblich ödipalen Konstellation: Die Hysterika verspricht sich von dem ÜbervaterGegenüber die Kompensation ihrer schlechteren Stellung bezüglich des Genießens. Da aber das, was die Hysterika will, unmöglich ist, verliert das Gegenüber zwangsläufig immer wieder seine magische Potenz: Dass das Gegenüber nicht in der Lage ist, die Hysterika zu befrieden und ihr den Phallus zu geben, macht es der Hochstapelei verdächtig. Die Anfrage der Hysterika ist deshalb immer eine Problematisierung der Instanz des Herren, die so in die Notwendigkeit gerät, sich zu rechtfertigen. In Bezug auf die rebellierenden Studierenden von 1968 gebraucht Lacan das Mathem des hysterischen Diskurses deshalb, um zu zeigen, dass die Rebellion, die Infragestellung der Autorität, von der Sehnsucht nach einem besseren Herren getrieben ist. Die Suche nach einer echten Autorität, die aus der Masse der Hochstapler heraussticht, ist – wie Lacan zeigt – problematisch, denn hinter ausnahmslos jedem Herrensignifikanten verbirgt sich ein Mangel-Subjekt. Wer eine Autorität ohne Spaltung sucht, betritt gefährliche Pfade: Das, worauf Sie als Revolutionäre aus sind, das ist ein Herr. Sie werden Ihn bekommen. (XVII: 33.) Den Protest interpretiert Lacan als einen Ruf nach einem besseren Herren. Damit macht er den Protest mitverantwortlich für das Entstehen der »besseren«, postödipalen Herrschaft, einer Herrschaft, die reibungsloser und effektiver arbeitet und sich nicht als Herrschaft zu erkennen gibt. Mit dem Diskurs der Hysterika lässt sich zeigen, wie die revolutionäre Bewegung zu dem werden kann, was Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse als künstliche Masse beschrieb, nämlich die Situation, in der die hysterischen Subjekte auf einen narzisstischen Führer treffen, der sich dadurch auszeichnet, dass er nicht gespalten ist und sich deshalb von den Angriffen der Hysterika nicht problematisieren lässt. Der narzisstische Führer ist keine traditionelle Autorität, die zur Mäßigung aufruft und damit die Spaltung zwischen Verbot und Übertritt verkörpert. Mit dem narzisstischen Führer wird die untere Seite des hysterischen Diskurses verleugnet: Sowohl aufseiten der Autorität, die scheinbar nicht legitimierungsbedürftig ist, als auch aufseiten des Subjekts, das den unauflösbaren Rest verleugnen muss. Im so kurzgeschlossenen hysterischen Diskurs scheint die Autorität jedem Subjekt unendliches Genießen zu versprechen. In diesem Sinne bildet der hysterische Diskurs ein Gegenstück zum Diskurs der Universität, der das Imaginäre

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mobilisiert und das Soziale als unendliche Verweisungsstruktur von Spiegelbildern organisiert. In der politischen Arena ist für den hysterischen »Diskurs der Ungerechtigkeit« erstens die Identifikation mit dem Opfer charakteristisch, mit dem, was durch die ungerechte Herrschaft unterdrückt wird, und zweitens die empört vorgetragene Forderung nach Gerechtigkeit, in der Lacan die Forderung erkennt, besser beherrscht zu werden. Die Forderung nach Gerechtigkeit impliziert einen hohen Anspruch, in Lacans Begriffen: etwas Imaginäres: Beklagt wird nämlich die Lücke zwischen der ungerechten Wirklichkeit und einem edlem Ideal, das so vollkommen ist, dass es in der Lage ist, die Differenz von Herren und Knecht, von Unterwerfendem und Unterworfenen zu legitimieren. Wenn also der Autorität ihre Verfehlungen und Unvollkommenheiten vorgeworfen werden, zeigt sich darin der Glaube an eine legitime Herrschaft und die Sehnsucht nach einem echten Herren, der seine Stellung verdient, weil er jedem einzelnen, jeder einzelnen gerecht wird – auch gegen deren Willen. Der »echte/gute« Herr ist nach Lacan also eine hysterische Fiktion, deshalb macht er den hysterischen Diskurs verantwortlich für den Übergang vom Ödipalen zum Postödipalen: Während die Herrschaft des ödipalen Herren auf einer irrationalen Geste der Gewalt basierte, begründet sich, wie ich im dritten Kapitel gezeigt habe, die postödipale Herrschaft in der Vernunft, dem Allgemeinwohl und letztlich im eigenen Interesse des Subjekts. Man könnte sagen, der hysterische Protest habe dem Herren beigebracht, dass die leere Geste der Gewalt, die den ödipalen Herren zum Herren machte, nicht mehr ausreicht. Die neue postödipale Herrschaft mit ihrer Aufforderung zu genießen zeichnet sich gerade durch ihre Begründetheit aus: sie legitimiert sich durch das Wohl der Beherrschten. Sie gibt sich selbstlos, indem sie sich in den Dienst des Genießens des Subjekts stellt – also sich durch das legitimiert, was das ihm eigenste Interesse ist. Die Hysterika, der hysterische Diskurs, hat also eine besondere Verantwortung für die Behauptung des Herrensignifikanten. »L’hystérique fait l’homme« lautet Lacans bekannte Formulierung (dt. XX: 92), sie macht den Mann, produziert also erst dessen Illusion, die Ausnahme zu sein und stützt damit sein Phantasma.34 Das männliche, »normal-neurotische« Phantasma ist demnach abhängig von einem weiblichen, »normal-hysterischen« Gegenüber, denn dessen Glaube an den 34

Die hysterische Frau ist also die Voraussetzung des ödipalen Subjekts. Entsprechend betont Lacan die Bedeutung der Sphinx für Ödipus: »Und die Chimäre gibt dem Mann Ödipus, der vielleicht schon einen Komplex hatte, sicher aber nicht den, dem er seinen Namen geben sollte, ein Rätsel auf. Er antwortet ihr in einer bestimmten Weise, und genau so wird er Ödipus.« (XVII: 44) Die Sphinx formuliert das Rätsel, das Ödipus mit seiner Wahrheit konfrontiert, Ödipus jedoch deutet diese Wahrheit als universale: »Als Säugling hat er auf allen vieren angefangen. Geht er auf zwei Füßen, nimmt er einen dritten wieder dazu, zugleich flitzt er wie eine Kugel geradenwegs in den Bauch seiner Mutter. Ebendas nennt man in der Tat – und zu Recht – den Ödipuskomplex.« (Ebd.).

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Phallus und das Beklagen, diesen nicht zu haben, stützt die männliche Illusion, sich in seinem Besitz zu fühlen: »Das Begehren der Frau hier tritt ihn [den Phallus; MD] an das seinige ab, indem sie ihm zeigt, was sie nicht hat« (Sch II: 129). Weil die Hysterika ihr Nicht-Haben behauptet und auf die Differenz zu ihrem Gegenüber besteht, produziert sie damit die Positivität des Herrensignifikanten; sie gibt dem Mann durch ihre Unterstellung das, was sie nicht hat, nämlich den Phallus.35 Wenn Lacan formuliert, dass die Hysterika den Mann macht, spielt er mit der Doppeldeutigkeit von »den Mann machen«. In der deutschen Übersetzung ist die zweite Deutung des Satzes besonders herausgestrichen. Dort ist der Satz folgendermaßen formuliert: Es macht die Hysterikerin aus »den Mann zu spielen, wie ich gesagt habe, und aus diesem Grund hommosexuell oder horsexe zu sein« (XX: 92; Hervorhebung MD). Den Mann zu machen heißt auch, den Mann zu geben, seine Rolle einzunehmen, ›Männchen‹ zu machen. Die Hysterika produziert also nicht nur das männliche Phantasma, sie nimmt auch in Identifikation daran teil, sie macht Männchen. Mit diesem Aspekt – den Mann zu spielen – beschreibt Lacan die hysterische Identifikation mit dem männlichen Verhältnis zum Objekt: Die Hysterika nähert sich ihrem Objekt als Mann. Die Beziehung zu ihrem Gegenüber nennt Lacan »hommosexuell«: Sie richtet sich auf einen Mann, aber um durch ihn wie ein Mann zu begehren. Ihr Begehren ist in doppelter Hinsicht das Begehren des Anderen: Sie begehrt den anderen, um durch ihn hindurch zu begehren, in der selben Art und Weise; sie eignet sich sein Begehren an. Die Hysterika identifiziert sich mit dem Gegenüber, um aus seiner Position zu begehren. Entsprechend richtet sich ihr Begehren auf das, was dieses Gegenüber zu begehren scheint, was die berühmten hysterischen Dreiecke – beispielsweise im Fall der Metzgersfrau oder im Fall Dora (vgl. XVII: 80)36 – verursacht: Die Hysterika begehrt durch ihren männlichen Partner dessen Geliebte.37 Doch Lacan arbeitet heraus, dass es in dieser hysterischen Identifikation mit dem Begehren in Beziehung zu einem Objekt eigentlich darum geht, das Begehren selbst zu fassen zu bekommen. Denn das Begehren der Hysterikerin ist das Begehren des Anderen, weil sie dessen Begehren selbst begehrt. Oder anders formuliert: Ihre Befriedigung erhält die Hysterika daraus, dass sie den Herrn begehren macht. Ihr Begehren ist es also, ihr Gegenüber begehren zu lassen.

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Dass sie ihm gibt, was sie nicht hat, definiert die Beziehung der Hysterika zu ihrem Gegenüber als eine der Liebe. Den Fall Dora stellt Freud in »Bruchstück einer Hysterieanalyse« dar (GW 5 161–286), die »schöne Metzgersfrau«, auf die sich Lacan immer wieder bezieht, taucht bei Freud als witzige Frau eines Großfleischhauers in der Traumdeutung auf (GW 2/3: 152ff.). »Dora zum Beispiel begehrt mittels Herrn K., aber nicht ihn liebt sie, sondern Frau K. Mittels diesem begehrt sie und richtet sich auf diejenige aus, die sie liebt.« (VIII: 445) Dora eignet sich also das Begehren von Herrn K. an und damit auch dessen Objekt a.

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Im Mathem des Diskurses der Hysterika steht unter dem Subjekt, das den Herren herausfordert und um sein Genießen beneidet, am Platz der Wahrheit das Objekt a. Denn tatsächlich erkennt die Hysterika richtig, dass das vollständige Genießen des scheinbar überlegenen Herren von etwas abhängig ist, was sich in ihrem Besitz befindet. Sein Genießen ist nicht selbstbezüglich und völlig unabhängig, sondern bedarf eines verfügbaren Objektes. Die Spaltung der Hysterika ist also eine Spaltung zwischen ihrem Wunsch, (scheinbar) geschlechtloser Mensch, also Subjekt, zu sein, wie ein solches zu begehren und ihrer Wahrheit, nämlich selbst die Objektvoraussetzung des absoluten Genießens zu sein, das sie beneidet. Die Idee einer geschlechtslosen oder besser vorgeschlechtlichen Seele basiert auf dem Ausschluss der Frauen: Damit die Seele zu sein finde, unterscheidet man sie von ihr, sie, die Frau, und das vom Ursprung her. Man nennt sie Frau, man diffâmiert sie. (XX: 92.) Zwar ist die unteilbare und einzigartige Seele scheinbar geschlechtslos, so dass es der Hysterika möglich ist, sich mit ihr zu identifizieren, gleichzeitig sind die Voraussetzungen dieser Seele, ihre Gewordenheit und Abhängigkeit von Sorge und Pflege unsichtbar. Als Geschlechtswesen legt die Hysterika den Finger in die Wunde der sexuellen Differenz, in die verleugneten Voraussetzungen des männlichen Subjekts. Entsprechend hat auch im Politischen der hysterische Diskurs eine wichtige Funktion: Indem er den Herrensignifikanten in Frage stellt, weist er auf dessen ausgeschlossene Voraussetzungen hin, er besteht auf den nicht aufgehenden Rest und insistiert auf dessen Bedeutung. Jedoch führt der Protest der Hysterika, darauf besteht Lacan gegenüber den protestierenden Studierenden hartnäckig, keinesfalls dazu, dass das Ausgeschlossene seinen Platz im Symbolischen erhält. Die Sehnsucht der Hysterika, mit der sie sich an ihr Gegenüber wendet, besteht darin, diesen Widerspruch, den Widerspruch zwischen dem, was ihr versprochen wurde, und dem, was sie ist, aufzulösen: Weil sie zugleich Subjekt und Objekt ist – ein Objekt mit Seele, könnte man sagen –, will sie dem Herren zeigen, dass er auf ihre Erwiderung angewiesen ist; sie will zeigen, dass sein phallisches Genießen eines Gegenübers bedarf. Den Herren will sie aus seiner Selbstzufriedenheit herausreißen und auf ihre Bedeutung an seinem Genießen hinweisen. Sie will keine passive Ressource des phallischen Genießens sein, kein ideales Objekt, das sich widerstandslos konsumieren lässt. Diese Entscheidung ist jedoch keine, die die Hysterika bewusst treffen kann: Ihre »Wahrheit« ist ihre Beziehung zu dem Realen und damit zu ihrem eigenen Genießen – wenn sie diese Beziehung verleugnet oder ignoriert, kehrt dieses wieder in ihrem Körper als Genießen des hysterischen Symptoms. Um den Herren für ihr Genießen zu interessieren, muss sie Ursache seines Begehrens werden: »Ihre Wahrheit, das ist, daß sie das Objekt a sein muß, um begehrt zu werden.« (XVII: 189), formuliert Lacan. Sie darf sich nicht damit begnü-

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gen, Objekt des Genießens des Herren zu sein, seine Wünsche zu erfüllen, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Um ihn zum Begehrenden zu machen, muss sie für Unbefriedigung sorgen. Zupančič nennt die Hysterika deshalb treffend »guardian of the negative, the incommensurable and the impossible« (Zupančič 2006: 167). Diese Definition der Hysterie als »unbefriedigtes Begehren« (VIII: 445) führt Lacan in Seminar VIII aus: Denn es gibt eine Sache, die sie ihrem Begehren vorzieht – sie zieht es vor, daß ihr Begehren in diesem unbefriedigt sei, dass der Andere den Schlüssel zu ihrem Mysterium wahrt. (VIII: 306.) So ist es beispielsweise in dem von Lacan immer wieder aufgegriffenen Fallbeispiel der Frau des Großfleischhauers, der »schönen Metzgersfrau« (XVII: 80), wichtig, dass ihr Wunsch nach Kaviar unbefriedigt bleibt; sie neckt und schilt ihren Mann dafür, wenn er ihr den gewünschten Kaviar besorgt. Unbefriedigt bleibt sie selbst, gleichzeitig ist ihr Mann unbefriedigt in seinem Wunsch, ihre Wünsche zu befriedigen. Mit ihrer Zurückweisung seines Bemühens produziert sie eine Rätselhaftigkeit und Uneindeutigkeit in Bezug auf ihr eigenes Genießen, das ihr Gegenüber zur Erforschung zwingt: Würde sie den Kaviar als Erfüllung ihrer Wünsche akzeptieren, wäre sie auf diesen Wunsch festgelegt. Indem sie den gewünschten Kaviar zurückweist, muss ihr Gegenüber weiter forschen, worin ihr Genießen besteht. Ihr Gegenüber muss also zum Erforscher ihres mysteriösen Genießens werden. Dadurch hat die Hysterika ein besonderes Verhältnis zum Wissen, der sich im oben zitierten Satz zeigt: »Ich will einen Mann, der weiß, wie man Liebe macht« (XVII: 29). Der Hysterika geht es um ein Wissen; von diesem Wissen kommt ihr Genießen: Der Mann, der weiß, wie man Liebe macht, ist derjenige, der um ihr Genießen weiß, ihr Geheimnis kennt. Diese Beziehung zum Wissen zeigt sich darin, dass der Diskurs der Hysterika der einzige ist, der Wissen produziert. Die Hysterika ist dafür verantwortlich, dass der Herr, der scheinbar alles weiß und kann, auf den Punkt hingewiesen wird, wo seine Erklärungen versagen.38 Wir sehen also die Hysterika, wie sie kann, einen Mann fabrizieren – einen Mann, der beseelt wäre vom Begehren, zu wissen. (XVII: 42.) Die Metzgersfrau gibt ihrem Mann Rätsel auf. Sie spielt mit Masken, die ihn dazu bringen, sich für das zu interessieren, was sich dahinter verbergen könnte. Indem sie mehrdeutig bleibt, Anspielungen und unvermittelte Rückzieher macht, produziert sie die Illusion eines verborgenen Geheimnisses, das zu ergründen für ihr

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Genau dieses Moment – der Hinweis auf den blinden Fleck einer Theorie – ist das produktive Moment der Wissenschaft. Den Diskurs der Hysterika identifiziert Lacan mit dem philosophischen Diskurs, der »den Herrn mit dem Begehren zu wissen beseelt hat«, indem er ihn auf seinen Mangel hinweist und ihn so dazu treibt, den Mangel mit Signifikanten zu stopfen.

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Gegenüber zur Aufgabe wird. Letztlich ist die Hysterika damit verantwortlich für das, was ich im zweiten Kapitel als Liebe beschrieben habe: Sie bringt ihr Gegenüber dazu, ihr Agalma zu unterstellen, an ein Verborgenes zu glauben, für dessen Erforschung man sich ins Zeug legen muss. Damit macht sie sich zum kostbaren Objekt, zum Versprechen auf das Reale: Was die Hysterika im letzten Ende will, das ist, daß man wisse, das ist, daß die Sprache auf der Weitläufigkeit dessen ausgleitet, was sie, als Frau, auf das Genießen hin öffnen kann. Das aber ist der Hysterika nicht wichtig. Was ihr wichtig ist, das ist, daß der andere, der sich der Mann nennt, wisse, zu welch kostbarem Objekt sie in diesem Diskurskontext wird. (XVII: 43.) Die Hysterika wendet sich an den, dem sie den Phallus unterstellt, und versucht zur Ursache seines Begehrens zu werden. So verkörpert sie das Objekt a, das aus dem Begehrenden einen Liebenden macht. Statt sie als ein Objekt seines Begehrens zu nehmen, soll ihr Gegenüber in ihr das eine Objekt sehen, an das er seine Liebesschwüre richtet. Mit dieser Definition der Hysterie lässt sich Sokrates, wie er im zweiten Kapitel beschrieben wurde, als Hysteriker interpretieren: Sokrates macht sein Begehren rätselhaft, er zwingt Alkibiades zur Erforschung seiner Wahrheit und macht aus dessen Begehren Liebe. Zwischen der Wahrheit des Subjekts und der Produktion im Gegenüber besteht in Lacans Struktur der Diskursmatheme stets ein Unvermögen, die sich als NichtBeziehung verstehen lässt: Das Produkt des Diskurses entspricht nie seinem Anlass und kommt nie mit diesem zu Deckung. Im Diskurs der Hysterika besteht diese Nichtbeziehung zwischen dem Wissen und dem Objekt a. Das Sprechen, zu dem die Hysterika ihr Gegenüber verführt, ist niemals in der Lage, ihre eigene Wahrheit einzufangen, nämlich das konstitutive Außen, der nicht assimilierbare Rest, zu sein: Anteil an dem Genießen zu haben, das das Subjekt bedroht und das aus dem Symbolischen ausgeschlossen sein muss. Die Hysterika bezieht sich auf den Phallus, aber das tut sie, weil etwas in ihr über den Phallus, die symbolische Kastration hinausweist. Ihr Genießen findet sie darin, das Begehren ihres Gegenübers anzuheizen, sie genießt es, den scheinbar allmächtigen Herren zu kontrollieren und unsicher aktionistisch werden zu lassen. Sie genießt seine Versuche, sie zu ergründen und Wissen über sie zu fabrizieren. Jedoch kann sie sich letztlich von diesem Wissen nicht gemeint fühlen, denn was ihr Gegenüber durch die Hysterika provoziert produziert, wird ihr nicht gerecht, vielmehr verstrickt es sich immer weiter in das den Herrensignifikanten wiederholende Wissen. Zwischen dem Realen des Objekts a auf Seiten der Hysterika und dem produzierten Wissen auf Seiten des Gegenübers besteht eine unüberbrückbare Differenz, die Lacan als »Unvermögen« bezeichnet: Das Wissen kann das Objekt a nicht erreichen, es ist schlussendlich immer unzureichend.

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Wie der Diskurs des Herren als auch den Diskurs der Universität impliziert der Diskurs der Hysterika ein spezifisches Selbstverhältnis. Auch die Hysterika selbst hat keinen Zugang zu dem, was sie zur Ressource des Genießens des Anderen macht, ihrem Sexuellen, ihrem Genießen. Hysterikerinnen verleugnen ihr Sexuelles so konsequent, dass es sich nur noch als Krankheit zeigen kann, in den hysterischen Symptomen. Ohnmächte, Lähmungen und andere körperliche Symptome verschleiern das Sexuelle, noch ehe es sich zeigt. Sie treten auf in Situationen, in denen die Gefahr besteht, dass Erregung entsteht, sich körperliche Lust bemerkbar macht. Freuds hysterische Patientinnen verwandeln ihre sexuelle Erregung in körperliche Leiden. Entsprechend definiert Freud die Hysterie durch den Zusammenhang von sexueller Erregung und Unlust: Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterica halten, ob sie nun somatische Symptome zu erzeugen fähig sei oder nicht. (Bruchstück einer Hysterie-Analyse [1905]; GW 15: 187.) Das partielle, sexuelle Genießen ist für die Hysterika unerträglich. Mit Lacans Mathem lässt sich diese Unerträglichkeit erklären: Die Hysterika hält die Teilung des Genießens nicht aus, lehnt es ab, denn sie will das ganze, phantasmatische und unkastrierte Genießen, das sie dem Herren unterstellt und von ihm zu erhalten hofft. Weil dessen Genießen aber von ihrem eigenen partikularen Genießen abhängt, gerät sie in eine paradoxe Situation: Sie ist dem partikularen Genießen, der sexuellen Erregung, gegenüber ambivalent, sie will es loswerden, zugleich muss sie es sich jedoch aneignen, um den Herren damit zu ködern. Besonders angesichts eines medizinischen Gegenübers, das die Rolle des Herren annimmt, machen deshalb somatische Symptome Sinn. Somatisierungen verschwinden, wenn der medizinische Herr vom Thron gestoßen wurde, und weichen beispielsweise Vorwürfen, die an die gleiche Stelle treten: Sie sind an den Herren gerichtete Unlustäußerungen, die an die Stelle ihres abgewehrten sexuellen Genießens treten und dann selbst mit Genießen aufgeladen sind. Die Hysterika hat ein ambivalentes Verhältnis zum Herren: Sie idealisiert und problematisiert ihn zugleich. In ihrem Gegenüber findet sie den Phallus, es scheint zu haben, was ihr verwehrt ist. Als Mächtiges ist es vermeintlich verantwortlich für ihre Ohnmacht. Die Hysterika stößt den Herren auf diese ungerechte Ungleichheit, die durchaus ein reales Gewaltverhältnis bedeuten kann. Jedoch ist sie, ohne es zu wissen, am Phallusbesitz ihres Gegenübers beteiligt: Nur weil sie sich als ohnmächtiges Anderes wahrnimmt und Forderungen an den allmächtigen Herren stellt, gibt es die durch den Phallus signifizierte Allmacht des Herren. Allmächtig wird das möglicherweise zuvor schon mächtige Gegenüber erst durch die Hysterika. Die Hysterika als Handelnde versucht dieses scheinbar übermächtige Wesen in den Griff zu bekommen und ihrerseits zu beherrschen, indem sie ihre eigene Be-

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deutung für es betont. Aus dem Begehrenden versucht sie einen sie Liebenden zu machen, einen der sie zu ergründen versucht. Dafür muss sie zu Objekt a werden, zur negativen Ursache des Begehrens. Als Objekt a sucht sie die Nicht-Befriedigung, sie wird zur »Hüterin des Negativen«. Das Negative ist aber genau das, was über den Phallus hinausweist. Zwar besteht die Hysterika auf diese Negativität, scheitert jedoch daran, sie als Genießen wirksam werden zu lassen und bleibt so an das phallische Phantasma gebunden. Über das Phantasma hinaus geht nicht der hysterische Protest, sondern das in den Formeln der Sexuierung angedeutete zweite weibliche Genießen.

4.4 Jenseits des Phallus: Das Genießen des Triebs und S(Ⱥ) In den Formeln der Sexuierung weist Lacan auf ein weibliches Genießen hin, das der symbolischen Kastration entgeht: Wie in Kapitel 4.2. dargestellt, gibt es in der weiblichen Struktur etwas, das sich entzieht – etwas, das Lacan durch die zwei sich widersprechenden Sätze der oberen Hälfte der Graphik darzustellen versucht hat. Dieses Genießen, das der symbolischen Kastration entgeht, werde ich im Folgenden als Relikt des polymorph-perversen Triebs definieren: Der Trieb, der unvereinigt und azephal, also kopflos, subjektlos, ist, geht der symbolischen Kastration nicht nur voraus, sondern ist ihre Voraussetzung. Schließlich werde ich dieses nicht phallisches Genießen mit dem zweiten Pfeil in der unteren Hälfte der Graphik in Verbindung bringen: Der Beziehung der Frau zu S(Ⱥ). Die symbolische Kastration definiert Lacan als »Signifizierung der Abwesenheit des Phallus«. Die Abwesenheit des Phallus, also des Ideals eines unbeschränkten Genießens, wird in der symbolischen Kastration dem Subjekt signifiziert bzw. genauer: Das Subjekt entsteht dort, wo sich der Phallus als Abwesenheit einträgt. Das Subjekt ist das, was aus der Identifikation mit dem »einzigen Zug« als Überschuss oder Mangel hinter dem Signifikanten entsteht (vgl. Kapitel 2.2). Entsprechend kann Lacan in Seminar XVII die symbolische Kastration als den »Ursprung des Herrensignifikanten« (XVII: 122) bezeichnen und damit als Einsetzung der ödipalen Struktur des Subjekts. Die symbolische Kastration bedeutet ein Verzicht auf Genießen – sie ist die Anerkennung der Abwesenheit des Phallus als imaginärem –, jedoch wird dabei dieses verlorene Genießen als phallisches Genießen imaginiert. Das bedeutet, dass die symbolische Kastration das vorsprachliche Genießen nicht nur durchstreicht, sondern ein neues vereinigtes, nämlich phallisches Genießen entstehen lässt. Mit Freud gesprochen könnte man sagen, dass erst die symbolische Kastration die polymorph-perversen Triebregungen unter dem Primat des Genitalen vereinigt; das Verbot produziert das Genießen als zentralisiertes, als genitales. Die symbolische Kastration stellt also her, was sie verbietet, nämlich ein Genießen, ein Genießen als eines, das sich zählen lässt. Wenn es etwas gibt, das

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der symbolischen Kastration entgeht, kann es sich dabei um nichts anderes handeln als die nicht-vereinigten d.h. die partialen Triebe. Sie sind es, die sich im »Jenseits des Lustprinzips« befinden und damit dem Subjekt erlauben, die Grenze zu überschreiten, die der Phallus setzt: Der Weg des Triebs ist die einzige Form, in der dem Subjekt ein Überschreiten in Bezug auf das Lustprinzip gestattet ist. (XI: 192.) Wollen wir genauer verstehen, was unter einem Genießen jenseits des Phallus zu verstehen ist, lohnt es sich also möglicherweise, nach einem Genießen des Triebes zu fragen, nach einem Genießen, das nicht der Zentralisierung durch den Phallus unterworfen ist, sondern in Lacans Worten »azephal« – kopflos – bleibt, gerade weil es dort ist, wo das auf den Signifikanten bezogene Subjekt nicht ist. Dem Triebbegriff widmet sich Lacan gemessen an seiner theoretischen Bedeutsamkeit erst relativ spät, im Seminar XI aus dem Jahr 1964. Er gesteht ihm in diesem zentralen, seine Lehre stark verdichtenden Seminar eine große Bedeutung zu, indem er ihn neben Unbewusstem, Wiederholung und Übertragung als einen der vier Grundbegriffe der Psychoanalyse bezeichnet. Seine Auseinandersetzung mit dem Trieb findet in einer Situation statt, in der er sein Projekt einer linguistisch informierten Rückkehr zu Freud verteidigen muss: Mit dem Seminar XI vollzieht er den endgültigen Bruch mit der IPA, die ihn aus der Liste der Lehranalytiker streichen ließ (vgl. Roudinesco 1996: 451), und begründet diesen, indem er zentrale Thesen seiner Lehre explizit formuliert und gegen die Kritik aus analytischen Reihen zu verteidigt. Darüber hinaus wurde das Seminar erstmals an der École normale supérieure statt im Hospital Saint Anne gehalten. Hier war Lacan mit einem eher wissenschaftlich statt therapeutisch interessierten Publikum konfrontiert, was seinen Versuch erklärt, einerseits seine Psychoanalyse stärker theoretisch zu fundieren und sie andererseits von der Wissenschaft und deren Rationalität abzugrenzen. Ins Zentrum dieser metatheoretischen Überlegungen stellt er die Frage nach dem, was er das Begehren des Analytikers nennt. Dieses Begehren ist es, das die Unterscheidung der Psychoanalyse von der Wissenschaft ausmacht. In diesem Kontext, nämlich einer von dem Begehren des Analytikers ausgehenden Theorie der Psychoanalyse, steht Lacans Auseinandersetzung mit dem Trieb. Lacan weist darauf hin, dass der Freud’sche Begriff des Triebs zu unterscheiden ist vom körperlichen Bedürfnis, etwa dem Hunger oder dem Durst, der sich stillen lässt, aber wiederkehrt. Den Trieb hingegen nennt er mit Freud eine konstante Kraft, die nicht an organische Rhythmen gebunden ist. Die Befriedigung eines Bedürfnisses besteht in der Beendung der Unlust, der Sättigung des Hungers (Ziel) durch die Konsumtion von Nahrung (Objekt). Wenn der Trieb nicht auf ein konkretes mit einer Unlustempfindung verbundenes körperliches Bedürfnis reagiert, stellt sich nun die Frage, wie sich die Befriedigung im Trieb überhaupt denken lässt, worin das Ziel des Triebs besteht. Freud ist, wie Lacan zeigt, in der Frage

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nach dem Ziel des Triebes unbestimmt: Freuds Vorstellung der Sublimierung als einer zielgehemmten Triebbefriedigung impliziert, dass es eine nicht-zielgehemmte Triebbefriedigung gibt. Auf diese Unbestimmtheit weist Lacan deutlich hin, Sublimierung und nicht-zielgehemmte Triebbefriedigung lassen sich nicht klar unterscheiden: Mit anderen Worten – im Augenblick grad vögle ich nicht, ich spreche vor Ihnen, und! ich kann genau die gleiche Befriedigung empfinden, als würde ich vögeln. Das heißt es. Damit ist übrigens die Frage im Raum, ob ich wirklich vögle. (XI: 174.) Lacan stellt hier heraus, dass es unklar ist, woher genau die Befriedigung kommt: Gerade in Momenten, in denen scheinbar keine Befriedigung gesucht wird, findet Befriedigung statt. Und umgekehrt: es ist unklar, ob es eine »reine«, ursprüngliche und nicht-zielgehemmte Befriedigung gibt, eine Befriedigung auf direktem Wege, also ob es einen Unterschied gibt zwischen dem Vögeln und dem Sprechen bezüglich der Erreichung eines Ziels. Aus der Zielhemmung, die die Sublimierung definiert, macht Lacan das Wesen des Triebes: Genießen entsteht, wie er am Beispiel des Symptoms zeigt, dadurch, dass das Ziel verfehlt wird: »Sie befriedigen etwas, was ohne Zweifel dem entgegenläuft, woran sie sich befriedigen könnten« (ebd.). Jedoch handelt es sich bei der Befriedigung des Triebes nicht um eine illusorische Befriedigung, einer Halluzination; die halluzinatorische, imaginäre Befriedigung stellt er vielmehr in den Zusammenhang mit dem Lustprinzip. Beim Trieb ist ein Jenseits des Lustprinzips wirksam, es kommt »etwas Neues ins Spiel« (ebd. 175), das den ökonomischen Rahmen sprengt oder besser: einen Überschuss produziert. Um diese Vorstellung des Triebs zu illustrieren, zeichnet er in Seminar XI folgendes Bild vom Trieb:

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Abb. 14: Kreisbahn des Triebes (XI: 187)

Lacan unterscheidet hier zwei Arten des Ziels mithilfe der nuancierenden englischen Wörter für Ziel goal und aim. Goal steht für das Ziel, das Auslöser für die Bewegung des Triebes ist. Dieses Ziel ist mit dem Körper verbunden, mit der Körperzone, die einen Rand bildet, eine erogene Zone, die sich zum Objekt hin öffnet. Das mit goal bezeichnete Ziel des Triebes ließe sich mit der Erogenität der Körperzone übersetzen, die Ausgangspunkt und zwischenzeitiger Endpunkt der Triebbewegung ist. Die Erogenität ist Anlass des Triebes, nach Objekten zu suchen, gleichzeitig hinterlässt jedes Objekt diese Erogenität des Körpers, da es ihm konstitutiv nicht gelingt, das Loch zu stopfen, die Leerstelle zu verschließen. Goal des Triebes entspricht nach Lacan der Aktion zur Erreichung eines Ziels, »es bezieht sich darauf, dass der Streich sitzt und Sie dadurch ihr Ziel erreicht haben« (XI: 188). Von goal unterscheidet Lacan aim als Ziel im Sinne der Bestimmung des Triebes. Mit aim bezeichnet er den Umweg, den jeder Trieb bezüglich seines goals nimmt. Er stellt diesen Umweg als ein Umkreisen des Objektes dar, das dieses nicht direkt trifft und es beispielsweise konsumiert. Entscheidend ist nun, dass dieser Umweg die eigentliche Bestimmung des Triebs ist und damit das, was im Trieb dem Genießen entspricht. Das Genießen resultiert also nicht nur aus dem Verfehlen des Objekts, vielmehr ist die Kreisbahn um das Objekt eine Bewegung der Konturierung: Sie schneidet das Objekt aus, separiert es, macht es erst zum Objekt und zwar zum:

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Objekt, das tatsächlich nicht mehr ist als das Dasein einer Höhle, einer Leere, die, wie Freud anmerkt mit jedem beliebigen Objekt besetzt werden kann und dessen Einwirkung wir lediglich in Gestalt des verlorenen Objekt klein a kennen. (XI: 188.) Das Objekt des Triebes ist kein konkretes Objekt, sondern eine Leerstelle, die definiert wird durch einen körperlichen Rahmen. So bilden beispielsweise die Lippen von Freuds oralem Trieb einen Rand, eine Kontur, die sichtbar macht, dass etwas fehlt. An diese Leerstelle können verschiedene Objekte treten: Die Brust, der Daumen, der Schnuller, die Zigarette, der andere Mund usw. Jedoch ist kein Objekt geeignet, diese Leerstelle, markiert durch den körperlichen Rand, die Öffnung des Körpers, zu füllen. Es handelt sich also um eine Leerstelle, die der Trieb umkreist oder genauer, die seine Kreisbahn erst erzeugt. Mit dieser Konzeption eines um die Leerstelle kreisenden Triebs führt Lacan eine grundsätzlich neue Figur ein. In seinen früheren Beschäftigungen mit dem Trieb (Seminar V und VI im Zusammenhang mit dem Graph des Begehrens) schreibt Lacan den Trieb noch folgendermaßen: $ D (vgl. Pontialis 2009: 154), was sich ausformulieren lässt als Subjekt im Verhältnis zum Anspruch des Anderen. Der Trieb wird hier noch verstanden als eine Antwort auf eine Forderung des Anderen. Bruce Fink fasst diese Lacan’sche Fassung des Triebes folgendermaßen: I meet the Other’s demand for me to eat with my own demand that the Other demand that I eat. Demand answers demand, demand counters demand in a vicious cycle. (Fink 1997: 39.) Die Definition des Triebes durch den Begriff des Anspruchs beinhaltet eine völlig andere Vorstellung vom Trieb, denn der Anspruch gehört bei Lacan als Forderung dem Imaginären an. Als imaginärer steht der Anspruch zwischen dem realen Bedürfnis und dem symbolischen Begehren. Der Anspruch fordert nicht nur die Befriedigung des Bedürfnisses, sondern die Gegenwart, die ständige Verfügbarkeit des Anderen, von dem diese Befriedigung kommt. Deshalb nennt Lacan den Anspruch Liebesanspruch. Als imaginärer ist der Liebesanspruch absolut und deshalb unerfüllbar. Gerade weil die Befriedigung des Bedürfnisses nicht gleichbedeutend damit ist, dem Anspruch gerecht zu werden, entsteht das Begehren aus der Differenz von Bedürfnis und Anspruch. Wird dem Anderen ein Anspruch unterstellt, reduziert ihn das in seiner Unverfügbarkeit: Der Andere als an das Subjekt gerichtete Anspruch ist verständlich, nicht rätselhaft wie das Begehrens des Anderen, das sich immer auf ein Jenseits des Subjekts richtet. Dem Anspruch des Anderen entspräche die Sprache als normative Ordnung, der zu entsprechen dem Subjekt nie gelingt, die jedoch sein Horizont und Ideal bleibt.

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In Seminar XI versucht Lacan den Trieb radikal von einem Anspruch als Ideal abzugrenzen, indem er Trieb und Liebe einander gegenüberstellt: Ich bringe damit nichts anderes zum Ausdruck als Freud, der zwei Felder unterscheidet: Triebfeld auf der einen und narzisstisches Feld auf der andern Seite, und der unterstreicht, dass auf der Ebene der Liebe lieben und geliebt werden reziprok sind, es auf dem andern Feld aber für das Subjekt um reine Aktivität geht: durch seine eigenen Triebe. (XI: 210.)   Ich unterscheide radikal zwischen s’aimer à travers l’autre/sich über den anderen lieben – was auf dem narzisstischen Objektfeld dem eingeschlossenen Objekt keinerlei Transzendenz zugesteht – und jener Kreisläufigkeit des Triebs, bei der die Heterogenität des Hin und Zurück im Intervall eine béance/eine Kluft zeigt. (XI: 203.) Die Liebe kennt ihr Objekt bereits: Im zweiten Kapitel habe ich beschrieben, dass die Liebe ihr Objekt idealisiert und so letztlich als reales verfehlt. Das Objekt des Triebes hingegen ist ein reales Objekt, Objekt a, das über das imaginäre Bild hinausweist. Mit dieser Unterscheidung greift Lacan auf die Freud’sche Unterscheidung der Partialtriebe von der »sexuellen Passion des Gesamt-Ich« zurück. Im Trieb gibt es kein Gesamt-Ich, es gibt kein vereinigtes Subjekt, denn die Erscheinung des Triebs ist eine »Erscheinung eines Subjekts ohne Kopf« (XI: 189). Im Gegensatz dazu ist die Liebe eine Kopfgeburt: das Liebesobjekt bringt schließlich den Herrensignifikanten hervor, der dem Subjekt Halt, seiner Welt Sinn, gibt. Indem Lacan zwischen dem imaginären Objekt und dem realen Objekt a unterscheidet, rückt er seine Konzeption des Triebs von der früheren Definition durch den Anspruch ab. Der Trieb ist gerade nicht durch imaginäre Schließungen fixiert, sondern bezieht sich auf das Reale, das Jenseits dieser Fixierungen liegt. Damit verändert sich seine Konzeption des Triebs, jedoch behält er als zentrales Moment das Hin und Her bei, das sich auch bezüglich des Anspruchs fand, als der eigene Anspruch auf den Anspruch des Anderen antwortete und umgekehrt. Dieses Hin und Her, das Fink im obigen Zitat als »vicious cycle« bezeichnet, identifiziert Lacan nun mit der Kreisbewegung des Triebs, die er sprachlich fasst: Die Bewegung ergibt sich aus der Struktur der Sprache, die eine Beziehung herstellt zwischen Subjekt und Objekt, jedoch auch möglich macht, deren Stellen zu verdoppeln und zu tauschen. Dabei bezieht er sich auf Freuds Triebschicksal der Wendung des Sadismus bzw. der Schaulust gegen die eigene Person. Freud zeigte, dass die (scheinbare) Passivität des Masochismus aus der sadistischen Lust der Machtbetätigung gegen eine andere Person als Objekt entsteht, die sich dann reflexiv gegen sich selbst wendet und schließlich an ein anderes Subjekt heftet, zu deren Objekt sich das erste Subjekt macht (vgl. Triebe und Triebschicksale, GW 10: 220). Diese Struktur zeigt Lacan bezüglich jedes Partialtriebs, wobei er den Genitaltrieb ausschließt – weil

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dieser, wie oben gezeigt, nicht partial ist, sondern sich auf ein Gesamt-Ich bezieht – und den Freud’schen Trieben zwei weitere hinzustellt: Er nimmt einen oralen und einen analen Trieb an und ergänzt diese um einen skopischen und einen invokatorischen Trieb.39 Jeder Trieb lässt sich in einem Verb darstellen, das sich in eine aktive, reflexive und passive Form setzen lässt: z.B. hören, sich hören, gehört werden. Um zu zeigen, dass es sich beim Trieb auch bei scheinbarer Passivität immer um eine Aktivität handelt, ersetzt Lacan die letzte Form durch das sich hören machen/sich hören lassen. Diesen Wechsel des Genus verbi identifiziert er mit der Kreisbahn, die der Trieb nimmt. Wie lässt sich das verstehen? Jeder Partialtrieb nimmt seinen Ausgang an einer erotischen Zone (den Lippen, dem Anus, dem Auge und dem Ohr), die eine Öffnung zum Anderen hin darstellt. Das jeweilige Verb stellt eine Verbindung zur Außenwelt her, die zunächst an ein körperliches Bedürfnis und dessen Befriedigung angelehnt ist: Die Tätigkeit des Saugens ist mit der Nahrungsaufnahme verbunden, das Scheißen mit der Ausscheidung usw. Der Trieb separiert jedoch die Befriedigung des Bedürfnisses von der Tätigkeit, die zu ihr führte: Das Saugen wird zum Selbstzweck und in sich befriedigend. Diese Verselbstständigung der auf den Anderen bezogenen Aktivitäten, das von einer Bedürfnisbefriedigung abgelöste Genießen, beschreibt Lacan nun mit dem Übergang des aktiven zum reflexiven Verb: Das Saugen an der mütterlichen Brust löst sich von dem Ziel der Nahrungsaufnahme; das »Wonnesaugen« ist in sich selbst befriedigend. Wenn diese Tätigkeit reflexiv wird, bedeutet das nicht, dass sie auf ein Ich als ein Objekt bezogen ist. In der Auseinandersetzung mit dem Freud’schen Text Triebe und Triebschicksale zeigt Lacan, dass, wenn dieser über das Autoerotische spricht, eine Vorstellung von Ich-Trieben erscheint, die er jedoch eigentlich dem Trieb als genuin partialem gegenüberstellt: Der Genitaltrieb ist »nicht wie die übrigen Triebe artikuliert«, weil er bereits ein Gesamt-Ich benötigt, das ein Lust-Ich impliziert, das sich alle mit Lust verbundenen Objekte einverleibt und alles Unlustvolle in die Außenwelt abgeschoben hat. Den reflexiven Modus charakterisiert deshalb nicht die Wendung gegen ein Ich – das es nämlich hier gar nicht gibt –, sondern seine Objektlosigkeit: Es gibt kein äußeres Objekt mehr. Freud formuliert: Das »Objekt verschwindet gegen das Organ, das ihre [die der Sexualtriebe; MD] Quelle ist, und fällt in der Regel mit diesem zusammen« (GW 10: 225). Man könnte also sagen, dass sich dieses reflexive Stadium dadurch auszeichnet, dass die Objektlosigkeit an der Stelle thematisch wird, wo einst nichts fehlte. Lacan präzisiert diesen Objektmangel mit seiner Konzeption des Objekt a als abwesendem Objekt: Der Trieb bezieht sich auf ein fehlendes Objekt, eine konkrete Negativität, die zum Anlass des Genießens wird, eine Lücke:

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Ersterer erschien bereits bei Freud als Schaulust (vgl. GW 10: 222).

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Das Subjekt ist ein Apparat. Dieser Apparat ist etwas Lückenhaftes, wobei das Subjekt in der Lücke die Funktion eines bestimmten Objektes als verlorenes Objekt instauriert. Das ist der Status des Objekts a, soweit es im Trieb präsent ist. (XI: 193.) Was also die Kreisbahn des Triebes von der Zone ihrer Entstehung ablenkt, ist das Fehlen des Objekts, das Lacan mit dem Objekt a bezeichnet. Die »Lücken« des Subjekts sind jedoch nicht als primordialen Angewiesenheit zu verstehen, als anthropologische Unfertigkeit, die Lücken entstehen als konkreter Mangel vielmehr dort, wo eine Befriedigung stattgefunden hat, die von einem Außen kam und ein Fehlen des anderen hinterlässt. Die Bewegung des Triebes ist also identisch mit der Entstehung des Objekts a als fehlendem und dem anderen zugehörigen. Das Schließen der Kreisbahn bringt Lacan mit dem passiven Genus zusammen (sich säugen lassen). Hier taucht plötzlich eine Person auf, handelndes Gegenüber, das von Interesse ist. Trotzdem, auch im passiven Genus, bleibt der Trieb eine Aktivität; das auftauchende Gegenüber macht das Subjekt nicht passiv. Diese Aktivität des Triebs richtet sich auf eine Aktivität des Gegenübers, darauf dessen Aktivität einzufangen, zu rezipieren, sich ihr zu öffnen. Die Aktivität des passiven Genus liegt in der aktiven Zugewandtheit, der Bereitschaft, einen Impuls aufzunehmen, auf eine Bewegung zu reagieren. In Seminar XI eilt Lacan durch diese Konzeption, ohne diesen Punkt genauer auszuführen. Er endet seinen »kurzen Überschlag« mit einer Frage: Scheint nicht in dieser Umkehrung, die sich in der Tasche des Triebs darstellt, der durch die erogene Zone sich einstülpende Trieb die Aufgabe zu übernehmen, etwas zu suchen, das jeweils im Anderen Antwort gibt? (XI: 205.) Wenn Lacan den Trieb vor Seminar XI als auf den Anspruch bezogen definiert hat, so bleibt von dieser Definition ein Rest: Der Trieb wird weiterhin als Appellbewegung in Richtung des anderen gedeutet. Jedoch ist der Trieb, anders als der Liebesanspruch, tatsächlich zum anderen hin geöffnet: einem anderen als absolut anderem, als Unvorhergesehenen oder in Worten Lacans: »das radikale Andere, den Andern als solchen« (XI: 202). Der Trieb sucht also eine Antwort, die er noch nicht kennt. Zweifellos muss diese Appellbewegung, die Suche nach Antwort im anderen, eine Beziehung zur Sprache haben. Diese Beziehung stellt Lacan in Seminar XI über die Modulation der Verben her: »Alles läuft nur über grammatische Beziehungen ab, die rein künstlich sind« (XI: 178). Der Trieb, könnte man interpretieren, folgt grammatischen Strukturen, weil die Aktivität des Triebes – das Verb, das sich verselbstständigt – Subjekt und Objekt entstehen lässt. Diese Erklärung der sprachlichen Struktur des Triebes ist in Seminar XI jedoch sehr vage und unbefriedigend, so dass Lacan selbst in seinem Resümee des Seminars im Jahrbuch der

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Ecole pratique des Hautes Etudes konstatiert, dass es ihm noch nicht gelungen sei, die Triebtheorie abzugrenzen. Abgegrenzt hatte Lacan, wie Miller zeigt, den Triebbegriff zuvor nicht von seinem Begriff des Begehrens (vgl. Miller 2007), beide Konzepte erscheinen vermischt, irgendwie zusammenhängend oder sogar gleichbedeutend.40 Diese Unklarheit resultierte besonders durch seinen frühen Begriff des Begehrens, der sich noch nicht auf eine ödipale Konstellation bezog, sondern dieses als Resultat einer Unterschiedenheit von realem Bedürfnis und imaginärem Anspruch fasste. So schreibt er beispielsweise 1958 in dem Text Die Bedeutung des Phallus: Somit ist das Begehren weder das Verlangen nach Befriedigung noch der Anspruch auf Liebe, sondern die Differenz, die aus dem Abzug des ersten vom zweiten resultiert, das eigentliche Phänomen ihrer Spaltung*. (Sch II: 199.) Das Begehren entsteht, weil jede Befriedigung eines Bedürfnisses gleichzeitig eine Liebesgabe ist, die auf den Anspruch des abhängigen Kindes antwortet, das die Verfügbarkeit und Gegenwart des Anderen verlangt. Diese totale Gegenwart des Anderen ist unmöglich, würde sie doch bedeuten, dass jedes Bedürfnis des Kindes sofort befriedigt werden würde und nie ein Mangel entsteht. Gleichzeitig ist aber jetzt auch jede Bedürfnisbefriedigung nicht mehr vollständig befriedigend: Da die Bedürfnisbefriedigungen nun Liebesbeweise sein müssen, werden sie erniedrigt dadurch, dass sie nicht mehr darstellen als das »Zerschellen des Liebesanspruchs« (ebd.). Der Mangel verdoppelt sich also: Nicht nur fehlt das Objekt des Bedürfnisses, sondern auch das des Liebesanspruchs: Das Zeichen der (mütterlichen) Liebe. Liest man diese Beschreibung des Begehrens, die sich in Andeutungen auch noch zu Beginn des Seminar XI findet,41 vor dem Hintergrund der in Seminar XI später eingeführten Triebtheorie, wird deutlich, warum die Abgrenzung von Begehren und Trieb Lacan Probleme bereitet. Das Begehren entsteht hier in der selben Konstellation wie der Trieb, nämlich in Anlehnung an eine Bedürfnisbefriedigung. Wie der Trieb erreicht das Begehren sein Objekt nicht, es ist prinzipiell nicht endgültig befriedigbar. Während der Trieb jedoch ein Genießen bedeutet, das den Körper affiziert, die Begegnung mit dem Objekt das Reale berührt, ist das Genießen im Begehren halluzinatorisch: Das Lustprinzip, das das Begehren regiert, ist durch das Verbot strukturiert, sexuelle Objekte sind verbotene Objekte, die nur im Raum der Illusion genossen werden können:

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Müller-Pozzi zeigt, dass Begehren im französischen Original désir die Übersetzung des Freud’schen Wunsches ist, der in die Triebtheorie eingeflossen ist (vgl. Müller-Pozzi 2008). Der Begehrensbegriff ist also zu Beginn noch nicht klar vom Trieb unterschieden. Vgl.: »wie das Begehren sich situiert im Verhältnis zum Anspruch« (XI: 161).

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Die Funktion des Begehrens ist letztes Residuum der Wirkung des Signifikanten im Subjekt. […] Halten Sie gut fest, was Freud über dieses Feld sagt, auf dem der Antrieb sich wesentlich an der Halluzination befriedigt. (vgl. XI: 162.) In Seminar XI unterscheidet Lacan Begehren und Trieb in erster Linie durch die unterschiedliche Funktion, die das Objekt a in ihm einnimmt. Auf die Frage eines Teilnehmers nach dem Unterschied zwischen dem Objekt des Triebes und dem Objekt des Begehrens antwortet er: Objekt des Begehrens im gewöhnlichen Sinne ist entweder eine Phantasie, die in Wirklichkeit Träger des Begehrens ist, oder eine Täuschung. (Ebd. 194.) Diese Antwort scheint nicht klar genug gewesen zu sein. Einige Seminarsitzungen später stellt ein anderer Teilnehmer die selbe Frage, nun antwortet Lacan folgendermaßen: Verstehen Sie, das Objekt des Begehrens ist die Ursache des Begehrens, und dieses Objekt als Ursache des Begehrens ist das Objekt des Triebs – das heißt das Objekt, um das sich der Trieb dreht. […] Das Begehren klammert sich nicht am Objekt des Triebs fest – das Begehren geht um, es geht um das Objekt herum, wenn es im Trieb bewegt wird. Nicht jedes Begehren wird notwendigerweise im Trieb bewegt. Es gibt auch leere Begehren, verrückte… (ebd. 255f.) Zunächst scheint das Verhältnis klar: Objekt a ist das Objekt des Triebes, dieser befriedigt sich im Umkreisen des Objekts. Im Begehren hingegen ist Objekt a Ursache, seine metonymische Bewegung führt unendlich und linear vom Ursprung fort. Jedoch verschwimmt dieses Bild der zwei Bewegungsarten, kreisförmig und linear in Lacans Beschreibung an dieser Stelle: Hier wird auch das Begehren zu einer Bewegung um das Objekt herum. Zudem scheint der Trieb mit dem Begehren einherzugehen, er bewegt das Begehren – jedoch nicht zwangsläufig. Obwohl Lacan schon in Seminar XI einige Unterscheidungen zwischen Trieb und Begehren einführt, wird ihm eine plausible Trennung der beiden Konzepte erst möglich, als er das Begehren grundsätzlich mithilfe des Phantasmas definiert und die symbolische Kastration fasst als Identifikation mit dem Herrensignifikanten. Damit kann er zwischen einem sexuierten Begehren unterscheiden, das ein vereinheitlichtes Subjekt voraussetzt (auch wenn diese Vereinheitlichung nie vollständig gelingt), und einem polymorph-perversen Trieb, der immer partial und azephal bleibt. Deshalb stellt er in späteren Formulierungen das Begehren als eines, das sich auf das Ein bezieht – auf den Herrensignifikanten, eindeutig dem Trieb gegenüber: Wer, folgt er mir darin, empfände nicht den Unterschied, der zwischen der Energie besteht, einer Konstanten, die bei jedem Mal vom Ein her auszumachen ist, aus dem sich das Experimentelle der Wissenschaft konstituiert und dem Drang

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

des Triebes, der, Lust (jouissance) gewiss, nur aus körperlichen Rändern – ich wollte deren mathematische Form geben – seine Permanenz gibt? (Lacan 1988: 79.) Der Trieb ist das, was die Logik des Einen untergräbt, was damit auch über Freuds energetisches Modell hinausgeht. Er ist das permanente Wuchern, das nicht vereinheitlicht und zählbar ist. Der Trieb bleibt lange ein unterbelichtetes Theoriefragment und Lacan ist vorsichtig, weitere theoretische Unternehmungen in Richtung einer Präzisierung zu unternehmen. Erst nach seiner Auseinandersetzung mit der Geschlechtertheorie und der Frage nach einem Genießen jenseits des Phallus wird der Trieb wieder Gegenstand seines Nachdenkens. In Seminar XXIII findet er folgende Formulierung: Es muss im Signifikanten etwas geben, das mitklingt. Es ist erstaunlich, dass das den englischen Philosophen überhaupt nicht aufgefallen ist. Ich nenne sie so, weil sie keine Psychoanalytiker sind. Sie glauben felsenfest daran, dass das Sprechen keine Wirkung hat. Sie sind im Unrecht. Sie stellen sich vor, das es Triebe gibt, und wollen außerdem gerne Trieb nicht mit instinct übersetzen. Sie können sich nicht vorstellen, dass Triebe das Echo der Tatsache im Körper sind, dass es ein Sagen gibt. Damit dieses Sagen mitschwingt, damit es mitklingt, ein anderes Wort des Sinthom madaquin, ist es nötig, dass der Körper dafür empfänglich ist. Dass er es ist, ist eine Tatsache. Und zwar, weil der Körper einige Öffnungen hat, deren wichtigste das Ohr ist, weil es sich nicht verstopfen, nicht zumachen, nicht verschließen lässt. Auf diesem Wege antwortet etwas im Körper, das ich die Stimme genannt habe. (XXIII: 17.) Hier schlägt Lacan eine neue Verbindung des Triebs mit der Sprache vor: Den Trieb fasst er als Echo des Körpers eines Sagens. Der Körper hat Öffnungen – wie das Ohr, das sensibel ist für das Sagen des Anderen – und in ihm kann etwas antworten, das dem Anderen gleicht: Wenn der Körper das Sagen des Anderen vermittelt durch dessen Stimme empfängt, antwortet er mit seiner eigenen Stimme. Das Sprechen wird erwidert, aber in einer spezifischen Form: Etwas klingt mit im Signifikanten. Der Signifikant ist hier nicht der väterliche erste Signifikant, der eine Ordnung einsetzt, kein Herrensignifikant. Es handelt sich dabei vielmehr um einen Sagen, ein Sprechen – Signifikanten im Prozess – für die Lacan das Kunstwort lalangue gebildet hat. Lalangue bezeichnet das ungeordnete, chaotische und nicht unter einen Herrensignifikanten gezwungene Symbolische: Lalangue dient ganz anderen Dingen als der Kommunikation. Es ist das, was die Erfahrung des Unbewußten uns gezeigt hat, insofern es gemacht ist aus lalangue, jener lalangue, die ich, wie Sie wissen, in einem einzigen Wort schreibe, um

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zu bezeichnen, was unser jeder Affäre ist, sogenannte lalangue maternelle, und nicht für nichts so genannt. (XX: 150.) Lalangue ist mütterliche Sprache, weil sie eine Sprache vor der Intervention des väterlichen Herrensignifikanten ist. Lacan führt den Terminus in Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit James Joyce ein, in dessen mit Wortspielen und Wortschöpfungen gespickter Stil er ein eigenes Genießen der Sprache selbst am Werk sieht. Hier zeigt sich Sprache nicht in ihrer Bedeutsamkeit, sondern als chaotische und wuchernde Struktur, die ein Eigenleben jenseits ihrer bedeutenden Funktion hat. Indem er diese Art der Sprache lalangue maternelle nennt, bringt er sie mit dem in Zusammenhang, was vor dem Herrensignifikanten war. Ein Beispiel für diese lalangue stellen das kindliche Lallen und Plappern oder die elterlichen Koselaute dar, die scheinbar sinnlos und dümmlich, aber vollgesogen mit Zärtlichkeit und Genießen sind.42 Diese lalangue stellt sozusagen das Material dar, aus dem die spätere Sprache als bedeutsame Ordnung entsteht, ihre Substanz: »Die Sprache ohne Zweifel ist gemacht aus lalangue« (XX: 151). Die Sprache des Subjekts, die sich unter dem väterlichen Signifikanten vereinigt, besteht also aus jener lalangue, die ein Genießen jenseits des Lustprinzips meint und die ich hier als Genießen des Triebs beschrieben habe. Nun stellt Lacan dieses Genießen jenseits des Lustprinzips nicht nur in den Zusammenhang mit der Beziehung zur Mutter und dem Trieb, sondern mit der weiblichen Struktur als solcher und zeichnet diesen Zusammenhang in seinen Formeln der Sexuierung als Verbindungspfeil zwischen dem barrierten die und S(Ⱥ). S(Ⱥ) ist einer der rätselhaftesten Lacan’schen Termini. In Lacans Systematik lässt sich der Begriff als Signifikant des barrierten, also durch einen Mangel geschlagenen Anderen ausformulieren. Jedoch könnte man ihn auch verstehen als Formel des »Signifikanten des Mangels des Anderen« (Fink 2011: 230) und damit als Zeichen von dessen Begehren. Gerade diese Deutung ist mit der Gefahr verbunden, S(Ⱥ) mit dem symbolischen Phallus zu verwechseln. Obwohl Lacan behauptet, sich in diesem Punkt ganz klar auszudrücken, sieht er doch, dass bei seinen »Schülern« Unklarheit herrscht bezüglich des Phallus und macht sich darüber lustig:

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Daniel Stern arbeitet einige Charakteristika der Sprache heraus, die Mütter bzw. andere Erwachsene intuitiv mit Babys sprechen: So konnte er feststellen, dass sich die »Babysprache« nicht nur durch eine vereinfachte Syntax und eine größere Varianz der Tonhöhen auszeichnet, sondern auch durch diverse Unsinnslaute und – was hier besonders relevant ist – durch spezielle, an einen Frage-Antwort-Rhythmus angepasste Pausen, die Raum für eine Antwort des Kindes lassen, auch wenn es diese noch gar nicht geben kann (vgl. Stern 2006). In diesem Sinne ist die lalangue nicht nur zärtliche Beziehungsaufnahme, sondern auch die Aufforderung zu sprechen und sich als Subjekt zu zeigen.

4. Voraussetzung der Liebe im Geschlechtsverhältnis

und es hat nicht einen einzigen gegeben, der nicht ich weiß nicht was für ein Gerangel fabriziert hätte über den Signifikantenmangel, den Signifikanten des Signifikantenmangels und anderes Gefasel zum Phallus. (XX: 80.) Tatsächlich ist Lacan hinsichtlich des Terms S(Ⱥ) sehr uneindeutig, so dass es nicht verwunderlich ist, dass die Interpreten rätseln.43 Die Konzeption eines weiblichen Genießens jenseits des Phallus hängt jedoch an der Unterscheidung von S(Ⱥ) und dem symbolischen Phallus, schließlich ist S(Ⱥ) anders als der Phallus nicht auf der männlichen Seite, sondern auf der weiblichen eingetragen. Lacan führt den Terminus in Seminar V (Die Bildungen des Unbewussten) im Zusammenhang mit seinem Graph des Begehrens ein und arbeitet ihn dann in Seminar VI (Das Begehren und seine Deutung)44 weiter aus. S(Ⱥ) steht hier für den Mangel im Anderen und da der Andere der Ort der Signifikanten ist, kann das, was dort fehlt nur ein Signifikant sein: S(Ⱥ)was will das im Grunde genommen sagen? Das ist der Augenblick, es zu sagen, obgleich es unter einem recht merkwürdigen Blickwinkel erscheinen wird, den ich jedoch nicht für zufällig halte. S(Ⱥ) will folgendes sagen – dass in A, das nicht ein Wesen ist, sondern der Ort des Sprechens, wo die Gesamtheit des Systems der Signifikanten ruht, das heißt einer Sprache, etwas fehlt, etwas, das nur ein Signifikant sein kann. Ein Signifikant fehlt auf der Ebene des Andern. Das ist, wenn ich so sagen darf, das große Geheimnis der Psychoanalyse – es gibt keinen Andern des Andern. (8.4.1959, VI: 54) Der Andere, macht Lacan hier noch mal klar, ist kein Wesen, sondern ein Ort des Sprechens. Zwar erscheint dem Subjekt die Struktur als ein Gegenüber, als Anderer, sie wird personalisiert, ist jedoch keine Person. Wenn also dem Anderen etwas fehlt, so kann dieses Etwas nur ein Signifikant sein. Wenn der Andere als Ort des Sprechens also Botschaften sendet, sind diese unvollständig und um den wesentlichen Signifikanten verkürzt, der abschließende Antworten geben könnte. So nennt Lacan im Zusammenhang mit dem Graph 43

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Braun setzt ihn beispielsweise kurzerhand mit dem Phallus gleich (Braun 2007: 145), Fink geht davon aus, dass S(Ⱥ) zunächst mit dem Phallus identisch war und Lacan ermöglicht hat, zwischen imaginärem Phallus und dem symbolischen Phallus zu unterscheiden. Im Spätwerk, in dem imaginärer und symbolischer Phallus sowie S1 und S(Ⱥ) gleichzeitig erscheinen, konstatiert er eine Schweigsamkeit Lacans hinsichtlich dieses Terms und bietet deshalb seine eigene Interpretation an (Fink 2011: 156), die mich jedoch nicht ganz überzeugt. Seminar VI wurde 2013 in der von J.-A. Miller herausgegebenen Form veröffentlicht, eine deutsche Gesamtübersetzung existiert noch nicht. Jedoch gibt es die von Lacan autorisierte Zusammenfassung von Pontialis, die hier auch zitiert wird. Einige Autorinnen und Autoren beziehen sich auf das unveröffentlichte französische Transkript wie z.B. Christoph Braun (Braun 2007). Einzelne Vorlesungen erschienen in der Zeitschrift Wo Es War; diese werden hier mit Datum der Vorlesung zitiert.

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des Begehrens S(Ⱥ) die Botschaft des Unbewussten (ebd.: 35) oder in der Pontialis’ Zusammenfassung einer früheren Seminarsitzung des Seminars VI: Dergleichen lässt der Punkt der Botschaft im Anderen den Ausfall des Signifikanten erkennen, der das Sein offenbaren sollte, dessen Frage er gleichwohl hat auftauchen lassen; wir symbolisieren diesen Punkt durch S(Ⱥ). (Pontialis 1999: 154.) Das Subjekt hat sein eigenes Begehren mit dem Begehren des Anderen verbunden, weshalb die Frage, was dieser will, höchste Dringlichkeit hat. Seine unvollständige und somit unverständliche Botschaft muss entschlüsselt werden. Die Frage Che vuoi?, die Lacan ins Zentrum der Angst stellt, ist die Konfrontation mit der Abwesenheit einer Antwort, der Unabschließbarkeit der Frage: Das Begehren des Subjekts ist das Begehren des Anderen, dieses wiederum kann nur weiterverweisen auf das Begehren des Anderen des Anderen. Jedoch gibt es diesen Anderen des Anderen nicht, der die Verantwortung für das Begehren des Anderen übernehmen würde. Der Andere kann keinen Halt bieten, weil er selbst haltlos ist. Was ihm fehlt, ist ein Signifikant, der, wie wir wissen, für einen anderen Signifikanten das Subjekt vorstellt. Dieser einzigartige fehlende Signifikant, der nichts anderes als der Herrensignifikant S1 ist, würde allen anderen Signifikanten einen Sinn geben. Es besteht also eine enge Verwandtschaft zwischen S(Ⱥ) und S1 : S1 ist der fehlende Signifikant, S(Ⱥ) bezeichnet nun nicht nur den Umstand seines Fehlens, weil S(Ⱥ) selbst ein Signifikant ist, der definiert ist als das, was das Subjekt einem anderen Signifikanten repräsentiert, stellt er den Anderen nach dem Verschwinden von S1 als Subjekt vor d.h. er behauptet für etwas zu stehen, was ein aus der Differenz von Sein und Signifikant entstehendes Begehren hat. Ich möchte den beiden bisherigen Deutungen von S(Ⱥ), als Signifikant des Anderen als Mangelwesen und als Signifikant des Mangels bzw. Begehren des Anderen, jedoch eine dritte hinzufügen, denn diese entsprechen einer frühen Version der Barre, die nicht dem theoretischen Stand der Formeln der Sexuierung entspricht. Der Bedeutungswandel der Barre zeigt sich insbesondere bezüglich des Subjekts: Das barrierte Subjekt ist bei Lacan in den früheren Texten noch das durch die Sprache geteilte Subjekt oder das Subjekt eines Mangels, der durch die Sprache geschlagen wurde. Dieses barrierte Subjekts als Mangelwesen, als Wesen, das ein Loch hat, das es mit Objekten zu füllen versucht, erinnert noch stark an das Gehlen’sche Mängelwesen: Der Mangel wird zwar bereits mehr oder weniger mit der Sprache assoziiert, jedoch bleibt an ihm lange die beispielsweise im Spiegelstadiumstext vertretene Annahme einer »spezifischen Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt« (Sch I: 113) haften. Wenn der Buchstabe S in der Lacan’schen Algebra aber seit 1957 nicht mehr für das Subjekt als vielmehr für den Signifikanten steht (vgl. Evans 2002: 49), ändert sich auch die Funktion der Barre: Sie wird nun nicht mehr zur Kennzeichnung des Mangels, das $ als barriertes Subjekt ist nicht mehr als

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Mangelwesen oder geteiltes Subjekt definiert, sondern allgemein als das Subjekt und damit das Subjekt, das sich dadurch auszeichnet, dass es von einem Signifikanten für einen anderen Signifikanten repräsentiert wird. Das Subjekt ist demnach, wie im zweiten Kapitel beschrieben, als Effekt einer Beziehung zwischen zwei Signifikanten zu verstehen. Es ist also ein Überschuss zum Signifikanten, welcher eine vereinigende Wirkung hat und das Subjekt als von seiner Umwelt unterscheidbares erst hervorbringt. Deutet man die Barre des Anderen entsprechend, so muss auch das Ⱥ als der Überschuss verstanden werden, der aus der Vereinigung des Gegenübers Welt entsteht: Wird die komplexe symbolische Struktur, das, was dem Subjekt als Anderes gegenübertritt, als Anderer gedeutet, als ein einziger, entsteht dessen rätselhaftes Begehren als Überschuss. S(Ⱥ) wäre dann das Zeichen, das den Anderen als Abstand zu diesem Zeichen entstehen lässt, das Zeichen, das den Anderen als abgetrennte Einheit produziert. Die für den Anderen entscheidende Trennung ist jedoch nicht die von der Umwelt – er ist schließlich per definitionem die Umwelt –, sondern die vom Subjekt. S(Ⱥ) ist demnach der Signifikant, der die Trennung des Anderen vom Subjekt herbeiführt, es ist das Zeichen, das aus der imaginären Verschmelzung des Ein herausführt und ein Gegenüber entstehen lässt. Wenn Lacan dem Weiblichen eine Beziehung zu S(Ⱥ) unterstellt, legt er nahe, dass das weibliche Genießen sich der Andersheit des Gegenübers verdankt. So formuliert er in Seminar XX: Die Frau hat Verhältnis zum Signifikanten dieses Anderen, sofern, als Anderes, es je nur Anderes bleiben kann. (XX: 88.) Mit der weiblichen Beziehung zu S(Ⱥ) konzipiert Lacan ein Genießen, das nicht auf das Ein des Phallus bezogen ist. Es versucht nicht, ein Loch zu verschließen oder eine vermeintliche ehemalige Ganzheit wiederherzustellen, stattdessen ist das Triebgenießen jenseits des Phallus in der Lage, der Andersheit des Gegenübers nicht nur zu begegnen, sondern diese sogar zu produzieren, indem es sich gerade auf die Zone der Berührung bezieht, auf die Region, in der sich das genießende Subjekt zu seinem Gegenüber und seinen Öffnungen öffnet. Das Genießen von S(Ⱥ) besteht in der Trennung und der nur dadurch möglichen (Wieder-)Begegnung. Gerade dieses Genießen jenseits des Phallus, das Genießen des »Anderen Geschlechts«, ist Voraussetzung des männlichen Subjekts. Es ist das Genießen des Anderen, das dem Subjekt die Befriedigung eines Bedürfnisses entfremdet und ins Register des Symbolischen überführt. Dieses Genießen des Anderen verkennt der Irrtum, den ich dem männlichen Subjekt im Kapitel 2.2 nachgewiesen habe. Die Identifikation mit dem Herrensignifikanten, die die Konfrontation mit einem anderen Bewusstsein kippen lässt in eine Dynamik von Herr und Knecht, unterschlägt die grundsätzliche Bereitschaft des Gegenübers, mit dem Subjekt in Beziehung zu treten, und das Genießen, das die Begegnung für beide Seiten bedeuten kann.

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4.5 Schluss: Das gefährliche Genießen der Mutter Auf der Suche nach einem psychoanalytischen Begriff der Liebe, der diese nicht idealistisch denkt, sondern in Beziehung zum Genießen setzt, habe ich mit Lacan Liebe und Begehren anhand ihres unterschiedlichen Verhältnisses zum Herrensignifikanten unterschieden. Der Herrensignifikant stellte sich zunächst als eine Notwendigkeit der Sprache dar, in der Bedeutung nur aus Differenz zu einer Totalität entstehen kann, diese Totalität jedoch unmöglich ist. Der Herrensignifikant als einziger Signifikant ohne Signifikat produziert die unmögliche Totalität, vernäht Signifikanten und Signifikate und sorgt so für die Erfahrung von Bedeutsamkeit. Jedoch ist er eine Illusion: Es gibt keinen privilegierten Signifikanten, der die Macht hätte, diese Position auszufüllen. Der Herrensignifikant kann nur behauptet werden. Der Lacan’sche Herrensignifikant scheint so einem leeren Signifikanten zu entsprechen: Er ist der Signifikant, der sich (temporär) seines Signifikats entledigt hat, der so leer ist, dass er die Gesamtheit der Signifikanten verkörpern kann. Im letzten Kapitel habe ich jedoch gezeigt, dass der scheinbar leere Signifikant nicht vollständig leer ist: Er ist in der Psychoanalyse der Phallus, der sich dem Geschlechtsverhältnis verdankt, in dem die Frau die Position des »Anderen Geschlechts« einnimmt. Diese Interpretation des Herrensignifikanten lässt bezüglich der Liebe zum Kind einige Fragen aufkommen. Zum einen ist nicht klar, ob sich Begehren und Liebe vom Geschlechtsverhältnis lösen lassen, wenn sie doch ein männliches Subjekt und das Weibliche als Anderes voraussetzen. Zum anderen ist unklar, ob nicht die bisher entwickelte Theorie der Liebe eine gerade in Bezug auf das Kind besonders relevante Gruppe der Liebenden ausschließt: Mütter und andere sorgende Frauen, die für Kinder bis heute in besonders hohem Maße zuständig sind. Eine Theorie, die Liebe nur aus männlicher Perspektive beschreibt, würde der Liebe zu Kindern so keinesfalls gerecht. Also galt es, danach zu fragen, wie die Psychoanalyse ein weibliches Verhältnis zum anderen denkt. Dazu war zunächst zu untersuchen, wie die Psychoanalyse Geschlechtlichkeit versteht. Im ersten Unterkapitel habe ich dargestellt, dass Lacan Geschlecht nicht binär denkt: Frauen und Männer sind weder komplementär, noch gehören sie überhaupt der selben Kategorie an, was er in seinem Aphorismus »Es gibt kein Geschlechtsverhältnis« zusammenfasst. Dass es kein Geschlechtsverhältnis gibt, ist für Lacan Ursache des Geschriebenen. Somit steht Geschlechtlichkeit mit der Entstehung des Signifikanten, der Sprache überhaupt, in Zusammenhang. Es wurde deutlich, dass Lacan mit dem Geschlechtsverhältnis die primäre Paradoxie adressiert, die permanent nach Auflösung drängt, nämlich dass der Mensch in dem sexuellen Genießen sein Gegenüber stets verfehlt. Männlichkeit und Weiblichkeit lassen sich als strukturell unterschiedene Umgangsweisen mit dieser Paradoxie verstehen, als scheiternde Versuche, das Scheitern zu überwinden. Mit Lacans Formeln der Sexuierung habe ich im zweiten Unterkapitel diese Versuche beschrieben

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als Hochstapelei und Maskerade. Jedoch konnte ich zeigen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit bei Lacan nicht als gleichwertige Umgangsweisen mit der Paradoxie der Sprachlichkeit konzipiert werden, als voneinander unabhängige Alternativen. Vielmehr stellt das Weibliche die verkannte Voraussetzung des Männlichen dar, die Ressource, die es dem Männlichen ermöglicht, am Phantasma festzuhalten: Während das Begehren sich auf ewige Äquivalenzketten bezieht, die durch das väterliche Verbot der Mutter hergestellt wurden, macht die Liebe ihr Gegenüber zu der einen, die für das unmögliche weibliche Allgemeine steht, zu »der Frau«. Daraufhin habe ich versucht zu verstehen, was das Weibliche zum Gegenüber von Liebe und Begehren, zur Voraussetzung des Phantasmas, macht. Diese Voraussetzung habe ich in den zwei Arten des Genießens gesucht, die Lacan im unteren Teil der Formeln der Sexuierung darstellt. Im dritten Unterkapitel habe ich gezeigt, dass der Phallus erst autorisiert wird durch die Idealisierungen derer, die ihn beim Gegenüber vermuten: der Hysterikerinnen. Die Hysterie habe ich mit Lacan als spezifisch weibliches Genießen verstanden, das sich auf den Phallus bezieht. Dieses Genießen habe ich mit dem Diskurs der Hysterika aus Seminar XVII interpretiert und mit dem von Freud analysierten weiblichen Penisneid in Verbindung gesetzt. So konnte ich zeigen, dass ein weibliches Genießen möglich ist, das am Phantasma teilnimmt und sich auf den Phallus bezieht, diesen jedoch in seinem Gegenüber ansiedelt. Wie Begehren und Liebe wehrt die Hysterie die Unverfügbarkeit des partikularen Genießens ab und sucht nach dem absoluten, kontrollierbaren Genießen, das sie ihrem Gegenüber unterstellt und damit zum Herren und Phallusbesitzer macht. Von dem Herren erhofft sie Kompensation ihres Mangels: Sie verlangt absolute Anerkennung, das Aufgehen ihres Realen im Symbolischen, und stiftet ihn dazu an, sie zu ergründen, was jedoch nie vollständig gelingt. Es ist also die hysterische Anrufung, die den Phallus erst autorisiert. Die Hysterika bestätigt den hochstaplerischen Phallusbesitzer in seinem Phantasma, dass der Phallus Zugang zum Genießen verschafft. Schließlich habe ich mit dem zweiten Pfeil aus den Formeln der Sexuierung nach einer zweiten weiblichen Genießensökonomie gefragt. Da Lacan von einem weiblichen Genießen »jenseits des Phallus« spricht, das er als Voraussetzung des phallischen Genießens, des Phantasmas, konzipiert, habe ich dieses als das Genießen des Triebs interpretiert. Denn in der psychoanalytischen Beschreibung war vor der Vereinigung der Triebe unter dem Primat des Genitalen, also vor einem auf den Phallus bezogenen Sexuellen, das Genießen des Triebs. Dieses Genießen unterscheidet sich wesentlich vom genitalen Sexuellen: Der Trieb verspricht kein vollständiges Genießen, das Triebgenießen bleibt vielmehr partikular und auf entsprechende Partikularobjekte bezogen, die nie mehr versprechen, als die Befriedigung an einer bestimmten Körperzone. Der Trieb entfremdet die Befriedigung eines Bedürfnisses, lässt ein Genießen entstehen als Überschuss: Bei der Befriedigung des Hunger werden die Lippen stimuliert, es entsteht eine erogene Zone,

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eine Zone der Berührung, an der die Begegnung mit einem Gegenüber erlebbar wird. Der Trieb lässt das Subjekt lustvoll seine Grenzen als Kontaktfläche zum Anderen erleben.45 Lacan verbindet nun das Genießen jenseits des Phallus mit dem Term S(Ⱥ), den ich interpretiert habe als Signifikanten der Trennung des Anderen vom Subjekt. Während das hysterische Genießen ein Gegenüber braucht, dem der Phallus unterstellt werden kann, ist unklar, auf was sich das Gegenüber des Triebs richtet. Lacan legt nahe, dass die Beziehung zu S(Ⱥ) mit der Mutterschaft in Verbindung steht: Und wozu dient ihr das? Das dient ihr, wie jeder weiß, zum Reden zu bringen das sprechende Sein, hier reduziert auf den Mann, das heißt – ich weiß nicht, ob Sie es recht bemerkt haben in der analytischen Theorie – zu existieren nur als Mutter. (XX: 106.) Weiblichkeit wird von Lacan generell bezogen auf die Mutterschaft. So behauptet er, dass »die Frau nur genommen wird quoad matrem. Die Frau tritt in Funktion im Geschlechtsrapport nur als die Mutter.« (XX: 39). Diese Aussage Lacans lässt mehrere Deutungen zu. Zum einen könnte er damit bedeuten, dass es das Spezifische des weiblichen Verhältnis zu einem geliebten Gegenüber ist, sich zu dessen Mutter zu machen – egal ob es sich dabei um den (männlichen) Partner oder ein Kind handelt. Dies würde einer Aussage Freuds in der neuen Folge seiner Vorlesungen entsprechen, dass die Frau in der Ehe erst glücklich ist, »als bis es der Frau gelungen ist, ihren Mann auch zum Kind zu machen und die Mutter gegen ihn zu agieren.« (GW 15: 143). Die Mütterlichkeit ist also unabhängig von einer tatsächlichen Mutterschaft eine Wesensart des Weiblichen; gerade in Liebesbeziehungen agieren Frauen mütterlich. Zum zweiten könnte es auch heißen, dass die Frau das, was sie vom Mann unterscheidet, also ein Genießen jenseits des Phallus, nur in der Mutterschaft finden kann. Wenn das Genießen jenseits des Phallus utopisches Potential hätte, wäre dieses dann mit der Mutterschaft verbunden. Nun legen Lacans Beispiele dieses Genießens jedoch einen so begrenzen Begriff nicht nahe: Zwar passiert das jenseitige Genießen nicht allen:

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Verschiedene psychoanalytische Schulen haben Freuds Triebbegriff als eine Reduktion des Gegenübers auf ein Objekt zur Befriedigung von Bedürfnissen gelesen und entsprechend eine theoretische Beachtung der »Intersubjektivität« angemahnt. So hat beispielsweise Erich Fromm das Triebmodell um ein Kontaktbedürfnis ergänzt oder John Bowlby den Trieb verworfen und ihm den Begriff der Bindung entgegengesetzt (vgl. Fromm 1980; Bowlby 1958). In der hier vertretenen Lesart impliziert der Trieb jedoch bereits die Suche nach der Antwort des Gegenübers, er beinhaltet den Wunsch des Bewusstseins, sich in seinem Gegenüber selbst bewusst zu werden, zielt also nicht nur auf ein Objekt, sondern lässt eine Begegnung mit einem anderen zu.

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Es gibt ein Genießen für sie, von dem vielleicht sie selbst nichts weiß, außer daß sie es empfindet — das, das weiß sie. Sie weiß es, sicher, wenn es geschieht. Es geschieht ihnen nicht allen. (XX: 81.) Das Genießen jenseits des Phallus hat Ausnahmecharakter. Gleichzeitig ist es durch die Verknüpfung mit der Mutterschaft scheinbar universal, denn es ist Voraussetzung jedes sprechenden Subjekts. Damit hat die psychoanalytische Theorie des Weiblichen ein Problem, das durch feministische Theoretikerinnen im Zusammenhang mit der Mutterschaft häufig benannt wurde: Der Umstand, dass alle Menschen von einer Frau geboren werden und für die meisten der erste Andere, die erste universelle Ansprechpartnerin, die für die Befriedigung von Bedürfnissen sorgt, eine Frau ist, spielt eine wichtige Rolle für die gesellschaftliche Stellung des Weiblichen. Frauen verdanken diesem Umstand möglicherweise, das andere Geschlecht zu sein, das, von dem sich das Subjekt in seiner Entstehung abgrenzen musste. Zugleich ist jedoch (die eigene) Mutterschaft eine partikulare Erfahrung: Weiblichkeit ist einerseits nicht über Mutterschaft definiert, nicht alle Frauen sind, werden oder waren Mütter, Frauen sind nicht generell »mütterlich«. Ich werde im fünften Kapitel dem Hinweis nachgehen, den Lacan mit seiner Rede über die Mutterschaft gibt und die Beziehung zwischen Mutter und Kind daraufhin untersuchen, ob sie sich als eine Struktur beschreiben lässt, in der sich ein Genießen jenseits des Phallus realisiert.

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5. Mutterliebe und die Zärtlichkeit der Analytikerin Der Kern der Unterdrückung der Frau ist ihre Rolle als Gebärerin und Erzieherin der Kinder. (Shulamith Firestone: Frauenbefreiung und sexuelle Revolution. 1975: 71.)

Shulamith Firestone ist Anfang der 70er Jahre überzeugt, dass es die Mutterschaft ist, an der das Patriarchat hängt: Sie verbannt Frauen in den Bereich des Privaten und sorgt für ihre politische und ökonomische Benachteiligung. Vor diesem Hintergrund wird auch die Mutterliebe problematisch, sie wird von Feministinnen kritisiert als normatives Ideal, das mit der Teilnahme der Frauen an ihrer eigenen Unterdrückung verbunden ist (vgl. Badinter 1981, Bock/Duden 1977). Als Motivation für Frauen, sich ganz der Kindererziehung zu widmen und sich auf die Familie zu konzentrieren, wird sie sowohl als Voraussetzung des Patriarchats gefasst, als auch als supplementäre Befriedigung von Kontaktwünschen in einem rationalisierten und entfremdenden Patriarchat als seine Folge. Zugleich sehen einige Feministinnen gerade in der Mutterliebe eine eigene weibliche Qualität, die jenseits patriarchaler Strukturen liegt. Die Mutterliebe wird so zum utopischen Ort, von dem aus das Patriarchat kritisiert werden kann – was insbesondere im Ökofeminismus mit einer problematischen Tendenz zur Überhöhung und Idealisierung des Weiblichen einhergeht. Die Mutterliebe ist zentrales Thema feministischer Auseinandersetzungen, jedoch bleibt sie stets ambivalent gegenüber dem feministischen Emanzipationsversprechen (vgl. zusammenfassend Reusch 2018). Dabei wird die mütterliche Liebe in der feministischen Debatte jedoch nicht nur als Diskurswirkung oder gar wesensgemäßer Gefühlsausdruck gefasst, sondern als ein spezifisches, höchst problematisches Genießen, das mit der weiblichen Sexualität in Zusammenhang steht: Das Kind stillt bei ihr [der Frau, MD] jene aggressive Erotik, welche die Umarmung des Mannes nicht befriedigt. Es entspricht jener Mätresse, die sie dem Mann überlässt, deren Funktion er bei ihr nicht übernimmt. Selbstverständlich

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stimmt dieser Vergleich nicht genau. Jede Beziehung ist eigener Art. Aber die Mutter findet im Kind – wie der Liebhaber in der Geliebten – eine körperliche Erfüllung und zwar nicht in der Erwiderung, sondern in der Beherrschung. Sie erfasst in ihm, was der Mann in der Frau sucht: Ein Anderes, Natur und Bewusstsein zugleich, das ihre Beute, ihr Double wird. Es verkörpert die ganze Natur. (Beauvoir 1968: 495.) Nach Simone de Beauvoir hat das Kind im Patriarchat für die Sexualität der Frau eine besondere Funktion. Die weibliche Beziehung zum Kind beschreibt sie in Analogie der männlichen Beziehung zur Frau: Beim Kind findet die Frau – wie der Mann bei seiner Geliebten – körperliche Erfüllung, eine Erfüllung, die ihr in der Beziehung zum Mann versagt bleibt. Die mütterliche Liebe, die das Weibliche ausmacht, lässt sich jedoch nicht als bessere weibliche Natur verklären, die ihre Befriedigung ganz selbstlos in ihren Fürsorgepflichten findet. Die Sorge um das Wohlergehen des Kindes ist nach Beauvouir überformt durch die mütterlichen Wünsche zu beherrschen: Das Kind wird als Anderes, als »Double«, missbraucht. Im Kind sucht die Frau die Beherrschung und Aneignung von etwas, das Natur, reine Materie ohne Form, zu sein scheint. So wiederholt die Frau im Kind das, was ihr selbst in der Beziehung mit dem Mann widerfährt: Sie macht das Kind zum Anderen und damit zum Substrat ihrer eigenen Subjektivität. Beauvoir beschreibt die mütterliche Liebe zum Kind trotz ihrer grundsätzlichen Kritik an der Psychoanalyse in psychoanalytischen Metaphern: In der Liebe zum Kind findet die Frau eine Befriedigung jenseits des Bedürfnisses, also in psychoanalytischen Begriffen ein Genießen. Dieses Genießen ist supplementär und ersetzt das Genießen, das in der sexuellen Beziehung zum Mann nicht gelingt, der einzigen Beziehung, die das Patriarchat der Frau gestattet. Und es ist, indem es das männliche Verhältnis zum Weiblichen wiederholt, problematisch, denn es ist dem Kind gegenüber gewaltvoll und übergriffig. Genau dieses Genießen ist mit der bekannten psychoanalytischen Behauptung adressiert, dass die Mutter ihr Kind zum Phallus macht: Das Kind ist – wie die Frau für den Mann – in dem Moment, in dem sie es sich als Besitz aneignet, Instrument ihrer Illusion, Phallus-Besitzerin zu sein – eine Illusion, die nie vollständig und anhaltend funktioniert. Beauvoir greift auf eine Argumentation zurück, die sich bereits bei Freud findet. Wie Beauvoir analogisiert Freud die Mann-Frau-Beziehung und die FrauKind-Beziehung: Damit [mit der Verstetigung des Bedürfnisses nach genitaler Befriedigung] bekam das Männchen ein Motiv, das Weib oder allgemeiner: die Sexualobjekte bei sich zu behalten; die Weibchen, die sich von ihren hilflosen Jungen nicht trennen wollten, mussten auch in deren Interesse beim stärkeren Männchen bleiben. (GW 14: 458.)

5. Mutterliebe und die Zärtlichkeit der Analytikerin

In dieser Passage aus »Das Unbehagen in der Kultur« von 1930 spekuliert Freud über die Motive für die Familienbildung, die Vorläufer späterer Gesellschaften sein sollen. Dabei geht er von zwei unterschiedlichen Voraussetzungen aus: Dem Männchen – er schreibt hier über unsere affenähnlichen Vorfahren – unterstellt er ein Interesse an genitaler Befriedigung, die es beim Weibchen findet, dem Weibchen hingegen den Wunsch, sein Junges bei sich zu haben. Es ergibt sich eine Analogie von Männchen zum Weibchen wie Weibchen zum Jungen. Anders als Beauvoir nimmt Freud diese Analogie jedoch – zumindest in diesem spekulativen Text – einfach als gegeben an, während sie sich bei Beauvoir aus der Stellung der Frau im Patriarchat ergibt. Durch diese Analogie ist die Liebe zum Kind für die Psychoanalyse in die Nähe des Sexuellen gerückt. Die idealisierende Erzählung einer selbstlosen Mutterliebe der Zeitgenossen Freuds wird durch diese Nähe in Frage gestellt. Die Liebe zum Kind scheint der Frau eine Befriedigung zu ermöglichen, wie sie der Mann bei der Frau findet, also ein sexuelles Genießen. Die Vermutung, dass die Beziehung zum Kind für die Frau befriedigend sein könnte, darf jedoch auch in der Psychoanalyse nicht als normative Überhöhung des Mutterglücks missverstanden werden. Es geht weder der Psychoanalyse Freuds noch der Lacans um die Konstruktion eines Ideals weiblicher Natur, die sich aus Freude ihren mütterlichen Pflichten unterwirft und den damit möglicherweise verbundenen Ausschluss aus der Öffentlichkeit glücklich bejaht. Vielmehr versucht die Psychoanalyse zu verstehen, was Frauen in der doch mit so vielen Entsagungen verbundenen Mutterschaft, in der Beziehung zum Kind, genießen. Jedoch interessiert sich die Psychoanalyse anders als feministische Theoretikerinnen weniger für den Zusammenhang dieses Genießens mit dem Patriarchat als für dessen Folgen für das Subjekt: Weil die Mutter für das Kind erstes Gegenüber ist, erste Andere und Befriedigerin aller Bedürfnisse, hat ihr Genießen für das entstehende Subjekt höchste Relevanz. Obwohl, wie Ulrike Kadi lakonisch feststellt, Lacan nicht »für sein besonderes theoretisches Interesse an der Mutter bekannt ist« (Kadi 2013: 41), sondern die Rolle des Vaters in seiner Theorie zu betonen scheint, gesteht er der Mutter eine besondere Bedeutung zu: In der Auseinandersetzung mit dem mütterlichen Genießen, mit ihrem Begehren, entsteht das Begehren des Subjekts. Deshalb entwirft die Psychoanalyse – teils implizit, teils explizit – mit der Theorie der Entstehung des sexuellen Subjekts eine Theorie des Sexuellen der Mutterschaft, die sich schließlich auch in Lacans Theorie des sozialen Bandes integriert. Mutterliebe bei Freud Dass Freud die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern bzw. anderen Bezugspersonen als sexualisiert betrachtet, ist für seine – und auch unsere – Zeit provokant, aber mittlerweile psychoanalytisches Allgemeinwissen. Es ist die Gegenrich-

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tung, also die Beziehung der Eltern oder Erwachsenen zu dem Kind, die vermutlich mehr Einwände evoziert und – denken wir an den skandalisierenden Diskurs um Pädophilie – auf Widerstand stoßen wird. Doch ganz selbstverständlich geht Freud davon aus, dass die Zärtlichkeit der Eltern und Pflegepersonen »ihren erotischen Charakter selten verleugnet«, er nennt das Kind in Anführungszeichen gar ein »erotisches Spielzeug«: Die »Zärtlichkeit« der Eltern und Pflegepersonen, die ihren erotischen Charakter selten verleugnet (»das Kind als erotisches Spielzeug«), tut sehr viel dazu, die Beiträge der Erotik zu den Besetzungen der Ichtriebe beim Kinde zu erhöhen… (Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II [1912], GW 8: 80.) Dass möglicherweise Sexuelles in der Beziehung der Eltern zu ihren Kindern eine Rolle spielt, ist für Freud gar nicht problematisch. Er geht sogar davon aus, dass die Zärtlichkeiten für das Entstehen des kindlichen Sexuellen relevant sind. Man könnte sogar so weit gehen, dass das kindliche Sexuelle auf das erwachsene antwortet.1 Dass das Kind für die Mutter zum erotischen Spielzeug wird, erklärt Freud jenseits seiner Analogisierungen zum einen mit dem weiblichen Ödipus und seinen verschiedenen Folgen. In dem zentralen Text »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds« (1925) beschreibt Freud, wie sich der Wunsch des Mädchens nach einem Penis in den Wunsch nach einem Kind verwandelt:2 Nun aber gleitet die Libido des Mädchens – man kann nur sagen: längs der vorgezeichneten symbolische Gleichung Penis = Kind – in eine neue Position. Es gibt den Wunsch nach dem Penis auf, um den Wunsch nach einem Kinde an die Stelle zu setzen, und nimmt in dieser Absicht den Vater zum Liebesobjekt. (GW 14: 27f.) Das Kind tritt nach Freud in der weiblichen Libido an die Leerstelle, die der fehlende Penis hinterlässt – das Kind ersetzt den Penis »längs der vorgezeichneten

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Jean Laplanche baut diese Annahme zu seiner allgemeinen Verführungstheorie aus. Dabei unterscheidet er die »frühzeitige Verführung« und die »pädaophile Verführung« als kontingente und gewaltvolle Momente von der Struktur der »Urverführung«, die die Beziehung zwischen pflegenden Erwachsenen und abhängigen Kindern ausmacht: Das unbewusste und unkontrollierbare Begehren der Eltern schwingt als doppelte Botschaft in jeder Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern mit. Das Begehren des Kindes entsteht als Antwort auf dieses rätselhafte Begehren der Eltern (vgl. Laplanche 2011). Diesem Stadium gingen in Freuds Vorstellung der weiblichen Entwicklung folgende Schritte voraus: Das Mädchen, das mit seiner Klitoris Befriedigungserfahrungen gesammelt hat, fühlt sich beim Anblick des männlichen Genitals schlecht bestückt, zieht sich vom mütterlichen Liebesobjekt zurück und wirft der Mutter vor, sie schlecht ausgestattet zu haben. Enttäuscht von der Mutter wendet es sich also dem Vater zu, von dem es sich Kompensation in Form eines Kindes erwartet.

5. Mutterliebe und die Zärtlichkeit der Analytikerin

symbolischen Gleichung«. Freud geht also davon aus, dass das Mädchen bei seiner Verwandlung des Penisneides in einen Kinderwunsch auf eine kulturelle Gleichsetzung von Säugling und Penis zurückgreifen kann. Das Liebesobjekt Vater, das – wie Freud an anderen Stellen ausführt – Vorlage für die spätere Objektwahl ist, ist nur interessant, weil es vermeintlich Zugang zum Kind verschaffen kann. Die Libido der Frau, die sich aus dem Mädchen entwickelt, bleibt also in der Beziehung zum Kind auf die Kompensation ihres Penismangels ausgerichtet. Wenn die Frau im Kind jedoch etwas sieht, was ihre Vollständigkeit herstellt und ihr Zugang zum Genießen verschafft, gar ein eigenes Körperteil, gesteht sie dem Kind keine eigene Subjektivität zu. Die Notwendigkeit einer Trennung dieser vereinnahmenden Beziehung durch eine väterliche Instanz drängt sich deshalb auf. Eine zweite Interpretation der Beziehung zwischen Mutter und Kind deutet Freud im Zusammenhang mit dem Narzissmus an: Auch für die narzißtischen und gegen den Mann kühl gebliebenen Frauen gibt es einen Weg, der sie zur vollen Objektliebe führt. In dem Kinde, das sie gebären, tritt ihnen ein Teil des eigenen Körpers wie ein fremdes Objekt gegenüber, dem sie nun vom Narzißmus aus die volle Objektliebe schenken können. (Freud: Zur Einführung des Narzißmus [1914], GW 10: 156.) Die von Freud angenommene generelle Tendenz von Frauen zum Narzissmus, die er darin sieht, dass sie geliebt werden wollen, statt selbst zu lieben, steht ihrer Objektliebe im Weg. Möglich wird eine Objektliebe für die narzisstische Frau nur, indem sie sich als Objekt einen Teil ihrer selbst wählt. Im Kind sieht diese narzisstisch Liebende also nicht eine Andersheit, ein fremdes Wesen, sondern ihr Selbst, das ihr jedoch als externes Objekt gegenübertritt. Diese narzisstische Bezugnahme auf das Kind sieht Freud in abgeschwächter Form nicht nur bei der Mutter, sondern bei beiden Elternteilen und konstatiert: Die rührende, im Grunde so kindliche Elternliebe ist nichts anderes als der wiedergeborene Narzißmus der Eltern, der in seiner Umwandlung zur Objektliebe sein einstiges Wesen unverkennbar offenbart. (Ebd. 58.) Diese narzisstische Liebe zum Kind ist also eigentlich auf das Selbst gerichtet, das Kind wird so zur Projektionsfläche scheinbar aufgegebener Größenphantasien. Als narzisstisches Liebesobjekt ermöglicht das Kind, so kann man folgern, der Mutter bzw. den Eltern eine Externalisierung des Ichs; es ist Gegenüber, in dem sich die liebende Mutter in überhöhter und idealisierter Weise spiegeln kann. Mutterliebe bei Lacan Die genannten Erklärungen Freuds der Liebe zum Kind gehen in zwei unterschiedliche Richtungen und beide Argumentationsstränge sind auch bei Lacan zu finden: Das Kind tritt sowohl an die Stelle des Objekts eines (männlich strukturierten) Be-

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gehrens, das sich sein Objekt aneignet und in ihm den Phallus findet, und es ist Liebesobjekt und Möglichkeit einer narzisstischen Spiegelung, ein überhöhtes Objekt zärtlicher Liebe, das eine Stütze des eigenen Selbst darstellt. Diese beiden Vorstellung der mütterlichen Liebe müsste sich demnach mit den im zweiten Kapitel beschriebenen Diskursen, dem Diskurs des Herren und dem Diskurs der Universität, formalisieren lassen. In beiden Fällen folgt die Beziehung zum Kind einer Logik, die ich bisher als männliche beschrieben habe, denn sie basiert auf einer Identifikation mit dem Herrensignifikanten. Im letzten Kapitel habe ich die vier Diskurse, die mir zuvor dazu dienten, Begehren von Liebe zu unterscheiden sowie eine postödipale Gesellschaft zu beschreiben, mit den Formeln der Sexuierung interpretiert. Dabei habe ich gezeigt, dass der Phallus, der den Diskurs des Herren als ersten Diskurs begründet, ein weibliches Anderes impliziert. Begehren und damit auch die aus dem Begehren abgeleitete Liebe setzen also nicht nur eine Identifikation mit dem Phallus voraus, was gleichbedeutend ist mit der männlichen Struktur, sondern verdanken sich einem Weiblichen, das aktiv und als Genießen gedacht werden muss. Wenn also die Frau dem Kind gegenüber eine männliche Position einnehmen sollte und die männliche Position ein weibliches Anderes voraussetzt, was passiert mit diesem Anderen angesichts des Kindes? Was passiert mit dieser weiblichen Voraussetzung des Subjekts, wenn sich die Liebe aus dem Kontext des Geschlechtsverhältnis löst, einem Kontext, in dem das weibliche Genießen in der Frau als Liebesobjekt noch präsent war? Darüber hinaus ist zu fragen, ob die mütterliche Liebe zum Kind tatsächlich mit einer auf den Phallus bezogenen, also männlichen Struktur abschließend erklärt ist. Neben dem hysterischen weiblichen Genießen, das zwar nicht mit dem Phallus identifiziert ist, diesen jedoch dem Gegenüber unterstellt und so letztlich auf den Phallus bezogen bleibt, nimmt Lacan ein weiteres spezifisch weibliches Genießen an. Dieses Genießen ist ein Genießen »jenseits des Phallus«, das Lacan in den Formeln der Sexuierung mit S(Ⱥ) verbindet und das ich im letzten Kapitel als Trieb interpretiert habe. Gerade dieses Genießen stellt Lacan in die Nähe der Mutterschaft und legt nahe, dass die mütterliche Liebe über die auf den Phallus beschränkten Arten der Bezugnahme hinausgeht. Die Psychoanalyse Lacans begibt sich also auf die Spuren der Ambivalenz, die feministische Theorie angesichts mütterlicher Liebe verspürt. Sowohl wird die mütterliche Liebe als Bestandteil patriarchaler Strukturen analysierbar, zugleich bleibt die Psychoanalyse Lacans jedoch offen für das Moment mütterlicher Liebe, das sich diesen Strukturen entzieht, das als ihr Jenseits möglicherweise ihre Voraussetzung ist, zugleich jedoch auch etwas, das ohne die patriarchale Vereinnahmung möglich wäre. In der mütterlichen Liebe findet sich so ein utopisches Moment, das zugleich auch jenes der Psychoanalyse selbst ist: Die Psychoanalyse bezieht sich auf gegebene Strukturen, arbeitet sich an ihnen ab und bleibt so

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immer an sie gebunden, zugleich öffnet sie sich auf ein Jenseits und agiert bereits in diesem. Vorgehen des Kapitels Im Folgenden werde ich deshalb danach fragen, wie sich das Genießen der Mutter in der Beziehung zum Kind im Rahmen der Theorie Lacans beschreiben lässt. Die Mutter-Kind-Beziehng thematisiert die Psychoanalyse insbesondere im Rahmen des Ödipus- bzw. Kastrationskomplexes, der zunächst der Entstehung des kindlichen Begehrens eine theoretische Fassung gibt und das libidinöse Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern beschreibt, jedoch implizit auch das Verhältnis der Eltern zu ihrem Kind verhandelt. Insbesondere das mütterliche Verhältnis zum Kind, ihr Begehren und ihr Genießen ist zentrale Voraussetzung der Subjektwerdung; das Begehren des Subjekts entsteht in Antwort und Abgrenzung zu diesem mütterlichen Begehren. Dabei denkt die Psychoanalyse die Subjektwerdung jedoch immer in einer Triangulation: Die Beziehung zwischen Mutter und Kind muss notwendig unterbrochen werden von einem väterlichen Dritten.3 Die psychoanalytische Theoretisierung der Entstehung des Subjekts untersuche ich also aus der Perspektive der Eltern. Dabei werde ich sowohl den Hinweisen nachgehen, die das mütterliche Genießen als auf den Phallus bezogen annehmen (das Kind als Phallus der Mutter, das Kind als Objekt a), als auch nach einem mütterlichen »Genießen jenseits des Phallus« fragen, das dem Subjekt vorgängig und seine Voraussetzung ist. Um das mütterliche Verhältnis zum Kind zu beschreiben, werde ich im ersten Unterkapitel zunächst darstellen, wie Lacan Freuds Ödipuskomplex theoretisch zuspitzt und sprachtheoretisch reformuliert. Dazu werde ich mich mit dem Terminus »symbolische Kastration« auseinandersetzen, der den Eintritt in die Sprache mit Geschlecht verbindet und so als eine Art Nukleus von Lacans Übersetzung der Freud’schen Theorie gelesen werden kann. Im zweiten Unterkapitel werde ich den Kastrationskomplex darstellen, wie ihn Lacan insbesondere in Seminar IV ausführt und die unterschiedlichen Rollen der Eltern in den verschiedenen Stadien herausarbeiten. Daran anschließend werde ich im dritten Unterkapitel zunächst die Rolle des Vaters genauer untersuchen, der als Repräsentant des Herrensignifikanten eine zentrale Rolle im Kastrationskomplex spielt. Ich werde herausstellen, dass der Vater, der im Kastrationskomplex relevant ist, der tote Vater ist. Er tritt dort auf als der, der zwar Liebe verdient, aber selbst keine Beziehung zu dem Kind hat. Seine

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Auch feministische Psychoanalytikerinnen wie Nancy Chodorow oder Jessica Benjamin halten an der Notwendigkeit einer Dualität elterlicher Funktionen fest, die meiner Ansicht nach nicht ohne eine Abwertung der ersten Beziehung auskommt. Deshalb halte ich ihren Versuch, Geschlecht von den zwei als notwendig erachteten Rollen, das Muttern (Chodorow) bzw. Halten (Benjamin) und das Fordern bzw. Loslösen, zu lösen, nicht für ausreichend (vgl. Chodorow 1985; Benjamin 1993; 1995).

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Funktion besteht einzig darin, eine Grenze zwischen dem Kind und dem bedrohlichen Begehren der Mutter herzustellen und so die von der Mutter gelöste Subjektivität des Kindes zu ermöglichen. Die rettende Grenzsetzung durch den Vater geht jedoch auf Kosten der mütterlichen Subjektivität: Sie wird durch das Verbot reduziert auf ein verschlingendes Reales, das weder Interesse an einer Separation von dem Kind noch an seiner Subjektivität hat. Es ist jedoch eine weitere Deutung der Mutter-Kind-Beziehung möglich: Die Mutter, die als Sein der Signifikanz für das Kind agiert, also ihm das Genießen des Symbolischen anbietet, produziert im Kind eine Leerstelle des Sinns, die der illusionäre Vater zu füllen weiß. Um es zuzuspitzen: Die Illusion eines Vaters ist ein Produkt der sinnlosen und unverständlichen mütterlichen Liebe; der Vater ist eine Abwehr gegen die Kopflosigkeit des mütterlichen Genießens. Damit werde ich zeigen, dass die Lacan’sche Konzeption des Weiblichen eine Idee der mütterlichen Liebe impliziert, die – entgegen verschiedenen psychoanalytischen Einwänden inclusive Lacans eigenen – nicht den väterlichen Signifikanten benötigt, um das Kind als eigenständiges Wesen loszulassen, sondern die es genießt, das Kind als Subjekt in Bezogenheit entstehen zu lassen. Daraus folgt, dass die Intervention des Phallus als sexuiertem Herrensignifikanten nicht nur diese mütterliche Bezogenheit negiert, sie entlässt das Kind darüber hinaus nicht in die Notwendigkeit, das eigene Begehren auf sich zu nehmen; indem sie die leere Geste eines Gründungsakts nur simuliert, lässt sie das Kind in seiner Allmachtsphantasie. Dieses mütterliche Genießen, das die Voraussetzung des Subjekts darstellt, werde ich im vierten Unterkapitel schließlich mit dem bisher noch ausgesparten Diskurs des Analytikers beschreiben. Damit stelle ich eine Verbindung her zwischen dem, was in der Analyse stattfindet, und der Beziehung zwischen Mutter und Kind – eine Verbindung, die traditionsreich und nicht unproblematisch ist. Mit dem Diskurs des Analytikers, einem gemäß Lacans Formeln der Sexuierung genuin weiblichen Diskurs, lässt sich eine spezifische Ökonomie des Genießens fassen, die auf das Reale des Symbolischen zielt. Mit Luce Irigarays Begriff der Berührung werde ich dieses Genießen genauer beschreiben und von ihm aus eine intergenerationale Beziehung denken, die von der älteren Generation getragen wird, jedoch der jüngeren Generation überlässt, ihre Freiheit auf sich zu nehmen. Abschließend werde ich im fünften Kapitel fragen, in welchem Kontext sich das postödipale Phantasma diese Beziehung der Berührung einverleibt und zur Quelle seines Genießens macht. Dabei werde ich individuelle und gesellschaftliche Voraussetzungen des Phantasmas beleuchten.

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5.1 Subjekt und Familie Wenn wir über Mythen in der Psychoanalyse sprechen, dann sprechen wir in Wirklichkeit über einen Mythos, den Ödipusmythos – alle anderen Freudschen Mythen (der Mythos des Urvaters, Freuds Version des Mosesmythos) sind, wenn auch notwendige, Variationen davon. (Žižek 2001: 11.) Der zentrale Mythos der Psychoanalyse, der Ödipus-Mythos, auf den Žižek die Psychoanalyse konzentriert, verbindet zwei theoretische Komplexe: Zum einen beschreibt er das Individuum zerrissen zwischen seiner Identifizierung mit einem Ideal und den diesem Ideal widersprechenden unbewussten Wünschen. Mit dem Mythos des Ödipus kann Freud zeigen, dass ein unauflösbarer Konflikt den Kern des Individuums ausmacht. Im zweiten Kapitel habe ich gezeigt, wie Lacan diese Freud’sche Vorlage aufnimmt und den Konflikt, der mit der Spaltung von Bewusstsein und Unbewusstem einhergeht, sprachtheoretisch interpretiert. Mit Lacan lässt sich der Widerspruch als Konsequenz des paradoxen Charakters des Signifikanten verstehen: Bedeutung kann nur durch eine Begrenzung der Signifikantenordnung entstehen, diese Begrenzung ist aber unmöglich. Für diese unmögliche Begrenzung entwirft Lacan das Konzept des Herrensignifikanten S1 als die Markierung, die das Subjekt spaltet. Die ödipale Identifizierung, die das Unbewusste einsetzt, interpretiert Lacan nun als die Einnahme eines spezifischen Verhältnisses zu S1 . Zum zweiten beschreibt der Ödipus eine spezifische Einbindung des Subjekts in Gesellschaft: Der Ödipus vernäht eine scheinbar universale Theorie des Subjekts mit einer spezifischen Gesellschaftsformation, indem er sich auf eine konkrete familiale Situation bezieht, nämlich die weibliche Zuständigkeit für Pflege und Sorge auf der einen Seite, die gesellschaftliche Integration durch eine patrilineare Identifikation auf der anderen Seite. Die scheinbar universale Theorie des Subjekts setzt also eine spezifische Arbeitsteilung der Eltern beziehungweise ein spezifisches gesellschaftliches Geschlechterarrangement voraus. Subjekt und Familie bei Freud Es zeigt sich auf den ersten Blick, dass den beiden in ihrem Geschlecht unterschiedenen Eltern im Freud’schen Ödipus eine jeweils völlig verschiedene Rolle zukommt: Die Mutter ist der Ort des symbiotischen Genießens, von dem sich das Kind, um Subjekt zu werden, schmerzhaft lösen muss. Als verlorenes Objekt steht sie damit in Zusammenhang mit dem, was das Subjekt in seinen Objekten wiederzufinden versucht, nämlich eben jenes Genießen, das noch keine Zahl, keine Grenze kannte. Der Vater hingegen tritt auf als die Instanz, die in die symbiotische Dyade tritt, sie unterbricht und die Ablösung des Kindes vom Mutterleib und damit eine zerbrechliche Autonomie ermöglicht.

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Mithilfe des antiken Mythos entwickelt Freud den Ödipuskomplex als eine Theoretisierung der rivalisierenden Gefühle des Sohnes gegenüber dem Vater um die geliebte Mutter in einer spezifischen Entwicklungsphase.4 Er beschreibt eine Phase heftiger Zuneigung des Kindes zur Mutter, die sich beispielsweise in Verführungsversuchen und dem Versprechen äußert, die Mutter zu heiraten, und einhergeht mit einer ambivalenten Beziehung zum Vater: Seine Abwesenheit wird mit Genugtuung bemerkt, seine Zärtlichkeiten der Mutter gegenüber führen zu Wutausbrüchen; gleichzeitig ist er Gegenstand von Bewunderung und zärtlicher Liebe. Diese Konstellation ist nach Freud jedoch eine vorübergehende: Der Ödipuskomplex wird in den meisten Fällen durch eine Distanzierung des Kindes von der Mutter und im Fall des Jungen durch eine Identifikation mit dem Vater gelöst. Wie oben schon bemerkt, geht Freud davon aus, dass das psychische Geschlecht keine eindeutige Beziehung zum Organischen hat. Es gibt keine determinierende Biologie, da diese sich weit vieldeutiger zeigt als das, was sich in der Psyche Erwachsener findet. Freud geht also von einer psychischen Konkretisierung und Festlegung in der Entwicklung des Kindes von etwas aus, das vorher noch unbestimmt und deutungsoffen ist. Die Ausgangsstellung ist für alle Kinder gleich: Ihre polymorph-perverse Sexualität der Säuglings- und Pflegezeit mit ihren analen und oralen erogenen Zonen vereinigt sich unter dem Primat des Genitalen mit der Entdeckung der genitalen Onanie. Diese Onanie hat bei beiden Geschlechtern den gleichen Charakter: Sie ist autoerotisch und aktiv. Nach Freud ist das Mädchen in dieser Zeit ein »kleiner Mann«, ihre klitorale Onanie hat »männlichen Charakter« (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905], GW 5: 120) und entspricht der Onanie des Jungen. Objekt dieses Sexuellen ist zunächst für beide Geschlechter die Mutter, die in der familiären Organisation diejenige ist, die für die Kinder hauptsächlich zuständig ist und sich so um all seine Bedürfnisse kümmert (vgl. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1917], GW 11: 345). Entsprechend hält das Kind an dem Objekt fest, »das es bereits in der vorhergehenden Säuglings- und Pflegeperiode mit seiner noch nicht genitalen Libido besetzt hatte« (Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds [1925], GW 14: 21). Freud geht (spätestens ab 1923) von einem »Primat des Phallus« aus, also, dass es für beide Geschlechter nur ein Genitale, nämlich das männliche gibt (Die infantile Genitalorganisation [1923], GW 13: 294). Er formuliert: »es gibt zwar ein

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Schon in der Traumdeutung von 1899 verwendet Freud das Motiv von Ödipus für die ambivalenten Beziehungen zu den Eltern (GW 2/3: 268ff.) und bezieht sich mit dem antiken Stoff auf das männliche Kind. Erst mit der späteren systematischen Ausformulierung wird auch das weibliche Kind in die Theorie integriert, was zu einer theoretischen Asymmetrie führt (vgl. Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne [1910], GW 8: 66–77, Der Untergang des Ödipuskomplexes [1924], GW 13: 395–402).

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männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier: männliches Genitale oder kastriert.« (ebd. 297). Dieses Primat des Phallus hat weitreichende Konsequenzen: Irgendwann einmal bekommt das auf seinen Penisbesitz stolze Kind die Genitalregion eines kleinen Mädchens zu sehen und muss sich von dem Mangel eines Penis bei einem ihm so ähnlichen Wesen überzeugen. Damit ist auch der eigene Penisverlust vorstellbar geworden, die Kastrationsdrohung gelangt nachträglich zur Wirkung. (Der Untergang des Ödipuskompexes [1924], GW 13: 397f.) Der Junge, dessen Masturbation von den Pflegepersonen verboten wurde, deutet das Geschlecht des nackten Mädchens als die Abwesenheit eines Geschlechts, als Folge einer kastrierenden Bestrafung, und beginnt um seinen eigenen Penis zu fürchten. Er lässt in der Folge ab von der Mutter, verdrängt seine sexuellen Strebungen, so dass nur zärtliche Gefühle für die Mutter erhalten bleiben. Nun werden die Objektbesetzungen »aufgegeben und durch Identifizierungen ersetzt« (ebd. 399): Das männliche Kind identifiziert sich mit dem Vater und seiner Autorität; ein Erbe dieser Identifizierung ist das Über-Ich als introjiziertes väterliches Verbot. Im unbewussten Begehren bleibt das verlorene mütterliche Objekt erhalten; dieses wird der Erwachsene später in seinen Geliebten wieder zu finden versuchen. Während die Entdeckung der Kastration, der möglichen Abwesenheit des Penis, den Ödipus des Jungen beendet, ist für das Mädchen die Entdeckung des männlichen Genitals erst der Anfang des »langen Wegs«, der zur Weiblichkeit führt. Denn für das Mädchen stellt sich die Situation komplizierter dar: Um zur komplementären Heterosexualität zu finden, muss sie nicht nur das Liebesobjekt, sondern auch die genitale Zone (von der phallisch-aktiven Klitoris zur passivempfangenden Vagina) wechseln. Diesen Wechsel erklärt Freud mit dem wesentlichen Unterschied, »dass das Mädchen die Kastration als vollzogene Tatsache akzeptiert, während sich der Knabe vor der Möglichkeit der Vollziehung fürchtet« (ebd. 400). Das Mädchen interpretiert angesichts des Genitalen des Jungen ihr eigenes Geschlecht nicht nur als minderwertig, sondern gar als abwesend. Diese Interpretation setzt eine Kette von Ereignissen in Gang: Das Mädchen fühlt sich benachteiligt, wirft diese Benachteiligung der Mutter vor, zieht sich feindselig von der Mutter zurück, die unfähig war sie mit einem Penis auszustatten, sie wendet sich dem überlegenen Vater zu, von dem sie hofft den fehlenden Penis in Form eines Kindes zu erhalten, wird von diesem in ihren Verführungsversuchen jedoch zurückgewiesen, so dass sie schließlich ihre sexuellen Strebungen verdrängt und den Vater desexualisiert; der Wunsch von einer Vaterfigur einen Kind-Penis zu erhalten bleibt im Unbewussten bestehen und wird ihr späteres Sexuelles aus-

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machen (vgl. beispielsweise die Vorlesung »Die Weiblichkeit« aus Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1933], GW 15: 133ff.).5 Entscheidend ist nun für Freuds Ödipus die Frage der Kastration, also der Kastrationskomplex, der bei Mädchen und Jungen eine jeweils unterschiedliche Position einnimmt: Beide Kinder interpretieren Geschlecht als An- bzw. Abwesenheit des Phallus, ordnen so ihr eigenes Geschlecht und schließlich auch das Geschlecht ihrer Eltern in diese Struktur ein: Das ursprünglich geliebte Objekt, die Mutter als Quelle aller Befriedigungen, erweist sich als kastriert. Unkastriert hingegen ist ein anderer, ein dritter: der Vater, der in die präödipale Harmonie eindringt, aber am Ende den Konflikt auflöst, indem er sich als Identifikationsfigur anbietet. Der Verlauf des Ödipuskomplexes basiert also auf zwei Differenzen, die eine unterschiedliche Struktur haben: Zum einen die Geschlechterdifferenz, die als Anund Abwesenheit, als positive oder negative Markierung, interpretiert wird, zum anderen die generationale Differenz, die sich dadurch ausdrückt, dass die kindliche Allmachtsphantasie von einer Instanz einen Dämpfer erhält, die wiederum allmächtig erscheint. Strukturale Deutung des Ödipus Diese doppelte Differenz ist für Lacan Einsatzpunkt für seine strukturale Deutung. Durch sie kann er den Ödipuskomplex auf die Entscheidungsnotwendigkeiten beziehen, die in den Begriffen Alienation und Separation bereitgestellt wurden. Damit lässt sich der Ödipuskomplex verstehen als die Konkretisierung, Dramatisierung und Realisierung dieser Wahlentscheidungen in der Beziehung des Subjekts zu ganz konkreten anderen Menschen, die für es zu Repräsentanten des Anderen geworden sind. […] Der Durchlauf des Ödipus entspricht der Subjektivierung der Erfahrung des Mangels in der Beziehung zum Anderen. (Keul 2007: 14.) Lacan benutzt für seine Interpretation des Freud’schen Mythos die Homophonie von Nein-des-Vaters (non-du-pêre) und Name-des-Vaters (nom-du-pêre) um zu zeigen, dass sich in der Instanz des Vaters das Inzestverbot, also das Verbot des symbiotischen, sprachlosen Genießens, mit dem Angebot einer Identität, dem Erhalt eines Namens, verbindet. Lacans Freudlektüre ist von Lévi-Strauss’ Auseinandersetzungen mit dem Inzestverbot geprägt, der dieses an die Schwelle zwischen Natur und Kultur setzt und es so als gesellschaftstiftendes Moment betrachtet (vgl.

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An dieser Stelle kann ich den weiblichen Ödipuskomplex sowie die feministische Diskussion darum nicht weiter darstellen. Eine Übersicht zur feministischen Auseinandersetzung mit dem Ödipus bietet beispielsweise Quindeau 2008.

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Lévi-Strauss 1993 [1949]).6 Wie dieser geht Lacan von einem Zusammenhang von Inzestverbot und patriarchaler Genealogie aus: Das Inzestverbot ermöglicht den Frauentausch, der die Beziehung herstellt zwischen Männern – sowohl vertikal als auch horizontal. Lacan reduziert den Ödipuskomplex also auf eine elementare Form, nämlich S1 , der im Zentrum dessen steht, was er »symbolischen Kastration« nennt und die Einnahme einer symbolischen Position mit einem Verzicht auf Genießen verbindet. Den Begriff der symbolischen Kastration ergänzt er jedoch um die Begriffe der (realen) Privation und (imaginären) Frustration und zeigt so, dass jedes psychische Register für das Subjekt grundlegend beschädigt ist. Das Seminar IV widmet Lacan einer Analyse dieser Beschädigungen, die jede Objektbeziehung strukturieren. Jede Objekt-Beziehung lässt sich nach Lacan nämlich nur verstehen, wenn man das Objekt als ein (immer schon) verlorenes begreift. Die Beziehung zu jedem Gegenüber ist geprägt von einer Spaltung des Objekts, das als wiedergefundenes Spuren eines ursprünglich verlorenen trägt. Der Kastrationskomplex bezeichnet also die Einsetzung des Verlustes in den unterschiedlichen Registern, der erst das Begehren des Subjekts ermöglicht. Während Frustration, Privation und Kastration in Seminar IV noch als drei aufeinander bezogene Arten des Objektmangels dargestellt wurden – unter anderem notwendig, um die zwei großen Themen des Seminars, den Fetischismus und die Phobie, zu verstehen –, stellt Lacan sie in Seminar V als eine Abfolge dar, die auf die symbolische Kastration zuläuft. Damit entspricht das Zusammenspiel aus Frustration, Privation und Kastration dem Freud’schen Ödipus; es gibt keine Trennung von Kastrationsund Ödipuskomplex, vielmehr ist die Kastration Abschluss und Ziel des ödipalen Geschehens, aus dem das männliche oder weibliche Subjekt als Sprachwesen hervorgeht. Erst durch die symbolische Kastration wird nach Lacan aus dem Kind ein Subjekt, ein Sprachwesen, das seinen Bezug zur Welt, also dem großen Anderen, und zu seinem konkreten Gegenüber, dem kleinen anderen, durch und in Sprache herstellt. In der Kastration findet das Subjekt zu einem (immer prekären) Verhältnis zum Symbolischen, es nimmt seinen Platz darin ein als unvollständiges Wesen, das sich hinter dem Signifikanten verbirgt. Lacan kritisiert seine psychoanalytischen Zeitgenossen – der Hieb geht insbesondere in Richtung Donald Winnicott und Melanie Klein7 –, die ihr Augenmerk

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Elisabeth Roudinesco beschreibt ausführlich die Wirkung von Lévi-Strauss’ Hypothesen auf Lacan: Seine These von den Strukturen, die, ohne ihren Mitgliedern bewusst zu sein, eine Gesellschaft organisieren, lassen Lacan abrücken von der psychoanalytischen Annahme einer »natürlichen Inzestscheu« und ermöglichen ihm eine gesellschaftstheoretische Erklärung ödipaler Konflikte (vgl. Roudinesco 1996: 320ff.). Zur Verschiebung von dem Vater zur Mutter als zentrale psychoanalytische Figur bei Melanie Klein und der sie umgebenden Gruppe vgl. Zaretsky 2006.

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vermehrt auf die präödipale Beziehung legen, dafür, dass sie den Kastrationskomplex aus dem Blick verlieren und damit die zentrale Bedeutung, die dieser für das Begehren hat. An der Theorie Winnicotts hebt Lacan hervor, dass sie zwar richtig verstanden habe, dass die Mutter als Objekt unmöglich ist – die Mutter kann nicht vollständig anwesend sein und alles geben. Wenn Winnicott nun aber davon ausgeht, dass das Kind mit dieser Unmöglichkeit umgehen lernen muss, indem es mithilfe von Übergangsobjekten die Illusion der Allgegenwart der Mutter mit der Realität ihrer Abwesenheit vernäht, schlägt er in den Augen Lacans als gesunde Entwicklung ein halluzinatorisches System von imaginären Objekten vor (vgl. IV: 38). Das Problem dieser Vorstellung sieht Lacan genau darin, dass sie von der Existenz eines imaginären Objekts ausgeht, das den Mangel des realen Objekts kompensieren könnte. Gegen diese Vorstellung besteht er auf das Fehlen eines kompensatorischen imaginären Objekts: Es fehlt nach Lacan also nicht nur das reale Objekt (die Mutterbrust), das als Symbol auf eine imaginäre Anwesenheit der Mutter verweist, sondern auch das imaginäre Objekt, das dieses Fehlen vernähen könnte. Schließlich fehlt der Signifikant, der ein Symbolisches absichern sollte und damit den fehlenden Halt im Imaginären durch eine Position im Symbolischen garantieren könnte. Wenn Lacan den Objektmangel in allen drei Registern ansiedelt, betont er also, dass das Kind im Kastrationskomplex nicht einfach die Mutter als Quelle von Wohlbefinden verliert. Es geht vielmehr um drei Arten des Mangels, die im Kastrationskomplex durch komplexe Verflechtungen aneinander geknüpft werden: Ein reales Leiden, der Schmerz eines unbefriedigten Bedürfnisses, verbindet sich mit dem Scheitern einer imaginären Ganzheit, der Unstete des (Spiegel-)Bildes, und schließlich mit der Unabgeschlossenheit des Symbolisch-Sozialen, die das Kind in Unsicherheit entlässt. Wenn er den Mangel des Objekts in drei Registern des Psychischen analysiert, spielen die jeweils anderen Register eine wesentliche Rolle: Der Objektmangel verknüpft Symbolisches, Imaginäres und Reales, denn erst der Mangel fordert Kompensation in einem anderen Register. Diese Verknüpfung stellt Lacan in Seminar IV in folgender Tabelle dar, auf die sich auch die Ausführungen der folgenden Kapitel beziehen werden:

5. Mutterliebe und die Zärtlichkeit der Analytikerin

Abb. 15: Schema der Kastration (IV: 67/255) OBJEKTMANGEL

AGENT

OBJEKT

Frustration (imaginäre Beschädigung)

Symbolische Mutter

real (reale Brust)

Privation (reales Loch)

Imaginärer Vater

symbolisch (symbolischer Phallus)

Kastration (symbolische Schuld)

Realer Vater

imaginär (imaginärer Phallus)

Zunächst mag Lacans Schema, das stets alle drei Register einbezieht, artifiziell und um Symmetrie bemüht wirken. Zentraler Gedanke des Kastrationskomplexes ist jedoch nicht nur die Einsetzung des Mangels, sondern die Verknüpfung der Register im und durch den Mangel, der Sprache als komplexe und stets prekäre Beziehung von Signifikant, (prekärem) Signifikat und (immer verfehltem) Referent erst ermöglicht. Die drei Objektbeziehungen formen sich (scheinbar) in einer spezifischen familiären Beziehungskonstellation, nämlich zwischen Mutter, Vater und Kind. Dabei ist die Mutter nicht Stellvertreterin für das Vorsprachliche, die körperliche Lust und die Abhängigkeit, der Vater für die Sprache, das Gesetz und die Autonomie des Subjekts. Zu Recht wurde diese oberflächliche Interpretation der Psychoanalyse von Feministinnen als patriarchale Vorstellung kritisiert, die der Mutter Sprache und Subjektivität abspricht und damit nicht nur patriarchale Gewohnheiten reproduziert, sondern diese auch naturalisiert. Lacans strukturale Interpretation des Ödipus ist wesentlich komplexer als die Polarisierung zwischen Mutter Natur und Vater Kultur, gleichwohl beschreibt sie eine patriarchale Konstellation, nämlich eine, in der, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, nur die Mutter ihr Kind auf eine bestimmte Weise liebt, allein sie überhaupt eine Beziehung zum Kind hat, während der Vater ausschließlich als »toter Vater« eine Rolle spielt. In den drei Stadien des Kastrationskomplex verschieben sich die Rollen beider Eltern: Während die Mutter in der Frustration noch Agentin ist, tritt sie schon in der obenstehenden Tabelle in Privation und Kastration nicht mehr als Handelnde auf. Stattdessen wird der Vater wichtig, er sorgt schließlich für die erfolgreiche symbolische Kastration, für die Installation des vom mütterlichen Anderen abgelöste Begehrens des Subjekts.

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5.2 Vater und Mutter im Kastrationskomplex Die Rolle der Mutter, das ist das Begehren der Mutter. Das ist wesentlich. Das Begehren der Mutter ist nicht etwas, das man einfach so aushalten kann, das Ihnen gleichgültig wäre. Das zieht immer Verwüstungen nach sich. Ein großes Krokodil, in dessen Maul Sie stecken – das ist sie, die Mutter. Man weiß nicht, was es plötzlich dazu bringen kann, seine Klappe zuzumachen. Das ist es, das Begehren der Mutter. Ich habe also zu erklären versucht, daß es etwas gebe, das Sicherheit gibt. Ich sage Ihnen einfache Dinge, ich improvisiere, das muß ich sagen. Es gibt eine Walze, aus Stein ganz sicher, die da auf der Ebene der Klappe wirksam ist, und das hält zurück, das klemmt. Ebendas nennt man den Phallus. Es ist die Walze, die Ihnen Schutz verleiht, wenn das, ganz plötzlich, zugeht. (XVII: 111.) Lacan zeichnet in Seminar XVII ein sehr plastisches Bild von den verschiedenen Rollen der Eltern: Die Mutter ist Begehren und damit etwas, das das Kind zu verschlingen droht, der Vater ist Schutz gegen dieses Begehren. Das Subjekt ist in Lacans Metapher so klein, dass es in diesem riesigen Maul des bedrohlichen mütterlichen Begehrens völlig verschwinden kann. Es ist dem Maul ausgeliefert und kann von ihm ausgelöscht bzw. verschlungen werden. Das Bedrohliche an diesem Maul ist seine Unberechenbarkeit: Es ist nicht verstehbar, was es zuklappen lässt oder wann es zuschnappen wird. In diesem Bild bleibt das Subjekt in der Falle des Begehrens des Anderen gefangen und kann sich nicht daraus lösen. Der Andere – die Mutter – hat kein Interesse an der Separation. Die Vagina dentata des MutterKrokodils ist unersättlich, übermächtig und nicht unbedingt an der Existenz des Subjekts interessiert. Der väterliche Phallus hingegen ist Schutz vor dem Zuklappen des Kiefers. Er ist Instanz, die das Subjekt Subjekt sein lässt. Der »pazifische Ozean der mütterlichen Liebe« (VIII: 477) ist bedrohlich, der Vater ist derjenige, der das Kind vor diesem übermächtigen Begehren und dessen Unberechenbarkeit rettet und so eine Autonomie des Subjekts ermöglicht – auch wenn diese möglicherweise illusorisch ist, weil der Vater als Walze, als Nudelholz im Krokodilsmaul, ein lächerliches Provisorium ist. Das Stadium der Frustration Lacan beschreibt das Subjekt also gefangen in dem mütterlichen Begehren, das es zwar wie das Krokodilsmaul etwa den Krokodilwächtervogel mit Nahrung versorgt – was Lacan in seiner Schilderung ausspart –, das jedoch bereit ist, es zu verschlingen. Diese ausweglose Situation steht am Ende der Frustration, des ersten Stadiums des Kastrationskomplexes. Lacan siedelt die Frustration, definiert als imaginären Schaden, zunächst in dem an, was man präödipale Beziehung nennen würde, nämlich der Mutter-Kind-Beziehung vor der väterlichen Intervention.

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Dabei erweitert er das Verständnis des Präödipalen jedoch beträchtlich: Charakteristisch für die Frustration ist nämlich keine vermeintliche Symbiose, sondern eine immer schon durch einen Mangel zu einem Dritten hin geöffnete Beziehung. Dieses Dritte nennt Lacan Phallus, der als imaginäres Objekt das bezeichnet, was in der Beziehung zwischen Mutter und Kind fehlt, worauf sich jedoch das mütterliche Begehren bezieht. Dem ödipalen Dreieck geht also ein präödipales Dreieck von Mutter-Kind-Phallus voraus. Die Frustration bebildert Lacan mit dem Entzug der Brust durch die Mutter, die als Befriedigerin aller Bedürfnisse des Kindes seine universale Ansprechpartnerin, seine Andere, ist. Das Objekt, das im Zentrum der Frustration steht und an dem es mangelt, ist ein reales: die mütterliche Brust, von der das Kind reale Befriedigung, das Stillen des Hungers durch die Milch, erhält. Nun behauptet Lacan, dass das Fehlen des Objekts nicht nur im Realen erlebt wird, also als Hunger, sondern der Hunger als Fehlen des Objekts im Zusammenhang steht mit einem imaginären Anspruch: nämlich den Anspruch auf eine permanent anwesende, immer für das Kind verfügbare und zu allem bereite Mutter, der Anspruch auf ihre Liebe. Das Weinen des hungrigen Kindes ist also nicht nur ein Ruf nach Sättigung, sondern für Lacan ein Ruf nach Kompensation des erlittenen Unrechts, des Hungerleidens. Diese Kompensation ist zwangsläufig unmöglich, sie gehört dem Register des Imaginären an. Und erst jetzt lässt sich von Frustration sprechen, denn Frustration ist nicht einfach nur das Fehlen eines Bedürfnisobjekts, sondern die (partikulare) Zurückweisung des Liebesanspruchs durch das Fehlen eines realen Objekts. In diesem Zusammenhang verwendet Lacan den Begriff der Gabe, mit dem er wohl auf Marcel Mauss verweist: Sagen wir, dass ursprünglich die Frustration […] nur als Verweigerung der Gabe denkbar ist, insofern die Gabe das Symbol der Liebe ist. (IV: 214.) Das reale Objekt erhält als Gabe eine symbolische Bedeutung: Jede Bedürfnisbefriedigung, die die Mutter gewährt oder nicht gewährt, ist ein Hinweis, ein Zeichen auf die An- oder Abwesenheit ihrer Liebe. Die mütterlichen Sorgegeschenke entsprechen der Mauss’schen Gabe, deren Besonderheit es ausmacht, eine Mischung aus Person und Sache zu sein (vgl. Mauss 1990): In der Milch oder gar der Brust sorgt sie nicht nur für die konkrete Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern teilt sich mit und gibt so ein Stück von sich. Der Liebesanspruch wird jedoch notwendigerweise frustriert. Die Liebe der Mutter ist nicht direkt zu haben, sondern zeigt sich nur in ihren Gaben, in den Zeichen, die sie dem Kind gibt. Nun kann aber keine Gabe der Mutter den endgültigen Beweis erbringen, dass die Mutter das Kind und nur das Kind liebt. Die Gabe als Zeichen verweist auf etwas hinter ihr Liegendes, das ihr nie einzufangen gelingt. Es sind also unendlich viele Zeichen notwendig und auch diese werden nie ausreichen, um dem Kind die Liebe der Mutter zu versichern und den ersten

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erlittenen Mangel, aus dem der Anspruch erwuchs, zu kompensieren. Die Frustration hat ihren Ursprung im Fehlen eines realen Objekts, denn aus diesem Mangel kann der Wunsch nach vollständiger Mangellosigkeit entstehen, für die nun das reale Objekt Zeichen wird: »Die Gabe bekundet sich auf den Ruf hin. Der Ruf wird vernehmbar, wenn das Objekt nicht da ist« (IV: 215). Jede Gabe ist zu wenig und fordert weitere Gaben. Wenn das Objekt der Befriedigung gleichzeitig Zeichen der Liebe der Mutter ist, verändert sich auch die reale Befriedigung grundsätzlich: Die reale Befriedigung, das Stillen des Hungers, hat eine schmerzhafte Beschädigung erhalten. Weil die Befriedigung des Bedürfnisses Kompensation des Erlittenen ist, ist sie vom Erlittenen gekennzeichnet: »Das Kind verdrückt in der Befriedigung die grundsätzliche Ungestilltheit dieser Beziehung« (ebd. 216). Das bedeutet, dass auch die Verfügbarkeit des realen Objekts nicht die Frustration verhindern kann, denn die (absolute, vollständige) Liebe wird immer verweigert. Es gibt also keine Befriedigung mehr, die nicht korrumpiert wäre durch die komplexe Dynamik von Anspruch und Zeichen. Die Mutter ist in der Frustration nach Lacan eine symbolische Instanz, denn sie ist der Ort, von dem Zeichen kommen. Sie ist der Schatz der Signifikanten, den sie in einzelnen Häppchen dem Kind zugänglich macht, indem sie ihm Zeichen ihrer Liebe gibt – oder eben auch nicht. Sie ist für das Kind Repräsentantin der Ordnung des Tausches, zu dessen Teil es nun wird. Die Mutter der Frustration lässt sich interpretieren als das Gegenüber für die Entstehung des Triebs beim Kind: Ihre Pflegehandlungen befriedigen die kindlichen Bedürfnisse, dabei löst sich der Trieb auf den Bahnen des Symbolischen von dem realen Bedürfnis: Erogene Zonen, beispielsweise die Lippen, entstehen in Antwort auf zurückliegende Befriedigungserlebnisse. Zugleich entwickelt sich im Verlauf des Triebes erst die Trennung von Subjekt und Gegenüber: Der Körper als Zone der Berührung konturiert sich als Grenze zum anderen hin. Das lässt vermuten, dass das Genießen jenseits des Phallus, das Lacan dem Weiblichen unterstellt und das ich in Kapitel 4.5 mit dem Triebgenießen in Verbindung gebracht habe, in der mütterlichen Beziehung zum Kind einen Ort hat. Nicht nur der Trieb des Kindes würde in der Frustration entstehen, auch die Mutter würde dann genießen, Zeichen zirkulieren zu lassen, die Zonen der Begegnung schaffen, sie würde die Berührungen genießen, durch die ein genießendes Gegenüber entsteht. Jedoch handelt es sich bei der Mutter um eine Frau und deren Begehren richtet sich nach Lacan per definitionem auf den Phallus. Entsprechend nimmt Lacan an, dass der Phallus bereits in der Frustration auf als »rivalisierendes Objekt« (Pontalis 2009: 97) eine Rolle spielt, als das, was dem Kind selbst vorgezogen wird, auf das sich das Begehren der Mutter richtet und das dieses Begehren damit bezeichnet. Das Freud’sche Primat des Phallus im Ödipalen erklärt Lacan also nicht aus der Anatomie – etwa einer besseren Sichtbarkeit des männlichen Genitals und einer daraus resultierenden Eignung als Symbol. Der Phallus ist nicht das, was der

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Junge hat und das Mädchen nicht; er ist kein Sediment eigener genitaler Erfahrungen, sondern seine Bedeutung hat er aus »der Tatsache, dass der Mutter der Phallus fehlt, dass sie, weil es ihr daran fehlt, ihn begehrt, und dass sie allein, insofern etwas ihr ihn gibt, befriedigt werden kann« (IV: 225). Der Phallus ist in der scheinbaren Dyade bereits dritter Term, so dass Lacan von einer imaginären Triade spricht (IV: 31), in der der Phallus ein Versprechen auf Befriedigung im Begehren der Mutter darstellt. Die Wurzel des phallischen Phantasmas des Kindes liegt demnach im phallischen Phantasma der Mutter, in ihrem Penisneid, der sie eine vollständige Befriedigung jenseits der konkreten Beziehung zum Kind suchen lässt. So strukturiert der Phallus als Versprechen die Dynamik der Frustration, also den Liebesanspruch und seine Zurückweisung: Um zu befriedigen, was nicht befriedigt werden kann, nämlich jenes Begehren der Mutter, das in seinem Grunde unstillbar ist, lässt sich das Kind, auf welchem Weg es dies auch tut, darauf ein, sich selbst zum täuschenden Objekt zu machen. Es geht darum, dieses Begehren, das nicht gestillt werden kann, zu täuschen. (Ebd.: 230). Das Kind erlebt die Mutter unbefriedigt und versucht, für Befriedigung zu sorgen, indem es zu dem wird, was sie jenseits seines Selbsts begehrt. Es bemüht sich zum Phallus, zum Ein-und-Alles der Mutter zu werden und sie zu verführen, und macht sich, wie Lacan formuliert, zum Köder, also zu einem Lockmittel, ausgelegt, um das Begehren der Mutter zu erwischen, zu interpretieren. Doch dieses mütterliche Begehren ist bedrohlich: Diese ungestillte, unbefriedigte Mutter, in deren Umfeld der ganze Aufstieg des Kindes auf dem Weg des Narzissmus erfolgt, ist eine, die dem Realen zugehört, sie ist da, und wie alle ungestillten Wesen sucht sie, was sie verschlingen kann, quaerens quem devoret. Das, was das Kind einst gefunden hat, um seine symbolische Ungestilltheit zu verdrücken, findet es möglicherweise vor sich als einen geöffneten Schlund wieder. (IV: 230.) Das Begehren der Mutter – in diesem ist die Mutter Repräsentantin des Realen – droht das Kind zu verschlingen. Denn zum Problem wird das mütterliche Begehren, wenn das Kind »den Platz eines Gefangenen, eines Opfers, eines passiv gemachten Elements eines Spiels« gemacht wird, »in dem er den Bedeutungen des Anderen zur Beute fällt« (IV: 269). Wenn also die Mutter den Phallus begehrt, wird dieses Begehren problematisch, wenn das Kind dieser Phallus sein muss. Das Stadium der Privation Die verschlingende Mutter, die den Phallus begehrt und in ihrem Kind diesen sucht, macht die Intervention des Vaters notwendig. Dass die Mutter am Phan-

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tasma des Phallus festhält, macht aus der nährenden symbolischen Mutter der Frustration das verschlingende Krokodilsmaul. Hier bedarf es der imaginären, kastrierenden Instanz, die die Mutter zur Vernunft ruft und ihr den Inzest untersagt. Lacan entwickelt dieses Szenario in Seminar IV als Bestandteil des Kastrationskomplexes und bezeichnet die Intervention des Vaters als Stadium der Privation. Dabei nimmt er eine leichte Veränderung gegenüber Freud bezüglich des Inzestverbots vor. Lacan definiert: Die Privation »ist speziell die Tatsache, dass die Frau keinen Penis hat, dass sie dessen beraubt (privée) ist« (IV: 258). Das Inzestverbot richtet sich also primär an die Mutter8 und das fehlende Objekt ist hier der abwesende Penis bei der Mutter. Die scheinbar phallische, allmächtige Mutter wird kastriert und ihres Phallus in Form des Kindes beraubt. Sie darf »ihr Produkt nicht wieder in sich hineinnehmen« (Pontalis 2009: 99), sie darf es nicht verschlingen. Das Inzestverbot untersagt der Mutter, das Kind zu ihrem Phallus zu machen, zu ihrem Liebesobjekt, das ihr völlig unterworfen ist. Erst die Privation der Mutter verweist das Kind auf seinen eigenen Mangel. Die Privation definiert Lacan als Thematisierung des Mangel im Realen, des realen Lochs, das die Voraussetzung für die symbolische Kastration ist. Die Annahme eines Mangels im Realen erscheint zunächst paradox, da das Reale per definitionem voll ist, weil es keine Differenz kennt und so in ihm nichts fehlen kann: Eben die Annahme einer in einer Erfahrung wie gerade dieser so überaus spürbaren und sichtbaren Privation impliziert die Symbolisierung des Objekts im Realen. Denn im Realen ist nichts einer Sache beraubt. Alles, was ist real ist, genügt sich selbst. Per definitionem ist das Reale voll. Wir können die Annahme einer Privation insofern ins Reale einführen, weil wir es bereits hinreichend, ja sogar ganz und gar voll symbolisieren. Zeigt man an, dass etwas nicht da ist, so unterstellt man seine mögliche Anwesenheit und führt so ins Reale, um es abzudecken und auszuhöhlen, die schlichte symbolische Ordnung ein. Das Objekt, um das es dabei geht, ist der Penis. (Ebd.: 259.) Das Reale, in dem nichts fehlen oder unvollständig sein kann, wird kolonisiert von dem Symbolischen, in dem der Phallus vorhanden ist.9 Es macht das Wesen des 8

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Peter Widmer merkt an, dass es sich dabei um eine deutliche Verschiebung gegenüber Freud handelt, bei dem das Inzestverbot an das Kind gerichtet ist. Diese Verschiebung ergebe sich aus der strukturalen Reinterpretation des Ödipus, in der der Vater als Namen-des-Vaters eine Instanz im Symbolischen und nicht ein realer Agent darstellt (Widmer 2009: 120). Das Reale habe ich im zweiten Kapitel beschrieben als negatives Jenseits des Symbolischen, dessen Erleben traumatisch ist. Im Realen gibt es keine Unterschiede, keine Differenzierungen und somit auch nichts, was fehlen kann. Nur durch die Aneignung des Realen durch das Symbolische kann ersteres ein Loch bekommen. Das Loch im Realen darf also nicht mit dem Penis verwechselt werden, sondern ist der »Genießensmangel«, der angesichts des absoluten Genießens entsteht, das der Phallus verspricht.

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Symbolischen aus, dass das, was symbolisiert ist, an- oder abwesend sein kann. Im Realen kann nur etwas abwesend sein, wenn das Reale durch das Symbolische besetzt oder »ausgehöhlt« wird. Also geht es um ein symbolisches Objekt, den symbolischen Phallus, der fehlt. Jedoch: »Er ist wahrlich niemals da, wo er ist, und er ist niemals ganz abwesend da, wo er nicht ist« (ebd.: 228). Als Symbol kann der Phallus nicht negativiert werden. Auch in seiner Abwesenheit ist er anwesend. Im Fall des Mädchens ist es nach Lacan recht einfach, sich diese Konfrontation des symbolischen Phallus mit dem Realen vorzustellen: Sie erlebt das Begehren der Mutter als unbefriedigt in der Beziehung zu ihr: Es ist ein Loch im Realen, das sich einer anwesenden Abwesenheit im Symbolischen verdankt. Wir könnten sagen, dass das Mädchen mittels ihrer allmählichen Entdeckung der tiefen Unbefriedigung, die die Mutter in der Mutter-Kind-Beziehung empfindet, dem Phallus in dem Imaginären, in dem er sich antreffen lässt, im Jenseits der Mutter, in etwa einen Ort zugewiesen oder ihm sich genähert hat. (IV: 238f.) Das Mädchen kommt also angesichts der Unzufriedenheit der Mutter zu der Erkenntnis, dass der Phallus weder bei der Mutter noch bei ihm selbst anzutreffen ist, sondern im Jenseits dieser Beziehung liegt. Der Phallus befindet sich bei einer Instanz, die als allmächtige nur imaginär sein kann: Es ist der imaginäre Vater, der dann eben auch in der Lage wäre, dem Mädchen in der Form eines Kindes den Phallus – dessen Gleichsetzbarkeit mit dem Kind ihn als Symbol ausweist – zu ersetzen. Allerdings wird das Mädchen vom Vater in diesem Verlangen ebenfalls zurückgewiesen und erlebt sich beraubt um etwas, das nur der imaginäre, der ideale Vater haben kann. Entsprechend wird sie sich ihre Partner nach diesem Vorbild wählen. Mit der Privation ist der weibliche Kastrationskomplex also bei Lacan schon so gut wie abgeschlossen – bei Freud war die Erkenntnis der Geschlechterdifferenz beim Mädchen erst Auslöser für den Ödipuskomplex, während sie beim Jungen dessen Abschluss bildete. Erklärungsbedürftiger ist für Lacan also die Frage, wie der Junge auf die Idee kommt, dass er mit seinem Penis einen (zukünftigen) Phallus in der Hand hat, wie sich der Junge also mit dem allmächtigen Phallusbesitzer verwechseln kann. Um diese Frage zu erörtern, rekapituliert er Freuds Fall vom kleinen Hans,10 in dessen Symbolischen der Phallus zunächst zentraler Bezugspunkt ist. Dann plötzlich beginnt sich sein Penis zu regen und bringt alles durcheinander: Das Kind versucht, sich in das einzufügen, sich in das zu integrieren, was es für die Liebe der Mutter ist – und, mit ein wenig Glück, und sogar sehr wenig Glück, gelingt es ihm, denn es genügt ein noch so schwaches Anzeichen, um diese überaus

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Es handelt sich um den Fall aus Freuds »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« aus dem Jahr 1909 (GW 7: 243–377).

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heikle Beziehung zu bestätigen. Doch von dem Moment an, da sein Trieb, sein realer Penis eingreift, wird die Ablösung sichtbar, von der ich gerade sprach. (IV: 268.) Was unterscheidet also die Situation des Jungen von dem Mädchen? Lacan spricht davon, »dass alles am Ende davon abhängt, was real das Kind für die Mutter ist« (ebd.). Der Unterschied ist nun also, dass die Mutter im Jungen den Phallus zu haben glaubt, während sie mit dem Mädchen unzufrieden ist? Für den Knaben scheint es kein Problem zu sein, die »heikle Beziehung« zu retten, sich zum Phallus der Mutter zu machen und sie so zu verführen. Das Problem taucht an einer anderen Stelle auf, nämlich als eigene genitale Regung, als ein Genießen jenseits der Mutter, die plötzlich das zuvor Erstrebte, nämlich einziges und befriedigendes Objekt der Mutter zu sein, zum Problem werden lässt: Das männliche Kind nimmt nicht nur den »Platz eines Gefangenen, eines Opfers, eines passiv gemachten Elements« (ebd.) ein, es kann nun den Unterschied ermessen »der zwischen dem besteht, wofür er geliebt wird, und dem, was er geben kann« (ebd. 289). Die Ablösung, die Befreiung aus dieser der Paranoia entsprechenden Situation – das paranoide Subjekt ist hilfloses Objekt und dem Genießens des Anderen ausgeliefert – gelingt nicht ohne intervenierende Instanz. Und hier kommt der imaginäre Vater wieder ins Spiel, diese allmächtige Instanz: Das Eingreifen des Vaters führt hier die symbolische Ordnung mit ihren Verboten wieder ein, die Herrschaft des Gesetzes, dass nämlich die Angelegenheit aus den Händen des Kindes genommen und damit anderswo geregelt wird. […] Die symbolische Ordnung greift genau auf dieser imaginären Ebene ein. (Ebd. 269.) Dies klingt tatsächlich, wie Lacan einsieht, nach einer etwas simplen Lösung. Der Vater als Deus ex Machina tritt auf und spricht das Inzestverbot aus. In Seminar V betont Lacan, dass es sich bei der Instanz, die das Verbot artikuliert, nicht um eine reale, dazwischentretende Person handelt, sondern um eine Instanz im Diskurs der Mutter selbst.11 Im »Namen-des-Vaters« ist der Inzest verboten, im Namen der Instanz, die den Diskurs der Mutter legitimiert (vgl. Pontalis 1999: 95ff.). Dieser »Namen-des-Vaters« ist in der Privation vor allem »Nein-des-Vaters«, die absolute und autoritäre Forderung, die nur von einer imaginären Instanz geäußert werden kann: Der Vater tritt in diesem Stadium als Repräsentant des Gesetzes auf, der sozialen Ordnung, in die Mutter und Kind eingebettet sind. Als solcher ist er allmächtig, was ihn als imaginäre Figur ausweist. Indem die Mutter im Namen des Vaters die Angebote des Kindes zurückweist, sich zu ihrem Objekt zu machen,

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Auch bei Freud spricht nicht unbedingt der Vater die Kastrationsdrohung aus. Die von Pflegepersonen artikulierte Kastrationsdrohung wird vielmehr nachträglich dem Vater zugeschrieben (vgl. Laplanche/Pontalis 1972: 244).

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kommt das Inzestverbot und die Kastrationsdrohung in dem von der Mutter ausgesprochenen »Nein-des-Vaters« beim Kind an. Das Kind wird auf seinen realen Mangel verwiesen, auf seine Beschränktheit, die gegenüber dem übermächtigen Vater deutlich wird. Somit ist nicht nur das Mädchen im Realen beschädigt. Auch der Junge zeigt sich als Beschädigter, als einer, der verglichen mit dem imaginären Vater nichts zu bieten hat. Diese reale Beschädigung, die Privation, ist die Grundlage für die Akzeptanz der Kastration. Das Stadium der Kastration Die Kastration definiert Lacan als den Mangel eines imaginären Objekts im Symbolischen. Als Endpunkt des Kastrationskomplexes soll die symbolische Kastration das Subjekt im Symbolischen installieren, in einem Symbolischen jedoch, das nicht durch einen imaginären Fixpunkt abgesichert, sondern dieses Fixpunktes beraubt ist und deshalb keine letzte Absicherung hat. In der Kastration verbindet sich also theoretisch die Beschädigung des Imaginären, die Zurückweisung des Anspruches durch reales Leiden in der Frustration, und die Beschädigung des Realen, die Erfahrung der eigenen Ohnmacht angesichts des symbolischen Phallus in der Privation, mit der Beschädigung des Symbolischen, dem Verlust einer zentrierenden Instanz, die Kompensation ermöglichen könnte. Zu verantworten hat die symbolische Kastration der reale Vater. Bisher war der »reale Vater« noch nicht aufgetaucht und die Beziehungsdynamik fand zwischen Mutter und Kind statt. In der Privation trat der Vater auf als imaginäre und kastrierende (eigentlich privatierende) Figur, die das Inzestverbot artikuliert, der Mutter den Phallus nimmt und sie damit auf ihr »reales Loch« hinweist. Doch betont Lacan, dass der imaginäre Vater Teil des mütterlichen Diskurses sein kann, es in der Privation also keinen »realen« Vater braucht, der den imaginären Vater verkörpert. Der imaginäre Vater wird wirksam, wenn die Mutter in seinem Namen die Verführungsversuche des Kindes zurückweist.12 Wenn Lacan den »realen Vater« als Agenten der Kastration definiert, scheint erstmals im Kastrationskomplex eine empirische Person neben der Mutter aufzutauchen. Was versteht Lacan jedoch unter dem realen Vater? Ist er der biologische Vater, derjenige, der der Mutter ein weiteres Kind macht (IV: 155) oder das Spermium, wie Lacan zuerst vorschlägt? Ich könnte sogar sofort ein ganz klein bißchen weiter gehen, indem ich Sie darauf hinwiese, dass der Begriff des realen Vaters wissenschaftlich unhaltbar ist. Es gibt nur einen realen Vater, und das ist das Spermatozoon, und bis auf weiteres hat niemand je daran gedacht, zu sagen, er sei der Sohn eines solchen Spermatozoons. (XVII: 125)

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Diese Konzeption entlastet ganz offensichtlich den empirischen Vater: Was auch immer schief geht, liegt in der Verantwortung der Mutter.

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Tatsächlich real ist nur das Spermium, jedoch ist Lacan skeptisch, was dessen Bedeutung für die Entstehung der Subjektivität betrifft. Allerdings halte ich es für durchaus vorstellbar, das Spermium an die Stelle des realen Vaters zu setzen: Wenn der reale Vater die Instanz ist, die die Andersheit des Kindes der Mutter gegenüber absichern soll, ist das Spermium Platzhalter für das, was im Kind über die Mutter hinausgeht: Dass das Kind ihr nicht vollkommen gleicht, kann sich die Mutter mit dem väterlichen Erbe erklären; ihre Identifikation mit dem Kind findet eine Grenze an dem Punkt, an dem sie im Kind den Vater und nicht sich selbst erkennt.13 Lacan weist jedoch auf einen weiteren Aspekt hin, der den realen Vater ausmacht und der nicht dem Spermium zuzurechnen ist: Den realen Vater definiert er als denjenigen, der die Mutter besitzt, der sie als Vater besitzt mit seinem wahren Penis, der ein genügender Penis ist, im Unterschied zum Kind, das wiederum von dem Problem eines zugleich schlecht angepassten und ungenügenden, wenn nicht sogar zurückgewiesenen und verspotteten Instrument übermannt wird. (IV: 427.) Der reale Vater zeichnet sich also vor allem dadurch aus, dass die Mutter ihn begehrt und dass er in der Lage ist, sie zu befriedigen und damit das kindliche Genital als nicht ausreichend qualifiziert. Der reale Vater wäre dann der konkrete »Nebenbuhler«, der das bekommt, was dem Kind verweigert wird: das vollständige Genießen der Mutter. Jedoch geht es Lacan nicht um den Vater als empirische Person, sondern als strukturelles Element, das die genannten Aspekte, das Eintreten für das im Kind, was über die Mutter hinausgeht, und die Verkörperung des vollständigen Genießens, verbindet. Erst mit der Einführung des Begriffs »Vatermetapher« wird die Differenz zwischen einer empirischen väterlichen Figur im Leben des Kindes und dem »realen Vater« als strukturellem Element deutlich. Die Metapher entspricht in ihrer Struktur der Verdrängung und genau als solche tritt sie nun in der symbolischen Kastration auf, denn an ihrem Ende muss – wenn sie der Idee Freuds entsprechen soll – stehen, dass das Subjekt seine sexuelle Mutterbindung verdrängt und sich mit dem Vater, was auch immer mit diesem gemeint sei, identifiziert. Als Metapher ist der Vater also das, was das Begehren der Mutter ersetzt: Indem er das repräsentiert, was die Mutter befriedigt, benennt der Vater das Begehren der Mutter, steht also für das, was die Mutter begehrt, aber auch für das, was die Mutter begehrenswert macht. Er entspricht damit dem Signifikanten, der das reale Ding durchstreicht.

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In diesem Fall wäre, wie in jedem anderen ödipalen Fall, die Andersheit des Kindes keine eigenwertige Andersheit, sondern als über den Vater vermittelte eine patrilineare. Darauf werde ich im Folgenden noch kommen.

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Während in der Privation der Vater als Nein-des-Vaters und als kastrierende Instanz auftritt, die der Mutter den Phallus (in Form des Kindes) raubt bzw. die Kastrationsdrohung an das Kind richtet und ihm das mütterliche Objekt verbietet, tritt der Vater als Namen-des-Vaters in der Kastration als permissive Instanz auf. Als erste Metapher setzt er das Symbolische ein und damit die Möglichkeit, die Konkurrenz um das gemeinsame Objekt aufzulösen. Somit entspricht das, was Lacan symbolische Kastration nennt, dem Freud’schen Untergang des Ödipus und der Separation, also der Einsetzung des Begehrens in den Bahnen des Symbolischen. Der Vater ist der, der hat, was die Mutter begehrt; er ist Besitzer des Phallus und nicht mehr der, der den Phallus der Mutter rauben will und kann. Damit verschiebt sich der Ort, an dem der Phallus vermutet wird: Während zu Beginn des Kastrationskomplexes der Mutter der Phallus unterstellt wird, sich dann das Kind zum Phallus macht, um ihr den fehlenden Phallus zu ersetzen, taucht er nun beim Vater wieder auf. Aber »der Vater interveniert als derjenige, der den Phallus hat, und nicht als derjenige, der der Phallus ist.« (Pontalis 1999: 97) und unterscheidet sich damit von dem Verhältnis, das das Kind zum Phallus versucht. Als Besitzer des Phallus, also von dem, was die Mutter begehrt, ist er der, der Zugang zum vollständigen Genießen der Mutter hat, ohne sich zu ihrem Objekt zu machen. Mit der Formulierung »Namen-des-Vaters« macht Lacan deutlich, was zentrale Funktion des Vaters ist: Er ist der, der dem Kind seinen Namen gibt und damit eine symbolische Identifikation ermöglicht: Das Kind wird nun vom Signifikanten repräsentiert, ohne mit ihm identisch zu sein: Es ist ein Subjekt geworden. Der Mangel, der mit der Kastration eingeführt wird, ist zum einen der Mangel des Subjekts, das zum Signifikanten stets einen Mangel bildet und nie mit dem Signifikanten identisch wird. Zum anderen aber hängt dieser Mangel des Subjekts mit dem Mangel des Symbolischen zusammen: Weil das Symbolische unvollständig ist, kann es nie vollständig repräsentieren, es kommt nie vollständig mit dem Realen und Imaginären zur Deckung. Lacan spricht im Zusammenhang mit der Unvollständigkeit des Symbolischen von einer symbolischen Schuld (IV: 70) und verweist damit auf den Freud’schen Mythos des Mordes am Urvater: Dieser Mord ist gesellschaftsstiftend, weil die Söhne in ihrer Schuld verbunden sind. Somit entspricht der Namen-des-Vaters den Wirkungen des toten Vaters: Was ist ein VATER? – Es der tote VATER, antwortet Freud, aber niemand hört ihn, und was das nun angeht, was Lacan davon unter der Überschrift NAMEN-desVATERS aufnimmt, kann man nur bedauern, dass eine wenig wissenschaftliche Situation ihn immer noch seiner normalen Zuhörerschaft beraubt sein lässt. (Sch II: 349.) Schon bei Freud sei der für den Ödipus-Komplex verantwortliche Vater ein toter Vater und damit eben nicht die konkrete elterliche Figur mit ihren Unzulänglichkeiten, Wünschen und Bedürfnissen. Genauso wenig ist der tote Vater eine tat-

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sächlich existierende Figur. Der tote Vater ist die abwesende Ursache, die sich in der Schuld der Urhordensöhne erkennen lässt. Es hat ihn nie gegeben, denn diese eine Instanz, die das Symbolische absichern könnte, gibt es nicht. Die symbolische Kastration fügt also den Mangel ins Symbolische ein, indem der Vater als abwesender auftritt. Der empirische Vater hat nur Bedeutung, weil er den Namen des Vaters trägt und weitergibt und so eine männliche Genealogie herstellt, die auf den entzogenen Gründungsakt verweist. Als realen Vater bezeichnet Lacan deshalb die Instanz, die abwesende Ursache einer Identifikationskette ist, die eine Beziehung zwischen Vater und Sohn ermöglicht. Diese Ursache steht außerhalb des Symbolischen und ist deshalb realer Kern des Symbolischen. Agent der Kastration ist dieser reale Vater, für den väterliche Figuren, Autoritäten, stets nur Metaphern sein können.

5.3 Das Problem des mütterlichen Begehrens Die Mittel des Genießens stehen unter der Bedingung offen, daß er auf das abgeschlossene, das seltsame Genießen verzichtet hat, auf die Mutter. (XVII: 84.) Im letzten Kapitel wurde bereits deutlich, dass Vater und Mutter im Kastrationskomplex völlig unterschiedliche Rollen zukommen. Diese Unterschiede werde ich im Folgenden zusammentragen und zuspitzen. Der toter Vater verdeckt den Muttermord Die Mutter ist eine Person – möglicherweise auch mehrere –, die mit den Bedürfnissen des Kindes in Zusammenhang steht, diese beantwortet, mehr oder weniger befriedigt. Die Mutter ist das, was das Überleben des Kindes sichert, auf seinen Schrei antwortet mit einer Fülle möglicher Antworten: Nahrung, Wärme, Kontakt, verschiedensten Sinnesreizen und Anregungen. Die Mutter ist damit als diejenige definiert, die erstes Gegenüber des Kindes ist und als solche »schwanger geht mit diesem Anderen« (Sch II: 199), also dessen Vorlage liefert. Zwischen Mutter und Kind gibt es eine Abhängigkeitsbeziehung, deshalb ist das Kind mit dem mütterlichen Begehren konfrontiert, das sich jedoch nicht auf das Kind allein beschränkt und rätselhaft ist. Der Vater ist keine gleichberechtigte Instanz neben dieser begehrenden Mutter: »Es gibt keinen Andern des Anderen« wird Lacan nicht müde zu betonen (vgl. Sch II: 350). Vielmehr interveniert er in die Beziehung zwischen Mutter und Kind als Deus ex Machina: Er hat zum Kind keine eigenständige Beziehung, er hat kein Begehren, es gibt – in der psychoanalytischen Theorie – keine materielle Abhängigkeit vom Vater. Damit ist eine wesentliche Unterscheidung zwischen Vater und Mutter getroffen: Die väterliche Rettung beruht nicht notwendigerweise auf einer

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Aktion eines Vaters als Person. Im Gegenteil, die Person des Vaters ist für Lacan verzichtbar: Er ist der symbolische Phallus, also der Namen-des-Vaters und als Bestandteil des mütterlichen Diskurses nicht zwangsläufig mit einem empirischen Menschen assoziiert. Ob es einen Vater als Person gibt oder nicht, ist für die Entstehung des Subjekts nicht entscheidend, jede empirische Person wird sogar als Vater versagen und nicht väterlich genug sein: Der reale Vater ist immer der tote, also der abwesende, phantasmatische Vater: der Urvater. Lacan nutzt Freuds Mythos vom Urvater, um etwas zu illustrieren, was beispielsweise in der Rechtsphilosophie als leere Geste der Macht thematisiert wird, nämlich dass jedes Rechtssystem in einem gewaltsamen Akt gründet, der nicht durch das Rechtssystem selbst begründet werden kann, ihm äußerlich und letztlich jedem Zugriff entzogen bleibt.14 Wenn Lacan diese Gründungsgeste mit dem Vater assoziiert, so bezieht er sich nicht auf konkrete väterliche Figuren oder Autoritäten, sondern betont, dass der Vater tot, d.h. immer schon abwesend und nur als das zugänglich ist, auf das die symbolische Schuld verweist. Freuds verschiedene Vatergestalten versucht Lacan radikal zu entleeren, er sieht in ihnen nur phantasmatische Auskleidungen einer Leerstelle im Symbolischen. Wenn das Kind den Namen-des-Vaters annimmt, so identifiziert es sich nicht mit konkreten Attributen, denn der Vater hat als abwesender keine besonderen Merkmale. Die Identifikation mit dem Vater bedeutet das Auf-sich-Nehmen der leeren, sinnlosen Geste, die den Vater als Objekt der Liebe wie die Söhne als schuldig Liebende erst hervorbrachte. Entscheidend für die Fragestellung dieser Arbeit ist nun aber, dass diese scheinbar leere Geste nicht wirklich frei von allen Attributen und damit gar nicht so leer ist, wie sie erscheint: Sie ist an die Unterscheidung von Mutter und Vater gebunden und damit sexuiert. Die leere Geste wendet sich gegen die Mutter und die Abhängigkeit von ihrem Wohlwollen und ihrer Liebe, die mit der (in diesem Sinne vermeintlichen) Gründungsgeste negiert wird. Das Subjekt, das sich auf diese Geste stützt, leugnet mit dem Weiblichen seine eigenen Voraussetzungen, die gerade nicht in einer leeren Geste ohne Geschichte liegen, sondern in der Beziehung zu einer liebenden anderen. Die Beziehungsdynamik der symbolischen Kastration spielt sich vor allem zwischen den zwei empirischen Personen von Mutter und Kind ab, in der der Sprache und die in sie eingelassene Position des Vaters zukommt, Verbindung und Distanz herzustellen. Während der Vater der ist, »der Liebe verdient«, ist die Mutter diejenige, die selbst liebt, die begehrt, die genießt und genossen wird. Damit ist es das Genießen der Mutter – im doppelten Sinne dieses Genitivs –, das im Zuge der Einsetzung des väterlichen Signifikanten durchgestrichen wird. Der Vatermord aus 14

So betont beispielsweise Jacques Derrida, indem er sich auf Walter Benjamins Differenz zwischen rechtsetzender und rechterhaltender Gewalt bezieht, dass jedes Rechtssystem letztlich arbiträr ist und sich nicht aus sich selbst heraus begründen kann (vgl. Derrida 1991).

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Freuds Mythos verschleiert also eigentlich – wie Luce Irigaray treffend formuliert (vgl. Irigaray 1989: 30) – einen Muttermord. Dieser Muttermord, der den Beginn der Existenz des Subjekts markiert, lässt sich als Grund für die von Freud konstatierte Ablehnung der Weiblichkeit bei beiden Geschlechtern verstehen: Das Subjekt als separiertes und scheinbar unabhängiges kann nur existieren, wenn es die Mutter und damit das Weibliche immer wieder zurückweist.15 Der Vater sorgt für die Ablösung des Kindes von der Mutter und sichert dessen Subjektivität, indem er sein Begehren von ihrem löst. Er sorgt für den glücklichen Ausgang der scheinbar ausweglosen Situation des Kindes angesichts des mütterlichen Krokodilsmauls; als Agent gleicht er damit einem Deus ex Machina: Aus den Bühnenaufbauten erscheint er plötzlich, ohne Verbindung zu dem, was vorher war, und gibt der festgefahrenen Handlung eine unvorhergesehene Wendung zum Guten. Der Vater als Deus ex Machina verdeutlicht die Notwendigkeit des Ausnahmefalls – der Auftritt des Deus ex Machina ist ein Wunder – in der Entstehung des Subjekts, ein Ausnahmefall, der ständig notwendig und vorausgesetzt ist. Jedoch ist der Vater als Deus ex Machina auch eine Witzfigur, die durch ihren Eingriff in erster Linie zeigt, dass es keine realistische Auflösung des Dilemmas gibt, in das sie interveniert hat. Die dramaturgische Entscheidung, einen Gott aus dem Hut zu zaubern, der am Schluss alle Probleme löst, offenbart vor allem die fehlende Kunst des Dramaturgen, sie ist eine Demutsgeste des Erzählers, der anerkennt, dass er seine Erzählung nicht im Griff hat, oder ein zynischer Kommentar zur Ausweglosigkeit der Lage. Was aber macht die Lage so ausweglos? Mit der Mutter, die in der Frustration den Trieb lebt, wäre eine Beziehung zwischen Mutter und Kind beschrieben, die jenseits des Phantasmas einer vollständigen Befriedigung, jenseits des Phallus, stattfindet. Lacan behauptet jedoch, dass auch in dieser frühen Phase der Frustration schon der Phallus eine Rolle spielt als das, auf das sich das mütterliche Begehren eigentlich richtet. Er konstruiert also einen Normalfall, in dem die Mutter am Phantasma des Phallus festhält. Diese Bezogenheit des mütterlichen Begehrens auf den Phallus macht in Lacans Theorie aus der nährenden Mutter der Frustration das verschlingende Krokodil, das durch die väterliche Intervention in seine Schranken gewiesen werden muss, denn indem die Mutter das Kind zu ihrem Phallus oder Liebesobjekt macht, lässt sie dessen Subjektivität keinen Raum. Das mütterliche

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An diese Analyse schließt beispielsweise Luisa Muraros Forderung nach einer »symbolischen Ordnung der Mutter« an: Dem Fehlen der Symbolisierung der Beziehung zur Mutter soll begegnet werden, indem ihre Gabe symbolisiert wird. Entsprechend steht das Sprechen über die Beziehung zur eigenen Mutter, aber auch eine Betonung vertikaler Beziehungen zwischen Frauen im Zentrum einer an diese Gedanken anknüpfenden feministischen Praxis (vgl. Muraro 2006; Libreria delle donne die Milano 2001).

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Begehren wird für das Kind zum Problem, das nur durch den Vater gelöst werden kann. In Lacans Beschreibung des weiteren Verlaufs des Kastrationskomplexes spielt nur noch dieses problematische Begehren der Mutter eine Rolle, die Bedürfnisbefriedigungen hingegen, für die sie verantwortlich ist, treten in den Hintergrund. In der Privation ist die Mutter nicht mehr nährend und Ort vieldeutiger Signifikanten, sondern diejenige, an die das Inzestverbot gerichtet ist – zum Schutze des entstehenden Subjekts, das sie zu verschlingen drohte. Ihre Bedrohung rührt daher, dass der Mutter der Phallus fehlt, dass sie, weil es ihr daran fehlt, ihn begehrt, und dass sie allein, insofern etwas ihn ihr gibt, befriedigt werden kann. (IV: 225) Die Mutter, deren Begehren sich auf den Phallus richtet, weil ihr dieser fehlt, will das Kind zu diesem machen und damit seine Subjektivität auslöschen. Dieses mütterliche Begehren ist das in der Eingangssequenz zitierte Krokodilsmaul, das das Subjekt zu verschlingen droht. Im Stadium der Kastration schließlich taucht die Mutter schließlich kaum noch auf. Hier ist sie das, was Lacan in Seminar VII das Ding nennt, das vom Signifikanten durchgestrichen wurde (vgl. VII: 85). Sie ist das, was geopfert werden musste, um ein Symbolisches einzurichten, und das, was in den Objekten gesucht aber nie gefunden wird, das, dessen Verlust das Objekt a als Mehrlust einsetzt. Dieses verlorene Objekt, das macht Lacan in seinen späteren Seminaren deutlich, hat es jedoch nie gegeben. In diesem Sinne ist die Mutter der rückprojizierte Ort des Genießens, der erst durch die symbolische Ordnung möglich wird: Die Mutter gibt es nicht. Insbesondere in Lacans Interpretation der symbolischen Kastration der späten Jahre scheint die Mutter und damit auch ihre tatsächliche Arbeit, ihre Sorge um das Kind und ihre Liebe zu ihm nicht mehr als eine Phantasie zu sein, die mit dem väterlichen Signifikanten einhergeht. Die Theorie wiederholt so die Geste, die sie zunächst beschrieb, nämlich dass der väterliche Signifikant das mütterliche Begehren ausstreicht und damit die Beziehung des Subjekts zu seiner Mutter aus dem Symbolischen löscht: Auch theoretisch spielt die Subjektivität der Mutter, ihr Genießen und insbesondere ihre überlebensnotwendigen Gaben keine Rolle mehr. Die theoretische Ausklammerung der mütterlichen Arbeit und Liebe passiert Lacan insbesondere dann, wenn er den Signifikanten und Genießen als gleichursprünglich denkt. Die erste Verschiebung in diese Richtung nimmt er in Seminar VII vor, in dem er das Genießen und das Lustprinzip als Gegensätze konzipiert und ersteres mit dem Todestrieb und dem Realen, zweites mit dem Symbolischen identifiziert. Diese Modifikation der Theorie – zuvor, beispielsweise in Seminar II, war der Todestrieb noch mit der Signifikantenkette assoziiert – war notwendig, denn erst dadurch war ein Genießen zu denken, das nicht im Dienst des Anderen steht,

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ein Subjekt möglich, das sich vom Anderen löst oder das zumindest nicht völlig durch ihn determiniert ist.16 Indem Lacan die Mutter jedoch mit dem vom Signifikanten durchgestrichenen Ding identifizierte (vgl. VII: 84), stellte er die Mutterbindung in den Zusammenhang mit dem Todestrieb, den in Schach zu halten die Aufgabe des väterlichen Signifikanten war. Insofern problematisiert die theoretische Modifikation in Seminar VII die Liebe der Mutter mehr als zuvor. Aber erst mit der Konzeption des Objekts a und dem damit verbundenen Bedeutungsverlust des Dings ab Seminar VIII wird die mütterliche Arbeit völlig ausgeklammert.17 Wenn schließlich Signifikant und Genießen gleichursprünglich gedacht werden, gerät die Beziehung zur Mutter in den Bereich des Undenkbaren. Von den verschiedenen Rollen, die die Mutter in Seminar IV noch einnehmen konnte, bleibt in Seminar XVII nur die letzte übrig: die des bedrohlichen und verschlingenden Begehrens. Dieses Begehren rechtfertigt die väterliche Intervention, den damit verbundenen Muttermord und die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen. Im Folgenden will ich untersuchen, wie Lacan die Bedrohlichkeit dieses Begehrens begründet. Mütterliches Begehren und Perversion Seine Theorie des bedrohlichen mütterlichen Begehrens veranschaulicht Lacan mit dem bereits erwähnten kleinen Hans, dessen Angst vor Pferden Freud in Bezug auf seine Theorie des kindlichen Sexuellen interpretierte und mit dem väterlichen Genital in Verbindung brachte. Lacan geht davon aus, dass der kleine Hans nicht nur wegen der Unfähigkeit seines Vaters, den kastrierenden imaginären Vater zu mimen, eine Phobie entwickelt, sondern auch weil seine Mutter ihn als ihr Anhängsel und ihr passives Lustobjekt nimmt. Damit schließt Lacan an die schon aufgeführte Interpretation Freuds an, der das Verhältnis der Mutter zum Kind als eine Kompensation der Kastration und das Kind so als Penis der Mutter verstand. Jedoch nimmt Lacan im Vergleich zu Freud eine wichtige Verschiebung vor, indem er auch hier nicht vom Penis sondern vom Phallus spricht und damit klarstellt, dass es sich um etwas handelt, was nicht besessen werden kann, dass es also um einen Signifikanten geht. Das Kind ist nicht Phallus für die Mutter im Sinne eines Körperteils, das die Mutter sprachlos für das ihre hält. Vielmehr hat die Mutter ein Verhältnis zu einem kindlichen Gegenüber, das sie selbst »unkastriert« werden lässt, so

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Zum Wandel im Begriff des Genießens beispielsweise Miller 2000. An dessen Systematik knüpfen schon zitierte Autor_innen wie Zupančič und Recalcati an. Lacan spricht in Seminar VIII noch von der nährenden Funktion der Mutter. Mit seiner Konzeption des Objekts a aus den Partialobjekten, die eine Zerstückelung des mütterlichen Körpers und damit ein Abrücken von einer aktiven Vorstellung der mütterlichen Arbeit impliziert, geht er jedoch einen deutlich anderen Weg als in Seminar VII (vgl. beispielsweise VIII: 472; die Beziehung von a zu den Partialobjekten wird genauer ausgeführt in XI: 254).

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dass Lacan in dem Zusammenhang von der phallischen Mutter sprechen kann.18 Entsprechend lässt sich die Formulierung, dass die Mutter das Kind zum Phallus macht, nur so interpretieren, dass das Kind Phallus für die Mutter ist, indem es ihren Irrtum bestätigt, dass sie ihn hat. Dass die Mutter sich im Verhältnis zum Kind für unkastriert hält, also den Phallus zu besitzen glaubt, ist erstaunlich vor allem vor dem Hintergrund, dass der Irrtum, den unbesitzbaren Phallus zu besitzen, das männliche Subjekt auszeichnet. Männlichkeit definierte Lacan in den Formeln der Sexuierung als jene Struktur, die sich auf eine Ausnahme bezieht, die der symbolischen Kastration entgeht.19 Wenn die Frau ihr Kind zum Phallus macht, gelingt ihr also etwas, das ihr in der Beziehung mit einem Mann verwehrt bleibt, nämlich die Identifikation mit dem Herrensignifikanten und damit eine ödipale Subjektivität, ein Verhältnis zum anderen, das sich mit dem Diskurs des Herren beschreiben lässt. Die Mutterschaft wäre demnach eine Art »nachholender Ödipus«; sie ließe sich interpretieren als eine Möglichkeit für die Frau, in einer patriarchalen Welt, die ihr eine machtvolle Position verwehrt, zu Macht zu gelangen. Durch das ihr eigene Objekt Kind kann die Frau, die als objektlose nie ganz Subjekt geworden ist, Subjekt werden. Dem Kind gegenüber ist die Frau folglich so allmächtig, wie sich der Mann gegenüber der Frau fühlt: Zwar bleibt die Allmacht Phantasma und unerreichbar, die Illusion der Allmacht gelingt jedoch immer wieder temporär. Eine Mutter, die ihr Kind zum Phallus macht, will über das Kind verfügen, hat Ansprüche an es, denn es soll sie in ihrer Allmacht bestätigen. Entsprechend soll es ihren Befehlen nachkommen, zur Verfügung stehen, ihren Willen und ihre Wünsche verwirklichen – was dem Kind notwendig nie vollständig gelingen wird, da sich das Begehren der Mutter, wie jedes Begehren, auf ein Unmögliches richtet. Wenn der Vater das Kind aus dieser Situation befreit, indem er die Dyade unterbricht (die nie eine war) und ein Verbot ausspricht, verweist er die Mutter erneut auf ihre untergeordnete Stellung und bietet dem (männlichen) Kind einen Platz in seiner Nachfolge an, der mit dem Versprechen eines absoluten, gelingenden Genießens einhergeht, das Genießen und Konsumieren eines Objektes, das keine Wünsche und Ansprüche hat, sich vollständig hingibt. Der Vater macht aus der Unerträglichkeit, der Mutter als einziger Beziehungspartner nie zu genügen und sie folglich nie ganz zu besitzen, das

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Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem Begehren nach einem Phallusbesitzer und dem Phallus: Die Mutter begehrt das Kind nicht, weil es den Phallus hat, sondern weil es den Phallus für sie verkörpert oder genauer: ihn ihr (als ihren) signifiziert. Die Liebe zum Phallusbesitzer (und damit auch dem, der den Phallus verschaffen kann) beschreibt der Diskurs der Hysterika. Wobei auch der Glaube, die Ausnahme zu sein, nur temporär gelingt, wie ich im vorigen Kapitel gezeigt habe.

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Versprechen auf eine Stellung, die vollen Zugang zum Objekt garantiert. Der ödipale Vater also verspricht gerade das, was er zu unterbrechen scheint: die perfekte Dyade, das Genießen ohne Leiden, ein Objekt ohne eigenen Willen. Allerdings ist das väterliche Verbot ebenso wie das Phantasma einer gelingenden Dyade bereits in die Beziehung eingeschrieben, wenn die Mutter neurotisch ist – was der Normalfall sein sollte: Eine neurotische Mutter, die ihr Kind zum Phallus macht, kennt das Verbot, in ihr ringen Symbiosewünsche mit der Über-IchForderung, auf diese Symbiose zu verzichten. Wie ich bereits im Zusammenhang mit dem Diskurs des Herren gezeigt habe, kann die Vorstellung einer gelingenden Symbiose, eines vollkommenen Genießens, erst durch das Verbot entstehen. Weil das Verbot die Verschmelzung untersagt, erscheint diese jenseits des Verbotes, in seiner Übertretung, möglich. Auch das mütterliche Begehren des Phallus als ein Verschmelzungswunsch ist deshalb auf ein Verbot angewiesen. Das (ödipale) Begehren der Mutter, das das Kind zum Phallus macht, trägt also bereits das Verbot in sich, die väterliche Intervention ihm nicht äußerlich ist, sondern immer schon innerster Bestandteil. Allerdings lässt sich vorstellen, dass es zu Komplikationen kommt, wenn ein empirischer Vater hinzutritt, an den das Verbot delegiert wird, der jedoch nicht bereit ist, dafür einzustehen. Fälle wie der des kleinen Hans legen nahe, dass das Einsetzen des Verbotes an einer elterlichen Beziehungsdynamik scheitert, die die Wirkung des Namen-des-Vaters beschädigt und diesen delegitimiert. Das auf den Phallus bezogene mütterliche Verhältnis zum Kind wird jedoch von Lacan nicht mit dem neurotischen männlichen Begehren und seine Ambivalenz von Verbot und Übertretungswunsch parallelisiert. Vielmehr rückt Lacan dieses Verhältnis in die Nähe der Perversion, die sich als eine der klinischen Strukturen definiert als Verleugnung der Kastration. Während neurotisch Strukturierte die Kastration verdrängen, sie jedoch wirksam sein lassen, versuchen pervers Strukturierte die Kastration zu überwinden.20 Den Fall des kleinen Hans interpretiert Lacan in diesem Sinn. Dass die Mutter Hans überall dabei hat und sogar mit in ihr Bett nimmt, ist für Lacan ein Zeichen dafür, dass sie ihn als ein sie vervollständigendes Anhängsel sieht. Die weitere Analyse zeigt, dass die »um ihr Kind so sehr 20

Lacan unterscheidet Neurose, Perversion und Psychose nicht symptomatisch, sondern als psychische Strukturen anhand ihres Umgangs mit dem Konflikt, der sich aus dem Umstand der Sprachlichkeit ergibt. Die Neurose, zu der Lacan die Zwangsneurose, die Phobie und die Hysterie zählt, zeichnet sich durch den Mechanismus der Verdrängung aus, der im Gegensatz zur perversen Verleugnung und psychotischen Verwerfung ermöglicht, die symbolische Kastration abwesend und zugleich anwesend sein zu lassen (ausführlich zu den klinischen Strukturen Fink 2009). Dieser neurotische Umgang mit der symbolischen Kastration zeichnet die Normalität im Sinne einer statistischen Mehrheit aus. Mit diesem strukturellen Begriff der Neurose verabschiedet sich Lacan auch von einem Ideal psychischer Gesundheit, das in seiner Theorie nur eine illusorische Vorstellung von Ganzheit sein kann (vgl. Evans 2002: 201).

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besorgte Mutter« dieses zu ihrem »Lustobjekt« macht (IV: 289). Auch jenseits dieses Falls bringt Lacan die Mutterschaft in Beziehung mit der Perversion, wie Miller formuliert: In the latter case, we have the mother and the imaginary object, the phallus. The mother is responsible for the perversion of the male child, but at the same time uses the child as an instrument of jouissance. According to the preceding formula, you could call that perversion. Was the first perverse couple mother and child? Lacan, in the fifties, suggest that it is in the connection between the mother’s own body and the child that you may find a concealed expression of female perversion (Miller 1996: 319). In Seminar IV definiert Lacan die Perversion als die Verleugnung der Abwesenheit des Phallus bei der Mutter/dem Anderen, die dazu führt, dass das Subjekt bemüht ist, diesen mütterlichen Phallus beispielsweise im Fetischobjekt herzustellen. Das perverse Subjekt versucht also die symbolische Kastration, die sich ihm im Anderen zeigt, zu überdecken. Wenn Mutterschaft selbst wiederum eine perverse Struktur hat, ist die Beziehung zwischen der die Abwesenheit des Phallus verleugnenden Mutter und dem Kind eine Beziehung, die aufgeht: Ein imaginäres Paar, das kein Außen benötigt bzw. dieses ausklammern muss. Wenn also tatsächlich die Mutter ein perverses Verhältnis zu ihrem Kind haben sollte, so ist das für das Kind ein Problem: Die Mutter, die sich zum Objekt des Genießens ihres Kindes macht, geht davon aus, dass sie weiß, was das Genießen ihres Kindes bedeutet und dass sie das geeignete Objekt dieses Genießens ist. Eine perverse Mutter kann also auch eine Mutter sein, die ihr Kind grausam misshandelt, weil sie glaubt, dass die Misshandlung »eigentlich« das ist, was das Kind will oder braucht. Zu Recht also nennt Lacan dieses perverse Verhältnis der Mutter zum Kind problematisch. Doch auch in Fällen, die nicht mit Gewalt einhergehen, ist das perverse Verhältnis für das Kind unaushaltbar und zwar dann, wenn sich das Reale des Kindes zeigt: Im Fall des kleinen Hans weist Lacan darauf hin, dass die Phobie des Kindes in dem Moment notwendig wird, in dem Hans den eigenen Penis und damit ein eigenes aktives Genießen entdeckt und so die imaginäre Identifikation mit dem Phallus der Mutter durch den Einbruch des Realen gestört wird (vgl. IV: 289). Das Reale des Kindes widerspricht der mütterlichen Idee, alles über das Genießen des Kindes zu wissen, es zu kennen und zu kontrollieren. Ist es der Mutter ernst mit ihrer Perversion, wird sie genau dieses Moment zu eliminieren versuchen, was Gewalt gegen das Kind bedeuten muss. Es ist diese perverse Dyade, die die Notwendigkeit der väterlichen Intervention begründet, denn nur die perverse Mutter hat kein eigenes Interesse an der Separation. In die perverse Dyade muss der Vater als Deus ex Machina intervenieren, um das Reale des Kindes, seine Andersheit, gegen die Mutter verteidigen. Der Vater löst also die imaginäre Illusion der Vollständigkeit oder besser Abgeschlossenheit

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auf. Er verteidigt das, was über die Dyade hinausgeht, das, was in ihr nicht befriedigt wird, das, was als kindliches Reales nicht benannt ist, was die Mutter nicht artikulieren, verstehen und befriedigen kann. Die kindliche Subjektivität tritt in der Beziehung zwischen (symbolischer) Mutter und Kind als reine Negativität auf: Sie hat noch keinen Begriff, verweist nur auf ein namenloses Jenseits der Beziehung. Der väterliche Phallus positiviert diese Negativität, indem er behauptet, sie ausfüllen zu können. Dies ist aus mehreren Gründen problematisch: Zum einen verhindert die kindliche Identifikation mit dem Vater, dass dieses die Abwesenheit des Herrensignifikanten auf sich nimmt. Zwar springt der Vater ein als Erklärung für das am Kind, was nicht der Mutter entspricht, und sichert so seine irreduzible Andersheit ab. So kann die Mutter sich im Kind immer nur zum Teil selbst wiedererkennen, denn aus dem Gesicht des Kindes spricht auch sein Vater zu ihr. Jedoch ist der Vater eine unzureichende Erklärung: Nicht alles, was nicht der Mutter und ihren Vorstellungen entspricht, ist auf den Vater zurückzuführen. Die spezifische Individualität, die es sowohl von der Mutter als auch dem Vater und allen anderen Menschen auf der Welt unterscheidet, an die sich die mütterliche Liebe wendet, geht nicht in dem väterlichen Signifikanten auf. In der mütterlichen Beziehung zum Kind entsteht eine konkrete Leerstelle, die das Kind füllen muss, in jenem radikalen Akt, den Lacan für Analyse proklamiert, nämlich dass das Subjekt sein Schicksal wählt, die Sinnlosigkeit seines Genießens auf sich nimmt. Der Vater als Deus ex Machina nimmt dem Kind diesen Akt ab, verspricht eine Erleichterung, die aber nur eine Illusion ist. Zum anderen wirkt der Vater als Signifikant wie bereits dargestellt als eine Metapher, die die mütterliche Arbeit, ihr Genießen und ihre Sorge um das Kind ausstreicht und ins Unsagbare verbannt. Mit dieser Ausstreichung der Mutter als Subjekt, mit ihrer Reduktion auf einen dunklen unberechenbaren Urgrund des Subjekts, ist wesentlich die gesellschaftliche Abwertung des Weiblichen und die mit ihm assoziierte Abhängigkeit und Sorgearbeit verbunden. Das Sinthom und andere Père-versionen Lacans Wortspiel von der »père-version« (XXIII: 90) lässt sich zunächst so verstehen, dass der Vater notwendiger Ausweg aus der mütterlichen Perversion darstellt.21 Jedoch zeigt sich, dass der Vater nur eine mögliche Lösung der problematischen Situation zwischen Mutter und Kind ist, nur die »Vater-Version« der Lösung. Im Fall des kleinen Hans ist der Vater nicht in der Lage, die Trennung von Mutter und Kind zu erwirken. Die verfolgende Anwesenheit der Mutter lässt dem

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Das Wortspiel mit »père-version« lässt sich auch in andere Richtungen treiben. In Seminar XXIII ist das Sinthom eine Alternative zum Vater, eine Père-Version, andersherum ist die ödipale Lösung die Père-Version des Sinthoms.

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Kind deshalb keinen Raum für etwas, das über ihre dyadische Verbindung hinausweist, und ist für Hans traumatisch. Jedoch führt die strukturelle Abwesenheit des Vaters (bzw. dessen Unfähigkeit als Agent der Kastration) nicht zur Psychose: Der kleine Hans entwickelt stattdessen eine Pferdephobie, mit der er die Angst, die aus der unbewältigbaren Anwesenheit der Mutter resultiert, durch den Signifikanten »Pferd« in eine bearbeitbare Furcht überführt.22 Hans’ Fall führt also bereits über die ödipale Struktur hinaus: Mit seiner Phobie schafft sich Hans ein Symptom, das die Trennung trotz unvermögendem Vater herbeiführt. Für Hans und seine Eltern ist Phobie problematisch, da sie ihn unter anderem hindert, das Haus zu verlassen, weshalb das psychoanalytische Arrangement entsteht, das der Phobie abhelfen soll. Nichts desto trotz stellt die Phobie in Lacans Deutung eine provisorische Lösung der unerträglichen Situation der Mutter-Kind-Beziehung dar, die ohne die väterliche Intervention auskommt. Der Fall des kleinen Hans ermöglicht so, eine Subjektwerdung nach dem »Verfall der väterlichen Funktion« zu denken. Die Ablösung von der Mutter kann auch ohne väterliche Instanz gelingen – auch wenn die Phobie keine unproblematische oder wünschenswerte Lösung ist. Wenn Lacan in Seminar XXIII das Sinthom einführt, greift er diesen Gedanken auf. Das Sinthom, seine verschiedenste Wortspiele ermöglichende neue Schreibweise des Symptoms23 , definiert er als minimales Element, das Symbolisches, Imaginäres und Reales verknüpft. Diese Verknüpfung verhindert die Psychose und erfüllt die Funktion, die Lacan zuvor dem Namen-des-Vaters zugesprochen hatte. So behauptet er, dass »der Vater letztlich ein Symptom oder ein Sinthom ist, wie Sie wollen« (XXIII: 20). Der Vater ist ein partikulares Element, das die Funktion ausfüllt, die mit dem Sinthom beschrieben ist, nämlich den Kern des Subjekts zu bilden und sein Symbolisches, Imaginäres und Reales zu verknüpfen. Lacan geht sogar noch weiter und deutet seine komplette Theorie der symbolischen Kastration neu: »Der Ödipuskomplex ist als solcher ein Symptom« (XXIII: 22). Den Begriff des Sinthoms entwickelt Lacan anhand seiner Lektüre von James Joyce, insbesondere von »Finnegans Wake«, einem Werk, in dem er den manischen Versuch erkennt, Sprache über den gewöhnlichen Gebrauch hinauszutreiben. Joyce schreibt in Metaphern, jedoch ohne dass diese auf etwas verweisen. Das Vergnügen, das normal-neurotische Leser bei der Rezeption von Metaphern empfinden, die Spannung zwischen Latentem und Manifestem, kann sich so nicht ergeben.

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Die Unterscheidung von Furcht (auf Objekt gerichtet) und Angst (ohne Objekt bzw. auf Objekt a bezogen) übernimmt Lacan von Freud und baut sie insbesondere in Seminar X aus, wobei er die Angst besonders auf den Moment der Konfrontation mit dem rätselhaften Begehren des Anderen bezieht (vgl. auch Evans 2002: 43). Er spielt beispielsweise mit der Anspielung auf sin (Sünde), der Erbsünde, die von Eva ausgehend das menschliche Schicksals determiniert, mit Saint Thom(as d’Aquin), der in Joyces Werk eine wichtige Rolle spielt.

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Joyces Werk ist ungenießbar – für alle außer Joyce selbst. Sein Schreiben ist in Lacans Interpretation ein Schreiben, in dem das Symbolische mit realem Genießen geflutet und mehr lalangue als sinnvolle Sprache ist. Joyce trägt keine Spuren des Namen-des-Vaters und damit fehlt ihm die Verknüpfung von Symbolischem, Realen und Imaginären. Die Psychose, die er aufgrund dieser Abwesenheit des väterlichen Signifikanten theoretisch haben müsste und die sich bei Joyces Tochter Lucia tatsächlich manifestiert, kann Joyce nach Lacan jedoch durch sein Schreiben verhindern. Joyce schafft sich ein Werk, das seinen Eigennamen stützt und so dessen Singularität behaupten kann. Lacan reformuliert sein Anliegen: »Ich will, dass sich die Akademiker dreihundert Jahre lang mit mir beschäftigen« (XXIII: 15). Joyce schafft sich mit seinem Werk einen Namen und damit eine Phallusprothese. Diese künstliche Selbsterschaffung nennt Lacan das Sinthom: Es ist ein in einem schöpferischen Akt entstandenes Zeichen, das die Subjektivität stabilisiert, indem es Imaginäres, Symbolisches und Reales verbindet.24 Lacans Sinthom lässt sich als eine neue Art des Herrensignifikanten verstehen, der grundsätzlich anders strukturiert ist als der auf die abwesende Ursache, den Urvater, bezogene Phallus. Statt transzendental auf einen dem Wissen entzogenen Grund zu verweisen, schafft sich das Sinthom selbst und bleibt so dem Wissen immanent. Der Kern des Sinthoms ist deshalb der Exzess: Weil eine immanente Gründung konstitutiv unmöglich ist, muss sie als unabschließbares Projekt permanent betrieben werden. Joyce muss immer weiter schreiben, um sich nicht zu verlieren; sein Selbst bläht sich in seinen unendlichen Texten auf und wird nie fertig. Mit dem Sinthom zeigt Lacan, dass es verschiedene Modi der Gründung gibt, verschiedene Arten einen Herrensignifikanten zu produzieren.25 Mütterliche Perversion und das Postödipale Joyces Fall ist zunächst ein Sonderfall – ein Sonderfall, der jedoch die Normalität des Ödipus in Frage stellt. Der Namen-des-Vaters ist mit der Entdeckung des Sinthoms nur noch eine mögliche Version (die Père-version) des Umgangs mit dem mütterlichen Sprechen, mit dem Begehren der Mutter, das die Subjektivität des Kindes nicht zulassen will. Das Sinthom erscheint zunächst nicht sexuiert: Die Ablösung von der Mutter ist im Fall des Sinthoms nicht mehr an den Phallus und so auch scheinbar nicht mehr an das Geschlecht gebunden. Deshalb sieht es so aus, als würde das Sinthom Subjektivität nicht mehr mit der Abwertung des Weiblichen erkaufen: Dieses ist als Geschlecht schließlich gar nicht mehr thematisiert. Jedoch

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Hier findet sich eine Entsprechung in der Szene aus Club der toten Dichter, die im dritten Kapitel beschrieben wurde: Auch Andersons Selbstwerdung besteht in einem Akt, in dem aufgezwungene Worte in ein Werk transformiert werden. Im Diskurs des Analytikers scheint eine weitere Möglichkeit der Gründung auf, auf die ich noch zurückkommen werde.

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unterstellt auch das Sinthom der Mutter kein Interesse an der Separation, es reduziert damit das rätselhafte mütterliche Begehren auf einen imaginären Anspruch, eine terrorisierende Forderung. Das Sinthom und seine Äquivalente reagieren auf ein perverses Verhältnis der Mutter zu ihrem Kind: Die perverse Mutter leugnet die Unmöglichkeit der Dyade, indem sie ihr Handeln daran ausrichtet, die Unmöglichkeit zu überwinden. Die übergriffige Mutterliebe jedoch als eine genuin weibliche Perversion zu deuten, ist problematisch. So weist Louise Kaplan darauf hin, dass die Deutung der mütterlichen Liebe als weibliche Perversion nahelegt, dass der einzige Ausweg für Mutter und Subjekt die Unterwerfung unter das Gesetz des Phallus ist, dass es folglich »Pflicht der Ehefrau ist, die Virilität ihres Gatten zu bestätigen und ihren Kindern die phallische Funktion des Vaters zu vermitteln« (Kaplan 1991: 439). So führt die Interpretation der Mutterliebe als Perversion zur Legitimierung einer patriarchalen Organisation der Gesellschaft und verpflichtet Frauen auf ihre Teilnahme. Der Annahme einer genuin weiblichen Tendenz, mit dem Kind eine symbiotisch-perverse Dyade zu suchen, stellt Kaplan die These entgegen, dass die Idealisierung der Kindheit unabhängig vom Geschlecht einer perversen Beziehung zum Kind Vorschub leistet: Da Kindheit und Mutterschaft zu Symbolen für die edelsten Strebungen des Menschen geworden waren, wurde Kindesmisshandlung im Namen des Fortschritts der Menschheit gerechtfertigt. Indem Eltern sich darauf beriefen, zum Wohle des Kindes zu handeln, konnten sie die brutalsten physischen und psychischen Strafmaßnahmen begründen. (Ebd. 453.) Kaplan sieht eine perverse Beziehung zum Kind nicht in dem weiblichen Begehren nach dem Phallus begründet, sondern in der Idealisierung der Kindheit, die diese Beziehung pädagogisiert. Damit verortet sie die perverse Beziehung zum Kind eher im Postödipalen, wie ich es im dritten Kapitel beschrieben habe, als in der ödipalen Weiblichkeit, die sich nach dem Phallus sehnt. Das postödipale Verhältnis zum Kind sieht in diesem kein Objekt, das die eigene Macht bestätigt, sondern das Ichideal, dem sich das Subjekt unterwirft, um die Phantasie eines absoluten Genießens aufrecht zu erhalten. Dieses postödipale Verhältnis zum Kind deutet Lacan ebenfalls an, wenn er in Seminar XX formuliert: Zu diesem Genießen, daß sie nicht-alle ist, das heißt, das sie irgendwo abwesend macht von sich selbst, abwesend als Subjekt, wird sie den Stöpsel dieses a finden, was ihr Kind sein wird. (XX: 40.) Die Mutter kann ihr Kind also nicht nur zum Begehrensobjekt machen, sondern auch zu ihrem Ein-und-alles, an dem ihre Subjektivität hängt, zu Objekt a. Dieses Objekt a fungiert als »Stöpsel«, es begrenzt das nicht zu greifende Nicht-alle und

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macht somit aus ihrer »schlechten Unendlichkeit« eine gute, aus der Klasse eine Menge. Dieses Verhältnis zum Kind lässt sich deuten als die Liebe, die ich im dritten Kapitel mit dem Diskurs der Universität als postödipale beschrieben habe: Die Mutter opfert ihr eigenes Genießen dem vermeintlich vollständigen ihres Kindes und macht dieses so zur Stütze ihres Phantasmas von der Möglichkeit eines absoluten, unkastrierten Genießens. Eine derartige mütterliche Liebe bestünde in unermüdlicher, aufopferungsvoller Arbeit für das Kind, die stets auf dessen Genießen zielt. Damit das imaginäre Bild des Kindes jedoch als Stütze des Phantasmas eines vollständigen Genießens fungieren kann, muss die mütterliche Liebe es vor jedem Scheitern und vor allem vor seinem partikularen Triebgenießen bewahren, also sein Reales unterdrücken. Die postödipale Mutter, der postödipale Erzieher tut also alles für das kindliche Genießen, indem sie oder er jedes partikulare Genießen abwertet. Damit ist auch das postödipale Verhältnis zum Kind ambivalent: Sein Genießen wird gleichzeitig gefordert und abgewertet. Die Mutter oder der Pädagoge stellt sich vollständig dem Genießen zur Verfügung, gleichzeitig signalisiert sie oder er, dass dieses Genießen nie dem angestrebten Ideal entspricht. Diese Ambivalenz ist jedoch nicht wie die Ambivalenz von Verbot und Übertretungswunsch geeignet, Distanz zu schaffen: In der postödipalen Beziehung zum Kind sind Subjekt und Objekt imaginär verbunden, keine symbolische Vermittlung sorgt für einen Abstand, der dem Realen Raum lässt. Das Ergebnis dieser postödipalen Beziehung zum Kind ist eine neue Form der Subjektivität, die sich am ehesten mit dem beschreiben lässt, was Lacan mit dem Sinthom zu fassen versucht. Das Sinthom als eine neue Art des Herrensignifikanten steht in Verbindung mit dem Diskurs der Universität: Mit seinem neuen Platz hat der Herrensignifikant auch seine innere Struktur gewechselt. Er ist nicht länger Platzhalter für einen entzogenen letzten Grund, sondern Aufforderung zur permanenten Gründungsanstrengung. Diese Verschränkung von Verlust der Transzendenz und expansiver Begründungsnotwendigkeit ist Kern des Sinthoms. Eine Subjektivität, die sich auf das Sinthom stützt, hat ein verändertes Verhältnis zum mütterlichen Anderen: Der phallische Herrensignifikant als abwesende Ursache stellte durch eine patrilineare Genealogie das Selbst in Zurückweisung der Mutter her. Das Sinthom hingegen weist die Mutter nicht zurück, sondern nimmt sie gefräßig in sich auf. Es reagiert damit auf die fehlende Distanz, auf die imaginäre Gefangenschaft im Verhältnis zum mütterlichen Anderen. Das postödipale, auf das Sinthom bezogene Selbst entsteht folglich, indem es sich die Mutter, die lalangue, in einem unabschließbaren Prozess zu Eigen macht. Das, worauf das Subjekt fundamental angewiesen ist, die liebende Fürsorge einer Anderen, die mütterliche Gabe der Frustration, die mehr ist als nur die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern immer auch Liebeszeichen und unabschließbare Antwort auf die Frage nach dem eigenen Selbst, erkennt das postödipale Sub-

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jekt nicht mehr als seine Voraussetzung. Wenn es sich für selbstursprünglich hält, leugnet es die Notwendigkeit eines Gegenübers für sein Selbst. Eine Entsprechung findet diese Vorstellung in der von Anna Hartmann für den Spätkapitalismus diagnostizierten »Entsorgung der Sorge« (Hartmann 2020): Durch eine Ablösung von Sorgetätigkeiten aus der weiblichen, bislang von ökonomischer Rationalisierung freigehaltenen Sphäre, ihrer zunehmenden Kommodifizierung und ihrer Betrachtung als eine von den beteiligten Subjekten ablösbaren Ware wird die Beziehungsdimension der Sorge und damit die Subjektivität der Sorgenden »entsorgt«. Da Sorge jedoch ohne diese Beziehungsdimension nicht möglich ist, wird es zum Privatproblem Sorgender, wenn sie an den widersprüchlichen Anforderungen von Rationalisierung und Beziehungstätigkeit scheitern. Diese Privatisierung des Scheiterns an dem inhärenten Widerspruch des Postödipalen ist Ursache des von Tove Soiland diagnostizierten Neopatriarchats: Soiland macht als dessen zentrales Phantasma aus, dass der Körper der Mutter, der dem Subjekt im Ödipalen durch das Verbot vorenthalten wurde, im Postödipalen ohne Hürde zugänglich erscheint. Das Postödipale erbt also das ödipale Phantasma eines verfügbaren (mütterlichen) Objekts, eines Genießens, das ohne eine Andere mit eigenen Forderungen und Wünschen auskommt. Das postödipale Genießen führt nach Soiland für Frauen zu einer Art »Selbstkannibalismus«, denn ihnen wird ein Genießen in Aussicht gestellt, dessen Voraussetzung sie selbst sind (vgl. Soiland 2018). Jenseits des Postödipalen Es gibt jedoch einen Aspekt der mütterlichen Liebe, den weder die Beschreibung der Mutter-Kind-Beziehung mit dem Begehren nach dem Phallus (dem Diskurs des Herren entsprechend) noch mit der postödipalen Liebe (dem Diskurs der Universität entsprechend) fassen kann: In der Frustration befriedigt die Mutter zum einen die Bedürfnisse des Kindes, sie antwortet auf seinen Schrei und ist ihm nährendes und zugleich sprechendes Gegenüber. Zum anderen lässt sie durch ihre Abwesenheit Raum, in dem der Trieb entstehen kann. Die Mutter der Frustration ist Mangel und Fülle zugleich. Eine den Phallus Begehrende aber erwartet die Befriedigung vom Gegenüber und ist nicht selbst Gebende. Mit dem Begehren nach dem Phallus ist der gebende Aspekt der Mutterschaft, ihre Sorgearbeit, die nährende Funktion nicht erfasst. Auch die postödipale Liebe erklärt nicht die Rolle der Mutter in der Frustration: Zwar ist auch die Liebende eine Gebende, doch ist ihre Gabe ohne Mangel, sie lässt dem Gegenüber keinen Raum. Die Liebende vereinnahmt, beansprucht das Gegenüber als Gesamtheit, statt partikulare Bedürfnisse zu befriedigen und Löcher zu hinterlassen. Wenn also die Mutter ein pervers-postödipales Verhältnis zum Kind haben sollte, so muss diesem eine andere Beziehung vorausgehen. Jedoch scheint diese andere Beziehung prekär und ständig von imaginären

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Vereindeutigungen bedroht. Wie lässt sich aber eine Stabilität der Offenheit denken? Ist ein mütterliches Begehren denkbar, das ein Subjekt entstehen lässt, ohne es zu vereinnahmen, so dass die Intervention eines Dritten und die Verleugnung der ersten Beziehung gar nicht notwendig ist? Ich werde im folgenden Kapitel vorschlagen, dass der Diskurs des Analytikers, den Lacan in Seminar XVII als vierten Diskurs einführt, eine derartige Beziehung denkt. Mit dem Diskurs des Analytikers entwirft Lacan eine Situation, in der ein Subjekt in einer dyadischen Beziehung entsteht, die ohne den väterlichen Signifikanten auskommt, jedoch nicht in imaginäre Vereindeutigungen kippt. Mit dieser Beschreibung der analytischen Beziehung wird es möglich, eine utopische, nichtperverse Beziehung zwischen Mutter und Kind zu denken und zugleich das zu fassen, was in der Frustration immer schon angelegt ist. Im Folgenden möchte ich deshalb untersuchen, warum im Fall des Analytikers keine väterliche Intervention notwendig ist, was das Begehren des Analytikers auszeichnet und wie sich der Diskurs des Analytikers zu dem Verhältnis zwischen Mutter und Kind verhält. Wenn ich die Beziehung zwischen Mutter und Kind mit der analytischen Situation parallelisiere, ist dies nicht unproblematisch: Lacan wendet sich in seiner Interpretation des Kastrationskomplexes explizit gegen die Objekt-Beziehungstheoretiker_innen, die sich nur auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind konzentrieren. Ihnen wirft er vor, das Symbolische und damit auch die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zu ignorieren. Es gilt also, nicht hinter Lacans Kritik zurückzufallen und die paradoxale Struktur des Signifikanten und dessen Bedeutung für das Subjekt zu berücksichtigen.

5.4 Die Zärtlichkeit der Analytikerin Ich bin ein kleiner Analytiker, ein Stein, der im Anfang verworfen worden ist, selbst wenn ich in meinen Analysen zum Eckstein werde. (XVII: 108.) Als Ausbilder von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern befasst sich Lacan besonders mit der Theoretisierung der psychoanalytischen Praxis: Er spricht in seinen Seminaren über das Setting, Mittel und Ziele der Analyse und das spezifische Band, das Analytiker und Analysand unterhalten. Mit der Gleichsetzung von Laienanalyse und Lehranalyse – »es gibt nur eine Analyse, die Lehranalyse« (XI: 288) – verdoppelt sich sein Diskurs in sich: Wenn der Abschluss einer Analyse den Analytiker qualifiziert, muss die Ausbildung eines Analytikers nichts anderes als eine Analyse sein. Lacans Sprechen über die Analyse, seine Beschreibungen des Settings, der Techniken, der Ziele hat den Anspruch selbst ein analytischer Diskurs zu sein, der auf das zielt, was er beschreibt.

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Ziel der Analyse Wie die Pädagogik visiert die Analyse eine Unmöglichkeit an. Man kann sich ihres »ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein«, formuliert Freud in »Die endliche und die unendliche Analyse« (GW 16: 94). Angesichts der Erfahrung, dass sich manche Analysen über Jahre hinziehen, sucht Freud in diesem Text nach Kriterien, die einen Abschluss der Analyse definieren. Dabei beschäftigt er sich auch mit dem im zweiten Kapitel erwähnten Fall des Wolfsmanns, dessen Situation sich unter seiner Analyse so weit verbesserte, dass Freud von einer Heilung ausging. Unter anderem wurde der Fall soweit gebracht, dass sich die traumatische Urszene konstruieren ließ. Jedoch konstatiert Freud, sich mit seiner Annahme eines Abschlusses geirrt zu haben, da sich auch in den folgenden Jahren »Ausläufer seiner Lebensneurose« (ebd. 61) zeigten. Obwohl also eine Analyse vollständig zu sein scheint und nicht durch äußere Umstände, sondern von beiden Seiten für sinnvoll beendet erklärt wurde – der Analysand leidet nicht mehr an dem, was ihn in die Analyse brachte; der Analytiker ist überzeugt, dass ausreichend unbewusstes Material aufgetaucht ist und bearbeitet wurde –, ist eine Analyse nicht zwangsläufig zur Vollendung gekommen: an den Punkt, an dem eine weitere Analyse keine Veränderung mehr bringen würde. Diesen Punkt zu finden und die Analyse zu einem »natürlichen Ende« zu bringen, ist jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. Das Erreichen von Peniswunsch und männlichem Protest als »gewachsenen Fels« (ebd. 99), der sich unter den verschiedenen Schichten verbirgt, könnte zwar diesen Punkt markieren. Jedoch lässt Freud, obwohl er feststellt, dass diesen Felsen auch die Psychoanalyse bisher nicht aufzulösen vermag, die Möglichkeit offen, auch diese Verhärtung irgendwann zu überwinden. Bis dahin nimmt er die Erreichung dieses Felsens als notwendiges aber unbefriedigendes Ende und resigniert: »Wir trösten uns mit der Sicherheit, daß wir dem Analysierten jede mögliche Anregung geboten haben, seine Einstellung zu ihm zu überprüfen und zu ändern« (ebd.). Eine strukturelle Veränderung kann die Analyse also nicht erzielen, letztlich bezeichnet Freud pragmatisch das Beenden einer Analyse als »Angelegenheit der Praxis« (ebd. 95). Lacan hingegen besteht darauf, dass die Analyse eine Veränderung in der Stellung des Subjekts bedeutet. Eine Analyse ist abgeschlossen, wenn eine grundlegende Transformation der subjektiven Struktur stattgefunden hat. Diese Transformation beschreibt Lacan zu verschiedenen Zeiten völlig unterschiedlich: So gibt Lacan noch 1953 die Bewältigung der eigenen Sterblichkeit, das »volle Auf-sich-nehmen seines Seins zu Tode« (Sch I: 379) als Ziel der Analyse an. In Seminar XI bezieht er die Analyse auf den Begriff des Phantasmas als Struktur des Begehrens und beschreibt die Analyse als Durchqueren dieses Phantasmas (vgl. XI: 288), das zu einer Separation, einer Ablösung des Begehrens vom Begehren des Anderen, führt. Dieses Durchqueren des Phantasmas bringt er in Seminar XVII mit dem Entstehen

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eines neuen Signifikanten in Verbindung, eines neuen S1 . Mit dem Seminar XXIII schließlich findet er mit dem Sinthom eine letzte Formulierung für diese Transformation: Am Ende der Analyse stehe die Identifikation mit dem Sinthom, dem unentzifferbaren Genießen, das sich in den Symptomen des Subjekts verbirgt. Geneviéve Morel sieht eine fundamentale Veränderung zwischen der Auffassung von der Analyse als Durchquerung des Phantasmas und der Beschreibung des Endes der Analyse als Identifikation mit dem Sinthom: Sie interpretiert Lacans Forderung, dass in der Analyse das Phantasma durchquert werden müsse, als die Aufforderung dieses aufzugeben und in eine Art »Jenseits der Identfizierung«, in den Bereich des befreiten Triebes, vorzudringen, was bei Lacans Schülern zu einer Hoffnung auf das »Gelobte Land der sexuellen Freiheiten« geführt habe (vgl. Morel 2017: 57). Wie ich im dritten Kapitel gezeigt habe, wendet sich Lacan in Seminar XVII explizit gegen diese Hoffnung. Um sich von ihr abzugrenzen, verbindet Lacan das Ende das Phantasmas mit dem Begriff der Trauer, einem Begriff der für Morel einen Gegensatz zu der späteren Formulierung darstellt, nämlich, dass das Ende der Analyse eine »Befriedigung« bedeute (ebd. 61). Die Identifizierung mit dem Sinthom als diese Befriedigung zielt jedoch gerade nicht auf eine Befreiung des Triebes, sondern auf eine Trennung von dem mütterlichen Genießen. Colette Soler hingegen konstatiert bezüglich dieser Veränderungen: »the formula is new but the saying is not, for it never varied« (vgl. Soler 2006a: 60). Letztlich gehe es um eine Subjektivität, die sich vom Anderen ablöst und gerade so ein Verhältnis zum anderen als Andersheit haben kann. Im Folgenden werde ich mich dieser Auffassung Solers anschließen, jedoch zeigen, dass das Sinthom für dieses Anliegen ungeeignet ist und es Lacan letztlich nicht gelingt, eine Subjektivität zu denken, die eine Beziehung zum anderen als anderen haben kann. Mit einer spekulativen Auseinandersetzung mit dem Sinthom und Irigarays Begriff der Berührung versuche ich im Folgenden jedoch den Diskurs des Analytikers für einen solchen Begriff der Subjektivität fruchtbar zu machen. Diese Interpretation des Diskurses des Analytikers ermöglicht, Erkenntnisse über den analytischen Prozess mit der Mutterschaft in Verbindung zu bringen. So wird eine sorgende Liebe zum Kind jenseits des phallischen Phantasmas denkbar. Die analytische Beziehung Die Ausgangssituation der Analyse ist die Übertragung, die von Lacan nicht als ein Problem für analytischen Prozess verstanden wird, sondern das analytische Setting als Struktur kennzeichnet.26 Die Übertragung als Struktur lässt sich mit dem 26

Bei Freud ist die Übertragung eine Verschiebung der Affekte von einer Vorstellung auf eine andere. Zu Beginn versteht Freud die Übertragung als einen Widerstand, der das für einen Heilungsprozess notwendige Wiedererinnern hemmt. Später begreift er jedoch die Produk-

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Diskurs der Universität beschreiben, wie ich ihn im zweiten Kapitel dargestellt habe.27 Liebe und Übertragung entsprechen sich in meiner Interpretation strukturell. Entsprechend macht es auch in der Übertragung einen wesentlichen Unterschied, wie das Gegenüber seine Rolle ausfüllt, ob es sich zum Objekt der Idealisierung machen lässt oder zur Ursache des Begehrens wird und so mit dem Realen konfrontiert. Letzteres sieht Lacan als die Aufgabe des analytischen Prozesses an; die Analyse muss also die Idealisierung überwinden. In Seminar XI nennt Lacan als Ziel der Analyse die Trennung von I und a: Der Analytiker darf sich nicht zum Ichideal machen lassen, was beispielsweise in der Hypnose passiert, sondern muss »von der Idealisierung herunter« (XI: 287) und zum Träger von a werden. Der Analysand kommt mit seiner Unzufriedenheit, seinem Leiden, in die Analyse und bietet in der Übertragung dem Analytiker die Position des I an, des Ichideals und Part dessen, der ihm und seinem Leiden Sinn gibt. Würde der Analytiker diese Position annehmen, entspräche das der Suggestion, von der Lacan die Analyse immer wieder abzugrenzen versucht, da diese gerade nicht darauf abzielt, das Begehren des Subjekts vom Begehren des Anderen abzulösen. Um nicht Suggestion zu betreiben, muss der Analytiker die Macht ablehnen, die ihm die Übertragung verleiht (vgl. Sch II: 85). Mit dem Diskurs des Analytikers entwirft Lacan eine Beschreibung des Sprechens eines Analytikers, der sich nicht zum Ideal machen lässt und aus der Position von a agiert. So kann er zeigen, dass diese Verweigerung der Idealisierung nicht auf einer asketischen Zurückweisung der Verführungsversuche des Analysanden basiert, sondern in einem spezifischen Begehren begründet ist: dem Begehren des Analytikers. Während der Analysand in die Analyse kommt, weil er dem Analytiker Wissen über sein Leiden unterstellt (ihn zum »sujet supposé savoir« macht), interessiert sich der Analytiker für das Sprechen des Subjekts, weil er sein Wissen an dessen Leiden überprüfen will (vgl. Widmer 1990: 160). Man könnte das Begehren des Analytikers also als ein Begehren nach Wissen interpretieren, jedoch geht dies, wie ich im Folgenden zeigen werde, weit über dieses hinaus. Dazu werde ich den Diskurs des Analytikers genauer untersuchen. Mit dem Diskurs des Analytikers findet Lacan eine formelhafte Beschreibung dessen, was in der analytischen Praxis passieren soll, die er jedoch in seinen verbalen Erläuterungen nicht mehr einzufangen in der Lage ist. Unter anderem gelingt ihm dies nicht, weil er den analytischen Diskurs nicht explizit auf seine Geschlechtertheorie bezieht. Wie ich zeigen werde, beschreibt der analytische Diskurs ein

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tivität der Übertragung als Vergegenwärtigung zentraler Beziehungen und macht sie zum Gegenstand von Deutungen (vgl. Laplanche/Pontalis 1972: 550ff). Lacan kritisiert insbesondere die Reduktion der Übertragung auf einen Affekt, vielmehr versteht er den Affekt als emotionale Reaktion auf den imaginären Aspekt der Struktur der Übertragung.

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Genießen jenseits des Phantasmas und damit ein Verhältnis zum anderen, das diesem ein Moment der Freiheit lässt. Dieses spezifische Verhältnis zum anderen entspricht dem Verhältnis der Mutter zum Kind in der Frustration, insofern sie Ursache der Entstehung des Sprachwesens und der Trennung von Trieb und Bedürfnisbefriedigung ist. Wo Lacans Denken an männlichen Phantasmen festhängt und für dieses Verhältnis keine Beschreibungen findet, kann Luce Irigarays Formulierung einer Beziehung in der Berührung dieses konkretisieren. Mit dem Lacan’schen Mathem können die Voraussetzungen dieser Beziehung und ihre Konsequenzen in den Blick genommen werden. In Seminar XVII beschreibt Lacan den Diskurs des Analytikers mit folgendem Mathem:

Abb. 16: Diskurs des Analytikers (XVII: 108)

Die obere Hälfte des Mathems entspricht der Lacan’schen Formel der Perversion: a $ (Kant mit Sade, Sch I: 300), aus der das durch das Symbolische eingeführte Scheitern der Beziehung zum Gegenüber getilgt ist und in der das Subjekt alles auf sich nimmt, um das Fehlen des Phallus bei seinem Gegenüber zu verdecken. Die Perversion versucht durch ihren eigenen Einsatz den Mangel vollständig zu vernähen. Der Diskurs der Analyse ist die Kehrseite des Diskurses des Herren, der, obwohl er auf dem Phantasma basiert, versucht, die symbolische Kastration auszublenden. Der Diskurs des Analytikers hingegen holt das Phantasma an die Oberfläche, denn nur so hat es die Möglichkeit, unmöglich zu werden d.h. zu scheitern. Wenn der Diskurs des Analytikers also das Phantasma ausagiert, konfrontiert er mit dem inzestuösen Begehren und ermöglicht so die von Widmer zum Ziel der Analyse gemachte Erkenntnis, »dass der Inzest eine große Enttäuschung wäre« (Widmer 1990: 167). Die Unmöglichkeit des Phantasma führt so zu einer »Erfahrung der Absenz des Objekts in einer Art vom Melancholie« (ebd.). Analyse und Trauer Diese Wirkung hat die Analyse nicht aufgrund bestimmter Techniken wie etwa der Deutung, die dem Analysanden sein Phantasma benennt, sondern vielmehr aufgrund eines spezifischen Begehrens, des Begehrens des Analytikers, das diesen in ein spezifisches Verhältnis zu seinem Gegenüber setzt. Mit seinem Begriff des Be-

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gehrens des Analytikers versucht Lacan eine positive Bestimmung von dem zu geben, was die Arbeit des Analytikers ausmacht. Dennoch sind es zunächst vor allem Enthaltsamkeitsregeln, die das spezifische Begehren des Analytikers beschreiben. Diese negative Formulierungen des Begehrens sind auch in aktueller Literatur vorherrschend. Bruce Fink beschreibt das Begehren des Analytikers folgendermaßen: Lacans Ausdruck »das Begehren des Analytikers« bezieht sich nicht auf die Gefühle des Analytikers in der Gegenübertragung, sondern im Gegenteil auf eine Art von »gereinigtem Begehren«, das dem Analytiker eigen ist, nicht als Mensch mit Gefühlen, sondern als Funktion, Rolle, die gespielt werden muss, und die von vielen, äußerst unterschiedlichen Individuen gespielt werden kann. »Das Begehren des Analytikers« ist ein Begehren, welches sich einzig auf die Analyse konzentriert. (Fink 2009: 21.) Dieses »gereinigte Begehren«, das das Gegenüber nicht zum phantasmatischen Objekt macht, kann Fink nur als abstinentes fassen: Es ist ein Begehren, das nichts Bestimmtes von dem Analysanden will, bereit ist jede Gegenübertragung fallen zu lassen oder zumindest für sich zu behalten, gleichzeitig jedoch unermüdlich wünscht, dass der Analysand weiter in die Behandlung kommt, seine Assoziationen äußert usw. (vgl. Fink ebd.). Solch ein Begehren ist entsprechend, wie Fink betont, nicht einfach zu haben: »Es ist nicht die Art Begehren, die jeder der will, aufrecht erhalten kann, ohne zunächst durch einen langen Zeitraum der Selbstanalyse hindurch zu gehen« (ebd.: 22). Tatsächlich verlangt das Begehren des Analytikers, versteht man es als ein Begehren jenseits des Phallus, vom (männlichen) Subjekt einen Verzicht.28 Am Ende des Seminar VIII, des Seminars über die Liebe, spricht Lacan von einer »Trauer des Analytikers«, die mit der Erkenntnis zusammenhängt, dass es »kein Objekt, das einen höheren Preis hätte als ein anderes« (VIII: 481), gibt. Hier stellt er einen Zusammenhang her zwischen der Analyse als Voraussetzung der subjektiven Position des Analytikers und der Trauerarbeit. Diese formulierte Freud folgendermaßen:

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Es ist denkbar, dass der Verzicht auf die Allmachtsphantasie bereits in die weibliche Subjektivität eingeschrieben und so Voraussetzung des Genießens jenseits des Phallus ist. Wenn das kleine Mädchen auf die Entdeckung des männlichen Genitals mit einer Phase der Traurigkeit reagiert, die verbunden damit ist, dass es sich von seinem mütterlichen Liebesobjekt abwendet (vgl. Nasio 2010: 30), so lässt sich dieser libidinöse Rückzug, die Wut auf die Mutter, die einsame Traurigkeit als Anzeichen einer frühen Auseinandersetzung mit der Abwesenheit eines vervollständigenden Objekts, als frühes Ende des Phantasmas, interpretieren, die Ursache für das weibliche Genießen jenseits des Phallus, für eine Affinität zum Genießen jenseits der Allmachtsphantasie, sein könnte.

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An jede einzelne der Erinnerungen oder Erwartungssituation, welche die Libido an das verlorene Objekt geknüpft zeigen, bringt die Realität ihr Verdikt heran, dass das Objekt nicht mehr existiere, und das Ich, gleichsam vor die Frage gestellt, ob es dieses Schicksal teilen will, lässt sich durch die Summe der narzisstischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen, seine Bindung an das vernichtete Objekt aufzulösen. (Trauer und Melancholie [1917], GW 10: 442.) In der Trauerarbeit, diesem »langwierigen, allmählich fortschreitenden Prozess« (Freud ebd.), die den Trauernden so aufzehrt, dass er das Interesse an der Außenwelt verliert, zieht das Subjekt seine Libido vom verlorenen Objekt ab, löst Stück für Stück seine Bindung an es, oder wie Lacan formuliert: »die Trauer besteht darin, den wirklichen Verlust, Teil für Teil, Stück für Stück, Zeichen für Zeichen, Element groß I für Element groß I zu authentifizieren.« (VIII: 279). Der Trauerprozess, der voller Selbstvorwürfe und Ambivalenzkämpfe ist, der sich gegen das Leben selbst zu wenden scheint, gleicht dem Prozess, der in einer Analyse stattfindet. Jedoch ist die Analyse anders als die Trauer nicht auf ein konkretes verlorenes Objekt bezogen und gleicht darin der Melancholie, die der Trauer äußerlich ähnelt, in der jedoch das verlorene Objekt nicht greifbar ist: Es ging ihr oft kein Todesfall voraus, kein realer Verlust, so dass »auch der Kranke nicht bewusst erfassen kann, was er verloren hat« (GW 10: 431). Auf diese Unterscheidung von Trauer und Melancholie bezieht sich Lacan in Seminar VIII, denn die Spezifik der Melancholie lässt genauer verstehen, was in der Analyse stattfindet. Als Ursache der Melancholie macht Freud die narzisstische Objektbesetzung aus, die schließlich zu einer für die Melancholie typischen Regression der Objektbesetzung zum Narzissmus führt: Das idealisierte Objekt wird aufgegeben und ins Ich verlegt, »der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch die Identifizierung veränderten Ich« (ebd.: 435) verwandelt.29 Verloren ist also ein Objekt, das es nie gegeben hat, ein Ideal, das an der Realität gescheitert ist oder zu scheitern drohte und deshalb ins Ich zurückgenommen wurde. Nun besteht Lacan, wie ich im zweiten Kapitel gezeigt habe, darauf, dass der Kern der Liebe sowie der Übertragung immer narzisstisch ist: Der Liebende sucht in seinem Objekt Bestätigung, er macht sein Objekt zum Anker seiner Welt, zum Halt seines Phantasmas. Dabei ist das Objekt trotz seiner alles überragenden Bedeutung austauschbar, vielleicht sogar ohne eigene Bedeutung, denn es erhält seine Position nur als Träger von Objekt a. Das Objekt der Melancholie lässt sich mit Lacan also als das Objekt a beschreiben und damit als das Objekt, das für die Übertragung zentral ist.

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Freud geht von zwei Phasen aus, die die Melancholie ausmachen: Zunächst wird die Libido vom Objekt abgezogen und ins Ich verlegt, was unbewusst passiert, dann kann der Vorgang bewusst werden als Konflikt zwischen Ich und Kritik (vgl. ebd. 445).

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In der Übertragung setzt der Analysand den Analytiker als Objekt a ein, jedoch als phantasmatisches Objekt und Stütze seines Phantasmas.30 Wenn der Analytiker nun »von der Idealisierung herunter« (s.o.) muss, so gleicht die analytische Arbeit einerseits dem sich Stück für Stück vollziehenden Trauerprozess, zugleich bezieht sie sich jedoch wie die Melancholie auf die Fundamente des Subjekts: Während der Trauernde irgendwann seine Libido vom verlorenen Objekt vollständig gelöst hat und wieder bereit für neue Objektbesetzungen ist, würde eine Überwindung der auf das phantasmatische Objekt a bezogenen Melancholie eine Veränderung der fundamentalen Struktur des Subjekts bedeuten. Die für die Melancholie charakteristischen Selbstanklagen, die Freud als einen Konflikt zwischen Ichkritik und durch das Objekt veränderte Ich interpretiert, deutet Lacan als Gewissensbiss, der das Subjekt im Moment der Auflösung des Objektes durchfährt und mit der Erkenntnis zusammenhängt, kein Objekt sei »der Mühe wert, dass ich mich für es von meinem wahren Begehren abgewandt habe« (VIII: 480). Wenn der Analytiker sich dadurch auszeichnet, den analytischen Prozess durchlaufen zu haben, steht an dessen Ende ein Subjekt, das sich nicht auf Idealisierungen einlässt, weil es weiß: »Es gibt kein Objekt, das einen höheren Preis hätte als ein anderes – das ist hier die Trauer, um die herum das Begehren des Analytikers ausgerichtet ist« (VIII: 481). Analyse und Genießen Während Lacan das Begehren des Analytikers in Seminar VIII noch vor allem negativ formuliert, stellt er in späteren Seminaren deutlicher heraus, dass es sich bei dem Begehren des Analytikers nicht um eine asketische Haltung handelt. Die Abgrenzung ist jedoch nicht einfach. In Bezug auf die Arbeit des Analytikers behauptet Lacan, dass es das Gegenüber ist, das Lust erhält, während hingegen der Analytiker arbeiten muss: Die Arbeit ist für mich, und die Mehrlust, die ist für Sie. Das, was man von einem Psychoanalytiker erwartet, das ist, wie ich es letztesmal gesagt habe, dass er sein Wissen als Wahrheit fungieren läßt. (XVII: 61.) Die Mehrlust ist das Genießen, das der Analytiker dem Gegenüber anbietet. Der Analytiker ist für sein Gegenüber das Objekt a, die Mehrlust. Man könnte marxistisch formulieren: Objekt a ist das Produkt der Mehrarbeit des Analytikers, das er seinem Gegenüber abgibt. Objekt a, das im Diskurs des Analytikers an der Stelle des Agens steht, ist also einerseits ein Überschuss, ein Produkt, das aus zusätzlicher Arbeit entstanden ist. Andererseits ist es ein Mangel, ein Weniger-Genießen 30

Der Analytiker füllt also zunächst die Stelle des verlorenen Objekts aus. Wenn der Melancholiker das Objekt ins Ich zurücknimmt, bietet die Analyse ihm also die Gelegenheit, den Konflikt wieder in das Außen zu verlagern und dort zu bearbeiten.

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als der Anteil des Genießens, auf den der Analytiker verzichtet. Die Mehrlust ist zugleich positiv und negativ, anwesend und abwesend. Also scheint zunächst das Agens vor allem für sein Gegenüber auf ein Genießen zu verzichten. Entsprechend ließe sich Lacans Diskurs des Analytikers als Ethik des Verzichts lesen, die für eine professionelle psychoanalytische Haltung notwendig ist, als Forderung, den vom Analysanden angebotenen Platz des Herren zu seinem eigenen Wohl zurückzuweisen. Für diese Annahme eines notwendigen Verzichts spricht, dass Lacan den Analytiker einen »Heiligen« nennt. Jedoch zeigt sich in Lacans konkreten Formulierungen, dass er den Heiligen keinesfalls als einen Altruisten versteht: Bei einem Heiligen, nur damit Sie mich verstehen, fallen keine milden Gaben ab. Vielmehr macht er den Abfall: er verabfällt. […] Nur für den Heiligen fällt nichts davon ab, Pech für ihn. Das ist es ja gerade, was bei der Sache am meisten verblüfft. Jene, verblüfft, die ihr näherkommen und sich darin nicht täuschen: Der Heilige ist der Ausschuss der Lust (jouissance). Manchmal hat er jedoch Pause, womit er sich nicht mehr zufrieden gibt als alle Welt. Er empfindet Lust (jouit). Währenddessen wirkt er nicht mehr. (Lacan 1988: 71.) Die Metapher des Heiligen ermöglicht, das Lacans Vorstellung eines spezifischen Begehren des Analytikers (und damit möglicherweise auch ein mütterliches) besser zu begreifen, denn der Heilige ist eine Figur, die auf den ersten Blick völlig selbstlos ist, jedoch in Lacans Interpretation eine enge Beziehung zur Lust hat. Das oben stehende Zitat lässt sich so lesen, dass die Wirksamkeit des Heiligen an seinem Verzicht auf Lust hängt. Gegen diese Deutung spricht aber, dass Lacan behauptet, dass der Heilige keine milden Gaben vergibt. Es ist also kein Verzicht aus moralischen Erwägungen oder der Versuch, den Wünschen eines Gegenübers gerecht zu werden, der die Wirksamkeit des Heiligen ermöglicht. Vielmehr bezeichnet Lacan das, was der Heilige produziert, als Abfall – oder er wird selbst zu Abfall (verabfällt) – also als etwas, das nebenbei entsteht, was nicht geplant war und was keinen Sinn ergibt. Den Heiligen selbst bezeichnet Lacan als Ausschuss der Lust (oder besser des Genießens). Ausschuss ist der Heilige, wenn das Genießen ihm vorgängig ist: Der Heilige weiß nicht, was er tut; er handelt ohne Vorsatz und Intention. Vielmehr lebt der Heilige das Göttliche, ohne es zu verstehen. Wenn er Wunder tut, so nicht, weil er weiß, wie die Dinge zu machen sind, sondern weil er sich Etwas hingibt, das jenseits seiner Kontrolle und seines Bewusstseins ist. Was aber ist dieses Göttliche, dem sich der Heilige hingibt? Auf was lässt sich der mit dem Heiligen identifizierte Analytiker ein, ohne diese Einlassung im Griff zu haben? In seinem Diskursmathem gibt Lacan eine Antwort auf diese Frage: Am Platz der Wahrheit steht im Diskurs des Analytikers S2 , die unabschließbare und unabgeschlossene Menge der Signifikanten oder wie Lacan formuliert das »Wissen, insofern es nicht denkt, nicht kalkuliert, nicht urteilt, ohne deswegen weniger

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Effekt von Arbeit zu erbringen« (ebd.: 82). Den Heiligen wie den Analytiker zeichnet seine Hingabe an das aus, was seine Wahrheit ist, nämlich S2 zu sein. S2 steht nicht für ein Wissen als absolutes, es ist kein Wissen, das sich selbst weiß. Deutlich wird die Gestalt dieses Wissens in der Abgrenzung zu Lacans Beschreibung der Perversion. Auch der Perverse gründet seinen Dienst als Objekt des Anderen auf ein Wissen: Der Perverse weiß, was der Andere will, und gibt es ihm. Dabei ist sein Wissen absolut und lässt sich weder durch das Gegenüber noch seine eigene Begrenztheit irritieren: So ist beispielsweise die Gewalt, die der Sadist ausübt, nicht nur durch dieses absolute Wissen gerechtfertigt, die Gewalt richtet sich auch gegen jede Grenze des Gegenübers, die dieses Wissen begrenzen und seinen Absolutheitsanspruch in Frage stellen könnte. Indem er die physische Beschränktheit seines Objekts überwindet, macht er aus seinem Wissen wahres Wissen. Nun ist aber das Wissen der Analyse ein Wissen, das sich nach Lacan nur »HalbSagen« lässt. Dieser vorsichtige Begriff des Wissens unterscheidet die Analyse von der Perversion – und damit, so könnte man vermuten, auch die unproblematische Mutter-Kind-Beziehung von der problematischen. Nach Lacan steht im Diskurs des Analytikers das Wissen an dem Platz der Wahrheit: Wahrheit und Wissen kommen so zusammen. Gleichzeitig ist das Wissen auf der unteren, nicht direkt zugänglichen Ebene, weil sich nur »halb-sagen« lässt: Bleibt nicht weniger, als dass ich diesen Knoten des Halb-Sagens letztesmal dadurch illustriert habe, daß ich angab, wie man an ihm akzentuieren muss, was es mit der Deutung eigentlich auf sich hat, was ich artikuliert habe vom Aussagen ohne Aussage, von der Aussage unter Vorbehalt des Aussagens. (XVII: 59.) Das Wissen der Analyse ist ein Wissen um das Unbewusste und damit um die Differenz von Aussagen und Aussage. Es ist auf das Reale des Symbolischen orientiert, nämlich auf die eigentümliche Eigenlogik des Symbolischen, die materielle Seite des Signifikanten mit ihren zufälligen Homophonien, Reimen und Ähnlichkeiten, die Versprecher und Assoziationen ermöglichen. Wenn Lacan von sich behauptet, lalangue zu sprechen (vgl. XX: 143), ist es diese Sprachkenntnis, die ihn als Analytiker qualifiziert. Lalangue oder auch lalangue maternelle (XX: 150) ist die Sprache, die keine Ordnung gebildet hat, nicht durch einen Herrensignifikanten in eine Ganzheit gezwungen ist, sondern wild-wuchernde, chaotische Verweisungsstruktur bleibt. Lalangue maternelle, die Sprache, die von der symbolischen Mutter der Frustration kommt, ist eine Sprache, die aufgeladen ist mit Genießen, die sich nicht von ihrer Materialität trennen lässt: Sie besteht aus Bedürfnisbefriedigungen und ihrem Überschuss, sie ist nie abstraktes Wissen, sondern Wissen in Tätigkeit, in Gaben, die nach Antwort fragen, jedoch diese nicht deteminieren. Die Sprache, mit der wir es im Diskurs des Analytikers zu tun haben, ist rätselhaft und Anlass zu deutenden Grübeleien für das Gegenüber, wie die Sprache der Mutter rätselhaft ist für das Kind. Wenn nun Lacan in seinen zahl-

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reichen Wortspielen, Assoziationen, Mehrdeutigkeiten spricht, so bedient er sich genau dieser lalangue. Weil der analytische Diskurs nicht der phallischen Funktion unterworfen ist, entspricht er dem weiblichen Genießen, das ich in Kapitel 4.4 als »Jenseits des Phallus« entwickelt und mit dem Trieb verbunden habe. Der Diskurs des Analytikers fasst dieses Genießen jenseits des Phallus als Verhältnis zu einem Gegenüber und konkretisiert es, zugleich konkretisiert die Beziehung zum weiblichen Genießen jenseits des Phallus das Begehren des Analytikers. Nur als Sprecher von lalangue kann der Analytiker die Position des Objekts a einnehmen. Denn aus dieser Eigenlogik der Symbolischen ergibt sich die Mehrlust, die eine Weniger-Lust ist: die Erotisierung der Leerstelle. Die Sprache des Unbewussten, lalangue, ist die mütterliche Sprache als Antwort auf einen kleinen anderen, als eine Zirkulieren der Signifikanten an einer Grenzregion, als mit Genießen aufgeladene Berührung, als materielle Dimension der Sprache. Der Diskurs des Analytikers müsste deshalb eigentlich Diskurs der Analytikerin heißen.31 Für den Zusammenhang zwischen analytischer Situation und dem Weiblichen gibt Lacan schon früher einige Hinweise: So betont er immer wieder, dass der Psychoanalytiker sich über die Grenze zwischen den Geschlechtern hinwegsetzen muss. Beispielsweise ernennt er Teiresias, den Seher aus der griechischen Mythologie, zum Schutzpatron der Psychoanalyse, weil dieser sieben Jahre eine Frau gewesen ist. Dadurch ist er nicht nur in der Lage, vom Genießen der Frau Auskunft zu geben, sondern ist der Einzige, der die Grenze zwischen den Geschlechtern überquert hat (vgl. X: 230). Der Analytiker ist also nach Lacan – und diese Einstellung ist der Grund für seine heftigen Auseinandersetzungen mit der IPA – nicht Analytiker aufgrund spezifischer Techniken, aufgrund eines spezifischen Wissens, sondern aufgrund einer spezifischen Stellung zum Symbolischen, einer spezifischen Ökonomie des Genießens. Damit ist das Analytikersein strukturell vergleichbar mit der Sexuierung, die ebenfalls als Stellung zum Symbolischen definiert ist. Diesen Zusammenhang legt Lacan nahe, wenn er in Seminar XXII die selbe Formel für die Einnahme der analytischen Position und die Sexuierung nutzt: le psychoanalyste ne s’autorise que de lui-même und l’être sexué ne s’autorise que de lui-même (XXII: 5.4.74).32 Der Analytiker definiert sich dadurch, lalangue für den Analysanden zu sein.

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Auf diese Sexuierung des analytischen Diskurs hat Žižek bereits hingewiesen (vgl. Žižek 1999: 95). Wenn Lacan eine bestimmte Weise zu begehren als das betrachtet, was einen Analytiker qualifiziert, so ist es seine Aufgabe als Ausbilder von Analytikern, dieses spezifische Begehren zu wecken. Vor diesem Hintergrund lässt sich der besonders in den späten Seminaren sehr eigene Stil Lacans besser einordnen, der nicht auf das Verstehen einer bestimmten Wissensordnung zielt, sondern zu einem bestimmten Verhältnis zur Sprache, zum Symbolischen und zum Wissen zu verführen versucht.

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Damit ist das im Diskurs des Analytikers beschriebene Verhältnis zum Gegenüber selbstlos im Wortsinne. Der Bezug zu dem Gegenüber ist zufällig: Der Analysand kommt in die Sitzung, das Kind kommt zu der Jungfrau, die Frau nimmt den, der da ist: Entscheidend ist, dass das Gegenüber die Frau, die Analytikerin, die Mutter, Objekt a sein lässt. Es ist kein konkretes Gegenüber erforderlich; die weibliche Beziehung zu S(Ⱥ) muss nicht die Mittellinie der Formeln der Sexuierung überqueren, benötigt also nicht die sexuelle Differenz. Das Verhältnis zum Gegenüber wäre also völlig selbstgenügsam, wenn es dieses Selbst gäbe. Jedoch besitzt das, was da auf der Position des Agens sitzt, kein Selbst, es ist vielmehr gerade das, was jenseits des Selbsts, jenseits einer Identität und damit jenseits des Phallus ist. Colette Soler, die sich auf späte bisher weder veröffentlichte noch übersetzte Seminare Lacans bezieht, spricht im Anschluss an Lacan von einer Heterität des weiblichen Sexuellen (Soler 2006b: 290): Das weibliche Sexuelle ist ein nicht vereinigtes und damit nicht vereinheitlichtes und kommt so ohne Bezug auf eine Identität, die Sinn zentralisiert und garantiert, aus. Sprachsuppe und Trieb Nun scheint jedoch Joyces Sinthom gerade auf diese lalangue zu reagieren, was verschiedene Interpreten dazu verleitet, anzunehmen, dass sich das Subjekt aus der mütterlichen »Sprachsuppe« lösen muss, um nicht verrückt zu werden (vgl. Turnheim 2009: 64). Weil in Joyces Fall kein Vater zur Verfügung steht, erfindet er mit dem Sinthom eine Instanz, die die Trennung vom übergriffigen mütterlichem Genießen ermöglicht. Das Sinthom beschreibt Lacan als etwas, das die drei Register miteinander verbindet. In Joyces Fall diagnostiziert er eine Verbindung von Symbolischem und Realem, jedoch ist das Imaginäre seltsam abgetrennt, was das Sinthom erst notwendig macht. Dass die vom Genießen infizierte Sprache, also eine Verbindung von Symbolischem und Realem, so eigenmächtig von Joyce Besitz ergreifen kann, versteht Lacan als eine Folge eines auffälligen Verhältnisses zu seinem Körper: Er hatte bei dieser Gelegenheit keinen Genuss, keinen Orgasmus, seine Reaktion war Ekel. Das hat psychologischen Wert. Dieser Ekel betrifft alles in seinem eigenen Körper. Das ist wie jemand, der die böse Erinnerung in Klammern setzt, der sie verjagt. (XXIII: 167.) In Joyces Texten taucht nach Lacan der Körper als etwas auf, das fremd bleibt. In eine Szene aus »Der Künstler als junger Mann«, in der der Protagonist von Freunden geschlagen wird und verwundert die Abwesenheit jeglicher Wut feststellt, erkennt Lacan ein für einen Analytiker auffälliges Fehlen der Identifikation mit dem Körper:

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Diese Form des Fallenlassens des Verhältnisses zum eigenen Körper bei Joyce ist für einen Psychoanalytiker völlig suspekt, weil die Vorstellung von sich selbst als Körper Gewicht hat. Das ist genau das, was man das Ego nennt. (Ebd.) Joyce hat kein Interesse an seinem Körper, er kann ihn ohne Reue fallen lassen. Die imaginäre Vorstellung eines Körpers als Gegenstand einer Identifikation mit diesem, das Ego, fehlt ihm. Stattdessen bildet er sich mit seinem Werk ein Sinthom, ein Ersatzego, das die Funktion des Körpers übernimmt und das Imaginäre wieder an Reales und Symbolisches koppelt. So hat das durch das Werk gebildete Ego »reparierende Funktion« (ebd. 171). Das Sinthom ist also wegen eines fehlenden »Egos« notwendig und nicht, weil die mütterliche lalangue per se das Subjekt überrollt. An dieser Stelle muss ich Geneviève Morel widersprechen, die die Notwendigkeit des Sinthoms in einem mütterlichen Gesetz begründet: Das Sinthom ist in der Muttersprache verwurzelt. Das Kind das sprechen lernt, bleibt lebenslang vom Sprechen und Genießen seiner Mutter (oder ihres Ersatzes) geprägt. Daraus resultiert eine Unterwerfung unter ihren Anspruch, ihr Begehren und ihr Genießen, also unter »das Gesetz der Mutter«, von dem es sich trennen muss. Dieses Gesetz der Mutter trägt in sich das Erbe von Eigenschaften des weiblichen Genießens, das nichtalle ist. Es ist ein unbegrenztes Gesetz. (Morel 2017: 408.) Dieses Gesetz erkennt Morel in mütterlichen Worten, die nicht wie die lalangue vieldeutig sind, sondern sich gerade durch ein »Zuviel an Anwesenheit« auszeichnen. Diese Worte können die Betroffenen nur zitieren (vgl. ebd. 27), weshalb ich nicht wie Morel ein Reales in ihnen erkenne, sondern ein Imaginäres: Die Worte werden zu konkreten Steppunkten, die die vielstimmige mütterliche Sprache zentrieren und aus ihrer Rätselhaftigkeit einen verständlichen Anspruch machen. Das »Nichtalle« des mütterlichen Gesetzes bringt Morel also gerade mit der Vereindeutigung zusammen, einer Vereindeutigung, die ich im letzten Kapitel als mütterlichen Perversion bezeichnet habe: Die mütterliche Perversion hält am Phantasma eines vollständigen Genießens fest und unterwirft sich das Kind als Mittel des Genießens. Wo das Kind zum Mittel des Genießens der Mutter wird, kann die körperliche und psychische Integrität des Kindes nicht gewahrt bleiben. Das mütterliche Genießen dringt in den Körper des Kindes ein, es wird passiviert, eine Ablösung von der Mutter muss gegen diese erkämpft werden. Morel geht von zwei aus meiner Sicht problematischen Annahmen aus. Zum einen macht sie mütterliche Perversion zum Regelfall, woraus zwangläufig folgt, dass es zum Erreichen einer Subjektivität notwendig ist, die mütterliche Arbeit und Subjektivität auszustreichen. Die Abwertung des Weiblichen ist in diese Konzeption der Mutterschaft bereits eingeschrieben. Außerdem kann ich mich Morels

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Interpretation des weiblichen Nichtalle als entgrenztes mütterliches Gesetz nicht anschließen. Das Nicht-alle in den Formeln der Sexuierung bezieht sich gerade auf das, was sich der phallischen Funktion und damit dem Phantasma eines absoluten Genießens entzieht. Das entgrenzte Gesetz entspricht meines Erachtens dem postödipal-verfolgenden Genieße-Imperativ, den ich im dritten Kapitel beschrieben habe. Sowohl mit dem Trieb, den ich in Kapitel 4.4 als Genießen jenseits des Phallus beschrieben habe, als auch mit dem Diskurs der Analytikerin wäre diesem Regelfall etwas entgegenzusetzen. Denn anders als die imaginär vereinnahmenden Übergriffigkeit der perversen Mutter ist die Sprache der Analytikerin, die lalangue, kein Gesetz, keine imaginäre Vereindeutigung, sondern das Wissen des Triebes, der das Objekt a umkreist: Volkstümlicherweise ist die Vorstellung vom Instinkt wirklich die von einem Wissen – einem Wissen, von dem man nicht fähig ist zu sagen, was das bedeutet, von dem man jedoch, und nicht ohne Berechtigung, meint, es habe zum Ergebnis, daß das Leben fortbesteht. Wenn wir dagegen dem einen Sinn geben, was Freud über das Lustprinzip sagt: daß es für das Funktionieren des Lebens wesentlich ist, weil es das ist, worin sich die niedrigste Spannung aufrecht erhält –, ist damit nicht bereits das gesagt, wovon die Folge seines Diskurses erweist, daß es ihm aufgedrängt wird? Nämlich: der Todestrieb. […] Der Todestrieb, hier wir haben ihn. Wir haben ihn da, wo etwas geschieht zwischen Ihnen und dem, was ich sage. (XVII: 14f.) Lacan spielt hier auf die von ihm immer kritisierte Übersetzung des Freud’schen Begriffs Trieb mit instinct an. In dieser problematischen Übersetzung stecke zumindest die Wahrheit, dass die Beziehung des Triebs zum Wissen sichtbar wird. Denn als Instinkt wird ein unwillkürliches Wissen bezeichnet, das nicht Ergebnis langer Reflexion ist, sondern das »sich selbst nicht weiß«. Als solches ist es dafür verantwortlich, dass das Leben fortbesteht.33 Der Übersetzungsfehler weist also auf den Zusammenhang eines spezifischen Wissens (Wissen, das sich selbst nicht weiß) und dem Trieb hin, den Lacan hier explizit den Todestrieb nennt. Der Todestrieb ist für den Diskurs der Analytikerin zentral. Das Ein, eine Logik der Identität, die den Diskurs des Herren prägte, bleibt im Rahmen des Lustprinzips. Das Ein überschreitet nicht die Schwelle der Selbsterhaltung des Individuums. Diese Formulierung des Todestriebs unterscheidet sich von der postödipalen Fusion von Über-Ich und Genießen, die ich im dritten Kapitel beschrieben habe und die beispielsweise bei Maccannell mit dem Todestrieb in Verbindung gebracht 33

Hier zeigt sich erneut der Zusammenhang zwischen dem Wissen, das sich selbst nicht weiß, und dem weiblichen Genießen, von dem Lacan ebenfalls behauptet, dass es sich selbst nicht weiß.

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wird. Meines Erachtens lässt sich der Unterschied dieser beiden Begriffe des Todestriebs nur mithilfe Lacans Unterscheidung der »zwei Tode« verstehen, die bereits bezogen auf Antigone eine Rolle spielten. Der Todestrieb, mit dem Lacan das Genießen in der Sprache, das Genießen jenseits des Phallus in Verbindung bringt, zielt auf den »sozialen Tod«, auf den Platz im Symbolischen, auf das, womit sich das Subjekt identifiziert. Er zielt auf das Verschwinden des Signifikanten, während sich das postödipale Über-Ich gegen das Leben des Subjekt selbst wendet. Der Todestrieb im Diskurs des Analytikers richtet sich gegen die Identifizierung, also gegen das, was Lacan das Ein nennt. Generationalität ist nun gerade das, was sich nicht über das Ein produzieren lässt. In seiner »Einführung des Narzissmus« denkt Freud über zwei sich widersprechende Triebe nach, die die Vorboten von dem sechs Jahre später systematisierten Gegensatz von Eros und Todestrieb sind: Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist. (GW 10: 143.) Selbsterhaltung und Generationalität stellt Freud hier als zwei sich widersprechende Prinzipien dar. Erstere identifiziert er hier mit den Ich-Trieben und zweite mit den Sexualtrieben – die dann in »Jenseits des Lustprinzips« wieder zusammenfallen und von der Gegenüberstellung von Eros und Todestrieb abgelöst werden. Lacan, der diese dualistische Konzeption zwar aufgreift aber immer wieder neu deutet, stellt ins Zentrum des Eros das, was er Ein nennt, den Phallus. Das Sexuelle verknüpft er mit dem Lustprinzip und dieses mit der Selbsterhaltung. Jenseits dieses Lustprinzips liegt der Todestrieb, das Weibliche und die Generationalität. Jenseits des Lustprinzips ist der Ort, an dem es keine Instanz gibt, die die Kontrolle zu haben scheint. Es handelt sich um einen stärker akzentuierten Zug, der uns eine gewisse Verbindung der Azephalie mit der Transmission des Lebens als telos, mit dem Übergang der Flamme von einem Individuum zum anderen in einer bedeuteten Ewigkeit der Gattung bezeichnet, daß nämlich das Gelüst* nicht durch den Kopf hindurchgeht. (VIII: 268.) Generationalität verlangt die Azephalie, die Kopflosigkeit des Subjekts, und genau diese verbindet Lacan hier mit dem Gelüst, das er später Trieb nennen wird: Nur wo das Subjekt nicht ist, wo es sich dem Genießen an der Grenze zum anderen hingibt, kann eine generationale Beziehung entstehen. In Seminar XXIII fasst Lacan zusammen: Was für den somatischen Träger Tod bedeutet, hat ebenso viel Platz wie Leben in den Trieben, die daraushervorgehen, was ich Leben für die Sprache genannt ha-

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be. Die betreffenden Triebe gehen aus dem Verhältnis zum Körper hervor, und das Verhältnis zum Körper ist für keinen Menschen ein einfaches Verhältnis – abgesehen davon, dass der Körper Löcher hat. Nach Freud hätte das den Menschen sogar auf den Weg dieser abstrakten Löcher führen sollen, die jegliches Aussagen betreffen. (XXIII: 165.) Dem Leben, der Selbsterhaltung oder besser dem Überleben, setzt Lacan das Leben für die Sprache entgegen. Dieses Leben für die Sprache ist mit dem Körper verbunden, einem Körper, der Öffnungen hat – Löcher. Das Leben für die Sprache findet an diesen Löchern statt: Dort wo etwas fehlt, das die Löcher füllen kann. Damit sind die Löcher des Körpers Zonen des Übergangs: Das Loch erwartet auch im ungefüllten Zustand eine Füllung, es ist sensibel, zugeneigt, voller Hoffnung. Damit ist es der Ort, an dem sich das Subjekt zum anderen hin öffnet. Freud benennt einige dieser Löcher – den Mund, den Anus, das Genitale –, Lacan fügt weitere hinzu – das Auge, das Ohr –, jedoch weist er hier darauf hin, dass von diesen konkreten Löchern ein Weg in die Abstraktion führt. Vorstellbar sind beispielsweise das Loch in einem Sprechen, in dem Raum für die Antwort des anderen entsteht, das Loch in einer Argumentation, die ein anderer zu füllen weiß etc. Diese Definition des Triebs, in der das Subjekt das eigene Genießen an das Genießen eines konkreten anderen bindet, beinhaltet, dass das Subjekt sich aufs Spiel setzt und für die Begegnung mit dem anderen den eigenen Tod in Kauf nimmt. Der Trieb entsteht aus einer Abwesenheit, der Abwesenheit des Partialobjekts (beispielsweise der Brust), und macht aus dieser einen Überschuss (die Reizung der Lippen), ein überschüssiges Umkreisen der Leerstelle und damit Konturierung des fehlenden Objekts. Genau diese Triebbewegung ist die Bewegung, die die Grenzen des Lustprinzips überschreitet, sie überschreitet das energetische Modell, weil sie einen Überschuss aus einem Mangel erzeugt. Wenn also die Mutter – wie auch der Analytiker – dem entropischen Objekt a entspricht bzw. mit diesem assoziiert ist, wird diese mit dem Triebgenießen gleichgesetzt: Ein Genießen, das ohne Ziel, sondern reiner Prozess ist.34 Subjekt und Berührung Offen bleibt in der Interpretation des Begehrens des Analytikers als Trieb jedoch, wie dieser den Herrensignifikanten hervorbringt – was Lacans Mathem des Diskurs des Analytikers behauptet. Meine These hier ist, dass der Trieb den Körper hervorbringt als begrenzten, der sich zum anderen hin öffnet. Nur so kann ein Subjekt entstehen, das Symbolisches, Imaginäres und Reales aufeinander bezieht, das 34

Hier gibt es durchaus eine Verbindung zu Deleuze/Guattaris Wunschmaschine, die sich nicht wie die ödipalen Phantasien auf Ganzheiten richtet, sondern Partialitäten verbindet: Der saugende Mund mit der nährenden Brust usw. Mit ihrem Begriff der Maschine betonen sie das Nicht-Personale des Genießens (vgl. Deleuze/Guattari 1974).

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nicht überwältigt vom anderen ist oder sich gegen dessen Überwältigung wehren muss. Luce Irigaray, die weit intensiver als Lacan an einer Formulierung für eine Beziehung jenseits des Phallus arbeitet, findet für diese Beziehung den Begriff einer Berührung der Liebkosung und beschreibt eine Begegnung mit dem anderen, die diesen nicht vereinnahmt. In dem Text »Wenn unsere Lippen sich sprechen«, weniger Aufsatz als poetischer Collage, spürt sie dieser Beziehung nach. Ausgehend von einer weibliche Autoerotik, die sie aus Bildern weiblicher Körperlichkeit wie der Selbstberührung der (Scham-)Lippen entwickelt, sucht sie nach einer Form der Beziehung, die nicht Subjekt und Objekt unterscheidet: Öffne deine Lippen, aber öffne sie nicht einfach so. Ich öffne sie nicht einfach so. Du/ich, wir sind weder offen noch verschlossen. Weil wir uns niemals einfach so trennen: ein einziges Wort kann nicht ausgesprochen werden. Hervorgebracht, ausgeschieden werden von unseren Mündern. Zwischen deinen/meinen Lippen gibt es ein unaufhörliches Hin und Her von Gesängen, Reden. Ohne dass das Eine, die Eine jemals von dem/der Anderen zu trennen wäre. Ich/du das sind immer mehrere auf einmal. (Irigaray 1979: 215.) Die Selbstberührung der Lippen, die sich – auch zum anderen hin – öffnen können, sich in ihrer Schließung berühren, werden zum Ausgangspunkt eines Denkens eines Verhältnisses zum Gegenüber, in dem Grenzen zwischen Ich und Du verschwimmen. In diesem Verhältnis lässt sich unschwer das kopflose Genießen erkennen, das ich als Triebgenießen beschrieben habe: Es ist ohne Subjekt, das sich als kontrollierend wahrnimmt, es ist bezogen auf Zonen, die sich im Verlauf zum anderen hin öffnen, an denen der/die andere erst entsteht. Irigaray fasst dieses weibliche Verhältnis zum selbst und anderen als Berührung, die sie in ihren weiteren Schriften immer deutlicher ausarbeitet. In »Ethik der sexuellen Differenz« spricht sie von dem »Berühren in der Liebkosung«, in dem sich zwei verbinden und entbinden, vereinigen ohne zu vereinnahmen. Diese spezifische Form der Zärtlichkeit genießt den Kontakt zum anderen, ohne diesen für die eigene Identität zu gebrauchen. Während Irigaray in »Das Geschlecht, das nicht eins ist« die Berührung insbesondere als Kuss denkt, als Berührung der Lippen, beschreibt sie in der »Ethik« die Berührung als Hautkontakt. In der Berührung geben mir die Hände des anderen, die Handflächen, mit denen er mich berührt, ohne mich zu durchdringen, die Ränder meines Körpers zurück und rufen mich auf, mich an die innerste Intimität zu erinnern. Er drängt mich in der Liebkosung nicht dazu, mich aufzulösen oder zu vergessen, sondern mir einen Ort wieder zu vergegenwärtigen, wo sich für mich das innerste Leben bewahrt. (Irigaray 1995: 219.) Die Berührung aktualisiert das Erleben der Ränder des Körpers. Diese Ränder, die eine Übersetzung der erogenen Zonen Freuds darstellen, öffnen den Körper als

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Orte der Berührung zum zum anderen hin, gleichzeitig stellen sie als Begrenzung ein Inneres her. Dieser Körper entsteht aber gerade in der Berührung durch den nicht vereinnahmenden Kontakt zum anderen im »Irreduziblen seiner Präsenz« (ebd. 246). Eine Subjektivität, die ohne besitzergreifende Allmachtsphantasie auskommt, ist auf den Körper zentriert, der sich aus den Rändern ergibt, an denen Genießen wie Leiden vom anderen kommen. Diese Subjektivität denkt Irigaray in neuen Metaphern: Eine Art Haus, das mir Schutz bietet, ohne mich einzuschließen, das mich vom anderen löst und mich mit ihm verbindet wie mit jemand, der mir hilft, dieses Haus zu bauen und zu bewohnen. Mich aus einer tödlichen Fusion befreit und mich vereint, weil ich den erkenne, der fähig ist, den Raum zu schaffen. Meine Lust ist dabei gewissermaßen der Stoff, einer der Stoffe. (Ebd. 249f.) Mit der Metapher des Hauses wird das, was Lacan als »Ego« eines imaginären Körperbildes bezeichnen würde, zu einem leeren Ort, der durch seine Begrenzungen definiert ist. Diese Begrenzungen resultieren aus der Erfahrung der Berührung, die nicht vereinnahmt, sondern aktive Antwort erwartet. Der andere, der nicht in Diskurse, Phantasmen oder Träume transformierbar ist, der andere, den ich unmöglich durch einen anderen, durch irgend etwas, irgendeinen Gott ersetzen kann – unersetzlich durch dieses Berühren von ihm, den mein Körper in Erinnerung bewahrt. (Ebd. 252.) Der Körper als Haus, das aus dem Genießen erbaut ist, trägt somit die Spuren des anderen, der an seiner Erbauung beteiligt war. In gewisser Weise ist der Körper als Begrenzung eines Innenraums eine Variante des Spiegelbilds, das eine den Diskurs des Subjekts zentrierende Wirkung hat. Auch der Eigenname hat eine ähnliche Funktion:35 Den Eigennamen nennt Goethe »ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.« (Goethe in »Dichtung und Wahrheit«, zitiert in: Hahn 1991: 8). Spiegelbild und Eigenname zentrieren die fragmentierten Wahrnehmungen und geben den Ort des Sprechens an, signifizieren das Subjekt, das sich in ihm, hinter

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Zum Eigennamen als Variante des Spiegelbilds auch Widmer 2014.

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oder unter ihm verbirgt.36 Goethes Metapher des Eigennamen als Haut geht jedoch schon etwas weiter als das Spiegelbild, das in seiner Virtualität letztlich unverletzlich bleibt: Jedes Schaben an der Haut trifft das Subjekt, sie ist so angewachsen, das es keine Möglichkeit der Distanzierung und damit der allmächtigen Unverletzlichkeit gibt. Der Körper Irigarays radikalisiert diese Metapher Goethes: In Irigarays Verständnis ist der Körper nicht mit einer Phantasie einer vom anderen ablösbaren Vollkommenheit verbunden. Sie betrachtet ihn vielmehr als etwas, das die Begegnungen mit dem anderen erinnert: Der Körper als Haus im Sinne Irigarays verleugnet nicht seine Bezogenheit. Er ist keine a-historische einmalige Setzung wie die ödipale Identifizierung, keine allmachtsphantastische Idealisierung wie das Spiegelbild des Spiegelstadiums, sondern ist ein lebendiges Gedächtnis, eine sich permanent weiter entwickelnde Form, die sich nur ergeben kann, wo sie einem anderen begegnet und genießend Grenzen zieht. Dieser Körper im Sinne Irigarays fungiert als Verknüpfung von Symbolischem, Imaginärem und Realen: In ihm verbindet sich die zentrierenden Funktion des Imaginären mit der Erfahrung des symbolischen Anderen und dem Genießen. Das Fehlen dieses Körpers ist es, der bei Joyce die Ersatzbildung des Sinthoms notwendig macht: Joyce identifiziert sich nicht mit seinem Körper, er ist ein Fremdkörper und bleibt sowohl unverbunden mit seiner symbolischen Identifizierung, dem Ort seines Sprechens, als auch mit seinem Leiden und Genießen. Ähnlich wie der von Theweleit beschriebene faschistische »Körperpanzer«, der ein Hilfsich herstellt, indem er permanent das Weibliche zurückweist (vgl. Theweleit 1980), ist Joyces Sinthom eine postödipale Abwehr gegen das Weibliche, das als bedrohlich erfahren wurde. Irigarays »Körper-Haus« setzt dieser Subjektivität, die zwar nicht mehr ödipal, mithilfe einer väterlichen Identifizierung funktioniert, jedoch dennoch das Weibliche und die Bezogenheit leugnet, ein utopisches Bild einer Subjektivität entgegen, die nicht nur die andere/den anderen in seiner Fremdheit aushält, sondern sich selbst in Bezogenheit denkt. Eine neue Subjektivität Mit Irigarays Begriff der Berührung lässt sich eine Subjektivität denken, die weder ödipal noch postödipal funktioniert. Denn mit der Berührung ist der Muttermord nicht notwendig, um die Freiheit des Subjekts, seine Loslösung vom Anspruch des Anderen, zu denken. Die Metapher eines Körpers als Haus, das einen Innenraum

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Die Bedeutung des Eigennamen als den Diskurs zentrierende Instanz zeigt Barbara Hahn, wenn sie die Paradoxie weiblicher Eigennamen, die stets »fremde Namen« sind, mit der spezifischen Autorschaft von Frauen und dem weiblichen Schreiben in Zusammenhang bringt (vgl. Hahn 1991). Weiblichkeit zeichnet sich also durch eine nur über Umwege mögliche Identifizierung mit einem Eigennamen aus, weibliches Sprechen kann sich nicht auf einen fixierten Ort verlassen.

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hat, macht die Freiheit denkbar als das, was den Innenraum ausfüllt, ihn und den Kontakt zum Außen gestaltet. Die zärtlich-liebevolle Beziehung der Berührung vereinnahmt den Innenraum nicht, den sie produziert. Sie beansprucht keinen Besitz, sondern genießt an der Öffnung auf den anderen hin, der immer unberechenbar bleibt und sowohl Quelle des Genießen als auch des Schmerzes sein kann. Mit der Unberechenbarkeit des anderen bewahrt die Berührung auch die Unberechenbarkeit des Subjekts. Das Ideal der Vollständigkeit hingegen, das im Phallus wie im Sinthom eingelagert ist, versucht eine Identität zu produzieren, die das Genießen von dem Leiden trennt und damit die Gefahr, die vom anderen ausgeht, neutralisiert. Dieses scheinbar vollständige Genießen eliminiert nicht nur das partikulare Genießen des Triebs und kolonisiert den Körper als Ort des Erlebens, sondern kann, indem es Freiheit nur als Triumph über den anderen denken kann, diese allein als Grenzüberschreitung denken. Damit bleibt die Freiheit des Phantasmas immer auf die Grenze bezogen und letztlich nicht vom Anderen separiert. Wenn Lacan an die Stelle des Produktes im Mathem des Diskurses des Analytikers den Herrensignifikant S1 stellt, kann es sich nicht um den alten Herren, den Phallus, handeln, denn Lacan behauptet vom analytischen Diskurs, dass er der einzige sei, der eine echte Veränderung ermöglichen kann: Der analytische Diskurs, nun, er verspricht etwas: Neues einzuführen. (Lacan 1988: 81.) Was bedeutet es jedoch, dass der analytische Diskurs etwas Neues einführt? Ich bin ziemlich sicher, dass Lacan nicht meine feministische Interpretation des Herrensignifikanten im Sinn hatte, die auf ein Ende der Verleugnung von Abhängigkeit und des Weiblichen zielt. Vielmehr geht er von einem neuen Herrensignifikanten aus, der etwas weniger »blöde« ist: Ich bin verdammt kein Progressist, da das, was ich Ihnen erkläre, ist, daß man sich im Kreis dreht. Man dreht sich zwar im Kreis, aber man wechselt die Stufe. Wenn der Schritt dessen getan sein wird, was es tatsächlich mit der Inzidenz eines analytischen Diskurses auf sich haben kann, wird ein neuer Kreis beginnen können, der zweifellos nicht so, wie wir vielleicht vermuten, den ganzen Apparat zum Verschwinden bringt, auf den wir uns in dieser Demonstration gründen, der aber, nach einer Drehung, vielleicht wirklich eine Entriegelung, eine Umstellung durchsetzt. Der Herrensignifikant wird dann vielleicht ein bißchen weniger blöde sein. Seien sie sicher, daß er, wenn er ein bißchen weniger blöde ist, ein bißchen unvermögender [impuissant] sein wird. Das wird, absolut gesprochen, kein Fortschritt sein. Es wird bewirken, daß das, was Sie getan haben werden, einen Sinn haben wird, und um Ihnen zu sagen, woher das rührt, der Sinn, nun, werden Sie erwarten, daß ich ein bißchen weitergekommen bin in meinem Diskurs. (XVII: 177.)

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Am Ende der Analyse steht ein neuer Herrensignifikant, der dann Agent eines neuen Herrendiskurs sein wird. Dass dieser neue Herrensignifikant etwas weniger blöde ist, wäre seiner Konfrontation damit geschuldet, dass es das phantasmatische Objekt nicht gibt. Dass Lacan diese Abnahme der Blödheit mit dem Unvermögen in Verbindung bringt, ließe sich so deuten, dass ein Begehren, das aus der Analyse entsteht, weniger von der Kontrollierbarkeit des Genießens ausgeht: Das Unvermögen, das im Diskurs des Herren zwischen Objekt a und dem Subjekt besteht (vgl. Mathem des Diskurses des Herren), ist deutlicher geworden; das Subjekt kann besser akzeptieren, dass das, was vom anderen kommt, nicht vollständig in seiner Hand liegt. Lacans Formulierung an dieser Stelle legt nahe, dass es nur »weniger blöde« Signifikanten gibt und keine Signifikanten ohne Blödheit. Blöde ist der Herrensignifikant, wo er an der Allmachtsphantasie eines Genießens ohne anderen festhält, wo er an seine eigene absolute Existenz glaubt. Blöde ist also vor allem der Phallus. Jedoch ist ein anderer Signifikant zumindest denkbar, ein Signifikant, der sich herstellt durch die Öffnungen zum anderen hin, eine Oberfläche, die dem Hypokeimenon Hülle ist. Wenn man den Diskurs des Analytikers als eine Beziehung zum anderen interpretiert, die sich auf den Trieb stützt, auf eine Berührung, die sich die Subjektivität des anderen nicht unterwirft, lässt sich der Herrensignifikant, der im Mathem am Ort der Produktion auftaucht, als dieser Ort begreifen, der einen Innenraum ausfüllt, der durch die Grenzen zum Genießen des anderen definiert ist. Als solcher verknüpft er Symbolisches, Imaginäres und Reales: Er zentriert das Sprechen des Subjekts, ermöglicht es, »ich« zu sagen, und ist Subjekt von Leiden und Genießen. Wenn der Analysand wegen einer Krise im Genießen in die Analyse kommt, lässt sich das vor dem Hintergrund dieser Deutung des analytischen Diskurses als eine fehlende Identifizierung mit dem Körper als Träger von Leiden und Genießen interpretieren. Der Analysand ist $ als das Hypokeimenon, das sich hinter dem Signifikanten verbirgt, Versprechen auf ein Subjekt, das nicht nur ungeschlechtlich, sondern körperlos, unidentifiziert mit seinen Empfindungen, existiert. Das Ziel der Analyse läge dann darin, dem Analysanden zu ermöglichen, seinen Körper, seine Erfahrung, seine Geschichte wieder zu bewohnen. Denn nur dieser Körper mit seinen Öffnungen kann dem anderen begegnen, nur die Öffnungen, die sich auch zum Leiden öffnen, machen dem Genießen Raum. Die Analytikerin müsste für diese Unternehmung eine Beziehungspartnerin sein, die Grenzen vorsichtig erkundet und erfahrbar macht. Dazu müsste sie bereit sein, auch sich aufs Spiel zu setzen und ihre Grenzen anzubieten. Den (neuen) Herrensignifikanten kann jedoch nicht die Analytikerin hervorbringen, denn er ist der Akt der Freiheit, in dem der Analysand seine Freiheit wählt. Mit dem Signifikanten, den der analytische Diskurs hervorbringt, lässt sich eine Gründung eines Diskurses denken, der weder wie der Phallus auf die abwesen-

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de Ursache verweist, noch wie das Sinthom permanent aus dem Wissen begründet werden muss. Weder transzendental noch immanent ist dieser Herrensignifikant ein Ergebnis der Berührung von Körper und Anderem. Lacan lässt hier also eine radikal subjektive, auf Erfahrung bezogene Art der Gründung aufscheinen. Dieser Signifikant wäre Ausgangspunkt des Begehrens, auf das die Lacan’sche Ethik zielt und die ich im zweiten Kapitel beschrieben habe: Ein Begehren, das akzeptiert, dass vom anderen Genießen und Leiden kommt, und diese Ambivalenz des anderen auf sich nimmt, das sich dem anderen zuwendet, weil es mit seinem eigenen Genießen und Leiden identifiziert ist. Auf dieses utopische Begehren zielt der analytische Diskurs, auch wenn Lacan hier nahelegt, dass auch der analytische Diskurs sich diesem Begehren nur annähern kann. Denn auch der analytische Diskurs ist durch Unmöglichkeit und Unvermögen aufgespannt:

Abb. 17: Unmöglichkeit und Unvermögen im Diskurs des Analytikers (XX: 21)

Unmöglich ist es der Analytikerin, die Bedürfnisse des Analysanden zu befriedigen. Das Objekt a, das Subjekt des Diskurses ist, wird nie den Mangel seines Gegenübers ausfüllen können. Diese Unmöglichkeit steht in Verbindung mit dem fundamentalen Unvermögen, die untere Hälfte des Mathems beschreibt: S1 lässt sich nicht aus S2 ableiten, die Analytikerin kann nicht das produzieren, auf das die Analyse zielt. S2 , der große Andere, kann nicht jenen Akt produzieren, in dem sich das Subjekt herstellt; die Analytikerin kann dem Analysanden diese Geste nicht abnehmen und auch die Mutter hat diesen Moment, in dem sich die Subjektivität des Kindes zeigt, nicht unter Kontrolle. Damit bringt der Diskurs der Analyse als Kehrseite des Diskurses des Herren wieder Distanz zwischen S1 und S1 . S1 wird zu dem vom Anderen ungedeckten Akt, der das Subjekt setzt. Es ist dieser Akt, den die Analyse nicht erreicht, den sie ewig verfehlt, den sie aber als Ideal produziert und schließlich dem Analysanden überlässt: Letztlich nimmt er seinen Signifikanten auf sich und beendet damit die Analyse.

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5.5 Jenseits des Phantasmas Am Anfang war das Wunder, wenn auch das gewöhnlichste Wunder der Welt, an dem jede Maus, jede Katze, eben jedes Säugetier, vorausgesetzt es war weiblich, teilhaben konnte. In mir war auf eine biologisch erklärbare und trotzdem nicht zu begreifende Weise etwas gewachsen, das an einem Tag noch ganz zu mir gehörte, in meinem ungeheuren Bauch, und am anderen Tag ein eigener Mensch war. Darüber zu sprechen war müßig, weil es an jedem Tag weltweit viel zu oft passierte, und das schon seit Tausenden von Jahren. Trotzdem blieb es ein Wunder, jedenfalls für jede, der es widerfuhr. Das erste Mutter-Ich lebt im Zustand des reinen Glücks, das mit jedem Tag vollkommener wird, denn das Objekt seiner Liebe erhebt es mit wachsender Bewusstheit ins Göttliche, zur Quelle allen Glücks. Und wer das unersetzbare Glück eines anderen ist, vergisst die Fragen nach dem Sinn seines Daseins; er, in diesem Fall sie, hat ihn gefunden, wenigstens für zehn, vielleicht elf Jahre… (Monika Maron: Zwischenspiel. 2015: 19f.) Monika Maron lässt die Protagonistin ihres Romans »Zwischenspiel« über das Glück der Mutterschaft nachdenken, das sie als ein Wunder erlebt: Als Mutter macht Ruth die für sie wundersame Erfahrung, dass im und aus ihrem Körper ein neuer Mensch entsteht. Dass dieser neue Mensch sie als vollkommen abhängiges Wesen immer mehr zur göttlichen Anderen macht, steigert die Begeisterung über das Wunder noch. Das Kind wird so – ohne dass Ruth das mit ihm vorhatte – zum Sinnstifter, das sie selbst von der Sinnfrage entlastet. Dass die Protagonistin also ihren Sinn im Kind sieht und zum Anker ihrer Existenz macht, ist eine ungeplante Folge des Umstands, dass Frauen Kinder gebären, dass Kinder existenziell abhängig sind und deshalb die Person, von der sie abhängen, idealisieren und zur Allmachtsphantasie verführen. Zusammenfassung: Die Ambivalenz der Mutterliebe Mit dem im zweiten Kapitel ausgearbeiteten Lacan’schen Begriff der Liebe habe ich die Liebe zum Kind im dritten Kapitel als ein postödipales Phänomen beschrieben und mit der Entstehung der Pädagogik und ihrem spezifischen Blick auf Kindheit in Verbindung gebracht. Die Liebe zum Kind habe ich also gerade nicht auf Geschlecht, auf eine spezifisch weibliche Position oder eine weibliche Art des Begehrens, bezogen, sondern auf eine postödipale Leugnung von Abhängigkeit. Diese Leugnung der Abhängigkeit steht jedoch, wie ich im vierten Kapitel gezeigt habe, in der psychoanalytischen Theorie in Zusammenhang mit der Sexuierung. Es stellte sich also zum Ende des letzten Kapitels die Frage, wie Geschlecht und die Liebe zum Kind verschränkt sind. Die Mutterliebe erweist sich als Knotenpunkt dieser Verbindung, weshalb ich sie in diesem Kapitel ins Zentrum gestellt habe.

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Zu Beginn des Kapitels habe ich Mutterliebe als ein feministisches Problem beschrieben: Sie wird in der feministischen Auseinandersetzung einerseits mit dem Patriarchat in Verbindung gebracht, als seine Folge und Voraussetzung in den Blick genommen, andererseits utopisch aufgeladen und als Beziehungsform beschrieben, die jenseits patriarchaler Beziehungsnormen steht. In dieser Ambivalenz wird sie auch von Lacan in den Blick genommen: Sie ist zugleich Voraussetzung der Entstehung des phallischen Phantasmas, zugleich ist sie mit dem rätselhaften Genießen »jenseits des Phallus« verbunden, das Lacan dem Weiblichen unterstellt. Um die theoretische Ambivalenz zu verstehen, die die Mutterliebe auszeichnet, habe ich die Entstehung des Subjekts in Hinblick auf die Funktion der Eltern untersucht. Dabei habe ich herausgearbeitet, dass sich der Vater vor allem durch seine Abwesenheit auszeichnet. Als abwesendem kommt ihm die Aufgabe zu, die Beziehung zwischen Mutter und Kind zu trennen, wenn die Mutter das Kind für ihr Phantasma vereinnahmt. Jedoch ist die Mutter für das Kind nicht nur vereinnahmende Bedrohung, sondern antwortet auf die existenzielle Not des Kindes, befriedigt seine Bedürfnisse, ist als Ursache von Lust und Unlust an der Entstehung des Triebes beteiligt. Die väterliche Intervention streicht die Mutter als Voraussetzung des Subjekts aus und simuliert einen scheinbar leeren Gründungsakt, der ohne anderen auskommt. Deshalb habe ich gefragt, ob ein mütterliches Verhältnis zu dem Kind denkbar ist, das die Intervention des Vaters nicht benötigt. Dazu habe ich untersucht, wie Lacan die analytische Beziehung versteht, denn diese zielt auf eine Subjektivität, die sich vom Anderen löst, um ein Verhältnis zum anderen haben zu können, kommt jedoch ohne Dritten aus. Den Diskurs des Analytikers habe ich interpretiert als ein Verhältnis zwischen dem Triebgenießen und einem angewiesenen Gegenüber. Der Analytiker, der der Mutter in der Frustration entspricht und strukturell eine weibliche Figur ist, ist für sein Gegenüber, das ein Subjekt zu sein/werden verspricht, Ort der Zeichen, jedoch der Zeichen, die sich nicht zu einer eindeutigen Ordnung fügen. Die Analytikerin ist bei Lacan definiert als das Subjekt, dem Wissen unterstellt wird, ein Wissen, das das Subjekt, den Analysanden, befrieden soll. Genauso wird der Mutter, die zunächst strukturell den selben Platz wie die Analytikerin einnimmt, vom abhängigen Kind unterstellt, all seine Bedürfnisse befriedigen zu können. Wenn die Analytikerin jedoch die Position des Objekt a einnimmt, so deshalb, weil sie diese abschließende Befriedigung nicht geben kann und will. Das Objekt a ist die Leerstelle im Genießen des Anderen, die das Subjekt mit der Frage allein lässt: Er/sie will etwas von mir, aber was genau? Die Analytikerin genießt (wie die Mutter) den Kontakt zu ihrem Gegenüber, aber nicht nur ihn und nie vollständig: Die Analytikerin hat andere Analysandinnen und Analysanden und ein Leben jenseits der Praxis, die Mutter andere Verpflichtungen und Vergnügungen, so dass das abhängige Gegenüber nicht von deren Genießen determiniert ist. Das spezifische Genießen im Diskurses der Analytikerin zeichnet sich durch seine Ziellosigkeit und

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Unabgeschlossenheit aus: Es ist nicht auf ein Ideal angewiesen, es hat keine Vorstellung von Zukunft, es erwartet nichts vom Gegenüber, sondern schwelgt in der Gegenwart des Triebs, der die Berührung sucht, die gerade dort geschehen kann, wo etwas fehlt. Mit Irigarays Begriff der Berührung habe ich schließlich versucht, eine Subjektivität zu denken, die aus diesem Verhältnis hervorgeht. Dabei habe ich gezeigt, dass der Trieb einen Körper als Innenraum entstehen lässt, der durch seine Ränder zum anderen hin begrenzt ist. In diesem Innenraum kann schließlich der Herrensignifikanten S1 entstehen, der als Akt der Freiheit das Subjekt begründet und Symbolisches, Imaginäres und Reales neu aufeinander bezieht. Ausgangspunkt des analytischen Diskurses ist eine Asymmetrie: Das Subjekt kommt in die Analyse, weil es Hilfe sucht und diese vom Wissen der Analytikerin erwartet. Die Analytikerin wird zum Subjekt, dem Wissen unterstellt wird – Wissen, das Macht über das Subjekt hat. Statt nun aber aus dieser Asymmetrie eine Abhängigkeit zu machen, in der der eine Part das Phantasma des anderen stützt und umgekehrt, weist die Analytikerin jede Komplementarität zurück. Was die Analytikerin dem Analysanden gibt, hat nicht den Anspruch, diesen vollständig zu befriedigen oder seine Fragen restlos zu beantworten. Wesentlich für die Gaben der Analytikerin ist, dass diese ihre Unvollständigkeit nicht verhehlen. So kann die Analytikerin auf eine Bedürftigkeit ihres Gegenübers reagieren, ohne sich als Gebende allmächtig zu machen. Ihre Gaben vereinnahmen nicht, sondern fordern zur Freiheit auf, eine eigene, neue Ursache zu setzen, indem sie auf die eigene Freiheit und Unabhängigkeit besteht. Der Diskurs der Analytikerin führt also Neues ein. Damit unterscheidet sich der analytische Diskurs deutlich von dem Diskurs der Universität, den ich im dritten Kapitel als Beschreibung gegenwärtiger generationaler Beziehungen vorgeschlagen und im zweiten Kapitel als eine Struktur interpretiert habe, die eine Asymmetrie des Gebens beinhaltet: Im Diskurs der Universität, in der Liebe, die sich aus dem auf den Phallus bezogenen Begehren ableitet, unterwirft sich der Liebende seinem Gegenüber, opfert sich auf und gibt ihm mehr als alles, was er hat: Er opfert sich auf, überschreitet seine Grenzen und zeigt seine Liebe gerade in seinen schmerzhaften Opfern. Der oder die Geliebte wird dabei für den Liebenden einzig relevante Instanz, er oder sie wird idealisiert und zu der Figur, die das Universum des Liebenden absichert. Zugleich wird der oder die Geliebte jedoch von den Liebesgaben des Liebenden abhängig gedacht. Gerade das Selbstopfer des Liebenden installiert das Gegenüber als diese doppelköpfige Figur: Dem geliebten Objekt wird ein absolutes Genießen unterstellt, ein Genießen, das jedoch des Opfers des Subjekts bedarf. Die Liebe des Diskurses der Universität verabsolutiert die Abhängigkeit des Gegenübers, dem sie zwar das absolute Genießen zugesteht, es jedoch von dem eigenen Opfer abhängig macht. Der Liebende braucht die Abhängigkeit seines Gegenübers, um seine leidenschaftliche Unterwerfung zu rechtfertigen, zugleich bringt seine Unterwerfung diese Abhängigkeit erst hervor.

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Sowohl die durch den Diskurs der Universität beschriebene Liebe als auch die Liebe des Diskurses der Analytikerin lässt sich durch den Lacan’schen Aphorismus beschreiben, dass Liebe bedeutet, zu geben, was man nicht hat (vgl. VIII: 52). Jedoch zeigt sich an dieser Formulierung der entscheidende Unterschied der beiden Verhältnisse zu ihrem Gegenüber: Der Liebende des universitären Diskurses opfert zugunsten seines Gegenübers sein vermeintlich ehemals vollkommenes Genießen, also ein Genießen, das er nie hatte, um es im Gegenüber herzustellen. Im Fall des Diskurses der Analytikerin gibt die Analytikerin, wenn sie gibt, was sie nicht hat, ihren Mangel, ihre Unvollständigkeit: Sie stellt dem Analysanden ihre Unvollständigkeit, ihr Nicht-Haben zur Verfügung – nicht damit dieser die Unvollständigkeit schließt, sondern damit er sich an dieser Unvollständigkeit in seiner eigenen Unvollständigkeit erfahren kann. Bezieht man diese Unterscheidung auf ein generationales oder pädagogisches Verhältnis, so gibt im ersten Fall der liebende Pädagoge mit seinen pädagogischen Interventionen, die auf die erfüllte Zukunft seines Zöglings zielen, etwas, das er nicht hat: Indem er dem Gegenüber ein von ihm gelöstes Genießen abspricht, indem er das Gegenüber abhängig von sich selbst denkt, gibt er die Letztbegründung, über die er nie verfügen konnte, doch. Der Pädagoge gibt in seinem Selbstopfer also gerade das, was er vorgab, nicht zu besitzen. Obwohl die Pädagogik davon ausgeht, dass letzte Gründe, die tradierbar wären, nicht zur Verfügung stehen, dass also jede Generation aufs Neue temporäre und kontingente Gründungen stiften und für diese gerade stehen muss, gibt sie, wenn sie ihr Gegenüber idealisiert und dieses Ideal durch ihr Selbstopfer herstellt, schließlich doch einen letzten Grund weiter: nämlich den Imperativ des Genießens, der das Selbstopfer des Pädagogen rechtfertigen muss. Mit dem Diskurs der Analytikerin ist jedoch ein anderes generationales Verhältnis denkbar: Auch dieses würde sich durch eine Wissensdifferenz auszeichnen, auch hier würde die ältere Generation das Wissen und die Ressourcen zur Verfügung stellen, die sie selbst bereits erworben hat, jedoch würde sie ihr Wissen als eine Gabe betrachten, die weder alle Bedürfnisse der nächsten Generation zu befriedigen vermag, noch in sich vollständig ist. Weder würde die ältere Generation sich aufopfern, noch die Abhängigkeit der jüngeren ausbeuten. Im Zentrum dieses Generationenverhältnis stünde die Begegnung, Berührung, die für beide Seiten Genießen bedeuten würde. Darüber hinaus ist mit dem Diskurs der Analytikerin eine Subjektwerdung jenseits einer (ödipalen) Triangulation denkbar. Die psychoanalytische Erzählung von der Unumgänglichkeit eines Vater-Mutter-Kind-Settings und der Notwendigkeit eines intervenierenden Dritten ist damit widerlegt. Der analytische Diskurs zeigt, dass eine asymmetrische und dyadische Beziehung denkbar ist, die sich für beide Parts öffnet und die Freiheit beider zulässt.

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Imaginäre Versuchungen Lacans Beschreibung der Frustration legt nahe, dass es zunächst eine Beziehung zwischen Mutter und Kind gibt, die dem Diskurs der Analytikerin entspricht. Für Ruth, die Protagonistin im eingangs zitierten »Zwischenspiel«, verändert sich das Genießen der Mutterschaft in ihrem Verlauf: Zu Beginn ist sie fasziniert von dem Wunder, dass ihr Körper einen anderen Menschen hervorgebracht hat. Ruths Faszination lässt sich interpretieren als das Genießen, das entsteht, wenn der andere auftaucht und eine Grenze zum anderen hin entsteht, wo bisher Ungeschiedenes war. Die Grenze zum anderen hin ist Grundlage des Genießens des Triebes: Zwischen Mutter und Kind zirkulieren Liebeszeichen, die sich jedoch noch nicht einem vereindeutigenden Signifikanten unterworfen haben, in der sich immer wieder neu eine Öffnung zum anderen hin ergibt. In der Beschreibung Ruths ändert sich diese Beziehung jedoch allmählich dadurch, dass die Mutter vom Kind ins Göttliche gehoben wird und dadurch die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz »vergisst«. Diese Veränderung lässt sich als das Eindringen des Phallus in die der analytischen Beziehung entsprechenden Verbindung interpretieren: Die Sinnfrage ist beantwortet. In Lacans Beschreibung taucht der Phallus zwischen Mutter und Kind auf als phantasmatisches Drittes, das scheinbar die Dyade öffnet, jedoch bei genauerer Betrachtung eine Schließung darstellt, da es das rätselhafte Begehren der Mutter erklärt und vereindeutigt. Zum Schluss des Kapitels ist deshalb zu fragen, wie der Phallus plötzlich in der auf dem Trieb basierenden Beziehung auftaucht, woher er kommt und was seine Invasion ermöglicht. Lacan behauptet, dass der imaginäre Phallus bereits in der Frustration auftaucht als das, worauf sich das mütterliche Begehren eigentlich richtet. Damit entspräche auch die Beziehung zwischen Mutter und Kind in der Frustration bereits nicht mehr dem Diskurs der Analytikerin. Jedoch ist unklar, ob sich der imaginäre Phallus tatsächlich aus dem mütterlichen Begehren ableitet, oder ob er ein kindliches Phantasma und eine Abwehr der Rätselhaftigkeit des Triebes ist, also nicht von Seiten der Mutter in die Beziehung gebracht wird, sondern von der des Kindes. In Ruths Beschreibung der Verwandlung ihrer Beziehung zu ihrem Kind ist sie selbst die reaktive: Das Kind macht sie erst zum Göttlichen, zur Quelle allen Glücks und Ruth lässt sich davon verführen, verspürt weniger die Notwendigkeit selbst für den Sinn ihrer Existenz einzustehen und lässt das Kind zu ihrem Sinnstifter werden. Auch Lacan lässt die Deutung zu, dass die Mutter nur auf ein Verführungsangebot des Kindes reagiert. In »Die Bedeutung des Phallus« betont Lacan, dass die Entdeckung des fehlenden Phallus bei der Mutter vom Kind problematisch erlebt wird und so im Zentrum der Symptombildung steht (vgl. Sch II: 193). Den mütterliche Phallus betrachtet er also als kindliche Phantasie, der aus dessen Abhängigkeit resultiert. Denn diese geht mit dem Wunsch nach der Allmacht der Mutter einher: Ihr wird unterstellt, alle Bedürfnisse befriedigen zu können. Dieser Wunsch

5. Mutterliebe und die Zärtlichkeit der Analytikerin

nach einer Allmacht der Mutter gerät in Konflikt mit dem Wunsch, von ihr geliebt zu werden: Wenn sie allmächtig ist, wenn sie schon alles hat und alles haben kann, wozu braucht sie mich dann? In die Abhängigkeitsbeziehung des Kindes zur Mutter ist also bereits ein Konflikt eingeschrieben, den das Kind zu lösen versucht, indem es sein eigenes Reales opfert: Indem es das zu sein versucht, was die Mutter begehrt, die doch als Allmächtige nicht begehren kann, versucht es die Allmacht der Mutter zu retten. Lacan beschreibt die kindliche Identifizierung mit dem Phallus der Mutter als Verführungsversuch, als Versuch, genau zu erkennen, was der Mutter fehlt und diese Lücke auszufüllen. So macht sich das Kind zum einen unentbehrlich und sichert sich die Liebe der Mutter, einen Platz im Glanz ihrer Allmacht, zum anderen bleibt die Mutter unkastriert und weiterhin allmächtig. Das Kind interpretiert das mütterliche Verhältnis zu ihm also als Ambivalenz von imaginärer Vollständigkeit und deren Unmöglichkeit. Mit seinem Einsatz »pervertiert« das Kind diese Beziehung: Es verleugnet die Unmöglichkeit, indem es sein eigenes Reales opfert, um sie zu überwinden. Unwahrscheinlich ist jedoch, dass jedes Kind den Phallus aufs Neue erfindet. Die Idee einer Vollständigkeit, das Phantasma gänzlicher Kontrolle, ist Bestandteil der Welt, die das Kind mit der Sprache, vom Anderen, der Mutter, annimmt. Jedoch siedelt sich die Frustration in der Zeit der Sprachlosigkeit des Kindes an – noch vor seinen sprachlichen Äußerungen, vor dem Spiegelstadium und vor der Behauptung eines »Ichs«. Diese Sprachlosigkeit des Kindes ist es vermutlich, die die Mutter in Kontakt mit der lalangue kommen lässt. Nur ein Kind, dessen Welt noch ohne Herrensignifikanten auskommt, wäre folglich ein Beziehungspartner für ein Genießen jenseits des Phallus, ein Gegenüber für ein kopfloses Triebgenießen. Deshalb taucht meines Erachtens nach in Lacans Tabelle zum Kastrationskomplex der Phallus erst in der Privation auf – in der Privation, in der aus der nährenden Mutter das gefährliche Krokodil wird. In der Privation ist der Phallus ein symbolischer, der möglicherweise nachträglich die Frustration vereindeutigt und ihre Ambivalenz auflöst. Als symbolischer ist der Phallus keine Erfindung des Kindes, sondern Bestandteil der sprachlichen Welt, die ihm gegenübertritt; als Phänomen des Symbolischen »kolonisiert« der Phallus das Reale; er führt den Mangel in das Reale ein, das zunächst gar keinen Mangel haben kann, da es unterschiedslos voll ist. Dieser symbolische Phallus, Knotenpunkt von Genießen und Sprache, ist Bestandteil des mütterlichen Diskurses. Solange jedoch das Kind noch kein Sprachwesen ist, so lange es sich noch Ich-los in der vieldeutigen mütterlichen »Sprachsuppe« bewegen kann, kann die Mutter in der Beziehung zu ihm das realisieren, was auch bei ihr selbst über eine phallische Logik hinausweist. Angesichts des Ichlosen Kindes kann sie an einem Triebgenießen festhalten, weil noch nichts in der Beziehung phantasmatisch verführt: Das noch sprachlose Kind kann noch nicht

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mit den Verführungsversuchen auf das mütterliche Phantasma reagieren, die es wenig später unternimmt. Je älter das Kind jedoch wird, je mehr es zum Sprachwesen wird, das seinem Sprechen in einer zentrierenden Instanz, einem Ich, Halt geben muss, wird es auf die Zentrierungsangebote des mütterlichen Phantasmas reagieren. Das ödipale Verbot ist solch eine Zentrierung, es produziert eine verantwortliche Instanz, der ein eigener Wille zugeschrieben, der Handeln zugerechnet werden kann. Damit tritt das Verbot an die Stelle von S(Ⱥ), den ich im vierten Kapitel als Signifikant der Trennung des Subjekts vom Anderen beschrieben habe und auf den der Trieb bezogen ist. Der Trieb konturiert einen Körper, einen begrenzten Raum, indem er Zonen der Berührung von Subjekt und Anderem herstellt. Dieser begrenzte Raum muss jedoch »bewohnt« werden und in der Geste, in der sich das Subjekt setzt, ausgefüllt werden. Das Verbot, das das Subjekt als zentrierende Instanz des Sprechens herstellt, kommt dieser Aufgabe nach, es nimmt den Innenraum in Besitz und organisiert ihn und seine Beziehung zum Außen. Es begründet das Begehren und das Verhältnis zum anderen. Beim väterlichen Verbot, beim Phallus, handelt es sich jedoch um eine spezifische Form, Subjektivität zu organisieren. Denn das väterliche Verbot streicht die Subjektivität der Mutter aus, indem es sich an die Stelle der mütterlichen Unfähigkeit und ihres Unwillen setzt, alle Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Das väterliche Verbot kolonisiert nicht nur das Reale, es kolonisiert die Frustration, die Erfahrung des Triebes, es lässt den imaginären Phallus als das erscheinen, was die Mutter eigentlich begehrt, den Phallusträger somit als den erscheinen, der alles von ihr haben kann. Die Grenze, die der Trieb zieht, indem er einen Mangel entstehen lässt, wird so in eine Richtung ignoriert. Das Verbot richtet eine Grenze zum Anderen auf, um sie zugleich hinfällig werden zu lassen: Der mütterliche Körper wird durch das Verbot zur verfügbaren Ressource, die mütterlichen Gaben zu Objekten ohne Botschaft. Die Mutter wird so zum Opfer des Phantasmas, das sie selbst weitergibt: Sie überbringt das Verbot in ihrem ambivalenten Begehren, das das Kind zum willenlosen Objekt machen will und zugleich davor zurückschreckt. Auch das postödipale gesellschaftliche Phantasma überbringt die Mutter dem Kind. Während das ödipale Phantasma das Genießen dem (toten) Vater unterstellt, verortet das postödipale Phantasma das Genießen bei dem Kind. In beiden Fällen identifiziert sich die Mutter nicht mit ihrem Genießen, sondern vermutet das Genießen anderswo. Wenn die postödipale Mutter also pädagogisch auf die Handlungen ihres Kindes reagiert, so begründet sie ihre Interventionen mit dem Wohl des Kindes selbst: Weil es deinem Wohl dient, weil es das Genießen optimiert, fordert sie vom Kind Einsicht in zu bringende Opfer. Das Kind macht sie zum Ichideal, aus dessen Perspektive sie als Idealich gerechtfertigt ist, statt selbst für die Unbegründbarkeit ihrer Existenz einzustehen.

5. Mutterliebe und die Zärtlichkeit der Analytikerin

Jenseits des Phantasmas Es ist vorstellbar, dass sich beide Phantasmen überlagern, dass für das mütterliche Verhältnis zum Kind sowohl das Verbot, als auch der Genieße-Imperativ eine Rolle spielt. Der Diskurs des Herren ist im Diskurs der Universität immer noch mit erhalten. In beiden Fällen übernimmt die Mutter nicht die Verantwortung für die Grenze, die sich in der Berührung des Triebs ergibt. Statt die Grenze als Zone der Berührung für sich zu reklamieren, sich zu identifizieren mit dem Gebilde, das sich aus den Grenzen zu ihrem kindlichen Gegenüber ergibt, die geteilte Erfahrung zu bejahen und den »sinnlosen Signifikanten des Genießens« auf sich zu nehmen, verweist die Mutter auf den Ort, an dem sie das vollständige Genießen vermutet: den Herren als toten Vater oder das Ichideal Kind. Im Vergleich zu Lacans Figur des Heiligen, den er als Metapher für die Analytikerin wählt, wird deutlich, was diese Geste der Identifizierung für die Mutter erschwert. Lacan betont, dass der Heilige nur wirksam ist, wenn er nicht genießt. In meiner Interpretation des Triebes bedeutet diese Formulierung Lacans jedoch nicht, dass kein Genießen im Spiel ist, wenn der Heilige wirksam ist, sondern dass dieses Genießen ohne zentralisierte Instanz auskommt, der dieses Genießen zugerechnet werden kann: Wenn er genießt, wirkt er nicht. Wirksam ist der Heilige, wenn es kein er gibt, wenn er die Kontrolle über das Genießen abgibt. Er ist Ausschuss der Lust, weil das Triebgenießen ein Genießen ohne Subjekt ist, ein Genießen, das das Subjekt gewissermaßen als Abfall hervorbringt. Im obenstehenden Zitat zum Heiligen (vgl. Kapitel 5.4) behauptet Lacan, dass es den Heiligen auszeichne, dass er auch »Pause« mache. Neben seiner Heiligkeit ist er also ein Subjekt, das genießt (und dabei nicht mehr wirksam ist). Dieses Außerhalb hat auch die Analytikerin: Jenseits ihrer analytischen Praxis hat sie ein Leben, in dem sie Liebhaber, Familie, Leidenschaften usw. hat. Durch das analytische Setting ist dieses Außerhalb klar von der analytischen Beziehung getrennt: Die analytische Beziehung beschränkt sich auf einen bestimmten Zeitraum, die analytische Sitzung, auf eine Örtlichkeit, in der Regel die Praxis. Ihre Grenze wird hergestellt durch das, was den Analysanden in die Analyse bringt, sein Leiden, seine Symptome, für die er sich Besserung wünscht. Aus diesem Anliegen leitet sich das Setting ab, die Beziehung bleibt an diesen Rahmen gebunden. Im Gegensatz dazu hat die Mutter, besonders in der Moderne, in der das Kind zum pädagogischen Projekt wird, kaum eine Möglichkeit, der Beziehung zu entgehen: Sie hat wenig »Pause«, wenn sie sich für verantwortlich für das zukünftige Genießen des Kindes hält, wenn in ihren Händen das ganze Schicksal des Kindes, des höchsten Wertes, zu liegen scheint. Wenn von der Mutter also kein Bekenntnis zu ihrem Genießen kommt, wenn sie angesichts des Kindes nicht den leeren Signifikanten ihrer Existenz auf sich nimmt, so möglicherweise auch deshalb, weil ihr der Raum für ein Außen, für eine »Pause«, beschränkt ist.

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Es kann jedoch nicht darum gehen, Mütter allein für die Phantasmen der kommenden Generation verantwortlich zu machen. Zu Recht ist mother blaming, wie es unter anderem in psychoanalytischen Reihen betrieben wurde, kritisiert worden.37 Zum einen kann nicht von jeder Mutter erwartet werden, eine Heilige, eine Ausnahmeerscheinung, zu sein, sie sich alleine von Phantasmen befreit. Zum zweiten sind Mütter nicht alleine mit Kindern befasst. Wenn ich im letzten Kapitel Mütter als die betrachtet habe, die vor allem für Kinder Verantwortung tragen, für sie die Rolle des großen Anderen, des Symbolischen übernehmen, sie mit ihrem eigenen Begehren konfrontieren, so geschah das aus einer psychoanalytischen Tradition heraus, die diese Rolle mit »Mutter« umschrieb. Selbstverständlich sind Kinder heute schon in der frühen Kindheit mit zahlreichen Erwachsenen konfrontiert, die ihre Bedürfnisse befriedigen: So sind Väter heute vermehrt auch in den frühen Jahren an der Sorge um Kinder beteiligt. Hinzu kommen zahlreiche weitere wichtige Personen wie Tagesväter, Kita-Erzieherinnen, Babysitter, Verwandte und Freudinnen; später Lehrerinnen, Sozialpädagogen und Therapeutinnen. Das Phantasma vom absoluten Genießen des Kindes, dem Potential, dem es Opfer zu bringen gilt, wird deshalb auch von ihnen getragen. Um die kommende Generation nicht für das Aufrechterhalten eines Phantasmas vom absoluten Genießens einzuspannen, muss dieses Phantasma als gesellschaftliches aufgegeben werden: Das Phantasma eines durch Optimierung erreichbaren Genießens begründet nicht nur das individuelle Selbstverhältnis postödipaler Subjekte, sondern das gesellschaftliche Band, das Gesellschaft als Totalität herstellt durch das Versprechen und die Aufforderung zum vollkommenen Genießen, aus dem sich ein endloser Exzess von Optimierungsbemühungen ergibt. Da dieses Phantasma nicht nur ein postödipales Subjekt, die einzelne liebende Mutter, den einzelnen Erzieher, ausmacht, sondern mit dem gesellschaftlichen Band der Moderne, seiner Organisation von Wissen, seiner Ökonomie, seiner politischen Struktur, in Zusammenhang steht, ist dies eine größere Aufgabe, die vermutlich nicht allein von den Individuen gelöst werden kann.

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Zur Geschichte des mother blaming Sommerfeld 2006. Gerade die psychoanalytischen Schulen, die die Bedeutung der frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung betonen, tendieren dazu, Mütter alleine für gesellschaftliche Probleme verantwortlich zu machen.

6. Ausblick: Generationalität und Trauer Es muss über die Möglichkeit gesprochen werden, dass die Mutterschaft nicht alle glücklich macht. (Orna Donath, zitiert nach Lemel 2015.)

Dass dem Kind ein Glücksversprechen innewohnt, zeigt sich heute insbesondere im Scheitern dieses Versprechens. Eine Studie von Orna Donath, die die Reue von Müttern zu Tage brachte (vgl. Donath 2015), löste eine mediale Debatte aus und traf anscheinend einen Nerv, der lange nicht berührt worden war: Elternschaft allgemein, Mutterschaft insbesondere ist assoziiert mit Glück. Kinder sind heute zum großen Teil keine ungewollte Folge von heterosexuellem Geschlechtsverkehr mehr, sondern Produkte des Wunsches ihrer Erzeuger. Dieser Wunsch ist befreit von ökonomischen und sozialen Notwendigkeiten, stattdessen ist die Vorstellung, ein Kind aufzuziehen, verbunden mit Sinnhaftigkeit und emotionaler Erfüllung. Diese starke emotionale Aufladung der Beziehung zum Kind, das Versprechen, das mit ihm verbunden ist, zeigt sich in Donaths Studie in dem Problem, das sich für die Betroffenen ergibt, wenn sich dieses Versprechen nicht einlöst. Mütter, die öffentlich ihre Mutterschaft bereuen, tun dies mit dem Gefühl, etwas Skandalöses preiszugeben; wie um dieses Skandalon abzumildern betonen sie in den zahlreichen Interviews der Studie häufig, dass sie ihre Kinder dennoch lieben. Die Liebe zum Kind bekommt so etwas Kompensatorisches: Als »Liebe dennoch« markiert sie ein Spannungsfeld zwischen Täuschung und Enttäuschung, zwischen Befriedigung und ihrer Versagung, zwischen Glücksversprechen und seinem Scheitern: Zwar lässt sich in der mütterlichen Reue über die Entscheidung für ein Kind die Enttäuschung angesichts des Glücksversprechens von Mutterschaft und Familie erkennen, die Liebe jedoch lässt die Betroffenen an dieser Entscheidung festhalten. Die Ambivalenzen in der Beziehung zum Kind zeigen sich besonders in weiblichen Biographien. Denn empirisch sind auch heute noch trotz zunehmender juristischer Gleichberechtigung der Geschlechter, der Pluralisierung von Lebensläufen

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und der Freiheiten bezüglich Karriere- und Familienplanung überwiegend Frauen für Kinder zuständig: Auch heute treten Frauen beruflich häufiger wegen Kindererziehung zurück, sie passen Berufswünsche und -wege an die Vereinbarkeit von Lohn- und Sorgearbeit an. Darüber hinaus sind Frauen auch außerhalb der Familie mit Kindern beschäftigt und im pädagogischen Feld besonders häufig vertreten. Diese besondere Zuständigkeit für Kinder ist jedoch mit zahlreichen Nachteilen verbunden. Im ersten Kapitel habe ich diese Nachteile mit Anna, der Protagonistin von Doris Lessings Roman »Das goldene Notizbuch«, dargestellt. Für Anna bedeutet die Zuständigkeit für ihre Tochter eine Unterwerfung unter ein Regime der Fürsorglichkeit. Sie ist permanent verantwortlich für das Wohlergehen ihrer Tochter und muss sich deren Bedürfnissen und Rhythmen anpassen, während ihr männlicher Geliebter trotz eigener Kinder zumindest scheinbar viel größere Freiheiten hat. Die Zuständigkeit für Kinder bindet Frauen an das Zuhause, hält sie aus der öffentlichen Sphäre fern und lässt sie sich doppelbelastet aufreiben. Annas Bitterkeit über diese Nachteile ist jedoch wie weggeblasen, als sie ins Zimmer ihrer Tochter tritt und ihr Lächeln erblickt: Die Liebe zu ihrer Tochter macht alle Nachteile vergessen. Wenn die Zuständigkeit für Kinder mit der gesellschaftlichen Benachteiligung von Frauen zusammenhängt, liegt es nahe, misstrauisch gegenüber der Liebe zum Kind zu sein: Schließlich versöhnt sie die Frauen mit ihrer Rolle und steht damit höchst wahrscheinlich Emanzipationsbemühungen im Weg. Die feministische Auseinandersetzung mit der Liebe zum Kind ist deshalb voller Ambivalenzen: Als Mutterliebe wurde die Liebe zum Kind problematisiert als normatives Ideal, das Frauen aufgezwungen wird und eine patriarchale Geschlechterordnung plausibilisiert und motiviert. Zugleich ist die mütterliche Liebe jedoch auch utopisch aufgeladen und wird als etwas betrachtet, was eine Gegenwelt jenseits einer patriarchalen Entfremdung verspricht. An diese Auseinandersetzung mit der Liebe zu Kindern habe ich mit meiner Arbeit angeknüpft, wobei ich zwei zentrale Verschiebungen vorgenommen habe. Zum ersten habe ich Liebe nicht als Ideal beschrieben, als eine Norm, der sich einzelne Subjekte unterwerfen, sondern vorgeschlagen, mit der Psychoanalyse Lacans Liebe als spezifische Form des Genießens zu beschreiben, die Subjekte gefangen hält und lustvoll an etwas teilnehmen lässt, was ihren vermeintlich »objektiven Interessen« entgegensteht. Liebe ist dann eine Struktur und bezieht sich auf das Sexuelle, das die Psychoanalyse als Grenzregion zwischen Natur, Kultur und Freiheit konzipiert. Zum zweiten habe ich die Liebe zum Kind als ein pädagogisches Phänomen betrachtet. Dabei habe ich die Pädagogik als die Bearbeitung des Paradoxes verstanden, das Subjektivität in der Moderne bedeutet: Das Subjekt ist in der Moderne »grundlos«; als modernes »Möglichkeitswesen« kann es sich nicht auf feste allgemeine Gründe verlassen, zugleich ist es jedoch dazu aufgefordert, sich selbst zu begründen. Im Kind spiegelt sich dieses Möglichkeits-

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wesen, das Versprechen auf Transzendenz des Bestehenden ist. Die Pädagogik, die sich mit diesem Kind beschäftigt und damit das Paradox der Moderne bearbeitet, steht vor der unmöglichen Sisyphos-Aufgabe, zugleich zu öffnen und zu schließen, den unendlichen Möglichkeiten Raum zu lassen und dennoch nicht beliebig zu werden, sondern die eigene Tätigkeit zu begründen. Die Liebe zum Kind habe ich vor diesem Hintergrund als das Genießen vorgeschlagen, das sich aus dieser Sisyphos-Tätigkeit ergibt, als endlose Bearbeitung des pädagogischen Paradoxes, die in sich befriedigend ist und zugleich jedoch stets die endgültige Befriedigung verfehlt. Mit diesem Verständnis der Liebe habe ich sowohl die psychoanalytische Geschlechtertheorie konfrontiert, die die Liebe zum Kind hauptsächlich mit dem weiblichen Penisneid erklärt, als auch die psychoanalytische Beschreibung der Moderne, die danach fragt, wer die ödipale väterliche Autorität beerbt hat. Ich habe also die Liebe zum Kind als Knotenpunkt zwischen Psychoanalyse, Geschlechtertheorie und Pädagogik gewählt. Meine Hauptargumente will ich hier noch einmal zusammenfassen. Der pädagogische Sisyphos und die Liebe Die Pädagogik in der Moderne ist, wie ich im ersten Kapitel gezeigt habe, doppelt unmöglich. Zum einen kann sie das nicht, was sie zu tun behauptet. Sie kann nicht erziehen, also ihre Objekte in ihrem Sinne formen, weil sie auf diese keinen direkten Zugriff hat. Denn Menschen haben eigene Logiken, die von außen nicht verstanden werden können; die Folgen jeder pädagogischen Intervention bleiben deshalb immer unkontrollierbar. Das unfertige und der Erziehung bedürftige Kind ist eine Fiktion, die auf diese Unmöglichkeit der Erziehung antwortet: Es ist wird in der Moderne entdeckt als das, was erzogen werden muss und kann, zugleich zeigt es sich permanent als Folge von Erziehung. Jedoch steht die Fiktion des Kindes mit einer zweiten Unmöglichkeit der Pädagogik in Zusammenhang: Das Kind als Möglichkeitswesen steht in der Moderne für die Transzendenz, für das, was über das Bestehende hinausreicht. Angesichts des Kindes mit seiner offenen Zukunft wird deshalb jede pädagogische Zielstellung infrage gestellt, da nichts im Bestehenden etwas begründen könnte, was über dieses hinausweist. Diese doppelte Unmöglichkeit verspricht wenig Vergnügen für den einzelnen Pädagogen: Nicht nur, dass er niemals sein Ziel erreicht, es ist auch angesichts der kindlichen Unbestimmtheit völlig unklar, welches Ziel legitim wäre. Mit Bernfeld habe ich deshalb den Pädagogen als Sisyphos beschrieben, der sich endlos damit abmüht, einen Felsbrocken auf einen Berg zu rollen, ohne dass er angeben könnte, welchen Sinn der Felsbrocken auf dem Berg hätte. Dass der pädagogische Sisyphos dennoch an seiner Tätigkeit festhält, kann nur durch eine Befriedigung erklärt werden, die eben gerade nicht darin liegt, ein Ziel zu erreichen. Diese Befriedigung habe ich in der Liebe vermutet, die in der Pädagogik lange einen Platz

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hatte als Ideal einer Haltung zum Zögling und beispielsweise als pädagogischer Eros Gegenstand pädagogischer Reflexion war. Im zweiten Kapitel habe ich mich gegen einen idealisierenden Begriff der Liebe gewandt, den ich sowohl in der pädagogischen Anrufung eines pädagogischen Eros als auch in der feministischen Kritik an einer idealisierten Mutterliebe erkannt habe. Dieser Vorstellung von Liebe habe ich mit dem späten Freud und dem an diesen anknüpfenden Lacan ein anderes Bild der Liebe entgegengesetzt. Wie Bernfeld, der das pädagogische »Hohelied der Liebe« prominent kritisierte, geht Lacan von einer Gründung der Liebe im Sexuellen aus. Dabei ist das Sexuelle mit Lacan eingelagert in die Paradoxie der Sprache, die darin besteht, dass Sprache keinen transzendenten Halt hat, jedoch nur mit einem solchen bedeuten kann. Diese Unmöglichkeit der Bedeutung wird durch den Einsatz des Körpers im Sexuellen überbrückt: Der Phallus, mit dem das Subjekt seinen Penis verwechselt, wird von der Psychoanalyse als der transzendentale Signifikant (einer patriarchalen Ordnung) aufgefasst, der die Signifikantenordnung absichert. Zugleich hängt beim späten Lacan das Genießen an diesem Signifikanten: Der Phallus verspricht ein absolutes Genießen, das von der Widerspenstigkeit des anderen gelöst ist, ein kontrollierbares Genießen ohne Leiden auf den Bahnen des Symbolischen. Jedoch bleibt die Behauptung des Phallus uneinholbar: Das phantasmatische Einssein von Subjekt und Signifikant, das der Phallus verspricht, ist unmöglich; es bleibt ein uneinholbarer Rest, den Lacan das Objekt a nennt. Aus dieser Unmöglichkeit resultiert das sexuelle Begehren als endlose metonymische Bewegung, die versucht, die Kluft zwischen Subjekt und Signifikant mithilfe eines Objekts zu überbrücken. Mit dem Diskurs der Universität konnte ich daran anschließend die Liebe als eine Sublimierung dieses Begehrens verstehen. Die fragmentarische Liebestheorie Lacans aus den früheren Seminaren, insbesondere seine Unterscheidung von Begehren und Liebe anhand des Begriffspaars Metonymie und Metapher, habe ich dazu systematisiert und immer wieder mit dem auf das Phantasma bezogene Begehren kontrastiert. So ließ sich zeigen, dass in der Liebe der phallische Signifikant verdrängt ist, der das absolute Genießen verspricht, indem sich das liebende Subjekt an dem Genießen seines Objektes ausrichtet, sich diesem unterwirft und dafür Opfer bringt. Dabei idealisiert das Subjekt sein Gegenüber und macht es zum Objekt a, das ich in Bezug auf die Liebe als die spezifische imaginäre Verkennung analysiert habe, in der sich das Subjekt zu spiegeln versucht. Gerade durch das Leiden des Subjekts simuliert die Liebe die Abhängigkeit des Gegenübers: Dem/der Liebenden erscheint das Genießen des/der Geliebten abhängig von seinem Liebesdienst. So erhält die Liebe die Allmachtsphantasie eines vollständigen Genießens, auch wenn dieses nun dem anderen zugeschrieben wird. Auch wenn die Liebe dem Subjekt die endgültige Befriedigung stets vorenthält, nämlich dass seine Existenz durch den Blick des anderen gerechtfertigt ist, bietet sie eine Befriedigung, die darin liegt, dass sie das Phantasma bestätigt. Mit diesem Begriff der Liebe denkt Lacan

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diese nicht als eine Anhäufung von konkreten Merkmalen, sondern wie das Sexuelle als eine Struktur: Begehren und Liebe sind psychoanalytisch definiert als zwei unterschiedliche Verhältnisse von Signifikant und Genießen, wobei die konkrete Ausgestaltung dieses Verhältnis auf den Bahnen von Metonymie bzw. Metapher völlig individuell geschieht. Sowohl Begehren als auch Liebe sind jedoch doppeldeutig. Neben einer auf den Phallus und seine Allmachtsphantasie bezogene Deutung bietet sich auch jeweils eine Interpretation an, die den Phallus durch den leeren, sinnlosen Signifikanten ersetzt, in dem das Subjekt die partikulare Erfahrung seines Genießens subjektiviert. Ein derartiges Begehren lässt sich als die Grundlage der Lacan’schen Ethik des Begehrens verstehen, die er jeder Ethik entgegensetzt, die sich auf objektivierbare Güter und damit immer auch auf eine im Anderen begründete Ordnung bezieht. Auch eine Liebe, die auf den leeren Signifikanten gründet, lässt sich denken: Diese Liebe entspräche der Badiou’schen Begegnung zweier Andersheiten (vgl. Badiou 2015). Statt den anderen in der Liebe zum Vehikel der eigenen Selbstbehauptung zu machen, macht eine Liebe, die an der Sinnlosigkeit des eigenen Genießens festhält, die Differenz zum anderen sichtbar, hält an ihr fest und macht sie zur Grundlage ihres Genießens. Diese Liebe bleibt mit Lacan zwar möglich, ist jedoch utopisch wie das Begehren jenseits des phallischen Phantasmas, da sie den durch den Phallus gesteckten gesellschaftlichen Rahmen überschreitet. Wenn der pädagogische Sisyphos seine Arbeit aus Liebe verrichtet, stellt sich die Frage, von welchem Herrensignifikanten die Liebe ausgeht, welches Begehren sie zugunsten ihres Gegenübers sublimiert. Im zweiten Kapitel habe ich diese Frage offengelassen. Mit dem Liebesbegriff Lacans lässt sich jedoch die strukturelle Beziehung zwischen Liebe und Pädagogik zeigen, denn Pädagogik bedeutet wie die Liebe, zugunsten des Gegenübers auf die Durchsetzung des eigenen Begehrens zu verzichten. So lässt sich die Pädagogik selbst wie die Liebe mit dem Diskurs der Universität beschreiben. Dieser verdankt seinen Namen dem unmöglichen Beruf des Erziehens, weshalb in das Lacan’sche Diskursmathem die doppelte Unmöglichkeit der Pädagogik eingeschrieben ist.

Abb. 18: Unmöglichkeit und Unvermögen im Diskurs der Universität (XX: 21)

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Das Verhältnis zwischen S2 und a lässt sich interpretieren als das Verhältnis zwischen den Anstrengungen des Pädagogen und dem, auf das seine Anstrengungen zielen. Unmöglich ist es, mit den pädagogischen Bemühungen jemals das Gegenüber in den Griff zu bekommen und es tatsächlich zu erreichen: Die Signifikantenkette der Bemühungen muss sich ewig fortsetzen, weil das Objekt a unerreichbar ist. Im Zusammenhang mit der Liebe habe ich Objekt a als Begehren des Anderen interpretiert, dem der Liebende in seinem Gegenüber begegnet. Durch seine Werbung, seine Bemühungen versucht der Liebende dieses Begehren in den Griff zu bekommen, jedoch bleibt es ihm als Reales unzugänglich. Die Erziehung richtet sich ebenfalls an dieses Reale des Gegenübers. Dieses Reale vermutet Erziehung in der Potentialität des Kindes, auf die Erziehung einwirken will, die sie jedoch nie erwischt. Die untere Ebene, das Unvermögen zwischen dem Subjekt und dem Herrensignifikanten, lässt sich deuten als die Inkongruenz zwischen dem, was den Diskurs als Begehren antreibt, und dem, was der Diskurs, indem er es verfehlt, produziert: Der Liebende, der in seinem Gegenüber die Ursache seines Begehrens sucht, findet im anderen nie sich selbst, weshalb sich seine Suche endlos fortsetzt. Das Produkt des Diskurses, $, und seine Wahrheit, S1 , sind nicht deckungsgleich. So erreicht auch der Pädagoge in seinem Gegenüber, dem konkreten Kind, nie das, was sein Engagement rechtfertigen würde, was seiner pädagogischen Anstrengung Sinn verleihen würde. Der konkrete Zögling, das konkrete Kind, ist immer eine Enttäuschung, weil es nie das Potential verwirklicht, das der Pädagoge in ihm gesehen hat. Gerade in der Enttäuschung liegt jedoch auch die Möglichkeit über die Täuschung, das Phantasma, hinauszukommen: Wo Erwachsene von den Kindern enttäuscht sind, sind sie mit ihren eigenen Phantasmen konfrontiert. Mit Lacan ist ein Verhältnis zur nächsten Generation, das der Struktur des Diskurses der Universität entspricht und ohne Allmachtsphantasie auskommt, zumindest denkbar. Dieses Verhältnis bestünde darin, dass die ältere Generation ihre Erfahrungen weitergibt und auf den Herrensignifikanten besteht, der diese Erfahrungen ordnet und ihnen Gewicht verleiht. Dieser Herrensignifikant wäre dann kein Phallus oder dessen Erbe, sondern der leere Signifikant, der das eigene Genießen der oder des Älteren bezeichnet; er wäre das Bekenntnis zur absoluten Subjektivität. In der Liebe zur nächsten Generation würde die ältere ihren Herrensignifikanten fruchtbar machen, ihn arbeiten lassen. Diese Liebe bestünde in dem Bekenntnis zu dem, was das liebende Subjekt ausmacht. Mit einem Herrensignifikanten, der als sinnloser Signifikant des Genießens verstanden wird, lässt sich ein vom Diskurs der Universität beschriebenes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Pädagoginnen und Schülern, als das freigiebige, sich verschenkende Weitergeben von Erfahrung verstehen – möglicherweise eben an jemanden, der diese Erfahrung nicht will und nicht versteht. Ein derartiges Verhältnis leitet seinen Herrensignifikanten nicht aus dem Gegenüber ab: Es kann sich nur aus dem ei-

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genen Genießen, aus der eigenen Leidenschaft begründen, niemals aber vom anderen her, denn es weiß um seine Begrenztheit, seine Subjektivität. Entsprechend braucht dieses Verhältnis kein spezifisches Gegenüber, kein Kind, das als ungehobenes Potential interpretiert wird, es braucht keinen Unwissenden, sondern kann dem anderen als anderen begegnen. Jedoch kann ein derartiges generationales Verhältnis kaum noch als ein pädagogisches bezeichnet werden, denn die Fiktion eines bildbaren und unbestimmten Kindes ist mit der Pädagogik der Moderne untrennbar verbunden: Pädagogik ist definiert als das, was sich an das unmündige Kind richtet. Wenn aber das Gegenüber zur Ursache des Diskurses gemacht wird, wenn das Kind in seiner Potentialität den pädagogischen Diskurs rechtfertigt, liegt ihm das Phantasma einer Rechtfertigbarkeit und damit aus psychoanalytischer Sicht das Phantasma eines vollständigen Genießens zu Grunde. Diese Art der Pädagogik entspricht der phantasmatischen Liebe, die das Gegenüber zur Ursache des Begehrens macht, das Genießen an das idealisierte Liebesobjekt delegiert und dieses dadurch als vollständig imaginiert. In diesem Fall genießt der Pädagoge das vorweggenommene vollständige Genießen des Kindes, das er nie erreicht. Dabei scheint sich die Pädagogik bzw. der konkrete Pädagoge selbstlos den Bedürfnissen des Kindes zu unterwerfen. Mit dem Diskurs der Universität lässt sich jedoch darauf hinweisen, dass das pädagogische Handeln motiviert ist von dem Ideal eines absoluten Genießens, das jede partikulare Befriedigung übersteigt und das in der Vorstellung der Potentialität des Kindes eingelagert ist. Die pädagogischen Mühen sind also nicht selbstlos, sondern sind Versuche, die Phantasie eines absoluten Genießens zu retten – eine Phantasie, die die Psychoanalyse lange mit der Figur des Vaters verbunden hatte. Ich habe vorgeschlagen das Kind als Erben dieser väterlichen Figur zu betrachten. Liebe zum Kind als Folge des Scheiterns der väterlichen Autorität How dare you. You have stolen my dreams and my childhood with your empty words. (Greta Thunberg auf dem UN-Klima-Gipfel 2019.) Die Moderne mit ihrer exzessiven Wirtschaftsordnung, die sich endlos ausdehnend Natur und die menschliche Arbeitskraft ausbeutet, zeigt sich heute in ihrer Ambivalenz der Kindheit gegenüber. Einerseits kennt erst die Moderne Kindheit als eine Phase, in der Entscheidungsnotwendigkeiten ausgesetzt sind, in der die Betroffenen in ihrer Potentialität verbleiben können, so dass noch jeder Lebensweg offen ist. Diese Kindheit hat sie jedoch zur phantasmatischen Grundlage ihres Exzesses gemacht: Im Phantasma vom unkastrierten Kind konserviert die Moderne die Phantasie vom absoluten Genießen, das die Psychoanalyse einst dem mythischen Urvater unterstellte. Die in die Konstruktion des Kindes eingelagerte Sehnsucht nach dem schrankenlosen Genießen ist Motor des Exzesses einer kapitalistischen Gesellschaft. Deshalb könnte man Greta Thunbergs berühmt gewordene Formel,

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dass die unfähigen politischen Vertreter bzw. die unbezwingbare kapitalistische Ordnung der Moderne ihr die Kindheit stiehlt, umkehren: Es ist die Konstruktion Kindheit, die der Moderne ihre Fähigkeit zu einer politischen Entscheidung gegen die kapitalistische Expansionslogik stiehlt und damit den kommenden Generationen ihre Existenzgrundlage nimmt. Im dritten Kapitel habe ich die Liebe zum Kind als eine Reaktion auf die Sackgasse des ödipalen Begehrens, als eine Folge des Verfalls der väterlichen Funktion analysiert und damit die politische Lesart von Lacans Diskursmathemen um ein wesentliches Element ergänzt. Dazu habe ich mich auf Lacans in Seminar XVII formulierte Diagnose eines grundsätzlichen Wandels in den gesellschaftlichen Strukturen bezogen, die eine auf den Vater gestützte, ödipale Subjektwerdung, wie sie die Psychoanalyse als Normalität annimmt, als Vergangenheit betrachtet. Nach Lacan ist in der Moderne die traditionell-verbietende, ödipale Autorität abgelöst durch ein Regime, das nicht Unterwerfung und Triebverzicht fordert, sondern Individuen in ihrer Freiheit animiert, ihre Interessen zu verfolgen. Genießen ist nicht länger verboten, sondern allen gleichberechtigt in Aussicht gestellt. Paradoxerweise bedeutet dieser Fall des Verbots jedoch keine Befreiung: Das Verzicht fordernde Über-Ich wurde durch einen postödipalen Genieße-Imperativ ersetzt, der nicht weniger verfolgend als das autoritäre Verbot ist. Weil jedoch dieser Genieße-Imperativ an der Phantasie eines absoluten Genießens festhält, muss das Subjekt seine Objekte idealisieren. Das postödipale Regime verspricht das Genießen durch die Überwindung des Verbotes, zugleich bleibt das Genießen jedoch unmöglich. Diese Diagnose wird in der politischen Lacan-Rezeption zwar aufgegriffen, ihre Folgen für eine psychoanalytische Geschlechtertheorie sind jedoch bisher wenig bearbeitet worden. Dabei ist sie für die Geschlechtertheorie höchst relevant, da sich, wie ich im vierten Kapitel gezeigt habe, die psychoanalytische Geschlechtertheorie auf ein ödipales Modell stützt: Das männliche Subjekt entsteht als stets prekäre Identifizierung mit dem Herrensignifikanten, der unmöglichen Instanz, die Genießen und Verbot verknüpft. Der Herrensignifikant ist Lacans strukturelle Übersetzung des »Urvaters« Freuds, der die Beziehungen von Männern untereinander und zu Frauen bestimmt: Aus dem Mord an dem ursprünglich alle Weibchen besitzenden Vater resultiert nach Freud das Inzestverbot, das die eigenen Weibchen verbietet, die jedoch als Ursache des Mordes weiter Gegenstand von Sehnsucht sind. Im Urvater trifft sich also die Unmöglichkeit und die Möglichkeit des Genießens aller Weibchen. Lacan interpretiert diesen Mythos strukturell und übersetzt ihn als ein spezifisches Verhältnis von Signifikant und Genießen, der jedoch das Geschlechtsverhältnis voraussetzt, denn das vollständige Genießen, das der Herrensignifikant verbietet und verspricht, ist im Weiblichen eingelagert. Das männliche, ödipale Subjekt bedarf also eines Weiblichen als verfügbares Objekt ohne eigenes Begehren, ohne eigenen Willen. Dieses weibliche Objekt organisiert dann, wie Luce Irigaray mit ihrem Text Frauenmarkt (vgl. Irigaray 1979) zeigt, die

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männlichen Beziehungen untereinander: Frauen werden getauscht, sie sind Signifikanten in einer männlichen Ordnung, spiegeln die Macht ihrer Besitzer. Wie ich gezeigt habe, geht Lacan davon aus, dass diese Ordnung in eine Sackgasse geriet, wo sie wie beispielsweise in der Heiratspolitik eines Peter von Aragon bis zum Äußersten getrieben wurde. Die höfische Liebe ist nach Lacan eine Reaktion auf diese Zuspitzung des ödipalen Geschlechterarrangements: Er sieht in ihr einen Vorboten der neuen Ordnung, in der sich Autorität nicht mehr scheinbar aus sich selbst heraus legitimieren kann. Die höfische Liebe beschreibt er als eine Art »Sklavenaufstand in der Moral« im Sinne Nietzsches, als eine Reaktion auf die feudale Heiratspolitik der in ihr zu kurz Gekommenen. Die Träger der Kultur der höfischen Liebe erklären das, was die Gewinner des feudalen Systems erreichen, zur Nichtigkeit und weisen darauf hin, dass die feudale Inbesitznahme der FrauenObjekte diese im Kern verfehlt, da sie nicht deren »Seele«, ihr Begehren, erreicht. Die Liebe hingegen adressiert die Seele direkt: Indem sich die höfisch Liebenden in den Dienst ihrer Dame stellen, suchen sie die Rechtfertigung in ihren Augen. Zunächst erscheint die Liebe als das Gegenteil des Begehrens: Das abgewertete Objekt wird erhöht, das Subjekt hingegen unterwirft sich. Die Erhöhung des Objektes jedoch ist eine Idealisierung, die gerade nicht auf die Subjektivität des Gegenübers zielt. Die »hohe Frau« als Adressatin von Liebesliedern und diejenige, für die es in den Kampf zu ziehen gilt, hat eine symbolische Funktion. Als ideales Liebesobjekt inkarniert sie das vollständige Genießen und darf sich deshalb nicht in ihrem partikularen Genießen, in ihrem Begehren oder ihrer Subjektivität zeigen. Durch diese Idealisierung bleibt das Phantasma eines vollständigen Genießens erhalten. Anders als das Begehren kommt die Liebe ohne direkten Bezug auf den väterlichen Herrensignifikanten aus: Der Signifikant, der für den Wunsch zu herrschen steht, ist nicht länger Agent des Diskurses. Mit der Liebe lässt sich eine Beziehung zum anderen denken, die sich von einem direkten Bezug auf die väterliche Autorität, auf den Phallus, löst, dennoch aber an der Vorstellung eines möglichen Genießens festhält. Dazu bedarf es eines Objektes, das zur Idealisierung taugt. Es lässt sich nur vermuten, dass die Frau, die Objekt des Begehrens war, als Liebesobjekt für dieses Unternehmen nur bedingt geeignet war. Mit Lacans Geschlechtertheorie habe ich im vierten Kapitel gezeigt, dass der phallische Herrensignifikant einer ödipalen Gesellschaft zwei Arten des Genießen auf Seiten des weiblichen Anderen ermöglicht: das Genießen von S(Ⱥ), das ich als Trieb und Genießen jenseits des Phantasmas interpretiert habe, und das auf den Phallus bezogene Genießen, das ich mit dem Diskurs der Hysterika beschrieben habe. Letztere wäre die Partnerin für eine auf den Phallus bezogene Liebe. Die Hysterika hält am phallischen Phantasma fest, nimmt jedoch anders als das männliche Subjekt den Phallus nicht für sich in Anspruch, sondern unterstellt ihn ihrem Gegenüber. Es macht jedoch das Genießen der Hysterika aus, ihren Liebhaber immer wieder auf ihre Unbefriedigtheit hinzuweisen: Sie zeigt, dass ihr Genießen jenseits dessen liegt, was sie

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bisher bekommen hat, und muss so den Liebenden permanent frustrieren. In diesem Sinne ist die Frau kein dankbares Liebesobjekt, ihre Abhängigkeit erweist sich zu oft als trügerisch. Lacans Aphorismus, dass es kein Geschlechtsverhältnis gibt, weist auf dieses Scheitern einer Komplementarität der Geschlechter hin: Auch die Liebe, die das Scheitern des Begehrens überbrücken sollte, verfehlt ihr Gegenüber letztlich. Mit dem Kind, das war meine zentrale These, entwickelt die Moderne jedoch ein ideales Liebesobjekt: Das Kind ist abhängig, liebenswert unschuldig und hat als Unfertiges das Potential, alles zu erreichen. Diese Konstellation erfordert die aufopferungsvolle Liebe von Müttern und Pädagogen. Im dritten Kapitel habe ich mit der kindheitssoziologischen und pädagogischen Reflexion der pädagogischen Differenz argumentiert, dass die Pädagogik als für das Kind Zuständige die postödipale Herrschaftsform der Moderne vorbereitet hat, indem sie das Phantasma eines vollständigen Genießens von der ursprünglich gewaltvollen Geste des Herren gelöst und mit dem Kind verbunden hat. So kann eine ödipale symbolische Identifizierung einer postödipalen imaginären Identifizierung mit dem Liebesobjekt weichen und das Begehren als primäres Verhältnis des Subjekts zur Welt durch die Liebe ersetzt werden. Die Frau als Anderes und Objekt des Begehrens wird von dem Liebesobjekt Kind abgelöst, das als unkastriertes scheinbar unbegrenzten Zugang zum Genießen, zu einem Genießen ohne anderen, hat. Somit spielt die Pädagogik als Entdeckerin der Kindheit in der Etablierung eines postödipalen Regimes eine zentrale Rolle: Sie verspricht eine a-sexuelle Selbstwerdung, eine Selbstgeburt ohne differenten anderen, und konserviert so das Phantasma eines absoluten, also vom unkontrollierbaren Begehren des anderen gelösten Genießens, indem sie ihr Begehren verdrängt und in der Konstruktion des Kindes als Statthalter des Kontingenten dem Phantasma einen Ort gibt. Das Ideal des Kindes, das das Phantasma perpetuiert, führt zu einer neuen Art der Subjektivität: In dem ödipalen Konflikt zwischen Verbot und Übertretungsphantasie, zwischen nach väterlichem Vorbild geformten Über-Ich und Es, konnte die Instanz des Ichs vermitteln. Im postödipalen Subjekt jedoch sind Über-Ich und Es zu einer pädagogischen Instanz fusioniert, die im Namen des absoluten Genießens Optimierung fordert und damit das Ich, das ständig unzureichende Kind, vor sich her treibt. Diese Verschmelzung von Über-Ich und Es ist in jeglicher Hinsicht problematisch. Lacans Versuch, dieser Entgrenzungsbewegung die Scham als Distanzierungsmedium entgegenzusetzen, führt jedoch aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive in die falsche Richtung, denn sie fragt nicht nach den Wurzeln des Phantasmas im Geschlechtsverhältnis. Nun ist das Geschlechtsverhältnis in der Psychoanalyse, wie Irigaray angemerkt hat, ein Verhältnis zwischen dem »Subjekt und seinem Mangel, die zusammen noch keine zwei Geschlechter ergeben« (Irigaray 1979: 165). Das Weibliche ist in der Psychoanalyse Lacans das Andere des männlichen Subjekts und das zeichnet sich

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besonders durch seine Beziehung zur Mutterschaft aus. Gerade die mütterliche Liebe charakterisiert die Psychoanalyse jedoch als so verschlingend und problematisch, dass sie durch die väterliche Intervention in Schach gehalten werden muss. Zuletzt habe ich deshalb nach dem Zusammenhang der postödipalen Liebe zum Kind und der mütterlich-verschlingenden Liebe gefragt, die im Kastrationskomplex die Voraussetzung des Subjekts ist, zugleich jedoch die Subjektivität des Kindes bedroht und die mit dem Phallus verbundene Allmachtsphantasie legitimiert. Mütterliche Liebe zwischen Bedrohlichkeit und Utopie Die Liebe zum Kind wird als Mutterliebe von der Psychoanalyse mit der weiblichen Struktur begründet: Nach Freud sucht sich die Frau, die sich psychisch durch den Penisneid auszeichnet, im Kind einen Penisersatz. Dass die Mutter wiederum das Kind zu ihrem Penisersatz macht, legitimiert die Notwendigkeit einer väterlichen Intervention, die das Kind von der Mutter trennt. Damit wird der Vater zu der Instanz, die für die Ablösung aus der vereinnahmenden Mutterbindung sorgt. Die Psychoanalyse denkt Subjektwerdung also grundsätzlich in einer Triangulation, wobei den Eltern polare Aufgaben zukommen: primäre Bindung und Fürsorge auf der einen Seite, Loslösung und gesellschaftliche Integration auf der anderen. Diese polaren Aufgaben begründen die Sexuierung. So gesteht Lacan, dass in den Formeln der Sexuierung die Frau nur »quoad matrem« auftritt, dass also Weiblichkeit vor allem in der Beziehung zur Mutterschaft besteht. Das Weibliche ist das Andere des einen Signifikanten, des Herrensignifikanten, der am männlichen Geschlecht hängt. Eine gesellschaftstheoretische Reinterpretation dieses Zusammenhangs, die den Penis als Phallus und damit als Signifikanten versteht und so als Bestandteil eines patriarchalen Symbolischen betrachtet, kann auf den Teufelskreis hinweisen, der sich aus diesem Verständnis der Mutterliebe ergibt: Zum einen ist die Mutterliebe, die sich aus dem Penisneid, also der weiblichen Benachteiligung angesichts des Phallus, ergibt, Folge patriarchaler Strukturen, zum anderen ist sie aber, weil sie das Kind zum Phallus macht, vereinnahmend und so problematisch, dass sie die trennende Intervention legitimiert, die wiederum den Phallus als Instanz installiert, die das Subjekt begründet. Die Mutterliebe wird also in einen Zusammenhang mit dem auf den Phallus zentrierten Symbolischen gebracht; sie ist sowohl Folge als auch Ursache des Phallus. Zugleich ist jedoch bei Lacan in der mütterlichen Liebe etwas angelegt, was über den Phallus hinausweist und eine Verbindung zum Genießen des Triebes herstellt. Im fünften Kapitel habe ich danach gefragt, was es bedeutet, wenn die Mutter das Kind zu ihrem Phallus macht. Ich konnte bereits zuvor zeigen, dass auch der männliche Phallusbesitz daraus resultiert, dass es ein Gegenüber gibt, das es in seinem Irrtum, seiner Allmachtsphantasie, bestätigt, nämlich beispielsweise die

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Frau, die den Mann um ihren Penis beneidet. Den Diskurs des Herren hatte ich als dieses Verhältnis zu einem bestätigenden Gegenüber interpretiert. Wenn die Frau das Kind zu ihrem Phallus macht, wiederholt sie also, wie auch Simone de Beauvoir vorschlägt, die Beziehung des Mannes zu ihr. Das Kind sorgt so für eine Art nachholenden Ödipus, es kompensiert den fehlenden Penis der Frau. Mit dem Diskurs des Herren ließ sich dieses Verhältnis jedoch als eines beschreiben, das den väterlichen Signifikanten immer schon in sich trägt als Ambivalenz zwischen Symbiosewunsch bzw. dem Wunsch, das Kind in Besitz zu nehmen, und dem Verbot. In diesem Fall ist der Vater kein Deus ex Machina, sondern immer schon Bestandteil der mütterlichen Liebe, die nur dann bedrohlich wird, wenn die Mutter das Verbot an einen empirischen Vater delegiert, der jedoch nicht bereit ist, dafür einzustehen. Eine zweite Erklärung für die mütterliche Liebe bietet Lacan an, wenn er das Kind als Objekt a einen Stöpsel für das weibliche Nicht-alle nennt. Nicht-alle ist die Frau nach Lacan, weil diese kein Allgemeines bildet, weil sie sich nicht wie der Mann unter einem Signifikanten vereinigt. Entsprechend ist Lacans bekannter Aphorismus zu verstehen, dass es die Frau nicht gibt. An diesem Verfehlen des Allgemeinen hängt jedoch die Existenz im Symbolischen: Weil es keinen Signifikanten gibt, der für das Weibliche steht, hat die Frau keine Position im Symbolischen, ist nie ganz Subjekt, hat kein eigenes Begehren. Wenn Lacan das Kind als Stöpsel für dieses Nicht-alle bezeichnet, behauptet er, dass das Kind eine Begrenzung herstellt, die für Vereinigung sorgt, die der Frau eine symbolische Existenz ermöglicht, ihren Sinn setzt. Seine »Stöpselfunktion« hat es, wenn es Objekt a, also Liebesobjekt, ist. Wenn das Kind jedoch für die Mutter als Objekt a fungiert, entspräche das mütterliche Verhältnis zum Kind dem Diskurs der Universität. Dieser stimmt eher mit dem von der Psychoanalyse als bedrohlich charakterisierten mütterlichen Begehren überein als das mit dem Diskurs des Herren formalisierte Begehren nach dem Phallus. Denn während im Diskurs des Herren das absolute Genießen einem Dritten, dem Vater, zugeschrieben wird und so die Dyade immer schon zu diesem Dritten hin geöffnet ist, verortet eine Mutterliebe, die dem Diskurs der Universität entspricht, das absolute Genießen bei dem idealisierten Kind, dem sie sich unterwirft. Für das Reale des Kindes bleibt so noch weniger Raum. Diese mütterliche Liebe entspricht der postödipalen Vorstellung eines durch Optimierung erreichbaren Genießens, das im idealisierten Kind seinen Ort hat. Die Psychoanalyse Freuds, die Weiblichkeit mit dem Penisneid identifiziert, denkt den Kinderwunsch als Antwort auf diesen: Im Kind sucht sich die Frau den Penis, der ihr versagt blieb. Dass sich vorwiegend Frauen mit Kindern abgeben, erklärt sich die Psychoanalyse also mit diesem Peniswunsch bzw. in den Begriffen Lacans: mit dem Begehren nach dem Phallus. Ich habe jedoch mit und gegen Lacan eine andere Begründung vorgeschlagen, nämlich dass mit dem Kind etwas

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erfahrbar ist, was ebenfalls mit der weiblichen Struktur und ihrem besonderen Verhältnis zum Trieb verbunden ist. Erst nachträglich wird diese Beziehung durch den Phallus sich als dominantes und verführerisches Narrativ kolonisiert. In Lacans Beschreibung des Kastrationskomplexes ist die Mutter ein verschlingendes Krokodil, vor dem der Phallus das Kind retten muss. Jedoch nimmt Lacan ein Stadium vor dieser Situation an, die quasi präödipale Beziehung, die er Frustration nennt, in der sich ein anderes Bild ergibt. Hier tritt die Mutter als diejenige auf, die die Bedürfnisse des Kindes befriedigt und aus den Befriedigungen Zeichen werden lässt. Diese Mutter lässt im Kind den Trieb entstehen, in dem sich das Genießen von der Befriedigung eines Bedürfnisses löst. Mit dem Begriff des Triebs, den ich im vierten Kapitel entwickelt habe, konnte ich zeigen, dass Lacan annimmt, dass auch die Mutter im Stadium der Frustration selbst den Trieb lebt: Sie beschenkt das Kind – nicht weil sie schenken muss, sondern weil sie aus ihrer Fülle schöpft und den Kontakt genießt. Mit Irigarays Begriff der Berührung habe ich diese Beziehung, die auf dem Trieb basiert, konkretisiert: Es macht die Berührung aus, dass sie den anderen nicht vereinnahmt, nicht in ihn eindringt oder versucht, ihn in Besitz zu nehmen. Vielmehr konturiert die Berührung die Körper der Beteiligten, es entstehen Ränder, lebendige Öffnungen zum anderen hin, an denen es zur Begegnung kommen kann. Voraussetzung einer derartigen Beziehung ist die Identifizierung mit dem genießenden Körper selbst, die auf die Allmachtsphantasien eines vollständigen Genießens verzichtet. Das mütterliche Verhältnis zum Kind in der Frustration ist kaum Liebe zu nennen, denn es richtet sich an kein spezifisches Objekt. Lacan spricht von einem »Leben für die Sprache«. Mit Irigaray lässt sich dieses Leben für die Sprache als die Lust an der Berührung verstehen, die immer schon die Trennung in sich trägt: Der andere wird permanent entlassen, wo die Liebe festzuhalten versucht. Mit dem Mathem des Diskurses des Analytikers habe ich diese Beziehung als eine nach einer Auflösung drängende Paradoxie beschrieben: Sie ist die Suche nach der Subjektivität des Gegenübers, die durch die eigene Aktivität nicht erzwungen werden kann. Eine mütterliche Beziehung zum Kind, die auf dem Triebgenießen basiert, lässt dem kindlichen Subjekt Raum, sich an seinen Grenzen zu erfahren, und die Freiheit, sich mit diesen Grenzen zu identifizieren. Mit dem Diskurs des Analytikers denkt Lacan also bereits eine Subjektwerdung ohne Dritten: Hier steht keine (väterliche) Instanz für das Dritte und vereindeutigt so den Raum, zu dem hin sich die Beziehung öffnet, sondern es wird eine echte Offenheit erfahrbar, die dem Subjekt den Raum für den Akt lässt, sich selbst zu setzen. Wenn sich jedoch die frühe Beziehung zwischen Mutter und Kind mit dem Diskurs des Analytikers beschreiben lässt, stellt sich die Frage, warum diese Beziehung in das kontrollierende Begehren oder die vereinnahmende postödipale Liebe kippt. Ich habe vorgeschlagen, dass das mütterliche Symbolische, auch wenn es für das Kind die vieldeutige lalangue ist, nicht frei von Phantasmen ist, denn die Mut-

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ter bezieht sich auf das Symbolische einer Gesellschaft, in der das Phantasma einen spezielle Funktion hat. Die imaginären Schließungen im mütterlichen Diskurs sind Zentrierungsangebote, die das Kind von der schwierigen Geste entlasten, den sinnlosen Signifikanten des eigenen Genießens anzunehmen. Je mehr das Kind zum Sprachwesen wird, kann es auf die mütterlichen Phantasmen reagieren und sich für sie zum Phallus oder Objekt a machen. Die mütterlichen Phantasmen verführen also das Kind, das Kind wiederum verführt die Mutter: Das auf dem Trieb basierende Verhältnis ist durch imaginäre Schließungen bedroht, wobei beide Beteiligte auf einander reagieren. Die Gefahr eines Verhältnisses, das auf dem Trieb basiert, ist also stets, dass es anfällig für die Versuchungen des Imaginären ist. Obwohl in der weiblichen Struktur immer schon ein »Jenseits des Phallus« angelegt ist, weil die weibliche Identifikation mit dem Phallus an einem gewissen Punkt scheitert, bedarf es für die von einem Gegenüber unabhängige Einnahme der Position der Analytikerin eines singulären Akts, den Lacan in den früheren Seminaren mit der Trauer beschreibt. Bei dieser Trauer handelt es sich um den Abschied vom Phantasma, der wie die Trauerarbeit ein Prozess ist, in dem einzelne Erinnerungsspuren überarbeitet werden und an dessen Ende die Erkenntnis steht, dass es kein Objekt gibt, das höherwertig als alle anderen ist. Für diese Erkenntnis, die einen Abschluss einer Psychoanalyse markiert, findet Lacan später eine positive Formulierung, wenn er das Ende der Analyse als Annehmen der Unverfügbarkeit des eigenen Genießens durch die Identifikation mit dem singulären Signifikanten beschreibt. Nur diese Identifikation gewährleistet ein Festhalten an dem partikularen Genießen des Triebes, an der Unabgeschlossenheit jeder Begegnung und an dem Verzicht auf die verführerische Allmachtsphantasie. Denn der singuläre Signifikant ermöglicht das, was innerhalb der psychoanalytischen Theorie am ehesten als Freiheit bezeichnet werden kann: die Unabhängigkeit von der phantasmatischen Verführung, die vom anderen und dessen Bereitschaft zur Beziehung ausgeht. Die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Genießens immunisiert gegen die Verführung, sich angesichts eines Gegenübers zum Herren oder zum Knecht zu machen. Sie ermöglicht ein Verhältnis zum anderen jenseits der Allmachtsphantasie. Dieses Annehmen des eigenen Signifikanten denkt Lacan als individuellen Weg, möglicherweise als das Ende einer Psychoanalyse. Offen bleibt dabei, was dieser individuelle Weg für das gesellschaftliche Band bedeutet, das auf dem Phallus basiert. Möglicherweise ist mit diesem ausnahmeförmigen Akt strukturelle Veränderung denkbar. Hier könnten politische Theorien wie die Rancières oder Badious anschließen, die sich auf das Ereignis oder den vom Symbolischen ungedeckten Akt beziehen. Mit Lacan lässt sich gegenüber diesen Theorien jedoch auf den negativen Aspekt dieser Geste hinweisen: Sie steht in Zusammenhang mit der Trauerarbeit, dem Verzicht auf das Phantasma, und ist deshalb nicht voraussetzungslos. Gegenüber Badious Annahme einer Atonalität der Moderne

6. Ausblick: Generationalität und Trauer

(Badiou 2010) ist auf den geheimen Grundton hinzuweisen, der dieser scheinbaren Atonalität Struktur gibt: die Liebe zum Kind, die das Phantasma eines vollständigen Genießens konserviert.

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Danksagung

Mein besonderer Dank gilt Alfred Schäfer, der über lange Jahre diese Arbeit wohlwollend begleitet und mich mit kritischen Nachfragen produktiv verunsichert hat. Danken möchte ich außerdem Irene Berkel für die geduldige Unterstützung und die Begutachtung der Arbeit und der Hans-Böckler-Stiftung für die finanzielle Förderung. Außerdem Tove Soiland, Anna Hartmann und Marie Frühauf für langjährige Diskussionen und gemeinsames Arbeiten am Text. Anna Leyrer, Marcel Raabe und Marie Müller-Zetsche für die Begleitung durch die Hochs und Tiefs des Schreibprozesses. Ann-Madeleine Tiedge, Hannah Holme und Claudia Jerzak für den solidarischen Austausch. Elisa Schmidt und Vincent Schmiedt für die unverbrüchliche Freundschaft. Dem bestaussehendsten Chor für geteilte Gegenwart und Christopher Wallbaum für die Lust am Denken. Schließlich Josef und Cornelia Dolderer, die all die Jahre da waren, Mascha Kneis, Jurek und Merve Dolderer, denen ich das alles schenke, die es aber nicht brauchen, sowie natürlich Josef Steinkogler, meinem liebsten anderen, für das Rückenfreihalten, das Ertragen und Mittragen.

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Szene, Habitus und Metaphorik Konzepte für eine praxeologische Theorie psychotherapeutischer Profession 2021, 658 S., kart., 6 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 40,00 € (DE), 978-3-8376-5695-4 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5695-8

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