Eine postkoloniale Flüchtlingskrise: Die Aufnahme kambodschanischer Flüchtlinge im Spannungsfeld von Menschenrechten und Rassismus in Frankreich 9783839464687

Frankreich nahm in den 1970er und 1980er Jahren von den europäischen Staaten die meisten Flüchtlinge aus Südostasien auf

190 130 3MB

German Pages 246 Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise: Die Aufnahme kambodschanischer Flüchtlinge im Spannungsfeld von Menschenrechten und Rassismus in Frankreich
 9783839464687

Table of contents :
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Danksagung
Einleitung
1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge
2. Frankreich – Terre d’Asile
3. Die Ordnung der Aufnahme
4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge
Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis

Citation preview

Laura Wollenweber Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Global- und Kolonialgeschichte Band 13

Editorial Seit klassische Nationalgeschichten in der Geschichtswissenschaft eher auf dem Rückzug sind, ist die Globalgeschichte auf dem Vormarsch. Globalgeschichte meint jedoch nicht einfach Geschichte »außerhalb Europas« oder »Geschichte weltweit«. Es geht dabei um eine Geschichtsschreibung, die versucht, eurozentrische Perspektiven zu überwinden und das Augenmerk verstärkt auf globale Verflechtungen und Verbindungen zu richten. Klassische Themen einer Globalgeschichte sind daher Kolonialismus, Migration, Handelsbeziehungen, internationale Kooperation, Sklaverei, Tourismus, Imperialismus, Globalisierung, Wissenstransfers u.v.m. Die Reihe Global- und Kolonialgeschichte bietet Forschungsbeiträgen zu diesen Themen ein gemeinsames Diskussionsforum. Die Kolonialgeschichte wird dabei als zentraler Teil der Globalgeschichte behandelt, da sie sich thematisch als Verflechtungsgeschichte wie auch methodisch als Machtverhältnisse (und hegemoniale Diskurse) hinterfragend in diese Historiografie einordnet.

Laura Wollenweber, geb. 1987, studierte in Bonn, Paris und Bremen Politikwissenschaften und Geschichte mit einem Schwerpunkt auf Neuerer und Neuester Geschichte. Von 2015 bis 2018 war sie Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Globalgeschichte an der Freien Universität Berlin, wo sie 2020 bei Michael Goebel und Sebastian Conrad promoviert wurde. Von 2019 bis 2021 war sie am Centre Marc Bloch in Berlin assoziiert. Für ihre Forschungsaufenthalte in Frankreich erhielt sie ein Mobilitätsstipendium des Deutschen Historischen Instituts in Paris.

Laura Wollenweber

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise Die Aufnahme kambodschanischer Flüchtlinge im Spannungsfeld von Menschenrechten und Rassismus in Frankreich

D188 Diese Arbeit wurde durch ein Stipendium des Deutschen Historischen Instituts Paris gefördert. Avec le soutien du Centre Marc Bloch Berlin. Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Korrektorat: Ricarda Berthold (Freiburg i.B.), M.A. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464687 Print-ISBN 978-3-8376-6468-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6468-7 Buchreihen-ISSN: 2701-0309 Buchreihen-eISSN: 2702-9328 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis ..........................................................7 Danksagung ...................................................................... 9 Einleitung ........................................................................ 11 1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge Facetten einer humanitären Krisenproduktion und -rezeption .............. 31 1.1 Medien und Flüchtlinge – eine Krise wird geschaffen und schafft Aufnahme? .... 35 1.2 Frankreich, eine antitotalitäre Wende und das Engagement der antitotalitären Intellektuellen .............................................. 50 1.3 Humanitäre Hilfe und mediale Kooperation – die Médecins Sans Frontières in der kambodschanischen Flüchtlingskrise ..................... 61 1.4 Fazit .......................................................................... 82

2. Frankreich – Terre d’Asile Südostasiatische Flüchtlinge, staatliche Souveränität und republikanische Asyltraditionen ........................................ 85 2.1 Valéry Giscard d’Estaing – von den Grundzügen einer politique d’accueil bis zu einer Flüchtlingspolitik als internationale Frage........................................................ 90 2.2 Kontinuitäten und Brüche im Umgang mit den südostasiatischen Flüchtlingen ab 1981 .................................104 2.3 Fazit .......................................................................... 116

3. Die Ordnung der Aufnahme Politische Instrumente, staatliche Bürokratie und zivilgesellschaftliche Organisationen .................................. 119

3.1 Die Auswahl der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern – politische Instrumente als Beispiele für den Kontrollanspruch des Staates in der Aufnahme .................................................. 121 3.2 Politische Ordnungskriterien, Legitimität und Rechte ........................... 131 3.3 Die Aufnahme im Lokalen – Zivilgesellschaft und Staat zwischen Reibung und Kooperation ............................................145 3.4 Fazit ......................................................................... 168

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge .................................... 171 4.1 Die Bedeutung von Antikommunismus und kolonialen Traditionslinien für die Flüchtlingsaufnahme ....................175 4.2 Ideelle Traditionslinien in der Flüchtlingsaufnahme – Stereotype, Rassismus und koloniale Vergangenheit ............................190 4.3 Fazit ......................................................................... 206

Schlussbemerkungen ......................................................... 209 Literaturverzeichnis............................................................219 Primärliteratur .....................................................................219 Sekundärliteratur ................................................................. 227

Abkürzungsverzeichnis

ANAI ANF BNF CADC CIEL CIMADE CNE CPH EG EU FN FTDA GFK GP GRECE HLM ICRC INA INSEE KSZE MSF NGO OFPRA PCF PS SIPAR

Association nationale des anciens de l’Indochine Les Archives nationales de France Bibliothèque nationale de France Centre des Archives diplomatiques de La Courneuve Comité des intellectuels pour l’Europe des libertés Comité inter-mouvements auprès des évacués Comité national d’entraide franco-vietnamien, franco-cambodgien, franco-laotien Centre provisoire d’hébergement Europäische Gemeinschaft Europäische Union Front National France terre d’asile Genfer Flüchtlingskonvention Gauche prolétarienne Groupement de recherche et d’étude sur la civilisation européenne Habitation à loyer modéré International Committee of the Red Cross Institut national de l’audiovisuel Institut national de la statistique et des études économiques Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Médecins Sans Frontières Non-governmental organization Office français de protection des réfugiés et apatrides/Les Archives de l’Office français de protection des réfugiés et apatrides Parti communiste français Parti socialiste Soutien à l’initiative privée pour l’aide aux réfugiés

8

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

TF1 Télévision française 1 UN United Nations UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees/Archives of the United Nations High Commissioner for Refugees UNICEF United Nations Children’s Fund

Danksagung

Dieses Buch ist das Ergebnis einer mehrjährigen Reise – im wahrsten Sinne des Wortes – die mich von Deutschland nach Frankreich, nach Kambodscha, zurück nach Deutschland und wieder Frankreich schickte. Die Beschäftigung mit den Schicksalen der kambodschanischen Flüchtlinge hat mir viel über die Schattenseiten der Welt, aber auch das Prinzip der Hoffnung gezeigt. Den Menschen, die ich während meiner Reise treffen durfte und die mich an einem Abschnitt ihres Lebens teilhaben ließen, gilt mein größter Dank. Dieses Buch ist für sie und all die anderen Flüchtlinge, die den Weg nach Frankreich und die Welt auf sich genommen haben, weil sie Unterdrückung, Verfolgung oder Chancenlosigkeit entkommen wollten und auf ein besseres Leben hofften. Ganz besonders möchte ich mich an dieser Stelle bei Sok Thorn, Monna Thuon, Daniel Tran, Delphine Bordet, Luc Menguy, Marie-Rose Menguy, Magali Petitmengin und Ida Simon-Barouh bedanken. Darüber hinaus wäre dieses Buch ohne eine ganze Reihe von weiteren Menschen, die mich während der Erarbeitung begleitet haben, nicht denkbar gewesen. Ihnen gilt mein ganzer Dank. Zuallererst bedanke ich mich bei meinen Eltern, Anke Wollenweber, Wolfgang Wollenweber-Brückner, meiner Schwester Clara Wollenweber und dem Rest meiner Familie, die mich ermutigt haben zu lernen und mir auf diesem Weg viel Unterstützung haben zukommen lassen. Ohne die grundlegende Ermutigung, dass es in Ordnung ist, Fragen an die Welt zu stellen, hätte es dieses Buch sicher nie gegeben. Britta Wollenweber hat mir bei der ersten Fassung mit umfassenden Korrekturen geholfen und Jürgen Wollenweber hat mich zu guter Letzt bei der Veröffentlichung dieses Buches unterstützt. Ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Michael Goebel, der mich auf dem langen Weg zur Abgabe und zur Verteidigung begleitet hat und ohne dessen unermüdliche Unterstützung beim Verfassen des Manuskripts sowie seine kluge und scharfsinnige Kritik ich nicht ans Ziel gelangt wäre. Darüber

10

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

hinaus bedanke ich mich bei meinem Zweitgutachter Sebastian Conrad und meinen ehemaligen Arbeitskollegen und -kolleginnen am Lehrstuhl für Globalgeschichte an der Freien Universität Berlin, insbesondere Lasse Heerten, Christoph Kalter und Ulrike Schaper, für die intellektuell herausfordernde, bereichernde und spannende Zeit, die ich mit ihnen verbringen konnte. Ganz besonders möchte ich mich auch bei Antonio Carbone bedanken, der während dieser Zeit als Freund und Arbeitskollege viele Gedanken dieses Buches mit mir vorab gewälzt hat und einen großen Teil meiner Arbeit vor der Abgabe gelesen und kommentiert hat. Auch Clara Frysztacka von der Viadrina-Universität hat als Freundin und großartige Historikerin mit klugen Kommentaren und mentalem Support ebenfalls einen Beitrag geleistet, wofür ich mich herzlich bedanke. Ich bedanke mich auch ganz besonders bei Luca Guerreschi von der Technischen Universität Berlin, der mich dazu ermutigt hat, meine Dissertation in Buchform zu veröffentlichen und mir geholfen hat, meine Gedanken für die Veröffentlichung zu sortieren. Weiterhin möchte ich dem Centre Marc Bloch in Berlin und ganz besonders Johara Berriane, Nikola Tietze, Denis Eckert und der ganzen Forschungsachse Mobilität, Migration und räumliche Neuordnung meinen Dank aussprechen. Sie haben mich immer dazu ermutigt, über den Tellerrand meiner Disziplin zu schauen. Weiterhin bedanke ich mich ganz besonders bei Anne Friedrichs, Sarah Carlotta Hechler, Anne Kwaschik, Caroline Moine, Paula Seidel, Léa Renard und Julia Wambach für ihre jeweils eigenen Beiträge zu diesem Buch. Zuletzt, aber sicherlich nicht am wenigsten wichtig, möchte ich mich bei meinen Freunden und Freundinnen bedanken, ganz besonders Katharina Böcker, die meine Dissertation vor der Abgabe in Gänze gelesen hat, viele Fragen mit mir diskutiert und mehr als alle anderen dazu beigetragen hat, dass meine Gedanken zu einem Text und dann lesbar wurden. Raksmy Sopheak hat mir bei einigen kniffligen Fragen und Problemen mit Übersetzungen geholfen, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Außerdem hat eine ganze Reihe von Menschen den Endspurt tatkräftig mit einem letzten scharfen Blick unterstützt. Dafür danke ich ganz besonders Marion Doßner, Darja Köhne und Eva Scharm. Darüber hinaus haben meine Freunde mir geholfen während der vielen Jahre in denen mein Kopf sich größtenteils um die Fragen von Gewalt, Grausamkeit, Flucht, Menschenrechte und Staatlichkeit drehte, nicht eben jenen zu verlieren. Sie haben mich zugleich ermutigt und geerdet, wenn ich mich zu sehr in der Thematik verloren habe. Dafür gilt ihnen mein allergrößter Dank aus vollem Herzen!

Einleitung

Flüchtlinge, Staaten, Humanitarismus und Menschenrechte »Niemals vielleicht war das Drama der indochinesischen Flüchtlinge so erschreckend für die Franzosen, als während der Ankunft einer Gruppe Kambodschaner aus Bangkok am Dienstag, den 10. Juli in Roissy.«1 Mit diesen emotionalen Worten berichtete am 12. Juli 1979 die Zeitung Le Monde über die Ankunft eines Flugzeugs mit Flüchtlingen in Paris. Im Artikel werden einige der Passagiere zitiert, die in gebrochenem Französisch von ihren Erlebnissen und ihrer Flucht nach Frankreich erzählten. Der Arzt Hong Siv Pha etwa, der bereits vor 1976 in Frankreich gelebt hatte und dann aus Sorge um seine Familie in das Demokratische Kampuchea zurückgekehrt war, brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, nach der Klärung seines Aufenthaltsstatus in Frankreich wieder als Arzt in einem französischen Krankenhaus arbeiten zu können. Der wichtigste Grund für seinen Wunsch war, dass er während der Zeit unter den Roten Khmer gezwungen gewesen war, »Kambodscha von seinem Wissen profitieren zu lassen«2 . Nun wollte er sein Wissen nach den schrecklichen Erfahrungen unter den Roten Khmer wieder in den Dienst Frankreichs stellen. Neben solchen persönlichen Erfahrungen verwies der Artikel darauf, dass die vom Comité national d’entraide organisierte Mission an der Botschaft in Bangkok die Flüchtlinge aufgrund der unübersichtlichen und gefährlichen Situation vor Ort unter erheblichen Problemen in den thailändischen Lagern auswählte. Zudem beschrieb der Artikel den Abflug als extrem schwierig. Der Zeitungsartikel offenbart so die Dringlichkeit, mit der die Flüchtlingskrise in den 1970er Jahren wahrgenommen wurde, und wie

1 2

Jean de La Guérivière: Le calvaire de Hong Siv Pha, médecin rentré volontairement au Cambodge en 1976, in: Le Monde, 12.07.1979. Ebd.

12

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

hoch emotionalisiert das Thema in den Medien verhandelt wurde. Die Aufnahme der südostasiatischen und spezifischer noch der kambodschanischen Flüchtlinge beschäftigte Frankreich fast über zwei Jahrzehnte intensiv. Nachdem die Roten Khmer das Demokratische Kampuchea, wie sie es nannten, durch Zwangsumsiedlungen und Terrorherrschaft in einen Agrarstaat verwandelt hatten, dem zwischen 1,6 und 2,2 Millionen Menschen3 aufgrund von Hungersnöten, mangelnder medizinischer Versorgung und Säuberungsaktionen zum Opfer fielen, marschierte 1979 die vietnamesische Armee in Kambodscha ein, woraufhin ein Bürgerkrieg entbrannte.4 Zwischen 1979 bis Anfang der 1990er Jahre flohen über 220.000 Kambodschaner und Kambodschanerinnen ins Exil, die meisten von ihnen in die USA.5 Für Frankreich, das als ehemalige Kolonialmacht in Indochina eine besondere historische Verbindung mit Kambodscha hatte, waren die kambodschanischen Flüchtlinge Teil einer größeren südostasiatischen Flüchtlingskrise, die auf den Sieg des Kommunismus in Vietnam, Laos und Kambodscha seit 1975 folgte. Die Boatpeople aus Vietnam auf dem Südchinesischen Meer, die nach Thailand geflohenen Laoten und Laotinnen und die Kambodschaner

3

4

5

Die große Spanne von 1,6 bis 2,2 Millionen beruht auf Schätzungen der Übersterblichkeitsrate (excess mortality). Siehe zu den Todeszahlen: Ewa Tabeau/Kheam They: Demographic Expert Report. The Khmer Rouge Victims in Cambodia, April 1975-January 1979. A Critical Assessment of Major Estimates, 30.09.2009, https://www.eccc.gov.kh /sites/default/files/documents/courtdoc/D140_1_1_Public_Redacted_EN.PDF (zuletzt geprüft am 29.07.2022); Daniel Bultmann: Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, S. 159–171. Zum Aufstieg und zur Herrschaft der Roten Khmer im Demokratischen Kampuchea siehe: D. Bultmann: Kambodscha unter den Roten Khmer; Ben Kiernan: How Pol Pot Came to Power. Colonialism, Nationalism, and Communism in Cambodia, 1930–1975, New Haven: Yale University Press 2004; David P. Chandler: The Tragedy of Cambodian History. Politics, War, and Revolution since 1945, New Haven, London: Yale University Press 1991; David P. Chandler: Brother Number One. A Political Biography of Pol Pot, Boulder/CO: Westview Press 1999; Ben Kiernan: The Pol Pot Regime. Race, Power, and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge, New Haven: Yale University Press 2008; Philip Short: Pol Pot. The History of a Nightmare, London: John Murray Publishers 2004; Elizabeth Becker: When the War was Over. The Voices of Cambodia’s Revolution and its People, New York: Simon and Schuster 1986. May M. Ebihara/Carol A. Mortland/Judy Ledgerwood (Hg.): Cambodian Culture since 1975. Homeland and Exile, Ithaca: Cornell University Press 1994.

Einleitung

und Kambodschanerinnen bildeten in den Augen der französischen Öffentlichkeit eine Fluchtbewegung.6 Die französische Regierung traf bereits 1975 die Entscheidung, diese Flüchtlinge aus Südostasien als politische Flüchtlinge in Frankreich aufzunehmen. Laut der Soziologin Karine Meslin kamen insgesamt 128.531 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Indochina nach Frankreich, wovon 47.356 aus Kambodscha stammten.7 Ihre Geschichten waren von den Erfahrungen massiver Menschenrechtsverbrechen geprägt, von Flucht, Verlust, teilweise Traumata und häufig einer langen und ungewissen Zeit in einem Flüchtlingslager, bevor die Umsiedlung in ein westliches Aufnahmeland erfolgte. Thema dieses Buches ist die Geschichte ihrer Aufnahme in Frankreich, wobei die zentrale Frage lautet, ob humanitäre Empathie- oder Menschenrechtsideen und -diskurse Einfluss auf das Engagement für die kambodschanischen Flüchtlinge in Frankreich nahmen. Denn so, wie Valéry Giscard d’Estaing im Dezember 1979 anlässlich der Verleihung des Nansen-Preises, den er für das Engagement bei der Aufnahme südostasiatischer Flüchtlinge erhielt, davon sprach, dass er und das französische Volk sich zu »unermüdlichen Anwälten für die Sache der Menschenrechte«8 machten, könnte man davon ausgehen, dass sich die Verschränkung von Menschenrechtsideen und staatlichem Handeln deutlich in der Aufnahme abzeichnete und dies zugleich als ein Indikator für den Bedeutungszuwachs der Menschenrechte in den 1970er Jahren anzusehen ist. Daher sollen diese Aspekte für die unterschiedlichen Ebenen des französischen Engagements näher untersucht werden. Menschenrechte und humanitärer Aktivismus werden in der Forschung häufig getrennt voneinander diskutiert, da es sich einerseits um einen Diskurs über Rechte, durch den langfristige systematische Veränderungen angestrebt werden, und andererseits um moralische Empathiediskurse handelt, die darauf abzielen, Menschen in Notsituationen schnell zu helfen und ihr Überleben 6 7 8

Courtland W. Robinson: Terms of Refuge. The Indochinese Exodus and the International Responses, London, New York: Zed Books 1998. Karine Meslin: Accueil des boat people. Une mobilisation politique atypique, in: Plein Droit 70, 3 (2006), S. 35–39, hier S. 36. Valéry Giscard d’Estaing: Allocution prononcée par M. Valery Giscard d’Estaing à l’occasion de la remise de la Medaille et du Prix Nansen, Palais des Nations, Genève, le lundi 10. décembre 1979, https://www.elysee.fr/valery-giscard-d-estaing/1979/12/1 0/allocution-prononcee-par-m-valery-giscard-destaing-a-loccasion-de-la-remise-dela-medaille-et-du-prix-nansen-palais-des-nations-geneve-le-lundi-10-decembre-197 9 (zuletzt geprüft am 14.08.2022).

13

14

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

zu sichern.9 Doch schon Lynn Hunt, eine der namenhaften Vertreterinnen der neuen Menschenrechtsgeschichte, zeigte deutlich, wie sich die Menschenrechte der französischen Aufklärung aus einer Kultur der Empathie basierend auf der Wahrnehmung vergangenen Leidens ableiteten.10 Statt die Trennschärfe beider Untersuchungsgegenstände zu betonen, stehen in diesem Buch Fragen nach Wechselwirkungen und gegenseitigen Ergänzungen im Fokus. So zeichnen sich humanitäre Empathiediskurse deutlich in den einflussreichen Interventionen von humanitären Aktivisten und Aktivistinnen in der südostasiatischen Krisenregion sowie von Intellektuellen in Frankreich ab. Zugleich spielte die französische staatliche Menschenrechts- und Asyltradition, wie sie bereits in der Französischen Revolution begründet wurde, eine wichtige Rolle für das staatliche Selbstverständnis während der Aufnahme. Hinzu kommt, dass in Frankreich lebende Aufnahmehelfer und -helferinnen die humanitäre Notlage, aus der die Flüchtlinge entkommen waren, mit der Notwendigkeit neuer Rechte für die Flüchtlinge und dem Integrationserfolg verbanden. Denn nur durch die Einführung in ein geregeltes Leben in Frankreich konnten die Flüchtlinge in den Augen der Helfer und Helferinnen dem Elend ihrer Flucht und der humanitären Notlage endgültig entkommen. Der Integrationserfolg mit einer Bleibeperspektive für die Flüchtlinge war somit eine Verlängerung des humanitären Engagements in Südostasien, und der durch den bürokratischen Vorgang in Frankreich gesicherte Aufenthaltsstatus war die Grundlage für den Integrationserfolg. Im Rahmen der Analyse der übergeordneten Frage nach dem Einfluss von Menschenrechten und humanitärem Aktivismus auf den Aufnahmeprozess in Frankreich liegt zugleich ein Fokus auf der Diskrepanz zwischen einem Staat und Nichtregierungsorganisationen, wobei Letztere laut dem Rechtshistoriker Samuel Moyn die Verteidiger genuiner, vom Staat abgekoppelter Menschenrechte sind.11 Des Weiteren wird das anhand dieses Prozesses sichtbar werdende Spannungsfeld zwischen einem Menschenrechtskanon, der darauf abzielt, die individuellen Freiheiten und Naturrechte zu sichern, und Nationalstaaten, die die Bevölkerungsentwicklung steuern, den Zuzug auf ihr Territorium kontrollieren und letztlich auch das Recht auf Asyl nach

9 10 11

Michael Barnett: Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca, London: Cornell University Press 2011, S. 16. Lynn Hunt: Inventing Human Rights. A History, New York: Norton 2007. Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge/MA, London: Harvard University Press 2010, S. 120–175.

Einleitung

eigenen Gesetzen vergeben können, beleuchtet. Dieses Spannungsfeld aus Flucht, Aufnahme und Asylrecht zeigt sich auch bei der Untersuchung der südostasiatischen respektive der kambodschanischen Flüchtlingsmigration nach Frankreich, auch wenn mit diesem Beispiel ein geradezu wohlwollender Fall französischer Flüchtlingspolitik im Mittelpunkt dieses Buches steht. Durch die Einbettung dieses Falls in die Forschung der neuen Menschenrechtsgeschichte sowie die Geschichte des Humanitarismus wird die kambodschanische Flüchtlingsmigration unter einem neuen Aspekt untersucht. Denn angenommen, dass es in den 1970er Jahren zu einem universellen Durchbruch der Menschenrechte kam, als zivilgesellschaftliche Organisationen Menschenrechte und deren Einhaltung als politisches Aktionsfeld entdeckten, wie Vertreter und Vertreterinnen der neuen Menschenrechtsgeschichte behaupten, dann müsste dieses Phänomen auch auf der Ebene der Flüchtlingsaufnahme zu beobachten sein.12 Doch das Beispiel der kambodschanischen Flüchtlingsmigration nach Frankreich in den 1970er und 1980er Jahren zeigt, dass Menschenrechtsdiskurse und die republikanische Asyltradition Frankreichs zwar eine wichtige Wirkungsmacht im hier zur Diskussion stehenden Aufnahmeprozess waren und ihnen damit durchaus ein gewisser Einflussfaktor zugestanden werden kann. Aber es zeigt sich auch, dass die Menschenrechtsdiskurse bei Weitem noch nicht die Durchschlagskraft hatten, die sie in anderen Fällen im Kampf gegen diktatorische Gewalt, beispielsweise in Argentinien und Chile in den 1970er Jahren, erreichten. Darüber hinaus wirkten Menschenrechtsdiskurse in Frankreich nur im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, wie der Bedeutung der nationalstaatlichen Souveränität oder den innenpolitischen Auseinandersetzungen, einer starken intellektuellen antitotalitären Wende sowie der eigenen Kolonialvergangenheit und damit verknüpften rassistischen Denkmustern. Dementsprechend entschlüsselt sich der hier untersuchte Aufnahmeprozess nur durch das komplexe Zusammenspiel dieser diversen Charakteristiken.

12

Siehe: ebd; Samuel Moyn/Jan Eckel (Hg.): The Breakthrough. Human Rights in the 1970s, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2013. Ebenfalls auf Deutsch erschienen: Jan Eckel/Samuel Moyn (Hg.): Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2012.

15

16

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Die kambodschanische Flüchtlingsmigration nach Frankreich und der Beitrag zur französischen Flucht- und Asylgeschichte Keine der bisherigen Darstellungen zur südostasiatischen, genauer zur kambodschanischen Flüchtlingsmigration nach Frankreich untersuchte das Phänomen der Flucht durch das Prisma der neuen Menschenrechtsgeschichte.13 Doch die Verknüpfung ist insbesondere mit Blick auf die nationalstaatlichen Asyltraditionen Frankreichs interessant. Sie entstand nach der Französischen Revolution, als der Nationalkonvent mit Artikel 120 der Verfassung von 179314 ein nationalstaatliches Recht auf Asyl verfasste, basierend auf der Idee, dass die Republik all jenen offensteht, die aufgrund ihres Kampfes für die Freiheit (liberté) aus ihrer eigenen Heimat fliehen mussten. Die französische Historikerin Delphine Diaz geht in ihrer Arbeit über die säkularen Ursprünge dieser

13

14

Folgende Dissertationen und Aufsätze haben einen Schwerpunkt auf sozio-kulturellen Fragestellungen: Jean-Claude Duclos/Olivier Cogne (Hg.): Face au genocide du Cambodge à l’Isère, Isère: Musée de la Résistance et de la déportation de l’Isère 2008; Karine Meslin: Les réfugiés cambodgiens de la région des Pays de la Loire. Étude ethnographique d’une immigration de »bonne réputation«. Dissertation, Nantes 2004; Stéphanie Nann: Les Cambodgiens en France et aux États-Unis. Une étude comparée des stratégies d’acculturation avec la satisfaction de vie et l’estime de soi. Dissertation, Amiens 2005; Ida Simon-Barouh: Cheminements cambodgiens, hmong, lao, vietnamiens, in: Hommes et Migrations 1234 (2001), S. 5–13. Die These, dass die kambodschanische Gemeinschaft in Frankreich »unsichtbar« sei, da kaum Geschäfte und Restaurants als kambodschanisch ausgewiesen werden, wurde von Prak-Vath formuliert: Prak-Vath: Les difficultés recontrées par les réfugiés cambodgiens pour leur installation en France (mémoire sur l’intégration des réfugiés cambodgiens en France et particulièrement à Lyon de 1975 à 1985). Thèse de 3e cycle, Paris 1992. Auch Gea Wijers griff diese These auf und untersuchte die Ursprünge in der Geschichte der Aufnahme: Gea Wijers: The Reception of Cambodian Refugees in France, in: Journal of Refugee Studies 24, 2 (2011), S. 239–255. Der Psychologe Richard Rechtman untersuchte vor allem den Aspekt des Traumas von Überlebenden der Roten Khmer: Richard Rechtman: Stories of Trauma and Idioms of Distress. From Cultural Narratives to Clinical Assessment, in: Transcultural Psychiatry 37, 3 (2000), S. 403–415; Richard Rechtman: The Survivor’s Paradox. Psychological Consequences of the Khmer Rouge Rhetoric of Extermination, in: Anthropology & Medicine 13, 1 (2006), S. 1–11. Die Verfassung trat allerdings nie in Kraft. Siehe auch: Delphine Diaz: Un asile pour tous les peuples? Exilés et réfugiés étrangers en France au cours du premier XIXe siècle, Paris: Armand Colin 2014; Greg Burgess: Refuge in the Land of Liberty. France and its Refugees, from the Revolution to the End of Asylum, 1787–1939, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008.

Einleitung

Idee sogar so weit zu schreiben, dass der Mythos der besagten Tradition – also einer Nation, deren Türen für Flüchtlinge jeder Herkunft buchstäblich offen stehen – auch heute noch wirksam sei, was sie an den ungebrochen hohen Antragszahlen beim Office français de protection des réfugiés et apatrides (OFPRA) festmacht.15 Als republikanisches Ideal wurde die Idee Frankreichs als Terre d’Asile offiziell von allen Regierungen – egal, welchem politischen Lager sie angehörten – mitgetragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg – auch Frankreich hatte seine Grenzen wie andere europäische Länder für Flüchtlinge geschlossen – kehrte die Republik 1946 unter anderen Vorzeichen zu ihrem Asylideal zurück, indem es in die Präambel der Verfassung der Vierten Republik aufgenommen wurde. Das Narrativ der Terre d’Asile, aus denen sich Rechte für Flüchtlinge ableiteten, geriet ab den 1980er Jahren immer stärker unter Druck, als sich auch der politische Umgang mit Asyl veränderte. Die ab diesem Zeitpunkt in Frankreich einsetzenden Diskussionen über die Abkehr von der Asyltradition spiegelten diese Veränderungen. Der dezidierte Fokus auf Menschenrechtsdiskurse – die als republikanisches Ideal Frankreichs seit der Französischen Revolution eine wichtige Position auch für die Asyltradition einnehmen – kann die französische Asylgeschichte allerdings weiter nuancieren. Darüber hinaus engagierten sich sowohl die konservative Regierung während der Präsidentschaft von Valéry Giscard d’Estaing als auch die linke Regierung während der Präsidentschaft von François Mitterrand und während der cohabitation mit Mitterrand als Präsident und Jacques Chirac als Premierminister für die Menschen aus Kambodscha, Vietnam und Laos. Zeitgleich schränkten alle diese Akteure das französische Asylrecht ein, was sich unter anderem in einer immer höheren Quote von abgelehnten Asylanträgen anderer Nationalitäten äußerte. Anhand dieses historischen Moments treten zwei Aspekte deutlich hervor. Erstens zeigt sich, welche Diskurse, Faktoren und Voraussetzungen für die Flüchtlingsaufnahme in Zeiten einer Abkehr von der Asyltradition verantwortlich waren und in welchem Verhältnis das Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge zu diesen Entwicklungen stand. Zweitens kann bei einer genauen Betrachtung gezeigt werden, dass auch das Beispiel der südostasiatischen Flüchtlingsaufnahme nur eingeschränkt eine Ausnahme vom Trend der Abkehr von der Asyltradition in Frankreich darstellte, da sich auch die südostasiatischen Flüchtlinge mit steigenden rassistischen Tendenzen konfrontiert sahen und die Regierung unter Giscard d’Estaing und 15

D. Diaz: Un asile pour tous les peuples?, S. 7.

17

18

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

dem Premierminister Raymond Barre ihr Engagement schon Ende der 1970er Jahre wieder einschränken wollte. Ein Trend, der sich nach dem Wahlsieg Mitterrands und dem folgenden Regierungswechsel 1981 noch verstärkte. Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit der staatlichen Mobilisierung für die Flüchtlinge auch die Tatsache, dass eine konservative Regierung den Beginn der Aufnahme einleitete. Widerstand gegen das Engagement kam wiederum aus einem Teil des linken politischen Spektrums, insbesondere von der Französischen Kommunistischen Partei (Parti communiste français, PCF). Dies scheint gängigen Denkmustern über Flucht und Aufnahme zu widersprechen, die eine Mobilisierung für Flüchtlinge vor allem in einem linken politischen Spektrum verorten.16 Die Gründe für diese Mobilisation von rechts lagen zum einen in den innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Sozialisten und Konservativen in Frankreich, zum anderen in der kolonialen Vergangenheit und ihrer erinnerungspolitischen Verarbeitung sowie zum dritten in der Verortung der südostasiatischen Flüchtlingsmigration in der Logik des Kalten Krieges. Im Rahmen der französischen Flüchtlingsgeschichte wird am Fall der kambodschanischen Flüchtlingsaufnahme deutlich, inwieweit gängige Denk- und Analysemuster zu kurz greifen können.

Menschenrechte und nationalstaatliche Grenzen – eine Geschichte ohne Ende Historisch neu war die Verbindung von Menschenrechten, Asyl und Flüchtlingen in den politischen Debatten seit Mitte der 1980er Jahre und stärker noch Ende der 1980er Jahre nicht. Daraus folgt, dass die Verortung eines »Durchbruchs der Menschenrechte«17 nicht zielführend ist. Vielmehr sollten Untersuchungen, die die Genese der Menschenrechte über mehrere Jahrzehnte im 20. Jahrhundert betrachten und damit Traditionslinien und Brüche aufzeigen, im Vordergrund stehen.18 Denn schon Hannah Arendts berühmtes Werk »The Origins of Totalitarianism«19 zeigt die Verbindung von Menschenrechten, Asyl und Nationalstaaten deutlich. Darin schrieb die

16 17 18 19

K. Meslin: Accueil des boat people. S. Moyn/J. Eckel (Hg.): The Breakthrough. Ebenso: Philipp Kandler: Neue Trends in der »neuen Menschenrechtsgeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 45, 2 (2019), S. 297–319, hier S. 311. Die deutsche Übersetzung von »The Origins of Totalitarianism« erschien 1955 unter dem Titel »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«.

Einleitung

jüdisch-deutsche, später US-amerikanische Publizistin nach dem Zweiten Weltkrieg über die hoffnungslose Situation der Flüchtlinge und Staatenlosen des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Ihr Werk, dessen Bände ab 1951 auf Französisch veröffentlicht wurden, das aber interessanterweise in Frankreich erst in den 1970er Jahren im Rahmen der antitotalitären Wende französischer Intellektueller seinen Durchbruch erlebte, führt die Universalität von Menschenrechten in der politischen Praxis ad absurdum.20 Arendt, die selber hatte fliehen müssen und zudem mit Blick auf die Macht von Nationalstaaten eine Skeptikerin der Menschenrechtsidee war, ging im Kapitel »Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte« auf die Entrechtung der vor allem jüdischen Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs ein und erörterte, wie das Asylrecht, das sie über die sakrale Tradition der Antike hinausgehend als grundlegendes Recht verstand, an der nationalstaatlichen Souveränität zerbrach. Dazu verwies sie auch auf historische Vorläufer, indem sie das Problem der Minderheiten und Staatenlosen vor und während des Ersten Weltkriegs erläuterte: »In gewisser Weise bedeutete die Verwandlung der Flüchtlinge in Staatenlose, die in dem Augenblick automatisch vonstatten ging, als nicht mehr einzelne, verfolgte Individuen über die Grenze kamen, sondern ganze Volkssplitter, den Zusammenbruch des Asylrechts. Flüchtlinge kennt die europäische Welt seit der Antike, und das Asylrecht galt als heilig seit den frühesten Anfängen politischer Organisationen.«21 Die Entrechtung ganzer Gruppen von Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts führte Arendt direkt auf die Grundlagen moderner Nationalstaatlichkeit zurück. Denn erst die modernen Nationalstaaten mit ihren auf Staatszugehörigkeit basierenden Rechtsprechungen (nur Staatsbürger und -bürgerinnen sind Rechtspersonen) und ihrer Beharrung auf territorialer Souveränität konnten Minderheiten, Flüchtlinge und Gruppen, die keinem Staat zugehörig waren, auf ihre Naturrechte reduzieren. Allerdings konnten die betroffenen Menschen ihre Naturrechte nirgends einfordern, wenn sie staatenlos waren oder ihr Staat diese Rechte nicht garantieren konnte oder wollte, wodurch es eine »Aporie der Menschenrechte« gab, wie Arendt in ihrem letzten Abschnitt erläuterte.

20

21

Vgl. hierzu: Justine Lacroix/Jean-Yves Pranchère/Gabrielle Maas: Human Rights on Trial. A Genealogy of the Critique of Human Rights, Cambridge, New York: Cambridge University Press 2018. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Imperialismus (= Band 2), München: Piper 1986, S. 451–452.

19

20

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Die Bedeutung der Differenz zwischen staatlichem Asylrecht und Menschenrechten, die jeder Mensch qua des Menschseins besitzt, beschrieb Arendt daraufhin folgendermaßen: »Daß dieses Asylrecht innerhalb einer nationalstaatlich organisierten Welt kein Recht mehr war, sondern nur auf Duldung beruhte, die ihrerseits auf Sitten und Traditionen, aber keineswegs auf die Proklamation der Menschenrechte zurückging, hätte man vielleicht schon daran erkennen können, daß es als geschriebenes Gesetz in keiner modernen Konstitution […] zu finden ist. […] Das Asylrecht gerät also dauernd mit den internationalen Rechten der Staaten in Konflikt, die in keiner Domäne souveräner sind, als wo es sich um ›Emigration, Naturalisation, Nationalität und Ausweisung‹ handelt.«22 Die Tatsache, dass eine nationalstaatlich organisierte Welt ein Recht auf Asyl nicht in Verfassungen und Gesetze übersetzte, sondern dass Staaten dieses Recht weiterhin einzig auf Basis von »Duldung« vergaben, zeigt laut Arendt, dass das »Recht, Rechte zu haben«23 , an der Erfindung des Nationalstaates und seiner bürgerlichen Rechte, die alle jene, die keine Staatsbürger und Staatsbürgerinnen sind, ausschließen, zerbrach. In der Folge stand das Recht auf Asyl in einem ständigen Konflikt mit der staatlichen Souveränität über Zuzug, Naturalisation und Ausweisung. Insbesondere in der historischen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Diskrepanz von Staat, Flüchtlingen, Zivilgesellschaft, humanitären Empathie- und Menschenrechtsdiskursen soll diese Arbeit zeigen, wie sich unser heutiges Verständnis von Flüchtlingen, Asyl und Menschenrechten entwickelte und welche Charakteristiken diese Debatte in ihren früheren Stadien maßgeblich in Frankreich aufwies, um darüber Grundlagen für eine heutige kritische Auseinandersetzung mit staatlicher Flüchtlingsaufnahme in Europa,24 insbesondere im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), zu bieten. Die Bedeutung von Na22 23

24

Ebd. Für eine übersichtliche Analyse dieses berühmten Satzes aus Arendts Werk siehe: Stephanie DeGooyer/Alastair Hunt/Lida Maxwell/Samuel Moyn: The Right to Have Rights, London, New York: Verso 2018. Als Europa werden in diesem Buch vorrangig die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft bis zum Vertrag von Maastricht 1992 bezeichnet. Darüber hinaus wird an einigen wenigen Stellen auf die politischen und geografischen Entwicklungen der Europäischen Union seit 1992 verwiesen. Diese Unterscheidung ist kenntlich gemacht worden.

Einleitung

tionalstaaten und Grenzen scheint in heutiger Zeit wieder an Bedeutung zu gewinnen, und das nicht nur für Fälle von Flüchtlingsaufnahme. Zugleich gibt es einen wachsenden Aktivismus gegen die Abschottungspolitik von Regierungen und Erhöhung von Grenzbarrieren. Dabei wird sowohl von Aktivisten und Aktivistinnen als auch von Flüchtlingen auf grundlegende (Menschen-)Rechte von Flüchtlingen verwiesen. Erkenntnisse über die Ursprünge dieser Diskrepanz und des daraus erwachsenden Kampfes für mehr Rechte sind notwendig für eine fundierte Debatte und tragen darüber hinaus auch zur Auseinandersetzung in einem größeren Kontext bei, die sich aus der ethischen Frage speist, ob Menschen an sich einen Wert besitzen oder ob erst der staatliche Verband ihnen einen Wert und Rechte gibt.25 Hierbei handelt es sich um eine zentrale Frage für die Idee der Menschenrechte. Denn so, wie der britische Philosoph Raymond Geuss durchaus provokant davon schreibt, dass es sich bei Menschenrechten aufgrund der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit letztlich um »weiße Magie«26 handele, geht es gerade beim Kampf von Flüchtlingen für ihre Menschenrechte und das Recht auf Asyl zentral um die Frage, welche supranationale Institution, welcher Staat oder welche Zivilgesellschaft diese Rechte letztlich durchsetzen kann und will. Zugleich soll dieses Buch keine Apologie eines universellen Gültigkeitsanspruches der Menschenrechte sein. Dieser Universalitätsanspruch, wie er vor allem in westlichen Staaten gepflegt wurde, kam im Zusammenhang mit politischen Auseinandersetzungen, vor allem während des Kalten Krieges, immer stärker in die Kritik. Die Kritiker und Kritikerinnen verweisen darauf, dass Staaten Menschenrechte als machtpolitische Instrumente verwenden und wie deutlich Menschenrechte, die aus den aufklärerisch-liberalen Denktraditionen der frühen Neuzeit entstanden sind, kulturell und historisch verankert sind. Auch die Frage, ob Menschenrechte mit ihrer aus der westlich-liberalen Denktradition entstandenen Priorisierung von individuellen Rechten und individueller Selbstverwirklichung tatsächlich wichtiger sind als Denktraditionen, die kollektive Rechte und den Vorrang eines Kollektivs betonen, wurde

25

26

Vgl. hierzu auch die kritischen Reflexionen zur sozialwissenschaftlichen Fluchtforschung von Olaf Kleist, insbesondere den Abschnitt zu »Ethik und Politik«: Olaf Kleist: Über Flucht forschen. Herausforderungen der Flüchtlingsforschung, in: PERIPHERIE 35, 138/139 (2015), S. 150–169. Raymond Geuss: History and Illusion in Politics, Cambridge: Cambridge University Press 2001, S. 144.

21

22

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

und wird im Rahmen von Außenpolitik kontrovers diskutiert.27 Insbesondere Staaten, deren Politik mit Verweis auf Menschenrechtsverletzungen an ihrer Bevölkerung durch andere, meist westliche Staaten kritisiert wurde, verwahrten sich gegen diese Einmischung häufig mit dem Argument, dass die Menschenrechte keinen universellen Wert hätten, da sie aus einem sehr spezifischen eurozentrischen Kontext entstanden seien.28 Eine normative Beantwortung der Frage, ob die Menschenrechte eine universelle Reichweite besitzen oder besitzen sollten, ist nicht Ziel dieses Buches.29 Vielmehr soll anhand des untersuchten Falls eine westeuropäische Demokratie und deren Asyl- und Migrationspolitik in der Umbruchzeit vor dem Ausbau der Europäischen Gemeinschaft (EG) zur »Festung Europa« in den Blick genommen werden, um die historische Genese heutiger Politiken und Debatten besser zu verstehen. Insbesondere mit Blick auf die seit 2015 intensivierten Debatten um Menschenrechte, Flüchtlingsaufnahme und Seenotrettung auf dem Mittelmeer zeigt sich, dass die Universalität der Menschenrechte auch heute noch in den westlichen Staaten Europas an politische Grenzen stößt.30

27

28

29

30

Udo Di Fabio: Menschenrechte in unterschiedlichen Kulturräumen, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hg.): Gelten Menschenrechte universal? Begründung und Infragestellung, Freiburg i.Br.: Herder 2008, S. 63–97. Heiner Bielefeldt: Menschenrechte – Universaler Normenkonsens oder eurozentrischer Kulturimperialismus?, in: Manfred Brocker/Heino Nau (Hg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 256–268. Für einen Überblick zu den philosophischen, sozialtheoretischen und juristischen Debatten auf dem Gebiet der Menschenrechte siehe u. a.: Costas Douzinas/Conor Gearty (Hg.): The Meanings of Rights. The Philosophy and Social Theory of Human Rights, Cambridge: Cambridge University Press 2014; Rowan Cruft/S.M. Liao/Massimo Renzo (Hg.): Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford: Oxford University Press 2015; Stephen Hopgood/Jack Snyder/Leslie Vinjamuri (Hg.): Human Rights Futures, Cambridge: Cambridge University Press 2017. Mark Siemons: Der nackte Mensch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.03.2016, ht tps://www.faz.net/aktuell/feuilleton/menschenrechte-in-der-fluechtlingskrise-ein-p aradox-14132626.html (zuletzt geprüft am 01.08.2022); Fabienne Brugère/Guillaume Le Blanc: La fin de l’hospitalité. Lampedusa, Lesbos, Calais … jusqu’où irons-nous?, Paris: Flammarion 2017.

Einleitung

Zum Inhalt dieses Buches Das Engagement französischer humanitärer Aktivisten und Aktivistinnen, insbesondere der Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF), und französischer Intellektueller war für die Flüchtlingskrise in Südostasien bezeichnend. Diese Akteure nutzten humanitäre Diskurse und Menschenrechtsnarrative, um den französischen Staat zu höheren Aufnahmezahlen zu drängen. Ihr Aktivismus und die mediale Verarbeitung der Vorgänge in Südostasien wird im ersten Kapitel untersucht, um einerseits zu zeigen, wie sich dieses Engagement auf den Aufnahmeprozess auswirkte, aus welchen Bedingungen heraus sich der Einsatz für die Flüchtlinge ergab, und vor allem, um die Mechanismen einer empathiegeleiteten Wahrnehmung der Flüchtlingsfigur sichtbar zu machen. Hierzu wird die Visualisierung der Krise analysiert, durch die sich ein neuer Typus des »Flüchtlings« prägte. Denn die Darstellung des Elends der Menschen in Südostasien verband sich mit der Vorstellung dessen, was einen vrai réfugié (echten Flüchtling) charakterisierte – eine Person, die aus dem humanitären Elend einer Krise in der sogenannten Dritten Welt kam und deshalb Anrecht auf Asyl hatte.31 Dies bildete insbesondere in Frankreich einen Kontrast zum vorherigen Archetypus des ›Flüchtlings‹, einem Intellektuellen, der sein Land aufgrund von Auseinandersetzungen mit staatlichen Machthabern und seinem Einsatz für Freiheitsrechte verlassen musste. Zugleich handelte es sich bei diesen für die Aufnahme so wirksamen Diskursen tatsächlich nicht um originäre Rechtsdiskurse, die den Flüchtlingen ein Recht auf Asyl zusprachen, sondern es handelte sich vorrangig um humanitäre Empathiediskurse, die einen Einfluss auf die staatliche Willensbildung hatten – tatsächliche, durch die Zivilgesellschaft als politisches Druckmittel genutzte (Menschen-)Rechtsdiskurse mit Blick auf Flüchtlingsaufnahme hielten in Europa maßgeblich in den späten 1980er Jahren Einzug, als die Staaten der EU begannen, ihre Außengrenzen gemeinsam abzuschotten. Der Fokus im ersten Kapitel auf Bedingungen und Gründe für das zivilgesellschaftliche Engagement humanitärer Aktivisten und Intellektueller soll auch dazu beitragen, ein teleologisches Narrativ zu dekonstruieren, indem diese Untersuchung durch die Betonung von historischen Kontingenzen aktivistischer Diskurse eben nicht auf ein programmatisches Endziel – die 31

Jean-Pierre Masse: L’exception indochinoise. Le dispositif d’accueil des réfugiés politiques en France, 1973–1991. Dissertation, Paris 1996, S. 243–244.

23

24

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

universelle und globale Achtung von Menschenrechten – zugespitzt wird. Denn in der Menschenrechtsgeschichte wurde wiederholt kritisiert, dass viele Werke in einer teleologischen Art die »kaskadenhafte Ausweitung«32 der Menschenrechte propagieren. Solche teleologischen Narrative33 tendieren dazu, Brüche oder Wechselwirkungen zu übersehen. Stattdessen müssen Menschenrechte als ein »historisch kontingenter«34 und politisch umkämpfter Raum, dessen Sprache »flexibel und verhandelbar«35 ist, betrachtet werden.36 Durch diese Sprache kann ein Mensch sich verteidigen, verteidigt werden oder ein Recht auf Rechte geltend machen. Daran anschließend zeigt sich, dass auch die Frage der Universalität letztlich Teil politischer Kämpfe um Diskurshoheiten ist.37 Insbesondere der Blick auf Flüchtlingsaufnahme und Asyl unterstreicht dieses historisch kontingente Verständnis von Menschenrechten als Feld politischer Kämpfe, da die Situation des Asylrechts in den Staaten der EU seit 2014 bis in die Gegenwart mehr als deutlich zeigt, wie stark der politische Kampf um diese Rechte noch immer geführt wird. Zentral für die Aufnahme der Flüchtlinge blieb über den gesamten Zeitraum der französische Staat mit seinen wechselnden Regierungen und seinem bürokratischen Apparat. Die Entscheidung, ob überhaupt und wie viele Flüchtlinge nach Frankreich geholt wurden, lag bei den französischen Regierungen, und die Umsetzung des Vorgangs wurde vom bürokratischen Apparat geleistet, wie im zweiten und dritten Kapitel gezeigt wird. Die Flüchtlinge konnten tatsächliche, durch den Nationalstaat garantierte Rechte, auch 32 33

34

35 36 37

L. Hunt: Inventing Human Rights, S. 214. Paul Gordon Lauren: The Evolution of International Human Rights. Visions Seen, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1998; L. Hunt: Inventing Human Rights; Micheline R. Ishay: The History of Human Rights. From Ancient Times to Globalization Era, Berkeley: University of California Press 2004; Aryeh Neier: The International Human Rights Movement. A History, Princeton: Princeton University Press 2012. Stefan-Ludwig Hoffmann: Zur Kontingenz der Menschenrechte. Replik auf Udo Di Fabio, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hg.): Gelten Menschenrechte universal?, S. 204–212. Stephen Hopgood: The Endtimes of Human Rights, Ithaca: Cornell University Press 2013, S. IX. Vgl. hierzu auch: Patrice G. Poutrus: Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin: Ch. Links Verlag 2019. Auch Itamar Mann sieht politische Kämpfe um Rechte als notwendige Vorläufer für die Etablierung von Menschenrechten. Siehe: Itamar Mann: Humanity at Sea. Maritime Migration and the Foundations of International Law, New York: Cambridge University Press 2016, S. 58–59.

Einleitung

ein staatliches Recht auf Asyl, erst wiedererlangen, nachdem sie die bürokratischen Prozesse in Frankreich durchlaufen hatten. Somit war die Durchsetzung ihrer Rechte letztlich nur über den Nationalstaat und seine Bürokratie möglich, und die Rechte waren gekoppelt an einen staatlichen Aufnahmewillen und die Erfüllung staatlicher Ordnungskategorien. Die Diskrepanz zwischen Menschenrechten als universellem Wert und der territorialen Souveränität moderner westlicher Nationalstaaten lässt sich daher anhand von Fällen der Flüchtlingsaufnahme – auch bei positiv konnotierten Fällen – sehr gut analysieren. Darüber hinaus zeigt sich durch die weiteren Untersuchungsebenen im zweiten Kapitel, inwieweit Humanitarismus- und Menschenrechtsdiskurse neben, im Austausch mit oder in Konkurrenz zu anderen Faktoren tatsächlich eine Wirkungsmacht auf die nationale politische Ausrichtung Frankreichs in der Flüchtlingsaufnahme aus Südostasien besaßen. Denn die originär französische republikanische Asyltradition des Landes, seine koloniale Vergangenheit sowie die innenpolitischen Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund einer deutlichen antitotalitären Wende und eines Aufstiegs der linken Kräfte in Frankreich in den 1970er und 1980er Jahren hatten eine zentrale Bedeutung für die wohlwollende Aufnahme der Flüchtlinge. Die Geschichte der Entwicklung von Humanitarismus- und Menschenrechtsideen wird dadurch zugleich mit politikhistorischen oder kolonialhistorischen Untersuchungsergebnissen verknüpft. Beispiele von Flüchtlings- und Asylgeschichte sind auch mit Blick auf die vor allem von Samuel Moyn aufgeworfene Periodisierungsfrage der Menschenrechtsgeschichte interessant, wie ebenfalls im zweiten Kapitel gezeigt wird. Denn der Blick auf Flüchtlinge, Asyl und Menschenrechtsdiskurse offenbart, dass die Verflechtung dieser drei Narrativstränge in den 1970er Jahren, in denen Moyn den »Durchbruch der Menschenrechte«38 verortet, noch nicht sehr ausgeprägt war. Insbesondere in der EG, die durch den Prozess der gemeinsamen Außengrenzen und Freizügigkeit innerhalb der Mitgliedsstaaten begann, ihre Flüchtlingspolitik zu konvergieren, was schließlich in das Dublin-Abkommen von 1990 mündete, stärkten zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen parallel dazu die zivilgesellschaftliche Verhandlung von Flucht, Asyl und Menschenrechtsideen. Der Beginn der Abschottung der westeuropäischen Grenzen, die unter anderem in Frankreich Anfang bis Mitte der 1980er Jahre begann, sowie die gleichbleibend hohen Zahlen von Fluchtbewegungen wirkten dementsprechend wie ein Katalysator dafür, dass zivilge38

S. Moyn/J. Eckel (Hg.): The Breakthrough.

25

26

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

sellschaftliche Organisationen anfingen, Diskurse in die westeuropäischen Gesellschaften hineinzutragen, die das Narrativ von Asyl als Menschenrecht verhandelten. Aus diesem verknüpften Narrativ wurde im Zusammenhang mit dem Ausbau der »Festung Europa«39 einer der prägnantesten politischen und sozialen Kämpfe dieser Zeit – sowohl für die Nationalstaaten als auch für die EU. Dadurch werden die Feststellungen des Historikers Stefan LudwigHoffmann gestützt, der einen Durchbruch der Menschenrechte erst in den 1990er Jahren verortet und in diesem Zusammenhang ebenfalls mit den Veränderungen im Umgang mit Flüchtlingen argumentiert.40 Allerdings muss weiterhin betont werden, dass Menschenrechte in diesem Kontext parallel, in Konkurrenz und in Ergänzung zu anderen Rechtsdiskursen existieren. Dadurch zeigt sich ebenfalls, dass es nicht zielführend ist, den »Durchbruch der Menschenrechte« an einem spezifischen Zeitpunkt festzumachen, sondern dass der Schwerpunkt der Menschenrechtsgeschichte deutlicher auf den multiplen und langfristigen Prozessen liegen sollte, in denen Menschenrechtsdiskurse gegebenenfalls nur einen Baustein von vielen Diskurselementen in politischen Kämpfen darstellen.41 Ein Blick auf die lange republikanische Asyltradition in Frankreich wird die Rolle der Menschenrechtsdiskurse daher in eine langfristige historische Perspektive einbetten. Für die Durchführung des Aufnahmeprozesses in Frankreich war der Staat auf seine Behörden, insbesondere das OFPRA angewiesen. Hier wurde den Menschen aus Südostasien der Flüchtlingsstatus zuerkannt – meistens eine reine Formalität –, der Personenstand erhoben und die Unterlagen für die Naturalisation bereitgestellt, sofern die Flüchtlinge die französische Staatsbürgerschaft annehmen wollten. Im dritten Kapitel wird daher das Wirken von Ordnungskategorien für die Aufnahme und die Arbeit des OFPRA analysiert. Dabei zeigt sich sehr deutlich, dass das OFPRA auf Basis der politischen Ordnungskategorien der vrais réfugiés und faux réfugiés den ankommenden Menschen aus Südostasien im Grunde größtenteils keinen Flüchtlingsstatus zuerkannt hätte, wenn es nicht eine staatliche Anweisung zur Aufnahme gege39 40

41

David Scott FitzGerald: Refuge beyond Reach. How Rich Democracies Repel Asylum Seekers, New York: Oxford University Press 2019, S. 161–191. Stefan-Ludwig Hoffmann: Human Rights and History, in: Past & Present 232, 1 (2016), S. 279–310, hier S. 302. Als Repliken zu Hoffmanns Aufsatz siehe auch die sehr guten Diskussionsbeiträge von Moyn und Hunt: Samuel Moyn: The End of Human Rights History, in: Past & Present 233, 1 (2016), S. 307–322; Lynn Hunt: The Long and the Short of the History of Human Rights, in: Past & Present 233, 1 (2016), S. 323–331. Genauso: P. Kandler: Neue Trends Menschenrechtsgeschichte, S. 311.

Einleitung

ben hätte. Natürlich begründete sich diese Abwehr des OFPRA unter anderem aus dem Bedeutungsverlust im Aufnahmevorgang, es zeigt aber zugleich ganz deutlich, wie leicht staatliche Ordnungskategorien ausgesetzt wurden, wenn es den staatlichen Willen dazu gab. Dies bedeutet aber nicht, dass andere Kategorien gar keine Bedeutung mehr hatten. Sie waren weiterhin mit Blick auf die Administration der Flüchtlinge und den Anspruch auf Leistungen wirksam, da nur die Eruierung des Personenstandes alle weiteren administrativen Schritte ermöglichte und letztlich staatlich garantierte Rechte und Leistungen nach sich zog. Auch das Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und Staat wird im dritten Kapitel untersucht, um die Mehrschichtigkeit der Aufnahme zu zeigen. Dabei stellt sich heraus, dass der Aufnahmeprozess durch Kooperation und Reibungen zwischen Zivilgesellschaft und Staat gekennzeichnet war und sich durch diese Wechselwirkungen letztlich die Aufnahme der Flüchtlinge gestaltete. Diese Ergebnisse widersprechen der üblichen Betonung eines rechtsphilosophischen Dualismus42 zwischen Staaten und Zivilgesellschaft in der bestehenden Literatur der Menschenrechtsgeschichte. Daher ist es im Rahmen dieses Buches geboten, diesen Dualismus zu nuancieren und im dritten Kapitel die Wechselwirkungen zwischen Staat und zivilgesellschaftlichen Akteuren aufzuzeigen.43 Daran schließt sich die Frage nach dem notwendigen Abstraktionsniveau dieser Untersuchung an. Viele Studien der Menschenrechtsliteratur wählten – bewusst oder unbewusst – einen globalhistorischen Ansatz, um das Argument eines Durchbruchs der Menschenrechte – teilweise auch ihres

42

43

Siehe beispielsweise: S. Moyn/J. Eckel (Hg.): The Breakthrough; Stefan-Ludwig Hoffmann: Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein Verlag 2010, S. 7–37; Akira Iriye: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 2002; Mary Ann Glendon: A World Made New. Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights, New York: Random House 2002; Mark Mazower: The Strange Triumph of Human Rights, 1933–1950, in: The Historical Journal 47, 2 (2004), S. 379–398. Auch Annette Weinke betont, dass diese Wechselwirkungen stärker im Fokus der Forschung stehen sollten: Annette Weinke, Vom ›Nie wieder‹ zur diskursiven Ressource. Menschenrechte als Strukturprinzip internationaler Politik seit 1945, in: Norbert Frei/ Annette Weinke (Hg.): Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 12–39, hier S. 19–20.

27

28

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

universellen Geltungsbereiches – über den Verweis auf die räumliche Ausdehnung zu stützen. In diesem Zusammenhang lassen sich Studien nennen, die die Ausbreitung von globalen Menschenrechtsideen in unterschiedlichen regionalen Kontexten beziehungsweise die Einflüsse dieser regionalen Kontexte auf globale Diskurse analysieren oder die Menschenrechtsdiskurse als globales Phänomen untersuchen.44 In der globalen Abstraktion können jedoch historische Nuancen verloren gehen. Die Untersuchung, wie sich das Globale im Lokalen äußert und umgekehrt, ist in der Globalgeschichte eine schon lange geforderte Möglichkeit, dieser Falle aus dem Weg zu gehen.45 Die vorliegende Untersuchung leistet durch einen starken Fokus auf die lokalen Charakteristiken der Flüchtlingsaufnahme hierzu einen Beitrag, indem insbesondere im dritten Kapitel analysiert wird, in welcher Form sich globale Menschenrechtsdiskurse auf der lokalen Ebene wiederfanden und welche anderen Beweggründe, wie beispielsweise christlicher Glaube, für das lokale Engagement bedeutsam waren. Denn nur weil intellektuelle Eliten, Aktivisten und Aktivistinnen, Politiker und Politikerinnen Menschenrechtsdiskurse propagierten, musste sich dies nicht zwangsläufig in den Vorstellungen von in der Aufnahme engagierten Bürgern und Bürgerinnen spiegeln. Dementsprechend werden, ausgehend vom französischen Beispiel, unterschiedliche Ebenen der Analyse – global, national und lokal – einbezogen, auch wenn der Schwerpunkt in diesem Buch auf der nationalen und lokalen Ebene liegt, um die innerstaatlichen Dynamiken in der Flüchtlingshilfe abbilden zu können. Eng verflochten mit diesem Beispiel von Flüchtlingsaufnahme in Frankreich sind Fragen nach der Prägungskraft rassistischer Denkmuster für die Kategorie des legitimen Flüchtlings, wie im vierten Kapitel nachgezeichnet wird. Denn die französische Asyl- und Migrationsgeschichte stellte bereits dar, dass die postkoloniale Migrationsgeschichte Frankreich, das vor allem 44

45

Siehe u. a.: Jennifer Amos: Unterstützen und Unterlaufen. Die Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948–1958, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Moralpolitik, S. 142–168; Patrick William Kelly: Sovereign Emergencies. Latin America and the Making of Global Human Rights Politics, Cambridge, New York: Cambridge University Press 2018; Lasse Heerten: The Biafran War and Postcolonial Humanitarianism. Spectacles of Suffering, Cambridge: Cambridge University Press 2017. Siehe hierzu: Anthony G. Hopkins, Introduction. Interactions between the Universal and the Local, in: Anthony G. Hopkins (Hg.): Global History. Interactions between the Universal and the Local, Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2006, S. 1–38; Michael Goebel: Anti-Imperial Metropolis. Interwar Paris and the Seeds of Third World Nationalism, Cambridge: Cambridge University Press 2015.

Einleitung

aufgrund seiner kolonialen Expansionen zum Einwanderungsland wurde, immer auch eine Geschichte des Rassismus ist.46 Auch im Fall der südostasiatischen Flüchtlingsaufnahme war die ehemalige Kolonialmacht in Indochina sowohl über Akteure und Akteurinnen als auch über ideelle Traditionslinien eng mit der Region, ihrer Geschichte und den politischen Entwicklungen vor Ort verflochten. Dies ist ein Spezifikum des französischen Fallbeispiels im internationalen Vergleich. Der Blick auf die langen kolonialen Traditionslinien offenbart, dass viele der Akteure und Akteurinnen sich gerade deshalb für die Flüchtlinge engagierten, weil sie aufgrund ihres biografischen Hintergrunds eine intensive Verbindung zum ehemaligen Indochina hatten und sich historisch verantwortlich fühlten. Außerdem verhandelten diese kolonialen Akteure und Akteurinnen auch sehr spezifische politische Narrative im Rahmen der Aufnahme. So verbanden sie mit der Hilfe für die Flüchtlinge antikommunistische und kolonialrevisionistische Vorstellungen, die sie gezielt mit einem Verweis auf humanitäre Notwendigkeiten verknüpften, um in Frankreich erinnerungspolitischen Einfluss zu erlangen. Im Zusammenhang mit solchen Traditionslinien muss auch auf einen über die untersuchten Akteure und Akteurinnen kolportierten Rassismus verwiesen werden, der auf eine paradoxe Art und Weise die Aufnahme beförderte, da globale und koloniale Narrative über »die Asiaten« aus den südostasiatischen Flüchtlingen Menschen machte, die sich perfekt in den französischen Arbeitsmarkt integrieren ließen. Daher ist es notwendig zu untersuchen, wie sich Rassismus – in diesem Fall vor allem von Akteuren und Akteurinnen mit engen biografischen Verbindungen zur französischen Kolonialzeit – in den Aushandlungsprozessen um die Flüchtlingsaufnahme und den Legitimationsprozess des vrai réfugié einschrieb, indem diese Rassismen bestimmte Wahrnehmungen von oder einen bestimmten Umgang mit den Flüchtlingen determinierten. Das Engagement von rechts, das die kolonialen Akteure in den Aufnahmeprozess hineintrugen, macht zugleich nochmal sehr deutlich, wie politisch und ideologisch breit die Engagierten in der Aufnahme aufgestellt waren. Dass es sich dabei aber um eine vollkommene Abkehr von jeder Ideologie bei einer gleichzeitigen Fokussierung auf den humanitären Imperativ handelte, lässt

46

Vgl.: Sue Peabody/Tyler Stovall (Hg.): The Color of Liberty. Histories of Race in France, Durham, London: Duke University Press 2003; Mary Dewhurst Lewis: The Boundaries of the Republic. Migrant Rights and the Limits of Universalism in France, 1918–1940, Stanford: Stanford University Press 2007.

29

30

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

sich dadurch allerdings nicht nachweisen, da gerade die rechts-konservativen Kreise mit starken Verbindungen in die ehemaligen Kolonien die Aufnahme der Flüchtlinge auch diskursiv nutzten, um ihre eigene geschichtspolitische Deutung der Kolonialzeit in Indochina zu propagieren und sich zugleich gegen eine kulturelle Wende in der französischen Bevölkerung zu positionieren. Vielmehr nutzten rechte Kräfte das Vakuum, das linke Publizisten und Intellektuelle eröffneten, die nach den Schrecken der Terrorherrschaft der Roten Khmer schwiegen oder sich selbst als mitschuldig darstellten, wodurch sich der Bogen zum ersten Kapitel und den antitotalitären Aktivisten und Aktivistinnen zurückspannt.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge Facetten einer humanitären Krisenproduktion und -rezeption

Für die französische Öffentlichkeit war die kambodschanische Flüchtlingskrise, die sich in den Flüchtlingslagern im Grenzgebiet zwischen Kambodscha und Thailand sowie auf thailändischem Boden abspielte, ein Schock. Dieser Schock setzte insbesondere ab Januar 1979 ein, als kambodschanische Flüchtlinge in großen Gruppen in den thailändischen Flüchtlingslagern eintrafen. Denn, auch wenn es bereits zuvor Fluchtbewegungen gegeben hatte, floh der Großteil der Kambodschaner und Kambodschanerinnen Ende 1978 beziehungsweise Anfang 1979, als die vietnamesische Armee ihre Offensive gegen die Roten Khmer begann. Das Elend der in Thailand ankommenden Flüchtlinge veranlasste Zeitungen und Fernsehen schnell zu der Vermutung, dass ein Genozid am kambodschanischen Volk stattfand. Die Beschreibungen, die einhergingen mit einer Visualisierung des Elends abgemagerter Menschen, verdeutlichten den dringenden Handlungsbedarf. Zwar hatte es auch zuvor schon Stimmen in der französischen Medienlandschaft gegeben, die von genozidalen Zuständen unter den Roten Khmer gesprochen hatten, aber sowohl die Abgeschlossenheit des Landes und die dadurch bedingte Informationsknappheit als auch eine ideologisch gefärbte Sicht auf die Vorgänge in Südostasien hatten lange verhindert, dass sich eine einheitliche Meinung zu den Vorgängen in Kambodscha in der Medienlandschaft herausbildete. Dass sich die Genozidvermutungen ab 1979 zu einer vermeintlichen Gewissheit entwickelten, lag an einer Verbindung zwischen humanitären Akteuren, vor allem den Médecins Sans Frontières (MSF), und Medienvertretern und -vertreterinnen, die mit ihrem Narrativ eines »Holocaust in Kambodscha« die Diskurshoheit über die kambodschanische Flüchtlingskrise erlangten.

32

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Die Verdichtung der Genozidvermutung wurde auch dadurch befördert, dass Frankreich sich in einer Phase tiefgreifender Umwälzungen im Umgang mit seiner Erinnerungskultur befand, was sich im Umgang mit der Erinnerung an die Vichy-Regierung zeigte, und es zugleich eine antitotalitäre Wende innerhalb der französischen Linken gab. Insbesondere die Untersuchungen der Humanitarismus- und der Menschenrechtsforschung verwiesen auf den Nexus zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Medien, um zu erklären, wie deren Kooperationen eine neue Erfahrbarkeit humanitärer Krisen in westlichen Staaten1 beeinflussten und wie diese international agierenden Akteure auf der Ebene nationalstaatlichen Handelns an Einfluss gewannen.2 Auch in der südostasiatischen Flüchtlingskrise äußerten sich diese Praktiken humanitär-medialen Handelns. Aus dieser Kooperation entstand in der französischen Presse eine figure emblematique3 des südostasiatischen Flüchtlings, die maßgeblich für die Wahrnehmung der Krise und grundlegend für die Flüchtlingsaufnahme war, da diese Figur die Betrachtenden emotionalisierte, was ein entscheidender Faktor für die weitere Entwicklung des französischen Asyls war.4 Dabei wird in diesem Kapitel argumentiert, dass internationaler humanitärer Aktivismus

1

2

3 4

Johannes Paulmann (Hg.): Humanitarianism & Media. 1900 to the Present, New York, Oxford: Berghahn Books 2019; Michael Ignatieff: The Warrior’s Honor. Ethnic War and the Modern Conscience, New York: Henry Holt 1997; Luc Boltanski: Distant Suffering. Morality, Media, and Politics, Cambridge: Cambridge University Press 1999; Philippe Mesnard: La victime écran. La répresentation humanitaire en question, Paris: Textuel 2002. Die Bedeutung der Medien wurde auch von Gary Bass hervorgehoben, der allerdings die langen Traditionslinien humanitärer Interventionen untersucht: Gary J. Bass: Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York: Knopf 2008. Siehe hierzu beispielsweise: L. Heerten: The Biafran War; M. Barnett: Empire of Humanity; Margaret E. Keck/Kathryn Sikkink: Activists beyond Borders, Ithaca, London: Cornell University Press 1998. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 38. Schon Jean-Pierre Masse schrieb, ohne eine tiefgreifende mediale Analyse durchzuführen, dass die Medien durch die Darstellungsform der südostasiatischen Flüchtlinge eine neue Wahrnehmung davon prägten, was einen vrai réfugié (also jemand, dessen Körper sein Elend spiegelt) ausmache. Auch in der neueren Forschung zur Entwicklung der Asylgesetzgebung in Frankreich wird diskutiert, dass der Körper und das pure Leben der Flüchtlinge häufig die einzige Möglichkeit darstellen, einen Anspruch auf Asyl geltend zu machen. Siehe: Didier Fassin: Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley: University of California Press 2011.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

auf das Engste mit nationalen politischen und kulturellen Entwicklungen verknüpft war. Denn gerade die innerfranzösischen Umwälzungen in Politik und Gesellschaft, wie sie sich um die Union der Linken, einem Zusammenschluss der Sozialistischen Partei (Parti socialiste, PS) und der Kommunistischen Partei (Parti communiste français, PCF) entwickelten, hatten Einfluss darauf, wie die Akteure der humanitär-medialen Kooperation die Wahrnehmung der südostasiatischen Flüchtlinge in Frankreich vorantrieben und sie im Umkehrschluss versuchten, über diese Wahrnehmung Unterstützung für ihr eigenes politisch-aktivistisches Vorgehen in der Region zu gewinnen. Für diese Akteure, allen voran die MSF, die bis 1980 noch eine rein französische Nichtregierungsorganisation5 war, war die vietnamesische Regierung, die auch Kontrolle über die kambodschanische Übergangsregierung ausübte, der Inbegriff eines totalitären und Menschenrechtsverbrechen begehenden Staates, den es zu bekämpfen galt – auch in Frankreich, wo eine solche Bedrohung durch die Union der Linken zu existieren schien. Die Verankerung international agierender Organisationen sowie von Medienvertretern und Medienvertreterinnen in einem nationalen Kontext ist daher in hohem Maße bedeutungsvoll. Und gerade, weil es sich um einen Fall handelte, bei dem auf das Engagement in der humanitären Krise ein Engagement nationaler (staatlicher) Flüchtlingsaufnahme folgte, soll diese Ebene hier im Fokus stehen. Nichtsdestotrotz handelten die größtenteils männlichen humanitären Akteure und Journalisten, die vor Ort in Kambodscha oder Thailand arbeiteten, auch in einem internationalen und globalen Bezugsrahmen. Auf diesen Bezugsrahmen und seine Implikationen wird in dieser Analyse an einigen Punkten verwiesen, um aufzuzeigen, wie komplex das Zusammenspiel der unterschiedlichen Verhandlungsebenen war.6

5

6

Auch wenn der Anspruch auf Internationalisierung bereits seit Gründung der MSF existierte, brauchte es fast zehn Jahre, bevor die ersten Büros in anderen Ländern eröffnet wurden. Der erste Ableger der MSF entstand im November 1980 in Belgien. 1981 folgte ein Ableger in der Schweiz, und 1984 wurde ein Ableger in den Niederlanden gegründet. Siehe hierzu: Laurence Binet/Martin Saulnier: Médecins Sans Frontières. Evolution of an International Movement. Associative History 1971–2011, Genf: MSF International 2019, S. 12. Für eine übersichtliche Darstellung der Medienarbeit zu Kambodscha und der westlichen Wahrnehmung ab 1975 siehe: Jamie Frederic Metzl: Western Responses to Human Rights Abuses in Cambodia, 1975–80, Houndmills, Basingstoke, London: Palgrave Macmillan 1996.

33

34

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Folgend werden die Bedingungen, Hintergründe, Akteure und deren Methoden sowie die Auswirkungen dieser humanitär-medialen Zusammenarbeit, aber auch die Veränderungen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg innerhalb der französischen Gesellschaft analysiert, um zu zeigen, inwieweit Medien und humanitäre Akteure Einfluss auf die Rezeption der Krise in Frankreich ausübten. Dazu wird in diesem Kapitel in einem ersten Schritt eine Untersuchung der Konstruktion des Schock-Momentes vorgenommen, indem Zeitungen und Fernsehen auf Narrative, Topoi und Visualisierungen im Zusammenhang mit der kambodschanischen Flüchtlingskrise ausgewertet werden. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf der Frage liegen, wie die Zeitungen vor 1979 die Situation unter den Roten Khmer einordneten und wie sich über konkurrierende Deutungen ein Zustand der Ungewissheit herauskristallisierte. Es soll aufgezeigt werden, dass diese Ungewissheit und die Visualisierung extremen Leidens im Fernsehen maßgeblich verantwortlich dafür waren, dass das Ereignis 1979 zu dem Schock-Moment wurde, als der es sich letztlich etablierte. Maßgeblichen Einfluss auf die in den Medien verfolgten Narrative sowie die Visualisierung der Krise hatten nicht nur Journalisten und Journalistinnen. Vielmehr waren es namhafte Intellektuelle und engagierte humanitäre Akteure und Akteurinnen, die teilweise in Kooperation mit Medienvertretern und -vertreterinnen gezielt Narrative, Topoi und Bilder schufen, durch die die Krise in Frankreich erfahrbar wurde. Diesen Gruppen sind der zweite und dritte Abschnitt des Kapitels gewidmet, indem zuerst die antitotalitäre Wende in Frankreich in den 1970er Jahren verfolgt und dann die Verknüpfung zwischen dieser Wende und dem Wirken antitotalitärer Intellektueller, die sich medienwirksam für die südostasiatischen Flüchtlinge einsetzten, aufgezeigt wird. Darin äußerte sich ein neuer humanitärer Konsens, der die bis dato stark ausgeprägte politische Links-Rechts-Dichotomie durchbrach. Die Fragen, wie die MSF in den thailändischen Flüchtlingslagern arbeiteten und was sie taten, um die Deutungshoheit über die Situation in Südostasien zu erlangen, sind zentral für diese Abschnitte des Kapitels. Besonders die technischen Entwicklungen bei den MSF, ihre medial verbreiteten Narrative sowie die Medienkampagne Marche pour la Survie du Cambodge stehen hierbei im Mittelpunkt.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

1.1 Medien und Flüchtlinge – eine Krise wird geschaffen und schafft Aufnahme? Die französische Gesellschaft hatte bis zur Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge an ihrem Ideal eines Flüchtlings festgehalten, der als gebildeter Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit in seinem Heimatland eingetreten war7 – im Französischen wird dies mit dem gesonderten Begriff des exilé8 bezeichnet. Im Rahmen der humanitären Krise in Südostasien und während der darauffolgenden Flüchtlingsaufnahme zeigten die Medien ein neues Bild, das Flüchtlinge als hilflose Menschen in einem erbärmlichen physischen Zustand darstellte. Dieser Abschnitt soll eine Analyse dieses Bildes leisten und zeigen, dass die Medien in der Krise nicht nur reine Nachrichten- und Informationsvermittler waren, sondern durch ihre Narrative und Visualisierungen gezielt die Wahrnehmung der Krise und der Flüchtlinge steuerten. Dabei spielten auch die Berichterstattung vor 1979 sowie die ideologischen Auseinandersetzungen um das Regime der Roten Khmer eine große Rolle. Denn nur aufgrund der schwierigen Einordnung der Situation vor 1979 erschienen die gehäuften visuellen (Elends-)Darstellungen ab 1979 und die Narrative französischer Intellektueller, Aktivisten und Aktivistinnen in Frankreich und Südostasien so eindeutig, dass sich die Angst vor einem neuen Genozid durchsetzen konnte. Im Rahmen dieses Buches wurde die Berichterstattung mit Bezug auf Kambodscha und Flüchtlingsbewegungen im Fernsehen und in Tageszeitungen mit sehr divergierenden Meinungsspektren ausgewertet, darunter die kommunistische L’Humanité, die liberale Le Monde, die konservative Le Figaro und die katholische La Croix, sowie die staatlichen Fernsehsender Télévision française 1 (TF1) und Antenne 2. Ausschlaggebend für die Auswahl dieser Medien war, dass die Zeitungen alle wichtigen öffentlichen Diskurse und jeweiligen 7

8

Zu diesem seit der französischen Revolution vorhandenen Ideal siehe u. a.: D. Diaz: Un asile pour tous les peuples?; Gérard Noiriel: Réfugiés et sans-papiers. La République face au droit d’asile XIXe-XXe siècle, Paris: Calman-Lévy 1998. Das Französische kennt eine Unterscheidung zwischen den Begriffen exilé und réfugié. Der exilé ist immer eine Person, die aufgrund ihrer politischen Tätigkeit im Heimatland verfolgt wurde und deshalb geflohen ist. Der réfugié oder Flüchtling hingegen kann, muss aber nicht zwingend aufgrund politischer Verfolgung im Heimatland geflohen sein, da ein réfugié aufgrund unterschiedlicher Merkmale wie Herkunft, Religion, aber auch politischer Zugehörigkeit verfolgt wird. Siehe hierzu auch: Bruno Groppo: Exilés et réfugiés. L’évolution de la notion de réfugié au XXe siècle, in: Historia Actual Online 2 (2003), S. 69–79.

35

36

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Positionen von Parteien abbildeten und zugleich durch meinungsbildende Artikel beeinflussten. TF1 und Antenne 2 waren die beiden wichtigsten Fernsehsender der 1970er und 1980er Jahre, die sich im untersuchten Zeitraum noch beide in staatlichem Eigentum befanden.9 Die Nachrichtensendung um 20:00 Uhr des größten und wichtigsten Senders TF1 gehörte zu den meist gesehenen des Landes. Antenne 2 war nach TF1 der zweitwichtigste Sender und strahlte mehrere Nachrichtensendungen aus. Die Abendnachrichten um 20:00 Uhr auf beiden Sendern hatten auch deshalb einen so wichtigen Stellenwert, weil sie eine halbe Stunde dauerten und neben längeren Reportagen auch Interviews mit Studiogästen beinhalteten. Zugleich nahm in dieser Zeit die Bedeutung des Fernsehens als Informationsquelle zu, weshalb die im Fernsehen gezeigten Bilder eine viel stärkere Breitenwirkung entfalteten.10 Das vom Fernsehen porträtierte humanitäre Elend in Südostasien erreichte dementsprechend einen großen Teil der französischen Gesellschaft und beeinflusste maßgeblich dessen visuelle Wahrnehmung.

Zeitungen Die ab Januar 1979 exponentiell ansteigende Berichterstattung der französischen Zeitungen über Kambodscha und die Flüchtlingskrise in Thailand verdeutlicht, dass ganz Frankreich der Situation der kambodschanischen Flüchtlinge gewahr wurde. Grundlegend dafür war, dass es aufgrund der langen und intensiven Berichterstattung über die vietnamesischen Boatpeople, die in nicht seetüchtigen Booten auf dem Südchinesischen Meer und im Golf von Thailand trieben,11 um der kommunistischen Herrschaft in Vietnam zu entkommen, bereits eine langfristige Sensibilisierung für die Situation in Südostasien gab. Des Weiteren war bereits eine Reihe von Medienvertretern

9

10 11

Zur Geschichte des französischen Fernsehens siehe: Monique Sauvage/Isabelle Veyrat-Masson: Histoire de la télévision française. De 1935 à nos jours, Paris: Nouveau monde éditions 2012. Jacques Mousseau: La télévision et son public, in: Communication et langages 87, 1. trimestre (1991), S. 40–69. Der Exodus der sogenannten Boatpeople begann im September 1978 zunehmend an Dramatik zu gewinnen. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage Vietnams nach den langen Jahren des Krieges und den Maßnahmen der neuen Regierung, die unter anderem Umerziehungslager sowie die unfreiwillige Umsiedlung von Menschen in die neuen ökonomischen Zonen beinhalteten, machten sich immer mehr Menschen in Booten auf den Weg ins Ausland. Siehe auch: C.W. Robinson: Terms of Refuge.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

und -vertreterinnen vor Ort, sie konnten somit schnell auf die Krise in Thailand reagieren. Schaut man sich beispielhaft die Zeitung Le Monde an, zeigt sich, dass sich die Zahl der Artikel, die sich mit Kambodscha und Flüchtlingen oder Menschenrechtsfragen mit Bezug zu Kambodscha befassten, von 1978 bis 1979 mehr als verdoppelte, 1980 schwächte sich dieser Trend leicht ab und sank danach rapide.12 Die hohe Aktualität des Themas in den französischen Zeitungen beschränkte sich daher vor allem auf die beiden Kernjahre 1979 und 1980. Auch die breite Öffentlichkeit betrachtete die Krise vor allem während dieser Kernjahre als aktuell und wichtig. So zeigte sich bei einer im Auftrag des Magazins Paris Match durchgeführten Meinungsumfrage im Januar 1979, dass 68 Prozent der Befragten den Konflikt in Südostasien als »wichtig« und 27 Prozent der Respondenten und Respondentinnen die Thematik als »sehr wichtig« einstuften. Im Januar 1981 betrachteten nur noch 20 Prozent der Umfrageteilnehmenden die Situation in Südostasien als das wichtigste internationale Thema.13 Doch die Klimax des Themas mit Blick auf Dichte und Frequenz der Berichterstattung sowie die weitgehende Übereinstimmung des Inhalts und der Bewertung in den Zeitungsartikeln erklärt sich nicht nur aus der Brisanz der Situation ab Januar 1979. Vielmehr waren die Haltungen der Redaktionen vor 1979 und die intellektuellen Umbrüche der 1970er Jahre von großer Bedeutung für den scheinbar plötzlichen Durchbruch des Themas 1979. Unmittelbar nach der Eroberung Phnom Penhs im April 1975 und der Machtübernahme der Roten Khmer in Kambodscha waren die Berichte über die Vorgänge in dem Land, das nun Demokratisches Kampuchea hieß, nicht sehr zahlreich und die Deutungen der Machtübernahme variierten je nach ideologischer Ausrichtung der französischen Zeitungen. Vor dem Hintergrund, dass sich die Roten Khmer nach der Machtübernahme von der Außenwelt abschotteten und damit westlichen Journalisten den Zugang zu Informationen verschlossen, ist 12

13

Bei einer Schlagwortsuche in der Datenbank Europress fanden sich 1978 genau 92 Dokumente in Le Monde, 1979 schnellt diese Zahl hoch auf 323 Dokumente, 1980 schwächt sich dieser Trend jedoch wieder ab, und es finden sich mit 150 Dokumenten nur halb so viele Artikel und Notizen zu diesem Thema wie ein Jahr zuvor. Im Jahr 1981 sinkt die Zahl der Dokumente mit 64 sogar auf einen niedrigeren Stand als 1978, und 1982 finden sich sogar nur noch 34 Dokumente, die sich mit diesem Thema befassen, was die niedrigste Anzahl an Dokumenten seit 1975 ist. Auch wenn die Anzahl der Dokumente 1983 und 1985 erneut leicht ansteigt, ist der globale Trend ein abwärtsweisender. Serge Tignères/Alain Ruscio: Dien Bien Phu: Mythes et réalités, 1954–2004. Cinquante ans de passions françaises, Paris: Les Indes savantes 2005, S. 302.

37

38

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

dies kaum verwunderlich. Viele westliche Ausländer – darunter Diplomaten, Botschaftspersonal, Auslandskorrespondenten und -korrespondentinnen und Personal westlicher Unternehmen, aber auch Kambodschaner und Kambodschanerinnen, insgesamt ungefähr tausend Personen14 – flohen unmittelbar nach der Machtübernahme in die französische Botschaft. Nachdem die Roten Khmer etwa die Hälfte dieser Personen dazu gezwungen hatten, die Botschaft wieder zu verlassen, wiesen sie die Zurückgebliebenen im Mai 1975 über die thailändische Landesgrenze aus. Ihre Präsenz, die mit schädlichen Einflüssen aus dem westlichen Ausland gleichgesetzt wurde, erschien der neuen kambodschanischen Führungselite als gefährlich, wodurch das Demokratische Kampuchea für westliche Nachrichtenmacher und Nachrichtenmacherinnen zu einem Limbus der Mutmaßungen und Ungewissheit wurde.15 Trotz der schwierigen Informationslage positionierten sich L’Humanité und Le Monde mit ihren Artikeln 1975 vorerst hinter den Roten Khmer und dem kambodschanischen Volk, das sich befreit habe. Damit widersprachen sie auch US-amerikanischen Berichten, in denen schnell von einem »Blutbad«16 im Demokratischen Kampuchea gesprochen wurde. Da diese Informationen allerdings maßgeblich von der US-amerikanischen Regierung stammten, die sich durch ihr Vorgehen im Vietnamkrieg und die Watergate-Affäre diskreditiert hatte, misstrauten Journalisten und Journalistinnen Artikeln, die auf diesen Informationen basierten, was die Debatten über die Roten Khmer international befeuerte.17 Der französische Auslandskorrespondent der Le Monde, Patrice de Beer, veröffentlichte im April und im Mai 1975 mehrere enthusiastische Beiträge, in denen er davon berichtete, dass Phnom Penh »befreit sei«18 und dass die Gegner der Roten Khmer – Vertreter der alten Regierung unter Lon Nol –, die sich gestellt hatten, gut behandelt worden seien.19 Die L’Humanité, das Sprachrohr der PCF, stellte die Regierung der 14 15 16 17 18 19

Confusion dans la capitale cambodgienne, in: Le Monde, 19.04.1975. J. F. Metzl: Western Responses. Ebd., S. 22. Ebd., S. 16–36. Patrice de Beer: Enthousiasme populaire, in: Le Monde, 18.04.1975. Patrice de Beer: M. Long Boret s’est rendu. De notre envoyé spécial, in: Le Monde, 20. und 21.04.1975. Vgl. auch die nachträgliche Kritik an Patrice de Beer in Le Figaro aus dem Jahr 1984: Description rose d’un génocide, in: Le Figaro, 13.02.1984. Da es an Platz fehlt, detaillierter auf die schwierigen Fragen der Wahrnehmung der Roten Khmer durch linke Aktivisten und Aktivistinnen und die Verfügbarkeit von Informationen vor 1979 einzugehen, sei auf das hervorragende Buch des Schweden Peter Frö-

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

Roten Khmer bis 1978, als es mit Beginn der militärischen Manöver Vietnams gegen Kambodscha zu einem offensichtlichen Bruch zwischen Roten Khmer und den vietnamesischen Kommunisten kam, als Befreier des kambodschanischen Volkes dar. Nach dem Einmarsch der vietnamesischen Armee in Kambodscha 1979 stellte L’Humanité, ganz auf der Linie der Sowjetunion und des sowjetischen Partners Vietnam, klar, dass es unter den Roten Khmer zu Menschenrechtsverletzungen gekommen sei und Vietnam daher als Befreier und Wohltäter gesehen werden müsse.20 Die konservative Zeitung Le Figaro, genauso wie die katholische Zeitung La Croix, äußerte sich bis 1977 nur sporadisch zu den Ereignissen in Kambodscha, wobei sie tendenziell mit Sorge auf die Situation in Südostasien blickte. Die Thematik gewann für Le Figaro erst an Brisanz, als sich auch in anderen Zeitungen ein Wandel der Berichterstattung abzeichnete. Denn abgesehen von L’Humanité, die zwar von Menschenrechtsverbrechen unter den Roten Khmer schrieb, aber nicht wie andere Zeitungen begann, die vietnamesische Besatzung zu verurteilen, näherten sich die Berichterstattungen der anderen untersuchten Zeitungen – Le Monde, Le Figaro und La Croix – ab 1977, beziehungsweise verstärkt 1978 in ihren Tendenzen an. In den Artikeln über Kambodscha gingen die Korrespondenten und Korrespondentinnen dieser Zeitungen vorrangig darauf ein, wie verheerend die Herrschaft der Roten Khmer und darauf folgend die Besatzung durch die vietnamesische Armee für die kambodschanische Bevölkerung sei.21 Im Zusammenhang damit hoben sie die »Gefahr der Auslöschung des kambodschanischen Volkes«22 durch Krankheiten und Hungersnöte als imminente Gefahr hervor. Diese relativ hohe Einstimmigkeit der Zeitungen war auch ein Zeichen dafür, dass sich eine Deutung der Geschichte und Krise Südostasiens in der französischen Öffentlichkeit durchsetzte, die sowohl von einem linken antitotalitären Trend

20 21 22

berg Idling verwiesen. Dieser schrieb einen dokumentarischen Roman, der 2006 auf Schwedisch erschien (deutsche Erstausgabe 2013), in dem er die Reise einer Gruppe linker schwedischer Aktivisten und Aktivistinnen um den Schriftsteller und Kolumnisten Jan Myrdal nach Kambodscha im Jahr 1978 nachzeichnet. Peter Fröberg Idling: Pol Pots Lächeln. Eine Reise durch das Kambodscha der Roten Khmer, Frankfurt a. M.: Edition Büchergilde 2013. Siehe beispielsweise folgenden Leitartikel: Yves Moreau: Aider le Cambodge, in: L’Humanité, 06.11.1979. Vgl. beispielsweise: Martial Dasse: Le peuple cambodgien, enjeu d’une bataille, in: La Croix, 04.11.1979. J. F. Metzl: Western Responses, S. 126–155.

39

40

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

als auch von einer konservativen erinnerungspolitischen Einflussnahme geprägt war. Unter anderem das Schweigen beziehungsweise die Reue linker Intellektueller und Publizisten war dafür verantwortlich. Diese hatten sich zuvor für die vietnamesischen Kommunisten und die Roten Khmer begeistert, und hielten sich, nachdem die massiven Menschenrechtsverbrechen langsam bekannt wurden, in der Öffentlichkeit zurück oder begannen, ihre eigene Vergangenheit und ihre vorherige Deutung der Situation in Südostasien zu revidieren. Die Selbstverurteilung linker Intellektueller beförderte zugleich, dass rechts-konservative Publizisten mit ihrer erinnerungspolitischen Deutung des Indochinakrieges und der Flüchtlingskrise an Einfluss gewannen.23 Dieser Umschwung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung wurde vor allem durch den katholischen Priester François Ponchaud verursacht. Mit seiner Beschreibung der Menschenrechtsverletzungen unter den Roten Khmer war er verantwortlich dafür, dass die Vorgänge im Demokratischen Kampuchea und die aus der Herrschaft der Roten Khmer resultierenden Folgen für die Bevölkerung überhaupt eine verstärkte mediale Aufmerksamkeit erfuhren. Dies zeigte sich auch daran, dass sie über die französischen Grenzen hinaus diskutiert wurden, da der US-amerikanische linke Intellektuelle, Linguist und politische Aktivist Noam Chomsky Ponchauds Darstellungen heftig attackierte.24 Diese Debatten verliefen zunehmend parallel zu einer wachsenden hoch emotionalisierten Darstellung der Flüchtlingskrise. Insbesondere französische Intellektuelle und Journalisten sowie Journalistinnen, die sich aufgrund von Ponchauds Darstellungen gegen ihre eigenen Überzeugungen gewandt hatten und begannen, mit einer Art reuevoller Berichterstattung ihre ehemalige Begeisterung für die kommunistischen Revolutionen in Südostasien zu korrigieren, emotionalisierten die gesellschaftliche Wahrnehmung. Daran zeigt sich, wie individuelles Engagement und eine systematische Darstellung durch die französischen Medien zusammenwirkten. Darüber hinaus fokussierte sich auch François Ponchaud bereits auf die humanitären Notwendigkeiten, die durch 23

24

Diese erinnerungspolitische Einflussnahme wird im 4. Kapitel weitergehend untersucht und in den Kontext des Engagements ehemaliger kolonialer Akteure und Akteurinnen in der Flüchtlingsaufnahme eingebettet. Die Darstellungen von François Ponchaud fanden Eingang in die US-amerikanische Debatte, woraufhin Ponchaud heftig von Noam Chomsky für mangelnde Methodik im Umgang mit Interviews mit Flüchtlingen kritisiert wurde. Siehe: Noam Chomsky/ Edward S. Herman: Distortion at Fourth Hand, in: The Nation, 06.06.1977; Noam Chomsky: Réponses inédites à mes détracteurs parisiens (= Spartacus Cahiers mensuels, Séries B, Band 128), Paris: Spartacus 1984.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

die menschenrechtsverletzenden Politiken der Roten Khmer ausgelöst worden waren. Dadurch bereitete er den humanitären Konsens, der in der Aktion Un bateau pour le Vietnam 1979 Sichtbarkeit erhielt, mit vor. François Ponchaud, Missionar für die Société des Missions Étrangères de Paris, war 1965 nach Kambodscha entsandt worden, hatte also bis zur Machtübernahme der Roten Khmer zehn Jahre lang in Kambodscha gelebt. Er sprach fließend Khmer. Auch nach seiner Ausweisung aus Kambodscha sammelte er weiter Informationen, indem er Flüchtlinge, die in Thailand ankamen, interviewte, und versuchte in Frankreich, die Öffentlichkeit über die Vorgänge in Kambodscha aufzuklären. Aufgrund der anfänglich positiven Berichterstattung über die Veränderungen in Kambodscha unter den Roten Khmer in Le Monde schickte er mehrere Protestbriefe an die Zeitung, bevor ihn der Chefredakteur fragte, ob er einen Artikel über Kambodscha verfassen wollte. Daraus wurden zwei große Reportagen, die Ponchaud am 17. und 18. Februar 1976 in Le Monde veröffentlichte. Ponchaud schrieb über Menschenrechtsverletzungen in Form von Zwangsarbeit und gezielten Säuberungsaktionen, die in Kambodscha stattfänden.25 Ein Jahr später brachte er das Buch »Cambodge, L’année zéro« heraus, in dem er die Situation in Kambodscha noch detaillierter analysierte.26 Alle Informationen für seine Arbeiten hatte er aus Berichten von Flüchtlingen in Thailand zusammengetragen und diese mit den Informationen des offiziellen Senders Radio Phnom Penh der Roten Khmer verglichen. Ponchaud, der 1993 nach Kambodscha zurückkehrte, begründet heute sein Engagement für das Land vor allem mit seiner Solidarität mit dem kambodschanischen Volk und seiner Abneigung gegen Ideologien jeder Art.27 Letzteres eventuell, weil er durch seine Veröffentlichungen in öffentliche Auseinandersetzungen mit Intellektuellen, die offen ideologisch argumentierten, geriet. Noam Chomsky und der linke französische Soziologe Serge Thion griffen Ponchauds Analysen an, indem sie ihm ungenaues Arbeiten vorwarfen, und ihn beschuldigten, an der imperialistischen Propaganda gegen die Roten Khmer beteiligt zu sein.28 25 26 27 28

François Ponchaud: Un travail gigantesque, in: Le Monde, 17.02.1976; François Ponchaud: Un nouveau type d’homme, in: Le Monde, 18.02.1976. François Ponchaud: Cambodge. Année zéro, Paris: Julliard 1977. Dane Cuypers: L’impertinent du Cambodge. François Ponchaud entretiens avec Dane Cuypers, Paris: Magellan & Cie 2013, S. 171–172. Zu den Attacken Noam Chomskys und Serge Thions, siehe: François Hourmant: Le Désenchantement des clercs. Figures de l’intellectuel dans l’après-Mai 68, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 1997, S. 177–182.

41

42

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Gerade diese Attacken und die darauffolgenden Auseinandersetzungen, in die sich auch desillusionierte ehemalige Linke mit ihren nun antitotalitären Ideologien einmischten, erhöhten die Aufmerksamkeit für das Thema in Frankreich. Auch Rony Brauman, der ›philosophische Guru‹ der MSF, sagte über Ponchauds Buch, dass es bei ihm den »Schock« ausgelöst hatte, der ihn »definitiv mit politischem Radikalismus brechen« ließ und dazu brachte, die Ideologien, die dem Regime der Roten Khmer zugrunde lagen, »nicht [mehr] als Unfall zu betrachten, als eine gute Idee, die schlecht umgesetzt wurde, sondern als ein fundamentales Problem.«29 Der Bruch mit der eigenen Vergangenheit und den eigenen Idealen zeigt sich auch in den Medienbeiträgen, die auf Ponchauds Enthüllungen folgten. So war beispielsweise der linke Journalist und langjährige Befürworter der Revolutionen in Südostasien, Jean Lacouture, einer derjenigen, die nach der ›Läuterung‹ durch Ponchaud sowohl in Frankreich als auch in den USA kritische Artikel über das Demokratische Kampuchea und die sich verschlechternde Situation der Flüchtlinge in Thailand veröffentlichten. 1978 publizierte Lacouture sein Buch »Survive le peuple cambodgien!«, in dem er die Ursachen für den Aufstieg der Roten Khmer analysierte und deren Unterstützer heftig attackierte. In seiner Einleitung schrieb er: »Die Scham hätte ausgereicht, um dieses kleine Buch zu schreiben.«30 In der Folge von Ponchauds Enthüllungen schienen dementsprechend auch bei Anhängern radikaler linker Ideologien »Zweifel nicht mehr erlaubt«31 . Bereits vor 1979 begann sich daher das Narrativ einer post-ideologischen Deutung der Situation, in der Menschenrechtsverbrechen unter einer totalitären Herrschaft und das dadurch ausgelöste humanitäre Elend kaum noch Platz für andere Deutungsmuster und Meinungen zuließen, durchzusetzen. Als sich dann ab 1979 die Flüchtlingslager an der thailändisch-kambodschanischen Grenze und auf thailändischem Boden stetig zu füllen begannen, waren die Stimmen, die von Menschenrechtsverletzungen sprachen und die Lage in Kambodscha und den Flüchtlingslagern anprangerten, in der Mehrzahl. Dies lag auch an der Tatsache, dass eine gezielte visuelle Darstellung der Flüchtlingskrise an der thailändisch-kambodschanischen Grenze die Brisanz der Situation unterstrich und den Handlungsbedarf zur Linderung der Not der Flüchtlinge als mehr als dringend zeichnete.

29 30 31

Rony Brauman: Penser dans l’urgence. Parcours critique d’un humanitaire. Entretiens avec Catherine Portevin, Paris: Seuil 2006, S. 55. Jean Lacouture: Survive le peuple cambodgien!, Paris: Le Seuil 1978, S. 1. F. Hourmant: Le Désenchantement des clercs, S. 178.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

Die Visualisierung einer Krise Als der französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing im November 1979 im Rahmen einer nationalen Kollekte auf die Not der Flüchtlinge aufmerksam machte, verwies er in seiner Ansprache an das Fernsehpublikum auch auf die für ihn offensichtliche Wirkmacht der Bilder: »Ich werde nicht versuchen, Sie zu bewegen, indem ich Ihnen das Bild dieser sterbenden Kinder vor Augen führe, die das Leben nur als Leid erfahren haben. Aber dieses Bild beschäftigt uns. Es muss uns mobilisieren.«32 Das emotionale Mobilisierungspotenzial, das der Präsident den gezeigten Bildern aus der südostasiatischen Krisenregion zugestand, wurde insbesondere 1979 gezielt konstruiert. Zeitungen, Zeitschriften und in einem noch höheren Maße das Fernsehen zeigten Bilder,33 die die öffentliche Meinung einerseits über gezielte und bereits bekannte Darstellungsformen, andererseits aufgrund einer viel größeren Verbreitung der Empfangstechnik emotional aufluden und der Figur des Flüchtlings eine neue Form gaben, wobei dieses Bild gezielt an bekannte Darstellungsformen humanitärer Katastrophen anknüpfte. Laut dem französischen Historiker JeanPierre Masse waren es die südostasiatischen Flüchtlinge, die einen neuen Typus von Flüchtling prägten.34 So assoziierten die Medien sie als Flüchtlinge aus einer humanitären Krise heraus mit ganz bestimmten Bildern, vor allem der hoffnungslosen Situation in den Flüchtlingslagern, was nicht dem Typ des intellektuellen Flüchtlings aus den bis dato vorrangig europäischen Staaten, beispielsweise aus den kommunistischen Ländern, entsprach. Diese Wahrnehmung beeinflusste die Kategorisierung in der französischen Gesellschaft, indem ab diesem Zeitpunkt das Elend der humanitären Krisen in der Dritten Welt ein essenzieller Bestandteil der Fluchtgeschichte eines vrai réfugié wurde.35 32 33

34 35

Jean-David Levitte: Notiz an den Präsidenten »campagne nationale de collecte en faveur des Cambodgiens«, 13.11.1979, AG/5(3)901, ANF. Zum Zusammenhang zwischen Bildern, Politik und Repräsentation siehe: Isabelle Veyrat-Masson/Sébastien Denis/Claire Sécail (Hg.): Sous les images la politique … Presse, cinéma, télévision, nouveaux médias (XXe-XXIe siècle), Paris: CNRS Éditions 2014. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 243–244. Der Begriff »Dritte Welt«, wie der französische Demograf Alfred Sauvey ihn Anfang der 1950er Jahre einführte, erlebte folgend als politisches und wissenschaftliches Konzept einen schnellen Aufstieg. Der Begriff »Dritte Welt« ist aufgrund der implizierten Abwertung unterentwickelter Länder sowie der Übersetzung dieses Begriffes in die entwicklungspolitischen Programme der sogenannten Industriestaaten durchaus proble-

43

44

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Die Darstellungsformen der kambodschanischen Flüchtlingskrise entsprachen zugleich langen Traditionen und Sehgewohnheiten,36 die sich bereits in den Visualisierungen des Vietnamkrieges und der humanitären Katastrophen der 1960er Jahre etabliert hatten. Durch diese Traditionslinien in der Darstellung konnten die französischen Betrachter und Betrachterinnen die Bilder und die Motive der Visualisierung schnell einordnen, und die visuelle Verknüpfung der kambodschanischen Flüchtlingskrise mit anderen humanitären Krisen legitimierte darüber hinaus erstere als veritable Krise. Denn insbesondere die 1960er Jahre hatten das westliche kulturelle und visuelle Gedächtnis geprägt und Ikonen humanitärer Katastrophen geschaffen.37 So war bereits die Biafrakrise 1968 vorrangig über ihre ikonischen Bilder38 von zwei- und dreijährigen Kindern, die vom Marasmus und Kwashiorkor gezeichnet waren, bekannt geworden. Medienangehörige und Hilfsorganisationen in Biafra lancierten diese Darstellungen ganz gezielt, um Hilfsleistungen sammeln zu können. Dadurch wurde der Konflikt vor allem als ein humanitäres Problem wahrgenommen, während der ursprüngliche politische Konflikt um Selbstbestimmung und Souveränität der Ostregion Nigerias in der öffentlichen Wahrnehmung verschwand.39 Die ähnlich aufgebaute

36

37

38

39

matisch. Im Kontext dieses Buches bezeichnet der Begriff »Dritte Welt« einerseits eine Form von Abbild, das sich die französische Gesellschaft von der Realität in den sogenannten Entwicklungsländern machte, und andererseits ein politisches Konzept, das weitreichende Implikationen für die französische Neue Linke sowie die Wahrnehmung von Flüchtlingskrisen hatte. Siehe hierzu: Christoph Kalter: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2011; Christoph Kalter: From Global to Local and Back. The ›Third World‹ Concept and the New Radical Left in France, in: Journal of Global History 12, 1 (2017), S. 115–136. Siehe zu den Traditionen humanitärer Fotografien und Bilder: Heide Fehrenbach/ Davide Rodogno (Hg.): Humanitarian Photography. A History, Cambridge, New York: Cambridge University Press 2015. Insbesondere die Biafrakrise wird in der Humanitarismus-Literatur als eine einschneidende Situation analysiert. Siehe: Jonathan Benthall: Disasters, Relief and the Media, London: Tauris 1993, S. 92–122. Eine sehr ausführliche globalhistorische Analyse der Darstellung der Biafrakrise legte Lasse Heerten vor: L. Heerten: The Biafran War. Vgl. beispielsweise Heerten, der auf die Visualisierung der Biafrakrise in L’Express verweist, wo ausgemergelte, halbnackte Kinder den Betrachtenden von schräg unten mit großen Augen anschauen: Lasse Heerten: A wie Auschwitz, B wie Biafra. Der Bürgerkrieg in Nigeria (1967–1970) und die Universalisierung des Holocaust, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8, 3 (2011), S. 394–413, hier S. 403. L. Heerten: The Biafran War, S. 18.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

Visualisierung der kambodschanischen Flüchtlingskrise mit eindeutig vom Marasmus gezeichneten skelettartigen Kindern und Babys,40 die teilweise vor den eingesunkenen Brüsten ihrer ausgemergelten Mütter aufgenommen wurden, verlieh der humanitären Dimension der Krise und der Figur des südostasiatischen Flüchtlings als Opfer einer humanitären Katastrophe ein hohes Maß an Legitimität und beschwor Hilfsleistungen geradezu als eine absolute Notwendigkeit herauf. Diese Anknüpfung an bereits gewohnte Sehmuster erleichterte dem französischen Betrachtenden die Einordnung. Denn der Schock, den diese Bilder auslösen konnten, war bereits aus anderen humanitären Krisen bekannt. Paradoxerweise verstärkte diese Anknüpfung an bereits bekannte Sehgewohnheiten die Wirkung, denn auch die Reaktionen auf die Bilder humanitären Elends waren bereits bekannt. Im Zusammenhang mit der besseren emotionalen Erreichbarkeit durch Fernsehübertragungen, zumal ab den frühen 1970er Jahren in Farbe, wirkte die Visualisierung der Krise noch stärker in die Öffentlichkeit. Die Empfangsgeräte vermittelten noch intensivere Eindrücke als Fotos wie ein »Schlüsselloch der Mediengesellschaft«41 , wodurch die Mehrheit der Franzosen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die Krise an der thailändischen Grenze im heimischen Wohnzimmer miterleben konnte, was das Gefühl der unmittelbaren Erfahrbarkeit der Krise bewirkte. Wenn auch mit etwas Verzögerung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, war der Parameter Fernsehgeräte pro Haushalt in Frankreich in diesem Zeitraum exponentiell angestiegen, und spätestens in den 1980er Jahren war das Fernsehen die maßgebliche Informationsquelle. So besaßen 1975 ungefähr 14 Millionen französische Haushalte mindestens ein Empfangsgerät, 1980 waren es bereits 16 Millionen Haushalte und 1984 schon 18 Millionen. Zugleich stieg auch die Zahl der Farbfernseher deutlich an, und 1981 handelte es sich bei 50 Prozent aller verfügbarer Fernsehgeräte um Farbfernseher.42 Dass gerade dieser Durchbruch in der visuellen Erreichbarkeit der französischen Gesellschaft mit der südostasiatischen Flücht-

40

41 42

Eingehend untersucht Heide Fehrenbach die Abbildung von Kindern in humanitärer Fotografie: Heide Fehrenbach: Children and Other Civilians. Photography and the Politics of Humanitarian Image Making, in: Heide Fehrenbach/Davide Rodogno (Hg.): Humanitarian Photography, S. 165–193. Cornelia Brink: ›Bildeffekte‹. Überlegungen zum Zusammenhang von Fotografie und Emotionen, in: Geschichte und Gesellschaft 37, 1 (2011), S. 104–129, hier S. 117. J. Mousseau: La télévision et son public, S. 40–42.

45

46

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

lingskrise zusammenfiel, hatte Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Krise. Dieser qualitative Wandel der Erfahrbarkeit der Krise lässt sich am besten als voll mediatisierte Flüchtlingskrise beschreiben. Laut der US-amerikanischen Intellektuellen, Publizistin und Schriftstellerin Susan Sontag ist dies eine essenzielle moderne Erfahrung: »Ein Beobachter von Katastrophen, die in anderen Ländern stattfinden, zu sein, ist eine essenzielle moderne Erfahrung. Es ist das über eineinhalb Jahrhunderte zusammengetragene Angebot derjenigen professionellen, spezialisierten Touristen, die als Journalisten bekannt sind. Kriege sind nun auch Wohnzimmer-Ansichten und -Geräusche. Informationen darüber, was anderswo passiert, auch als ›Nachrichten‹ bekannt, beinhalten Konflikt und Gewalt – ›if it bleeds, it leads‹ lautet die ehrwürdige Richtlinie der Tabloids und Nachrichtenshows mit 24-Stunden-Schlagzeilen – auf die mit Mitleid oder Empörung oder Beschönigung oder Zustimmung reagiert wird, während jedes Elend in Sichtweite gerät.«43 Der Nexus zwischen Beobachtenden, Journalisten, Emotionen und Katastrophen, wie Sontag ihn aufzeigt, war auch in der kambodschanischen Flüchtlingskrise und gerade mit Blick auf die bewegten Bilder nicht zu unterschätzen, wobei hinter dem »vermeintlich natürlichen Mechanismus der Empathie«44 , mit der Menschen auf das Leiden anderer Menschen reagieren, eine Geschichte der moralischen Erziehung lag, die der Historiker Michael Ignatieff gerade in Europa darauf zurückführte, dass sich die Idee, dass Herkunft, Religion, Geschlecht oder juristischer Status keine Begründung für ungleiche Behandlung darstellen, durchgesetzt hatte.45 Das sichtbare Elend humanitärer Krisen stand im Kontrast zu den Grundlagen dieser Moralvorstellungen. Allerdings funktionierte dieser Zusammenhang nur, weil die aus der Krise übermittelten Bilder über bestimmte Darstellungsformen eine Kraft aus sich selbst heraus entfalteten. Auf diese Kraft verwies der im Umgang mit Medien versierte Mitbegründer der MSF, Bernard Kouchner, als er 1991 in seinem Buch »Le malheur des autres« festhielt: »Die heutige Wut und Moral

43

44 45

Susan Sontag: Regarding the Pain of Others, New York: Farrar, Straus and Giroux 2003, S. 18. Siehe zur bedeutenden Rolle der Medien in humanitären Krisen auch: G. J. Bass: Freedom’s Battle. M. Ignatieff: The Warrior’s Honor, S. 12. Ebd.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

[kommen] vom Auge, von der Kraft und Perversion der Bilder […], ein Artikel […] kann sein Ziel nur erreichen, wenn er ein Fernsehteam zum Arbeiten bewegt.«46 Und die Fernsehteams arbeiteten in Thailand schnell. Bereits vor 1979 hatte es Bilder aus den Grenzgebieten gegeben, doch nachdem die Zahl der Flüchtlinge in der Grenzregion zwischen Kambodscha und Thailand immens angestiegen war, kamen immer mehr Fernsehteams in die für sie über die dort arbeitenden Hilfsorganisationen leichter zugänglichen Lager auf der thailändischen Seite. Am 18. Oktober 1979 strahlte der staatliche Sender TF1 eine Reportage des französischen Journalisten François Debré aus.47 Debré, der bereits 1968 für Le Monde in Biafra gewesen und seitdem zu einem gefragten Krisen-Reporter avanciert war, hatte für seine Reportage gemeinsam mit seinem Kamerateam im Grenzgebiet zwischen Kambodscha und Thailand gedreht. In dieses unwegsame Gelände hatten sich die Roten Khmer nach ihrer Vertreibung durch die vietnamesische Armee zurückgezogen. Von hier aus gingen sie genauso wie neu gebildete nationalistische kambodschanische Gruppierungen und mit Unterstützung der USA, Chinas und Thailands gegen die vietnamesische Armee vor. Viele der Flüchtlingslager sowie die darin lebenden Flüchtlinge standen unter der Kontrolle dieser militärischen Einheiten, wodurch sie als menschliche Schutzschilde missbraucht wurden und es den internationalen Organisationen häufig nicht möglich war, humanitäre Hilfe von der Unterstützung militärischer Einheiten zu trennen. Soldaten und Flüchtlinge vermischten sich in den Lagern so weit, dass jede humanitäre Unterstützung der Flüchtlinge auch den Soldaten und ihren Anführern zukam. Diese Durchmischung war darüber hinaus auch der Grund dafür, dass die vietnamesische Armee in der Trockenzeit regelmäßig die Lager bombardierte, wodurch die Flüchtlinge zur Zielscheibe militärischer Operationen wurden.48 46 47

48

Bernard Kouchner: Le malheur des autres, Paris: Odile Jacob 1991, S. 194–198. François Debré: Cambodge. Encore la guerre, TF1 (= L’événement), 18.10.1979, https:/ /www.ina.fr/video/CAA7900920001/cambodge-encore-la-guerre-video.html (zuletzt geprüft am 14.08.2022). Siehe zu der Situation in dem Grenzgebiet auch: D. Bultmann: Kambodscha unter den Roten Khmer, S. 172–193; Josephine Reynell: Political Pawns. Refugees on the Thai-Kampuchean Border, Oxford: Oxford University Press 1989; Daniel Unger: Ain’t Enough Blanket. International Humanitarian Assistance and Cambodian Political Resistance, in: Stephen J. Stedman/Fred Tanner (Hg.): Refugee Manipulation. War, Politics, and the Abuse of Human Suffering, Washington: Brookings Institution Press 2003, S. 17–56.

47

48

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Bevor der Sender die schockierenden Bilder aus Debrés Reportage zeigte, warnte der Sprecher in seiner Ansage, dass die folgenden Bilder erschütternd und schwer zu ertragen seien, sich aber die Fernsehmacher dennoch zur Ausstrahlung entschlossen hätten, da sie die Realität spiegelten. Die 15-minütige Sendung vermittelte dem Fernsehpublikum Einblicke in die Situation vor Ort und das Leben der Flüchtlinge, es wurde Zeuge, wie eine Frau vor laufender Kamera zusammenbrach und starb. Dann folgten Bilder unterernährter Kinder und eines kleinen Mädchens, das ebenfalls vor laufender Kamera verstarb. Die Interviews mit Flüchtlingen und die Kommentierungen aus dem Off setzten diese Bilder in einen direkten Zusammenhang mit der Politik der vietnamesischen Regierung in Kambodscha: Die vietnamesische Armee sei für eine Hungersnot in Kambodscha verantwortlich, weil sie gezielt Felder zerstöre. Zudem stellte die Sendung die schwierige Situation in der Grenzregion dar, in der unterschiedliche Fraktionen mit verschiedenen Interessen gegeneinander kämpften, indem die Reportage thailändische Soldaten begleitete, die in Zivil gekleidete Kambodschaner kontrollierten und durchsuchten. Diese stellen sich als Waffenschmuggler für die Roten Khmer heraus. Weiterhin zeigte die Reportage kambodschanische Nationalisten, deren Aussagen zu entnehmen war, dass sie gegen die Vietnamesen kämpften und nicht mit diesen verhandeln wollten. Insbesondere der letzte Teil der Reportage verdeutlichte den Betrachtenden, dass die Flüchtlinge und die schwierige Situation in der Grenzregion miteinander verflochten waren. Das Narrativ von Debrés Reportage, charakterisiert durch Bilder des Todes und des Elends der mehrheitlich weiblichen Flüchtlinge und Kinder sowie die Verbindungen zur angeblich genozidalen Politik Vietnams, wurde im Jahr 1979 nicht nur häufig wiederholt und in seinen unterschiedlichen Variationen zur besten Sendezeit auf den größten französischen Kanälen ausgestrahlt, es spiegelte auch den Duktus der großen Zeitungen, die ihre Reportagen teilweise mit Bildern halb verhungerter Kinder oder von Müttern, die sich mit ihren Babys in Erdlöchern verstecken, um der Bombardierung zu entgehen, untermalten.49 Über die Visualisierung des Elends und des Leids in den Medien etablierte sich eine typologische Figur des südostasiatischen Flüchtlings, die in Frankreich auch die Etablierung eines neuen Flüchtlingsbildes

49

Réfugiés khmers. La famine et les bombes, in: Le Figaro, 10.11.1979; O.N.U.: 210 millions de dollars pour le Cambodge l’aide occidentale piétine en Thaïlande, in: Le Figaro, 07.11.1979.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

nach sich zog. Darüber hinaus wurde die Visualisierung der kambodschanischen Flüchtlingskrise ein wesentlicher Bestandteil der Vorstellungen über das Elend der Menschen in Flüchtlingskatastrophen in der Dritten Welt.50 Die Techniken der Darstellung und die Darstellungsformen waren in dieser Visualisierung ausschlaggebend für die Konstruktion der Flüchtlingsfigur. Die Hilflosigkeit dieser Flüchtlingsfigur wurde durch die bevorzugte Darstellung von Frauen und Kindern – sie sind die passiven Opfer – in katastrophalem körperlichen Zustand und ausweglosen Situationen verstärkt, wodurch das Gefühl, ein »Volk sterbe aus«51 , als Gefahr imminent wurde, da sowohl diejenigen, die den Nachwuchs austrugen, als auch der Nachwuchs selbst vom Tod bedroht schienen.52 Die Tatsache, dass es sich bei den Produzenten dieser Bilder zum größten Teil um Männer handelte, die sich über ihren Beruf als Krisenreporter oder als humanitäre Helfer auch in einem Ethos von Männlichkeit53 stilisierten, legt nahe, dass die hilf- und schutzlosen weiblichen Flüchtlinge als Gegenstück zu diesem männlichen Selbstverständnis und als Empfänger von Hilfe fungierten beziehungsweise aufgebaut wurden. Andere Studien verwiesen darauf, dass sich in dieser Form von Berichterstattung und Darstellung auch koloniale, damit stark männlich geprägte Denkmuster reproduzierten, da sie einem »kolonialen Begehren, den Unglücklichen in einem entfernten Land zu retten«54 , entsprachen. Gerade die Verweiblichung der Katastrophe in der Darstellung bestärkte den westlichen Betrachter in seiner Überlegenheit, und Hilfsleistungen für dieses schwache weibliche Subjekt waren die Konsequenz aus dem Gefühl von kolonial-paternalistischer Überlegenheit. Eine weitere Technik, die in den im Fernsehen gezeigten Reportagen ein Gefühl der Unmittelbarkeit hervorrief, bestand darin, den fremden Opfern ei-

50

51

52 53 54

Vgl. hierzu die Analyse von Jean-Pierre Masse, der von einer figure emblematique des südostasiatischen Flüchtlings spricht, die durch die starke Beachtung seitens der Presse immer weiter Gestalt annahm und letztlich die Wahrnehmung von dem, was einen vrai réfugié im Gegensatz zu einem faux réfugiés ausmacht, beeinflusste. Siehe: J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 38 und S. 243–244. Die Idee, das kambodschanische Volk sei von der Auslöschung bedroht, tauchte regelmäßig in der medialen Verhandlung der Krise auf. Siehe hierzu auch den Abschnitt 1.3 dieses Kapitels sowie: J. F. Metzl: Western Responses, S. 147. Clémentine Besnardeau: Mouvement des corps entre questions migratoires et questions humanitaires. Masterarbeit, Paris 2008, S. 108–111. Ebd., S. 66–68. J. Benthall: Disaster, Relief and the Media, S. 177.

49

50

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

ne verständliche Stimme zu geben. Interviews, in denen die Befragten grundlegende menschliche Emotionen wie Angst oder Trauer äußerten, teilweise sogar auf Französisch, da einige der Flüchtlinge dieser Sprache aufgrund der kolonialen Vergangenheit Kambodschas mächtig waren, ermöglichte es den Betrachtenden, die angenommenen Differenzen zu der anderen (fremden) Kultur zu überwinden. Über diese emotional nachvollziehbaren Erfahrungen konnte sich die humanitäre Katastrophe auf einer weiteren Ebene als der rein rationalen erfassen lassen.55 So waren Reportagen, in denen Flüchtlinge unter Tränen und auf Französisch von ihren Erlebnissen während der Zeit der Roten Khmer und dem Verlust ihrer Familienangehörigen berichteten, eine übliche Narrativform.56

1.2 Frankreich, eine antitotalitäre Wende und das Engagement der antitotalitären Intellektuellen Französische Intellektuelle gegen totalitäre Staaten – ein ideologischer Wendepunkt als Grundlage für einen neuen humanitären Konsens In den 1970er Jahren vollzog sich in Frankreich ein intellektueller Wandel, der sich auf die Einordnung und Wahrnehmung der Krise in Frankreich auswirken sollte, denn einer medial sehr sichtbaren Gruppe französischer Intellektueller lieferte die südostasiatische Krise einen Beweis für die Gefahr, die von totalitären Staaten ausging. Vietnam und die vietnamesische Armee wurden zum Ziel dieser Wahrnehmung. Der intellektuelle Wandel bedeutete zugleich eine Abkehr der Mai ʻ68-Generation von ihren radikalen Revolutionsidealen.57

55 56

57

Vgl. hierzu auch: ebd., S. 206–207. Siehe beispielsweise eine Reportage, in der Flüchtlinge, die vom Kamerateam durch den das Lager umgebenden Maschendrahtzaun getrennt sind, auf Französisch interviewt werden. Starker Regen hat das Lager in eine Schlammlandschaft verwandelt, und viele der Zelte sind nur sehr provisorisch aufgebaut. Philippe de Dieuleveult: Réfugiés Thailande, Antenne 2 (= Le Journal de 20H), 02.07.1979, https://www.ina.fr/vid eo/CAB7901263601/refugies-thailande-video.html (zuletzt geprüft am 21.08.2022). Siehe zur Geschichte der 68er-Bewegung in Frankreich u. a.: Jean-François Sirinelli: Mai 68. L’événement Janus, Paris: Librairie Arthème Fayard 2008; Geneviève Dreyfus-Armand/Robert Frank/Marie-Françoise Lévy et al. (Hg.): Les années 68. Le temps de la contestation, Paris: Éditions Complexe 2008; Antoine Artous/Didier Epsztajn/Patrick Silberstein (Hg.): La France des année 1968, Paris: Éditions Syllepse 2008; Julian Jack-

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

Was der Historiker Michael Scott Christofferson als antitotalitäres Moment58 bezeichnet, wurde 1977 mit dem Erscheinen zweier Bücher der nouveaux philosophes Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann – vor allem Letzterer brach mit seinem Buch mit der eigenen maoistischen Vergangenheit – augenscheinlich.59 Die auch kommerziell erfolgreichen Abhandlungen ähnelten sich auffallend in ihrer Stoßrichtung. Der Kern ihrer Botschaften war die Angst vor Staaten, die durch eine zu große Machtfülle ihrer Regierungen und eine, aus Sicht der neuen Philosophen falsche ideologische Basis, namentlich die marxistische Ideologie, totalitär wurden. Damit fingen sie den linken antitotalitären Zeitgeist ein, der sich aus der 68er-Vergangenheit linker Intellektueller entwickelt hatte.60 Mai ʻ68 und die sichtbare Wiederaufnahme revolutionärer Politiken hatten die französische Gesellschaft nachhaltig geprägt. Die durch Pariser Studierende ausgelösten Proteste und der Generalstreik im Mai und Juni 1968 hatten das ganze Land aufgewühlt. Die Protestierenden, getragen durch die marxistischen Gruppen der Neuen Linken61 – eine der markantesten Gruppen die maoistisch orientierte Gauche prolétarienne (GP)62 –, forderten einen

58

59

60 61 62

son/Anna-Louise Milne/James Williams (Hg.): May 1968. Rethinking France’s Last Revolution, London: Palgrave Macmillan 2011. Michael S. Christofferson: French Intellectuals Against the Left. The Antitotalitarian Movement of the 1970s, New York: Berghahn Books 2004. Siehe auch: David Drake: Intellectuals and Politics in Post-War France, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2002; Richard Wolin: The Wind from the East. French Intellectuals, the Cultural Revolution, and the Legacy of the 1960s, Princeton: Princeton University Press 2010; Pascal Ory/ Jean-François Sirinelli: Les intellectuels en France. De l’Affaire Dreyfus à nos jours, Paris: Perrin 2004; F. Hourmant: Le Désenchantement des clercs. Die antitotalitäre Wende der Linken lässt sich auch in anderen Ländern nachverfolgen. Siehe hierzu beispielsweise: Sebastian Kasper: Spontis. Eine Geschichte antiautoritärer Linker im roten Jahrzehnt, Münster: edition assemblage 2019. Im März und Mai 1977 veröffentlichten Glucksmann und Lévy ihre Bücher. André Glucksmann: Les maîtres penseurs, Paris: Grasset 1977; Bernard-Henri Lévy: La barbarie à visage humain, Paris: Grasset 1977. M. S. Christofferson: French Intellectuals Against the Left. Susanne Götze: Die Neue Französische Linke von 1958–1968. Engagement, Kritik, Utopie, Marburg: Tectum Verlag 2015. Die GP war Teil der Linken in Frankreich zwischen 1968 und 1973. Theoretisch stand sie dem Maoismus nahe und vertrat antiautoritäre sowie spontaneistische Ideen. Über ihre Zeitschrift La Cause du Peuple nahm die GP eine wichtige Funktion innerhalb der intellektuellen Debatten der 68er-Bewegung und in der Auseinandersetzung mit der französischen Gesellschaft ein.

51

52

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

rapiden, vom Volk und nicht von einer revolutionären Elite getragenen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandel, wobei sie sich gegen die beiden großen politischen Kräfte der Nachkriegsgeschichte, die Gaullisten und die stalinistischen Kommunisten der PCF, positionierten und die starke Hierarchisierung von Politik und Gesellschaft hinterfragten. Diese Neue Linke lehnte den Kommunismus sowjetischer Färbung bereits ab und warnte vor der Gefahr einer zu stark hierarchisierten Gesellschaft, aber die Publikation von Alexander Solschenizyns Buch »Archipel Gulag«63 im Jahr 1973 auf Russisch und 1974 auf Französisch verschärfte diesen Trend weiter. In diesem Buch beschrieb der sowjetische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger 1970 detailliert seine eigenen Erfahrungen mit den sowjetischen Internierungslagern sowie deren Funktionsweise. Einige Untersuchungen analysierten, dass es alleine aufgrund des Inhalts dieses Buches zum Solschenizyn-Effekt, einem Katalysator für die Abkehr eines Teils der noch dem sowjetischen Kommunismus verfallenen französischen Linken, gekommen sei.64 Dagegen sieht Christofferson eher die innerfranzösischen Verhandlungen des Buches sowie die politische Lage in Frankreich als ausschlaggebend für die Wende in der Linken, die sich unter dem Schlagwort eines linken Antikommunismus subsumieren ließe. Denn die PCF und deren politischer Verbündeter, die PS, die sich seit 1972 im Rahmen der Union der Linken zusammengeschlossen hatten und große politische Erfolge verbuchten, wirkten für viele Anhänger und Anhängerinnen der antitotalitären Wende wie eine Drohung, dass ein totalitärer, von marxistischer Ideologie getragener Staat auch in Frankreich möglich sei. Demgegenüber stellten die Neuen Philosophen ihre Ideen von Dehierarchisierung und Volkswiderstand. Dies spiegelte sich in der Debatte zwischen der PCF und André Glucksmann, der ein prominenter Verteidiger des Werks von Solschenizyn war. In dieser Debatte konzentrierte 63

64

Solchenizyns Buch »Archipel Gulag« (Gulag als russisches Kofferwort bedeutet übersetzt Hauptverwaltung der Umerziehungs- und Arbeitslager) ist eines der bekanntesten Werke der im sowjetischen Untergrund entstandenen und verbreiteten SamisdatLiteratur. Der Titel bezieht sich auf das Lagersystem der Sowjetunion als eine abgeschlossene Inselwelt. Es erschien im russischen Emigrantenverlag YMCA-Press bereits 1973 auf Russisch. 1974 folgten dann die Übersetzungen ins Französische und in andere europäische Sprachen. Jean-François Sirinelli: Les vingt décisives. Le passé proche de notre avenir 1965–1985, Paris: Fayard 2007. Siehe auch: Robert Horvarth: The Solzhenitsyn Effect. East European Dissidents and the Demise of the Revolutionary Privilege, in: Human Rights Quarterly 29, 4 (2007), S. 879–907.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

Glucksmann sich in seinen Repliken auf die Angriffe der PCF weniger auf die ausgefeilte Beschreibung des Lagersystems in Solschenizyns Werk als auf das Motiv des Volkswiderstands. Ein Motiv, das er auch in seinen folgenden Büchern, darunter »Les Maîtres penseurs«, eines der beiden eingangs erwähnten Gründungswerke der Neuen Philosophen, 1977 erneut aufgriff. In ihren Konzeptionen entwarfen die wortgewandten Hauptvertreter der Neuen Philosophen Lévy und Glucksmann libertär angehauchte und anti-totalitäre Konzepte, die auf dehierarchisierten politischen Strukturen, individuellen Freiheiten und Menschenrechtsideen als Gegenentwürfe zu illiberalen, totalitären Gesellschaften aufbauten. Auch enttäuschte Linke der 68er-Revolution – die GP hatte sich 1973 aufgelöst – konnten an diese Ideen, wie sie insbesondere in »Les Maîtres penseurs« entwickelt worden waren, anknüpfen. Denn sie fanden ihre eigene Kritik an Hierarchie und Volkswiderstand in den Ideen der Neuen Philosophen wieder.65 Der linke Antikommunismus, der diese intellektuelle Wende trug, wirkte sich auch auf die Wahrnehmung der Entwicklung in Südostasien aus. Denn die Not der Boatpeople im Südchinesischen Meer und das ab 1977 zunehmende Wissen über die Vorgänge in Kambodscha zeigten in den Augen derjenigen, die dem neuen intellektuellen Trend folgten, dass totalitäre kommunistische Regierungen in die Katastrophe führten. Ihre eigenen großen antiimperialen Revolutionsideale, die sich vermeintlich in Vietnam, Laos und Kambodscha verwirklicht hatten, zerbrachen an der Realität. Für André Glucksmann, den die Zeitung Le Monde 1980 interviewte, stand fest, dass die Anhänger des Mai ʻ68 – damit auch er selbst, da er als GP-Aktivist in den Protesten mitgewirkt hatte – durch ihre Ignoranz Schuld auf sich geladen hatten. In seinen Ausführungen zu Krieg, Macht und der Bedeutung des Philosophen für den Staat klagte er daher nun diejenigen seiner ehemaligen Genossen und Genossinnen an, die meinten, ihre Hände nach ihrer Abkehr von Jean-Paul Sartre, dem ehemaligen Idol der 68er-Bewegung, in Unschuld waschen zu können, beziehungsweise ihre damaligen Ansichten auf die Lehren Sartres und die Begeisterung für ihn schoben. Dabei verwies er dezidiert auf die Situation in Kambodscha, wo »[z]wischen 1975 und 1979 […] viele Millionen Kambodschaner […] mit Stichwaffen erstochen oder mit Stöcken zu Tode geprügelt [wurden]«. Weiterhin stellte sich die Situation für Glucksmann umso schwerwiegender dar, als François Ponchaud die Situation in Kambodscha deutlich dargestellt und die Linke sich dennoch nicht eindeutig gegen die Roten Khmer po65

D. Drake: Intellectuals and Politics in Post-War France, S. 128–166.

53

54

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

sitioniert hatte.66 Sein bei genauer Analyse zugleich hoch ironischer Diskurs in diesem Interview stellt sinnbildlich den Bruch dar, den viele Intellektuelle, Aktivisten und Aktivistinnen der 68er-Bewegung mit ihrer Vergangenheit vollzogen. Sartre als prominentester Intellektueller und Unterstützer des Mai ʻ68 wurde darin zum Sündenbock für die Begeisterung, mit der die 68er-Generation laut Glucksmann blind einer Ideologie gefolgt war, die zugleich einen deutlichen Bezug zur Dritten Welt hergestellt hatte. So hatten sich im Zusammenhang mit der französischen Neuen Linken starke Solidaritätsbewegungen mit der Dritten Welt, auf Französisch auch tiers-mondisme, formiert. Sartre war für diese Bewegung einer der prominentesten Befürworter sowie intellektueller Wegbereiter gewesen. Er hatte zentrale Theorien für den gerechten Kampf der Dritten Welt, die sich in den Dekolonisierungskriegen vom Imperialismus befreite, formuliert.67 Als eines der zentralen Anliegen der 68erBewegung war dieser antiimperiale und antikoloniale Kampf, wie er in der Dritten Welt geführt wurde – einer der prägnantesten Schauplätze war Vietnam – für viele Studenten und Studentinnen der 68er-Bewegung eine Quelle der Inspiration, bis hin zur totalen Identifikation mit den revolutionären Subjekten, und Triebkraft für ihre eigenen Kämpfe in Paris gewesen.68 Dass ihre Unterstützung revolutionären Bewegungen gegolten hatte, die nach ihrem Sieg für massive Fluchtbewegungen, Umerziehungslager und eine hohe Zahl von Todesopfern innerhalb der eigenen Bevölkerungen verantwortlich zu zeichnen waren, wirkte sich dahingehend aus, dass die Frage der eigenen Schuld an den Ereignissen in der Dritten Welt in den Vordergrund trat. In diesem Kontext zeigt sich in Glucksmanns Zitat eine deutliche Selbstkritik an der ideologischen Verblendung einer – seiner – Generation, die auch nicht protestiert hatte, nachdem die Gewaltexzesse unter den Roten Khmer 1977 bekannt geworden waren, obwohl diese Generation zu diesem Zeitpunkt in der Lage war, genau zu verstehen, was passierte und etwas dagegen hätte

66 67 68

Siehe hierzu das Interview im Original: Christian Descamps: André Glucksmann la philosophie et la guerre, in: Le Monde, 31.03.1980. Arthur Paige: Unfinished Projects. Decolonization and the Philosophy of Jean-Paul Sartre, London: Verso 2010. C. Kalter: Entdeckung der Dritten Welt; A. Paige: Unfinished Projects; Kristin Ross: May ʻ68 and Its Afterlives, Chicago: University of Chicago Press 2002. Zu den Solidaritätsbekundungen mit Vietnam siehe: Jean-François Sirinelli: Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions au XXe siècle, Paris: Fayard 1990, S. 397–427.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

unternehmen können.69 Für ihn leitete sich daraus eine kollektive, durch die eigene Biografie geschaffene Verfehlung ab. Langfristig sollte diese Selbstkritik eine der Vorlagen für die neuen liberalen Ideen des anti-tiers-mondisme werden, der, anstatt eine tief verankerte Solidarität mit der Dritten Welt zu betonen, nun liberale Werte und individuelle Rechte propagierte. Wichtige intellektuelle Persönlichkeiten dieser Bewegung hatten sich sowohl in den 68er-Protesten engagiert als auch die globalen humanitären Krisengebiete mit eigenen Augen gesehen. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Bewegung war Bernard Kouchner, der als Arzt und einer der präsentesten Begründer der MSF70 auch durch seine Biografie den Wandel vom Verfechter der 68er-Ideale hin zu einem von antitotalitären und liberalen Werten überzeugten humanitären Helfer verkörperte. Zusammen mit dem Historiker, Essayisten und Journalisten Jacques Julliard verfasste Kouchner einen Artikel, den der Nouvel Observateur 1978 veröffentlichte.71 Darin formulierten sie eine schlagkräftige Kritik am tiers-mondisme und schlussfolgerten, dass die Entwicklung des Sozialismus in der Dritten Welt letztlich nur in totalitären Regimen enden könne. In ihren Augen bestand das einzige Heilmittel in den freiheitlichen Grundwerten der westlichen Welt. Diese Schlussfolgerungen griffen folgend viele Anhänger antitotalitärer Ideale auf. Am schärfsten spitzte der Publizist und Anhänger der Neuen Philosophie, Pascal Bruckner, diese These in seinem 1983 erschienenen Buch »Le sanglot de l’homme blanc« – den Titel lehnte Bruckner bewusst an Rudyard Kiplings Werk »The White Man’s Burden« an – zu. Darin kritisiert Bruckner mit einem psychologisierenden Ansatz, dass die Westeuropäer durch ihr konstant schlechtes Gewissen und ihre permanente Selbstkritik im Angesicht des Leidens der Dritten Welt handlungsunfähig geworden seien und nur eine Rückkehr zu originär europäischen Werten diesen Zustand beenden könne. Das Plädoyer für mehr europäische beziehungsweise liberale Werte ergänzte er durch den Ratschlag an die »Völker der Dritten Welt«, westlicher zu werden.72 Auch wenn Bruckners Ideen sich fast wie eine Neuauflage kolonialer Denkmuster und der missi-

69 70

71 72

C. Descamps: André Glucksmann philosophie et guerre, 31.03.1980, Le Monde. Die Médecins Sans Frontières waren zu diesem Zeitpunkt noch eine rein französische Organisation. Erst 1980 wurde eine belgische Sektion gegründet. Siehe zur Geschichte der MSF weiterhin den Abschnitt 1.3 dieses Kapitels. Siehe hierzu auch: K. Ross: May ʻ68 and Its Afterlives, S. 158–169. Pascal Bruckner: Le sanglot de l’homme blanc. Tiers monde, culpabilité, haine de soi, Paris: Le Seuil 1983. Siehe weiterhin: K. Ross: May ʻ68 and Its Afterlives, S. 158–169.

55

56

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

on civilisatrice73 lesen, verdeutlichen sie zugleich die kompromisslose intellektuelle Hinwendung zu liberalen Werten, nachdem die Abkehr von den traditionellen linken Ideen, eingeleitet durch desillusionierende Ereignisse in den 1970er Jahren und eine spezifisch französische Verhandlung dieser Ereignisse, für viele enttäuschte Linke als einzige Option erschien. Letztendlich brachte die Abkehr eines Großteils der Linken von den alten ideologischen Vorbildern auch ein Vakuum, das von einer neuen Ideologie der Moral gefüllt werden konnte.74 Der französische Soziologe Jacques Tarnero bemerkte zur Desillusionierung der Linken bereits 1979: »Die Invasion Kambodschas und der chinesisch-vietnamesische Krieg werden den Hoffnungen der Revolutionäre der rive gauche [gemeint ist das linke Seine-Ufer, die traditionelle Hochburg des linken intellektuellen Lebens] ein endgültiges Ende setzen. Der Gulag ist überall. Die Welt ist unterdrückt. Die Verteidigung der Menschenrechte erscheint als der einzig wahre Kampf.«75 Die Verteidigung der Menschenrechte war in Tarneros Analyse die neue Grundlage politischen Handelns. Durch das Ende der binären Politisierung der 68er-Auseinandersetzungen wurde diese »Ideologie der Moral« in Anwendung auf die Situation in Südostasien und insbesondere Kambodscha erstmals zu einem wirkmächtigen Instrument politischer Mobilisierung. Am eindrücklichsten zeigte sich diese Moralisierung der Politik in der Aktion Un bateau pour le Vietnam, für die sich ehemalige Gegner unterschiedlicher politischer Lager zusammentaten, um mehr Aufmerksamkeit und ein größeres französisches Engagement in der Flüchtlingshilfe zu fordern.

Ein Boot wird zum Zeichen eines neuen humanitären Konsenses Die Gruppe von Intellektuellen, Aktivisten und Aktivistinnen des Komitees Un bateau pour le Vietnam fand sich zusammen, nachdem im November 1978 Berichte über ein altes Frachtschiff, die »Hai Hong«, mit mehr als 2500 vietnamesischen Flüchtlingen an Bord, über die französischen Fernsehbildschirme

73

74 75

Für einen Überblick über die Entwicklung der mission civilisatrice: Alice L. Conklin: A Mission to Civilize. The Republican Idea of Empire in France and West Africa, 1895–1930, Stanford: Stanford University Press 1997. Julian Bourg: From Revolution to Ethics. May 1968 and Contemporary French Thought, Montreal: McGill-Queen’s University Press 2007; K. Ross: May ʻ68 and Its Afterlives. Jacques Tarnero: Les habits vieux de la gauche française, in: Le Monde, 01.08.1979.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

geflimmert waren. Da weder Indonesien noch Malaysia bereit waren, das Schiff aufzunehmen und die Flüchtlinge von Bord zu lassen, wurden die Bedingungen für die Menschen an Bord lebensbedrohlich. Am 21. November 1978 veröffentlichte das Komitee in Le Monde einen Aufruf. Neben André Glucksmann zeichneten Bernard Kouchner, Alain Geismar, der einer der führenden Köpfe der GP gewesen war, sowie die Publizisten und ehemaligen Maoisten Jacques und Claudie Broyelle für den Aufruf verantwortlich.76 Das Who’s who der Pariser Intelligenz unterzeichnete den Aufruf.77 Erstmals seit Beginn des Kalten Krieges kooperierten ehemalige Stalinisten und Maoisten mit den konservativen Liberalen vom Comité des intellectuels pour l’Europe des libertés (CIEL), zu denen beispielsweise Raymond Aron gehörte. Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit war den Unterzeichnenden dementsprechend sicher. Der Höhepunkt der Aktion bestand im gemeinsamen Engagement von Aron und Jean-Paul Sartre, den beiden großen intellektuellen Rivalen der französischen Nachkriegsgeschichte. Die beiden trafen am 26. Juni 1979 auf Einladung Valéry Giscard d’Estaings im Élysée-Palast zusammen, um mit ihrem symbolischen Schulterschluss für die Aktion Un bateau pour le Vietnam auf das Leid in Südostasien und insbesondere der vietnamesischen Boatpeople aufmerksam zu

76 77

D. Drake: Intellectuals and Politics in Post-War France, S. 152–154. Den Aufruf des Komitees unterzeichneten neben den bereits Genannten, BernardHenri Lévy, Yves Montand (Künstler und ehemaliger Kommunist), Simone Signoret (Schauspielerin und Aktivistin), Guy Béart (Chansonsänger und Schauspieler), Roland Barthes (Philosoph und Intellektueller), Jean-Marie Benoist (einer der Neuen Philosophen und Mitglied des rechts-nationalen Think-Tanks Club de l’horloge), François Châtelet (Philosoph und Intellektueller), Dominique et Jean-Toussaint Desanti (er Philosoph, sie Journalistin, beide ehemalige Mitglieder der PCF), Jean-Marie Domenach (ehemaliges Mitglied der Résistance und katholischer Intellektueller, Mitglied des CIEL), Michel Foucault, Marek Halter (polnisch-französischer jüdischer Künstler), Jean Lacouture, Simone de Beauvoir (französische Schriftstellerin, Philosophin und Feministin), Emmanuel Le Roy Ladurie (französischer Historiker der Annales-Schule, Mitglied der antitotalitären Association d’études et de recherches en sciences sociales Annie Kriegel), Claude Mauriac (Schriftsteller und Journalist, ehemaliger Privatsekretär von Charles de Gaulle), Edgar Morin (Philosoph und ehemaliges Mitglied der PCF), Jean d’Ormesson (Schriftsteller und Journalist, Generaldirektor von Le Figaro), JeanFrançois Revel (Journalist, Philosoph, Anhänger liberaler Ideale), Claude Roy (Autor, Journalist, ehemaliges Mitglied der PCF), Bernard Stasi (zentristisch-liberaler Politiker, ehemaliger Minister für die frz. Überseegebiete) und Olivier Todd (Journalist und Schriftsteller, Mitglied der Parti socialiste unifié).

57

58

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

machen und um mit dem Präsidenten über die Möglichkeit einer Erhöhung der Aufnahmezahlen zu sprechen.

Abb. 1: Jean-Paul Sartre und Raymond Aron beim Treffen für die Aktion Un bateau pour le Vietnam. André Gluksmann im Hintergrund. © Album Archivo Fotográfico, S.L/Oronoz

Das Foto von Sartre und Aron, auf dem sie sich die Hände schütteln, ging um die Welt.78 Raymond Aron, der während seiner Karriere immer gegen kommunistische Ideen gekämpft hatte, zeigte auf der Pressekonferenz ganz im Zeichen seines bisherigen Engagements seine Sympathie mit denjenigen, die Opfer kommunistischer Herrschaft geworden waren. Jean-Paul Sartre hingegen, der – mittlerweile stark geschwächt und blind – noch einmal in der Öffentlichkeit auftrat, machte auf diejenigen aufmerksam, die Opfer einer Unterdrückung durch die Mächtigen geworden waren. Unabhängig von den divergierenden Interpretationen, die bei diesem Zusammentreffen gegeben

78

J.-F. Sirinelli: Les vingt décisives, S. 200.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

wurden, zeigt dieses Foto eindrucksvoll, wie sich die durch den Mai ʻ68 gespaltene Gesellschaft verändert hatte. Die »strikt humanitäre Verständigung«79 aller Beteiligten machte den politischen Schulterschluss zwischen links und rechts-konservativ möglich. Denn die französische Öffentlichkeit war Zeuge einer humanitären Katastrophe geworden, und im Angesicht des unermesslichen Leidens konnte es keine politischen Lager mehr geben. Der Einsatz für menschliches Leben war zu einem quasi ultimativen Wert geworden, der die traditionellen politischen Grabenkämpfe durchbrochen hatte. Diese Vereinigung unter dem Banner des Humanitarismus war historisch neu.80 Und auch wenn es vonseiten der PCF und des »konservativen Pressebarons«81 Robert Hersant Gegenwind gegen die Aktion gab, trugen diese Stimmen vor allem zur Steigerung der Bekanntheit bei. Allerdings zeigt sich bei einem näheren Blick auf die mediale Inszenierung, dass die Maximalforderungen, die das Komitee an Präsident Giscard d’Estaing stellte, nur sehr bedingt angenommen wurden. In der Unterredung erörterten Sartre, Aron und andere Aktivisten und Aktivistinnen82 gegenüber Giscard d’Estaing die Forderungen des Komitees nach mehr Flüchtlingslagern in Südostasien, der Einführung von Transitlagern in Frankreich, um Flüchtlinge aus Südostasien vorrübergehend in Frankreich unterzubringen und dadurch die Aufnahmeländer in Südostasien zu entlasten sowie nach höheren Aufnahmezahlen von Flüchtlingen in Frankreich.83 Außerdem verwiesen die Aktivisten und Aktivistinnen auf ihre Zusammenarbeit mit anderen europäischen Gruppen – es gab Verbindungen nach Norwegen und Deutschland, wo sich um Rupert Neudeck ein Ableger der französischen Idee gebildet hatte84 –, 79

80 81 82 83 84

Raymond Aron sur les réfugiés indochinois, Antenne 2 (= Question de temps), 25.06.1979, https://www.ina.fr/video/I00018247/raymond-aron-sur-les-refugies-indo chinois-video.html (zuletzt geprüft am 21.08.2022). Anne Vallaeys: Médecins Sans Frontières. La biographie, Paris: Fayard 2004, S. 275–306. Eleanor Davey: Idealism Beyond Borders. The French Revolutionary Left and the Rise of Humanitarianism, 1954–1988, Cambridge: Cambridge University Press 2015, S. 195. Bei den weiteren Vertretern und Vertreterinnen handelte es sich um André Glucksmann, Pierre Miquel, Claudie Broyelle und Dr. Sénéchal. Bernard Kouchner: Brief an Valéry Giscard d’Estaing im Namen des Komitees Un bateau pour le Vietnam, 21.06.1979, AG/5(3)901, ANF. Zur deutschen Aktion von Rupert Neudeck siehe: Frank Bösch: Engagement für Flüchtlinge. Die Aufnahme vietnamesischer ›Boat People‹ in der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen 14, 1 (2017), S. 13–40; Michael Vössing, Competition over Aid? The German Red Cross, the Committee Cap Anamur, and the Rescue of Boat People in

59

60

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

um zu zeigen, dass bereits transnationale Netzwerke entstanden waren, die bereit waren, die Hilfe gemeinsam zu stemmen. Dennoch lehnte der Präsident, dem bewusst war, dass sich international keine Einigung über eine bessere Verteilung der Aufnahmezahlen erzielen ließ, und der mit Blick auf das geringe Engagement anderer Länder einen höheren Einsatz Frankreichs vermeiden wollte, die eigentlichen Forderungen ab.85 Stattdessen stellte die französische Regierung als symbolpolitischen Akt nach der Unterredung 5000 zusätzliche Visa für Flüchtlinge aus Südostasien zur Verfügung. Dadurch kam sie zwar nicht den ursprünglichen Maximalforderungen des Komitees entgegen, setzte aber ein symbolisches Zeichen, das sich gut in den großen Medien vermarkten ließ.86 Dieser Form der Symbolpolitik kam die mediale Inszenierung durch das Komitee sowie die Entpolitisierung der Forderungen durch die ausschließliche Konzentration auf rein humanitäre Hilfe bei einer Ausklammerung der politischen Situation in Südostasien letztlich entgegen. Der Schulterschluss zwischen links und rechts sowie die mit der Konzentration auf die humanitären Notwendigkeiten einhergehende Entpolitisierung der Forderungen ließen sich medial gut inszenieren und die französische Regierung konnte mit einer weiteren symbolischen Geste auf die mediale Inszenierung reagieren. Darüber hinaus garantierte der mediale Coup dem Komitee Un bateau pour le Vietnam genau die Aufmerksamkeit, die es benötigte, um zugleich ihr Projekt, ein Boot mit Namen »Ile de Lumière«, das auf dem Südchinesischen Meer Flüchtlinge rettete, durch Spenden zu finanzieren und den Blick der französischen Öffentlichkeit weiter auf die Situation in Südostasien zu richten. Zwar konnten sich die Aktivisten und Aktivistinnen nicht völlig gegen den Staat durchsetzen, aber es zeigt sich, dass der häufig propagierte Dualismus von Zivilgesellschaft und den von ihr genutzten Menschenrechtsdiskursen auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite komplexer gesehen

85 86

South-East Asia, 1979–1982, in: Johannes Paulmann (Hg.): Dilemmas of Humanitarian Aid in the Twentieth Century, Oxford: Oxford University Press 2016, S. 345–370; Patrick Merziger: The ›Radical Humanism‹ of ›Cap Anamur‹. ›German Emergency Doctors‹ in the 1980s: a turning point for the idea, practice and policy of humanitarian aid, in: European Review of History: Révue européenne d’histoire 23, 1–2 (2016), S. 171–192. Protokoll des Treffens zwischen Mitgliedern des Komitees Un bateau pour le Vietnam und Valéry Giscard d’Estaing, 26.06.1979, AG/5(3)901, ANF. Jean-David Levitte: Notiz an den Präsidenten »sur l’audience Sartre et quelques autres«, 22.06.1979, AG/5(3)901, ANF.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

werden muss. Am Beispiel der Rücksprachen zwischen dem Komitee Un bateau pour le Vietnam und Giscard d’Estaing, aus dem letztlich ein staatliches Zugeständnis entsprang, lässt sich feststellen, dass der rechtsphilosophische logische Dualismus zwischen Staat und Zivilgesellschaft beziehungsweise Menschenrechtsideen aufgebrochen und stärker durch historische Wechselwirkungen nuanciert werden muss.87

1.3 Humanitäre Hilfe und mediale Kooperation – die Médecins Sans Frontières in der kambodschanischen Flüchtlingskrise Nicht nur französische Intellektuelle setzten sich für die südostasiatischen Flüchtlinge ein. Auch die humanitären Organisationen, die in Südostasien vor Ort waren, beeinflussten in hohem Maße die Darstellung in den französischen Medien und damit die Wahrnehmung der französischen Bevölkerung. Die prominenteste Hilfsorganisation waren die MSF, die sich in thailändischen Flüchtlingslagern um kambodschanische Flüchtlinge kümmerten. In Kooperation mit französischen Journalisten und Journalistinnen nahmen sie wie kaum ein anderer Akteur einerseits Einfluss darauf, dass die humanitäre Krise in den französischen Zeitungen und dem Fernsehen so sichtbar war, und bestimmten andererseits, wie die Krise visualisiert wurde. Zudem war der Einsatz in der kambodschanischen Flüchtlingskrise für die MSF ein regelrechter Wendepunkt, denn sie begannen damals, zu der professionellen humanitären Organisation zu werden, als die sie heute bekannt sind. Die MSF entwickelten sowohl ihre Hilfstechniken und Methoden als auch ihre Philosophie durch und mit der kambodschanischen Flüchtlingskrise weiter. Die Art und Weise, wie sie ihre liberale, antitotalitäre Ideologie in ihrer praktischen Arbeit verwirklichten und wie sie aufgrund ihres politischen und ethischen Anspruchs nicht nur versuchten, den Flüchtlingen zu helfen, sondern zugleich Politik gegen Vietnam als totalitärem Staat zu machen, zeigt, dass die Untersuchung dieses prominenten Akteurs wichtig ist. Denn an keinem anderen Akteur kristallisierte sich das Wechselspiel zwischen der antitotalitären Wende in Frankreich, der Hilfsarbeit vor Ort in Südostasien, die sich zugleich in einem globalen Rahmen abspielte, und den Rückwirkungen auf die französische Rezeption so deutlich heraus wie bei den MSF.

87

Vgl. A. Weinke: Vom ›Nie wieder‹ zur diskursiven Ressource, S. 19–20.

61

62

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Im Februar 1992 wurde Rony Brauman, zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre Präsident der MSF, in einer französischen Talkshow gefragt, worin sich die Ursprünge seines humanitären Engagements gründeten. Brauman erläuterte, dass er aufgrund seines linken Hintergrundes neugierig auf die Dritte Welt gewesen sei und geglaubt habe, mit einem Medizinstudium auf der ganzen Welt arbeiten zu können, dass aber erst die kambodschanische Flüchtlingskrise einen Wendepunkt für ihn darstellte. Denn, so Brauman, als er in Thailand war, um den Flüchtlingen zu helfen, sei er selbst zeitweise völlig mittellos gewesen, da es die MSF nicht schafften, Geld und Hilfsgüter in das Lager zu bringen. Nur die materielle Hilfe einiger Flüchtlinge selbst habe es ihm ermöglicht, weiter vor Ort zu arbeiten.88 Als Flüchtlinge nach dem Vorrücken der vietnamesischen Armee massenhaft in das Lager kamen, in dem er arbeitete, sei er völlig überfordert gewesen. Er sprach davon, sich heute [also 1992] zu schämen, dass die MSF nicht schneller handelten beziehungsweise handeln konnten, da der damals noch unstrukturierten Organisation schlicht die Mittel und das Wissen fehlten. Es habe 15 Tage gedauert, bis Hilfsleistungen ankamen – diese nicht von den MSF, sondern von der thailändischen Regierung. In dieser Zeit, so Brauman, seien Hunderte Menschen gestorben, die nicht hätten sterben dürfen. Dieser Schlüsselmoment, schloss Brauman seine Ausführung, sei für ihn der Zeitpunkt gewesen, sich der Sache [des Humanitarismus] komplett zu verschreiben, was er anhand seines Credos zusammenfasste: »Man muss dort [in die Krisengebiete] hingehen, man muss sich engagieren.«89 Der Blick Rony Braumans auf diesen Schlüsselmoment in der Entwicklung der MSF ist aus zwei Gründen interessant. Zum einen verwies Brauman mit seinen Erfahrungen in Thailand auf den Moment, der zum Bruch innerhalb der MSF und deren anschließende institutionelle Neuausrichtung als humanitäre Organisation mit einem hohen Grad logistischer und technischer Expertise führte. Zum anderen deutete Brauman in dem Interview auch die Bedeutung seiner politischen Vergangenheit an. Das hohe Maß an Politisierung, das viele der MSF-Aktivisten und -Aktivistinnen mit in die Krisenregion brachten, hatte nicht ausschließlich intrinsische Auswirkungen für die Organisation, sondern wirkte sich auch massiv auf die Wahrnehmung der Krise in Frankreich

88

89

Rony Brauman à propos des origines de son engagement dans l’humanitaire, Antenne 2 (= L’heure de vérité), 01.02.1992, https://www.ina.fr/video/I04128346/rony-brauman -a-propos-des-origines-de-son-engagement-dans-l-humanitaire-video.html (zuletzt geprüft am 21.08.2022). Ebd.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

sowie die politische Entwicklung in dem Krisengebiet aus. Die dabei angewendeten Methoden entsprangen sowohl den Erfahrungen der MSF als Aktivisten und Aktivistinnen als auch ihrer Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Medien. Für die Medien – von Zeitungen bis zum Fernsehen – waren die MSF wiederum Schlüsselfiguren, wenn es um den Zugang zu Geschichten und Bildern aus den Flüchtlingslagern ging, und die MSF nutzten diese Stellung gezielt aus, um ihre eigene politische und ideologische Überzeugung in Frankreich zu platzieren.

Die kambodschanische Flüchtlingskrise als Scheideweg der MSF Für die MSF, die seit ihrer Gründung 1971 vor allem aufgrund ihrer steigenden Präsenz in den Medien und des weltweiten Anstiegs von Flüchtlingskatastrophen stetig Mitglieder gewonnen hatten,90 wurde die kambodschanische Flüchtlingskrise zum Scheidepunkt in ihrer Ausrichtung als aktivistische humanitäre Organisation.91 Denn die Struktur der MSF professionalisierte sich im Laufe der Aktivitäten in Thailand erheblich, was auch ein höheres Maß an technokratischer Organisation bedeutete. So sollten sie im Zuge ihrer Arbeit in Thailand viele der Techniken und logistischen Strategien entwickeln, die ihre spätere Arbeit als international agierende humanitäre Organisation nachhaltig bestimmten. Diese Entwicklungen beinhalteten nicht nur die Anwendung ihrer antitotalitären Philosophie im Terrain, sondern auch eine Weiterentwicklung ihrer Techniken, sowohl hinsichtlich der Organisation von Flüchtlingslagern als auch den Umgang mit Medien, worüber sie maßgeblich die Wahrnehmung der Krise in Südostasien mit beeinflussten und die kulturellen sowie politischen Veränderungen in Frankreich mit ihrem politischen Kampf in Südostasien verbanden. Am Anfang dieser Entwicklungen standen Debatten über grundlegend verschiedene Auffassungen zur Zukunft der MSF. Am Ende dieser Entwicklung waren die Bekanntheit, die finanziellen Möglichkeiten und die Professionalisierung der MSF erheblich gewachsen. Ein entscheidender Akteur in diesen Debatten sollte Claude Malhuret werden, der während seines ersten Einsatzes für die MSF nach Thailand in ein Flüchtlingslager bei Aranyaprathet entsandt wurde, wo er innerhalb eines Jahres – relativ alleingelassen von der MSF-Zentrale – versuchte, den von Krank90 91

E. Davey: Idealism Beyond Borders, S. 144–178. In ihrem voluminösen Werk arbeitete Anne Vallaeys vor allem mit Interviews: A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières.

63

64

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

heiten gezeichneten Flüchtlingen zu helfen. Nach seiner Rückkehr nach Paris 1977 ging er mit seiner Befürwortung einer strukturierteren technischen und logistischen Hilfe auf direkten Konfrontationskurs zu Bernard Kouchner, der bis dato die zentrale Figur der MSF war. Für Kouchner stand die schnelle Hilfe und vor allem die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung im Rahmen der témoignage (Zeugenschaft) im Vordergrund. Tatsächlich langfristige und effiziente medizinische Versorgung sowie eine ausgefeilte Logistik lehnte Kouchner aufgrund der damit einhergehenden notwendigen Bürokratisierung der MSF hingegen ab. In seinen Augen sollten die MSF unbürokratische humanitäre Helfer bleiben. Über den Umgang mit dem Flüchtlingsschiff »Hai Hong« und Kouchners Engagement im Rahmen des Komitees Un bateau pour le Vietnam kam es zum endgültigen Bruch zwischen den beiden Lagern. Diejenigen, die die MSF professionalisieren wollten, waren nun in der Mehrzahl. Dass sie in dieser Phase ihrer Neuausrichtung und Konsolidierung als humanitärer Akteur ihren Einfluss weiter ausbauen konnten, lag sowohl daran, dass sie sich technisch entwickelten, als auch an einer politischen Implementierung ihres Selbstverständnisses in Frankreich und im Terrain. Das Selbstverständnis der MSF als engagierte und aktivistisch orientierte Ärzte und Ärztinnen war während der Biafrakrise, die als Gründungsmythos in die Geschichte der MSF einging, entstanden. Zentral für den Zusammenschluss der Ärzte und Journalisten war das Konzept der témoignage gewesen, das sie als Reaktion auf das Schweigen des Internationalen Roten Kreuzes (International Committee of the Red Cross – ICRC), für das sie in Biafra tätig waren, als Grundpfeiler ihrer Philosophie entwickelten, um Menschenrechtsverbrechen publik zu machen. Dies bedeutete, dass sie im Anblick des Leidens nicht schweigen wollten, wie es eigentlich der Grundsatz der Neutralität des Roten Kreuzes von ihnen verlangte. In den Augen der engagierten Ärzte glich dieses Schweigen dem Verhalten des ICRC während des Zweiten Weltkrieges, als es aufgrund seines Neutralitätsgebots zum Umgang des nationalsozialistischen Deutschland mit den Juden stumm blieb, einem Verbrechen, das so verabscheuungswürdig war, das es sich in ihren Augen auf keinen Fall wiederholen durfte.92 Dieser Ansatz der MSF bettete sich in die zunehmen-

92

Michal Givoni: Holocaust Memories and Cosmopolitan Practices. Humanitarian Witnessing between Emergencies and Catastrophe, in: Amos Goldberg/Haim Hazan (Hg.): Marking Evil. Holocaust Memory in the Global Age, New York, Oxford: Berghahn Books 2015, S. 121–145, hier S. 127. Siehe auch Annette Wieviorka, die den Einfluss des Holocaust auf das moderne Konzept der Zeugenschaft ab den 1970er Jahren unter-

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

de Bedeutung von Zeugenschaft als Aspekt zivilgesellschaftlicher Arbeit in den 1970er Jahren ein.93 Die Politikwissenschaftlerin Michal Givoni verwies allerdings bereits darauf, dass die témoignage für die MSF bis Mitte der 1980er Jahre, im Gegensatz zu der in der Forschung weit verbreiteten Annahme, weniger darin bestand, lautstark öffentliche Positionen zu beziehen, sondern vorrangig darin, »dahin zu gehen, wo die anderen nicht hingehen«94 , bei den Opfern zu sein und diesen zuzuhören. Dies war laut Michal Givoni nicht neutral, da durch diese Präsenz vor Ort weitere Gewalttaten an den Opfern verhindert werden sollten.95 Darüber hinaus ging es auch um das westliche Selbstbild der Ärzte und Ärztinnen. So war die »Zeugenschaft […] eine Form der ethischen Arbeit (Askese), die die Ärzte an sich selbst durchführten und durch die sie sich gleichzeitig zu humanitären Praktikern und menschlicheren Ärzten entwickeln konnten.«96 Sich selbst als Arzt oder Ärztin zu verbessern und durch die Herausforderungen in der Krisensituation zu wachsen, war auch deshalb so essenziell, weil die MSF ihr eigenes Berufsbild in Frankreich als zu formalisiert erlebten und gleichzeitig als von Kommerzialisierung bedroht empfanden, was zu einer Distanzierung von den Patienten und Patientinnen führte.97 In den provisorisch eingerichteten thailändischen Flüchtlingslagern, wo die Ärzte und Ärztinnen unter teils abenteuerlichen Umständen und auf sich selbst gestellt arbeiteten, hatten sie das Gefühl, den Ursprüngen ihres Berufs wieder näherzukommen. Denn einerseits hatten sie direkten Kontakt zu ihren Patienten und Patientinnen, der nicht durch Bürokratie und Institutionen behindert war. Andererseits konnten sie zur Medizin als tatsächlichem Hand-

93

94

95 96 97

sucht: Annette Wieviorka: L’ère du témoin, Paris: Plon 1998. Weiterhin: E. Davey: Idealism Beyond Borders, S. 164. A. Wieviorka: L’ère du témoin. Siehe auch die Studie von Michal Givoni zur Entwicklung der Zeugenschaft seit dem Ersten Weltkrieg: Michal Givoni: The Care of the Witness. A Contemporary History of Testimony in Crises, Cambridge: Cambridge University Press 2016. Médecins Sans Frontières: Principes de Chantilly, Chantilly, 17.02.1997, http://associat ivehistory.msf.org/fr/principes-de-chantilly (zuletzt geprüft am 13.08.2022). Siehe zu den Ursprüngen der témoignage auch: M. Givoni: Holocaust Memories and Cosmopolitan Practices, S. 130–134. Genauso: A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières, S. 247. M. Givoni: Holocaust Memories and Cosmopolitan Practices, S. 130–131. Ebd., S. 131. Ebd., S. 130–131.

65

66

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

werk zurückkehren, wobei sie mit wenig Mitteln häufig auch desolate physische Zustände bei den Flüchtlingen kurieren konnten.98 Die Praxis der témoignage beschränkte sich in Kambodscha aber, im Gegensatz zu Michal Givonis Analyse, nicht nur auf die Unterstützung der Opfer vor Ort, um weiteren Gewalttaten vorzubeugen. Die MSF, die in Thailand vor Ort waren, nutzten ihre Stellung in den von ihnen betreuten Lagern ganz gezielt, um mit ihren Erlebnissen, ihrer Zeugenschaft dieser Erfahrungen und ihrer Autorität als Ärzte und Ärztinnen sowie humanitäre Praktiker und Praktikerinnen eine Politik zu verfolgen, die auf ihrer politischen Antipathie gegen totalitäre Regime, verkörpert durch Vietnam, basierte. Die témoignage war in diesem Zusammenhang gleichzeitig eine Unterstützung für die Patienten in den Lagern und eine politische Strategie, durch die die MSF Gelder akquirierten und die öffentliche Meinung zur Politik Vietnams in der Region beeinflussen konnten. Zu diesem Zweck nutzten die MSF ihre engen, teilweise freundschaftlichen Kontakte zu Medienvertretern und -vertreterinnen. Die Zusammenarbeit mit den Medien sollte dabei nicht nur dem Grundrecht auf Information entgegenkommen, sondern die Medien besaßen in den Augen der MSF auch eine Menschenrechtsverbrechen vorbeugende Funktion, selbst wenn dies im Gegenzug bedeutete, dass die MSF mit ihrer Arbeit unter ständiger medialer Beobachtung standen. Dafür verließen sich die Medienvertreter und -vertreterinnen auf die Erfahrungen der humanitären Praktiker und Praktikerinnen und konnten über die MSF Zugang zu den Flüchtlingslagern erhalten, die die MSF betreuten.99 Insbesondere weil die thailändische Regierung westlichen Journalisten und Journalistinnen sowie westlichem Hilfspersonal nur eingeschränkten Zutritt zu anderen Flüchtlingslagern ermöglichte, war der Kontakt zu den MSF für die Medienmacher und -macherinnen, die Bilder aus den Lagern liefern wollten, so wichtig. Quasi als Gegenleistung lieferten sie die Bilder einer humanitären Katastrophe, die ganz im Sinne der témoignage, der Welt zeigten, wie die Opfer vor Ort litten, und über deren Ausstrahlung die MSF zugleich neue Spenden akquirieren konnten.100 Für Letzteres war vor allem

98

Siehe beispielsweise Rony Braumans Erinnerungen an seine Zeit im Lager Surin: A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières, S. 271. 99 Germain Gilles: De la réponse technique à l’interrogation ethique. Première mission d’un Médecin sans Frontières dans un camp de réfugiés cambodgiens et vietnamien. Dissertation, Lyon 1991, S. 31. 100 Vgl.: E. Davey: Idealism Beyond Borders, S. 164.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

der emotionale Gehalt dieser Bilder wichtig, und die MSF beeinflussten die Berichterstattung und damit die Wahrnehmung der Öffentlichkeit nicht alleine, indem sie die Opfer zeigten und zu Wort kommen ließen, sondern, indem sie ihre eigene Deutung und Erfahrung in die Zeugenschaft mit einflochten. Die sechsminütige Reportage eines französischen Fernsehteams, die im Januar 1979 zur besten Sendezeit auf dem staatlichen Sender TF1 ausgestrahlt wurde, zeigte den Alltag eines von Stacheldraht umgebenen Flüchtlingslagers. Die darin interviewten Flüchtlinge sprechen von ihrem Leben unter den Roten Khmer, von der harten Arbeit und Massakern. Teilweise wurden die Flüchtlinge durch den Stacheldraht interviewt, so dass die Bilder leicht Assoziationen zu den Bildern von der Befreiung von Auschwitz hervorrufen konnten. Dann zeigt die Reportage den Arzt Pascal Grellety,101 einen der Mitbegründer der MSF, der bereits in Biafra im Einsatz gewesen war, bei seiner Arbeit im improvisierten Lagerkrankenhaus. In einer über eine Minute langen Szene untersucht er ein Kleinkind, das in den Armen seiner deutlich unterernährten und am Kopf rasierten Mutter liegt. Grellety verweist auf die körperliche Schwäche und völlige Unterernährung des von Marasmus gezeichneten Kindes und zeigt die Parallelen zu Biafra auf. Auch erläutert er, dass viele der Kinder an Diarrhoe, einem für Marasmus und Kwashiorkor typischem Symptom, stürben. Auf die Frage des Journalisten, was der Frau geschehen sei, antwortet diese mithilfe eines Dolmetschers, dass es in ihrem Dorf keinen Reis mehr gegeben habe und viele Menschen an Diarrhoe gestorben seien. Grellety ergänzt daraufhin, was die Frau offenbar in einem früheren Gespräch geäußert hat, und spricht mit Nachdruck davon, dass von den 700 Bewohnern und Bewohnerinnen in dem Dorf der Frau 200 innerhalb von zwei Monaten gestorben seien, wobei er den Wahrheitsgehalt dieser Aussage noch dadurch bestärkt, dass er berichtet, er habe die gleichen Aussagen auch von anderen Flüchtlingen gehört.102

101

Pascal Grellety Bosviel/Sophie Bocquillon: Toute une vie d’humanitaire. 50 ans de terrain d’un médecin-carnettiste, Bordeaux: Elytis 2013. 102 Jean Louis Burgat, Le Cambodge après Pol Pot, TF1 (= Actualités 20H), 27.01.1979, ht tps://www.ina.fr/video/CAA7900099901/le-cambodge-apres-pol-pot-video.html (zuletzt geprüft am 14.08.2022).

67

68

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Abb. 2: Pascal Grellety untersucht ein kambodschanisches Kind in einem thailändischen Flüchtlingslager. © Institut national de l’audiovisuel France103

In dieser Szene kristallisieren sich die mediale Arbeit der MSF vor Ort und die Art und Weise, wie in der medialen Außendarstellung die medizinische Versorgung der Opfer mit der témoignage über die Vorgänge in Kambodscha verbunden wurde. So wie Grellety, der persönlich nicht bei den eigentlichen Geschehnissen dabei war, die Aussagen der Frau, die von dem, was sie erlebt hat, berichtet, aufgreift und um weitere Informationen ergänzt, die er von ihr, aber auch von anderen Flüchtlingen erfahren hat, synthetisiert er eine Vielzahl von Aussagen. Eine Synthetisierung, die Grellety aufgrund seiner Autorität als erfahrener humanitärer Praktiker und Arzt vornehmen kann und durch die er für das französische Publikum die Tragik massenhafter Todesfälle, vor allem vieler Kinder, die ähnlich wie ehemals in Biafra an Marasmus und Diarrhoe starben, bezeugt. Zwar waren die humanitären Praktiker und Praktikerinnen

103 Ebd., Min. 1,42 https://www.ina.fr/video/CAA7900099901/le-cambodge-apres-pol-p ot-video.html (zuletzt geprüft am 14.08.2022).

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

der MSF, die in dieser Form témoignage betrieben, keine direkten Augenzeugen und Augenzeuginnen der Vorgänge in Kambodscha. Doch ihr Umgang mit den Patienten und Patientinnen in Thailand sowie ihre Expertise als Ärzte und Ärztinnen in humanitären Krisenfällen machte sie zu legitimierten Beobachtenden, die aus ihren Beobachtungen in den Flüchtlingslagern vor Ort moralischpolitische Aussagen ableiten konnten, die die französische Öffentlichkeit als wahr anerkannte. Das Leid der Flüchtlinge und der Umgang mit ihren leidenden Körpern bestimmten die Arbeit der MSF in den Lagern. Der Erhalt des Lebens dieser »Körper«104 in der Krisensituation war der Grund für die Anwesenheit der Mediziner und Medizinerinnen, Lebenserhaltung war deren höchstes Ziel. Für dieses Ziel mussten die MSF neue Methoden entwickeln, wofür die Lager, quasi als Laboratorien, den idealen Rahmen boten. So erprobten die sie in den Lagern neue Strategien, um die gängigen Tropenkrankheiten oder die Folgen von Unterernährung und Epidemien zu bekämpfen. Des Weiteren entwickelten sie neue logistische Methoden, um die notwendigen Hilfs- und medizinischen Güter zu liefern und den Aufbau provisorischer Lagerkrankenstationen effektiv zu gestalten. Dadurch erweiterten die MSF ihre Expertise in der Betreuung von großen Flüchtlingslagern beträchtlich. Ein nicht unerheblicher Aspekt der Technifizierung war zudem, dass die MSF ihre Arbeit und das Leiden ihrer Patienten und Patientinnen in den Lagern quantifizieren und messen konnten. Zu diesem Zweck wurden Bilder gemacht, Flüchtlingszeugnisse gesammelt sowie epidemiologische Daten erhoben und analysiert.105 Die Technifizierung verband sich in Thailand auch immer stärker mit dem Konzept der témoignage. Denn die MSF zeigten die Realität vor Ort durch harte Fakten in Form der vor Ort erhobenen Daten. Hierzu passte auch, dass der damalige Präsident der MSF, Claude Malhuret, wenige Tage vor der Kampagne zum Marche pour la Survie du Cambodge beschloss, im Newsletter stärker auf Fakten und Bilder zu setzen, um mehr Raum für den medizinisch-technischen Blick auf die Flüchtlinge zu geben und diesen Blick auch den Unterstüt-

104 Der Blick auf die Körper der Flüchtlinge, hervorragend analysiert in: C. Besnardeau: Mouvement des corps, S. 50–52. Siehe zur Frage von Körper und Flüchtlingen auch: D. Fassin: Humanitarian Reason, S. 143–146; Didier Fassin/Richard Rechtman: The Empire of Trauma. An Inquiry into the Condition of Victimhood, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2009, S. 242–249. 105 M. Givoni: Holocaust Memories and Cosmopolitan Practices, S. 133; C. Besnardeau: Mouvement des corps, S. 71.

69

70

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

zern und Unterstützerinnen zu präsentieren, womit die MSF zudem immer mehr Leser und Leserinnen gewannen. Im Zeitraum von 1979 bis 1985 wuchs die Auflage des Mitgliedermagazins der MSF von 5000 auf 300.000 Exemplare an.106 Die von den MSF betreuten Lager boten als quasi gläserne Einrichtungen die Voraussetzungen für diese Form der quantifizierten Aufbereitung des Leidens vor Ort. Zugleich suggerierten die erhobenen Daten, dass die Lager öffentliche Orte waren, in denen rationale wissenschaftliche Erhebungen möglich waren, wodurch sie zugleich ein Gegensymbol zur Abgeschlossenheit des illiberalen kommunistischen Systems in Kambodscha waren, von wo es weder solche Daten noch vertrauenswürdige Informationen gab.107 Damit verwoben die MSF ihren »medizinischen Blick und die liberale Opposition gegen kommunistische Regime […] was in dem Versuch, eine Alternative zum Diskurs der politischen Feindschaft zu bieten, ausgedrückt wurde. [Dies] wurde sowohl durch die medizinische Technisierung der humanitären Hilfe als auch durch die Neugestaltung des politischen Feldes in Frankreich und anderswo gespeist, da die Links-Rechts-Dichotomie nachließ.«108

»Genozid in Kambodscha« – der Holocaust und die Politik humanitärer Krisen in der Dritten Welt Im Rahmen der kambodschanischen Flüchtlingskrise griffen die MSF auf Narrative und Methoden zurück, die sie bereits in Biafra erprobt hatten: Das waren Genozid-Narrative und Holocaust-Vergleiche, wobei zum Beispiel Claude Malhuret »die Gefahr einer ›physischen Auslöschung‹ der [kambodschanischen] Bevölkerung«109 durch Vergleiche mit den Armeniern und Juden im Ersten und Zweiten Weltkrieg bewusst schürte und in den Medien platzierte. Dieses Vorgehen stand ganz im Zeichen der politischen Kampagne der MSF gegen totalitäre Staaten, in diesem Fall gegen den vietnamesischen Staat, der in Kambodscha die Macht übernommen hatte und nun von den MSF für einen neuen Genozid in Südostasien verantwortlich gemacht wurde.110 Interessan106 Zugleich stiegen auch die Einnahmen der MSF auf 150 Millionen Francs im Jahr 1985 an. Charles Condamines: L’aide humanitaire entre la politique et les affaires, Paris: L’Harmattan 1989, S. 27. 107 M. Givoni: Holocaust Memories and Cosmopolitan Practices, S. 133. 108 Ebd., S. 134. 109 E. Davey: Idealism Beyond Borders, S. 165. 110 Fabrice Weissmann: Silence Heals … From the Cold War to the War on Terror, MSF Speaks Out. A History, in: Claire Magone/Michaël Neuman/Fabrice Weissmann (Hg.):

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

terweise wandte sich der politische Kampf der MSF ab 1979 nicht primär gegen die Roten Khmer, die ursprünglich für die massiven Menschenrechtsverletzungen im Demokratischen Kampuchea verantwortlich gewesen waren und die noch immer als Guerilla gegen die einmarschierte vietnamesische Armee vorgingen sowie Kontrolle über einige Flüchtlingslager in der kambodschanisch-thailändischen Grenzregion ausübten, sondern gegen Vietnam und dessen Kontrolle über Kambodscha. So waren vor allem die Folgen der vietnamesischen Besatzung in Kambodscha Zielscheibe der Politik der MSF. Einerseits ergab sich diese Zielstellung aus der antitotalitären Ideologie der MSF, andererseits daraus, dass die von Vietnam kontrollierte Übergangsregierung in Kambodscha den MSF kein Engagement auf kambodschanischem Territorium erlaubte, wodurch die MSF ihren ursprünglichen Anspruch von Hilfe über Staatsgrenzen hinweg eingeschränkt sahen. Und gerade weil die MSF keine Visa für Kambodscha erhielten, nutzten sie eine Strategie, in der sich ihre Ideologie und ihr Aktivismus perfekt ergänzten. Denn Vietnam und die vietnamesische Besatzung in Kambodscha verkörperten exemplarisch den totalitären Staat, gegen den sich ihre eigene liberale und auf Menschenrechten basierende Ideologie richtete. Insbesondere die Auseinandersetzung um eine angeblich durch die vietnamesische Armee herbeigeführte Hungersnot in Kambodscha war zentral für das Vorgehen der MSF. Allerdings konnten die MSF die Lage in Kambodscha nur aus ihren Erfahrungen in den thailändischen Flüchtlingslagern einschätzen. Daher evozierten sie eine durch die vietnamesische Besatzung ausgelöste »virtuelle Hungersnot«111 , obwohl die Gründe für die Unterernährung der in Thailand ankommenden Flüchtlinge viel eher in den Auswirkungen des durch Krieg und Agrarkommunismus der Roten Khmer ausgezehrten Landes zu suchen waren. Die für diesen politischen Kampf genutzten Methoden lassen sich aus der Geschichte der MSF und ihrer, trotz des internationalen Engagements, weiterhin in innerfranzösischen Debatten und Entwicklungen verhafteten Akteure erklären. Dabei war die Bezugnahme auf vergangene Ereignisse, vorrangig den Holocaust, eine Konstante in der Beschreibung der südostasiatischen Flüchtlingskrise. Die MSF verdeutlichten so einerseits die Dramatik der Situation und gaben andererseits faktisch einen Maßstab vor, über den eine Einordnung des Ausmaßes der Krise möglich schien. Die MSF nutzten diesen Ver-

111

Humanitarian Negotiations Revealed. The MSF Experience, London: Hurst and Company 2011, hier S. 179–180. A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières, S. 359–360.

71

72

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

gleich gezielt in ihrer Kampagne, wobei sie sowohl rhetorisch ein GenozidNarrativ aufbauten als auch mit visuellen Parallelen arbeiteten. Die parallel verlaufenden Veränderungen der französischen Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg und der Vichy-Regierung unterstützten die Wirkkraft des Holocaust-Vergleichs. Dabei waren die humanitären Helfer und Helferinnen, die sich bei den MSF zusammenfanden und im Verlauf der kambodschanischen Flüchtlingskrise das Ausmaß genozidaler Gewalt durch einen direkten Vergleich mit dem Holocaust schürten, aufgrund der eigenen Biografien von ihrem Standpunkt überzeugt. Denn einige der MSF-Mitglieder, wie beispielsweise Bernard Kouchner, hatten selbst Verwandte im Holocaust verloren oder hatten aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln fliehen müssen, wodurch sie selbst nur knapp dem Holocaust entkommen waren.112 Auch Rony Brauman wurde 1950 in Israel geboren, nachdem seine Eltern aus Europa geflohen waren, und wuchs dort in »der Kultur der Auslöschung«113 auf, was ihn für seine Zukunft prägte. Außerdem hatten MSF-Mitglieder bereits während ihres Engagements im Mai ʻ68 die Frage der Schuld der Elterngeneration mit dem Anspruch eines »Nie wieder« verbunden. Weiterhin hatten sie in dieser Zeit schon Vergleiche mit dem Nationalsozialismus bemüht, damals aber um ihr eigenes Erleben in den Straßen von Paris zu beschreiben, wobei sie sich deutlich mit dem kolonialen »Anderen«, für die Studierenden im Mai ʻ68 war es die durch die Bombardierung mit Napalm und Agent Orange seitens der USA bedrohte vietnamesische Zivilbevölkerung, identifizierten.114 Das eigene Erleben und der eigene Erfahrungshorizont sowie persönliche biografische Entwicklungen hatten die Moralvorstellung der meisten MSF-Mitglieder entsprechend geprägt und eine Disposition für ihre Holocaust-Rhetorik geschaffen, mit der sie versuchten, weit entfernten Opfern humanitärer Katastrophen zu helfen. Doch auch wenn die MSF 1979 die Diskurshoheit über die südostasiatische Flüchtlingskrise übernahmen, waren sie nicht die »Erfinder« des HolocaustVergleichs. Schon früh nach der Machtübernahme der Roten Khmer hatten Artikel in den USA und Großbritannien, die maßgeblich auf Informationen der US-amerikanischen Regierung beruhten, einen Vergleich zum Holocaust gezogen. Da die Informationsquelle allerdings durch den Vietnamkrieg und die Watergate-Affäre diskreditiert war, hatten diese Berichte in den Augen 112 113 114

F. Bösch: Engagement für Flüchtlinge, S. 26. A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières, S. 261–262. C. Kalter: Entdeckung der Dritten Welt, S. 205–218.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

französischer Intellektueller, Aktivisten und Aktivistinnen keine große Glaubwürdigkeit besessen.115 In Frankreich schrieb Jean Lacouture, der eigenem Bekunden nach durch das Buch von François Ponchaud seine »Offenbarung« erlebt hatte und von seiner radikal linken Vergangenheit Abstand nahm, 1978 viel über die südostasiatische Krise, sowohl über die Flucht der Boatpeople als auch über die kambodschanische Flüchtlingskrise.116 In seinem Buch »Survive le peuple cambodgien!« über das Schicksal Kambodschas verwies er auf die Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus in Hitler-Deutschland und im Demokratischen Kampuchea: »Der deutsche Nationalsozialismus, und das wird seine unwiderrufliche Schande bleiben, machte Jagd auf Juden. Der Khmer-Nationalsozialismus hat mehr als zwei Drittel seiner Bürger zu Juden gemacht.«117 Der Vergleich mit dem Holocaust existierte daher bereits, als die Frage, ob es eine durch die vietnamesische Armee und die Übergangsregierung in Phnom Penh herbeigeführte beziehungsweise beförderte Hungersnot in Kambodscha gebe, zu einem internationalen Politikum wurde. Im Juli 1979 war ein Team, bestehend aus Mitarbeitern des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (United Nations Children’s Fund, UNICEF) und des ICRC nach Kambodscha gekommen, um die Situation vor Ort zu untersuchen. Da die Übergangsregierung in Phnom Penh der internationalen Gemeinschaft misstraute, weil die Roten Khmer im Nordosten des Landes Unterstützungen aus den USA und China erhielten, musste das Team ohne wirkliche Ergebnisse wieder abreisen. Trotzdem sprach UNICEF-Mitarbeiter Jacques Beaumont in einem Interview mit dem britischen The Guardian davon, dass, wenn keine Hilfslieferungen möglich wären, das kambodschanische Volk von seiner Auslöschung bedroht sei.118 Auch wenn die Situation in der Realität nicht so dramatisch war, wie sie dargestellt wurde, griff die internationale Presse diesbezügliche Aussagen auf und begann, von einer Hungersnot im Ausmaß 115 116

117

118

J. F. Metzl: Western Responses, S. 24–27. In einem Artikel im Nouvel Observateur im November 1978 schrieb er beispielsweise über die vietnamesischen Boatpeople, die auf der »Hai Hong« im Südchinesischen Meer trieben, wobei er deren Schicksal mit dem der Juden auf der »Exodus« verglich, die 1947 versucht hatte, die britische Seeblockade nach Palästina zu durchbrechen, was für die meisten Passagiere einen Rücktransport nach Europa nach sich zog. Siehe auch: J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 38. J. Lacouture: Survive le peuple cambodgien!, S. 13. Siehe auch den Artikel des langjährigen Chefredakteurs von Le Monde: André Fontaine: Le troisième génocide du siècle, in: Le Monde, 06.07.1979. Zitiert nach: J. F. Metzl: Western Responses, S. 147.

73

74

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

von Biafra zu sprechen.119 Somit waren die MSF Teil dieser internationalen Medienkampagne, als sie begannen, den Holocaust-Vergleich geradezu inflationär auf die Situation in Kambodscha, nun aber unter einer veränderten Herrschaftssituation, anzuwenden. Ein Gründungsmitglied der MSF, Xavier Emmanuelli, erörterte beispielsweise, dass die Flüchtlinge aussähen wie die Häftlinge von Nazi-Konzentrationslagern, wodurch er die Furcht vor einem weiteren Genozid säte.120 Das Ziel dieser Äußerungen bestand in der Aktivierung groß angelegter humanitärer Hilfe, vorrangig durch Nahrungsmittellieferungen, die direkt nach Kambodscha gebracht werden sollten, um die Not der kambodschanischen Bevölkerung zu lindern.121 Allerdings waren diese Hilfslieferungen aufgrund der nach wie vor schwierigen Lage an den Grenzen und der strikten Kontrollen der vietnamesischen Armee ein schwieriges Unterfangen. Denn die von Vietnam kontrollierte Übergangsregierung wollte keine Einmischung seitens der MSF dulden, und deren politisierendes öffentliches Auftreten machte jede Zusammenarbeit unmöglich. Dass das Narrativ eines »Genozids in Kambodscha« in der französischen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fiel, lag auch an der sehr präsenten Verhandlung der eigenen Vergangenheit unter der Vichy-Regierung in den 1970er Jahren, die einen tiefgreifenden Wandel der Erinnerungskultur zur Folge hatte und in deren Verlauf sich das Selbstverständnis der französischen Gesellschaft änderte.122 Folgend sei auf einige Beispiele verwiesen, die zu diesem Wandel beitrugen: Die amerikanische Fernsehserie »Holocaust« führte 1979 zu einer Kontroverse, genauso wie der bereits 1969 von Marcel Ophüls gedrehte Dokumentarfilm »Le Chagrin et la Pitié«123 und das 1973 auf Französisch erschienene Buch des amerikanischen Historikers Robert Paxton »La France de Vichy«124 . Bei all diesen Vergangenheitsverhandlungen ging es im Kern um die Frage, ob und inwieweit Frankreich freiwillig mit Hitler-Deutschland kollaboriert hatte. Auch die bis dato übliche Reproduktion einer Erinnerung an un119 120 121 122

Ebd., S. 126–155. E. Davey: Idealism Beyond Borders, S. 165. Ebd. Gut analysiert in: Henri Rousso: The Vichy Syndrome. History and Memory in Postwar France, Cambridge/MA: Harvard University Press 1991; E. Davey: Idealism Beyond Borders zeichnet die Zusammenhänge zwischen kollektiver Erinnerung und dem Einfluss auf die Gauche prolétarienne und die MSF nach. 123 Marcel Ophüls: Le Chagrin et la Pitié 1971. 124 Robert O. Paxton: Vichy France. Old Guard and New Order, 1940–1944, New York: Knopf 1972.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

freiwillige Kollaboration und die Glorifizierung der Résistance standen im krassen Kontrast zu dem Verständnis, das sich aus den oben benannten Kontroversen entwickelte.125 Gerade dieser Kontrast gab den erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen einen noch größeren Auftrieb. Teil dieser Auseinandersetzung war weiterhin die Frage der Mitschuld Frankreichs am Holocaust, die sich aus einer Akkumulation unterschiedlicher tagespolitischer Ereignisse ergab. Denn kurz vor der medialen Kambodscha-Kampagne der MSF 1979 hatte sich Louis Darquier, der unter der Vichy-Regierung das Generalkommissariat für Judenfragen geleitet hatte, in einem Interview antisemitisch geäußert.126 Weiterhin waren mehrere Vichy-Offiziere für ihre Taten in Frankreich angeklagt worden, und der Literaturwissenschaftler Robert Faurisson127 wurde aufgrund seiner Leugnung des Holocaust in Frankreich heftig attackiert. All diese Ereignisse – sowohl der Wandel in der Erinnerungskultur als auch das tagespolitische Geschehen – führten dazu, dass der Holocaust nicht nur präsent in der französischen Gesellschaft war, sondern dass das Thema auch viel stärker politisch aufgeladen war als jemals zuvor.128 Diese erinnerungspolitischen und kulturellen Neuverhandlungen wurden durch die MSF mit der Politik humanitärer Krisen verschmolzen. Denn die MSF nutzten die Aktualität der französischen erinnerungspolitischen Debatten für ihre eigenen Zwecke und übertrugen sie auf Kambodscha, wo, ihrer Meinung nach, aufgrund der vietnamesischen Besatzer, ein weiterer Genozid stattfand. Dass andere Ärzte, die eher mit der PCF affiliiert waren und daher Kambodscha besuchen konnten, ein anderes Bild aus Kambodscha zeichneten, ignorierten die MSF. Ihre Anschuldigungen gegen Vietnams Aktivitäten in der Region und die Gegenaussagen von Ärzten der PCF bewirkten in Frankreich, dass der »Zustand der kambodschanischen Gesellschaft in einer Wolke

125

126

127

128

Samuel Moyn zeichnet bereits anhand der Treblinka-Affäre 1966 einen Wendepunkt in der Erinnerung nach: Samuel Moyn: A Holocaust Controversy. The Treblinka Affair in Postwar France, Waltham/MA, Hanover: Brandeis University Press; University Press of New England 2005; P. Mesnard: La victime écran, S. 125. Louis Darquier de Pellepoix, der nach der Befreiung Frankreichs in das frankistische Spanien geflohen war, gab der französischen Zeitschrift L’Express ein Interview, das die Zeitung am 28. Oktober 1978 mit einem Zitat Darquiers »In Auschwitz wurden nur Flöhe vergast« veröffentlichte. Robert Faurisson, der von 1973 bis 1980 maître de conférence in Lyon war, veröffentlichte im Winter 1978 einen Brief in Le Monde, in dem er Auschwitz als Gerücht bezeichnete, wodurch er eine nationale Kontroverse auslöste. M. Givoni: Holocaust Memories and Cosmopolitan Practices, S. 132–133.

75

76

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

der Ungewissheit«129 verschwand, wobei die MSF auf die gleichen moralischen und politischen Fragen verwiesen, die in früheren, mit dem Holocaust zusammenhängenden Debatten aufgeworfen worden waren und nun in diesem neuen Zusammenhang wieder auftauchten. »Das Ergebnis war eine Verschmelzung der Politik des Holocaust-Gedächtnisses – und nicht des Holocaust-Gedächtnisses per se – mit der Politik der Notlage in der Dritten Welt.«130 Dass sich die Holocaust-Erinnerung so gut in anderen Kontexten anwenden ließ und dadurch zu einer Form politischer Rhetorik avancierte, hängt mit der Wandelbarkeit von Erinnerung zusammen. Denn Erinnerung unterliegt einem sozialen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, wobei sie durch Bezugnahmen auf und Anleihen aus folgenden Ereignissen, Deutungen und neuen Erinnerungen stets veränderbar ist.131 Das heißt, dass die Aufladung von Erinnerung mit Signifikanz auch durch die wiederkehrende Hinwendung zu dieser Erinnerung in anderen Kontexten und Situationen geschieht. Auch die Verhandlung des Holocaust-Gedächtnisses im Kontext der Notlage der Dritten Welt in der kambodschanischen Flüchtlingskrise knüpfte an Vorläufer an. Denn im Laufe der 1960er Jahre, insbesondere im Zuge des französischen Algerien- und des US-amerikanischen Vietnamkrieges sowie dessen Verhandlung durch die 68er-Generation,132 hatte sich der Holocaust als Kern einer Erinnerungskultur etabliert, die sich auf genozidale Gewalt konzentrierte.133 Durch diese Erfahrungen sowie die Aufladung des HolocaustGedächtnisses in diesen Konflikten hatte sich die Bedeutung des Holocausts erst in ihrer Tragweite für Krisensituationen etabliert, wodurch GenozidVergleiche ein deutlicheres Bild humanitärer Katastrophen zeichnen konnten. Dabei schärften diese Krisensituationen zugleich die Konturen sowohl der Holocaust-Erinnerung als auch der humanitären Katastrophen, die auf

129 Ebd., S. 132. 130 Ebd. 131 Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: Stanford University Press 2009, S. 1–29. 132 Berthold Molden: Genozid in Vietnam. 1968 als Schlüsselereignis in der Globalisierung des Holocaustdiskurses, in: Jens Kastner/David Mayer (Hg.): Weltwende 1968. Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien: Mandelbaum 2008, S. 82–97. Weiterhin: C. Kalter: Entdeckung der Dritten Welt, S. 196–205. Andere Arbeiten untersuchten weitere Ereignisse auf ihr Potenzial als Zäsur in der Universalisierung des Holocaust. Siehe Rothberg, der den Algerienkrieg auf seine Verhandlung im Kontext des Holocaust untersuchte: M. Rothberg: Multidirectional Memory, S. 175–198. 133 L. Heerten: The Biafran War, S. 177.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

diese Art verglichen wurden. Letztere erhielten dadurch zugleich kulturelle Signifikanz.134 Die Biafrakrise 1967 war eine der ersten humanitären Krisen, die, vor allem aufgrund des Engagements der MSF, als solch ein Signifikant verhandelt wurde und beeinflusste folgend die westliche Rezeption von Genoziden und Gewalt. Eine Wahrnehmung, die sich in Kambodscha wiederholte, somit einerseits der Flüchtlingskrise Legitimität als humanitäre Katastrophe verlieh und andererseits an das moralische Bewusstsein der französischen Bevölkerung appellierte, genozidale Gewalt in Südostasien zu unterbinden. Insbesondere in Verbindung mit dem sich in Frankreich vollziehenden Wandel der Erinnerungskultur und der Verhandlung eigener Schuld während der Vichy-Regierung konnte der Genozid-Vergleich in Kambodscha mit einer qualitativ neuwertigen Signifikanz bewertet werden.

Die MSF als Aktivisten an der Grenze: Der Marche pour la Survie du Cambodge Der Marche pour la Survie du Cambodge war die erste Medienkampagne der MSF, und als solche wurde sie ein großer Erfolg.135 Es war die erste Kampagne, die die MSF nach dem Ausscheiden des Medienprofis Bernard Kouchner initiierten. Kouchners Ausscheiden bedeutete, dass die MSF neue Wege der medialen Arbeit suchen und sich zu einem bestimmten Grad neu orientieren mussten. Ihre Philosophie und ihre ideologischen Überzeugungen waren grundlegend für den Aufbau und die Durchführung der Kampagne, wobei die MSF sich als Ärzte und Ärztinnen auf der Seite von Demokratie und Menschenrechten gegenüber der Gefahr des Totalitarismus verorteten, sich sozusagen im Feld der liberalen Philosophie von Raymond Aron sahen und sich klar gegen den JeanPaul Sartre der 68er-Bewegung positionieren wollten.136

134 135 136

Ebd. Für eine noch detailliertere Ausführung vieler auch hier folgender Aspekte zum Marche pour la Survie siehe: A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières, S. 344–360. Ebd., S. 337–338.

77

78

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Abb. 3: Claude Malhuret spricht beim Marche pour la Survie du Cambodge. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der MSF. © Patrice Cotteau

Auslöser für die Medienkampagne war laut Rony Brauman zum einen eine Reihe von Problemen, die die MSF als politische humanitäre Akteure mit der vietnamesischen Armee und Übergangsregierung in Kambodscha hatten. Aufgrund ihrer kritischen politischen Haltung erhielten die von den MSF entsandten Ärzte und Ärztinnen, die eigentlich vor Ort in Kambodscha hatten helfen wollen, keine Einreisegenehmigungen für Kambodscha. Zum anderen gab es seit Längerem Gerüchte über eine Hungersnot in Kambodscha, und ab 1979 war eine konstante Zunahme der Zahl abgemagerter kambodschanischer Flüchtlinge in den thailändischen Lagern zu beobachten. Der US-amerikanische Journalist und Südostasienexperte William Shawcross beschrieb die Situation später wie folgt: »Täglich stolperten furchtbar dünne Kreaturen ohne Fleisch [am Körper] und mit weiten, leeren Augen aus den Wäldern und von den Bergen, in denen die Roten Khmer sie eingekesselt hatten. Sie hatten Malaria, sie hatten Tuberkulose, sie hatten Ruhr, sie waren dehydriert, sie waren

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

ausgehungert, sie starben.«137 Diese Situation, die die MSF mangels Einreisegenehmigung nur aus ihren Erfahrungen in Thailand beurteilen konnten, führte nach langen internen Diskussionen zur Organisation des Marche pour la Survie du Cambodge. Denn auch wenn sich im Nachhinein herausstellte, dass es diese »virtuelle Hungersnot«138 in Kambodscha nie gegeben hatte, erschien die Situation der MSF-Führungsspitze als so drängend, dass sie die Medienkampagne als absolute Notwendigkeit sah, die gegen jeden Widerstand durchgesetzt werden musste. Kurz vor Weihnachten 1979 riefen die MSF in mehreren französischen Zeitungen dazu auf, die Grenze nach Kambodscha zu überqueren. Sie hatten sich mit der Organisation internationale contre la Faim und dem International Rescue Committee zusammengeschlossen sowie die Schirmherrschaft mehrerer Pariser Intellektueller gewinnen können – darunter namhafte Persönlichkeiten, wie Bernard-Henri Lévy, der Chanson-Sänger Charles Aznavour und der Wirtschaftswissenschaftler und spätere Berater von François Mitterrand, Jacques Attali. Ziel der Aktion war es, eine große Demonstration von Personen des öffentlichen Lebens, vorrangig aus Frankreich, im Grenzgebiet zwischen Thailand und Kambodscha zu organisieren. Geplant war, dass der Demonstrationszug, begleitet von zwanzig mit Hilfsgütern beladenen Lastwagen, über die Grenze nach Kambodscha eindringen sollte, um dort die Güter zu verteilen. Für breite internationale Aufmerksamkeit sorgte auch, dass die US-amerikanische Friedensaktivistin und Ikone der Folkszene Joan Baez ihre Teilnahme an dem Demonstrationszug zugesagt hatte. Als sich die Demonstranten und Demonstrantinnen am 6. Februar 1980 im thailändischen Flüchtlingslager Aranyaprathet auf den Weg machten, um von dort einen Kilometer bis zum Grenzübergang zu gehen und diesen dann zu überqueren, begleitete sie eine Armee von Fotografen, Fotografinnen, Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt. Auch wenn die Grenze versperrt blieb, und damit die eigentliche Forderung der MSF nach Grenzöffnung nicht erfüllt wurde, war die Berichterstattung global, und die gelieferten Bilder polarisierten die Menschen auch in Frankreich. Der Marche pour la Survie du Cambodge war ein regelrechter Mediencoup. Bereits im Vorfeld gab es heftige internationale Debatten, die sich zwischen den verfeindeten Lagern entspannen und in denen die Aktion der MSF im Rahmen der internationalen Poli137 138

William Shawcross: The Quality of Mercy. Cambodia, Holocaust, and Modern Conscience, New York: Simon and Schuster 1984, S. 170. A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières, S. 359–360.

79

80

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

tik verortet wurde. Auf der einen Seite standen die Roten Khmer, die von den USA und China in ihrem Guerillakampf und in den Vereinten Nationen unterstützt wurden, und auf der anderen Seite die vietnamesische Regierung, die von der Sowjetunion unterstützt wurde, die versuchte, ihrem Vorgehen in Kambodscha sowie der neuen Übergangsregierung in Phnom Penh Anerkennung zu verschaffen. Die Roten Khmer, die sich in den Dschungel zurückgezogen hatten, um von dort den Kampf gegen die vietnamesischen Invasoren zu führen, sahen in der Kampagne der MSF eine Hilfe für das unter der vietnamesischen Besatzung leidende kambodschanische Volk, wohingegen die vietnamesische Regierung die Aktion auf das Schärfste verurteilte und die MSF aufgrund von deren Kooperationspartner, dem US-amerikanischen International Rescue Committee, als verlängerten Arm des amerikanischen Geheimdienstes bezeichnete. In Frankreich verurteilte die sowjettreue PCF den Marche pour la Survie du Cambodge als Propaganda und direkte Schützenhilfe für die Roten Khmer. Insgesamt zeigten die Reaktionen, die auf den Marche pour la Survie du Cambodge folgten, dass die Meinungen über Erfolg oder komplettes Scheitern der Kampagne stark auseinandergingen. In den Zeitungen wurde darüber gestritten, ob die Aktion notwendig gewesen sei oder nicht eher zur Verschärfung der Situation beigetragen habe.139 So ging die französisch-amerikanische Politikwissenschaftlerin Susan George bereits im Vorfeld davon aus, dass sich die MSF mit der Aktion von der sino-amerikanischen Strategie gegen Vietnam habe vereinnahmen lassen und dies nicht dem kambodschanischen Volk zugutekommen würde.140 Roland-Pierre Paringaux, langjähriger Südostasienkorrespondent von Le Monde Diplomatique und der Nachrichtenagentur FrancePresse sowie ein enger Freund von Rony Brauman,141 hingegen kommentierte, dass die Aktion ihre Berechtigung gehabt habe, da sie auf die Missstände aufmerksam gemacht habe und nun »niemand sagen könne, [man] habe das nicht gewusst«142 . Die Debatte über den Nutzen der Aktion führten die MSF auch intern im Rahmen der Assemblé générale im März 1980. Auf der »Anklagebank« saßen die 139

Auch die katholische Zeitung La Croix stellte die Problematik der Aktion dar: Bernadette Colson: Cambodge. Une marche difficile et contestée, in: La Croix, 03.02.1980. 140 Susan George: Les organisateurs de la ›marche pour la survie‹ ne ›tenteront pas de violer la frontière khmère‹. POINT DE VUE Une action mal engagée, in: Le Monde, 31.01.1980. 141 A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières, S. 307–360. 142 Roland-Pierre Paringaux: ›La marche pour la Survie du Cambodge‹. Pour que nul ne dise ›je ne savais pas …‹, in: Le Monde, 08.02.1980.

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

Initiatoren der Aktion Claude Malhuret, Rony Brauman und Xavier Emmanuelli. Viele Mitglieder warfen der Führungsspitze einen Alleingang und die Verletzung der MSF-Grundprinzipien vor, da sich die Ärzte und Ärztinnen mit dieser Aktion nicht um die Opfer gekümmert hätten, sondern vor allem den medialen Coup im Auge gehabt hätten. Für den scheidenden Präsidenten Xavier Emmanuelli stand hingegen fest, dass die MSF damit ihrer Ideologie treu geblieben waren. Freiheit, offene Grenzen und der Erhalt des Lebens als ultimative Werte dieser Ideologie waren durch die Aktion verteidigt worden. Denn für Emmanuelli waren liberale Werte und die Verteidigung der Menschenrechte grundlegend für die Arbeit der MSF: »Die Welt schließt sich und wird sich immer mehr in politischen Definitionen verschließen. Überall treffen wir auf unpassierbare Schleusen. Wer hat in den Lagern in Simbabwe arbeiten können? Wer kann in Vietnam und Laos arbeiten? […] Wir können keine geschlossenen Türen akzeptieren: Wir Ärzte schützen Menschen, wir dienen nicht den Interessen von Staaten, nicht denen von Journalisten, nicht denen von Bewegungen, Gruppen oder Strukturen. […] Wir sind Ärzte, und wir meinen, dass die Existenz der Menschen, ihr Leben, ihre Würde, ihr Glück respektiert werden müssen.«143 Das Vorgehen der MSF in Thailand war, wie Emmanuellis Worten zu entnehmen ist, hoch ideologisiert. Sie sahen sich als Teil der freien, demokratischen Welt und als Ärzte und Ärztinnen aufseiten ihrer Patienten und Patientinnen, den Opfern illiberaler, totalitärer Systeme, wie sie sie in Südostasien durch die vietnamesische Regierung verkörpert sahen. Dass sie mit dem Marche pour la Survie du Cambodge genau diese Diskrepanz zwischen liberaler und illiberaler Welt aufzeigen wollten und zugleich die Menschenrechtsverbrechen totalitärer Staaten anprangerten, ist auch deshalb interessant, weil sie sich eben nicht in demselben Maß über die Verbrechen der Roten Khmer empört hatten und empörten, sondern konkret über den in ihren Augen totalitären Staat Vietnam, der durch die Visaverweigerung für die Arbeit in Kambodscha ihre eigene Bewegungsfreiheit eingeschränkt hatte. Dass die MSF sich damit auch als Ärzte auf ihre moralische Dominanz beriefen, um denjenigen zu helfen, die sie als ihre Patienten und Patientinnen sowie Opfer totalitärer Staaten identifizierten, zeigt auch, wie sehr sie die Rechtfertigung und Rechtmäßigkeit für ihren Einsatz und ihr politisches Engagement auf Basis ihrer Beziehung zur 143

Protokoll der Assemblé générale der MSF am 28.03.1980, zitiert nach: A. Vallaeys: Médecins Sans Frontières, S. 358.

81

82

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Masse der von ihnen betreuten Patienten und Patientinnen ableiteten. In ihrem Kampf um Bewegungsfreiheit fällt auf, dass es der MSF-Führungsriege allerdings nicht darum ging, ein Recht der Flüchtlinge auf Bewegungsfreiheit zu verteidigen. Die Frage der Flüchtlingsaufnahme in Frankreich war dementsprechend kein Aspekt, den die MSF mit ihrer Kampagne in Thailand tangierten, auch wenn das auf ihre Kampagne folgende Medienecho die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für die Region wachhielt.

1.4 Fazit Die Analyse der Bedingungen, Hintergründe, Akteure und deren Methoden sowie der Auswirkungen dieser humanitär-medialen Zusammenarbeit wie auch der kulturellen Veränderungen innerhalb der französischen Gesellschaft zeigte, dass und wie weit Medien und humanitäre Akteure Einfluss auf die französische Wahrnehmung der Fluchtbewegung und der Situation in Thailand ausübten. So waren es eine ganze Reihe französischer antitotalitär ausgerichteter Intellektueller und humanitärer Aktivisten und Aktivistinnen, die die Narrative und Bilder der Situation mitbestimmten. Gerade vor dem Hintergrund der Auflösung der klassischen Links-RechtsDichotomie und der antitotalitären Wende in Frankreich verbreiteten sich liberale Philosophien und die Idee von Menschenrechten als universellem Wert, durch den die Menschen vor totalitären Staaten geschützt werden sollten. Auf Grundlage dieser Philosophie engagierten sich namhafte Intellektuelle für die südostasiatischen Flüchtlinge, da im Anblick humanitärer Krisen weder linke noch rechte Politik zählte, sondern einzig der Schutz des Lebens zentral war und der humanitäre Konsens im Angesicht des Elends als einziger Punkt zur Verständigung blieb. Auch die MSF, die sich in den Flüchtlingslagern in Thailand engagierten, arbeiteten auf Basis dieser philosophischen Grundlage, wobei sie mit ihren Aktivitäten und Methoden in Südostasien eine Politik verfolgten, die den Kampf gegen totalitäre Staaten, wie sie ihn durch Vietnam und dessen Rolle in Kambodscha verkörpert sahen, zum Ziel hatte. Zu diesem Zweck griffen sie auf bereits bewährte Methoden wie die témoignage zurück, wobei sie diese durch ihre Professionalisierung weiterentwickelten. Denn in den von ihnen organisierten beziehungsweise betreuten Lagern konnten sie Daten erheben, neue Methoden der ärztlichen Betreuung entwickeln und dies medienwirksam gegen die Abgeschlossenheit illiberaler Systeme verwenden. Insbesondere das bereits in Biafra erprobte Genozid-Narrativ und global re-

1. Antitotalitarismus, Medien, humanitäre Helfer und Flüchtlinge

zipierte Medienkampagnen begleiteten die Professionalisierung der MSF. Einerseits konnten sie dadurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Region lenken und Hilfsleistungen einwerben, andererseits entsprachen diese Techniken ihrem Kampf gegen den in ihren Augen totalitären Aggressor in der Region. Der ideologische Überbau der MSF als liberaler humanitärer Akteur, dem sie durch diese Methoden zu entsprechen versuchten, konstituierte somit einerseits ihre Arbeit vor Ort, andererseits aber beeinflussten die Probleme vor Ort auch, wie sich die MSF als humanitäre Organisation weiterentwickelten. Diese durch verschiedene Akteure und auf mehreren Ebenen – unter anderem in Zeitungen und Fernsehen – beeinflusste Wahrnehmung der Flüchtlingskrise hielt durch bestimmte Techniken und Narrative die Aufmerksamkeit der französischen Öffentlichkeit auf die Region gerichtet und bewirkte, dass Hilfsleistungen in die Region gespendet wurden. Doch die Erklärung, dass diese Facetten der Krisenrezeption die einzigen maßgeblichen Faktoren für das französische Engagement in der südostasiatischen Flüchtlingskrise darstellten, greift zu kurz. Wie die Analyse der MSF gezeigt hat, richtete sich ihr Aktivismus nicht darauf, Drittstaaten dazu anzuhalten, die Flüchtlinge aufzunehmen, sondern auf ihre eigene Bewegungsfreiheit, als humanitäre Helfer und Helferinnen zu den Opfern in Kambodscha zu gelangen, und auch die Aktion des Komitees Un bateau pour le Vietnam erhielt zwar ein riesiges Medienecho, ihre Maximalforderungen nach einer deutlichen langfristigen Erhöhung der Aufnahmezahlen und Einrichtung vorläufiger Umsiedlungsprogramme in Frankreich konnte sie aber nicht durchsetzen. Die Frage, wie sich die Flüchtlingsaufnahme in Frankreich letztlich konstituierte und welche Akteure aus welchen Gründen sich daran maßgeblich beteiligten, wird in den folgenden Kapiteln analysiert. Dabei wird zuallererst auf den Staat als Akteur eingegangen, und es werden sowohl Aspekte staatlicher Willensbildung als auch staatlicher Instrumente zur Kontrolle von Zuzug und Verhalten von Fluchtpopulationen untersucht.

83

2. Frankreich – Terre d’Asile Südostasiatische Flüchtlinge, staatliche Souveränität und republikanische Asyltraditionen

Die zentrale Bedeutung staatlicher Souveränität in Bezug auf Flüchtlingsaufnahme zeigte sich in Frankreich in besonderem Maße nach der Wahl der linken Regierung unter François Mitterrand 1981, als diese begann, unerlaubte Migration, damit einhergehend auch das Asylrecht weiter einzuschränken. Damit wurde die seit Mitte der 1970er Jahre verfolgte harte Linie gegenüber den Einwanderern ohne Aufenthaltserlaubnis, den sogenannten clandestins, aus der Ära Giscard d’Estaings fortgeführt, um den steigenden Antragszahlen beim Office français de protection des réfugiés et apatrides und dessen völliger Überlastung sowie dem Aufstieg der extremen Rechten mit ihren xenophoben Diskursen beizukommen. Doch auch innerhalb der linken Regierung gab es differierende Haltungen zu diesem Thema. So formulierte der damalige französische Justizminister Robert Badinter, der sich bereits 1981 mit der schnellen Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich als liberaler und reformerischer Politiker hervorgetan hatte, als Reaktion auf die vom Innenministerium geplanten Verschärfungen des Asylrechts in einem internen Brief an Innenminister Gaston Deferre: »Wie Sie wissen, ist dieses Recht [das Asylrecht] gefestigt durch unsere Verfassung und die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951, die in Frankreich seit dem 31. Oktober 1954 Geltung hat. Es bedeutet für unser Land, in dem es 1793 anerkannt wurde, ein unantastbares moralisches Prinzip.«1 In zweierlei Hinsicht ist die Aussage von Robert Badinter für die Untersuchung von Menschenrechten und südostasiatischer Flüchtlingsmigration nach Frankreich interessant. Sie zeigt einerseits, dass die republikanische

1

Robert Badinter: Brief an den Innenminister, 09.09.1982, 19930008/1, ANF.

86

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Asyltradition, also das politische und ethische Ideal der Terre d’Asile, im politischen Ringen um den Umgang mit Migranten, Migrantinnen und Flüchtlingen in Frankreich auch in Zeiten der Einschränkung des Asylrechts Bedeutung hatte. Doch genauso zeugt dieses Beispiel einer regierungsinternen Auseinandersetzung von einer der größten politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen des 20. und 21. Jahrhunderts: Wer darf sich aus welchen Gründen an welchem Ort aufhalten, und wen schließt ein Staat von dieser Aufenthaltsbefugnis aus?2 Diese Frage, die sicher keine allein für das 20. Jahrhundert spezifische Frage ist, entwickelte in Frankreich, wie auch in anderen Teilen Europas, nach dem Zweiten Weltkrieg und ab Mitte der 1970er Jahre eine hohe Brisanz. Frankreich schränkte 1974 das Migrations- und damit zusammenhängend im weiteren Verlauf auch das Asylrecht ein. Ab 1974 war der Asylstatus für viele Menschen die einzige Möglichkeit, einen legalen Aufenthaltstitel in Frankreich zu erhalten. Dadurch stiegen die Antragszahlen beim OFPRA stark an, was die Behörde nur schwer bewältigen konnte. Zugleich sank die Quote tatsächlich anerkannter Flüchtlinge stark ab. Viele Untersuchungen charakterisieren diesen Moment und die darauf einsetzenden Prozesse als eine »Krise des Asyls«3 . Dies äußerte sich sowohl im politischen Umgang mit,

2

3

Vgl. v. a. das Kapitel »Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte« in: H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Siehe auch: Peter Gatrell: The Making of the Modern Refugee, Oxford: Oxford University Press 2013. In der französischsprachigen Forschung hat v. a. Gérard Noiriel die Anfänge des Forschungsfeldes begründet. Dabei sieht er den Nationalstaat und die Gesamtheit der Elemente, aus denen sich ein nationalstaatliches Eigenverständnis konstituiert, als grundlegend für die Kategorie des »Fremden« sowie den Integrationsgedanken: G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers. Spezifischer zur Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge in Frankreich siehe: J.-P. Masse: L’exception indochinoise. Catherine Withol de Wenden hinterfragt die staatliche Souveränität mit Blick auf Migration: Catherine Withol de Wenden: La question migratoire au XXIe siècle. Migrants, réfugiés et relations internationales, Paris: SciencesPo les presses 2017. François Crépeau: Droit d’asile. De l’hospitalité aux contrôles migratoires, Brüssel: Bruylant 1995; Luc Legoux: La crise de l’asile politique en France, Paris: Centre Français sur la Population et le Développement 1995; Philippe Ségur: La crise du droit d’asile, Paris: Presses Universitaires de France 1998; Jérôme Valluy: Rejet des exilés. Le grand retournement du droit d’asile, Bellecombe-en-Bauges: Croquant 2009; Catherine Withol de Wenden: La crise de l’asile, in: Hommes et Migrations 1238, Juli-August (2002), S. 6–12; Catherine Withol de Wenden: Ouverture et fermeture de la France aux étrangers. Un siècle d’évolution, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 73, 1 (2002), S. 27–38.

2. Frankreich – Terre d’Asile

als auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Migration und Asyl. So analysierte der französische Historiker Gérard Noiriel in seinen grundlegenden Arbeiten, wie sich in den maßgeblich durch die Senkung von Ölexporten ausgelösten Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre und der dadurch bedingten hohen Arbeitslosigkeit sowie zunehmend xenophobischen Tendenzen ein Klima entwickelte, in dem sowohl die konservative Regierung unter Valéry Giscard d’Estaing als auch die linke Regierung unter François Mitterrand zwischen ihrem Verständnis als Erben der Französischen Revolution und der Verteidigung der vermeintlichen Interessen französischer Bürger und Bürgerinnen hin und her gerissen waren und letztlich klare Verschärfungen der Asylgesetzgebung beschlossen.4 Anhand dieses Krisenmoments lässt sich einerseits untersuchen, welche Faktoren für die Regierungen ausschlaggebend für die Gestaltung ihrer Politik waren und wie die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge damit zusammenhing. Andererseits lassen sich in diesem spezifischen Zeitfenster auch ideelle Leitlinien und Moralvorstellungen, wie beispielsweise das republikanische Ideal der Terre d’Asile, sehr gut beleuchten, da diese im Ringen um eine politische Linie besonders deutlich hervortraten. Für das vorliegende Buch sind ideelle Traditionslinien auch deshalb so zentral, weil ihr Verhältnis zu anderen Diskursen, darunter Menschenrechts- oder Humanitarismusdiskurse, untersucht werden kann. So lässt sich analysieren, inwieweit diese Diskurse mit Bezug auf Migration und Flucht für den französischen Staatsapparat Wirkungsmacht entfalteten oder ob dem staatlichen Engagement nicht viel eher nationale und außenpolitische Interessen sowie republikanische Ideale zugrunde lagen. In diesem Kapitel wird die Rolle des französischen Staates und der Regierungen für die parallel zur Krise des Asyls einsetzende südostasiatische Flüchtlingsmigration untersucht. So scheint die besondere Unterstützung der süd4

G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers. In Noiriels Büchern spielen die Konstruktion von Nationalstaaten und die Auswirkungen dieser Konstruktion auf die »Ausländer und Ausländerinnen« auf dem Staatsgebiet eine zentrale Rolle. Dabei schreibt er der Bürokratie eine wichtige Rolle in der Etablierung einer Figur des »Ausländers« oder des »Flüchtlings« zu. Siehe hierzu: Gérard Noiriel: Représentation nationale et categories sociales. L’exemple des réfugiés politiques, in: Genèses 26 (1997), S. 25–54. Weiterhin zur Migrationsgeschichte Frankreichs: Gérard Noiriel: Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe-XXe siècle). Discours publics, humiliations privées, Paris: Fayard 2007; Gérard Noiriel: Le creuset français. Histoire de l’immigration XIXeXXe siècle, Paris: Édition du Seuil 2006.

87

88

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

ostasiatischen Flüchtlinge der Abkehr von der republikanischen Asyltradition zu widersprechen, da die französische Regierung genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie diese Wende vollzog, ein staatliches Aufnahmedispositiv5 einrichtete, über das die südostasiatischen Flüchtlinge nach Frankreich geholt und integriert wurden. Dabei handelte es sich vielmehr um eine parallel verlaufende zweigeteilte Politik gegenüber den Südostasiaten auf der einen Seite und Migranten, Migrantinnen und Flüchtlingen aus anderen Regionen der Welt auf der anderen Seite, wodurch sich die südostasiatische Flüchtlingshilfe eher wie eine Ausnahme vom generellen politischen Trend der geschlossenen Grenzen darstellte.6 Diese parallel existierenden staatlichen Politiken in der Asyl- und Migrationspolitik zeigen wiederum, wie zentral die Rolle des Staates und die Präferenzen der jeweiligen Regierungen für Flüchtlingsaufnahme waren (und bis heute sind). Sowohl die grundsätzliche Entscheidung der Regierung Giscard d’Estaing im Jahr 1975, südostasiatische Flüchtlinge, zu Beginn vorrangig vietnamesische Boatpeople7 , aufzunehmen, als auch die ersten Überlegungen, den Prozess 1979, zum Beginn der kambodschanischen Flüchtlingskrise, wieder einzuschränken, sind Beispiele dafür, wie zentral die Rolle der Regierung für diesen Verlauf war und dass es sich letztlich um ein politisches Projekt handelte. Darüber hinaus zeigte der französische Staat, dass seine wohlwollende politique d’accueil, die es vielen Menschen aus Südostasien ermöglichte, nach Frankreich zu kommen und dort ihren Aufenthaltsstatus beim OFPRA langfristig zu legalisieren, an Kontrollmechanismen gekoppelt war.

5

6 7

Der Begriff nationales Aufnahmedispositiv oder »dispositif national d’accueil«, wie er in dieser Forschungsarbeit verwendet wird, bezeichnet die nationale Organisation des Asyls und der Flüchtlingsaufnahme, die der französische Staat in Kooperation mit mehreren Organisationen ab 1973 mit dem Empfang der südamerikanischen Flüchtlinge erließ. Finanziert wurden die Sozialleistungen des Aufnahmedispositivs durch die im Ministerium für soziale Angelegenheiten befindliche Abteilung Direction de la Population et des Migrations. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 5. Im Westen wurden die südostasiatischen Flüchtlinge häufig unter dem Begriff der Boatpeople subsummiert und damit zusammenhängend wie eine Fluchtbewegung gesehen. Streng genommen handelt es sich bei den Boatpeople allerdings nur um die vietnamesischen Flüchtlinge. Weiterhin hält sich hartnäckig die Idee, dass die Flüchtlinge in ihren Booten von Südostasien bis nach Frankreich über das Meer kamen, wobei der allergrößte Teil der Flüchtlinge mit dem Flugzeug aus Südostasien einreiste. Siehe auch: Karen Akoka: La fabrique du réfugié à l’Ofpra (1952–1992). Du consulat des réfugiés à l’administration des demandeurs d’asile. Dissertation, Poitiers 2012, S. 298–314.

2. Frankreich – Terre d’Asile

Somit kam dem französischen Staat beim Empfang der südostasiatischen Flüchtlinge eine Schlüsselposition zu. Dabei gliederte der Staat sich auf in seine wechselnden Regierungen, seinen Staatsapparat sowie weitere halbstaatliche Akteure und Akteurinnen. Die Regierungen, die den Prozess vorantrieben und begleiteten, waren zunächst die konservative Regierung unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing mit Jacques Chirac und folgend Raymond Barre als Premierminister, dann die linke Regierung unter dem Sozialisten François Mitterrand erst mit Pierre Mauroy, dann Laurent Fabius als Premierminister und ab 1986 die Regierung der cohabitation mit Mitterrand als Präsidenten und dem konservativen Jacques Chirac als Premierminister. Diese Regierungen konzipierten aufgrund innen- und außenpolitischen Drucks ihre Flüchtlingspolitiken und versuchten zugleich, Einfluss auf der internationalen Bühne zu gewinnen. In einem ersten Schritt wird in diesem Kapitel analysiert, welche Faktoren maßgeblich bestimmten, warum sich die beiden aufeinanderfolgenden und politisch unterschiedliche Lager vertretenden Regierungen für oder gegen die Aufnahme entschieden. Hierzu soll zuerst die Präsidentschaft von Giscard d’Estaing und insbesondere das Jahr 1979 im Fokus der Untersuchung stehen, denn der Januar 1979 markierte den Zeitpunkt, als die kambodschanische Flüchtlingskrise einen erheblichen Einfluss auf die Verhandlung der bisherigen südostasiatischen Flüchtlingskrise sowie die weitere Entwicklung des französischen Aufnahmedispositivs zu nehmen begann. 1979 wird daher als Brennglas dienen, um das Engagement des französischen Staates bereits als einen Prozess mit vielen, nicht immer homogenen Facetten vorzustellen. Außerdem wird über dieses Jahr hinausgehend erörtert, wie durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren ein nationales staatliches Dispositiv geschaffen wurde und wie sich dieses unter den beiden Regierungen, erst der konservativen, dann der linken Regierung unter Mitterrand, veränderte. Für beide Präsidenten waren innenpolitische Faktoren, wie beispielsweise die Auseinandersetzung zwischen dem konservativen und dem linken Lager oder der Aufstieg der extremen Rechten in den 1980er Jahren, genauso bedeutsam wie bestimmte politische Traditionslinien oder die Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre beziehungsweise deren Folgen. Weiterhin muss in diesem Zusammenhang untersucht werden, wie die nationalstaatliche Willensbildung in einer Wechselwirkung mit internationalen Absprachen stand. Denn Frankreich, das die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) 1951 unterzeichnet und 1952 ratifiziert hatte, war zwar auf der einen Seite ein souveräner und autonom agierender Nationalstaat, auf der anderen Seite aber Mitglied der internationalen

89

90

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Staatengemeinschaft sowie ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der UN. Flüchtlingsaufnahme und humanitäre Krisenbekämpfung waren daher für die französischen Regierungen immer ein politisches Feld, das auf der nationalen wie der internationalen Ebene gelöst werden musste.

2.1 Valéry Giscard d’Estaing – von den Grundzügen einer politique d’accueil bis zu einer Flüchtlingspolitik als internationale Frage »Sie haben nicht das Monopol auf das Herz« – Valéry Giscard d’Estaing und die Anfänge der Aufnahme im Spiegel innenpolitischer Auseinandersetzungen Für die Anfänge der südostasiatischen Flüchtlingsaufnahme war der konservative Präsident Valéry Giscard d’Estaing zentral. Für den jungen Politiker, der im Mai 1974 mit einem knappen Vorsprung vor François Mitterrand in der Stichwahl ins Amt gewählt worden war,8 ging es bei der Flüchtlingshilfe in Frankreich unter anderem um die Verteidigung seines eigenen moralischen Profils. So war er bereits im Wahlkampf von François Mitterrand angegriffen worden, der ihm vorwarf, er mache als konservativer Politiker nur Politik für eine kleine Elite und begreife Politik nicht »als Sache des Herzens«9 . In einem berühmt gewordenen Fernsehduell der beiden Präsidentschaftskandidaten reagierte Giscard d’Estaing auf diese moralisierende Attacke mit dem bekannten Satz »Sie haben nicht das Monopol auf das Herz, Herr Mitterrand!«10 , womit er meinte, dass eben nicht nur linke Politiker oder

8

9

10

Der französische Präsident wird nach dem absoluten Mehrheitsprinzip durch Direktwahl gewählt. Erhält ein Kandidat im ersten Wahlgang nicht mehr als 50 Prozent der Zustimmung, gibt es eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit der höchsten Zustimmung. 1974 erhielt Valéry Giscard d’Estaing 50,81 Prozent der Stimmen und François Mitterrand 49,19 Prozent. Dieser knappe Vorsprung ermöglichte Giscard d’Estaing die Präsidentschaft und zeigt zugleich, wie stark das Land zwischen links und rechts gespalten war. Siehe auch: S. Tignères/A. Ruscio: Dien Bien Phu, S. 279. Valéry Giscard d’Estaing, Vous n’avez pas le monopole du coeur. Valéry Giscard d’Estaing bei der Fernsehdebatte zu den Präsidentschaftswahlen 1974, ORTF Télévision, 10.05.1974, https://www.ina.fr/video/I07115728/valery-giscard-d-estaing-le-mono pole-du-coeur-video.html (zuletzt geprüft am 14.08.2022). Ebd.

2. Frankreich – Terre d’Asile

Politikerinnen und linke Parteien soziale und moralische Ziele verfolgen, sondern auch konservative Parteien und er selbst. Die Flüchtlingsaufnahme, die Giscard d’Estaing ein Jahr nach dem Fernsehduell initiierte, wurde in diesem Kontext zu einem Instrument, um diesem moralischen Anspruch gerecht zu werden. Zugleich hatte die konservative Regierung 1974 ihren Kampf gegen die Migranten und Migrantinnen in Frankreich begonnen, wofür sie unter heftiger Kritik stand. Der Vorwurf lautete, dass die Regierung durch ihre Politik die Menschenrechtstradition Frankreichs missachte.11 Mit der Aufnahme der Flüchtlinge aus Südostasien schien sich demnach auch eine Möglichkeit zu ergeben, diesen Vorwürfen eine konkrete humanitäre politische Praxis entgegenzusetzen, was die Kritik an der Politik allerdings verschärfte, da die konservative Regierung nun parallel eine Politik machte, über die sie die Flüchtlinge gezielt nach Frankreich holte und zugleich die Migranten und Migrantinnen zur Ausreise bewegt werden sollten.12 Stattdessen forderten Kritiker aus unterschiedlichen Lagern, dass Solidarität sowohl mit den Flüchtlingen als auch mit den Migranten und Migrantinnen in Frankreich gezeigt werden sollte.13 Die französische Regierung war zudem schon früh über die Vorgänge in Südostasien informiert, was einer weiteren Etablierung der Flüchtlingspolitik zutrug. Unter anderem erhielt die französische Regierung über die französische Botschaft in Thailand schon kurz nach der Machtübernahme der Roten Khmer Informationen über Menschenrechtsverbrechen in Kambodscha. So schickte die französische Botschaft im Juni 1975 Berichte über Deportationen der kambodschanischen Stadtbevölkerung auf das Land und systematische Exekutionen von ehemaligen Militärangehörigen und Unterstützern des Lon Nol-Regimes an das Außenministerium und den Präsidenten.14 Allerdings reichten diese humanitär motivierten Beweggründe sicherlich nicht aus, die französische Regierung zur Aufnahme zu bewegen. Vielmehr kann eine Kontextualisierung der Flüchtlingspolitik in den innenpolitischen 11 12 13

14

Yvan Gastaut: Français et immigrés à l’épreuve de la crise (1973–1995), in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 84, 4 (2004), S. 107–118, hier S. 111–113. Ebd., S. 113–114. So beispielsweise in einem Kommentar des Generalsekretärs des Comité catholique Faim-Développement in der Zeitung La Croix: Menotti Bottazzi: Accueillir les réfugiés, transformer le monde, in: La Croix, 03.07.1979. Jean-Louis Toffin: Der französische Botschafter in Thailand schreibt an den Außenminister über die Zeugenschaft des Brigadiers Sor-Buon, ehemaligem General der nationalen Armee der Khmer, 23.06.1975, AG/5(3)/956, ANF.

91

92

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Auseinandersetzungen Frankreichs in den 1970er Jahren zeigen, was die Entscheidung für die Aufnahme mit beeinflusste. Denn ähnlich wie die antitotalitären Aktivisten und Intellektuellen sah sich auch die konservative Regierung von der Union der Linken, das zwischen 1974 und 1977 bestehende gemeinsame Wahlprogramm von der Parti socialiste, dem Mouvement des radicaux de gauche und der Parti communiste français, bedroht. Die Union der Linken feierte, wie bereits im ersten Kapitel gezeigt, unter der Führung Mitterrands in den 1970er Jahren große Erfolge. Mit dem Einsatz für die Flüchtlinge konnte Giscard d’Estaing Symbolpolitik gegen seine politischen Widersacher betreiben, denn die Flüchtlinge waren lebende Beweise dafür, wohin kommunistische Systeme mit einem ähnlichen ideologischen Überbau wie dem der Union der Linken eine Gesellschaft führen konnten. Gerade diese Verbindung von symbolischer Flüchtlingspolitik und innenpolitischer Verwertung war ein grundlegender Faktor für die Initiierung der Aufnahme. Daher entschloss sich die Regierung bereits im April 1975 zu einer umfangreichen Einreiseerlaubnis für Flüchtlinge, wobei der Präsident dem Ministerium für soziale Angelegenheiten die Aufgabe übertrug, die Aufnahme von zu diesem Zeitpunkt noch vornehmlich vietnamesischen Flüchtlingen zu organisieren. Von Beginn des Prozesses an verknüpfte die Regierung unter Giscard d’Estaing auch wirtschaftspolitische Fragen mit der Aufnahmepraxis.15 Die seit der ersten Ölpreiskrise 1973 wirtschaftlich angespannte Lage in Frankreich mit hohen Arbeitslosenzahlen und einer starken Rezession beeinflusste die Entscheidung insofern, dass die Politik sicherstellen wollte, dass die aufgenommenen Personen sich leicht integrieren ließen, um keine Belastung für den Staat zu

15

Danièle Lochak: Les politiques de l’immigration au prisme de la législation sur les étrangers, in: Didier Fassin/Alain Morice/Catherine Quiminal (Hg.): Les lois de l’inhospitalité. Les politiques de l’immigration à l’épreuve des sans-papiers, Paris: Éditions La Découverte 1997, S. 29–45. Siehe zu den Entwicklungen der französischen Migrationspolitik auch: Patrick Weil: Liberté, égalité, discriminations. L’identité nationale au regard de l’histoire, Paris: Gallimard 2008; Patrick Weil: La France et ses étrangers. L’aventure d’une politique de l’immigration de 1938 à nos jours, Paris: Gallimard 2005.

2. Frankreich – Terre d’Asile

werden.16 Die schnelle und einfache Integration der Aufgenommenen war daher eine der maßgeblichen Vorgaben der Regierung. Aus diesem Grund machte Präsident Giscard d’Estaing bereits in der Sitzung seines Kabinetts im April 1975, in der er und seine Regierung die initiale Entscheidung für das Engagement trafen, Vorgaben zu den Eigenschaften, die die ausgewählten Flüchtlinge aufweisen sollten. So sollten vor allem Vietnamesen, die aufgrund französischer Sprachkompetenzen und einem guten, heißt französischen, Bildungsniveau bereits dem französischen Kulturkreis angehörten, vorrangig berücksichtigt werden.17 Damit verbunden war die Hoffnung auf eine schnelle Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt. Dies steuerte der französische Staat teilweise gezielt durch bürokratische und monetäre Anreize. So erhielten Personen, die aus Kambodscha, Laos oder Vietnam kamen, zu Beginn der Flüchtlingsaufnahme auch eine Arbeitserlaubnis, ohne den Flüchtlingsstatus beantragen zu müssen, wenn sie beispielsweise nicht dringend auf den Zugang zu französischen Sozialleistungen oder zu einer französischen bürokratischen Identität angewiesen waren und hofften, bald wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Dies traf beispielsweise auf eine ganze Reihe von Personen aus der kambodschanischen Elite zu. Auch Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen mussten bei Neuanstellung eines Beschäftigten aus den Reihen der südostasiatischen Flüchtlinge lediglich 100 Francs an das Office national d’immigration zahlen, wohingegen dieser Beitrag für Personen aus anderen außereuropäischen Ländern mit 1000 Francs bedeutend höher war.18 Die Regierung gestaltete den Zugang zum Arbeitsmarkt für die Südostasiaten dementsprechend ganz bewusst einfach, wohingegen sie diesen Zugang für die Arbeitsmigranten erschwerte.

16

17 18

Für einen Überblick zur Frage, welche Auswirkungen das Ende der wirtschaftlichen Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg hatte, siehe: Serge Berstein/René Rémond/Jean-François Sirinelli (Hg.): Les années Giscard. Institutions et pratiques politiques 1974–1978, Paris: Fayard 2003; Serge Berstein/Pierre Milza: Histoire de la France au XXe siècle. De 1974 à nos jours, Brüssel: Éditions Complexe 1994; J.-F. Sirinelli: Les vingt décisives; Andreas Wirsching et al.: The 1970s and 1980s as a Turning Point in European History?, in: Journal of Modern European History 9, 1 (2011), S. 8–26. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 86. Ebd., S. 134–137.

93

94

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Das Wendejahr 1979 und die Genfer Flüchtlingskonferenz Mit dem Ende der Herrschaft der Roten Khmer im Januar 1979 und dem Beginn massiver humanitärer und medialer Präsenz in Thailand erreichte die südostasiatische Flüchtlingskrise einen quantitativen und qualitativen Höchststand in der globalen Wahrnehmung. Auch in Frankreich erreichte die Krise 1979 einen Höhepunkt medialer Aufmerksamkeit. Interessant ist dabei jedoch, dass die französische Regierung zeitgleich Überlegungen anstellte, ihre Bereitschaft für weitere Hilfen abzuschwächen. Auch wenn sich die Einreisequoten aus Südostasien langfristig wieder stabilisierten, zeigen diese Überlegungen von 1979, dass hoher medialer Druck allein nicht ausreichte, um die konservative Regierung zum Handeln zu bewegen. Damit wurde 1979 zu einem Wendepunkt für das französische Engagement für die Menschen aus Kambodscha, Vietnam und Laos.19 Sowohl wirtschafts- und migrationspolitische als auch verstärkt außenpolitische Faktoren bewirkten diesen Wendepunkt. Bereits vor Januar 1979 gab es innerhalb der Regierung Bedenken gegen den organisierten Empfang von Flüchtlingen. Mit Blick auf den Zustand in den Flüchtlingslagern – die Lager füllten sich, statt sich durch die Umsiedlung in Drittländer zu leeren – äußerten Mitglieder der Regierung Sorge, ob der Empfang von Flüchtlingen wirklich langfristig durchführbar sei. Unter ihnen war der Staatssekretär im Gesundheitsministerium René Lenoir, dessen Ressort den Prozess zu Beginn koordinierte. Er hatte sich aufgrund der Entwicklungen in den Flüchtlingslagern in Südostasien schon lange gegen die liberalen Aufnahmewünsche Giscard d’Estaings ausgesprochen. Solche skeptischen Stimmen in der Regierung wurden Anfang 1979 mit Blick auf die erwartbar steigenden Belastungen lauter, und schon im März 1979 plante die Regierung, die Aufnahmezahlen ab Juli um mehr als die Hälfte zu senken. Eine beim UN-Hochkommissar für Flüchtlinge international zugesicherte Quote von 1100 Flüchtlingen im Monat sollte bis Mitte 1979 erfüllt werden und danach auf 500 abgesenkt werden.20

19

20

Auch in dem voluminösen Werk von Frank Bösch zur neuesten Zeitgeschichte Deutschlands wurde 1979 als ein zentrales Jahr identifiziert, wobei die Aufnahme südostasiatischer Flüchtlinge einen wichtigen Baustein der Argumentation darstellt. Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München: C.H.Beck 2019. Jean-David Levitte: Notiz für den Präsidenten »Réfugiés d’Indochine«. Notiz mit handschriftlichen Anweisungen von Valéry Giscard d’Estaing, 07.03.1979, AG/5(3)/901, ANF.

2. Frankreich – Terre d’Asile

Eine 1979 vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR) in Genf ausgerichtete Konferenz zur Situation in Südostasien, an der auch Frankreich teilnahm, sollte dem Problem der niedrigen Aufnahmen und des mangelnden Schutzes der Flüchtlinge in Südostasien Abhilfe schaffen. Die Konferenz am 20. und 21. Juli 1979 sollte internationale Absprachen ermöglichen. Der UNHCR hatte die Konferenz organisiert, weil das internationale UN-Flüchtlingswerk in der dramatischen Situation in Südostasien machtlos war. Ohne die Unterstützung der südostasiatischen Staaten, insbesondere von Thailand, das kein Unterzeichnerstaat der GFK war, sowie ohne die Bereitschaft von Drittstaaten Flüchtlinge bei sich unterzubringen konnte der UNHCR nur wenig für die geflohenen Menschen tun. Das größte Problem für den UNHCR bestand darin, dass keiner der südostasiatischen Staaten einem internationalen Abkommen zum Schutz von Flüchtlingen beigetreten war, wodurch der Hochkommissar für Flüchtlinge, Poul Hartling, kein Druckmittel besaß, sondern lediglich auf mündliche Schutzzusagen dieser Staaten hinweisen konnte.21 Doch diese verlangten angesichts der exponentiell ansteigenden Flüchtlingszahlen in ihren Ländern ein größeres Engagement westlicher Staaten und finanzielle Zuwendungen. Die internationale Konferenz sollte diesen Zustand durch den Beschluss von großen Umsiedlungsprogrammen und Hilfslieferungen beenden. An der Konferenz nahmen Vertreter und Vertreterinnen von 65 Staaten sowie verschiedene in der Thematik arbeitende UN-Institutionen und NGOs teil.22 Für die französische Regierung bot die Konferenz eine Bühne, um für eine bessere internationale Verteilung der Aufnahmezahlen zu werben, obwohl das Außenministerium bereits vor der Konferenz Bedenken geäußert hatte, ob diese multilateralen Abstimmungsversuche tatsächlich den erwünschten Effekt erzielen würden oder ob nicht die traditionelle humanitäre Diplomatie auf bilateraler Ebene das bessere Instrument sei.23

21

22 23

Siehe zur Rolle des UNHCR in der südostasiatischen Flüchtlingskrise: Gil Loescher: The UNHCR and World Politics. A Perilous Path, New York, Oxford: Oxford University Press 2001, S. 203–213; C.W. Robinson: Terms of Refuge. Barry Stein: The Geneva Conferences and the Indochinese Refugee Crisis, in: The International Migration Review 13, 4 (1979), 716–123. Notiz »Réunion consultative du Haut Commissaire pour les réfugiés sur le problème des réfugiés d’Indochine«, 13.12.1978, 1852INVA-5, CADC.

95

96

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Zugleich begann die französische Regierung ab der Konferenz und der damit zusammenhängenden Verlagerung der Flüchtlingspolitik auf die internationale Ebene über das Spannungsfeld zwischen nationaler und internationaler Ebene beide Verhandlungsräume gegeneinander auszuspielen. Denn im Vorfeld und nach der Konferenz konnte sich die französische Regierung gegenüber der französischen Zivilgesellschaft immer stärker auf den internationalen Verhandlungsraum berufen und gegenüber der internationalen Verhandlungsebene auf nationale Schwierigkeiten verweisen.24 Dies zeigte sich beispielsweise bei dem Treffen mit namhaften Intellektuellen, Aktivisten und Aktivistinnen des Komitees Un bateau pour le Vietnam, das kurz vor der Konferenz in Genf stattfand. Das Treffen am 26. Juni 1979 zwischen Giscard d’Estaing und den zivilgesellschaftlichen Akteuren und Akteurinnen war unter anderen von André Glucksmann initiiert worden und führte Raymond Aron und JeanPaul Sartre mit dem Präsidenten zusammen. Das Komitee Un bateau pour le Vietnam forderte bei dem Treffen größere Anstrengungen Frankreichs auf dem Feld der Umsiedlung von Flüchtlingen nach Frankreich. Der Präsident konnte mit Verweis auf die anstehende Konferenz und die Bedeutung internationaler Absprachen allerdings alle Forderungen des Komitees vorerst ablehnen. Umgekehrt konnte die französische Regierung gegenüber internationalen Institutionen und in außenpolitischen Verhandlungen auf die ökonomische Schieflage Frankreichs verweisen, um Druck auf internationaler Ebene aufzubauen. Dies zeigt sich deutlich in einem Telegramm, das das französische Außenministerium im Vorfeld der Konferenz im Mai 1979 an den UNHCR sandte. Darin beschwerte sich die französische Regierung über die ungleiche internationale Verteilung der Aufnahmezahlen. Zugleich verwies die Regierung darauf, dass auch sie ihre liberale Politik in dem Bereich nun einschränken müsse, und betonte, dass Frankreich ein von der Wirtschaftskrise stark getroffenes Land sei, die französische Gesellschaft nur begrenzte Aufnahmekapazitäten habe und sich diese begrenzten Kapazitäten aufgrund der Wirtschaftskrise immer stärker in der Gesellschaft abzeichneten.25 Durch das Lavieren auf diesen beiden

24

25

Vgl. hierzu die politikwissenschaftliche Two-Level-Game-Theory. Diese ermöglicht die Untersuchung des Taktierens von Staaten bei internationalen, diplomatischen Verhandlungen: Robert Putnam: Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, in: International Organization 42, 3 (1988), S. 427–460. Telegramm an den UNHCR über das französische Aufnahmedispositiv, [nach dem 15.05.1979], 1852INVA-5, CADC.

2. Frankreich – Terre d’Asile

Ebenen versuchten Giscard d’Estaing und die Regierung die französischen Interessen an einer breiteren Verteilung der Last sowie einer Absenkung der Kapazitäten Frankreichs durchzusetzen. Die Ergebnisse der Konferenz beruhten im Wesentlichen auf drei Pfeilern und zeigten deutlich die Bedeutung nationalstaatlicher Souveränität in der Flüchtlingskrise. Die drei Leitlinien der Konferenz konzentrierten sich darauf, dass erstens die westlichen Industriestaaten ihre Aufnahmezahlen stark anheben wollten, dass zweitens die Erstaufnahmeländer, darunter Thailand, versicherten, dass die Flüchtlinge vorübergehend Schutz erhalten würden und dass drittens die vietnamesischen Boatpeople von der gefährlichen Reise über das Südchinesische Meer abgehalten werden sollten. Diese Ergebnisse basierten eindeutig auf dem Verständnis nationalstaatlicher Souveränität. Denn auch wenn es ein Bekenntnis zu höheren Umsiedlungszahlen gab, konnte jedes Land weiterhin eigenständig entscheiden, wie viele Flüchtlinge es aufnehmen wollte.26 Darüber hinaus demonstrierten die auf der Konferenz getroffenen Regelungen, wie internationale staatliche Absprachen die GFK überlagerten. So überdeckte das Votum der Staaten, Flüchtlinge aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit zu den drei südostasiatischen Krisenstaaten Vietnam, Kambodscha und Laos aufzunehmen, den Grundsatz der GFK zur individuellen Verfolgung. Dadurch hebelten die Staaten nachgewiesene und individuelle Verfolgung als einziges Motiv für ein Asylgesuch in einem Drittstaat aus.27 Deutlich trat dadurch die Bedeutung der nationalstaatlichen Dispositionen für oder gegen Aufnahme zutage, die internationale Abkommen wie die GFK überlagerten. So waren es auch nach der Konferenz weiterhin die einzelnen Staaten, die für sich selbst entschieden, in welchem Maß sie sich in der Flüchtlingshilfe einbringen wollten. Auch die langfristige Verteilung der Flüchtlinge zeigte, dass einzig die grundlegende Bereitschaft eines Staates für den Empfang von Menschen aus Südostasien im eigenen Land ausschlaggebend für das Engagement war. Auch wenn die Staaten laut Konferenzbeschluss ihre Bereitschaft zur Aufnahme für 1979 und 1980 verdoppelten, blieben die bis dahin bereits sehr stark engagierten Länder USA, Frankreich, Australien und Kanada weiterhin Vorreiter, da sie aus unterschiedlichen geostrategischen, innenpolitischen

26 27

J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 59–76. Ebd.

97

98

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

und historischen Gründen ihre bisherige Politik fortführten.28 Die stärkere Verteilung der Flüchtlingshilfe, wie Frankreich sie gefordert hatte, setzte sich in der Praxis nicht durch, denn die Kapazitäten der Länder, die nicht bereits sehr stark engagiert waren, stiegen nicht in einem so starken Maße an, dass in der Flüchtlingskrise in Südostasien über massive Umsiedlungsprogramme schnell Abhilfe geschaffen werden konnte. Frankreichs Versuch, über die Darstellung eigener innenpolitischer Schwierigkeiten Druck beim UNHCR und in den internationalen Verhandlungen aufzubauen sowie bei den anderen Staaten für mehr Flüchtlingsaufnahme zu werben, war dementsprechend nicht auf große Resonanz gestoßen. Die langfristigen Folgen waren, dass Frankreich spätestens unter der linken Regierung verstärkt versuchte, die eigene Empfangspolitik zu drosseln und sich 1984 mit dem Ende der Aufnahme über festgelegte Quoten schließlich endgültig von seiner wohlwollenden Hilfe abwandte.

Frankreich, staatliche Souveränität und Menschenrechte in der Außenpolitik Am 10. Dezember 1979 bekam der Präsident der Französischen Republik Valéry Giscard d’Estaing in Genf vom Hochkommissar für Flüchtlinge den NansenPreis überreicht. Der nach dem ersten Hochkommissar für Flüchtlinge Fridtjof Nansen benannte und mit 50.000 Dollar dotierte Preis29 wurde ihm aufgrund seines persönlichen Einsatzes für die südostasiatischen Flüchtlinge verliehen, obwohl der UNHCR schon seit dem Frühjahr 1979 darüber informiert war, dass die französische Regierung nicht mehr bereit war, die Aufnahme weiter zu gleichbleibenden Konditionen zu stemmen.30 Giscard d’Estaing nahm den Preis im Namen der gesamten Republik Frankreich entgegen und betonte in seiner Rede, dass Flüchtlinge und Menschenrechte untrennbar miteinander verknüpft seien, da Menschen sich nur ins Exil begäben, wenn ihre essenziellen Grundrechte verletzt würden. Die Verletzung dieser

28 29 30

Siehe zur Erhöhung der Aufnahmezahlen auch: C.W. Robinson: Terms of Refuge, S. 53–54. Noël-Jean Bergeroux: Le montant du prix sera consacré à des actions en faveur des réfugiés du Cambodge et d’Afrique, in: Le Monde, 12.12.1979. Telegramm an den UNHCR über das französische Aufnahmedispositiv, [nach dem 15.05.1979], CADC.

2. Frankreich – Terre d’Asile

Grundrechte schrieb er illiberalen Herrschaftssystemen zu, die ihre Bevölkerung unterdrückten und keine freie Meinungsäußerung zuließen. Gerade in diesem Zusammenhang verwies er auf die Bedeutung der Zivilgesellschaft und von internationalen Organisationen, die er als treibende Kraft bei der Verteidigung der Menschenrechte hervorhob. Allerdings bedeutete dies für ihn nicht, dass Staaten sich völlig aus der Verteidigung der Menschenrechte zurückziehen konnten, wobei sie »nach einem Ermessen handeln [mussten], das Wirksamkeit gewährleistet«, und damit meinte er, dass die Politik des französischen Staates auf dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten basierte. Dies verdeutlichte er weiter: »Wir weigern uns zu Richtern zu werden, aber wir werden unermüdliche Anwälte für die Sache der Menschenrechte sein.«31 Die Betonung lag für ihn auf der Diplomatie im Rahmen bilateraler Beziehungen und bestehender internationaler Abkommen, aber nicht in der Form, wie sie zivilgesellschaftliche und humanitäre Organisationen in Zusammenarbeit mit globalen Medien propagierten, die andere Staaten aufgrund deren fehlender Einhaltung von Menschenrechten verurteilten. Auch in der Flüchtlingspolitik standen diese Maßstäbe der Staatsraison im Vordergrund. Für Frankreich hatte diese Art von Menschenrechtsrhetorik in der Außenpolitik eine weitreichende symbolische Bedeutung, und die französische republikanische Asyltradition war ein rhetorischer Baustein, um diese Symbolik zu untermauern. Den Zusammenhang zwischen den französischen Ursprüngen von universellen Menschenrechtsideen und Flüchtlingsaufnahme betonte Giscard d’Estaing ebenfalls in seiner Rede in Genf: »Es ist die Ehre meines Landes, vor zwei Jahrhunderten in einer öffentlichen Erklärung eine Liste der Menschenrechte aufgestellt zu haben. Seitdem ist die Idee um die Welt gereist, und heute gehört sie niemandem mehr – außer Milliarden von Menschen. Frankreich ist in vielen Ländern in erster Linie das Land der Ideale von 1789 – der Französischen Revolution. Wir sind stolz darauf! Es sind diese Ideale, die uns immer noch leiten und die insbesondere unsere Politik und unser Handeln gegenüber Flüchtlingen vorantreiben. Menschliches Handeln, brüderliches Handeln, friedliches und freies Handeln.«32

31 32

V. Giscard d’Estaing: Allocution remise de medaille Nansen le lundi 10 décembre 1979. Ebd.

99

100

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Über die Verbindung der Menschenrechtsideale mit dem Handeln in der Flüchtlingsaufnahme konnte Frankreich sich international als eine auf Basis von Moral agierende Nation zeigen. Dabei diente diese Politik als ein Baustein, an dem sich die Menschenrechtsrhetorik mit konkreter politischer Praxis belegen ließ. Zugleich verwies Giscard d’Estaing auf die langen Traditionslinien und damit die Legitimität, die Frankreich als Ursprungsland der Menschenrechte in diesem Bereich von Moralpolitik besaß. Die französische Außenpolitik und das Engagement in der Flüchtlingsaufnahme betteten sich in einen internationalen Kontext ein, der vom Wiedererstarken des Kalten Krieges und einem Aufschwung moralpolitischer Vorstellungen geprägt war. Der Aufstieg von Menschenrechten als außenpolitisches Handlungsfeld in den 1970er Jahren bis hin zu den menschenrechtspolitischen Legitimationen militärischer Interventionen in den 1990er Jahren33 wurde in der Forschung der neuen Menschenrechtsgeschichte anhand der Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen, medialer Darstellung und Außenpolitik eingehend untersucht. Westliche Staaten, angefangen bei den Niederlanden unter Joop den Uyl über die USA unter Jimmy Carter34 bis hin zu Großbritannien unter James Callaghan, begannen in den 1970er Jahren, die Rhetorik zivilgesellschaftlicher und aktivistischer Menschenrechtsbewegungen zu einem festen Bestandteil ihrer Außenpolitiken zu machen.35 Einflussreiche zivilgesellschaftliche Organisationen wie Amnesty International, die beispielsweise durch ihr Engagement gegen die lateinamerikanischen Militärdiktaturen die Aufmerksamkeit der Presse auf ihren Kampf für die Durchsetzung der Menschenrechte gelenkt und dadurch die Sichtbarkeit des Themas erhöht hatten, wirkten als Motoren für diese Entwicklungen. So wurden die Menschenrechte laut dem Historiker Jan Eckel als eine »neulinke Moral in die weltpoliti-

33

34

35

Die Frage, ob der »Durchbruch der Menschenrechte« in den 1970er oder den 1990er Jahren erfolgte, wird von Stefan-Ludwig Hoffmann vor allem aufgrund von durch Menschenrechtsverletzungen legitimierte Militärintervention mit Letzterem beantwortet. Siehe: S.-L. Hoffmann: Human Rights and History. Daniel Sargent, Eine Oase in der Wüste? Amerikas Wiederentdeckung der Menschenrechte, in: Jan Eckel/Samuel Moyn (Hg.): Moral für die Welt, S. 259–289; Barbara Keys: Reclaiming American Virtue. The Human Rights Revolution of the 1970s, Cambridge/ MA, London: Harvard University Press 2014. Siehe: Jan Eckel: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2014; Jan Eckel: Humanitarisierung der internationalen Beziehungen? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 38, 4 (2012), S. 603–635.

2. Frankreich – Terre d’Asile

sche Arena transportiert«36 . Dabei waren gerade für die USA Menschenrechtsdiskurse ein Mittel, ihre Politik nach den Exzessen des Vietnamkrieges und der Watergate-Affäre sowohl nach innen als auch nach außen zu moralisieren, auch wenn die USA dabei in vielen Fällen nachweislich nicht sehr konsequent waren.37 Die USA unterstützten beispielsweise die Roten Khmer nach dem Einmarsch der vietnamesischen Armee 1979 noch lange mit Waffen und anderen Hilfsleistungen sowie diplomatisch, indem sie die Vertretung der Roten Khmer in den Vereinten Nationen anerkannten, um darüber zu verhindern, dass Vietnam seinen Einflussbereich in der Region ausbauen konnte.38 Die Menschenrechtspolitik der USA war zugleich auch ein Mittel, um zumeist kommunistische Staaten im Kalten Krieg international unter Druck zu setzen. Diese Form der Menschenrechtspolitik wirkte sich negativ auf weitere Entspannungsversuche im Kalten Krieg aus, indem sie beispielsweise weitere Abrüstungsgespräche rund um die SALT-Verhandlungen blockierten.39 Die US-amerikanische Art der außenpolitischen Menschenrechtsrhetorik war Frankreich, das versuchte zwischen den Blöcken zu vermitteln, fremd. Stattdessen orientierte sich die französische Regierung in allen Bereichen der Außenpolitik an ihren offiziellen Leitlinien der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten, insbesondere der Sowjetunion, und bilateraler Diplomatie.40 Auch Überlegungen für eine französische Form der Menschenrechtspolitik unterstanden diesem Einfluss. Ende der 1970er Jahre lotete 36

37 38 39 40

J. Eckel: Ambivalenz des Guten, S. 461. Siehe außerdem zum Aufstieg von Amnesty International: Tom Buchanan: Amnesty International in Crisis. 1966–1967, in: Twentieth Century British History 15, 3 (2004), S. 267–289; Tom Buchanan: ›The Truth will Set you Free‹. The Making of Amnesty International, in: Journal of Contemporary History 37, 4 (2002), S. 575–597; Anne M. Clark: Diplomacy of Conscience. Amnesty International and Changing Human Right Norms, Princeton: Princeton University Press 2001; Stephen Hopgood: Keepers of the Flame. Understanding Amnesty International, Ithaca: Cornell University Press 2006. Weiterhin zur Frage einer neuen Moral- oder Menschenrechtsidee in der Außenpolitik: J. Eckel/S. Moyn (Hg.): Moral für die Welt; Thomas Risse/Stephen C. Ropp/Kathryn Sikkink (Hg.): The Power of Human Rights. International Norms and Domestic Change, Cambridge: Cambridge University Press 1999. B. Keys: Reclaiming American Virtue. Zur Verbindung der USA mit den Roten Khmer siehe u. a.: D. Bultmann: Kambodscha unter den Roten Khmer, S. 172–193. J. Eckel: Ambivalenz des Guten, S. 486–487. Mit der Bedeutung von staatlicher Souveränität und Nichteinmischung hatte Frankreich auch während des Algerienkrieges in eigener Sache argumentiert, um die diplomatischen Angriffe auf seine Kriegsführung in Algerien abzuwehren. Siehe hierzu: Fa-

101

102

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

das französische Außenministerium aus, wie eine aktivere Rolle Frankreichs im Rahmen der Menschenrechtssektion der UN aussehen könnte. Die Verfasser eines internen Positionspapiers verwiesen beispielsweise auf die lange Tradition humanitärer Politik in Frankreich, die bereits mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte begründet worden sei. Das Engagement für die Flüchtlinge spielte dafür eine wichtige Rolle. So argumentierten die Verfasser des Papiers, dass ein weiterer Aspekt der französischen Politik hervorgehoben werden solle, da Frankreich eines der Länder sei, das ohne Diskriminierung die meisten Flüchtlinge aus allen Regionen der Welt auf seinem Staatsgebiet aufgenommen habe.41 Zugleich war den Verfassern des Papiers auch klar, dass andere Werte der französischen Außenpolitik, wie das Gebot der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten, gewahrt bleiben mussten. So sprachen die Verfasser davon, dass verhindert werden solle, dass »die Durchsetzung der Menschenrechte zwangsläufig [bedeutete], zu beurteilen, wie andere Staaten mit ihren Bürgern [umgingen].«42 Damit bezog Frankreich eine deutlich andere Position als die USA unter Präsident Jimmy Carter, der seine Menschenrechtsrhetorik als Mittel nutzte, um Staaten wie die Sowjetunion über die Kritik an ihrem Umgang mit den Dissidenten und Dissidentinnen außenpolitisch unter Druck zu setzen und damit die europäische Entspannungspolitik, eines der wichtigsten politischen Projekte Giscard d’Estaings, gefährdete. Dies wurde etwa im Rahmen des KSZE-Prozesses deutlich, bei dem Giscard d’Estaing der Menschenrechtsrhetorik Carters eine ideologische Dimension attestierte und diese stark kritisierte, da er die europäische Annäherung an die Sowjetunion dadurch gefährdet sah.43 In diesem Kontext besaßen auch die internationale und französische Flüchtlingsaufnahme symbolpolitische Wirkung. So nutzten die USA ihr Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge, insbesondere die vietnamesischen, gezielt als symbolpolitisches Instrument gegen Vietnam und

41 42 43

bian Klose: Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien, 1945–1962, München: Oldenbourg Verlag 2009. Notiz »Réflexions des Services du Département sur le sujet de Droit de l’Homme«, 23.04.1979, 454INVA-1909, CADC. Ebd. Siehe beispielsweise: Veronika Heyde: Frankreich im KSZE-Prozess. Diplomatie im Namen der europäischen Sicherheit 1969–1983, München, Wien: De Gruyter Oldenbourg 2017; Wichard Woyke: Die Außenpolitik Frankreichs. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010.

2. Frankreich – Terre d’Asile

andere kommunistische Länder.44 Dadurch machte die US-Regierung die sogenannte »Abstimmung mit den Füßen«45 , die im Verständnis westlicher Staaten während des Kalten Krieges eng mit der Anziehungskraft westlich-kapitalistischer Systeme zusammenhing, zu ihrer politischen Praxis. Diese Form der Politik führte wiederum bei der vietnamesischen Regierung zu deutlicher Kritik, wobei sie die Unterstützung der Boatpeople und die damit verbundene Menschenrechtspolitik der westlichen Staaten, allen voran der USA, als eine Maßnahme betrachteten, die Ökonomien junger dekolonisierter Staaten zu schwächen.46 Die französische Regierung war im Kontext des Kalten Krieges und ihren entspannungspolitischen Bemühungen bestrebt, ihr Engagement für die Flüchtlinge einerseits symbolpolitisch zu verwerten, andererseits aber die Integration der Flüchtlinge gegenüber den neuen Machthabern in Südostasien als nicht staatlich organisiert erscheinen zu lassen. Aus diesem Grund hatte Frankreich schon früh das halb staatliche, halb private Comité national d’entraide franco-vietnamien, franco-cambodgien, franco-laotien (CNE) gegründet, das für den Staat den Prozess organisieren sollte. Darüber hoffte die Regierung unter anderem zeigen zu können, dass nicht der Staat die Integration der südostasiatischen Flüchtlinge in Frankreich steuerte, sondern die Zivilgesellschaft.47 Dies macht deutlich, dass Frankreich bemüht war, in der Außenpolitik keine zu stark moralisierende Haltung einzunehmen und seine Flüchtlingsaufnahmen außenpolitisch in alle Richtungen als humanitär-diplomatischen Akt darzustellen. Einer zu offensiven außenpolitischen Instrumentalisierung von Menschenrechten und Flüchtlingen gegenüber blieb Frankreich hingegen skeptisch.

44

45

46 47

Carl J. Bon Tempo: Americans at the Gate. The United States and Refugees During the Cold War, Princeton: Princeton University Press 2008. Auch Vietnam verwertete die eigenen Flüchtlinge gezielt als Verhandlungsmasse, um darüber bilaterale oder internationale Zugeständnisse westlicher Staaten zu erhalten. Siehe hierzu: Kelly M. Greenhill: Weapons of Mass Migration. Forced Displacement, Coercion, and Foreign Policy, Ithaca: Cornell University Press 2010. Vgl. zur Idee der »Abstimmung mit den Füßen« auch: Patrick Major: Torschlußpanik und Mauerbau. ›Republikflucht‹ als Symptom der zweiten Berlinkrise, in: Burghard Ciesla/Michael Lemke/Thomas Lindenberger (Hg.): Sterben für Berlin? Die Berliner Krisen 1948–1958, Berlin: Metropol Verlag 2000, S. 221–243. Siehe hierzu auch: I. Mann: Humanity at Sea, S. 65–66. René Lenoir: Kommunikation im Ministerrat »l’accueil des réfugiés du sud-est asiatique«. Der Staatssekretär für soziale Angelegneheiten im Gesundheitsministerium über den Empfang der Flüchtlinge, 10.09.1975, AG/5(3)/2491, ANF.

103

104

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

2.2 Kontinuitäten und Brüche im Umgang mit den südostasiatischen Flüchtlingen ab 1981 Der Wandel des Asylideals unter François Mitterrand und die Auswirkungen auf die südostasiatische Flüchtlingsaufnahme 1981, kurz vor dem Machtwechsel von Valéry Giscard d’Estaing zu François Mitterrand, schrieb der in Algerien geborene französische Journalist Daniel Leconte in einem Artikel in der Tageszeitung Le Monde über Immigration und politische Flüchtlinge in Frankreich. Darin verwies er mit Blick auf den Stand des französischen Asylrechts darauf, dass aufgrund der seit 1974 gestoppten legalen Migration nach Frankreich immer mehr Flüchtlingsanträge von Arbeitsmigranten und -migrantinnen gestellt würden, wodurch immer häufiger Anträge beim OFPRA abgelehnt wurden und dadurch auch die Gefahr stieg, dass vrais réfugiés abgelehnt würden. Er äußerte seine Besorgnis, dass dadurch die lange republikanische Tradition des Asyls in Frankreich in Gefahr geriet.48 Leconte beschreibt mit seinem Verweis auf die republikanischen Traditionen des Asyls, wie stark sich diese Traditionen während der »Krise des Asyls«49 veränderten. Die Wurzeln dieser Politik lassen sich aber schon in den 1960er Jahren nachweisen, als hohe Funktionäre der Migrationspolitik unter der Regierung von Präsident Charles de Gaulle versuchten, das Migrationsrecht, vor allem mit Blick auf die Migration aus den Maghrebstaaten, einzuschränken.50 Doch erst das Verbot der Arbeitsmigration nach Frankreich 1974 machte die legale Zuwanderung nach Frankreich unmöglich, und ab diesem Zeitpunkt begann der Prozess, in dem Migration und Asyl in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in der Politik immer stärker miteinander verwoben wurden, wodurch sich langfristig auch das Bild des sogenannten Wirtschaftsflüchtlings etablierte. Die südostasiatischen waren genauso wie die südamerikanischen 48 49 50

Daniel Leconte: Les réfugiés politiques en France, in: Le Monde, 19.01.1981. Luc Legoux: Crise de l’asile, crise de valeurs, in: Hommes et Migrations 1198–1199, MaiJuni (1996), S. 69–77; L. Legoux: La crise de l’asile politique en France. Siehe beispielsweise Karen Akoka, die nachweist, dass sich diese Periodisierung nicht auf der Ebene von Funktionären und Bürokraten spiegelt: K. Akoka: La fabrique du réfugié à l’Ofpra. Siehe außerdem Sylvain Laurens, der auch mit Blick auf die Ebene von hohen politischen Funktionären zeigt, dass bereits in den 1960er Jahren und damit vor Beginn der Wirtschaftskrise teilweise rassistisch motivierte Hürden in der Migrationspolitik eingeführt wurden: Sylvain Laurens: Une politisation feutrée. Les hauts fonctionnaires et l’immigration en France, Paris: Belin 2009.

2. Frankreich – Terre d’Asile

Flüchtlinge51 aufgrund politischer Grundsatzentscheidungen von diesem Trend ausgenommen, auch wenn diese Generalisierung sich in der Untersuchung einzelner Fälle durchaus variabel darstellt. Durch die Aufnahme der Flüchtlinge aus Südamerika und Südostasien spiegelte sich die Abkehr von der Asyltradition lange nicht in den Statistiken des OFPRA.52 Erst durch den Anfang bis Mitte der 1980er Jahre starken Anstieg von Asylanträgen, die Flüchtlinge von anderen Kontinenten stellten, zeigte sich, dass die positiven Antragsbescheide immer stärker rückläufig waren. Verantwortlich dafür waren immer striktere Selektionsmechanismen beim OFPRA.53 Als Mitterrand im Mai 1981 die Regierungsgeschäfte übernahm, sah es anfangs so aus, als werde seine Regierung die zuvor von den Konservativen immer restriktiver gestaltete Migrationspolitik verändern. Die neue Regierung wandte sich gegen den Gedanken der ökonomischen Verwertbarkeit und die Idee, dass Ausländer ein Sicherheitsrisiko darstellen – ein zweifacher Bruch mit den Maximen der bisherigen Einwanderungspolitik. So schaffte die neue Regierung etwa die von den Konservativen eingeführten Abschiebepraktiken und die Hürden für Migranten und Migrantinnen, die bereits lange in Frankreich lebten, ihren Aufenthaltsstatus in Frankreich zu festigen, ab. In den folgenden Jahren legalisierte die Regierung zudem 130.000 Menschen, die sich bereits in Frankreich aufgehalten hatten. Doch zugleich verstärkte die Mitterrand-Regierung ab 1982 den Kampf gegen die sogenannten clandestins und baute den Grenzschutz aus.54 Ab 1983 verstärkte sich diese Tendenz noch, teilweise aufgrund der finanziellen Schieflage, in der sich der französische Staat befand, und weil die erstarkte extreme Rechte erhebliche Gewinne bei

51

52 53 54

Ausgelöst durch die südamerikanischen Militärdiktaturen, insbesondere in Chile (1973–1990) und Argentinien (1976–1983) in den 1970er Jahren flohen viele Oppositionelle ins Ausland. Auch in Europa engagierten sich zivilgesellschaftliche Akteure gegen die Diktaturen und in der Flüchtlingsaufnahme. Siehe hierzu: Caroline Moine: Denouncing or Supporting the Chilean Dictatorship in West Germany? Local Associations of Solidarity and Their Transnational Networks Since the 1970s, in: Global Society 33, 3 (2019), S. 332–347; Nicolas Prognon: France. Welcoming Chilean Exiles, a Mark of the Resonance of the Unidad Popular in French Society?, in: Kim Christiaens/Idesbald Goddeeris/Magaly Rodríguez García (Hg.): European Solidarity with Chile 1970s-1980s, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2014, S. 186–205. L. Legoux: Crise de l’asile, crise de valeurs, S. 71. Ebd. D. Lochak: Les politiques de l’immigration au prisme de la législation sur les étrangers, S. 29–42.

105

106

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

den kommunalen Wahlen, insbesondere in Dreux, verzeichnen konnte. In diesem Zusammenhang verwischten die Grenzen zwischen Migration und Asyl immer mehr, wodurch der Kampf gegen die clandestins sich nun auch vermehrt gegen Flüchtlinge richtete, die die Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen beim OFPRA danach sortierten, ob die Anträge begründet waren oder nicht. Diejenigen, die sich als sogenannte faux réfugiés Flüchtlinge herausstellten, sollten wieder ausgewiesen werden können. Diese politische Linie begründete der im April 1983 neu ernannte interministerielle Delegierte für Flüchtlinge, Daniel Fabre,55 auf einer vom UNHCR im September 1983 in Genf organisierten Konferenz mit der öffentlichen Wahrnehmung der Franzosen und Französinnen. Laut Fabre nahm die französische Gesellschaft den Missbrauch des Asyls in Frankreich als eine Möglichkeit wahr, mit der sich Wirtschaftsflüchtlinge in Frankreich niederlassen konnten. Dabei meinte er, dass dies vor allem so gefährlich sei, weil viele Menschen »schlecht zwischen dem vermeintlichen Flüchtling und dem anerkannten Flüchtling untersch[ieden]« und laut Fabre von den vermeintlichen Flüchtlingen dachten, dass diese »Vorteile, die für echte Flüchtlinge bestimmt sind, vorübergehend genießen [konnten] [Anm. während sie auf ihre Bewilligung oder Ablehnung als Flüchtling warteten] und so die Regelung der normalen Einwanderung geschickt […] umg[ingen].«56 Für Fabre stand fest, dass sich die französische Gesellschaft »schnell über jeden Missbrauch der Asylbestimmungen« aufregte und »auf eine strenge Definition von Flüchtlingen bestand sowie darauf, dass Asyl die Antwort auf akute dramatische Situationen blieb und nicht auf alle strukturellen Ungerechtigkeiten und das Elend der Welt.«57 Diese Analyse von den sogenannten faux réfugiés, die das Asylsystem ausnutzten, um darüber eine Möglichkeit zu haben, in Frankreich zu leben und zu arbeiten, war in den 1980er Jahren fester Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses und der Politik. Und genau dieses laut Fabre breite Meinungsbild innerhalb der französischen Gesellschaft war ausschlaggebend für die politische Ausrichtung der Regierung unter Mitterrand, die für schärfere Grenzkontrollen und eine beschleunigte Aussiebung

55

56 57

J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 277–278; Pierre Mauroy: Brief des Premierministers an Daniel Fabre mit einem Dekret zur Ernennung Fabres als interministeriellen Delegierten für Flüchtlinge, 14.04.1983, 19930008/1, ANF. Daniel Fabre: Vortrag in Genf bei einer Konferenz zur Integration von Flüchtlingen in Europa, 12.09.1983-15.09.1983, 19930008/1, ANF. Ebd.

2. Frankreich – Terre d’Asile

der Antragssteller und Antragsstellerinnen beim OFPRA eintrat. Dass die Regierung unter Mitterrand überhaupt begann, sich in diesen Fragen konservativer zu positionieren, lag auch daran, dass in den 1980er Jahren der Aufstieg der extremen Rechten in der Politik und in gesellschaftlichen Diskursen Einfluss auf die Politik der konservativen und linken Kräfte in Frankreich nahm.

Die Wahrnehmung der Flüchtlinge verschiebt sich Die Einwanderung von Menschen aus Südostasien hing mit dem Hochkommen der Diskurse, die von sogenannten vrais et faux réfugiés sprachen, sowie den Auseinandersetzungen der linken Regierung mit dem Aufstieg des rechtsextremen Front National (FN) indirekt zusammen, auch wenn die Flüchtlinge, die organisiert vom Staat nach Frankreich einreisten, von den restriktiveren Politiken ausgenommen waren. Doch die Gruppe der südostasiatischen Flüchtlinge spaltete sich nun immer stärker in die vrais réfugiés, die über die offizielle Quote nach Frankreich kamen, und die faux réfugiés, die eigenständig versuchten, über den Luftweg oder über einen kombinierten Luft- und Landweg nach Frankreich einzureisen und vor Ort ihren Flüchtlingsstatus zu legalisieren. In diesem Zusammenhang registrierten die französischen Behörden mit dem Ansteigen der Flüchtlingszahlen aus Südostasien auch verstärkt Einreisen von Personen mit gefälschten Papieren. Die Flüchtlingsmigration aus Südostasien war zu einem lukrativen Geschäft für Schlepper in den thailändischen Flüchtlingslagern und in Frankreich geworden. Insbesondere wurden Fälle von Personen aus China publik, die versuchten, sich als südostasiatische Flüchtlinge auszugeben. Ein Beispiel aus der Mitte der 1970er Jahre zeigt diese Entwicklung, die sich bis in die 1980er Jahre verstärkte. Die Grenzschutzpolizei griff eine Gruppe von Asiaten auf, die sich als Flüchtlinge ausgaben. Ein Großteil der Personen sprach weder kambodschanisch, laotisch noch vietnamesisch, gab an, keine Papiere zu besitzen und aus einem Flüchtlingslager in Thailand zu kommen. Unter den Personen befanden sich auch Chinesen, die sich als Südostasiaten ausgaben, um den Aufnahmekriterien für südostasiatische Flüchtlinge zu entsprechen. Die Grenzschutzpolizei durchsuchte das Gepäck und fand gefälschte Papiere. Diese hatten sie aus einer von Chinesen geführten Fälschungswerkstatt in einem thailändischen Lager.58 Mitte der 1980er Jahre erreichte dieser Trend einen Höhepunkt. Zu diesem Zeitpunkt wurden 75 Prozent der Flüchtlingsanträge von Personen, die außerhalb des 58

G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers, S. 236–238.

107

108

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

staatlichen Kontingents einreisten, gestellt und sie stammten laut Jahresbericht des OFPRA von Menschen, die sich als Laoten, Kambodschaner und Thailänder ausgaben und über drei unterschiedliche Schleuserringe nach Frankreich gekommen waren. Einer der Ringe aus dem 13. Arrondissement brachte Menschen chinesischer Herkunft nach Paris und gab sie als kambodschanische Flüchtlinge aus.59 Gekoppelt an diese Entwicklungen veränderte sich auch die mediale Darstellung der südostasiatischen Flüchtlinge und der asiatischen Bevölkerung in den französischen Zeitungen. Die anfangs sehr wohlwollenden Reportagen über die südostasiatischen Flüchtlinge wurden nun abgelöst von einer Berichterstattung, die ab 1980 immer stärker von einer »asiatischen Gefahr« ausging. Eine soziologische Untersuchung der Entwicklung der Sprache in Zeitungsartikeln der überregionalen Zeitung France Soir über das 13. Arrondissement in Paris zeichnet diesen Verlauf nach. Das 13. Arrondissement, genauer das Dreieck zwischen Tolbiac, der Avenue d’Ivry und der Avenue de Choisy, hatte sich bereits nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Quartier mit einem hohen Anteil asiatisch-stämmiger Migranten und Migrantinnen entwickelt.60 Doch erst im Zuge der verstärkten Einwanderung von Flüchtlingen aus Südostasien, insbesondere von Chinesen, die aus Kambodscha fliehen mussten, entwickelte sich in den 1970er Jahren eine Infrastruktur aus asiatischen Geschäften, Restaurants und Tempeln, die heute als Chinatown-sur-Seine bekannt ist. Die Analyse der Berichterstattung in France Soir zeigt, dass zunächst, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit, von der Gruppe der südostasiatischen Flüchtlinge geschrieben wurde. Der Flüchtlingsbegriff wurde in diesem Zusammenhang zumeist mit stark emotionalen Begriffen, wie »Märtyrer«, »arme Menschen« oder »Freiheit«, in einen Kontext gestellt. Diese Beschreibung veränderte sich innerhalb weniger Jahre von 1980 bis 1985. Ab diesem Zeitpunkt sprach die Zeitung nun mehr einzig von »Chinesen« und assoziierte mit ihnen Kriminalität und undurchsichtige Lebensführung. Als im März 1985 vier Kambodschaner in einem der riesigen Wohntürme im 13. Arrondissement ums Leben kamen, erschienen mehrere Artikel in France Soir, die sich auf die »sechs Plagen Chinatowns – Glücksspiel, Prostitution, Drogen, Schutzgelderpressungen, Handel

59 60

Tätigkeitsbericht des OFPRA für das Jahr 1985, [1986], DIR 1/3, OFPRA. Zur Entwicklung des 13. Arrondissements siehe: Jacqueline Costa-Lascoux/Live Yu-Sion: Paris-XIIIe. Lumières d’Asie, Paris: Édition Autrement 1995.

2. Frankreich – Terre d’Asile

mit den Identitäten von Verstorbenen und illegale Ateliers«61 bezogen. Diese negative und rassistische Berichterstattung über »das gelbe Dreieck in Paris«62 begann das Bild in der Öffentlichkeit zu einem Zeitpunkt zu dominieren, als die Flüchtlingsaufnahme aus Südostasien stark an Priorität einbüßte und sich die Regierung langsam davon abwandte. Solche Darstellungen fügten sich in einen generellen Trend von xenophoben Diskursen in der französischen Gesellschaft und Politik ein, der sehr stark mit dem Aufstieg der extremen Rechten und des FN zusammenhing. Plattformen wie die Groupe de recherche et d’étude sur la civilisation européenne (GRECE) oder der Club de l’horloge hatten diese diskursive Verschiebung seit den 1960er Jahren vorangetrieben und die Themen Migration und nationale Identität zu zentralen Aspekten der politischen Auseinandersetzung gemacht.63 Zwar betrachteten viele der Mitglieder dieser rechten Gruppierungen und ihrer Unterstützer und Unterstützerinnen die südostasiatischen Flüchtlinge zu Beginn des Aufnahmeprozesses nicht als zentrale Zielscheibe ihrer Polemik,64 doch die politischen Umwälzungen, die sie vorantrieben, wirkten sich langfristig auch auf die südostasiatischen Flüchtlinge aus. Auch die PCF, die zwischen 1981 und 1983 Koalitionspartner in der Mitterrand-Regierung war, schloss sich solchen rassistischen Diskursen aufgrund ihres Bedeutungsverlustes innerhalb der französischen Parteienlandschaft und schlechten Wahlergebnisse teilweise an. Hier zeigt sich, dass gängige Erklärungsmuster, nach denen Flüchtlingsaufnahme stärker mit linken politischen Kräften assoziiert wird, wogegen konservative Kräfte diese abwehren, zu kurz greifen. Offensichtlich wird diese Besonderheit anhand von zwei Vorfällen Anfang der 1980er Jahre im roten Gürtel von Paris, bei denen es mit

61

62 63

64

Jean-Pierre Hassoun/Yinh Phong Tan: Les Réfugiés de l’Asie du Sud-Est de langue chinoise. Langues et dialectes, éléments d’histoire (péninsule Indochinoise), aspects ethnographiques (région parisienne), Paris: Mission du Patrimoine Ethnologique 1986, S. 20–23. Ebd. Monica Charlot: L’émergence du Front National, in: Revue française de science politique 36, 1 (1986), S. 30–45; Pierre-André Taguieff: Origines et métamorphoses de la nouvelle droite, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 40, Oktober-Dezember (1993), S. 3–22. Siehe hierzu das 4. Kapitel dieses Buches, in dem gezeigt wird, wie konservative, rechte und rechtsextreme Akteure ein Diskursfenster während der südostasiatischen Flüchtlingskrise nutzten, um die Bedeutung ihrer antikommunistischen Politik herauszustreichen.

109

110

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Beteiligung von lokalen PCF-Politikern zu Ausschreitungen gegen Migranten und Migrantinnen kam.65 Die Unterstützung der aus Südostasien geflohenen Menschen sahen Lokalpolitiker der PCF seit Beginn der Aufnahme unter der konservativen Regierung kritisch, da die Bezirke am Pariser Stadtrand, in denen sie Bürgermeister stellten, besonders viele Familien in den dortigen Sozialwohnungsprojekten aufnehmen mussten. Die L’Humanité bewertete diese Politik 1978 als gezielten Versuch der Schwächung lokaler kommunistischer Strukturen, denn »nachdem die [konservative] Regierung massiv Gastarbeiter in den Arbeiterbezirken mit einem kommunistischen Bürgermeister konzentriert hatte, [gab] sie an, vietnamesische Flüchtlinge in diese Bezirke lenken zu wollen,«66 wodurch eine »Stadt mit 40.000 Einwohnern [und davon] 30 Prozent […] Migranten […], davon 249 Flüchtlinge und von diesen […] 179 von der indochinesischen Halbinsel«67 laut L’Humanité noch stärker belastet würde. Insbesondere aufgrund der hohen Konzentration von Migranten und Migrantinnen schlussfolgerte L’Humanité, dass diese Politik dazu diene, »die Arbeiter in unseren Städten noch mehr unter den Folgen der Krise leiden zu lassen, [weil] die massive Konzentration der Einwanderer in einigen Fällen zu echten Ghettos [führe] und zusätzliche Schwierigkeiten für die Gemeinde [bedeute], neben dem, was sie aufgrund der Regierungspolitik gegenüber den lokalen Behörden schon [ertrug].«68 Diese Deutungen hingen auch mit der Ideologie und Systemwahrnehmung der PCF zusammen. So stufte die L’Humanité die Flüchtlinge aus Südostasien in einigen Artikeln vor allem als Angehörige der Bourgeoisie69 ein, die vorrangig zur Schwächung der kommunistischen Bezirke dort angesiedelt wurden.70 Dabei spielte die Tat-

65

66

67 68 69 70

Jane Jenson/George Ross: The View from Inside. A French Communist Cell in Crisis, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1984; Neil MacMaster, The ›seuil de tolérance‹. The Uses of a ›Scientific‹ Racist Concept, in: Maxim Silverman (Hg.): Race, Discourse and Power in France, Aldershot: Gower Publishing Company 1991, S. 14–28. Que les municipalités de droite prennent leur responsabilités. Les concentrations excessive d’immigrés ne doivent pas produire de nouveaux ghettos, in: L’Humanité, 06.07.1979. Ebd. Ebd. Jean-Emile Vidal: Une »opération réfugiés«. Tout le monde n’a pas trouvé son compte dans les témoignages, in: L’Humanité, 09.07.1979. Marcellin Berthelot/Marie-Thérèse Goutmann/Yves Saudmont: Nous ne pouvons accueillir de nouveaux émigrés. Neuf maires communistes de la région parisienne es-

2. Frankreich – Terre d’Asile

sache, dass die Menschen vor kommunistischen Systemen und insbesondere dem vietnamesischen System flohen, eine wichtige Rolle. In diesem politischen Klima verschob die linke Regierung ihre Politik in Fragen von Migration und Asyl nach rechts. Georgina Dufoix, damalige Staatssekretärin für Familie,71 die 1983 zusätzlich das Ressort Migration erhielt, versuchte folgend über politische Schwerpunkte wie Grenzschließungen der Stimmung in der Bevölkerung entgegenzukommen. Zugleich arbeitete sie an mehreren Vorschlägen, um einerseits den bereits in Frankreich lebenden Ausländern und Ausländerinnen einen gesicherten Status zu ermöglichen und andererseits die Einwanderung von sogenannten clandestins zu unterbinden sowie deren Rückführung in die Heimatländer möglich zu machen.72

Die linke Regierung verschärft die Bedingungen für die Aufnahme Vor diesem Hintergrund nahm Georgina Dufoix auch die südostasiatischen Flüchtlinge in den Blick, wenngleich diese laut der offiziellen Regierungslinie von den Verschärfungen ausgenommen waren. Dies geht aus einem internen Schreiben vom Juli 1983 an Daniel Fabre, den interministeriellen Delegierten für Flüchtlinge, hervor. Darin zeigte sich Dufoix besorgt darüber, dass die Aufnahmequote der südostasiatischen Flüchtlinge konstant überschritten werde, und der Prozess im Zusammenhang mit dem angespannten französischen Arbeitsmarkt schwierig zu vermitteln sei, auch teilte sie mit, dass die zur Unterstützung der Flüchtlinge nötigen öffentlichen Gelder fehlten. Sie schloss mit dem Wunsch, dass die Aufnahmezahlen besser mit den tatsächlich zur Verfügung stehenden Mitteln in Einklang gebracht werden sollten, was de facto ein geringeres Engagement bedeutete. Handschriftlich bekräftigte sie: »Wir können nicht länger […] den Wunsch bestätigen, mehr Flüchtlinge aufnehmen zu wollen.«73 Auch wenn die offizielle Sprachregelung der Regierung zu den südostasiatischen Flüchtlingen immer noch wohlwollend und

71 72 73

timent que leurs municipalités ont déjà dépassé l’effort possible, in: L’Humanité, 10.07.1979. 1984, nach dem Bruch der Koalition mit der PCF, erhielt Georgina Dufoix das Ministerium für soziale Angelegenheiten und nationale Solidarität. Vincent Viet: La France immigrée. Construction d’une politique 1914–1997, Paris: Fayard 1998; P. Weil: La France et ses étrangers, S. 169–185. Im Original war ein Teil des Satzes unleserlich: »Nous ne pouvons plus confirmer aussi […] désir d’accueillir plus de réfugiés«, Georgina Dufoix: Schreiben »Sur dispositif d’accueil«, 05.07.1983, 19930008/5, ANF.

111

112

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

solidarisch war, begann die Regierung schon 1982, erste Einschränkung einzuleiten, und setzte die Praxis der Aufnahme über Quoten 1984 aus, wodurch die Zahl aufgenommener Personen deutlich zurückging und die Antragszahlen von kambodschanischen Flüchtlingen beim OFPRA in den folgenden Jahren sanken.74 Durch die ausgesetzte Quote und die Einführung flexibler Kontingente konnte die französische Regierung dementsprechend die Zahl der Menschen, die sie über ihre Programme gezielt aus den südostasiatischen Lagern nach Frankreich holte, verringern, wodurch das Gewicht staatlicher Entscheidungen für den Prozess nochmals deutlich zutage trat. Diese klare Abkehr von der Flüchtlingsaufnahme aus Südostasien geschah unter anderem im Kontext außenpolitischer Veränderungen. So suchte die Regierung beispielsweise den Kontakt zur vietnamesischen Regierung, als 1982 erst der Berater Mitterrands, Régis Debray, und dann eine PCF-Delegation nach Vietnam flogen und Verhandlungen mit der vietnamesischen Regierung begannen. Im weiteren Verlauf der französisch-vietnamesischen Annäherungen vermittelte Mitterrand Ende der 1980er Jahre auch zwischen dem ehemaligen kambodschanischen König und Regierungschef Norodom Sihanouk und der pro-vietnamesischen Regierung in Phnom Penh unter Führung von Hun Sen, damit diplomatische Gespräche über ein Ende der Gewalt beginnen konnten.75 Die außenpolitischen Aktivitäten Frankreichs waren daher eher darauf gerichtet, die Situation vor Ort zu befrieden und den Fokus auf die Umsiedlung langsam herunterzuschrauben. Um die zurückgefahrene Aufnahmepolitik gegenüber anderen Staaten zu legitimieren und auszugleichen, engagierte sich die französische Regierung in anderen humanitären Bereichen in Südostasien mit dem Ziel, ihr außenpolitisches Ansehen aufrechtzuerhalten. So ging das Kabinettstreffen im April 1985 darauf ein, dass »im Gegenzug für die Reduzierung der Quoten für Flüchtlinge aus Südostasien […] in anderen Bereichen Anstrengungen unternommen werden, um die internationale Wahrnehmung Frankreichs [und seines humanitären Engagements] zu erhalten.«76 Diese Anstrengungen beinhalteten, dass die durch die Einschnitte in der Umsiedlung südostasiatischer Flüchtlinge nach Frankreich

74 75

76

OFPRA: Internes Papier, 27.02.2015. Hugues Tertrais: Face à l’Asie, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 101–102, 1 (2011), S. 46–47. Siehe zur schwierigen Lage nach 1979 und den internationalen Entwicklungen auch: D. Bultmann: Kambodscha unter den Roten Khmer, S. 172–193. Protokoll des Ministerrats vom 1. April 1985 »Objet Réfugiés du Sud-Est asiatique«, 07.10.1985, 19930008/5, ANF.

2. Frankreich – Terre d’Asile

frei werdenden Gelder in die bereits gestarteten Rücksiedlungsprogramme des UNHCR in Südostasien flossen wie auch in die Arbeit von internationalen Organisationen, die in anderen Flüchtlingskrisen tätig waren.77 Auch die Absprachen innerhalb der EG hatten immer mehr Einfluss auf die französische Grenz-, Migrations- und auch Asylpolitik. Ausschlaggebend dafür war vorrangig die von Mitterrand mit vorangetriebene Öffnung des europäischen Binnenmarktes innerhalb der EG sowie die damit einhergehenden Grenzöffnungen. So unterschrieb Frankreich 1985 das Schengener Abkommen, das den Abbau von Grenzkontrollen zwischen den Unterzeichnerstaaten vorsah, und 1986 die Einheitliche Europäische Akte, mit der der europäische Einigungsprozess durch die Vereinbarung über die Gemeinsame Politische Zusammenarbeit und die Änderungen am Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vorangetrieben wurde. Das Ergebnis dieser Öffnung nach innen war zugleich auch der Ausbau der gemeinsamen Grenzsicherheit. Ab Beginn der 1990er Jahre sollten sich diese Vorbereitungen auch in offenen Grenzen sowie dem Bekenntnis zu einer gemeinsamen Asylpolitik in den Dublin-Prozessen manifestieren.78 Zugleich begann die französische Regierung, die Flüchtlingsaufnahme einzuschränken und das spezialisierte Aufnahmedispositiv für die Südostasiaten in ein allgemeines Dispositiv für Flüchtlinge aller Nationalitäten einzufügen, wodurch sie die politische Bedeutung der Hilfen für die südostasiatischen Flüchtlinge verminderte.79 Dies entsprach auch den Bestrebungen der Organisation France terre d’asile (FTDA), ein allgemeines Aufnahmedispositiv für Flüchtlinge aus aller Welt zu schaffen und dadurch die Sonderposition der südostasiatischen Flüchtlinge abzuschaffen.80 Ab Mitte der 1980er Jahre begann die Regierung sich diesen Gedanken zu eigen zu machen. Dies zeigte sich etwa in einem Schreiben, das der französische Außenminister Roland Dumas an das CNE schickte, wobei er interessanterweise nicht davon sprach, die freiwerdenden Kapazitäten für andere Flüchtlinge zu nutzen, sondern in humanitäre Hilfen umzuleiten: 77 78

79 80

Claude Cheysson: Über die Perspektiven für die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge in Frankreich, 22.05.1984, 19930008/1, ANF. Philippe de Bruycker: D’un système européen d’asile vers un droit européen des réfugiés, in: Jean-Yves Carlier/Dirk Vanheule (Hg.): Europe and Refugees: A Challenge? L’Europe et les réfugiés: un défi?, Den Hague, London, Boston: Kluwer Law International 1997, S. 159–185, hier S. 160. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 360–363. Ebd., S. 402–403.

113

114

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

»Frankreich ist das Land, das die meisten südostasiatischen Flüchtlinge pro Einwohner aufgenommen hat. Seine Bemühungen sind daher beispielhaft und wurden durch die Tätigkeit der Verbände, insbesondere des von Ihnen geleiteten, ermöglicht. Aber in anderen Regionen der Welt erleben wir leider einen Zustrom von Flüchtlingen – Frankreich muss gemäß seiner universellen humanitären Berufung und aus internationaler Solidarität auch dort präsent sein, um seine Hilfe zu leisten.«81 In der Folge gliederte die linke Regierung das spezifische Dispositiv für südostasiatische Flüchtlinge immer stärker in ein allgemeines für Flüchtlinge aller Nationalitäten ein.82 Die wohlwollende Hilfe für die Menschen aus Südostasien als ein von der konservativen Regierung angestoßenes politisches Projekt zeigte durch die wechselnden Präferenzen der Regierungen und den Bedeutungsverlust des spezifischen Dispositives deutlich ihren instabilen Charakter. Anhand der ab 1984 kontinuierlich sinkenden Antragszahlen von Flüchtlingen aus Kambodscha beim OFPRA, die von 3143 Anträgen im Jahr 1984 auf 2087 Anträge im Jahr 1985 und 918 Anträge im Jahr 199183 zurückgingen, lässt sich ablesen, dass das abnehmende Engagement Frankreichs in Südostasien Auswirkungen zeigte, obwohl die Situation in Kambodscha und in den Grenzregionen weiterhin instabil und gefährlich war. So waren die Flüchtlinge in den Lagern immer noch gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Konfliktparteien sowie den durch die Struktur der Lager gegebenen Sicherheitsrisiken wie Diebstahl, Mord oder Vergewaltigung ausgesetzt.84 Auch wenn die südostasiatischen Flüchtlinge noch bis 1989, nachdem in Genf der Comprehensive Plan of Action zur Umsiedlung der letzten Flüchtlinge in Südostasien85 beschlossen worden war, einen besonderen Status in Frankreich behielten, schraubte die französische Regierung das Maß der

81 82 83 84 85

Roland Dumas: Brief an Jean-Michel Belorgey, den Präsidenten des Comité national d’entraide, 19.03.1985, DIR 4/38, OFPRA. Vgl. hierzu auch Jean-Pierre Masse, der das Aufnahmedispositiv in zwei große Perioden unterteilt: J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 271. OFPRA, Internes Papier, 27.02.2015. Zur instabilen Situation in den thailändischen Flüchtlingslagern siehe: J. Reynell: Political Pawns; D. Unger: Ain’t Enough Blankets. Courtland W. Robinson: The Comprehensive Plan of Action for Indochinese Refugees, 1989–1997. Sharing the Burden and Passing the Buck, in: Journal of Refugee Studies 17, 3 (2004), S. 319–333.

2. Frankreich – Terre d’Asile

wohlwollenden Aufnahme immer weiter zurück. Ab 1989 mussten alle neu ankommenden südostasiatischen Flüchtlinge einen regulären Asylantrag stellen und das reguläre Verfahren durchlaufen, wodurch sie endgültig allen anderen Flüchtlingen gleichgestellt wurden. Die vom Staat geförderte Umsiedlung der südostasiatischen Flüchtlinge fand damit endgültig ein Ende. 1991 wurden im Rahmen des Pariser Friedensabkommens zwischen den Bürgerkriegsfraktionen in Kambodscha und Vietnam auch die letzten Flüchtlingslager in Thailand geschlossen und die noch dort verbliebenen Flüchtlinge vom UNHCR nach Kambodscha zurückgesiedelt. Die Stärke des Regierungsapparates in der Frage der Flüchtlingsaufnahme zeigte sich darüber hinaus auch an dem aufsteigenden Antagonismus von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Verbänden. So begannen mehrere französische NGOs in Reaktion auf die Regierungspolitik Menschenrechtsund Asylrechtsdiskurse miteinander zu verflechten und sich zugleich immer stärker in einer deutlichen Opposition zum Staat zu begreifen. Dies war keine zufällige Koinzidenz. Sowohl die Politik der Regierung unter Giscard d’Estaing als auch unter Mitterrand sowie die Periode der cohabitation mit Mitterrand als Präsident und Jacques Chirac als Premierminister waren ausschlaggebend für diese neue Form der Rhetorik der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Denn sowohl traditionelle Gruppen wie die CIMADE, die sich schon lange mit der Verteidigung der Rechte von Migranten, Migrantinnen und Flüchtlingen beschäftigten, aber auch Gruppen wie Amnesty International, die sich bis in die 1980er Jahre nicht mit Flüchtlingen auseinandergesetzt hatten, begannen ein neues Narrativ zu formen, in dem Menschenrechts- und Asylrechtsdiskurse miteinander verflochten wurden. Ein Narrativ, das sich bis in die 1990er Jahre und den Ausbau der gemeinsamen europäischen Grenzpolitik verfestigen sollte.86 In diesem neuen Feld politischer Kämpfe zeigte sich die Bedeutung des französischen Staates und der Regierungen auf besonders eindrückliche Weise, da dessen Politik den Einschluss in und den Ausschluss aus dem Nationalstaat bestimmte.

86

Siehe hierzu: Marie-Claude Blanc-Chaléard: Réfugiés, migrants, étrangers. Les mots et les causes de la Cimade (années 1970–1990), in: Dzovinar Kévonian et al. (Hg.): La Cimade et l’accueil des réfugiés. Identités, répertoires d’actions et politique de l’asile, 1939–1994, Paris: Presses universitaires de Paris Nanterre 2013, S. 225–244; Éric Poinsot: Vers une lecture économique et sociale des droits humains. L’évolution d’Amnesty International, in: Revue française de science politique 54, 3 (2004), S. 399–420.

115

116

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

2.3 Fazit Der Staat mit all seinen Akteuren, Akteurinnen und Institutionen konstituierte den Prozess, gestaltete und kontrollierte ihn. Dabei waren es insbesondere die französischen Regierungen, die maßgebliche Entscheidungen trafen und den Prozess kontrollieren wollten. Zwar konnten die jeweiligen Regierungen nicht alle diese Vorgänge bis auf die unterste Ebene staatlichen Handelns überschauen, aber dennoch waren ihre Vorgaben maßgeblich, wenn es darum ging, ob, wie viele und welche Flüchtlinge die Grenzen passieren durften. Dies äußerte sich insbesondere unter der Präsidentschaft von Valéry Giscard d’Estaing, der sich früh aufgrund innen- und außenpolitischer Erwägungen, darunter die Auseinandersetzung mit der Linken Union oder seine wirtschaftspolitischen Überlegungen, zur Aufnahme der Flüchtlinge entschloss. Bis zum Ende der Quotenpolitik und darüber hinaus bis 1989 führten die wechselnden Regierungen, zuerst die linke Regierung unter der Präsidentschaft von François Mitterrand und dann die Regierung der cohabitation unter Mitterrand und Chirac, diesen koordinierten Prozess weiter. Doch der Charakter dieser Flüchtlingsaufnahme als politisches Projekt begründete zugleich ihre Instabilität. Diese zeigte sich spätestens, als die linke Regierung in der südostasiatischen Flüchtlingspolitik zwar weiterhin eine wohlwollende Rhetorik nutzte, aber zugleich immer stärker eine Praxis durchsetzte, mit der sie die Zahlen der Flüchtlinge senken konnte. Allerdings zeigte die Untersuchung der unterschiedlichen Ebenen staatlichen Handelns, dass sich ungeachtet der Bedeutung von Regierungsentscheidungen Handlungsspielräume innerhalb und zwischen den Ebenen auftun konnten. Die Regierungen konstruierten ihre Politiken in einem Spannungsfeld unterschiedlicher politischer Interessen, wobei die Verteidigung von Menschenrechten vor allem eine außenpolitische Rhetorik darstellte, die Frankreich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht ganz so stark nutzte wie andere Staaten. Denn mit Blick auf die Frage nach der Bedeutung von Menschenrechten als universellem moralischem Ideal, nach dem Flüchtlinge Anspruch auf Asyl haben und dieser Anspruch Grundlage staatlichen Handelns bildete, zeigte sich in diesem Kapitel, dass Menschenrechtsideen in Ansätzen für die Konzipierung internationaler Politik eine Rolle spielten. Zugleich waren für die initiale Entscheidung für den Empfang von Flüchtlingen auf französischem Boden und auch die weitere Entwicklung vor allem andere Faktoren, darunter die Auseinandersetzung mit der Union der Linken, die wirtschaftliche Rezession oder der Aufstieg der rechtsextremen Kräfte,

2. Frankreich – Terre d’Asile

verantwortlich. Dies lag einerseits daran, dass Menschenrechte als Kategorie politischen Handelns, vor allem zur politischen Einmischung in die Politik anderer souveräner Staaten, von der Regierung unter Giscard d’Estaing abgelehnt wurden. Andererseits entdeckten zivilgesellschaftliche Organisationen die Verbindung der Flüchtlings-, Asyl- und Menschenrechtspolitik erst in den 1980er Jahren wirklich als Feld politischer Auseinandersetzungen mit dem französischen Staat.

117

3. Die Ordnung der Aufnahme Politische Instrumente, staatliche Bürokratie und zivilgesellschaftliche Organisationen

Auch wenn es sich um eine staatlich gewollte Aufnahme von Flüchtlingen handelte, waren die Regierungen offensichtlich daran interessiert, die Kontrolle über den Aufnahmeprozess zu behalten. Dazu nutzte der Staat eine ganze Reihe von politischen Instrumenten, die durch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des CNE in den Flüchtlingslagern in Thailand angewendet wurden. Bei diesen Kontrollinstrumenten des Staates im Aufnahmeprozess handelte es sich einerseits um eine Quote und andererseits um vorgegebene Kriterien. Beide Instrumente dienten dazu, den Zuzug der Flüchtlinge zu steuern. Diese Form von Machtpolitik gegenüber den potenziell und tatsächlich zuziehenden Menschen verdeutlicht weiterhin, dass die Regierung sich nicht nur für die Aufnahme entschied und daraufhin die weiteren Prozeduren völlig in den Händen zivilgesellschaftlicher Organisationen ließ, sondern dass sie auch während des Prozesses versuchten staatliche Interessen, wie beispielsweise den Zuzug ökonomisch und kulturell leicht integrierbarer Personen, durchzusetzen. In diesem Punkt zeigte der Staat auch, wie weit seine Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten des Prozesses reichten. So überlagerten die staatlichen Kontrollinstrumente nicht nur die Kriterien internationaler Abkommen, wie der Genfer Flüchtlingskonvention, der Staat versuchte auch, direkten Einfluss auf die Auswahl der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern auszuüben. So sollten Flüchtlinge mit französischen Sprachkenntnissen, familiären oder historischen Verbindungen nach Frankreich gezielt für die Umsiedlung ausgewählt und dadurch eine schnelle ökonomische und soziale Integration in Frankreich gewährleistet werden. Weiterhin agierte das Office français de protection des réfugiés et apatrides als bedeutender staatlich-bürokratischer Akteur in der Rolle eines gate

120

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

keeper für den französischen Nationalstaat.1 Diese Rolle erhielt das Office français de protection des réfugiés et apatrides bereits bei seiner Gründung im Jahr 1952 im Zusammenhang mit der Ratifizierung der GFK. Seitdem war die Behörde die zentrale Stelle, wenn es um den Antrag auf Flüchtlingsstatus ging. Zugleich kümmerte sich das OFPRA um alle bürokratischen Belange der Flüchtlinge in Frankreich.2 Grundsätzlich sollten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des OFPRA den Flüchtlingsstatus aufgrund von definierten Kriterien vergeben, wie sie in der GFK für Menschen, die von persönlicher Verfolgung bedroht sind, bestimmt sind. Dieser Auftrag wurde für die Flüchtlinge aus Südostasien ausgesetzt. Allerdings hing die Anerkennung des Flüchtlingsstatus seit der Gründung des OFPRA auch immer mit politischen Präferenzen und gesellschaftlichen Diskursen über Flüchtlinge zusammen, weshalb es schon immer anerkannte Flüchtlinge in Frankreich gab, die unter Umständen nicht oder nicht völlig der Definition der GFK entsprachen, aber dennoch von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des OFPRA den Status erhielten. Dies bewies eine soziologische Studie auch mit Blick auf die südostasiatischen Flüchtlinge und attestierte dieser Gruppe, »über jeden Verdacht erhaben«3 gewesen zu sein. Gemeint war damit, laut Studie, dass die Flüchtlinge aus Südostasien aufgrund der Wahrnehmung der Krise in Südostasien keine Probleme beim Durchlaufen des bürokratischen Prozesses in Frankreich hatten. Diese Verallgemeinerung unterschlägt allerdings, dass sich bei einer stärkeren Nuancierung des Umgangs des OFPRA mit den Südostasiaten auch hier Reibungen zeigten. Denn auch die Südostasiaten waren zu keinem Zeitpunkt eine unumstrittene Flüchtlingsgruppe, wie der Blick auf die Ebene des OFPRA zeigen wird. Dadurch offenbaren sich die komplexen Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen und Akteuren innerhalb des Staates. Zugleich zeigte sich im Verlauf der Aufnahme immer stärker, dass auch die Erfüllung politischer Ordnungskategorien vom vrais et faux réfugiés basierend auf den Kriterien der GFK beim OFPRA eine größere 1

2

3

Gérard Noiriel erörtert die wichtige Position der officiers de protection des OFPRA, indem er darauf verweist, wie im 20. Jh. Grenzen als physische Hürden abgebaut und durch die nicht physischen Grenzen der Bürokratie ersetzt wurden. Siehe: G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers, S. 156–249. OFPRA stand erst unter der Leitung des Außenministeriums und ist seit 2010 unter der Leitung des Innenministeriums. Zur Geschichte des OFPRA siehe weiterhin: Aline Angoustures/Dzovinar Kévonian/Claire Mouradian (Hg.): Réfugiés et apatrides. Administrer l’asile en France (1920–1960), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2017. K. Akoka: La fabrique du réfugié à l’Ofpra, S. 298–314.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Rolle spielten. Weiterhin war eine ordnungsgemäße Erhebung des Personenstandes durch das OFPRA eine Voraussetzung dafür, dass die Flüchtlinge Rechte im französischen Nationalstaat in Anspruch nehmen konnten. Die Bedeutung nichtstaatlicher Akteure – Nichtregierungsorganisationen, Zivilgesellschaft – sowie der breiten Öffentlichkeit für die Aufnahme der Südostasiaten wird auch in anderen Forschungen hervorgehoben.4 Allerdings verweist die Literatur nur vereinzelt auf die Konfliktlinien und Brüche, die sich zwischen den staatlichen Akteuren und den Hilfsorganisationen sowie den engagierten Privatpersonen mit dem fortschreitenden Empfang von Flüchtlingen auftaten. Gerade eine solche Untersuchung ist wichtig, da es dabei um die Frage, geht, welche Kräfte den Aufnahmeprozess gestalteten. Denn auch wenn die französische Regierung mit all ihren politischen und moralischen Vorüberlegungen die initiale Entscheidung für das französische Engagement traf und dadurch die Grenzen für die Flüchtlinge passierbar machte, kann es doch sein, dass auf der lokalen Ebene des Dispositivs noch ganz andere Faktoren und Kräfte zum Tragen kamen, die ebenso Einfluss auf staatliches Handeln nahmen. Dies schließt lokale Aushandlungen zwischen Flüchtlingen und Aufnahmehelfenden genauso ein wie zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Letztlich ermöglichten zivilgesellschaftliche Organisationen durch ihre Leistungen in der Aufnahme im Laufe der Zeit immer stärker staatliches Handeln. Daher braucht es den Blick auf diese lokale Ebene, um den Aufnahmevorgang zu verstehen. Es zeigt sich zugleich, wie sich das Spannungsfeld von internationalen humanitären Empathiediskursen, Menschenrechten und Außenpolitik letztlich auf der lokalen Ebene abbildet oder eben nicht abbildet, wodurch sich Rückschlüsse auf die Durchschlagkraft von Diskursen und staatlichem Handeln ziehen lassen.

3.1 Die Auswahl der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern – politische Instrumente als Beispiele für den Kontrollanspruch des Staates in der Aufnahme Die Unterstützung für die Südostasiaten war von Anfang an eng mit ökonomischen Überlegungen und der Wahrnehmung einer historischen Nähe verquickt. Insbesondere zu Beginn des Prozesses zeigten sich Verbindungen 4

J.-P. Masse: L’exception indochinoise; G. Wijers: The Reception of Cambodian Refugees in France.

121

122

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

zwischen wirtschaftspolitischen Interessen des französischen Staates und der Flüchtlingsaufnahme, da der Staat versuchte, gezielt zu steuern, welche Flüchtlinge nach Frankreich kommen sollten, um darüber eine schnelle wirtschaftliche und soziale Integration zu gewährleisten. Bereits lange vor der Umsiedlung der südostasiatischen Flüchtlinge zeigten sich Fälle, in denen Flüchtlingspopulationen sehr deutlich durch ein ähnliches Prisma betrachtet worden waren.5 Der französische Staat war sehr daran interessiert, den Auswahlprozess der südostasiatischen Flüchtlinge schon in den Flüchtlingslagern zu steuern. Aus diesem Grund führte die Regierung unter Giscard d’Estaing Instrumente ein, um diesen Vorgang zu kontrollieren. Erst über die Aufnahmequote und später in Kombination mit den Aufnahmekriterien war der französische Staat bestrebt zu bestimmen, wie viele und welche Personen mit welchen Eigenschaften und Fähigkeiten nach Frankreich einreisen durften, um eine bestmögliche Integrationsfähigkeit zu erzielen. Dabei äußerte sich gerade anhand dieser Kriterien die Souveränität des französischen Staates, der die Kontrolle über den Zuzug auf sein Territorium behalten wollte und zu diesem Zweck die Instrumente immer wieder neu justierte, die Quote hob, senkte oder am Ende aussetzte. Darüber hinaus verlagerte der Staat mit seinen eigenen Kriterien, die vor Ort in den Lagern durch Mitarbeiter des CNE angewandt wurden, die Einzelfallprüfung, die regulär durch das OFPRA durchgeführt wurde, direkt in das Krisengebiet. Die Mission des CNE in Thailand, die als verlängerter Arm der französischen Regierung Flüchtlinge nach bestimmten Kriterien in den thailändischen Lagern auswählte, um zu verhindern, dass das französische Aufnahmedispositiv, also die Gesamtheit des staatlichen Prozesses mit all seinen staatlichen und privaten Akteuren, Institutionen, Prozessen und gesetzlichen Grundlagen, überlastet wurde, befand sich somit an einer Schlüsselstelle des staatlichen Aufnahmeprozesses.6

5

6

Vgl. hierzu die Aufnahme der armenischen Flüchtlinge nach dem Ersten Weltkrieg: Marie-Françoise Attard-Maraninchi: Histoire de Migration à Marseille. Le Cosmopolitisme de L’Entre-Deux-Guerres (1919–1945), Aix-en-Provence: Edisud 1990; Anouche Kunth: Exils arméniens. Du Caucase à Paris 1920–1945, Paris: Éditions Belin 2016. Ähnliches zeigt auch Catherine Gousseff für die Einwanderung russischer Flüchtlinge: Catherine Gousseff: L’exil russe. La fabrique du réfugié apatride (1920–1939), Paris: CNRS Éditions 2008, S. 155–184. René Lenoir, Kommunikation im Ministerrat, 10.09.1975, ANF.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Zugleich überlagerte die Regierung mit ihren Steuerungsinstrumenten die individualisierten Kriterien der GFK, nach denen Menschen mit begründeter Furcht vor oder nach tatsächlich erfolgter persönlicher Verfolgung aufgrund von »Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen [einer] politischen Überzeugung«7 als Flüchtlinge gelten. Zwar veränderten sich einige dieser Grundzüge der Flüchtlingshilfe in Südostasien mit der Zeit, und durch die Vielzahl der Akteure und Akteurinnen, die die Vorgaben umsetzten, konnten sich Variationen der Grundsätze ergeben, aber dennoch zeigte sich an diesem grundsätzlichen Aufbau der Flüchtlingshilfe, dass der französische Staat eine wichtige Rolle in dem gesamten Aufnahmeprozess einnahm.

Das Instrument der Aufnahmequote Das 1975 entwickelte französische Dispositiv, durch das der französische Staat über Instrumente wie Aufnahmequote und Aufnahmekriterien die Auswahl von Flüchtlingen in den südostasiatischen Lagern beeinflusste, war eine Form von Bevölkerungspolitik mit dem Ziel, den Zuzug der Flüchtlinge nach Frankreich zu steuern. Schon zu Beginn der Aufnahme hatte der französische Präsident Giscard d’Estaing die Grundlagen für die Einführung der Instrumente definiert. So sollten Personen mit einer kulturellen Nähe zu Frankreich und günstigen Voraussetzungen für eine schnelle wirtschaftliche Integration herausgefiltert werden.8 Solche wirtschaftspolitischen Überlegungen zogen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Prozess. Denn egal, ob mit Arbeitskräftemangel oder im Gegenteil mit einer schlechten Konjunktur und Arbeitslosigkeit argumentiert wurde, wirtschaftspolitische Überlegungen waren immer zentral in den Entscheidungen für oder gegen die Aufnahme. Das erste Instrument, das Giscard d’Estaing 1975 einführte, waren die von der Regierung festgelegten Quoten, die bezifferten, wie hoch die Zahl der Personen sein durfte, die in den Flüchtlingslagern in Südostasien pro Monat für die Weitervermittlung nach Frankreich ausgewählt wurden. Die monatliche Höchstzahl wurde dann auf die Flüchtlingslager in Südostasien verteilt, in

7

8

UNHCR: Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 und Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, Broschüre von 2015, https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/GFK_Pocket _2015_RZ_final_ansicht.pdf (zuletzt geprüft am 19.08.2022). Siehe hierzu die Politik Giscard d’Estaings im Abschnitt 2.1 dieses Buches.

123

124

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

denen Frankreich aktiv war. Wenn also eine Quote von 700 Personen im Monat aufgestellt wurde, klärte das Außenministerium, teilweise unter Absprache mit den Botschaften, wie viele Personen jeweils aus Vietnam, Thailand oder einem anderen vorübergehenden Aufnahmeland in Südostasien zugelassen wurden. Vor Ort kümmerten sich dann französische Mitarbeiter der Mission des CNE in den Lagern darum, die Quote zu erfüllen, indem sie Flüchtlinge zur Weiterreise nach Frankreich aussuchten. Allerdings funktionierte dieses Instrument zur Steuerung von Fluchtbewegungen nach Frankreich aufgrund einer Vielzahl beteiligter Akteure in Frankreich und in Thailand sowie technischer Faktoren nur bedingt, dennoch blieb die Quote mit großen Schwankungen bis 1984 ein wichtiger Pfeiler des gesamten Prozesses. Bis 1984 rangierten die Quoten zwischen 450 und 1667 Flüchtlingen, die monatlich nach Frankreich kommen konnten. Allerdings variieren die Angaben zu den tatsächlichen Quotenhöhen sowohl in den Quellen als auch in der Literatur.9 Das liegt auch daran, dass administrative und technische Faktoren Einfluss auf die Zahl der tatsächlich aufgenommenen Personen hatten, die nicht immer zu hundert Prozent zu kontrollieren waren. Die Abstimmungsprozesse zwischen dem französischen Innen- und Außenministerium, die Vergabe von Visa durch die französische Botschaft, verweigerte Ausreisegenehmigungen durch die thailändischen Behörden sowie die Verfügbarkeit von Sitzplätzen in den Maschinen der Air France spielten beispielsweise eine Rolle, ob die Quoten erfüllt wurden und ob mehr oder ob weniger Flüchtlinge kamen, als die Quote vorgab. Auf dem Höhepunkt der Krise in den Jahren 1979 bis 1981 nahm Frankreich im Durchschnitt 1000 Flüchtlinge pro Monat auf dem regulären Weg auf.10 Problematisch an der Unregelmäßigkeit war, dass Institutionen, die wie die Organisation FTDA oder das Französische Rote Kreuz für die Erstaufnahme zuständig waren, häufig sehr flexibel auf zu niedrige oder zu hohe Zahlen von Neuankommenden reagieren mussten. Wenn also mehr Personen kamen als angekündigt, musste die FTDA diese Personen schnell, aber unvorbereitet in ihren Centres de transit und den Centres provisoires d’hébergement (CPH) unterbringen, was teilweise zu einer Überbelegung beziehungsweise zu einer Art Rückstau führte. Als die Regierung im Juni 1981 entschied die Aufnahmezahlen zu erhöhen, mussten

9 10

Siehe hierzu die sehr gute Diskussion bei: J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 76–85. Ebd., S. 89–103.

3. Die Ordnung der Aufnahme

fast die Hälfte der Flüchtlinge, die im Juli 1981 ankamen, länger als die vorgesehenen sechs Monate in einem CPH verbringen, weil ihnen keine Wohnung vermittelt werden konnte. Sie belegten damit Plätze, die eigentlich für weitere Neuankommende vorgesehen waren.11 Die von der FTDA eingerichteten Aufnahmekapazitäten reagierten sehr empfindlich auf Schwankungen in den Zahlen von Neuankommenden und waren wenig flexibel im Umgang mit unerwartet steigenden Zahlen. Erst 1984 schaffte die Regierung die Quoten ab und ersetzte sie durch flexible und punktuell angewandte Kontingente. Mit diesen flexiblen Kontingenten setzte sich der französische Staat nur noch für Gruppen ein, deren Größe klar umrissen war, beispielsweise für die Flüchtlinge aus dem Lager in Phanat Nikhom, zu dessen Leerung Frankreich bis 1986 maßgeblich beitrug. Doch auch schon lange bevor die offizielle Quote 1984 abgeschafft wurde, gab es innerhalb der Regierung unterschiedliche Ansichten dazu, wie wirksam die Quote war und ob die quotierte Flüchtlingsaufnahme zu den anderen politischen Maßnahmen der Regierung passte. Aus diesen Debatten heraus hatte die Regierung unter Giscard d’Estaing schon 1977 eine flexible Interpretation der Quote entwickelt. Vorausgegangen waren dieser Veränderung kritische Stimmen innerhalb der Regierung. So wies beispielsweise Jean-David Levitte, ein Berater Giscard d’Estaings mit hoher außenpolitischer Expertise, im Oktober 1977 den Präsidenten auf die für ihn bedenklichen Punkte hin. Er kritisierte, dass die Flüchtlinge kaum noch Verbindungen mit Frankreich hätten, wodurch nur noch humanitäre Gründe für die Umsiedlung blieben. Auch erläuterte er, dass sich die Lager nicht leerten, sondern füllten, was er darauf zurückführte, dass die Aussicht auf eine Aufnahme den Menschen einen Anreiz bot, sich auf den Weg zu machen. Letztlich sah er es als problematisch an, dass weiterhin 1000 Flüchtlinge aus Südostasien aufgenommen wurden, während man die Familien anderer, schon in Frankreich lebender Migranten und Migrantinnen versuchte zur Ausreise zu bewegen. Gerade in der Verschränkung der immer restriktiveren französischen Migrations- und der wohlwollenden Asylpolitik gegenüber den südostasiatischen Flüchtlingen, sah Levitte die Gefahr, dass sich die Regierung unglaubwürdig machte. Auch an die einfache Integration der Flüchtlinge glaubte er nicht, da es seiner Ansicht nach kaum

11

Yves Ajchenbaum: »Les populations originaires d’Asie du Sud-Est accueillies en France au sein des Centres provisoires d’hébergement, 1980–1981«. Statistische Untersuchung der Organisation FTDA, [Mai 1983], 19900260/12, ANF, hier S. 106.

125

126

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

noch Flüchtlinge gab, die »historische Verbindungen« zu Frankreich und damit Sprachkompetenzen und Kenntnisse der französischen Kultur aufwiesen. Aus diesen Gründen riet Levitte dem Präsidenten einerseits zu versuchen, die wenigen Flüchtlinge mit »historischen Verbindungen« ausfindig zu machen, und andererseits die Aufnahmezahlen zu senken.12 Solche Bedenken schienen Wirkung zu zeigen, denn im November 1977 informierte Yves Cannac, der einflussreiche Generalsekretär des Präsidenten, Jean-David Levitte darüber, dass die Quote nun eher »als Obergrenze und nicht als ein zu erreichendes Ziel«13 gedeutet werden sollte, da sich bei einer sehr strengen Anwendung der Aufnahmekriterien niemals genug Flüchtlinge fänden, um die Quote von 1000 Personen im Monat zu erfüllen.14 Die Ergänzung der Quote um das Instrument der Kriterien war ein Versuch, die Personen aus der Masse der Flüchtlinge herauszufiltern, von denen die Regierung annahm, dass sie sich aufgrund ihrer Vertrautheit mit der französischen Kultur und Sprache schnell in Frankreich zurechtfinden konnten. Diese Kriterien bildeten folgend das zweite Instrument des französischen Staates und wurden in Kombination mit der Quote bis 1984 angewandt.

Das Instrument der Aufnahmekriterien zur besseren Steuerung des Auswahlvorgangs Die Aufnahmekriterien sollten die Aufnahme über eine Quote ergänzen, um die Umsiedlung besser steuern zu können und diese zugleich mit wirtschaftspolitischen Erwägungen, wie der erwünschten schnellen Integrationsfähigkeit der Flüchtlinge, zu vereinbaren. Im ersten Jahr der Krise bis 1976, als kambodschanische Flüchtlinge noch nicht in den Ausmaßen Thailand erreichten wie 1979, galten für die thailändische Regierung und die internationale Gemeinschaft alle Personen, die sich in den Lagern im Grenzgebiet aufhielten, automatisch als Flüchtlinge, wodurch den Flüchtlingen ein Anspruch auf Asyl in Thailand und Weitervermittlung in ein Drittland zugestanden wurde.15 Allerdings stiegen die Flüchtlingszahlen in den Lagern bis 1977 immer weiter an,

12 13 14 15

Jean-David Levitte: Notiz an den Präsidenten »Réfugiés d’Indochine«, 10.10.1977, AG/5(3)901, ANF. Yves Cannac: Notiz an Jean-David Levitte, 03.11.1977, AG/5(3)/901, ANF. Ebd. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 88.

3. Die Ordnung der Aufnahme

und die französische Regierung wollte Einfluss darauf nehmen, welchen Ansprüchen die in Frankreich aufzunehmenden Flüchtlinge genügen sollten. Bereits 1976 hatte der CNE-Präsident Jean Sainteny vorgeschlagen, die Auswahl solle stärker auf Basis des Bildungsniveaus der Flüchtlinge getroffen werden. Dabei verwies er darauf, dass Frankreich in Südostasien mit anderen Staaten um die fähigsten Flüchtlinge konkurrierte: »Hundert Analphabeten landen in Marseille, während die französischsprachigen und gut ausgebildeten Vietnamesen in Thailand zurückbleiben, weil sie kein Visum von unseren Diensten erhalten haben. Die zentrale Administration (Direktion für Konsularangelegenheiten) hat keine Möglichkeit, dieses Problem anzugehen. Unsere Einrichtungen vor Ort (Botschaft und Konsulat) haben weder Mittel noch Motivation. Das Ergebnis ist, dass keine Visa ausgestellt werden, während die Amerikaner diese Flüchtlinge systematisch abschöpfen.«16 Zwar muss diese Einschätzung sicher in dem Kontext gesehen werden, dass Sainteny einer der stärksten Verfechter einer Erhöhung der Aufnahmequote und dementsprechend bemüht war, der Regierung gute Argumente für eine Erhöhung des Engagements darzulegen. Tatsächlich erarbeitete die französische Regierung 1976 kriterienbasierte Aufnahmeregelungen, um über einen besseren Kontrollmechanismus für die Auswahl der Flüchtlinge in den Lagern zu verfügen. Hierbei handelte es sich um folgende für die Umsiedlung zentrale Kriterien: Erstens sollten Familien mit weniger Familienmitgliedern bevorzugt werden. Zweitens wurde nun stärker darauf geachtet, dass zumindest das Familienoberhaupt der französischen Sprache mächtig war. Drittens wurden die Familien, in denen eine Person Frankreich Dienste ziviler oder militärischer Natur erwiesen hatte, bevorzugt. Viertens wurde nun darauf geachtet, ob die Flüchtlinge bereits Angehörige in Frankreich hatten oder einen Beruf ausüben konnten.17 Allerdings setzte die französische Regierung über die Auswahlkriterien zwar Vorgaben darüber fest, welche Flüchtlinge Anrecht auf Aufnahme hatten, aber angewandt wurden die Kriterien von Akteuren vor Ort, die teilweise

16 17

Yves Cannac: Notiz an den Präsidenten »Immigration vietnamienne«, 11.02.1976, AG/5(3)901, ANF. Jean-David Levitte: Notiz an den Präsidenten zum Gespräch mit Jean Sainteny, 26.02.1976, AG/5(3)/901, ANF.

127

128

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

einen sehr großen Handlungsspielraum bei der Auswahl hatten und die staatlichen Vorgaben variabel auslegen konnten. Daher muss die beabsichtigte Kontrollfunktion des Staates mit der Realität von Handlungsspielräumen anderer staatlicher Akteure abgeglichen werden. Wie der Jesuit Pierre Ceyrac, der lange in den Flüchtlingslagern in Thailand arbeitete, zu den Kriterien bemerkte: »Die Kriterien sind wie die französische Grammatik. Es gibt eine Regel und viele Ausnahmen.«18 Diese Beurteilung gründete auf den Erfahrungen des Jesuiten und anderer humanitärer Helfer und Helferinnen mit den Akteuren, die für die kriterienbasierte Auswahl der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern verantwortlich waren. Angestellt waren die für die Auswahl verantwortlichen Personen von einer der französischen Botschaft in Bangkok angegliederten Delegation des CNE, die nicht direkt der französischen Regierung unterstellt war. Um die Flüchtlinge für die Umsiedlung nach Frankreich auszuwählen, interviewten die Mitarbeiter der CNE-Mission die Flüchtlinge, sie überprüften ihre Geschichte und erstellten Akten über die Details, die sie, insbesondere wenn es um Verwandtschaftsverhältnisse zu bereits in Frankreich lebenden Flüchtlingen ging, auch mit dem Außenministerium in Frankreich austauschten.19 Die Mitarbeiter der Delegation stammten entweder aus dem französischen Militär, häufig mit Erfahrungen aus den Kolonien, oder waren als Missionare in Indochina gewesen, wodurch sie sich mit den lokalen Gegebenheiten gut auskannten. Einer dieser Mitarbeiter der Delegation war Colonel Quilichini, der in den Memoiren der SIPAR-Gründerin20 Magali Petitmengin eine wichtige Rolle spielt. Während Petitmengin sich für die Flüchtlinge aus Kambodscha engagierte, hatte sie häufig mit Colonel Quilichini zu tun, da dieser zur selben Zeit für die Flüchtlingsauswahl zuständig war. Seine Arbeit und Arbeitsweise zeigten deutlich, dass individuelle Spielräume auch existierten, wenn sich humanitäre Helfer und Helferinnen an ihn wandten. Es gibt Fälle, in denen sich Quilichini dafür entschied, eine Person nach Frankreich kommen zu lassen, obwohl sie nicht in das Schema der offiziellen Aufnahmekriterien

18 19 20

Zitiert nach: Magali Petitmengin: Graines de bois. 25 ans avec les Cambodgiens, o.O.: editoo.com 2005, S. 119. Yves Cannac: Notiz »Immigration vietnamienne«, 11.02.1976; Jean-David Levitte, Notiz »Réfugiés d’Indochine«, 10.10.1977. Die Organisation SIPAR (Soutien à l’initiative privée pour l’aide aux réfugiés) wurde 1983 gegründet, um private Aufnahmegruppen unterstützen zu können. Siehe auch Kapitel 3.3 dieser Arbeit.

3. Die Ordnung der Aufnahme

passte. Ein Beispiel verdeutlicht diese Form individueller Handlungsspielräume. In diesem Fall hatte die SIPAR einer Frau geholfen, die bereits in Kambodscha als Hebamme gearbeitet hatte und in Frankreich eine Ausbildung machte, um auch dort als Hebamme arbeiten zu können. Diese Frau war mit zwei ihrer leiblichen Kinder nach Frankreich gekommen, erwähnte allerdings in einem Gespräch mit Petitmengin, dass sie noch eine weitere Tochter habe, die in einem Flüchtlingslager lebte. Petitmengin kontaktierte daraufhin Colonel Quilichini, der die Tochter ausfindig machen konnte. Dabei stellte sich allerdings heraus, dass es sich gar nicht um eine leibliche, sondern um eine adoptierte Tochter handelte, da die leibliche Mutter sich nach der Geburt nicht um das Kind hatte kümmern können und dann der Hebamme das Kind anvertraut hatte. Da es keine Adoptionsurkunde gab, war die Tochter nach den offiziellen Kriterien nicht berechtigt, nach Frankreich zu kommen. Dennoch konnte Quilichini die Adoptivtochter in den Prozess einschleusen.21 Die kriterienbasierte Aufnahme war daher zwar eine staatliche Vorgabe, die die Auswahl der Flüchtlinge strukturierte, aber nur zu einem bestimmten Grad. Denn in letzter Instanz konnten die Mitarbeiter der CNE-Delegation viele dieser Kriterien flexibel handhaben und hatten dementsprechend ein hohes Maß an Handlungsspielraum. Solche Grauzonen im Handlungsspielraum der CNE-Mission sorgten unter anderem dafür, dass der Unmut über das CNE bei anderen Hilfsorganisationen in Frankreich wuchs und die linke Regierung schließlich die Befugnisse des CNE einschränkte.22 Die Aufnahmeinstrumente waren zwar zur Begrenzung und Kontrolle gedacht, aber die Anpassung der Instrumente im Laufe der Zeit zeigen, wie flexibel der Staat sie handhabte. Zugleich war gerade die Quote eine Form minimaler staatlicher Selbstverpflichtung, bestimmte Ziele zu erfüllen. Solange beispielsweise die Quote in Kombination mit den Kriterien existierte, war zwar eine Obergrenze für neuankommende Flüchtlinge vorhanden, zugleich gab es aber auch das grundsätzliche staatliche Bekenntnis, überhaupt Flüchtlinge aus Südostasien aufzunehmen. Dieser Zustand verdeutlichte sich, als die

21 22

M. Petitmengin: Graines de bois, S. 47–49; Magali Petitmengin interviewt von Laura Wollenweber, 15.03.2017, Versailles. Jean-Michel Belorgey: Notiz »le Comité national d’entraide franco-vietnamien, francocambodgien, franco-laotien et sur les amenagements souhaitables du dispositif administratif de pilotage de la politique d’accueil et d’insertion sociale des réfugiés«, 26.11.1981, 1853INVA-141, CADC. Siehe auch: J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 360–363.

129

130

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

linke Regierung ihre Flüchtlingspolitik neu ausrichtete und das Engagement in Südostasien in ein allgemeines Dispositiv einzugliedern begann. In diesem Zusammenhang schaffte der Ministerrat der linken Regierung 1984 die Aufnahmequote für die südostasiatischen Flüchtlinge ab. Der Beschluss sah das Ende der Umsiedlung über Quoten vor, gemeinsam mit der Einführung neuer Kriterien, besonders dem Bestehen enger familiärer Bindungen in Frankreich. So sprachen sich die versammelten Minister fast einstimmig dafür aus, die Idee einer zu erreichenden Anzahl von Aufnahmen nun gar nicht mehr weiter fortzuführen.23 Einzig Außenminister Claude Cheysson erachtete ein Minimum von 450 zugelassenen Flüchtlingen im Monat für notwendig, damit Frankreich »weiterhin die humanitäre und politische Rolle spielen [konnte], die ihm die Geschichte, seine eigene Mission und seine gegenwärtigen und künftigen Interessen in dieser Region der Welt übertragen«24 hatten. Somit blieb zwar ein grundlegendes Bekenntnis der Regierung zu den südostasiatischen Flüchtlingen bestehen, aber es gab ab diesem Zeitpunkt keine rechtliche Eindeutigkeit mehr bezüglich der Zahlen. Durch diese Neuregelung waren weiterhin punktuell angelegte großzügige Aktionen möglich. So nahm Frankreich beispielsweise Anfang der 1980er Jahre über eine zeitlich beschränkte Quote rund 5500 Flüchtlinge aus dem Lager Phanat Nikhom in Thailand aufgrund von Absprachen mit der thailändischen Regierung auf.25 Ein weiteres Beispiel stellt die Vergabe von 800 Visa dar, die 1987 auf einmal an Boatpeople ausgegeben wurden. Gleichzeitig sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass »die Entscheidung von 1984 den massiven und organisierten Ankünften ein Ende setzte«26 .

23 24 25 26

Daniel Fabre: »Notifications sur les décisions de la réunion interministérielle du 9 mai 1984«, 29.05.1984, 19930008/5, ANF. Claude Cheysson: Perspektiven für die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge, 22.05.1984. Protokoll des Ministerrats, »Objet Politique d’accueil des réfugiés«, 22.12.1982, 19930008/1, ANF. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 105.

3. Die Ordnung der Aufnahme

3.2 Politische Ordnungskriterien, Legitimität und Rechte Das OFPRA – eine Behörde zwischen Staat und Flüchtlingen in Frankreich Das OFPRA war als Behörde für Flüchtlinge seit der Gründung 1952 im Regelfall verantwortlich für die Vergabe des Flüchtlingsstatus und sämtliche administrativen Vorgänge rund um den Personenstand der Flüchtlinge.27 Die Geschichte der Behörde ist eng mit den europäischen Flüchtlingskrisen im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie letztlich der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (auch Genfer Flüchtlingskonvention, GFK) von 1951 verbunden. Die Bestimmungen der GFK fanden 1952 Eingang in französisches nationales Recht und begründeten damit zugleich das OFPRA. Weiterhin wurden die Bestimmungen der GFK 1967 durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (auch bekannt als Bellagio-Protokoll) ergänzt. GFK und Bellagio-Protokoll sind bis heute die wichtigsten völkerrechtlich bindenden Abkommen zur Definition und Behandlung eines Menschen, der in einem anderen Land Asyl sucht.28 Allerdings trug die neue Definition des Flüchtlings29 in der GFK zu einer Individualisierung der Flüchtlinge in den Rechtspraktiken der Flüchtlingsaufnahme bei. Waren es bis dato häufig ganze Gruppen gewesen, denen Schutz seitens des französischen Staates zu- oder abgesprochen worden war, fußte die GFK auf der Tatsache, dass Flüchtlinge ihren Anspruch auf Schutz durch den Nachweis individueller Verfolgung im Heimatland erst in beim OFPRA institutionalisierten bürokra-

27 28

29

A. Angoustures/D. Kévonian/C. Mouradian (Hg.): Réfugiés et apatrides. Zur Rechtsgeschichte des Asyls siehe: D. S. FitzGerald: Refuge beyond Reach; Charlotte Lülf: Conflict Displacement and Legal Protection. Understanding Asylum, Human Rights and Refugee Law, Oxford, New York: Routledge 2019. »A. Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck ›Flüchtling‹ auf jede Person Anwendung: […] 2. die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind, und aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.« UNHCR, Genfer Flüchtlingskonvention.

131

132

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

tischen Verfahren nachweisen mussten.30 Zugleich waren die folgenden Jahre von einer hochgradigen Diversifizierung der Herkunftsländer von Flüchtlingen geprägt. Im Zusammenhang mit den Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre und dem Aufstieg rechtsextremer Kräfte seit den 1980er Jahren vollzog sich in Frankreich eine politische Wende, in der die Regierungen das Asylgesetz konstant einschränkten, und sich die Überprüfung der Flüchtlinge nach den Kategorien vrai oder faux zu einer staatlichen Manie entwickelte. Der massive Ausbau des OFPRA zu einer straffen bürokratischen Hürde, über die die Antragsverfahren so schnell wie möglich abgeschlossen werden sollten, um unbegründete Antragsteller oder -stellerinnen wieder ausweisen zu können, spiegelte diese staatliche Manie deutlich.31 Mehrere Untersuchungen bezeichnen die Aufnahmen der südostasiatischen Flüchtlinge als eine reine Formalie und heben den besonderen Status dieser Flüchtlingsgruppen hervor.32 Statt, dass das OFPRA die Anträge dieser Flüchtlingsgruppen gründlich prüfte, erhielten die südostasiatischen Flüchtlinge, die im Fall der kambodschanischen Flüchtlinge durch CNE-Mitarbeiter in den thailändischen Lagern ausgewählt wurden, ihren Status automatisch, nachdem sie ihren Antrag beim OFPRA eingereicht hatten. Diese besondere Behandlung basierte auf den politischen Grundsatzentscheidungen, die die französische Regierung für den Empfang dieser Gruppen getroffen hatte. Zwar trafen diese Einschätzungen für einen Großteil der südostasiatischen Flüchtlinge zu, aber es muss unterschieden werden zwischen Flüchtlingen, die über die staatlichen Aufnahmeprozeduren einreisten, und Flüchtlingen, die ohne eine Einreiseerlaubnis nach Frankreich kamen. Wenn Letztere versuchten, ihren Status über das OFPRA zu legalisieren, konnten sie auf dieselben Hürden treffen wie auch andere Gruppen von Flüchtlingen. Außerdem stellte das OFPRA auch für diejenigen Flüchtlinge, die schnell anerkannt wurden, häufig eine bürokratische Hürde dar, wenn es darum ging, den eigenen Personenstand zu klären oder finanzielle Beihilfe zu erhalten. Der Erhalt neuer

30 31 32

Vgl. u. a.: G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers; G. Noiriel: Représentation nationale et categories sociales. G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers, S. 236–238. K. Akoka: La fabrique du réfugié à l’Ofpra; Luc Legoux: La politique d’asile, in: Philippe Dewitte (Hg.): Immigration et intégration. L’état des savoirs, Paris: Éditions La Découverte 1999, S. 341–351; L. Legoux: La crise de l’asile politique en France; J.-P. Masse: L’exception indochinoise.

3. Die Ordnung der Aufnahme

staatlich garantierter Rechte war damit an die Voraussetzung gekoppelt, staatliche Ordnungskategorien zu erfüllen. Durch die Dichotomie, die sich einerseits aus der Verlagerung der Einzelfallprüfung nach Thailand und andererseits aus dem Zuständigkeitsbereich des OFPRA für die Verwaltung der Flüchtlinge in Frankreich ergab, kam es zu Reibungen. Diese waren die Grundlage für eine Stratifizierung der Wahrnehmung des Prozesses und der Flüchtlinge innerhalb des Staatsapparates. So gab es beim OFPRA beispielsweise schon relativ früh kritische Stimmen, die die Legitimität des Flüchtlingsstatus der Südostasiaten und die uneingeschränkte Vergabe des Flüchtlingsstatus an diese hinterfragten. Die Wahrnehmungen von der Aufnahme differierten somit innerhalb des Staatsapparates.

Die Kategorien vrais et faux réfugiés Zentral ist es im Zusammenhang mit französischer Flüchtlingsaufnahmeund Asylgeschichte als Teil der Menschenrechtsgeschichte auch, über den vrai réfugié und den faux réfugié oder auch »ökonomischen Flüchtling« als Kategorien, die stark von gesellschaftlichen Diskursen und der Politik beeinflusst wurden, nachzudenken. Denn diese Kategorien gaben den Ausschlag, welchen Personen oder Personengruppen ein Anrecht auf Asyl zugestanden wurde. Problematisch waren diese Kategorien vor allem, weil hinter diesen eine Agenda und ein Handlungsauftrag standen, die ›unechten‹ von den ›echten‹ Flüchtlingen zu unterscheiden. Die einwandfreie Unterscheidung dieser beiden Kategorien war dabei in vielen Fällen nicht möglich, da die Grenzen zwischen ökonomischer Aussichtslosigkeit, traumatischen Erfahrungen und individueller Verfolgung teilweise fließend waren.33 Folgend wird daher kein nachträgliches Urteil über die Rechtmäßigkeit der aufgenommenen und abgewiesenen Flüchtlinge gefällt. Dadurch wird verhindert, dass diese politischen Ordnungskategorien zu einem Analyseinstrument werden. Stattdessen wird 33

Vgl. hierzu die Untersuchung von Christoph Kalter, der die Frage, wer Anspruch auf den Flüchtlingsstatus hat, im Zusammenhang mit den portugiesischen retornados untersuchte: Christoph Kalter: Rückkehr oder Flucht? Dekolonisierung, Zwangsmigration und Portugals retornados, in: Geschichte und Gesellschaft 44, 2 (2018), S. 250–284. Siehe weiterhin auch Léa Renard, die anhand der Veränderungen statistischer Kategorisierungspraktiken die Wandelbarkeit von Migrationskategorien untersuchte: Léa Renard: Mit den Augen der Statistiker. Deutsche Kategorisierungspraktiken von Migration im historischen Wandel, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15, 3 (2018), S. 431–451.

133

134

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

über die Darstellung der bei staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren und Akteurinnen stark differierenden Wahrnehmungen dieser Kategorien und der Frage, welche Flüchtlinge in welche der beiden Kategorien gehörten, auf den konstruierten Charakter dieser Kategorien und die politische Beliebigkeit, nach der geflohenen Menschen neue staatliche Rechte gegeben werden, verwiesen. Da es für die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge ein grundlegendes Bekenntnis der Regierung für die Aufnahme gab und das CNE vor Ort die Auswahl der Flüchtlinge organisierte, wurde die Autonomie des OFPRA eingeschränkt, wodurch sich deutlich zeigte, dass das OFPRA als Behörde der Regierung weisungsgebunden war und politische Entscheidungen umsetzen musste. In diesem Zusammenhang hatten zudem die für das OFPRA grundlegenden Kriterien der GFK, die auf dem Nachweis individueller Verfolgung basieren, gerade zu Beginn des Aufnahmeprozesses nur sekundäre Bedeutung. Das heißt, dass die Darlegung einer begründeten Furcht vor oder einer tatsächlich erfolgten Verfolgung, aufgrund von »Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen [einer] politischen Überzeugung«34 beim OFPRA keine absolute Notwendigkeit mehr war, da die Entscheidung, ob es sich um einen Flüchtling handelte, vor Ort in den Flüchtlingslagern von den CNE-Mitarbeitern auf Basis der von der französischen Regierung erlassenen Kriterien getroffen wurde. Das OFPRA akzeptierte diese Kompetenzverlagerung, kritisierte aber durchaus regelmäßig das uneingeschränkte Asylrecht der südostasiatischen Flüchtlinge, da diese nicht alle die Kriterien der GFK, die das OFPRA normalerweise als Grundlage für die Entscheidungen über den Flüchtlingsstatus anwendete, erfüllten. Schon im Jahresbericht von 1977, und damit noch lange vor dem Höhepunkt der kambodschanischen Flüchtlingskrise, verwies Pierre Basdevant, Direktor des OFPRA, darauf, dass durch den politischen Druck viel flexiblere Kriterien bei den südostasiatischen Flüchtlingen zur Anwendung gekommen seien, als dies bei anderen Antragstellern und -stellerinnen der Fall war: »Das Amt wurde überschüttet mit falschen Dokumenten, falschen Aussagen, fragwürdigen Zertifikaten, Interventionen und Druck. Und durch die Umstände war es gezwungen, seine Rolle aufzugeben und flexiblere Kriterien für Überlebende aus dem ehemaligen Indochina anzuwenden als für Ausländer aus anderen Teilen der Welt.«35 34 35

UNHCR, Genfer Flüchtlingskonvention. Tätigkeitsbericht des OFPRA für das Jahr 1976, 1977, DIR 1/2, OFPRA.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Die Verschiebung der Entscheidungskompetenzen bedeutete zugleich nicht, dass das OFPRA keinen Arbeitsaufwand mit der Flüchtlingsaufnahme hatte. So mussten die officier de protection36 bei den südostasiatischen Flüchtlingen, die über das Kontingent nach Frankreich geholt wurden, zwar keine engmaschigen Prüfungen der Anträge durchführen, jedoch erhöhte sich zugleich der Verwaltungsaufwand, weil das OFPRA für die Ausstellung von Papieren sowie die Eruierung des Personenstands der Flüchtlinge zuständig war. Aus diesem Grund informierte Pierre Basdevant in einer Art Brandbrief das Außenministerium über diese Überlastung, wobei er zum Ausdruck brachte, dass »viele [der Flüchtlinge] der in der Genfer Konvention enthaltenen Definition eines Flüchtlings [entsprachen]. Aber eben nicht alle von ihnen«37 . Dies war allerdings kein neues Phänomen. Denn schon vor den 1970er Jahren erbrachten viele Antragsteller und -stellerinnen beim OFPRA keine Nachweise über eine individuelle Verfolgung im Heimatland und erhielten dennoch den Flüchtlingsstatus. Bei vielen der aufgenommenen Flüchtlinge handelte es sich um Menschen, die nicht in dem politischen und/oder wirtschaftlichen System leben wollten, das sich in ihrem Heimatland etabliert hatte.38 Somit war eine gewisse Flexibilität in der Handhabung der Kriterien der GFK auch vor der staatlich gewollten Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge Realität beim OFPRA. Vor allem die Auslagerung der Kompetenz für die Auswahl der Flüchtlinge im Fall der Südostasiaten führten dazu, dass das OFPRA gegenüber dem Außenministerium die Rechtmäßigkeit der ausgewählten Flüchtlinge infrage stellte. Die Frage nach der Legitimität gewann in dem Maß an Bedeutung, in dem sich im politischen Geschehen und letztlich auch beim OFPRA ein Zustand verfestigte, den man als »Herrschaft des Misstrauens«39 bezeichnen kann. Dieses Misstrauen lässt sich tatsächlich auch noch heute in den archivierten Anträgen der Flüchtlinge nachvollziehen. So zeigt ein sehr plakatives Beispiel, der Antrag von Khau Siv Eng40 von Dezember 1976, und damit noch zu Beginn der 36

37 38 39 40

Die officiers de protection sind die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des OFPRA, die über die Anträge der Flüchtlinge entscheiden und sich um die bürokratischen Belange der Flüchtlinge kümmern. Dieses Amt gab es seit der Gründung des OFPRA 1952. Pierre Basdevant: Brief des Direktors vom OFPRA an das Außenministerium, 12.04.1977, 1852INVA-3, CADC. K. Akoka: La fabrique du réfugié à l’Ofpra, S. 289–290. G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers, S. 236–238. Um die Identität der Personen, deren Anträge beim OFPRA eingesehen werden konnten, zu schützen, wurden sämtliche Namen geändert. Die Namen der Personen, mit

135

136

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Aufnahme, dieses Misstrauen sehr gut. Denn anscheinend war ihre Angabe, dass sie verwitwet war, falsch, was zu einem umfangreichen Briefwechsel mit dem OFPRA und dem Vermerk »was für eine miserable Lügnerin«41 auf ihrem Antrag führte. Ab Beginn der 1980er Jahre erhärtete sich im OFPRA ein grundsätzlicher Argwohn gegenüber Personen, die einen Antrag stellten. Sie wurden tendenziell eher als unechte Flüchtlinge mit gefälschten Papieren eingeschätzt, bis sie das Gegenteil bewiesen. In einem Interview 1982 äußerte Gilles Rosset, Generalsekretär des OFPRA, diesen Generalverdacht sehr deutlich, indem er darauf verwies, dass die meisten Flüchtlinge aus Afrika und Südostasien »keine Dokumente [haben], oder ihre Dokumente […] gefälscht« seien, wodurch es schwierig war die Nationalität der Flüchtlinge zu kennen, was aber laut Rosset besonders wichtig war, da »die Verfolgung, die sie erlitten haben oder befürchten, von den Behörden des Landes ihrer Staatsangehörigkeit ausgehen muss[te]«.42 In dieser Wahrnehmung konnten nur Personen, deren eigene Rechte durch ihren Heimatstaat genommen worden waren, einen Anspruch auf neue, staatlich garantierte Rechte in Frankreich geltend machen, was viele der südostasiatischen Flüchtlinge nicht konnten, wie Gilles Rosset in dem Interview weiter ausführte, denn für ihn stand außer Frage, dass sich das Profil der südostasiatischen Flüchtlinge verschoben hatte, und auf die Frage, ob diese überhaupt noch die Kriterien der GFK erfüllten, antwortete er: »Nein, das Profil hat sich zwischen 1975 und 1982 stark verändert. Heutzutage sind es oft junge Menschen, die weder von Befürchtungen vor noch von tatsächlicher persönlicher Verfolgung berichten können. […] Sie fühlen sich nicht in der Lage, auf eine bestimmte Weise zu leben. Im Gegensatz zu Flüchtlingen, die in der Vergangenheit eingetroffen sind, können sie zudem nicht immer Dienstleistungen für Frankreich und nicht einmal die Zugehörigkeit zum französischen Kulturkreis vorweisen.«43 Anhand dieser Aussage wird deutlich, dass die OFPRA-Direktion Anfang der 1980er Jahre vielen Flüchtlingen aus Südostasien sowohl die Legitimität

41 42 43

denen Interviews geführt wurden, wurden mit Zustimmung der Personen beibehalten. Bei kambodschanischen Namen wird der Familienname zuerst geschrieben und dann der Eigenname. Khau Siv Eng: Antrag beim OFPRA, 05.12.1976, 90–01-12883, OFPRA. Ausschnitt aus einem Interview mit dem Generalsekretär des OFPRA, Gilles Rosset, 1982, 19990260/26, ANF. Ebd.

3. Die Ordnung der Aufnahme

auf Grundlage der GFK-Kriterien absprach, wie dies ja auch schon 1977 vom damaligen Direktor des OFPRA, Pierre Basdevant, dem Außenminister vorgetragen worden war, als auch die Legitimität auf Grundlage der von Frankreich zur Auswahl der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern definierten Kriterien. Diese nunmehr doppelte Infragestellung der Legitimität der südostasiatischen Flüchtlinge verstärkte die Sichtweise, dass ein größer werdender Kreis der Flüchtlinge eigentlich kein Anrecht auf den Status hatte und damit auch kein Anrecht auf die mit dem Status verbundenen Rechte im französischen Nationalstaat. Dieser Zustand verstärkte sich bis 1984, als die Regierung die Aufnahmequote abschaffte und zugleich den Druck auf die südostasiatischen Flüchtlinge, die außerhalb des staatlich organisierten Prozesses einreisten, erhöhte. Die Darstellung individueller Verfolgung zeichnete sich nun wieder als das wichtigste Element ab, um einen Flüchtlingsstatus zu begründen. Doch eine persönliche Verfolgung sei bei kaum einem Antragsteller oder einer Antragstellerin, der oder die unerlaubt eingereist sei, mehr gegeben, schrieb Jeanne Ahier, die Leiterin der Südostasiensektion des OFPRA, im Jahresbericht für 1983: »Diese Bewerber [südostasiatische Flüchtlinge aus Laos, Vietnam und Kambodscha] können nur sehr selten detailliert auf persönliche Verfolgung verweisen. In den meisten Fällen beschränken sie sich darauf, sich auf die allgemeine Situation in ihrem Land zu berufen: Kriegszustand, Terror der Roten Khmer für Kambodschaner; […] und das Risiko der Unterdrückung im Falle einer Rückkehr.«44 Einzig die Darstellung gezielter Verfolgung der eigenen Person legitimierte den Flüchtlingsstatus nach der GFK und selbst das Leben unter der Terrorherrschaft der Roten Khmer, ein maßgebliches Motiv der im ersten Kapitel genannten Empathiediskurse, reichte nicht aus, um den Nachweis für eine individuelle Verfolgung nach den Kriterien der GFK zu erbringen. Zwar wurden immer noch viele Flüchtlinge mit solchen allgemeinen Gründen für ihre Flucht anerkannt, aber in den im Rahmen dieser Untersuchung eingesehenen Anträgen45 unerlaubt eingereister kambodschanischer Flüchtlinge spiegelt

44 45

Tätigkeitsbericht der Abteilung Südostasien des OFPRA für das Jahr 1983, 1984, DIR 1/2, OFPRA. Da im Rahmen dieser Forschung keine Anträge eingesehen werden durften, die endgültig abgelehnt wurden, stützen sich die folgenden Analysen nur auf Anträge, die zwar in einem ersten Schritt durch die Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen des

137

138

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

sich, dass die individualisierten Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention eine wichtigere Rolle spielten. So lehnten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des OFPRA irregulär eingereiste Flüchtlinge aufgrund ihrer schriftlichen Darlegungen in den Anträgen, die vor 1984 in einer ähnlichen Form ohne Beanstandung angenommen worden waren, nun aufgrund der Tatsache ab, dass diese Begründungen nicht den Kriterien der GFK entsprachen. So wie bei Long Seang Hong. Sie reiste im Herbst 1984 über den Landweg von Deutschland mit ihren Kindern nach Frankreich ein. Ihren Antrag reichte sie im März 1985 beim OFPRA ein und erhielt daraufhin im August 1985 einen negativen Bescheid. Darin wurde zur Begründung ausgeführt, dass sie in ihrem Antrag von Zwangsarbeit für die Roten Khmer und die vietnamesischen Besatzer berichtete, aber dass sie keinerlei Angaben zu Verfolgungen persönlicher Natur machte – schließlich hatten alle Kambodschaner und Kambodschanerinnen in dieser Zeit Ähnliches erlebt. Des Weiteren wurde darauf verwiesen, dass der von ihr in ihrem Bericht geäußerte Wunsch, ihren Kindern in Frankreich eine bessere Zukunft zu ermöglichen, lediglich einen ökonomischen Grund für den Aufenthalt in Frankreich darstellte und ihr deshalb kein Flüchtlingsstatus auf Grundlage der GFK zuerkannt werden konnte.46 Zum Vergleich: Im Jahr 1976 war der Antrag von Khau Siv Eng angenommen worden, obwohl es Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen gab, wie vorab dargelegt. In ihrem Antrag hatte sie unter anderem auf die Frage, was sie bei einer Rückkehr befürchte, angegeben: »Ich befürchte meine persönlichen Freiheiten […] im materiellen Leben [zu verlieren].«47 Und in einem Antrag 1980 gab der über einen Schleuser mit gefälschten Papieren eingereiste Antragsteller Ngo Sieu Huoy auf die Frage, warum er politisches Asyl in Frankreich beantrage, einzig an: »politische und ökonomische Situation in meinem Land«48 . Auch wenn der Antrag beim OFPRA länger diskutiert wurde und der Antragssteller noch weitere Informationen nachreichen musste, erhielt Ngo Sieu Huoy am Ende direkt einen positiven Bescheid, ohne einen Widerspruch einlegen zu müssen. Die Beispiele zeigen deutlich, wie unterschiedlich ähnliche Motive in den

46 47 48

OFPRA abgelehnt wurden, aber in einem zweiten Schritt bei der Commission des recours des réfugiés, heute Cour nationale du droit d’asile, einer Berufungsinstanz des Asylverfahrens, bewilligt wurden. Dennoch lassen sich anhand der Gründe für die initiale Ablehnung maßgebliche Faktoren und Entscheidungsmuster untersuchen. Long Seang Hong: Antrag beim OFPRA, 28.02.1985, 89–12-07107/08, OFPRA. Khau Siv Eng, Antrag beim OFPRA, 05.12.1976. Ngo Sieu Huoy: Antrag beim OFPRA, 09.07.1980, 90–10-01726, OFPRA.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Anträgen innerhalb von vier Jahren beurteilt wurden. Zugleich eröffnet sich hieran, dass es sich auch bei den Südostasiaten um keine eindeutig definierte Gruppe von vrais réfugiés handelte, sondern ihre Legitimität als vrais réfugiés sich im Laufe der Zeit und vor allem nach Wegfall der staatlichen Quotenaufnahme minimierte, wodurch sie ihre individuelle Verfolgung genauer und spezifischer darlegen mussten, um weiterhin einen Anspruch auf Rechte in Frankreich geltend zu machen. Das Mistrauen gegenüber den Flüchtlingen zeigt sich auch darin, dass spätestens, als die Aufnahme nach Quoten zu einem Ende kam, neben den schriftlichen Darlegungen verstärkt Anhörungen mit den Antragstellern und -stellerinnen geführt wurden, um deren Geschichten sowie deren Sprachkenntnisse zu überprüfen. Dies zeigt sich auch am Beispiel von Sou Yahan, die im Winter 1986 einreiste und ihren Antrag beim OFPRA stellte. Anfang 1987 lud das OFPRA sie zur Überprüfung ihrer Angaben zu einer Anhörung ein, woraufhin ihr Antrag abgelehnt wurde. Die Sachbearbeiterin begründete dies mit vier Unstimmigkeiten. Erstens konnte sie beim erfolgten Sprachtest nur Chinesisch sprechen; zweitens hatte sie sich seit ihrer Kindheit in Hongkong aufgehalten, wohin sie mit ihren Eltern von Kambodscha aus geflohen war; drittens war sie 1986 »illegal« mithilfe eines Schleusers erst mit dem Flugzeug von Hongkong nach Belgien geflogen und dann über den Landweg von Belgien nach Frankreich eingereist und viertens hatte sie davon berichtet, dass sie in Hongkong Probleme mit ihren Papieren gehabt habe. Insbesondere der letzte Grund bewog die Sachbearbeiterin zu der Vermutung, dass die Antragstellerin den französischen Flüchtlingsstatus lediglich zur Legalisierung ihrer Situation nutzen wollte. Erst als Sou Yahan Widerspruch einlegte, wodurch das OFPRA ihren Antrag automatisch an die Commission des recours des réfugiés zur erneuten Prüfung übermittelte, erhielt sie den Flüchtlingsstatus doch noch.49 Die Erfüllung der staatlichen Ordnungskategorien erhielten dementsprechend ab Beginn der 1980er Jahre und noch stärker ab 1984 eine größere Bedeutung für die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge in Frankreich. Dadurch zeigt sich, dass es durchaus auch für die Flüchtlinge aus Kambodscha bürokratische Voraussetzungen für den Erhalt von Rechten im nationalstaatlichen Verband gab. Je stärker die öffentlichen Empathiediskurse für die Flüchtlinge zurückgingen, desto mehr trat die Bedeutung der Ordnungskategorien vrais et faux réfugiés in den Vordergrund und bestimmte darüber, ob Personen vom OFPRA als Flüchtlinge anerkannt wurden, weil sie die richtigen Motive für 49

Sou Yahan: Antrag beim OFPRA, 15.12.1986, 92–06-02978, OFPRA.

139

140

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

ihre Flucht benennen konnten, die sich wiederum in die richtigen staatlichen Ordnungskategorien einfügten.

Die Motive der Anträge als Ausdruck behördlicher Erwartungen Die Kommunikation zwischen der Behörde und den Flüchtlingen war ausschlaggebend. Sämtliche Vorgänge, vom Antrag bis hin zu Änderungen, mussten größtenteils im Schriftverkehr erledigt werden, da Anhörungen mit den Flüchtlingen kein fester Bestandteil des Aufnahmeprozesses waren. Die Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen des OFPRA luden die Flüchtlinge nur dann zu persönlichen Gesprächen ein, wenn in ihren Angaben Widersprüche auftraten.50 Aber dieser schriftliche Austausch war nicht nur ursächlich für den enormen Verwaltungsaufwand, sondern setzte auch voraus, dass eine Sprachform eingehalten wurde, die den Behörden vertraut war und deren Kriterien erfüllte. Der Antrag beim OFPRA war notwendig, um, im Falle eines positiven Bescheids, den Flüchtlingsstatus in Frankreich zu erhalten. Auch wenn es sich bei dem Antrag bei vielen südostasiatischen Flüchtlingen nur um eine Formalie handelte, mussten sie ihn dennoch stellen. Auf Französisch waren Angaben zu Identität, Personenstand, Fluchtweg und Fluchtgeschichte zu machen. Insbesondere die Fragen Nr. 17 bis 20 waren entscheidend für den Flüchtlingsstatus. Denn hier musste erklärt werden, erstens aus welchen Gründen politisches Asyl in Frankreich ersucht wurde, zweitens ob man bereits in einem Konsulat im Heimatland den Antrag gestellt hat, drittens, welche Befürchtungen man hat, sollte man in das Heimatland zurückkehren müssen, und viertens unter welchen Konditionen man sein Heimatland verlassen hat, wie die Reisebedingungen waren und welchen Weg man nach Frankreich genommen hat, wobei alle Zwischenstationen angegeben werden mussten. Die meisten kambodschanischen Flüchtlinge füllten diese Felder allerdings nicht sehr gründlich aus, worin sich spiegelt, dass sie den Antrag lediglich als eine Formalie betrachteten. Illegal eingereiste Flüchtlinge, bei denen es Zweifel gab, wurden aufgefordert, ihre Fluchtgeschichte in einem gesonderten Schreiben oder mitunter auch in einem persönlichen Gespräch ausführlicher darzulegen. Auch Ma Binh Huy, der 1983 mit seiner Familie über

50

K. Akoka: La fabrique du réfugié à l’Ofpra, S. 299–300.

3. Die Ordnung der Aufnahme

die Aufnahmequote und mit einem Laissez-Passer 51 der französischen Botschaft einreiste52 und dementsprechend automatisch den Flüchtlingsstatus erhielt, machte in seinem Antrag nicht viele schriftliche Angaben. Interessant ist, dass Ma Binh Huy auf der zweiten Seite seines Antrages auf die Frage, welche Sprachen er beherrsche, angab, Kambodschanisch als Muttersprache und ein bisschen Französisch zu sprechen. Dennoch füllte er, ebenso wie viele andere Antragsteller und Antragstellerinnen, die angaben, kein oder kaum Französisch zu sprechen, seinen Antrag komplett in Französisch aus. Auch andere Anträge zeigen deutlich, dass die Antragssteller und Antragsstellerinnen des Französischen kaum oder gar nicht mächtig waren. Dies deutet daraufhin, dass die Flüchtlinge beim Ausfüllen der Anträge Hilfe bekamen. So halfen ihnen beispielsweise Kambodschaner oder Kambodschanerinnen, die den Flüchtlingsstatus bereits erhalten hatten, oder Franzosen, die in den CPH arbeiteten oder sich auf andere Art und Weise in der Flüchtlingsaufnahme engagierten. Bei einer Mehrheit der eingesehenen Anträge53 lassen sich, ungeachtet der teilweise sehr unterschiedlichen Voraussetzungen der Antragssteller und Antragstellerinnen, ähnliche Textbausteine finden, was darauf hindeutet, dass diese Anträge nach bestimmten Strategien und Mustern ausgefüllt wurden. Bereits Gérard Noiriel stellte fest, dass sich in den Anträgen beim OFPRA seit den 1950er Jahren ein »größer werdender Erfolg der republikanischen Themen«54 beobachten lässt. Die Strategie hinter der Nutzung republikanischer Motive besteht darin, den französischen Staat mit seinen Vorzügen herauszustellen und dem die eigene Hoffnungslosigkeit sowie die Erwartung, durch den Flüchtlingsstatus die eigene Situation zu verbessern, gegenüberzustellen. Die Motive, die in diesem Zusammenhang am häufigsten verwendet werden, sind die Benennung Frankreichs als Terre d’Asile und die 51

52 53

54

Beim Laissez-Passer (Passierschein), das den Flüchtlingen von den französischen Botschaften ausgestellt wurde, handelte es sich um einen Passersatz zur einmaligen Einreise nach Frankreich. Ma Binh Huy: Antrag beim OFPRA, 19.04.1983, 91–11-02954, OFPRA. Für diese Forschung genehmigte die Historiker- und Historikerinnenkommission des OFPRA die Einsicht von 1000 Anträgen. Dabei handelte es sich nur um zwischen 1975 und 1990 gestellte Anträge von Menschen, die letztendlich den Flüchtlingsstatus erhalten haben. Definitive Negativbescheide durften nicht eingesehen werden. Für diese Forschung wurde eine willkürliche Stichprobe von 168 Anträgen ausgewählt, was 16,8 Prozent der möglich einsehbaren Gesamtmenge darstellt. G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers, S. 283.

141

142

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Revolutionsideale Liberté, Égalité, Fraternité, wobei insbesondere Freiheit eine zentrale Stellung in den Ausführungen in den Anträgen einnimmt. Dass nun auch diejenigen Flüchtlinge, bei denen es gar nicht auf die Darstellung ihrer Fluchterlebnisse in den Anträgen ankam, diese Strategien nutzten, deutet auf zwei zunächst sehr unterschiedlich wirkende Erklärungen hin. Zum einen darauf, wie stark die Wahrnehmung von Frankreich als Terre d’Asile in Verbindung mit den Revolutionsidealen bei den Flüchtlingen und ihren Helfern und Helferinnen verbreitet war und zum anderen, wie sehr sie davon überzeugt waren, dass genau diese Motive den Erwartungen der Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen des OFPRA entsprachen. In dem Antrag von Hour Leng Phea aus Kompong Cham im Osten Kambodschas, der bis zu seiner Flucht als Bauer gearbeitet hatte und im Mai 1983 über die Aufnahmequote nach Frankreich gekommen war, wodurch er automatisch auf einen positiven Bescheid hoffen konnte, wurde das Motiv der Terre d’Asile besonders plakativ angeführt. Er verwies in seinem Antrag auf die Asyltradition Frankreichs: »Ich suche politisches Asyl in Frankreich, weil Frankreich für mich angenehm ist, die Terre d’asile.«55 Dies begründete er weiterhin mit der Tatsache, dass ihm von allen westlichen Ländern nur Frankreich bekannt war und er die demokratische sowie wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landes sehr schätzte.56 Die Wertschätzung gegenüber Frankreich brachten viele Flüchtlinge in ihren Anträgen auch über den Hinweis auf die Revolutionsideale, insbesondere auf die liberté, zum Ausdruck. So zum Beispiel im Antrag von Krem Vibol, der im März 1984 mit seiner Familie über die Quote nach Frankreich einreiste: »Unser einziger Ausweg, um unser Leben zu erhalten, war, unser Land für unsere Zukunft und die unserer Kinder zu verlassen. Wir kamen nach Frankreich, um Frieden und Freiheit zu erlangen.«57 Dadurch stellte Krem Vibol die eigene Notsituation in Südostasien direkt der Sicherheit in Frankreich gegenüber und setzte diese Situationen in Beziehung zueinander. Zugleich war der Freiheitsbegriff ein wichtiger Pfeiler der französischen Asyltradition, denn er ist auf das Engste mit den Worten der Verfassung von 1793 verknüpft, in der zum ersten Mal Asylrecht als nationales Recht gefasst wurde. Mit folgenden Worten begründete sich seit 1793 die Tradition der französischen Terre d’Asile

55 56 57

Hour Leng Phea: Antrag beim OFPRA, 23.09.1983, 93–02-02148, OFPRA. Ebd. Krem Vibol: Antrag beim OFPRA, [Mai 1984], 93–07-03555, OFPRA.

3. Die Ordnung der Aufnahme

und der französischen Asylgeschichte: »[E]s [das französische Volk] gibt Ausländern, die für die Sache der Freiheit (liberté) aus ihrer Heimat verbannt wurden, Asyl.«58 Der Rückgriff in den Anträgen auf den Freiheitsbegriff in Verbindung mit Asyl muss damit auch in dieser republikanischen Tradition verstanden werden. Eine Tradition, die darüber hinaus auch tief im politischen Bewusstsein der französischen Regierung und Administration, insbesondere beim OFPRA, verankert war. Denn auch wenn der praktische Umgang mit den Anträgen immer stärker von Misstrauen geprägt war, betrachteten sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in ihrer Selbstwahrnehmung dennoch in dieser Tradition stehend. So wurde auch in den Jahresberichten unterstrichen, dass der Rückgang der Aufnahmezahlen nicht bedeutete, dass man sich nicht mehr der Tradition des Asyls verpflichtet sah.59 Da sich ab den 1970er Jahren insgesamt eine Rückkehr der republikanischen Ideale der Dritten Republik im politischen Alltag Frankreichs feststellen ließ, bettete sich diese im OFPRA gepflegte ideelle Tradition auch in einen gesamtpolitischen Trend ein, in dem republikanische Schlagworte und Ideen als Antworten auf neue politische Herausforderungen herangezogen wurden.60 Die Flüchtlinge bedienten mit ihrem Verweis auf diese Ideale daher ein Narrativ, das einerseits dem Verständnis der Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen entgegenkam und andererseits tagespolitische Aktualität besaß. Neben den bereits genannten republikanischen Motiven finden sich in den Anträgen auch häufig Verweise auf individuelle Verfolgung. Diese Motive waren die einzigen, die eine Aufnahme nach der GFK, nach der jede Person ein Anrecht auf Asyl hat, »die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt«61 , verfolgt wird. Für die französischen Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen waren individuelle Gründe der Verfolgung im Normalfall der ausschlaggebende Faktor, um einer Person den Flüchtlingsstatus zu bewilligen, da Frankreich die GFK 1952 ratifiziert hatte, woraufhin die Bestimmungen der Konvention maßgebliche Entscheidungsgrundlage für

58 59 60

61

Siehe hierzu: G. Noiriel: Réfugiés et sans-papiers, S. 31–70. K. Akoka: La fabrique du réfugié à l’Ofpra, S. 254. Émile Chabal: Après l’empire. Les idéaux politiques face aux nouvelles réalités sociales, in: Emmanuel Laurentin (Hg.): Histoire d’une république fragile 1905–2015. Comment en sommes-nous arrivés là?, Paris: Fayard; France Culture 2015, S. 37–44. UNHCR, Genfer Flüchtlingskonvention.

143

144

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

den Flüchtlingsstatus wurde.62 Wie bereits analysiert, wurde es für Personen, die außerhalb der Quote nach Frankreich einreisten, ab Beginn der 1980er Jahre wichtiger, auf entsprechende individuelle Gründe zu verweisen, um den Flüchtlingsstatus zu erhalten. Doch auch Personen, die über die Quote einreisten, nutzten diese Motive. Dabei leiteten sich diese Motive bei den meisten Personen aus ihrem Erleben unter den Roten Khmer und der vietnamesischen Besatzung ab. Darüber hinaus zeigt dies allerdings auch, dass die Flüchtlinge solche Motive untereinander kommunizierten, unabhängig davon, ob sie über die Quote aufgenommen wurden oder außerhalb der Quote einreisten. Auch der bereits genannte Hour Leng Phea, der im Rahmen der Quote aufgenommen wurde, verwies in seinem Antrag auf diese Gründe individueller Verfolgung, indem er die politische Instabilität in seiner Heimat beschrieb und seine Befürchtungen darlegte, politisch verfolgt zu werden, weil es, sollte er zurückkehren müssen, Vergeltungsmaßnamen der vietnamesischen Truppen ihm gegenüber geben könnte. Diese Befürchtungen begründete er damit, dass seine Flucht als Zeichen seiner Opposition gewertet werden könne. Des Weiteren verwies er darauf, dass die Situation in Kambodscha aufgrund der Kämpfe zwischen Vietnamesen und Roten Khmer insgesamt gefährlich für ihn und seine Familie sei.63 Damit bediente er, obwohl er über die Quote eingereist war, genau die Anforderungen, die auf den Kriterien der GFK aufbauten und nach denen die officiers de protection beim OFPRA regulär ihre Entscheidungen über die Anträge fällten. Die Art und Weise, wie letztlich europäische beziehungsweise westliche politische Kategorien Eingang in die Anträge fanden, zeigt sich anhand eines Beispiels, bei dem die Antragstellerin bemüht war, das in Kambodscha Erlebte durch die Nutzung westlicher politischer Kategorien, die den officiers de protection bei OFPRA bekannt waren, darzulegen. So schrieb Chhea Chhun Neth, die 1976 nach Frankreich kam, allerdings erst 197964 ihren Antrag beim OFPRA einreichte, auf die Frage nach dem Erleben individueller Verfolgung: »Ich bitte um die Terre d’asile in Frankreich aufgrund politischer Flüchtling aus Indochina 62 63 64

Delphine Bordet interviewt von Laura Wollenweber, 12.09.2016, Fontenay-sous-Bois; OFPRA, Tätigkeitsbericht 1976, 1977. Hour Leng Phea, Antrag beim OFPRA, 23.09.1983. Warum genau Chhea Chhun Neth ihren Antrag erst drei Jahre nach Einreise einreichte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, aber es passierte häufiger, dass Kambodschaner und Kambodschanerinnen ihren Antrag erst später stellten, weil sie beispielsweise bei Einreise noch nicht auf finanzielle Unterstützung angewiesen waren oder noch hofften, schnell wieder nach Kambodscha zurückzukehren.

3. Die Ordnung der Aufnahme

[sic!]. Ich mag das neue kommunistische faschistische Regime nicht.«65 Chhea Chhun Neth bezeichnete die politische Situation zugleich als kommunistische und faschistische Diktatur, wodurch sich einerseits schließen lässt, dass sie kein Wissen vom Gehalt der genutzten politischen Kategorien hatte. Andererseits lässt sich aber auch annehmen, dass sie das politische Regime in Kambodscha den Erfahrungen des europäischen Faschismus gleichsetzen wollte, um den officiers de protection den Bezug der eigenen Erfahrung zur Erfahrung der europäischen Geschichte nahezulegen. Deutlich zeichnet sich in den Anträgen ab, dass Terminologien genutzt wurden, die den Bürokraten und Bürokratinnen vom OFPRA vertraut waren. Denn schließlich lag es an den Mitarbeiterinnen der Sektion Südostasien beim OFPRA, den Flüchtlingen neue Rechte im Staatsverband zuzugestehen, weshalb das Bedienen von richtigen Motiven und Gründen eine Grundlage für den Erhalt von Rechten war.

3.3 Die Aufnahme im Lokalen – Zivilgesellschaft und Staat zwischen Reibung und Kooperation Durch die Vielzahl der Akteure war der Prozess geprägt von einer nicht immer konfliktarmen Kooperation zwischen der Regierung, die die Kontrolle über den Prozess behalten wollte, und den Hilfsorganisationen sowie im weiteren Verlauf der Flüchtlingsaufnahme immer mehr privaten Akteuren und Akteurinnen, denen die Implementierung der staatlichen Vorgaben oblag. Für diese Kooperation schuf die Regierung über rechtliche Rahmenbedingungen sowie die durch das CNE angewandten Kriterien die Grundlage dafür, dass Menschen aus den Flüchtlingslagern nach Frankreich kommen konnten. Hilfsorganisationen waren für die weitere Implementierung der von der Regierung gesetzten Rahmenbedingungen zuständig. Da Hilfsorganisationen und Staat diese Kooperation bereits während der Aufnahme und Unterstützung der südamerikanischen Flüchtlinge insbesondere in den 1970er Jahren erprobt hatten, übertrug der Staat auch das neue Dispositiv, insbesondere Empfang und Integration66 der südostasiatischen Flüchtlinge, von Anfang 65 66

Chhea Chhun Neth: Antrag beim OFPRA, 06.07.1979, 93–10-03985, OFPRA. Der Integrationsbegriff wird in diesem Buch nur teilweise als Quellenbegriff verwendet, da die französischen Behörden erst ab Anfang der 1980er Jahre von intégration (Integration) sprechen. Davor verwendeten sie die Begriffe assimilation (Assimilation, Gleichsetzung) und insertion (Eingliederung). Das Konzept der Integration als Analysekategorie ist in der Kritik, da es immer noch zu stark von einer Anpassungsleistung

145

146

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

an nationalen und regionalen Hilfsorganisationen. Dabei war dem Staat wichtig, dass die im Empfang der Flüchtlinge tätigen Organisationen darauf achten sollten, dass eine Desorganisation der Aufnahme durch Einbindung zu vieler kleiner privater Akteure vermieden wurde.67 Zu diesem Zweck unterzeichneten die Regierung und die maßgeblichen Organisationen im Mai 1975 ein Abkommen. Laut diesem Abkommen arbeiteten das Französische Rote Kreuz, die Nichtregierungsorganisation France terre d’asile, das römischkatholische Hilfswerk Secours Catholique und die Organisation service social d’aide aux émigrants sowie die protestantische Organisation Comité intermouvements auprès des évacués (CIMADE) gemeinsam mit dem konservativen, halb staatlich, halb privaten Akteur Comité national d’entraide francovietnamien, franco-cambodgien, franco-laotien zusammen. Letzteres sollte dabei die zentrale Koordination übernehmen und sich um Hilfsangebote und Anfragen von regionalen und lokalen Gruppen und Vereinen kümmern. Diese Organisationsstrukturen wurden mit Beginn des französischen Engagements 1975 eingeführt und blieben mit einigen Veränderungen in der Aufgabenverteilung – unter anderem verlor das CNE unter der Regierung Mitterrand an Einfluss, indem seine Schlüsselposition in der Auswahl der Flüchtlinge stärker kontrolliert wurde – bis zum Ende des Prozesses bestehen. Ausgehend von dem komplexen Verhältnis zwischen der Vielzahl an engagierten und involvierten Akteuren des Vorgangs wird in diesem Kapitel über eine Beleuchtung der Mikroebene die lokale Ausformung des Dispositivs und der staatlichen Vorgaben untersucht. Betrachtet wird, wie sich die staatlichen Vorgaben auf der regionalen, lokalen und individuellen Ebene niederschlugen, ob es Brüche im Aufnahmedispositiv gab, die den Kontrollanspruch des Staates untergruben, und wie staatliche Akteure im Aushandlungsprozess mit den

67

einer Minderheit (den Zugewanderten) in einer Mehrheitsgesellschaft ausgeht. Andere Konzepte sehen Integration eher als einen gemeinsamen Aushandlungsprozess an. Vgl. zur Diskussion um den Integrationsbegriff in den Geschichtswissenschaften u. a.: Harald Kleinschmidt: Migration und Integration. Theoretische und historische Perspektiven, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2011, S. 75–100; Murielle Maffessoli: Zuwanderung und Integrationspolitik in Frankreich, in: Frank Baasner (Hg.): Migration und Integration in Europa, Baden-Baden: Nomos 2010, S. 13–42. Wichtige Grundlagen für die kritische Auseinandersetzung mit dem Integrationsbegriff stammen aus der Soziologie. Zu den in der Soziologie geführten Debatten: Frank Kalter (Hg.): Migration und Integration, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008. Das Innenministerium unter Christian Bonnet an alle Präfekturen, »Circulaire n°79269«, 05.07.1979, 19870417/8, ANF.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Organisationen vorgingen.68 Des Weiteren geht es darum, zu klären, welche Motive bei den Helfern und Helferinnen für ihr Engagement in der Flüchtlingsfrage existierten, ob beispielsweise Menschenrechtsideen eine Rolle für dieses Engagement spielten oder es andere Beweggründe gab. Durch die Untersuchung der Mikroebene in diesem Kapitel kann vor allem nachgewiesen werden, wie sich globale zirkulierende Moral- und Rechtsdiskurse gegebenenfalls auch im Lokalen äußerten und in welchem Verhältnis sie zu der Aufnahme standen. Damit löst dieses Kapitel eine bestehende Forderung der Globalgeschichte nach Untersuchungen, die die Verbindung von Global und Lokal zeigen, ein.69 Insbesondere bei Menschenrechtsdiskursen und -politiken, die im Rahmen globaler Ideengeschichten untersucht werden, sollte nicht nur die globale Dimension im Zentrum der Betrachtung stehen, sondern auch die Frage, inwieweit sich solche Diskurse auf der lokalen Ebene und bei individuellen Akteuren wiederfinden. Mit Blick auf die These, dass es einen »Durchbruch der Menschenrechte«70 in den 1970er Jahren gab, ist zu vermuten, dass sich dies auch auf einer regionalen, lokalen und schließlich individuellen Ebene äußerte und sich dementsprechend bei den lokalen Akteuren zeigte. Die Untersuchung der lokalen Ebene wird folgend maßgeblich anhand von Organisationen und Flüchtlingen in Paris und Rennes geleistet. Paris ist aufgrund des französischen Zentralismus die Stadt, in der der Großteil der Erstaufnahme stattfand und in der sich im untersuchten Zeitraum sowohl wichtige Hilfsorganisationen als auch große kambodschanische Gemeinschaften entwickelten. Um der Falle zu entgehen, den Ablauf des Prozesses in Paris als Maßstab für ganz Frankreich zu setzen, wurde die französische Mittelstadt, zugleich Verwaltungszentrum der Bretagne, Rennes, als weiterer Untersuchungsort gewählt.71 Dies bot sich auch an, da es in Rennes ein sehr aktives Zentrum für die Aufnahme von südostasiatischen Flüchtlingen gab.

68

69 70 71

Vgl. hierzu auch das Buch von Mary Dewhurst Lewis, in dem sie französische Migrationspolitik der nationalen Ebene anhand von Beispielen auf lokaler Ebene untersucht: M. Dewhurst Lewis: Boundaries of the Republic. Siehe hierzu: Anthony G. Hopkins (Hg.): Global History; M. Goebel: Anti-Imperial Metropolis; C. Kalter: From Global to Local and Back. J. Eckel/S. Moyn (Hg.): Moral für die Welt. Nick Schiller/Ayse Çağlar: Towards a Comparative Theory of Locality in Migration Studies. Migrant Incorporation and City Scale, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 35, 2 (2009), S. 177–202, hier S. 181–184.

147

148

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Hilfsorganisationen und Flüchtlinge – eine Aufnahme zwischen national und lokal Die Ankunft südostasiatischer Flüchtlinge in Frankreich setzte einen administrativen Prozess in Gang, der mit dem Empfang durch das Französische Rote Kreuz am Pariser Flughafen in Roissy begann. Von dort aus wurden die Flüchtlinge – ab April 1980 war dieser Schritt für alle obligatorisch – mit Bussen in die Centres de transit im Großraum Paris weitergeleitet. Diese von der France terre d’asile (FTDA) – einem der Hauptakteure der Aufnahme – direkt betriebenen Erstaufnahmestellen, die sich sowohl im Großraum Paris als auch im Stadtzentrum von Paris befanden, dienten als Basis für die erste Unterbringung und die ersten bürokratischen Verfahren in Frankreich. Dort erhielten die Flüchtlinge Informationen über ihre Situation in Frankreich sowie Essen, Kleidung und einen kleinen Betrag an Bargeld. Um sicherzustellen, dass die Flüchtlinge nicht mit ansteckenden Krankheiten infiziert waren, wurden in den Erstaufnahmeeinrichtungen entsprechende medizinische Screenings durchgeführt und, falls nötig, parasitäre und ansteckende Krankheiten bekämpft.72 Diejenigen Flüchtlinge, die keine Familie oder Freunde in Frankreich hatten, deren Familie und Freunde nicht die finanziellen Möglichkeiten besaßen, eine Person bei sich aufzunehmen und es niemanden gab, der eine Unterkunft anbieten konnte, wurden nach möglichst kurzer Zeit in der Erstaufnahmestelle in ein Centre provisoire d’hébergement (CPH) weitergeleitet. Die FTDA betrieb diese Einrichtungen in Zusammenarbeit mit lokalen Vereinen und Organisationen über ganz Frankreich verteilt. Der Aufenthalt sollte, so sah es das Gesetz vor, einen Zeitraum von sechs Monaten nicht übersteigen und endete im Idealfall damit, dass die Flüchtlinge eine eigene Wohnung bezogen, was nicht in jedem Fall nach sechs Monaten funktionierte. Während ihres Aufenthalts erhielten die Flüchtlinge im Kontakt mit den französischen Behörden Unterstützung, besuchten Französischkurse und erhielten weitere Hilfestellungen in Form von Vorbereitungskursen, um sich mit dem Leben in Frankreich vertraut zu machen. Ziel dieses Aufenthaltes war es, die Flüchtlinge in die Lage zu versetzen, ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten und ihr Leben in

72

FTDA: Brief »Note sur les Centres provisoires d’hébergement«, 12.07.1979, 454INVA-1895, CADC. Siehe als Erläuterung zum Aufnahmeprozess auch: Ida Simon-Barouh: L’accueil des réfugiés d’Asie du Sud-Est à Rennes, in: Pluriel débat 28 (1981), S. 23–56.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Frankreich autonom führen zu können. Da professionelle Gruppen und private Strukturen die staatlichen Vorgaben umsetzten und es im Laufe der Zeit immer mehr Gruppen von Privatpersonen, die sich zusammenschlossen, um eine Person oder eine Familie bei der Etablierung in Frankreich zu unterstützen, in der Erstaufnahme und im Integrationsprozess gab, kam es zu Konflikten über Zuständigkeiten und Kompetenzen. So beispielsweise mit Blick auf die staatlichen Vorgaben, die die FTDA an die lokalen Institutionen weiterleitete, oder auch zwischen den professionellen Strukturen und den privaten Aufnahmegruppen. Anhand dieser Konfliktlinien offenbart sich die Vielschichtigkeit des Prozesses sowie der Handlungsspielraum, der in der Aufnahme zwischen der nationalen und der lokalen Ebene sowie auf der lokalen Ebene zwischen staatlichen und privaten Akteuren entstehen konnte. Die FTDA, die 1971 auf Bestreben und mithilfe von anderen Vereinen, wie etwa der CIMADE, gegründet worden war, entwickelte sich von einer anfangs losen Sammlungsplattform mit dem Ziel, das Recht auf Asyl zu verteidigen, hin zu einer operativ arbeitenden Organisation, die für die Koordinierung der Übergangswohnheime, den CPH, verantwortlich war. Die FTDA wurde bereits während der Organisation der CPH im Zuge des chilenischen Exodus und anderen südamerikanischen Flüchtlingen, die in den 1970er Jahren vor den Militärdiktaturen in ihren Heimatländern flohen, zu einem der wichtigsten Partner des französischen Staates in Flüchtlingsfragen und ein wichtiger Bestandteil des nationalen Aufnahmedispositivs.73 Dabei arbeitete die FTDA in ganz Frankreich mit örtlichen Trägern zusammen. Zwischen Juli 1975 und Dezember 1979 eröffnete sie mithilfe lokaler Kooperationen 122 CPH in 69 Départements.74 Ungefähr 68 Prozent aller Flüchtlinge durchliefen die CPH und wohnten während ihrer Eingliederungszeit in diesen von der FTDA und privaten Trägern betriebenen Wohnheimen.75 Eines dieser CPH, das Foyer Guy Houist, wurde Anfang der 1970er Jahre vom kommunalen Unternehmen für sozialen Wohnungsbau in Rennes gebaut

73

74 75

Gérold de Wangen: Les débuts de France terre d’asile, in: Hommes et Migrations 1198–1199, Mai-Juni (1996), S. 94–95; FTDA: Histoire de france terre d’asile. 1971–1980. La mise en place de l’action de france terre d’asile et du dispositif national d’accueil, https://www.france-terre-asile.org/1971-1980/france-terre-d-asile/histoire/1971 -1980 (zuletzt geprüft am 20.08.2022). I. Simon-Barouh: L’accueil des réfugiés d’Asie du Sud-Est à Rennes, S. 36. G. Wijers: The Reception of Cambodian Refugees in France, S. 245.

149

150

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

und in Betrieb genommen.76 Ursprünglich diente das Foyer Guy Houist zur Unterbringung von Gastarbeitern im industriellen Norden von Rennes, um zu verhindern, dass diese in den Elendsvierteln rund um Rennes oder auf den Baustellen, auf denen sie arbeiteten, übernachteten.77 Der langjährige Leiter des Foyer Guy Houist, Luc Menguy, kam 1974 nach längeren Aufenthalten in Westafrika, wo er im Bereich der Entwicklungshilfe gearbeitet hatte, zurück nach Rennes, wo er die Betreuung des Foyer Guy Houist übernahm, wo etwa 100 Flüchtlinge zur gleichen Zeit leben konnten. Neben den Unterbringungsmöglichkeiten beschäftigte das Foyer eine Sozialarbeiterin, eine Französischlehrerin, eine weitere Mitarbeiterin zur Organisation von Freizeitangeboten und eine Krankenschwester. Da das Foyer Guy Houist keine eigene Küche hatte, gab es eine Kooperation mit einer nahe gelegenen Unternehmenskantine, die den Flüchtlingen gegen Vorlage zuvor ausgeteilter Gutscheine drei Mahlzeiten täglich ausgab.78 Da die FTDA größtenteils staatlich finanziert war, war auch die Finanzierung des Foyer Guy Houist von nationalen Geldern abhängig. Dementsprechend musste Menguy Anweisungen, die von zentralen Stellen kamen, Folge leisten. Dies stieß allerdings bereits sehr früh im Aufnahmeprozess an die Grenzen der lokalen Möglichkeiten und auf Widerstand sowohl bei den Flüchtlingen als auch bei der Direktion des CPH. Dies zeigte sich, als die FTDA Ende 1975 Druck auf die Direktion ausübte, dass die noch vom Ersteinzug übrig gebliebenen Familien das Foyer Guy Houist verlassen sollten, da die sechs Monate der öffentlich finanzierten Unterbringung Ende Februar 1976 zu Ende waren. Da die Direktion den gewünschten Auszug nicht so schnell organisieren konnte, die betroffenen Familien somit in die Obdachlosigkeit geraten wären, schrieben diese Familien einen Beschwerdebrief, in dem sie ihre Situation schilderten. Auch die Lokalpresse berichtete von den Problemen, die durch den Druck der FTDA hervorgerufen worden waren, woraufhin die Direktion des CPH gemeinsam mit kommunalen Stellen nach einer anderen Lösung suchte und die Familien schließlich doch in Sozialwohnungen (Habitation à

76 77 78

Siehe auch die Untersuchung von Gea Wijers zu einem CPH in Bron in der Nähe von Lyon: ebd., S. 245–247. Ida Simon-Barouh: Cambodians in Rennes. A Study of Inter-Ethnic Relations, in: Urban Anthropology 12, 1 (1983), S. 1–28. Luc Menguy: L’accueil des ›boat people‹ à Rennes entre 1975 et 1985, in: Hommes et Migrations 1234, November-Dezember (2001), S. 33–37, hier S. 33–34.

3. Die Ordnung der Aufnahme

loyer modéré, HLM) unterbrachten.79 Neben der Tatsache, dass der Druck, den die FTDA aufgrund nationaler Vorgaben an die lokalen Ebenen weitergab, zu Problemen führte, zeigt dieses Beispiel, dass die Flüchtlinge in Frankreich Mittel und Wege fanden, bestimmte Rechte einzufordern. Diese Selbstermächtigung konnte vor allem dort wirksam werden, wo die Flüchtlinge lokal eingebunden waren und sich der Aufmerksamkeit der lokalen Presse sowie der lokalen Behörden sicher sein konnten. Die Reibungen, die sich zwischen nationalen Vorgaben und den Realitäten vor Ort ergaben, boten daher einen Spielraum, in dem die Flüchtlinge einerseits selbst die Initiative ergriffen und die lokalen Stellen ihre Prozesse andererseits anpassten. Von solchen Fällen zentraler Anweisungen abgesehen, agierten die jeweiligen Direktionen der CPH relativ autonom, wodurch ein hohes Maß an Flexibilität in der Ausgestaltung lokaler Aufnahmeprozesse entstand. So konnten die Direktionen im Falle von Konflikten mit den Bewohnern und Bewohnerinnen eigenständig entscheiden, bestimmte Praktiken oder Prozesse in den CPH anders zu gestalten. Eindrücklich zeigte sich diese Autonomie beispielsweise, als es im Foyer Guy Houist aufgrund der Essensversorgung der Flüchtlinge zu einem Konflikt zwischen Direktion und Flüchtlingen kam. Die Flüchtlinge wollten in der Kantine kaum etwas essen, weil ihnen die gewohnten Zutaten und Gewürze der südostasiatischen Küche fehlten. Das System der Kantinengutscheine, über die die Flüchtlinge ihr Essen beziehen sollten, funktionierte folglich nicht mehr. Die Gutscheine wurden zu einem Tauschmittel, über das sich die Flüchtlinge die notwendige finanzielle Grundlage verschafften, um andere Lebensmittel zu kaufen. So kam es, dass 1977 bisweilen nur noch zwei bis drei Personen zum Essen in die Kantine gingen, während alle anderen Flüchtlinge im CPH blieben und dort auf improvisierten Kochstellen ihre Mahlzeiten zubereiteten. Angesichts dieses regelrechten Essensstreiks führte die Direktion ein neues System der direkten Lebensmittelverteilung im CPH ein. Einmal monatlich gaben die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Foyer Guy Houist länger haltbare Produkte aus, und drei Mal wöchentlich verteilten sie frische und schnell verderbliche Lebensmittel. Dabei achteten sie besonders darauf, dass auch »exotische Produkte«80 wie etwa Fischsauce, Austernsauce oder auch be-

79 80

Ebd., S. 35. Für eine kritische Übersicht zur Verwendung dieses Begriffs in unterschiedlichen nationalen Forschungskontexten, siehe: Maren Möhring: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München: Oldenbourg Verlag 2012, S. 31–33.

151

152

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

stimmte Gemüse dabei waren, damit die Flüchtlinge ihre gewohnten Gerichte kochen konnten. Zusätzlich bekamen alle Familien an Sonn- und Feiertagen Bargeld, mit dem sie ihren restlichen Bedarf an Lebensmitteln decken konnten.81 Dieses System funktionierte besser als das vorherige, und die Direktion behielt es bis zum Ende des Engagements für die südostasiatischen Flüchtlinge in Rennes bei. Die Möglichkeiten, auf Konflikte flexibel reagieren zu können, bot fernab nationaler Vorgaben ein hohes Maß an individueller Ausgestaltung im Rahmen der vorübergehenden Unterbringung in den CPH. Dadurch konnten deren Leitungen auf kollektive und individuelle Anliegen der Flüchtlinge reagieren, sofern sie dies für notwendig hielten. Durch die individuelle Verantwortung lagen Erfolg und Misserfolg eines CPH häufig vor allem bei der Direktion sowie im erweiterten Sinne bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Das persönliche Engagement der im CHP arbeitenden Personen konnte daher stark determinieren, wie erfolgreich ein CPH letztlich funktionierte. Bei aller Flexibilität, die sich in der Ausgestaltung der lokalen Aufnahmepraxis ergab, existierten zugleich zentrale Vorgaben, die die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht hinterfragten, weil sie diese Vorgaben internalisiert hatten. Mit Blick auf das eben untersuchte Beispiel des Essensstreiks urteilte beispielsweise Luc Menguy in einem Vortrag im Jahr 2001, dass sich die Flüchtlinge im Bereich des Essens und der Lebensmittelversorgung nie assimiliert hätten.82 Diese Wahrnehmung zeigt deutlich, dass der Assimilationsund Integrationsgedanke – auch weit über das Beispiel von Essensgewohnheiten hinausgehend – eines der wichtigsten Ziele sowohl der französischen Regierung als auch der FTDA war. Dieses Ziel zog sich wie ein roter Faden durch den Aufnahmeprozess in den CPH und war von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen so stark verinnerlicht, dass sie diese Integrationsvorgaben zugleich als ihre eigenen Ziele definierten. Dabei spielte die Wahrnehmung der Flüchtlinge als Objekte humanitärer Hilfen, die alles verloren hatten, eine wichtige Rolle. Denn aufgrund dieser Wahrnehmung war die Arbeit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des CPH sowie der ehrenamtlich engagierten Personen eine Verlängerung des humanitären Engagements im südostasiatischen Krisengebiet. Der Integrationserfolg der Flüchtlinge war in dieser Logik das Endziel und die einzige Möglichkeit, den Flüchtlingen einen Ausweg aus dem humanitären Elend zu bieten. Daher investierten die Mitarbeiter und

81 82

L. Menguy: L’accueil des ›boat people‹ à Rennes, S. 35–36. Ebd., S. 36.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Mitarbeiterinnen des Foyer Guy Houist viel Zeit und persönliches Engagement in das Ziel der Integration.83 Hieran zeigt sich, dass die Aufnahme der Flüchtlinge auf der lokalen Ebene viel stärker von Empathiegedanken geleitet war und tatsächliche Rechtsdiskurse höchstenfalls eine untergeordnete Rolle spielten. Denn die Aufnahme in den Staatsverband war bereits erfolgt, nun ging es auf der lokalen Ebene vor allem darum, den Flüchtlingen den Weg in die französische Gesellschaft zu erleichtern, vor allem, weil sie aus einem Gebiet kamen, das vom Krieg und der Unterdrückung durch die Roten Khmer gezeichnet war. Die Auswirkungen dieses Krisenzustandes kannten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Foyer Guy Houist aus den Medien und sie erlebten es hautnah im Gespräch mit den kambodschanischen Flüchtlingen, wodurch die Empathie an vorderster Stelle für sie stand.84 Der lokale Prozess und der vom Staat geforderte und gleichzeitig durch das Mitgefühl geleitete notwendige Integrationserfolg waren dementsprechend ein geradezu persönliches Anliegen, und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des CPH hinterfragten diese Integrationsziele nicht.85 Solche zugleich staatlich festgelegten und persönlich internalisierten Vorgaben waren wichtige Bezugspunkte für die Selbsteinschätzung von Direktion, Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, wenn es um die Frage nach Erfolgen ging. Dass sich staatliche Vorgaben mit dem persönlichen Verständnis des Personals überschnitten, war auch wichtig, weil alle Ebenen, ungeachtet der Reibungen, ähnliche Vorstellungen vom Hauptziel, der Integration der Flüchtlinge, hatten. Dadurch steigerte sich das Potenzial der staatlichen Aufnahme, da der Staat sein Hauptziel nicht erst in zermürbenden Auseinandersetzungen mit den lokalen Akteuren behaupten musste.

83 84 85

I. Simon-Barouh, Cambodians in Rennes, S. 16–17. Luc Menguy, Marie-Rose Menguy, Ida Simon-Barouh interviewt von Laura Wollenweber, 23.06.2017, Rennes. Dass es sich um eine Arbeit mit einem hohen Grad an persönlichem Engagement handelte, zeigt beispielsweise die emotionale Reaktion von Marie-Rose Menguy, als sie die Geschichten der Geflüchteten nacherzählte: ebd. Genauso die Erinnerungen von Magali Petitmengin, die die Organisation SIPAR mit aufbaute: M. Petitmengin: Graines de bois.

153

154

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Die »Assimilierung und soziale Eingliederung«86 der Flüchtlinge, die sowohl eine soziale und räumliche als auch eine ökonomische Dimension meinte, war Hauptanliegen der französischen Regierung, entsprechend war ein CPH der Ort, an dem alle Anstrengungen auf dieses Ziel ausgerichtet waren. Für dieses Ziel mussten die Familien selbstständig werden und im Idealfall nach sechs Monaten ausziehen. Um dieses Ziel während des Aufenthalts der Flüchtlinge im CPH zu erreichen, waren die Mitarbeitenden bestrebt, »die Flüchtlinge in ihrer neuen Umgebung einzugliedern«87 . Dafür übernahmen sie in Form eines professionellen Paternalismus eine Reihe von alltäglichen Arbeiten für die Flüchtlinge, damit Letztere Zeit für Weiterbildungen hatten, in denen eine gewisse Erziehung zur Selbstständigkeit stattfinden sollte.88 Neben Hilfestellungen in den behördlichen Prozessen umfassten die Leistungen für die Flüchtlinge, dass das Team des CPH Tätigkeiten wie Putzen oder Kinderbetreuung übernahm. Zugleich mussten die Flüchtlinge ihren eigenen Tagesrhythmus anpassen, um an vorgegebenen Lehreinheiten, die auf das Leben in Frankreich vorbereiten sollten, teilzunehmen. Diese Lehreinheiten bestanden beispielsweise aus Sprachunterricht für die Erwachsenen, die Kinder nahmen an speziellen Vorbereitungsklassen teil, um auf den Eintritt in das französische Schulsystem vorbereitet zu werden. In anderen Kursen, die geschlechterspezifisch angelegt waren, brachten Sozialarbeiterinnen den Müttern bei, nach welchen Prinzipien in Frankreich Kinder erzogen werden sollten, wie ein Haushaltsbudget aufgestellt wird, was im Haushalt beachtet werden muss oder wie das französische Schulsystem aufgebaut ist.89 Mit diesen Kenntnissen sollten die Flüchtlinge nach der Logik der CPH in der Lage sein, nach ihrem Auszug ein eigenständiges Leben in Frankreich zu führen. Nach Ansicht der Direktion des CPH war einer der zentralen Bausteine für die erfolgreiche soziale Eingliederung, dass die Flüchtlinge eine eigene Wohnung bezogen. Dabei wollte die französische Regierung von Anfang an verhindern, dass sich zu viele Flüchtlinge im gleichen Stadtteil niederließen und

86

87 88 89

Die Quellen der Regierung von Valéry Giscard d’Estaing zeigen, dass die Begriffe assimilation und insertion sociale eine soziale, räumliche und ökonomische Dimension zur Eingliederung der Flüchtlinge beschrieben: Yves Cannac: Notiz »Immigration vietnamienne«, 11.02.1976, ANF; Jean-David Levitte: Notiz Gespräch Sainteny, 26.02.1976, ANF. I. Simon-Barouh: Cambodians in Rennes, S. 11. Interview Menguy et al., 23.06.2017. I. Simon-Barouh: Cambodians in Rennes, S. 11.

3. Die Ordnung der Aufnahme

es dadurch zur Herausbildung eines asiatischen »Ghettos«90 käme. Diese Vorkehrung war stark beeinflusst von der, wie der Berater des Präsidenten JeanDavid Levitte sie nannte, »Harki-Erfahrung«91 der 1960er Jahre. Die Harkis waren muslimische Zuwanderer, die im Algerienkrieg aufseiten der Franzosen gekämpft hatten und nach der Unabhängigkeit Algeriens nach Frankreich geflohen waren. Sofern sie den französischen Boden überhaupt erreichten, waren sie bei ihrer Ankunft in Frankreich von der damaligen Regierung größtenteils in geschlossene Lager fernab der größeren Städte und unter ständiger Bevormundung eingesperrt worden. Die Rechte französischer Staatsbürger erhielten sie nicht. Relativ aktuelle Entwicklungen, bei denen die Kinder der Harkis 1974 in vielen Lagern in den Hungerstreik getreten waren, um auf die ungerechte Behandlung ihrer Eltern und auf ihre eigene Situation aufmerksam zu machen, veranlassten die Regierung unter Valéry Giscard d’Estaing dazu, einigen Forderungen nachzukommen. Allerdings kamen die erlassenen Maßnahmen zu spät und blieben spärlich, woraus die Regierung den Schluss zog, dass die Harkis nicht mehr zu assimilieren waren.92 Bei den südostasiatischen Flüchtlingen ging es der Regierung darum, solchen politisch verschuldeten Entwicklungen ›vorzubeugen‹. Dafür waren in Rennes die HLM-Behörden verantwortlich, die zu überprüfen hatten, dass die Flüchtlinge nicht alle am gleichen Ort wohnten. Dazu arbeiteten das Foyer Guy Houist und die Behörden zusammen, um die Flüchtlinge nach Möglichkeit am Ende der sechs Monate in eine eigene Wohnung umzusiedeln.93 Einige Flüchtlinge gingen den90

91 92

93

René Lenoir: Kommunikation im Ministerrat, 10.09.1975, ANF. Die Quellen zeigen darüber hinaus, dass hohe Regierungsbeamte von Beginn an Überlegungen anstellten, ob die Aufnahme der Flüchtlinge in Wohnheimen nicht zu einer Wiederbelebung solcher Zentren führen könne, die die Regierung zur gleichen Zeit mit Blick auf die Muslime in Frankreich abschaffen wollte: Michel Boutinard Rouelle: Notiz an den Vorsitzenden des Kabinetts »Action des pouvoirs publics en faveur des réfugiés et des rapatriés d’Asie du Sud-Est«, 30.10.1975, AG/5(3)/2491, ANF. Jean-David Levitte: Notiz »Réfugiés d’Indochine«, 10.10.1977, ANF. Zur Geschichte der Harkis siehe weiterhin: Claire Eldridge: From Empire to Exile. History and Memory within the Pied-Noir and Harki Communities, Manchester: Manchester University Press 2016; Abderahmen Moumen: Les harkis en 1983. Discours médiatiques et représentations sociales, in: Hommes et Migrations 1313, 1 (2016), S. 55–61; Abderahmen Moumen: De l’Algérie à la France. Les conditions de départ et d’accueil des rapatriés, pieds-noirs et harkis en 1962, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 3, 99 (2010), S. 60–68; Benjamin Stora: Les immigrés algériens en France. Une histoire politique 1912–1962, Paris: Hachette 2009. Interview Menguy et al., 23.06.2017.

155

156

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

noch zurück nach Paris, die Stadt ihrer Erstaufnahme, oder in andere Städte und Kommunen, wo sie Familie und Freunde hatten oder eine Anstellung finden konnten. Nichtsdestotrotz blieben ungefähr 90 Prozent der Flüchtlinge, die im Foyer Guy Houist aufgenommen wurden, dauerhaft in Rennes, was zeigt, dass der Wegzug aus der Stadt kein massenhaftes Phänomen war.94 Einige Flüchtlinge zogen innerhalb von Rennes in andere Wohnungen oder erwarben Wohneigentum. Letzteres kam mit einem durchschnittlich unterhalb des Schnitts französischer Einkommen liegenden Haushaltseinkommen allerdings eher selten vor. Laut einer Studie blieben vier Fünftel der südostasiatischen Flüchtlinge in Frankreich langfristig Mieter und Mieterinnen – die Hälfte von ihnen in HLM.95 Die von der Regierung gewollte »soziale Eingliederung«96 beinhaltete neben dem Bezug einer eigenen Wohnung auch eine ökonomische Eingliederung, indem die Flüchtlinge eine Arbeit in Frankreich aufnahmen, um als vollwertige Staatsbürger und Staatsbürgerinnen ihren Lebensunterhalt in einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaft selbst zu bestreiten. Die CPH waren die Schnittstellen, die diese ökonomische Integration auf lokaler Ebene vollzogen. Menguy betrachtete die ökonomische Integration ebenfalls als wesentlich für das weitere selbstständige Leben der Flüchtlingsfamilien, die dadurch dem humanitären Elend entkommen sollten. An seinen Bemühungen, die Flüchtlinge in Arbeit zu vermitteln, verdeutlichte sich der zentrale Charakter der ökonomischen Integration im Rahmen des gesamten lokalen Prozesses. Damit die Flüchtlingsfamilien schnell ein geregeltes Einkommen von zumindest einer Person aus der Familie, meistens dem Familienvater, hatten, arbeiteten Menguy und ein weiterer Mitarbeiter, der für die Vermittlung von Arbeitsplätzen zuständig war, mit den kommunalen Behörden zusammen, um nach Anstellungen für die Flüchtlinge zu suchen.97 In regelmäßig stattfindenden Besprechungsrunden sammelten der Leiter des Foyer Guy Houist und seine Kontaktpersonen bei den lokalen Behörden offene Stellenangebote, auf die sie vor allem die männlichen Flüchtlinge vermittelten. Dabei

94 95

96 97

I. Simon-Barouh: Cambodians in Rennes. Pierre Billion: Où sont passés les »travailleurs réfugiés«? Trajectoires professionnelles des populations du Sud-Est Asiatique, in: Hommes et Migrations 1234, November-Dezember (2001), S. 38–49, hier S. 40. Yves Cannac: Notiz »Immigration vietnamienne«, 11.02.1976, ANF; Jean-David Levitte, Notiz Gespräch Sainteny, 26.02.1976, ANF. Interview Menguy et al., 23.06.2017.

3. Die Ordnung der Aufnahme

versuchte Luc Menguy denjenigen Flüchtlingen, die am längsten im Foyer Guy Houist gelebt hatten, den Vorzug zu geben. Dies war in einigen Fällen gerade bei Flüchtlingen, die schon älter waren, schwierig, da viele Arbeitgeber für ihre meist unqualifizierten Stellen jüngere Arbeitskräfte bevorzugten, weil sie deren Leistungsfähigkeit und Flexibilität im Umgang mit dem französischen Arbeitsrhythmus als höher einstuften.98 Solche Erwartungen der Arbeitgeber an das Arbeitsmarktpotenzial der Flüchtlinge zeigten sich interessanterweise auch in anderen Fällen kambodschanischer Flüchtlingsaufnahme. So analysierte die chinesisch-US-amerikanische Anthropologin Aihwa Ong für die Aufnahme kambodschanischer Flüchtlinge in den USA, wie das Vermächtnis stereotyper Erwartungen mit Bezug auf Arbeitsmarktpotenzial, Intelligenz oder psychische Gesundheit die Wahrnehmung und den Umgang mit den Flüchtlingen sowie die Eigenwahrnehmung der Flüchtlinge beeinflusste.99 In Frankreich zeigte sich, dass sowohl die staatlichen Akteure als auch Medien wie Le Figaro bestimmte stereotype Erwartungen wie ein hohes Maß an Fleiß und Intelligenz an die Flüchtlinge richteten.100 Des Weiteren verweist Ong in ihrer Arbeit ganz dezidiert auf den Nexus zwischen Flüchtlingen und dem modernen westlichen Wohlfahrtsstaat, wobei es mit Blick auf die Flüchtlinge in den USA eine klare Verbindung zwischen der Anerkennung der Flüchtlinge und ihrer (angenommenen) ökonomischen Leistungsfähigkeit gab.101 Auch wenn der französische Wohlfahrtsstaat sich deutlich vom US-amerikanischen Modell unterschied, zeigte sich beispielsweise innerhalb der französischen Regierung die Erwartung, dass die Flüchtlinge »zukünftige Franzosen«102 seien, worin sich der Plan einer erwünschten langfristigen Ansiedlung, »Assimilation«103 und gesicherter Rechtsstellung in Frankreich zeigt. Insbesondere im Kontext der wirtschaftlichen Krise und der Auseinandersetzung um den Versuch, die ›Arbeitsmigranten‹ zur Rückreise in 98 99

I. Simon-Barouh: Cambodians in Rennes, S. 15–18. Aihwa Ong: Buddha is Hiding. Refugee, Citizenship, the New America, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 2003, S. 82–83. 100 Mehrere Quellen sprechen von der Eignung der Flüchtlinge für den Arbeitsmarkt: Giscard: La réinsertion des réfugiés doit être poursuivie, in: Le Figaro, 01.08.1979; Jean-David Levitte, Notiz »Réfugiés d’Indochine«, 10.10.1977, ANF. Siehe weiterhin: Stéphanie Nann: Les Cambodgiens en France. Entre l’image et la réalité, in: Migrations Société 109, 1 (2007), S. 147–162. 101 Vgl. A. Ong: Buddha is Hiding, S. 1–21. 102 Jean-David Levitte: Notiz »Réfugiés d’Indochine«, 10.10.1977, ANF. 103 Ebd.

157

158

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

ihre Heimat zu bewegen, gewann dieser Zusammenhang an Brisanz. So nahm die Politik die ›Arbeitsmigranten‹ nicht nur als die Menschen wahr, die die Arbeitsplätze besetzten, die sonst für Franzosen und Französinnen zur Verfügung gestanden hätten, sondern sie standen auch im Verdacht zusätzlich von Sozialhilfen zu profitieren.104 Diese Wahrnehmung, die die konservative Regierung durchaus beförderte, bedeutete in Verbindung mit den wohlwollend aufgenommenen Flüchtlingen aus Südostasien, dass bei diesem politischen Projekt der konservativen Regierung auf jeden Fall verhindert werden musste, dass die Flüchtlinge zu einer vom Wohlfahrtsstaat ›abhängigen Minderheit‹ wurden. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich der deutliche Fokus der Politik auf die ökonomische Integration der Flüchtlinge, die für den Staat eine Voraussetzung für die erfolgreiche humanitäre Hilfe war sowie eine Rechtfertigung für die Anstrengungen des Staates in der Aufnahme in Zeiten der ökonomischen Krise. In der sozioökonomischen Realität der Flüchtlinge bedeutete der Eintritt in das Arbeitsleben für viele aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse oder der Nichtanerkennung von in Kambodscha erworbenen Qualifikationen, dass ein sozialer Abstieg und eine langanhaltende Prekarisierung begann. So arbeiteten laut einer statistischen Erhebung, die 1990 vom Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE) durchgeführt wurde, 56 Prozent der vietnamesischen, laotischen und kambodschanischen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter als qualifizierte oder unqualifizierte einfache Arbeiter und weitere 13 Prozent im Handel oder im Dienstleistungssektor. Auch wenn die bis 1990 eingebürgerten Personen in die Erhebung einbezogen werden, zeigen die Zahlen, dass mit 60 Prozent eine Mehrheit als Arbeiter und Arbeiterinnen tätig war, 11 Prozent selbstständig arbeiteten und 10 bis 11 Prozent in mittleren bis gehobenen Arbeitskategorien tätig waren.105 Die integrativen Maßnahmen, die das Foyer Guy Houist als eines der CPH des von der FTDA betriebenen nationalen Aufnahmedispositives für den Staat stemmen sollte, bewegten sich, wie die untersuchten Beispiele zeigten, in einem Spannungsfeld zwischen nationalen Vorgaben und lokalen Realitäten, wobei die relative Autonomie der Direktionen es ermöglichte,

104 Y. Gastaut: Français et immigrés à l’épreuve de la crise, S. 110. 105 P. Billion: Où sont passés les »travailleurs réfugiés«, S. 39. Siehe auch: Karine Meslin: Les réfugiés cambodgiens, des ouvriers dociles? Genèse et modes de pérennisation d’un stéréotype en migration, in: Revue européenne des migrations internationales 27, 3 (2011), S. 83–101.

3. Die Ordnung der Aufnahme

flexibel auf Probleme in den CPH zu reagieren. Doch abgesehen von den durch dieses Spannungsfeld gelegentlich auftretenden Reibungen zwischen diesen Ebenen, überschnitten sich die Ziele von Regierung, Staatsapparat und der Leitung der CPH darin, dass alle Akteure die erfolgreiche Integration der Flüchtlinge über den Bezug einer Wohnung und die Möglichkeit, im Rahmen einer Anstellung eigenes Geld zu verdienen, unterstützten. Gerade im Foyer Guy Houist zeigte sich, dass diese Indikatoren einer erfolgreichen Integration den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ein persönliches Anliegen waren, um das Elend, das die Flüchtlinge erlebt hatten, endgültig zu beenden. Sowohl mit den im CPH angebotenen Kursen als auch mit der Vermittlung der Flüchtlinge in die wirtschaftliche Autonomie wurden diese Ansprüche verfolgt. Auch wenn der langfristige Blick auf diesen Integrationserfolg offenbart, dass es sich nicht um reine Erfolgsgeschichten handelte und die Etablierung in Frankreich für viele Flüchtlinge den Beginn einer langen Zeit prekärer Arbeit bedeutete, waren die Vorgaben von Integration so paradigmatisch für die französischen Helfer und Helferinnen, die dies als eine Verlängerung des humanitären Engagements in Südostasien sahen, dass sie nicht hinterfragt wurden. Auch die immer größere Anzahl von privaten Akteuren, die mit der Zeit in die Aufnahme drängten, um die Flüchtlinge zu unterstützen, sahen die Integration als das wichtigste Ziel ihrer Hilfe. Durch die Multiplikation des Engagements privater Akteure diversifizierten sich zugleich die Sichtweisen und Ansätze bezüglich der Aufnahme sowie das Konfliktpotenzial zwischen den einzelnen Akteuren.

Private Aufnahmegruppen – das Beispiel der Organisation SIPAR Nicht nur die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der CPH bemühten sich um die Integration der Flüchtlinge. Insbesondere ab 1979 stieg die Zahl von privaten Aufnahmegruppen durch den Zusammenschluss von zivilgesellschaftlich engagierten Privatpersonen stark an. Solche Gruppen wurden teilweise auch in Kooperation mit den Behörden kleiner Gemeinden gegründet. In einem Aufsatz über die Unterstützung der Flüchtlinge in Rennes beschrieb Luc Menguy aus seiner Perspektive als professioneller Akteur das Verhältnis zu den privaten Gruppen wie folgt: »›Die Großzügigkeit und der manchmal paternalistische Wille dieser Gruppen werden nur durch die tiefe Unkenntnis über die Probleme der Integration von Ausländern übertroffen‹; dieser Satz […] mag gegenüber dem Han-

159

160

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

deln von Freiwilligen, die mit Flüchtlingen arbeiten, hart erscheinen. Das ist nicht der Fall […]. Tatsächlich zwang die Gründung dieser Gruppen die Fachleute des Foyer Guy-Houist, über ihr eigenes Handeln nachzudenken, sich zu mobilisieren, […] mit den Gruppen zu diskutieren und sie darauf vorzubereiten, eine oder mehrere Familien aufzunehmen oder ein Aufnahmevorhaben […] aufzugeben.«106 Offensichtlich wird an dieser Aussage, dass Menguy die professionelle Arbeit, die ein CPH leistete, und die Arbeit privater Gruppen klar trennte, zugleich aber auch auf eine Kooperation der beiden Ebenen verwies. Die Zunahme der privaten Träger führte zwar einerseits zu einer Ausweitung der Aufnahmekapazitäten, brachte aber auch neue Probleme mit sich. Im Regelfall übernahm eine Gruppe die Betreuung einer geflohenen Familie, wobei die Tatsache, dass es sich um individuelle Fälle handelte, bedeutete, dass die Familien direkt aus den Erstaufnahmestellen in Paris in die Obhut der privaten Gruppen kamen und damit nicht in einem CPH untergebracht wurden. Auch wenn Menguy diese privaten Strukturen in seinem Aufsatz als unprofessionell beschreibt, lässt sich feststellen, dass einige von ihnen einen erheblichen Professionalisierungsprozess durchliefen und in manchen Fällen die Vorgaben des staatlichen Aufnahmedispositives umgingen, wie sich anhand des Beispiels von Soutien à l’initiative privée pour l’aide aux réfugiés (SIPAR) folgend zeigt. 1983 gründeten Magali Petitmengin und Bernadette Chaventon diese Gruppe in Versailles. Die Idee war aus den eigenen Erfahrungen in privaten Aufnahmegruppen entstanden, und so entwickelte sich SIPAR im Laufe der Zeit zu einer Form eines Dachverbandes, der andere private Gruppen in ganz Frankreich bildete und unterstützte. Eine zentrale Figur bei SIPAR war Magali Petitmengin, und ihr Engagement für die kambodschanischen Flüchtlinge verdeutlicht die Konfliktlinien zwischen professionellen und privaten Akteuren sehr gut. Ein solcher Konflikt entzündete sich beispielsweise aufgrund unterschiedlicher Ansichten über den Umgang mit Waisenkindern. Als Petitmengin – eher zufällig – anfing, sich in der Aufnahme kambodschanischer Flüchtlinge, insbesondere kambodschanischer Waisenkinder, zu engagieren, stießen ihre Aktivitäten relativ schnell an die Grenzen des offiziellen Aufnahmedispositivs. Ihr Engagement hatte an Weihnachten 1979 auf Bitten ihrer angeheirateten Verwandten Line de Coursseau begonnen, die sich zu diesem Zeitpunkt in Thailand aufhielt. Line

106 L. Menguy: L’accueil des ›boat people‹ à Rennes, S. 37.

3. Die Ordnung der Aufnahme

de Coursseau war mit einem französischen Botschafter verheiratet und besaß dementsprechend enge Kontakte in die französische Botschaft in Thailand. Aufgrund dieser Kontakte und ihrer Ausbildung als Krankenschwester fragte die französische Botschaft, ob de Coursseau in dem gerade entstehenden Flüchtlingslager Sakeo helfen könnte. In Sakeo traf de Coursseau auf viele unbegleitete Kinder und begann, eine Art improvisiertes Waisenheim für diese Kinder zu betreiben. Auch wenn sich in vielen Fällen später herausstellte, dass es sich nicht bei allen tatsächlich um Waisen handelte, wurden sie als solche behandelt, und als Präsident Giscard d’Estaing anlässlich der Verleihung der Nansen-Medaille bekannt gab, dass 500 zusätzliche Visa zur Verfügung gestellt würden, wollten Petitmengin, die sich in Frankreich befand, und de Coursseau die Kinder nach Frankreich bringen. Die beiden versuchten dies über den Kanal des Comité national d’entraide an der französischen Botschaft in Bangkok sowie über das Französische Rote Kreuz. Schnell zeigte sich allerdings, dass die Ansichten zum weiteren Verfahren mit den Kindern auseinandergingen. Denn Petitmengin und de Coursseau planten, die Kinder in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis direkt an Privatpersonen zu vermitteln, wohingegen das Französische Rote Kreuz, das die Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen für den Staat organisierte, die Kinder in einer professionellen Einrichtung unterbringen wollte. Die Kontrolle bei der Adoption von Kindern aus Südostasien hatte auch mit Blick auf einen regelrechten Adoptionsboom, der sich um die Flüchtlingskrise in Thailand entwickelte, eine große Bedeutung. Denn befeuert von Fernsehreportagen und Zeitungsartikeln, die Kinder im Elend107 zeigten, häuften sich sowohl bei der französischen Regierung als auch beim UNHCR die Anfragen von Organisationen und besorgten Einzelpersonen, die sich bereit erklärten, ein Waisenkind aufzunehmen. Zumindest der UNHCR lehnte dies mit der Begründung ab, dass für die Kinder nach Lösungen vor Ort gesucht werden sollte.108 Der UNHCR stellte sich anfangs 107 Eine Fernsehdokumentation von 1980 zeigt beispielsweise das Elend im Flüchtlingslager Khao I Dang sowie eine französische freiwillige Helferin im Camp, die ein kleines Mädchen adoptieren möchte: Patrice du Tertre, Jacques Abouchar; Patrick Poivre d’Arvor: Camp Khao I Dang, Antenne 2 (= Le Journal de 20H), 04.07.1980, https: //www.ina.fr/video/CAB8001092701/camp-de-kao-i-dang-video.html (zuletzt geprüft am 20.08.2022). 108 Vgl. einige der Adoptionsanfragen beim UNHCR: Jennifer Morison-Turnbull: Reaktion auf eine Anfrage zu Adoptionsmöglichkeiten aus der Schweiz, 10.01.1980, 100.THA.CAM Refugees from Cambodia in Thailand [Vol. 14], Fonds II, Series 2, Box 194, source n° 760, UNHCR; Patrick de Sousa: Reaktion auf eine Anfrage zu Adoptionsmög-

161

162

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

auch gegen die Ausreise der »Waisenkinder« von Line de Coursseau, und Mitarbeiter US-amerikanischer Hilfsorganisationen versuchten noch am Abreisetag, die Abfahrt der Kinder zu verhindern, indem sie sich vor die Autos stellten.109 Trotz der Widerstände landeten 190 Kinder am 24. und 25. Dezember 1979 in Paris, wo sie über einen gezielten Schachzug doch direkt in die von den beiden Frauen ausgewählten Familien gebracht wurden, wodurch das offizielle Aufnahmeverfahren umgangen wurde. Auch wenn Petitmengin den Vorgang in ihren Erinnerungen kritisch reflektiert, zeigt sich, dass privates Engagement den Empfang von Flüchtlingen mitstrukturierte, sich an den professionellen Strukturen rieb und diesen zuwiderhandelte. Der direkte Kontakt über eine Verwandte und die empathiegeleitete Überzeugung der Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns im Angesicht des Notstands vor Ort setzte sich gegen die geordneten administrativen Prozesse durch und führte dazu, dass die Zivilgesellschaft sich in diesem Fall eigenmächtig gegen den Staat und seine Aufnahmestrukturen durchsetzte. Magali Petitmengin arbeitete auch nach dem Empfang der »Weihnachtskinder« weiter mit kambodschanischen Flüchtlingen, indem sie zunächst eine eigene private Aufnahmegruppe organisierte und später die SIPAR gründete. Ende 1982 beziehungsweise Anfang 1983 flaute die Hochphase des staatlichen Engagements bereits ab, und das offizielle Dispositiv war völlig ausgelastet, wodurch nur noch wenige der Flüchtlinge, die bereits zur Umsiedlung akzeptiert waren, sofort nach Frankreich kommen konnten und lange Wartezeiten in Kauf nehmen mussten. Magali Petitmengin gründete daraufhin zusammen mit Bernadette Chaventon die SIPAR. Insbesondere die Arbeit der SIPAR im Rahmen der Aufnahme von Flüchtlingen aus Phanat Nikhom, einem Flüchtlingslager, für das die französische Regierung eine besondere Verantwortung mit Blick auf die Umsiedlung übernommen hatte, stärkte die Bedeutung der Organisation. So nahm die SIPAR bis zum November 1983 mit 49 privaten Gruppen 14 Prozent aller aus Phanat Nikhom kommenden Kambodschaner und Kambodschanerinnen auf, was auch innerhalb der Regierung wohl-

lichkeiten aus Frankreich, 24.01.1980, 100.THA.CAM Refugees from Cambodia in Thailand [Vol. 14], Fonds II Series 2 Box 194, source n° 792, UNHCR. Auch innerhalb der Koordinierungsrunde des CNE wurde das Thema der Adoption sehr früh diskutiert: CNE: »Compte-rendu du conseil d’administration«, 28.03.1977, 1852INVA-63, CADC. 109 M. Petitmengin: Graines de bois, S. 26–27.

3. Die Ordnung der Aufnahme

wollend zur Kenntnis genommen wurde und den Grundstein für die weitere Zusammenarbeit legte.110 Die Strategie der SIPAR bestand darin, Gruppen von mehreren Personen zu finden, die eine kambodschanische Familie bei der »sanften Eingliederung«111 in Frankreich über mehrere Monate, teilweise Jahre hinweg begleiteten. Dazu suchten und finanzierten diese Gruppen eine Wohnung für die Zeit, in der die Flüchtlinge noch keine eigene Wohnung finanzieren konnten, halfen den Flüchtlingen bei Behördengängen und waren bestrebt, den Flüchtlingen Arbeit zu beschaffen, damit sie finanziell unabhängig wurden. Des Weiteren organisierten die Aufnahmegruppen Sprachkurse für die Flüchtlinge. Damit leisteten sie genau die Arbeit, mit der auch die professionellen Strukturen beauftragt waren. Die SIPAR unterstützte die Gruppen mit der Weiterleitung von Erfahrungen, Informationen und teilweise auch Geld. Dabei stimmte die SIPAR bei ihrem Engagement mit den Zielen der Regierung zur räumlichen und ökonomischen Integration überein. So sollten sich die Flüchtlinge »nicht in ihren Gemeinschaften einschließen«112 , sondern räumlich gestreut werden, damit ihre räumliche Ballung nicht zu einem »langfristigen Handicap für eine gute Eingliederung wurde«113 , und die ökonomische Integration über eine Anstellung war ein wichtiger Baustein für die Selbstständigkeit der Flüchtlinge.114 Religion und die christlichen Lehren spielten für beide SIPAR-Gründerinnen und den Erfolg der Organisation eine wichtige Rolle. Magali Petitmengin ist Protestantin, und Bernadette Chaventon gehört dem katholischen Glauben an.115 Für beide Frauen war ihr Glaube eine wichtige Grundlage, um sich per-

110 111 112 113 114 115

»Note sur l’activité du S.I.P.A.R.«, [November 1983], 19930008/6, ANF. M. Petitmengin: Graines de bois, S. 84. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., S. 82–93. Noch während der Arbeit in der Flüchtlingsaufnahme entwickelte die Organisation SIPAR weitere Branchen und begann, Hilfe vor Ort zu leisten, indem die Organisation beispielsweise den Schulunterricht in Flüchtlingslagern anbot und finanzierte oder die Konzeption und den Druck von Schulbüchern übernahm. Nachdem die SIPAR ihre Arbeit in der Flüchtlingsaufnahme 1991 eingestellt hatte, orientierte sich die Organisation ganz nach Kambodscha, wo sie bis heute Entwicklungsarbeit, größtenteils im Bildungssektor, leistet. Bernadette Chaventon ist im Gegensatz zu Magali Petitmengin bis heute aktiv in der Organisation. Siehe auch: SIPAR Cambodge: 40 ans d’Action pour le Cambodge, https://www.sipar.org/ (zuletzt geprüft am 20.08.2022).

163

164

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

sönlich für die geflohenen Menschen aus Kambodscha zu engagieren. Darüber hinaus konnten die beiden Frauen sowohl in protestantischen als auch in katholischen Gemeinden nach Mitgliedern für die Aufnahmegruppen suchen, wodurch sich ein größerer Kreis für die Rekrutierungen ergab. Über die sonntäglichen Kirchenbesuche ergaben sich Kontakte zu Menschen, die eine Disposition für humanitäre Hilfe und Unterstützung besaßen. Maßgeblich getragen von Gemeindemitgliedern etablierte die SIPAR in ganz Frankreich ein Netzwerk von Aufnahmegruppen, so dass parallel viele Familien betreut werden konnten. Da die Gruppen vornehmlich in Kirchengemeinden »rekrutiert« wurden, waren viele – nicht alle – der Menschen, die sich für die SIPAR in diesen Gruppen engagierten, genauso wie Petitmengin und Chaventon, von religiösen Überzeugungen motiviert. Solche religiösen Motive für humanitäres Engagement lassen sich in Frankreich, wo der katholische Glaube eine große Rolle spielte, insgesamt nachweisen, da die katholische Sozialisation mit einer langen Tradition gesellschaftlich-humanitären Engagements verbunden war, was sich auch in den Mitgliedschaften in anderen französischen Nichtregierungsorganisationen zeigte.116 Viele der Personen, die sich im Umfeld der SIPAR organisierten, sahen ihr Engagement vornehmlich als religiös motiviert an, ihre Unterstützung für die Flüchtlinge entsprang ihrem Verständnis von christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit.117 Darüber hinaus war die überkonfessionelle Zusammenarbeit ein wichtiger Baustein des Erfolgs der SIPAR. So verwies Petitmengin im Aktivitätenbericht des Jahres 1983 darauf, dass 65 Prozent der in den Aufnahmegruppen der SIPAR engagierten Personen einen konfessionellen Hintergrund hatten und die Arbeit in den Gruppen eine »interessante ökumenische Erfahrung«118 darstellte. Durch die gemeinsame Arbeit, in der sich Katholiken, Protestanten wie auch nicht konfessionsgebundene Menschen auf der praktisch-humanitären Ebene verständigten, traten eventuell bestehende konfessionelle oder andere soziale Differenzen in den Hintergrund. Allerdings mussten die Personen, die sich zusammenschlossen, in der Lage sein, eine kambodschanische Familie mit mehreren Familienmitgliedern über mehrere Monate zeitlich und finanziell zu unterstützen, was im Schnitt auf eine gehobene ökonomische Hand-

116 117 118

Johanna Siméant: Socialisation catholique et biens de salut dans quatre ONG humanitaires françaises, in: Le Mouvement Sociale 227, 2 (2009), S. 101–122. Interview Petitmengin, 15.03.2017. Magali Petitmengin: »Compte Rendu d’Activité du SIPAR«, 22.10.1984, 19930008/5, ANF.

3. Die Ordnung der Aufnahme

lungsfähigkeit derjenigen, die in den privaten Gruppen engagiert waren, verweist. Auch die Netzwerke anderer Akteure und Organisationen, die in dem Prozess tätig waren und mit denen die SIPAR versuchte Kontakt herzustellen, waren deutlich religiös, sowohl protestantisch als auch katholisch, geprägt. Gerade als die SIPAR begann, sich in der Aufnahme zu etablieren, versuchten die Organisatorinnen ihre Arbeit innerhalb und in Kooperation mit diesen Netzwerken zu gestalten, um darüber Unterstützung beim Aufbau ihrer Strukturen zu erhalten. So arbeitete die SIPAR beispielsweise eng mit den katholischen Missionaren François Ponchaud und Jean-Bernard Berger von der Mission étrangère de Paris zusammen, die lange in Kambodscha gelebt hatten und nach der Machtübernahme der Roten Khmer das Land hatten verlassen müssen. Beide engagierten sich in Frankreich für kambodschanische Flüchtlinge. Berger gründete beispielsweise den Verein Accueil Cambodgien. Dieser Verein organisierte soziokulturelle Aktivitäten und Ferienlager für kambodschanische Kinder und Jugendliche in Frankreich.119 Gemeinsam mit den beiden Missionaren versuchte die SIPAR, humanitäre Hilfen für die thailändischen Flüchtlingslager zu organisieren.120 Auch wenn die SIPAR nie Teil des staatlichen Dispositivs mit all seinen beteiligten Akteuren, Institutionen und Regulierungen war, wuchs die Organisation beständig und weitete ihren Einfluss aus. Dadurch ergaben sich Probleme mit den staatlichen Akteuren, die zwar einerseits von der Arbeit der SIPAR profitierten, um ihren eigenen Verpflichtungen nachzukommen, andererseits aber vermeiden wollten, dass die Arbeit der SIPAR wiederum zu hohen Einfluss auf die staatlichen Vorgaben in dem Prozess nahm. Kooperation und Kontrolle kennzeichneten die Verbindung von staatlichen und privaten Akteuren, insbesondere als die Regierung unter François Mitterrand ihre staatlichen Zielsetzungen von der wohlwollenden Aufnahme distanzierte. Dies zeigte sich insbesondere, als die Regierung, die die Hilfe der SIPAR beim Engagement für die Flüchtlinge aus dem Lager Phanat Nikhom gerne angenommen hatte, bei weiteren Forderungen der Organisation versuchte, das eigene Aufnahmedispositiv zu verteidigen und der SIPAR keinen zu starken Zugriff auf Raum, sprich Wohnungen, und damit verbundener Einflussnahme zu ermöglichen. So forderte Petitmengin beispielsweise, dass der SIPAR und den von ihr betreuten Flüchtlingen aus Phanat Nikhom HLM-Wohnungen zur 119 Monna Thuon interviewt von Laura Wollenweber, 27.06.2017, Paris. 120 Interview Petitmengin, 15.03.2017.

165

166

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Verfügung gestellt werden sollten. Der Staat sollte die Wohnungen für die Organisation finden und den SIPAR-Gruppen zudem bei der Finanzierung der Wohnungen helfen.121 Der interministerielle Delegierte für Flüchtlinge, Daniel Fabre, lehnte diese Forderungen ab, wobei er die Ablehnung intern zweifach begründete. Einerseits hatte sich die FTDA als stärkste Organisation des öffentlich-staatlichen Aufnahmedispositivs dagegen ausgesprochen, dass die SIPAR bei diesen Forderungen unterstützt wurde. Denn diese Unterstützung war nicht zu vereinbaren mit dem Ziel der FTDA, die Hilfsstrukturen, die ausschließlich für die Südostasiaten existierten, mehr und mehr in allgemeine Strukturen für alle Flüchtlinge, die in immer größerer Zahl nach Frankreich kamen, umzuwandeln. Andererseits waren auch die staatlichen Akteure, die ihr Ziel einer Reduzierung des Engagements bereits definiert hatten, besorgt, ob die Unterstützung der SIPAR eine ungewollte Institutionalisierung zur Folge haben konnte: »Es ist zu befürchten, dass die S.I.P.A.R., die keine großen Bedenken hat, ihr Vorgehen auf die Bemühungen des Staates auszudehnen, vor allem plant, die Grundlagen für eine ›private‹ Politik der Aufnahme – und Auswahl – von Flüchtlingen aus Südostasien für den Zeitraum zu schaffen, der nach der Erfüllung unserer Verpflichtungen gegenüber PHANAT NIKHOM beginnen wird. Unter diesem Gesichtspunkt würden die Vorschläge von Frau Petitmengin dazu dienen, die Instrumente einer solchen ›Schutzpolitik‹ zu institutionalisieren, der sich die Regierung jedoch nicht anschließen kann.«122 Vor allem mit Blick darauf, dass die Regierung unter François Mitterrand die Zahlen der aufgenommenen Flüchtlinge zurückfahren wollte, was sie 1984 mit der Abschaffung des Quoten-Systems auch de-facto tat, zeigen Fabres Worte die Besorgnis des Staates, dass sich eine Grundlage für alternative Prozesse etablieren könnte. Daher unterstützten Regierung und Staatsapparat private Strukturen nur in dem Rahmen, in dem diese die Autorität des Staates nicht infrage stellen konnten. Magali Petitmengin und die SIPAR konnten die vorgesehene Hilfe des Staates bei der Anmietung von HLM für kambodschanische Flüchtlinge nie in Anspruch nehmen. Erst viel später unterstützten lokale Behörden sie bei der Anmietung von Wohnungen in HLM, was vor allem mit dem 121 122

Note sur S.I.P.A.R., [November 1983], ANF; Daniel Fabre: Brief über SIPAR und Mme Petitmengin, 05.12.1983, 19930008/1, ANF. Daniel Fabre: Brief SIPAR und Mme Petitmengin, 05.12.1983.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Wohlwollen lokaler Behörden im Großraum Paris zusammenhing.123 Statt auf staatliche Unterstützung verließ sich die SIPAR weiterhin auf ihre privaten Netzwerke, um bei Privatpersonen Wohnungen für Flüchtlinge zu mieten, deren Finanzierung weiterhin von den Aufnahmegruppen und Spenden getragen wurde. Zusammenfassend zeigte sich in der Analyse der privaten Akteure während des Empfangs kambodschanischer Flüchtlinge auf französischem Boden, dass diese ab 1979, als die kambodschanische Flüchtlingskrise an Dramatik gewann, immer stärker in das französische Aufnahmedispositiv drängten. Zwischen den privaten und professionellen Strukturen sowie den staatlichen Vorgaben bildete sich folgend ein Spannungsfeld heraus, das von Kooperation, Konkurrenz und staatlicher Kontrolle geprägt war. Innerhalb dieses Spannungsfeldes setzten weder die professionellen noch die privaten Strukturen alle staatlichen Vorgaben immer zur Gänze um, weil sich diese Vorgaben mitunter an den örtlichen Realitäten rieben. Umgekehrt zeigte sich, dass auch die privaten Akteure nicht alle ihre Vorschläge und Ansätze ohne Unterstützung staatlicher Stellen durchsetzen konnten. Innerhalb dieses Wechselspiels bildete sich das tatsächliche Dispositiv als Gesamtheit aller beteiligten professionellen, staatlichen und privaten Akteure und Akteurinnen, Institutionen sowie Gesetze und Regulierungen der Flüchtlingsaufnahme heraus. Ein gemeinsames Ziel aller untersuchten Akteure war die Eingliederung in die französische Gesellschaft, wobei insbesondere der ökonomischen Integration ein wichtiger Stellenwert beigemessen wurde, damit die Flüchtlinge unabhängig vom Wohlfahrtsstaat und von privater Wohltätigkeit ihr eigenes Leben in Frankreich bestreiten konnten. Zentral für das ehrenamtliche Engagement vieler SIPAR-Akteure und -Akteurinnen war der christliche Glaube mit seinen Werten der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Über die Verknüpfung von christlichem Glauben und praktischer humanitärer Arbeit in der Flüchtlingshilfe konnten sich die Mitglieder der engagierten Gruppe über die Grenzen ihrer Konfessionen hin verständigen und gemeinsam einen Beitrag leisten, damit sich kambodschanische Familien in Frankreich ein neues Leben aufbauen konnten. Vorstellungen von Menschenrechten spielten für die Akteure und Akteurinnen der SIPAR dahingegen keine dominante Rolle.

123

M. Petitmengin: Graines de bois, S. 84–85.

167

168

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

3.4 Fazit Die Bedeutung staatlichen Handelns für die Ordnung der Flüchtlingsaufnahme äußerte sich insbesondere bei den Kontrollmechanismen, die die Regierung unter Giscard d’Estaing einführte und die beide Regierungen während des Prozesses mehrfach anpassten. Über eine Quote und Kriterien setzten die Regierungen nicht nur die Bedeutung der GFK als Grundlage für die Definition eines Flüchtlings aus, sie konnten damit auch steuern, dass ökonomische Gründe oder die Bevorzugung von Personen, die den französischen Kulturkreis bereits kannten, bei der Auswahl der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern Anwendung fanden. Und auch nach der Ankunft in Frankreich übte der Staat über die Flüchtlingsbehörde OFPRA weiter Kontrolle über die Rechtmäßigkeit des Personenstands und der bürokratischen Identitäten aus, um sicherzugehen, dass die Flüchtlinge eine neue französische Identität für alle weiteren Verwaltungsvorgänge erhielten. Letztlich waren die Instrumente und die Legitimität der vrais réfugiés politische Ordnungskategorien, die maßgeblich für die Gewährung des Flüchtlingsstatus und die Grundlage für den Erhalt neuer bürgerlicher Rechte in Frankreich waren. Dazu rezipierten die Mitarbeiter des CNE und der Verwaltungsapparat beim OFPRA die politischen Vorgaben, wodurch die Flüchtlinge einreisen konnten und eine bürokratische Identität in Frankreich erhielten. Zugleich zeigte sich in vielen Bereichen eine gewisse Flexibilität in der Umsetzung der staatlichen Vorgaben. Egal ob es sich um die Mitarbeiter des CNE in den Flüchtlingslagern oder um die officiers de protection des OFPRA handelte, die Akteure und Akteurinnen des staatlichen Apparates zeigten bei vielen Gelegenheiten, dass persönliche Kontakte oder auch ein institutionelles Selbstverständnis basierend auf den Grundlagen der GFK bei der Umsetzung der Vorgaben mitwirkten. Aufgrund der unterschiedlichen staatlichen Akteure, Akteurinnen und Institutionen differierte die Realität der Aufnahmepraxis teilweise von den Vorgaben der Regierung, wobei sich der Prozess durch das Zusammenwirken all dieser staatlichen Akteure, Akteurinnen, Institutionen und Vorgaben sowie die Reibungen zwischen den Ebenen gestaltete. Sobald man die lokale Ausformung des Prozesses in Frankreich mit all seinen sozialen, administrativen und gesellschaftlichen Implikationen untersucht, zeigt sich darüberhinausgehend noch viel deutlicher, wie das Wechselspiel zwischen den unterschiedlichen Ebenen die Aufnahme letztlich konstituierte und welche untergeordnete Rolle Diskurse und moralische Ideale universeller Menschenrechte innerhalb des Prozesses spielten.

3. Die Ordnung der Aufnahme

Die administrativen und sozialen Prozesse sowie Praktiken, die sich auf der regionalen und lokalen Ebene der Aufnahme südostasiatischer Flüchtlinge zeigten, waren komplex. Das tatsächliche Dispositiv entwickelte sich dabei an den Reibungsflächen zwischen den unterschiedlichen Ebenen und Akteuren, auch wenn die Regierung und der Staatsapparat die Kontrolle darüber behalten wollten. Die Organisation des Foyer Guy Houist zeigte beispielsweise, inwieweit staatliche Vorgaben und lokale Realitäten innerhalb des von der Organisation France terre d’asile mitgetragenen professionellen Prozesses zu Konflikten führen konnten. Sobald sich nationale Vorgaben, wie die maximale Aufenthaltsdauer der Flüchtlinge in den CPH, nicht in der gewünschten Schnelligkeit umsetzen ließen, führte dies zu Protesten oder Widerstand seitens der Flüchtlinge. Die Wirklichkeit der Eingliederung in den CPH organisierte sich dementsprechend im Zusammenspiel zwischen Flüchtlingen, lokaler Direktion und Politik sowie den nationalen Vorgaben. Weitere Reibungen entstanden durch die wachsende Zahl privater Akteure in dem Prozess. Die christlich geprägte Nichtregierungsorganisation SIPAR professionalisierte sich über die Organisation und Betreuung lokaler Aufnahmegruppen. Dabei führte das Engagement der SIPAR-Gründerinnen sowohl zu Konflikten mit den professionellen Strukturen des staatlichen Aufnahmedispositivs als auch mit der französischen Regierung. Zugleich kooperierten Regierung, professionelle Strukturen und private Akteure miteinander, und erst durch dieses Wechselspiel von Kontrolle, Konflikt und Kooperation entwickelte sich das tatsächliche Dispositiv, das mehr als zehn Jahre den Empfang und das Einleben der südostasiatischen Flüchtlinge in Frankreich trug. Einer der Faktoren, der diese Struktur zusammenhielt, waren die von allen Akteuren und Akteurinnen geteilten Integrationsziele zur Beendigung der humanitären Notlage der Flüchtlinge, wobei vor allem die ökonomische und soziale Integration der Flüchtlinge gemeint war. Ein Großteil der Arbeit professioneller und privater Strukturen bestand darin, den Flüchtlingen nicht nur bei den administrativen Aspekten der Aufnahme zu helfen, sondern auch eine Wohnung, die eine Ghettoisierung verhinderte, und eine Arbeit zu suchen, die den Familien Eigenständigkeit ermöglichte. Menschenrechtsdiskurse und -ideen wie sie von humanitären Aktivisten und Aktivistinnen vorgetragen wurden, spielten für viele der engagierten Akteure und Akteurinnen keine wichtige Rolle. Für die Gründerinnen der Organisation SIPAR und viele der in den Aufnahmegruppen engagierten Menschen war ihr christlicher Glaube, dessen elementare Pfeiler Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind, hingegen ein wichtiger Antrieb. Die humanitär-

169

170

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

praktische Arbeit in der Flüchtlingshilfe bei SIPAR stellte eine Möglichkeit dar, sich ökumenisch zu verständigen. Die global rezipierte Form der Menschenrechtsdiskurse fand sich dementsprechend wenig auf der lokalen Ebene wieder. Denn nur, weil intellektuelle Eliten, Aktivisten, Aktivistinnen, Politiker und Politikerinnen Menschenrechtsdiskurse propagierten, musste sich dies nicht zwangsläufig in den Vorstellungen von in der Aufnahme engagierten französischen Bürgern und Bürgerinnen spiegeln.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

Frankreichs Verhandlung kolonialer Vergangenheit sowie die Auswirkungen dieser Vergangenheit auf die französische Gesellschaft und Politik sind bis heute wirkmächtig. Auch Migrationsbewegungen werden in Frankreich immer wieder im Spiegel der kolonialen Vergangenheit analysiert und diskutiert. Dies gilt ebenso für die französische Geschichtswissenschaft.1 So äußerten sich die kolonialen Traditionslinien in vielen Bereichen auch während der Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge. Insbesondere eine Reihe von Akteuren und Akteurinnen verdeutlichen diese kolonialen Traditionslinien. Denn viele der Personen, die sich in der Flüchtlingsaufnahme engagierten, hatten einen biografischen Hintergrund aus den Kolonien in Indochina, da sie dort gelebt oder im Indochinakrieg gekämpft hatten.2 Ihr Engagement für die Flüchtlinge war gekoppelt an eine erinnerungspolitische und kolonialnostalgische Auseinandersetzung mit der französischen Vergangenheit und Gegenwart der 1970er und 1980er Jahre. Darüber hinaus kolportierten diese Akteure und Akteurinnen eine ganze Reihe ideeller Traditionslinien, indem sie eine Form stereotyper Wahrnehmung bis hin zu einem deutlichen

1

2

Nancy L. Green/Marie Poinsot (Hg.): Histoire de l’immigration et question coloniale en France, Paris: La Documentation française 2008. Zum Zusammenhang von Kolonial- und Asylgeschichte siehe auch die Untersuchung von Lucy Mayblin zur Geschichte Großbritanniens: Lucy Mayblin: Asylum After Empire. Colonial Legacies in the Politics of Seeking Asylum, London: Rowman and Littlefield International 2017. Siehe zur Geschichte der französischen Kolonisierung und Dekolonisierung: Pierre Brocheux/Daniel Heméry: Indochine. La colonisation ambiguë (1858–1954), Paris: La Découverte 1995; Ivan Cadeau: La guerre d’Indochine. De l’Indochine française aux adieux à Saigon, 1940–1956, Paris: Éditions Tallandier 2019.

172

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Rassismus gegenüber den Indochinois3 äußerten und teilweise auf Basis dieser Wahrnehmung ihr Engagement für die Flüchtlinge strukturierten. Auch andere Forschungen stellten fest, dass die »koloniale Verbindung«4 zu Indochina gerade zu Beginn des Engagements für Südostasien eine wichtige Rolle spielte, ohne diese Feststellung mit einer Untersuchung der vielfältigen personellen, institutionellen und diskursiven Traditionslinien zu untermauern. Dabei ist die Analyse der kolonialen Verbindung gerade deshalb so interessant, weil die koloniale Vergangenheit Frankreichs in Indochina im globalen Vergleich ein Spezifikum des französischen Engagements für die Flüchtlinge war. Zugleich zeigt sich in diesem französischen Spezifikum, wie stark koloniale Traditionslinien in einem nationalen und globalen Rahmen untersucht werden müssen. So verbanden sich bei den kolonialen Akteuren und Akteurinnen beispielsweise stereotype Betrachtungen, die eine Verflechtung von sowohl nationalen als auch global verdichteten Diskursen darstellten. Den Einfluss, den die Verbindungen zwischen personellen Kontinuitäten und teilweise französischen, teilweise globalen Stereotype-Diskursen ausübten, verweist auch darauf, dass es sich hierbei um grundlegende Faktoren für die Inklusion oder Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen handelte. Doch über die Darstellung von kolonialen Traditionslinien in der französischen Asylgeschichte hinausgehend, geht es auch um die Frage, wie sich

3

4

In den Quellen taucht häufig der Begriff Indochinois oder asiatiques für die Flüchtlinge auf. In diesem Kapitel wird der Quellenbegriff Indochinois allerdings aufgrund seines undifferenzierten Gehalts sowie seiner deutlichen Anknüpfung an ein koloniales Fantasieprodukt nur im Zusammenhang mit direkten oder indirekten Zitaten verwendet. Dies gilt auch für den Begriff asiatiques, der als Quellenbegriff als Gesamtbezeichnung für alle Flüchtlingsgruppen inklusive der Chinesen und Chinesinnen, die aus Südostasien flohen, verwendet wurde. Dass diese Begriffe nicht zwischen den einzelnen Gruppen unterscheiden, zeigt auch, dass die Fluchtbewegungen aus Südostasien vorrangig als eine einzige Bewegung wahrgenommen wurden. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 116–118. Genauso: Karine Meslin: Parcours migratoires et représentations. L’exemple des ressortissants de l’ancienne Indochine, in: Nancy L. Green/Marie Poinsot (Hg.): Histoire de l’immigration et question coloniale en France, Paris: La Documentation française 2008, S. 31–36; S. Nann: Les Cambodgiens en France. Siehe außerdem das interessante Beispiel der Umsiedlung von Hmongs aus Laos nach Französisch-Guyana, worin sich deutliche koloniale Traditionslinien spiegeln. Das CNE war ebenfalls an diesem Unterfangen beteiligt: Marie-Odile Géraud: Regards sur les Hmong de Guyane française. Les détours d’une tradition, Paris: L’Harmattan 1997, S. 51–59.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

während der Aufnahme südostasiatischer Flüchtlinge Fragmente der kulturell-identitären und erinnerungspolitischen Veränderungen seit Mitte der 1970er Jahre etablierten.5 Ein 2005 erlassenes erinnerungspolitisches Gesetz, das der positiven Bewertung der kolonialen Vergangenheit dienen sollte und unter anderem von Veteranenverbänden aus dem Indochinakrieg unterstützt worden war, die sich auch in der Flüchtlingshilfe engagiert hatten, zeigt, wie präsent die Verhandlung der kolonialen Vergangenheit in Frankreich ist.6 Dieses Gesetz hatte lange Vorläufer. So war die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge eines der Ereignisse, an dem sich eine Form revisionistischer Erinnerungspolitik mit Bezug zur Kolonialzeit kristallisierte. Diese hatte sich bereits während der Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge gezeigt und war eng mit einem publizistischen Vakuum seitens linker Autoren und Autorinnen verknüpft. Diese schwiegen aufgrund ihrer vorherigen Unterstützung der kommunistischen Regime und ihrer gefühlten Mitschuld an der südostasiatischen Flüchtlingskrise Ende der 1970er Jahre, woraufhin konservative und rechte Autoren und Autorinnen mit ihrer kolonialrevisionistischen Erinnerungspolitik in dieses publizistische Vakuum vorstießen. Somit war die Ankunft der südostasiatischen Flüchtlinge nicht nur durch den weiterwirkenden Einfluss kolonialer Traditionslinien bedingt, sondern sie war zugleich ein innenpolitisches Ereignis, an dem die französische Gesellschaft ihr Selbstverständnis mit Blick auf die eigene Vergangenheit verhandelte.7

5

6

7

Siehe zu diesen Veränderungen: Kathryn M. Edwards: Contesting Indochina. French Remembrance between Decolonization and Cold War, Oakland: University of California Press 2016; Benjamin Stora/Thierry Leclère: La guerre des mémoires. La France face à son passé colonial, La Tour-d’Aigues: Éditions de l’Aube 2007; Serge Tignères: La guerre d’Indochine et l’opinion publique française entre 1954 et 1994. Dissertation, Toulouse 1999. Auf das Gesetz Nr. 2005–158 vom 23. Februar 2005, das unter anderem für Universitäten und schulische Lehrpläne eine »Anerkennung der französischen Präsenz in Übersee« vorsah, folgten in Frankreich heftige Auseinandersetzungen. Eine ganz Reihe von Forschern und Forscherinnen wandte sich gegen das Gesetz, das die Regierung letztlich per präsidialem Dekret wieder zurücknahm. Pierre Boilley: Loi du 23 février 2005, Colonisation, indigènes, victimisation. Évocations binaires, représentations primaires, in: Politique Africaine 98, 2 (2005), S. 131–140. Zur Verhandlung des kulturellen Selbstverständnisses im Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte siehe auch: Pascal Blanchard/Nicolas Bancel (Hg.): Culture post-coloniale 1961–2006. Traces et mémoires coloniales en France, Paris: Édition Autrement 2005.

173

174

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Dabei spielen Menschenrechtsdiskurse in der Analyse dieses Kapitels keine bedeutende Rolle, was an ihrer bemerkenswerten Abwesenheit in der Rhetorik der ehemaligen kolonialen Akteure und Akteurinnen liegt. Dies ist deshalb höchst interessant, weil die französischen Kolonialpolitiker des 19. Jahrhunderts gerade aus der Universalität der Menschenrechte und ihrer Bedeutung für das republikanische Grundverständnis ein hohes Maß an Legitimation für das koloniale Unterfangen ableiteten und ihre Zivilisierungsmission entsprechend direkt mit der Verbreitung von Menschenrechten in den Kolonien verknüpft war.8 Auch wenn die kolonialen Akteure und Akteurinnen, die mit der Unterstützung der südostasiatischen Flüchtlinge befasst waren, die Zivilisierungsmission mit ihren »Wohltaten« als Teil ihres Narratives einer positiven Kolonialzeit dazu nutzten, eine Gegenerzählung zu den Gräueltaten kommunistischer Regime zu verankern, bezogen sie sich nicht auf eine diskursive Verbindung von eigentlichen Menschenrechtsdiskursen und Flüchtlingsaufnahme. Im Folgenden werden einerseits Akteure, Akteurinnen und andererseits deren Diskurse, Stereotype, Rassismen und ideelle Traditionslinien aus der Kolonialzeit untersucht. Der erste Teil des Kapitels dient dazu, mit einem Fokus auf das Comité national d’entraide franco-vietnamien, franco-cambodgien, franco-laotien und dem mit dem CNE verbundenen Veteranenverband Association nationale des anciens de l’Indochine (ANAI9 ) zu untersuchen, wie sich bei den hier engagierten Personen ein biografischer Bezug zu Indochina 8

9

Alexandre Deroche/Mathieu Martial/Eric Gasparini (Hg.): Droits de l’homme et colonies. De la mission civilisatrice au droit à l’autodétermination. actes des colloques des 16 et 17 octobre 2013 et 22 octobre 2014 (Université Grenobles-Alpes, Aix-Marseille Université), Aix-en-Provence: Presses universitaires d’Aix-Marseille 2017; A.L. Conklin: A Mission to Civilize; P. Brocheux/D. Heméry: Indochine, S. 38–40. Für einen Einblick zur Entwicklung von Menschenrechtsdiskursen im Zusammenhang mit der französischen Dekolonisierung, siehe die Untersuchung von Fabian Klose, der den Dekolonisierungskrieg in Algerien im Zusammenhang mit der Entwicklung internationaler Menschenrechtsdiskurse untersucht hat und dabei feststellt, dass Frankreich im Rahmen der UN mit den Anklagen gegen Menschenrechtsverbrechen zu kämpfen hatte: F. Klose: Menschenrechte im Schatten, S. 239–289. Die ANAI veränderte häufiger ihren Namen. Gegründet unter dem Namen Association nationale des anciens d’Indochine wurde sie Ende 1981 in Association nationale des anciens de l’Indochine et du souvenir indochinois umbenannt. 1993 stimmten ihre Mitglieder für den neuen Namen Association nationale des anciens et amis d’Indochine et du souvenir indochinois. Siehe zur ANAI vor allem das zweite Kapitel der sehr guten Studie von Kathryn Edwards: K.M. Edwards: Contesting Indochina, S. 35–53.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

auf vielfältige Art und Weise in der Flüchtlingsaufnahme widerspiegelte. Dies ist besonders deshalb interessant, weil diese Menschen die Flüchtlingsaufnahme mit ihrer eigenen erinnerungspolitischen Agenda verbanden, wodurch sie den Prozess im Rahmen ihrer Auseinandersetzungen um das Gedenken an die Kolonialzeit sowie die Wahrnehmung kommunistischer Regime situierten. Dabei war die Bedeutung dieser Akteure und Akteurinnen für den Empfang der Flüchtlinge gerade deshalb so groß, weil sowohl das CNE als auch die ANAI enge Kontakte zur Regierung von Valéry Giscard d’Estaing pflegten. Im zweiten Teil des Kapitels wird daraufhin vertiefter untersucht, welche Vorstellungs- und Wahrnehmungswelten diese Personen besaßen und wie sich dies auf ihre Arbeit in der Flüchtlingsaufnahme auswirkte. Dies ist insbesondere bedeutsam, weil diese Vorstellungswelten Einfluss auf die Praxis der Aufnahme hatten, beispielsweise indem die kolonialen und staatlichen Akteure die Integrationsfähigkeit der Flüchtlinge teilweise auf Basis von Stereotypen beurteilten. Darüber hinaus wird es auch darum gehen, zu überprüfen, inwieweit die Flüchtlinge sich auf eine gemeinsame koloniale Vergangenheit beriefen und darüber eine kulturelle Nähe zu Frankreich herstellten.

4.1 Die Bedeutung von Antikommunismus und kolonialen Traditionslinien für die Flüchtlingsaufnahme Das Comité national d’entraide und seine Netzwerke Das Comité national d’entraide franco-vietnamien, franco-cambodgien, franco-laotien hatte seit seiner Gründung im Jahre 1975 einen »hybriden« Charakter, es war bewusst halb staatlich, halb privat angelegt und sollte maßgeblich die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge koordinieren, wobei es mit einer Reihe anderer Organisationen kooperierte. Die Entstehung des CNE als Hybridstruktur lässt sich auf den Kontext der internationalen Politik zurückführen und den Versuch Frankreichs, das eigene Engagement in der Flüchtlingsaufnahme über eine staatlich eingesetzte, aber zivilgesellschaftliche organisierte Vereinigung, gegenüber den Machthabern in Südostasien zu verschleiern. Damit lagen die Ursprünge des CNE einerseits in den Auseinandersetzungen internationaler Politik begründet und andererseits in dem Versuch der Regierung, dennoch Kontrolle über den Aufnahmeprozess zu behalten, da das CNE, das als gemeinnütziger Verein eingetragen wurde, die übergeordne-

175

176

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

te Koordination der im staatlichen Dispositiv engagierten Akteure übernehmen und als Vermittler zwischen den Organisationen und der Regierung fungieren sollte.10 Zu diesem Zweck trafen sich die unter der Dachorganisation zusammengeschlossenen Gruppen wie die FTDA, die CIMADE und andere regelmäßig in einem conseil d’administration, um sich über den Stand der Flüchtlingsaufnahme auszutauschen und das gemeinsame Vorgehen abzustimmen. Weiterhin sollte das CNE für die Regierung auch auf lokaler Ebene tätig werden und vor Ort die soziale und ökonomische Eingliederung der Flüchtlinge unterstützen sowie die Kommunikation mit den Medien übernehmen.11 Zur Erfüllung dieser Aufgaben erhielt das CNE unter Präsident Giscard d’Estaing staatliche Mittel aus mehreren Ministerien.12 Die hybride Form des CNE und seine besondere Beziehung zur Regierung von Valéry Giscard d’Estaing waren einerseits seine Stärken, bedeuteten andererseits aber einen Bedeutungsverlust, als die Regierung wechselte. Zwischen Giscard d’Estaing und den CNE-Präsidenten Jean Sainteny und Jean-Jacques Beucler gab es persönliche Kontakte, er lud beide zu Besprechungen ein. Diese besondere Stellung veränderte sich nach der Wahl von François Mitterrand, wodurch die Abhängigkeit von der konservativen Regierung deutlich zutage trat. Bereits vor der Wahl von Mitterrand gab es Unstimmigkeiten zwischen dem CNE auf der einen Seite sowie der FTDA und der CIMADE auf der anderen Seite, die sich aus einem Kampf um Richtungskompetenz und aus Auseinandersetzungen mit Jean-Jacques Beucler ergaben. 1981 trat die FTDA aufgrund dieser Konflikte aus dem conseil d’administration des CNE aus und beschwerte sich bei der neuen Regierung über Arbeitsweise und Struktur des CNE.13 Zwar ernannte die neue Regierung nach dem Rücktritt von Beucler mit Jean-Michel Belorgey, einem Abgeordneten aus den Reihen der Parti socialiste, nochmals einen neuen CNE-Präsidenten, doch zugleich wurde mit dem Amt des interministeriellen Delegierten für Flüchtlinge, das die Regierung 1983 einführte, eine Instanz geschaffen, die unter anderem die Arbeit des CNE übernehmen sollte.14 Die Arbeit des CNE hing dementsprechend eng mit der Rückendeckung der konservativen Regierung zusammen. Als die neue Regierung un-

10 11 12 13 14

»Rapport sur le fonctionnement et les activités du CNE«, [um 1980], 454INVA-1895, CADC. René Lenoir: Kommunikation im Ministerrat, 10.09.1975, ANF. CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 25.04.1980, 1853INVA-141, CADC. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 335. Ebd., S. 277–278.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

ter Mitterrand die Amtsgeschäfte übernahm, waren Personen wie Beucler, der als Veteran des Indochinakrieges sowie als konservativer und antikommunistischer Akteur von 1978 bis 1981 die Ausrichtung des CNE und dessen Zusammenarbeit mit der ANAI bestimmt hatte, nicht mehr tragbar, und es zeichnete sich ein Bedeutungsverlust des CNE in der Flüchtlingsaufnahme ab. Die Regierung unter Giscard d’Estaing übertrug die Leitung des CNE immer gezielt Personen, die berufliche oder persönliche Verbindungen zu den ehemaligen Kolonien aufwiesen, um das Wissen von Menschen, die mit Indochina vertraut gewesen waren, zu nutzen und um über die Personalpolitik eine konservative Linie zu unterstützen. Besonders deutlich wurde dies nach dem Tod des ersten Präsidenten Jean Sainteny 1978, als Giscard d’Estaing aus einer Liste mit Personen die alle »seit Langem mit den Fragen Indochinas vertraut«15 waren und deren Verbindung zu Indochina als einzige und wichtigste Empfehlung angegeben wurde, Jean-Jacques Beucler16 auswählte, der in Vietnam gekämpft hatte und dort in Kriegsgefangenschaft geraten war.17 Auch Beuclers Vorgänger hatte vor der Dekolonisierung lange in Indochina gelebt und gearbeitet. Zudem war Sainteny durch seine erste Ehe der Schwiegersohn des ehemaligen Generalgouverneurs Indochinas und französischen Kolonialministers in der Zwischenkriegszeit Albert Sarraut. Saintenys Bedeutung für die französische Kolonialgeschichte zeigt sich auch darin, dass er als Unterhändler im Namen Frankreichs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit Ho Chi Minh versucht hatte, die Bedingungen für eine erneute Etablierung des französischen Einflusses in der Region auszuhandeln.18 Ungewöhnlich war dieser Vorgang allerdings nicht, denn koloniale Verwaltungsbeamte und Militärangehörige in den ehemaligen Kolonien tauchten nach der Dekolonisierung in Schlüsselpositionen in Politik und Verwaltung Frankreichs wieder auf, wodurch sie in der Lage waren, erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung von zuziehenden Migranten und Migrantinnen zu nehmen sowie teilweise eine Politik zu bestimmen, die aufgrund von Rassismen diskriminierend war.19 Das 15 16

17 18 19

Jean-David Levitte: Notiz für den Präsidenten »Présidence du ›Comité Sainteny‹ d’entraide franco-indochinois«, 18.04.1978, AG/5(3)/901, ANF. Jean-Jacques Beucler war vor seiner Präsidentschaft beim CNE Staatssekretär für die Angelegenheiten der Veteranen und hatte im Indochinakrieg längere Zeit in vietnamesischer Kriegsgefangenschaft verbracht. Jean-David Levitte: Notiz »Présidence ›Comité Sainteny‹«, 18.04.1978, ANF. Jacques Valette: La guerre d’Indochine 1945–1954, Paris: Armand Colin 1994, S. 54–64. Patrick Simon: Race, Ethnicization, and Discrimination. Is History Repeating itself or is this a Postcolonial Peculiarity?, in: Nicolas Bancel/Pascal Blanchard/Dominic Thomas

177

178

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

CNE und seine Netzwerke waren auch Ausdruck eines konservativen kulturellen Umschwungs, der ab den 1970er Jahren an Boden gewann. So suchte Präsident Giscard d’Estaing ab den 1970er Jahren verstärkt den Schulterschluss mit ehemaligen Siedlern, Veteranenverbänden und Vordenkern einer ideologischen Kolonialnostalgie.20 Für seine Regierung war dies auch der Versuch, einen Teil der extrem konservativen Kräfte einzubinden, um ein politisches Gegengewicht gegen ein erstarkendes linkes Bündnis zu schaffen.21 Die Netzwerke, in denen das CNE agierte, reichten von den Spitzen der konservativen politischen Elite und Gesellschaft bis zu Organisationen, die sich stark in der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung zur Kolonialzeit in Frankreich engagierten. Sie alle einte ihre Verbindung zur ehemaligen Kolonie Indochina. Die engen Verbindungen der CNE-Präsidenten zur französischen Regierung zeigten sich vor allem in den regelmäßigen privaten Unterredungen mit dem französischen Präsidenten, in denen gerade Jean Sainteny regelmäßig für höhere Flüchtlingsaufnahmezahlen plädierte oder bessere Bedingungen für die Flüchtlinge forderte.22 Sainteny etablierte das CNE als einen zentralen Akteur in der Flüchtlingsaufnahme der Südostasiaten und baute dazu auch die Netzwerke aus. Diese bestanden vorrangig aus ehemaligen Soldaten und Zivilisten mit einem Bezug zu Indochina sowie konservativen Politikern. Anhand der Korrespondenzen von Sainteny zeigt sich, dass es Versuche gab, innerhalb der Netzwerke Arbeitsplätze und Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge zu vermitteln.23 Des Weiteren gab es Wohltätigkeitveranstaltungen, auf denen sich Vertreter des CNE mit Familienmitgliedern der Generäle Lattre de Tassigny sowie Leclerc de Hauteclocque24 und dem sehr bekannten Überlebenden von Dien Bien Phu und

20 21 22 23

24

(Hg.): The Colonial Legacy in France. Fracture, Rupture, and Apartheid, Bloomington: Indiana University Press 2017, S. 187–197. Alain Ruscio: Nostalgérie. L’interminable histoire de l’OAS, Paris: La Découverte 2015, S. 232–244. S. Tignères/A. Ruscio: Dien Bien Phu, S. 279. Jean-David Levitte: Notiz »Réfugiés d’Indochine«, 10.10.1977, ANF. Jean Sainteny: Brief an den französischen Botschafter in Tel Aviv, 18.11.1975, Fonds Jean Sainteny 6 SA 1, Fondation nationale des sciences politiques, Centre d’histoire de Sciences Po, Archives d’histoire contemporaine. Bei den beiden Familien handelt es sich um bedeutende Militärfamilien des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsgeschichte. Jean de Lattre de Tassigny, Absolvent der Militärakademie Saint-Cyr, war als Teil der Libération ein bedeutender General und Oberkommandierender der französischen Armee im Zweiten Weltkrieg. Von 1950 bis 1952 war er Hochkommissar und Oberbefehlshaber des Expeditionskorps in Indochi-

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

Filmemacher Pierre Schoendoerffer trafen, um Spenden für die Flüchtlinge zu sammeln und mediale Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken.25 Als 1978 Jean-Jacques Beucler die Präsidentschaft des CNE übernahm, führte er die Arbeit innerhalb dieser Netzwerke fort und stärkte zugleich die Verbindungen zur Veteranenorganisation ANAI. Beucler, der vor seiner Ernennung als Staatssekretär für die Angelegenheiten der Veteranen in Frankreich zuständig gewesen war, war zugleich ein ausgesprochener Antikommunist. So war Beucler einer der Urheber der Boudarel-Affäre 1991, worin Frankreich die Kollaboration eines französischen Universitätsprofessors mit den Viet Minh während des Indochinakrieges debattierte.26 Die Überschneidungen zwischen dem CNE und der ANAI waren vielfältig, da sich viele der Akteure und Akteurinnen der ANAI auch im CNE engagierten. Die langjährige Präsidentin der ANAI, Hélène Bastide, nahm beispielsweise regelmäßig an den conseil d’administration des CNE teil. Genauso begleitete die ANAI laut ihrer Mitgliederzeitung die Aufnahme der Flüchtlinge als eines ihrer wichtigsten Betätigungsfelder, um »die Kinder [ihres] armen, lieben INDOCHINA, das zu einem Ort des Massakers, der Hungersnot und der Unsicherheit geworden«27 war, zu retten, indem die ANAI die Flüchtlinge »auf [ihrer] terre d’asile willkom-

25

26

27

na. Sein einziger Sohn Bernard de Lattre de Tassigny diente ebenfalls im Indochinakrieg, wo er 1951 während einer Offensive der Viet Minh starb, Jacques-Philippe Leclerc de Hauteclocque absolvierte die Militärakademie Saint-Cyr, kämpfte im zweiten Weltkrieg ebenfalls für die Libération und reiste im Juni 1945 nach Indochina, um dort gegen die Besatzung Japans vorzugehen. Nach der Kapitulation Japans unterzeichnete Leclerc de Hauteclocque im Namen Frankreichs die Kapitulationsvereinbarung mit Japan. Sein Sohn Henri Leclerc de Hauteclocque war Mitglied der Résistance und nahm ab 1946 am Indochinakrieg teil, wo er 1952 starb. Die Familien von General de Lattre de Tassigny und von General Leclerc de Hauteclocque veranstalteten 1980 einen Wohltätigkeitsbasar: vente edicace au profit des réfugiés d’Indochine, in: Le Figaro, 22.02.1980. Georges Boudarel, der als Lehrer in Vietnam arbeitete, unterstützte ab 1949 die Viet Minh. Als politischer Kommissar arbeitete er in einem Lager, in dem auch französische Soldaten interniert wurden. Mehrere Augenzeugenberichte gaben an, dass Boudarel auch an der Folter französischer Soldaten beteiligt war. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich beschuldigte Jean-Jacques Beucler ihn in einer öffentlichen Vorlesung, woraufhin eine nationale Debatte begann. Kathryn M. Edwards: Traître au colonialisme? The Georges Boudarel Affair and the Memory of the IndochinaWar, in: French Colonial History 11 (2010), S. 193–209. Hélène Bastid: Le mot de la Présidente, in: Bulletin de l’A.N.A.I., 1980, 1.

179

180

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

men [hieß]«28 . Als sich das CNE 1992 auflöste, zeigte sich die Nähe zur ANAI noch einmal besonders deutlich. So wurden Teile der Aufgaben des CNE sowie der Finanzen an die ANAI übertragen. Nicht zuletzt, weil der letzte Präsident des CNE, Guy Simon, in Personalunion auch Präsident der ANAI war.29

Flüchtlinge und antikommunistische Ideologie beim CNE und der ANAI Für die Akteure und Akteurinnen des CNE und insbesondere der ANAI waren die Flüchtlinge lebende Beweise dafür, dass ihre Überzeugung von der Gerechtigkeit des Indochinakrieges als antikommunistischer Krieg Bestätigung fand, und diese Überzeugungen transportierten die Organisationen in die französische Gesellschaft. Die Hilfeleistungen für die Flüchtlinge betteten sich für das CNE und die ANAI in eine lange Phase französischer Fürsorge in der Region ein. Zugleich konnten die Akteure und Akteurinnen der ANAI ihre erinnerungspolitischen Aktivitäten durch die Flüchtlingsaufnahme sichtbar unterstützen. Die ANAI, deren Vorläufer sich bereits 1947 konstituierten, erreichte 1990 mit ungefähr 10.000 Mitgliedern einen Höhepunkt und löste sich 2012 aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Mitglieder und des fehlenden Nachwuchses auf. In der Zeit ihres Wirkens war die ANAI eine der prominentesten und sichtbarsten Organisationen, die ein antikommunistisches erinnerungspolitisches Narrativ für den Indochinakrieg und seine Nachwirkungen verfolgten. Während der südostasiatischen Flüchtlingskrise war zuerst mit Hélène Bastid, die lange Zeit mit ihrer Familie in Indochina gelebt hatte und deren Sohn 1947 im Indochinakrieg gefallen war, von 1967 bis 1986 eine Frau Präsidentin der ANAI. Mit Guy Simon wurde folgend ein General im Ruhestand ANAI-Präsident, der ab 1988 in Personalunion zugleich CNEPräsident war.30 Auch wenn die ANAI in ihren Statuten gewerkschaftliche, religiöse oder politische Diskussionen verbot, fielen ihre Mitglieder immer wieder durch deutlich konservative und antikommunistische politische Überzeugungen auf. Getreu ihrer Satzung bestanden wesentliche Aspekte ihrer Arbeit darin: »Indochina in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, insbesondere, um die Leistungen zu veranschaulichen, die Frankreich dort über drei

28 29 30

Ebd. CNE: »Compte rendu de l’assemblée générale extraordinaire«, 06.11.1992, DIR 4/38, OFPRA. Souvenirs du Comité national d’entraide pour les réfugiés d’Indochine, in: Bulletin de l’A.N.A.I., 1993, 2.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

Jahrhunderte erbracht hat«, und um »die moralischen Interessen und die Ehre von Veteranen und Kriegsopfern zu verteidigen.«31 Diese Überzeugungen äußerten sich auch in der erinnerungspolitischen Arbeit der ANAI. Nach der Niederlage von Dien Bien Phu 195432 und dem darauffolgenden Rückzug der französischen Truppen aus Südostasien trat die ANAI als Veteranenverband in der französischen Öffentlichkeit für ein sehr spezifisches erinnerungspolitisches Narrativ ein. Gemäß diesem Narrativ war der Indochinakrieg ein gerechter Krieg gegen die kommunistische Gefahr in Südostasien, und das Versagen Frankreichs in diesem Krieg hatte die weiteren Entwicklungen in der Region bis hin zu den massiven Flüchtlingsbewegungen erst ermöglicht. Dabei klammerten die Akteure und Akteurinnen der ANAI die negativen Aspekte der kolonialen Vergangenheit Frankreichs in Südostasien sowie die für den Indochinakrieg mitverantwortlichen neokolonialen Ansprüche Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Stattdessen stellte die ANAI lediglich positive Kolonialbezüge heraus, um das lange Engagement in der Region zu legitimieren. So war es laut ANAI-Narrativ im Indochinakrieg nie darum gegangen, die französische Vorherrschaft in der Region wiederherzustellen, sondern darum, die vietnamesischen antikommunistischen Kräfte in ihrem Kampf gegen die Gefahr kommunistischer Herrschaftssysteme zu unterstützen. Dabei betonten die Vertreter und Vertreterinnen dieses Narrativs stets, dass es sich um eine Kooperation mit den vietnamesischen Truppen gehandelt habe.33 Die Identifikation mit den ehemaligen Kameraden, mit denen 31

32

33

A.N.A.I.: France/Indochine. Histoire et Mémoire, ehemaliger Internetauftritt der A.N.A.I., wird durch die BNF archiviert, https://www.anapi.asso.fr/SITEANAI/www.an ai-asso.org/NET/document/anai/index.html (zuletzt geprüft am 14.04.2020). Für einen Überblick zur Chronologie des Indochinakrieges bis 1954 siehe die erste große Darstellung von Bernard Fall, die 2018 neu gedruckt wurde: Bernard B. Fall: Street without Joy. The French Debacle in Indochina, Guilford/CT: Stackpole Books 2018. Siehe weiterhin: Patrice Gélinet: Indochine 1945–1954. Chronique d’une guerre oubliée, Paris: Éditions Acropole 2014. Siehe außerdem die sehr gute Analyse von Pierre Brocheux und Daniel Heméry, in der der Indochinakrieg als Teil der französischen Kolonisationsgeschichte untersucht wird und die neokolonialen Ansprüche der französischen Elite nach 1945 klar herausgearbeitet werden: P. Brocheux/D. Heméry: Indochine. Weiterhin: Pierre Brocheux (Hg.): Du conflit d’Indochine aux conflits indochinoise, Brüssel: Éditions Complexe 2000. Dieses Narrativ findet sich beispielsweise auch noch 2001 bei: Amédée Thévenet: La guerre d’Indochine racontée par ceux qui l’ont vécue. Un devoir de mémoire assumé ensemble, Paris: France-Empire 2001. Für einen besseren Überblick über die Diversität und Entwicklung der öffentlichen Meinung siehe weiterhin folgende Analysen zum

181

182

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

die ehemaligen französischen Soldaten Seite an Seite gegen die Kommunisten gekämpft hatten, ist ein Schlüsselfaktor, um zu verstehen, warum die Akteure und Akteurinnen des CNE und der ANAI sich für die Flüchtlinge engagierten. Denn sie versuchten, denen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mit denen sie gemeinsam gegen den Kommunismus gekämpft hatten. Dass diese »Kampfgefährten« nun als Flüchtlinge all ihrer Ressourcen beraubt worden waren, weil die gemeinsamen Anstrengungen die kommunistischen Kräfte nicht hatten aufhalten können, war für die Akteure und Akteurinnen des CNE und der ANAI ein unhaltbarer Zustand. Viel mehr »[litten] sie mit ihnen [und] teil[ten] ihre Angst.«34 Aus diesem Grund zielten viele der Interventionen beim französischen Verteidigungs- und Finanzministerium darauf, den »indochinesischen« Soldaten, die in französischem Dienst gestanden hatten und nun »alle ihre Mittel verloren hatten sowie ihrer Pensionsansprüche beraubt waren,« entgegenzukommen und »die Vorteile, die den zivilen Funktionären bereits gewährt [wurden], auf die Militärangehörigen auszudehnen.«35 Man einigte sich darauf, den ehemaligen »indochinesischen« Soldaten, die für mindestens vier Jahre in der französischen Armee gedient hatten, eine monatliche Pension von 1000 Francs zuzugestehen, worüber das CNE sich erfreut zeigte.36 Die Mitglieder der ANAI und des CNE sahen aufgrund der gemeinsamen militärischen Allianz eine klare Verbindung zu ihren ehemaligen Kampfgenossen und übertrugen ihre Erfahrung und ihr Narrativ des gemeinsamen Kampfes und der gemeinsamen Niederlage ab 1975 in die Aufnahmepolitik des CNE. Dadurch verwischten die Grenzen zwischen antikommunistischem erinnerungspolitischem Narrativ und Flüchtlingsaufnahme als Symbolpolitik. Die öffentliche Meinung zum Indochinakrieg, die in den 1950er Jahren zwischen Indifferenz und extremer Ablehnung geschwankt hatte, war ein wichtiger Grund für das Engagement der Veteranenverbände und die von ANAI und CNE gemachte Symbolpolitik. Mit Verweis auf das Elend der Flüchtlinge und die Krise in Südostasien konnten die Veteranen ihren Einsatz

34 35 36

Indochinakrieg: Pierre Journoud: Dien Bien Phu. Du témoignage à l’histoire, in: Pierre Journoud/Hugues Tertrais (Hg.): 1954–2004. La bataille de Dien Bien Phu entre histoire et mémoire, Paris, Saint-Denis: Société française d’histoire d’outre-mer 2004; S. Tignères: La guerre d’Indochine et l’opinion publique; S. Tignères/A. Ruscio: Dien Bien Phu. H. Bastid: Le mot de la présidente, 1980, Bulletin de l’A.N.A.I. CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 29.09.1978, DiR 4/38, OFPRA. CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 16.02.1979, DiR 4/38, OFPRA.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

in der Region sowie ihre antikommunistischen Ressentiments nachträglich legitimieren. Während des Indochinakrieges hatte der Großteil der französischen Bevölkerung sich nicht für den Krieg, den Frankreich in einem weit entfernten Land führte, interessiert. Diese Indifferenz war für die Veteranen durch das Gefühl verschärft worden, dass die wechselnden und unentschiedenen Regierungsträger aufgrund des Fehlens einer Strategie die Niederlage mit herbeigeführt hatten. Ein anderer Teil der Bevölkerung, vorrangig in nächster Nähe zur PCF, brandmarkte den Krieg darüber hinaus als schmutzigen Krieg. Aus Sicht der Kriegsgegner und Kriegsgegnerinnen waren die französischen Soldaten in Indochina zu Tätern geworden. Aus diesem Grund hatten Kommunisten während des Krieges durch Sabotageakte an Versorgungsgütern und Ausrüstung gezeigt, dass sie diesen Krieg ablehnten.37 Aus Sicht der Soldaten, die aus dem Indochinakrieg zurückkehrten, hatten sie daher zugleich mit einer Niederlage zu kämpfen, die sie unter anderem auf die indifferente bis ablehnende Haltung der französischen Gesellschaft zurückführten, und mussten sich zudem der offensichtlichen Feindseligkeiten eines anderen Teils der Gesellschaft erwehren. Durch die südostasiatischen Flüchtlinge konnten die Veteranen den Einsatz Frankreichs in der Region nachträglich in der Öffentlichkeit legitimieren, und zugleich bestätigte die Flüchtlingskrise die Überzeugung der Veteranen, die den Indochinakrieg als einen gerechtfertigten und antikommunistischen Kampf betrachteten. Darüber hinaus eröffneten das hohe mediale Interesse, das Schweigen beziehungsweise die Reue bekannter Linksintellektueller und der Aufstieg der antitotalitären Linken ein publizistisches Vakuum, in dem sich die Stimmen der antikommunistischen Rechten öffentlich profilieren konnten. Im Angesicht des menschlichen Elends der Flüchtlinge hielten sich die Stimmen, die die kommunistischen Systeme in Südostasien zuvor unterstützt hatten, in der öffentlichen Beurteilung der Krise zurück.38 Die in diesem Vakuum maßgeblich publizierten, teilweise autobiografischen Bücher verschoben den öffentlichen Diskurs durch ihre klare antikommunistische Linie nach rechts. Ein Beispiel ist die Veröffentlichung der »Totenlieder für Phnom Penh und Saigon«39 . In der 1975 erschienenen Textsammlung fanden sich neben den Stimmen be-

37 38 39

Siehe hierzu: S. Tignères/A. Ruscio: Dien Bien Phu. Vgl. ebd. Jean-Yves Alquier (Hg.): Chant Funèbre pour Phnom Penh et Saïgon, Paris: SPL 1975.

183

184

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

kannter Veteranen wie Marcel Bigeard,40 der in Dien Bien Phu gedient hatte und in der Nationalversammlung für die Anerkennung des Indochinakrieges als gerechter Krieg eintrat, auch Gedenkschriften von rechten und rechtsextremen Publizisten und Politikern wie Alain de Benoist und Jean-Marie Le Pen. Zeitgleich stieg von 1975 bis in die 1980er Jahre die mediale Aufmerksamkeit für die erinnerungspolitische Auseinandersetzung mit dem Indochinakrieg exponentiell an, was unter anderem an der Aktualität der humanitären Krisen in Südostasien lag. Die ANAI nutzte dieses Interesse, um ihr Narrativ, das die Flüchtlingsaufnahme, die Verurteilung kommunistischer Kräfte und die positive Rolle Frankreichs mischte, zu implementieren.41 1980 druckte die ANAIMitgliederzeitschrift die wichtigsten Auszüge einer Rede des Staatssekretärs für die Angelegenheiten der Veteranen anlässlich des Begräbnisses des unbekannten Soldaten aus Indochina42 ab, in der dieser Zusammenhang deutlich hervortrat: »Es ging auch darum, die drei Völker Indochinas vor dem sie bedrohenden Totalitarismus zu retten; die folgenden Ereignisse zeigten, dass Frankreich recht hatte, als es das Schlimmste für diese fernen und befreundeten Völker verhindern wollte.«43 Und noch in den 2000er Jahren, mit einem Abstand 40

41 42

43

Marcel Bigeard wurde als Veteran des Indochinakriegs und vor allem seiner Teilnahme an der Schlacht von Dien Bien Phu zusammen mit Pierre Schoendoerffer und der in Dien Bien Phu als Krankenschwester tätigen Geneviève de Galard Terraube das »erinnerungspolitische Dreigestirn« zur Schlacht um Dien Bien Phu. Während des Algerienkrieges führte Bigeard aktiv Folterungen und Erschießungen von Algeriern durch. In den 1970er Jahren wurde er in die Nationalversammlung gewählt. Nach seinem Tod löste die Frage, wo seine Asche beigesetzt werden soll, eine nationale Kontroverse in Frankreich aus. K.M. Edwards: Contesting Indochina, S. 5–6. Das Begräbnis des in Indochina verstorbenen unbekannten Soldaten fand am 7. und 8. Mai 1980 statt. Bei den Überresten handelte es sich um die Überreste eines im Indochinakrieg gefallenen französischen Soldaten, die Frankreich nach Verhandlungen mit der vietnamesischen Regierung wieder zurückführen konnte. Der Veteranenverband ANAI hatte sich lange für diese Rückführung eingesetzt. Am 7. Mai fand eine feierliche Zeremonie im Invalidendom in Paris statt, wo auch Präsident Giscard d’Estaing sprach, und am 8. Mai wurden die Überreste auf dem Französischen Nationalfriedhof von Notre-Dame-de-Lorette im Departement Pas-de-Calais beigesetzt. Retour en France du corps du Soldat Inconnu d’Indochine, in: Bulletin de l’A.N.A.I., 1980, 2. Les cérémonies en l’honneur du Soldat Inconnu d’Indochine. Inhumation à N.D. de Lorette. Abdruck der Rede des Staatssekretärs für Veteranen Maurice Plantier, in: Bulletin de l’A.N.A.I., 1980, 3. Zur Bedeutung einer antikommunistischen Politik für den Aufnahmevorgang siehe auch: Karen Akoka: France. Boat People brought by plane, in: Becky Taylor/Karen Akoka/Marcel Berlinghoff et al. (Hg.): When Boat People We-

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

von zehn Jahren nach Ende des französischen Engagements für Südostasien, wodurch die lange tragende Bedeutung dieser Lesart für die Mitglieder der ANAI klar zutage trat, verdeutlichte Guy Simon in der ANAI-Mitgliederzeitschrift: »Es war mehr als die Niederlage Frankreichs, es war die Niederlage der Freiheit. Zwei Millionen Kambodschaner und 80.000 Vietnamesen wurden ermordet; anderthalb Millionen Vietnamesen wurden in Konzentrationslager deportiert. Drei Millionen Indochinesen flohen […]; 500.000 starben auf dem Weg.«44 Die ANAI verband mit diesem Narrativ zugleich die Wahrnehmung einer historischen Verantwortung Frankreichs. Nach dieser Lesart ergab sich dadurch, dass die Niederlage Frankreichs im Indochinakrieg die darauffolgenden Entwicklungen erst ermöglicht hatte, eine »moralische Pflicht der ehemaligen Kolonialmacht«45 gegenüber den ehemaligen kolonialen Subjekten. Die Frage der kolonialen Tradition stellte sich dementsprechend nicht einzig in Zusammenhang mit dem Indochinakrieg, sondern auch in Zusammenhang mit der französischen Kolonialherrschaft, wie sie vor der Unabhängigkeit existiert hatte. Denn eine weitere Stütze des erinnerungspolitischen Narrativs der ANAI bildeten, sozusagen als Gegensatz zur Entwicklung unter den kommunistischen Systemen, Verweise auf die positiven Entwicklungen, die die Region unter französischer Herrschaft genommen hatte. Diese kolonialrevisionistischen Motive werden folgend vorrangig in ihrer Funktion als Stütze des antikommunistischen Narrativs analysiert.

Positive Kolonialbezüge als Stütze des antikommunistischen Narrativs Auch wenn die Akteure und Akteurinnen der ANAI in ihrer antikommunistischen erinnerungspolitischen Kampagne die nach dem Zweiten Weltkrieg bestehenden imperialen Restitutionsansprüche Frankreichs als Ursache für den Indochinakrieg ausklammerten, bezogen sie sich dennoch auf die koloniale Vergangenheit Frankreichs in Indochina als positiven Kontrast zur gewaltsamen Herrschaft der kommunistischen Systeme. Auch nutzten die Vertreter

44 45

re Resettled, 1975–1983. A Comparative History of European and Israeli Responses to the South-East Asian Refugee Crisis, Cham, London: Palgrave Macmillan 2021, S. 47–77, hier S. 58–60. Guy Simon: Editorial, in: Bulletin de l’A.N.A.I., 2001, 1. Der ehemalige Politiker Léo Hamon verwies bei der Auflösung des CNE auf diese »historische Verantwortung« Frankreichs. CNE: »Compte rendu l’assemblée générale extraordinaire«, 06.11.1992, OFPRA.

185

186

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

und Vertreterinnen des CNE und der ANAI positive Bezüge zur französischen Kolonialherrschaft in Indochina, um der Flüchtlingsaufnahme und ihrem antikommunistischen Kampf weitere Legitimität zu verleihen. Denn diese Argumentation unterstützte das binäre Narrativ von einer Region, die friedlich war und sich stetig modernisierte so lange die Kolonialherrschaft andauerte, wohingegen die kommunistischen Systeme diese Entwicklung unterbrochen hatten und durch ihre Gewaltexzesse, die hohen Todeszahlen und die Flüchtlingsbewegungen gezeigt hatten, dass ihre Herrschaftsform fehlerhaft war.46 Dabei speiste sich dieses Narrativ unter anderem aus einem Trend in der öffentlichen Darstellung von Erinnerung, der in Frankreich ab den 1960er Jahren zu beobachten war. So hatten sich bereits um die pieds-noirs, die ehemaligen französischen Siedler in Algerien, und ihre Nachfahren seit der Unabhängigkeit Algeriens bedeutsame erinnerungspolitische Narrative entwickelt, die auf kolonialer Nostalgie sowie einer Rhetorik kolonialer Restauration47 beruhten, wobei die positiven Errungenschaften Frankreichs in den Kolonien im Vordergrund standen. Zugleich griffen konservative Politiker diese Rhetorik auf. So verwies Präsident Giscard d’Estaing beispielsweise anlässlich der Umbettung der Überreste des in Indochina gefallenen unbekannten Soldaten am 7. Juni 1980 auf das seiner Auffassung nach positive Engagement Frankreichs in Indochina: »Mit ihm [dem unbekannten Soldaten] schließt sich ein glorreiches Kapitel unserer Geschichte. Mehr als ein Jahrhundert lang förderten ein Empire und zwei Republiken die Völker von Kochinchina, Annam, Tonkin, Kambodscha und Laos.«48 Die Kolonialzeit spielte für die Akteure und Akteurinnen des CNE und der ANAI im Rahmen der Flüchtlingsaufnahme die Rolle eines idealisierten Gegenmodells zu den kommunistischen Herrschaftsformen in Südostasien, die die Flüchtlingsbewegungen aus Sicht der Veteranenverbände erst ausgelöst

46

47 48

Ähnlich argumentierte die französische Regierung während des Algerienkrieges im Rahmen der UN, indem sie auf die positiven Entwicklungen Algeriens unter französischer Kolonialherrschaft verwies und die antikolonialen Kräfte beschuldigte, diese Entwicklungen zu zerstören. Das zeigt die weite Verbreitung dieses Narrativs. Siehe hierzu: F. Klose: Menschenrechte im Schatten, S. 268–270. A. Ruscio: Nostalgérie, S. 241–242. Valéry Giscard d’Estaing: Message aux armées de M. Valéry Giscard d’Estaing à l’occasion des cérémonies en l’honneur du soldat inconnu d’Indochine. Paris, Cour des Invalides, 7 juin 1980, https://www.elysee.fr/front/pdf/elysee-module-4811-fr.pdf (zuletzt geprüft am 20.08.2022).

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

hatten. Und so wurde die Kolonialzeit in der Rückschau zu einer Periode gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Fortschritts, den Frankreich in die Kolonien gebracht hatte. Claude Gilles, der als Priester in Besançon den Empfang südostasiatischer Flüchtlinge organisiert und gleichzeitig den regionalen Zweig des CNE geleitet hatte, kannte Indochina noch aus eigenen Erfahrungen während seines dortigen Aufenthalts nach dem Zweiten Weltkrieg. In seinen Büchern über die Fluchtbewegungen aus Südostasien nach Frankreich verwies er auf seine eigenen Erinnerungen an die Kolonialzeit und die Flüchtlingsaufnahme und hob hervor, wie positiv die Anwesenheit Frankreichs auf Vietnam gewirkt hatte, wobei er »die soziale Entwicklung, [die] auf die Gründung des Instituts Pasteur«49 folgte, betonte und angab, dass durch die Gründung von Schulen und Universitäten eine »intellektuelle Revolution« stattgefunden hatte, was er durch ein Zitat aus einem Studienbuch von 1950 belegte: »Frankreich brachte nicht nur wirtschaftliche Werkzeuge mit, es vermittelte auch seine eigene intellektuelle Ausrüstung mit den Feinheiten seiner Sprache, den Nuancen seines Denkens und dem Lebendigen Schatz seiner Bücher.«50 Damit verwies Gilles auf die Bedeutung der französischen Zivilisierungsmission in Indochina, und seine unkommentierte Verwendung eines Zitats aus einem Studienbuch von 1950 zeigt, dass er die Einschätzung der Zivilisierungsmission darin teilte. Mit dieser Wahrnehmung der Zivilisierungsmission war Claude Gilles nicht allein, da sich auch bei vielen Akteuren und Akteurinnen der ANAI solche positiven Verweise auf die Kolonialzeit finden lassen.51 Für die Akteure und Akteurinnen des CNE und der ANAI war die Bedeutung der Zivilisierungsmission auch deshalb so groß, weil sich daraus eine nachwirkende Verantwortung gegenüber den ehemals kolonialen Subjekten ableiten ließ, die die Akteure und Akteurinnen im Rahmen der Flüchtlingsaufnahme neu verhandelten. In einem Vorwort der ANAI-Mitgliederzeitschrift ging Guy Simon unter anderem auf seine Erinnerungen an die Flüchtlingsaufnahme ein. Dabei trat das Motiv der langfristigen Verantwortung Frankreichs deutlich hervor. Denn Simon blickt in einem 2001 erschienenen Vorwort auf die langen Traditionslinien der Unterstützung und stellt einen Bezug zwischen den 1970er Jahren und der Gegenwart her. Simon schrieb, dass »das, was wir seit dem 30. April 1975 für die Vietnamesen,

49 50 51

Claude Gilles: De l’enfer à la liberté. Cambodge – Laos – Vietnam, Paris: L’Harmattan 2000, S. 23–24. Ebd. K.M. Edwards: Contesting Indochina, S. 48–51.

187

188

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Kambodschaner und Laoten tun, würden wir für niemand anderen tun. […] Und in unserer Seele wissen wir, dass ›wir verantwortlich sind für die, die wir gezähmt und zu denen wir Verbindungen aufgebaut haben‹.«52 Mit diesem Satz zitierte Simon das berühmte Buch »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry, wobei er den Bedeutungsspielraum des Zitats nicht weiter kommentierte. So lässt sich das französische Wort apprivoiser 53 darin sowohl im Sinne von »zähmen« als auch »vertraut machen« übersetzen. Im Kontext des Buches von Saint-Exupéry benutzen der kleine Prinz und der Fuchs das Wort während ihrer Unterhaltung ebenfalls in dieser Zweideutigkeit, also sowohl im Sinne von »ein wildes Tier zähmen« als auch in der Bedeutung von »Vertrauen aufbauen« oder »Verbindungen schaffen«. Damit konnten die Leser und Leserinnen von Simons Text diese Mehrdeutigkeit auch auf die Beziehung zwischen Frankreich und den ehemaligen Flüchtlingen sowie die in Vietnam, Kambodscha und Laos lebenden Menschen übertragen. Ein deutlicher Verweis auf eine weiterwirkende Verantwortungsbeziehung zwischen den Kolonisierenden und Kolonisierten war darüber hinaus jeder der Bedeutungen enthalten. Zugleich handelte es sich bei den positiven Rückbezügen auf die französische Kolonialzeit auch um eine Strategie zur Legitimierung der eigenen Vergangenheit der Akteure und Akteurinnen des CNE und der ANAI. Die französische Linke hatte den Kolonialismus schon in der Nachkriegszeit kritisiert, doch insbesondere der Algerienkrieg und der Vietnamkrieg führten zu einer deutlichen Verschärfung der Kritik an Frankreichs Rolle als Kolonialmacht, insbesondere seitens der französischen Neuen Linken.54 Daraufhin wurde die französische Kolonialzeit auch Teil der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung zwischen dem linken und dem konservativ-rechten Milieu. Die Akteure und Akteurinnen des CNE und der ANAI fühlten sich von der Kritik an der französischen Kolonialzeit persönlich betroffen. So löste beispielsweise

52 53

54

G. Simon: Editorial, 2001, Bulletin de l’A.N.A.I. Es handelt sich um ein Zitat aus dem berühmten Werk »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry. Es geht um das erste Treffen des kleinen Prinzen mit dem Fuchs. Das französische Wort apprivoiser lässt sich ins Deutsche sowohl mit »zähmen« als auch »vertraut machen« übersetzen und wird in den deutschen Übersetzungen mit beiden Bedeutungen verwendet. Der Fuchs beschreibt apprivoiser in der französischen Fassung auch mit »Verbindungen schaffen«. Siehe zur Entwicklung des Umgangs mit den Kolonien sowie zur Gedächtnispolitik der neuen radikalen Linken: C. Kalter: Entdeckung der Dritten Welt, S. 124–218.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

eine 1984 auf Antenne 2 ausgestrahlte Dokumentation des französischen Fernsehreporters und Regisseurs Henri de Turenne zur Geschichte Frankreichs in Indochina eine Kontroverse aus, und auch die Mitglieder der ANAI mischten sich in diese Kontroverse ein. Gerade der letzte Teil der Dokumentation über Dien Bien Phu stand dabei im Mittelpunkt. Der Regisseur stellte darin den Kampf der vietnamesischen Kommunisten um Unabhängigkeit als gerechtfertigt dar und beurteilte die französische Kolonialpolitik sehr kritisch. Diejenigen, die den Film angriffen, stammten vorrangig aus einem konservativ-rechten bis rechtsextremen Milieu. Sie sahen in der Dokumentation die positiven Errungenschaften Frankreichs in Indochina verunglimpft und das Ansehen der Soldaten herabgewürdigt.55 In einer in der ANAI-Mitgliederzeitschrift abgedruckten Rede über die »Aktionen gegen die Falschinformationen über die französische Geschichte in Indochina«56 klagte Hélène Bastid darüber, wie der Macher der Dokumentation »der uninformierten Vielzahl von Zuschauern die These von der […] Schuld Frankreichs […] aufgezwungen« habe. Für Bastid bestanden die Falschinformationen der Dokumentation darin, dass »Halb- oder Unwahrheiten« verbreitet wurden und »kein Wort […] über die außerordentliche Entwicklung der öffentlichen Bildung auf allen Ebenen […] das öffentliche Gesundheitswesen […] und das Frankreich zu verdankende Verschwinden der vier traditionellen Plagen: Piraterie, Hungersnöte, Überschwemmungen und Epidemien«57 gefallen war. Bastid wie andere Akteure und Akteurinnen des CNE und der ANAI fühlten sich aufgrund ihrer eigenen biografischen Verbindung zu Indochina von der Dokumentation persönlich angegriffen und sahen ihr eigenes Wirken in Indochina durch die Dokumentation gedemütigt. Um sich gegenüber solchen Darstellungen zur Wehr zu setzen, bezogen sich die Mitglieder des CNE und der ANAI daher auf die positiven Errungenschaften der kolonialen Vergangenheit in Indochina. Darüber hinaus gab es für Hélène Bastid zugleich lange bestehende »französischvietnamesische Gemeinsamkeiten«58 , die nicht mit der in der Serie geäußer55

56 57 58

Siehe beispielsweise den Kommentar des ehemaligen Generals Jean Delaunay zu den Filmen von Henri de Turenne, worin er die Dokumentation als Verdrehung der Tatsachen beschreibt und darstellt, dass durch diese Verdrehungen das nationale Bewusstsein zerstört würde: Jean Delaunay: Histoire, télévision et défense nationale, in: Le Monde, 06.03.1984. Hélène Bastid: Activités de l’A.N.A.I. Action contre la falsification de l’histoire de la France en Indochine, in: Bulletin de l’A.N.A.I., 1984, 2. Ebd. Ebd.

189

190

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

ten Kritik zusammenpassten. Bezogen auf die Flüchtlingsaufnahme zeigt sich an diesen Auseinandersetzungen deutlich, wie stark das Engagement für die Flüchtlinge in eben diesen Kontext kultureller Auseinandersetzungen eingebettet werden muss. Aus Sicht der Mitglieder des CNE und der ANAI war die Flüchtlingshilfe eng mit ihrer eigenen Biografie und Sympathie für die Region verbunden. Darüber hinaus konnten die kolonialen Akteure und Akteurinnen durch die Flüchtlingsaufnahme ihre Kritik an der Dokumentation noch verdeutlichen und zugleich eine Brücke zwischen der Legitimierung ihres eigenen vergangenen Wirkens in Indochina und der Gegenwart des laut Hélène Bastid »gefesselten Landes«59 schlagen, aus dem Millionen von Vietnamesen nach Frankreich geflohen seien.

4.2 Ideelle Traditionslinien in der Flüchtlingsaufnahme – Stereotype, Rassismus und koloniale Vergangenheit Die britische Historikerin Nicola Cooper analysierte bereits, wie koloniale Stereotype sich unter anderem in der Aufnahme von Indochinois äußerten und wie weit koloniale Nostalgie in der französischen Bevölkerung verbreitet war.60 Dabei geht sie davon aus, dass der Grund dafür, dass Asiaten in Frankreich nicht als Teil des Migrationsproblems erfasst wurden, in der kolonialen Wahrnehmung der Indochinois und Indochinas als einem kolonialen Fantasieprodukt fußte.61 Gerade bei den Akteuren und Akteurinnen vom CNE und der ANAI äußerten sich solche ideellen Traditionslinien kolonialer Herrschaft in Indochina, teilweise in Verbindung mit global zirkulierenden Vorurteilen. Dass diese Stereotype in Frankreich auf fruchtbaren Boden fielen, lag unter anderem daran, dass Indochina im Rahmen einer lange bestehenden populärkulturellen Verarbeitung etwa in den Kolonialausstellungen62 oder 59 60 61 62

Ebd. Nicola Cooper: France in Indochina. Colonial Encounters, Oxford, New York: Berg 2001, S. 177–220. Ebd., S. 194. Siehe zu den Kolonialausstellungen weiterhin: Sandrine Lemaire/Pascal Blanchard, Exhibitions, expositions, médiatisation et colonies (1870–1940), in: Pascal Blanchard/ Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France. De la Révolution Francaise à nos jours, Paris: CNRS Éditions 2008, S. 111–119; Alain Ruscio: Du village à l’exposition. Les Français à la rencontre des Indochinois, in: Pascal Blanchard et al. (Hg.): Zoos humains et exhibitions coloniales. 150 ans d’inventions de l’Autre, Paris: La

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

in der Literatur und Musik63 bereits zu einem kolonialen Fantasieprodukt geworden war, woran die stereotype Wahrnehmung durch die Akteure und Akteurinnen von CNE und der ANAI anschloss. Damit beeinflussten sie die Wahrnehmung der südostasiatischen Flüchtlinge in der französischen Politik und Gesellschaft. Über solche Formen der stereotypen Wahrnehmung versuchten die Akteure und Akteurinnen die Aufnahme zu legitimieren, indem sie beispielsweise die hohe Integrationsfähigkeit der Flüchtlinge beschrieben. Zugleich determinierten solche Stereotype auch, in welche Beschäftigungssektoren das CNE die Flüchtlinge zu vermitteln versuchte. Darüber hinaus zeichneten sich auch in der Unterstützung von Kulturarbeit durch das CNE kolonialnostalgische Muster ab, die sich unter anderem in der Unterstützung von Kulturpflege äußerten.

Facetten einer stereotypen Wahrnehmung der südostasiatischen Flüchtlinge Koloniale Stereotype und Rassismus äußerten sich im Rahmen der Aufnahme südostasiatischer Flüchtlinge in Frankreich bei den Personen, die sich im Rahmen des CNE oder der ANAI engagierten. So waren es in der Anfangsphase des Prozesses vor allem die Akteure und Akteurinnen des CNE, die koloniale Stereotype und ethnisierende Charakterisierungen im Zusammenhang mit der Aufnahme nutzten. Dies lag einerseits daran, dass die im CNE aktiven Personen sich bemühten, über positive stereotype Zuschreibungen höhere Aufnahmezahlen und die Weiterführung der politischen Unterstützung zu erreichen. Die kolonialen Akteure verwendeten stereotype Wahrnehmungsmuster, um den Integrationserfolg der Flüchtlinge zu erklären. Dies zeigte sich sehr anschaulich in den Anfang der 2000er Jahre veröffentlichten Büchern von Claude Gilles. Seine zehn Jahre nach dem Ende der Aufnahme publizierten Bücher auf Basis seiner Erfahrungen und Erinnerungen offenbaren, dass er von seinen stereotypen Wahrnehmungen auch mit zeitlichem Abstand

63

Découverte 2011, S. 308–316; Steve Ungar, L’Exposition coloniale (1931), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France, S. 259–268. Delphine Robic-Diaz/Alain Ruscio, Cinéma, chanson, littérature post-coloniaux. Continuité ou rupture? (1961–2006), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France, S. 677–682; Alain Ruscio, Littérature, chansons et colonies (1900–1920), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France, S. 131–152.

191

192

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

zutiefst überzeugt war. Gilles beschrieb die Begeisterung der französischen Bevölkerung und verwies wie folgt auf den guten »Ruf der Asiaten«: »Im Juli 1979 mobilisierten sich infolge der Aufrufe der Medien […] und des Episkopats […] viele Gemeinden, Pfarreien und Vereine und schufen Strukturen […], um eine Flüchtlingsfamilie in Städten und ländlichen Gebieten aufzunehmen. Noch nie zuvor und nie mehr danach hat die französische Bevölkerung eine solche Begeisterung gezeigt, um Ausländer aufzunehmen. Die Gründe für diese Begeisterung sind vielfältig. Asiaten hatten in Frankreich schon immer einen guten Ruf, wegen ihrer hoch entwickelten Zivilisation, ihrer Kultur, ihres Lächelns, ihrer Höflichkeit, ihrer toleranten Religion, dem Buddhismus. Die ehemaligen Soldaten Indochinas haben alle die Nostalgie dieser Länder und Bevölkerungen bewahrt, trotz eines sehr harten Krieges.64 Die Art und Weise, wie Gilles die Besonderheiten der »begeisterten Aufnahme« auf den »Ruf der Asiaten« sowie die koloniale Geschichte und Nostalgie zurückführt, zeigt bereits die groben Züge seiner Interpretation der wohlwollenden Aufnahme, die er in seinen drei Büchern immer wieder zur kolonialen Vergangenheit in Bezug setzte. Darüber hinaus vertiefte er die stereotypen Beschreibungen der einzelnen Flüchtlingsgruppen, um die »Kultur und Mentalität [der Flüchtlinge] besser zu kennen und ihren Wegen besser folgen zu können«65 . Dabei unterscheidet Gilles zwar zwischen den drei Nationalitäten, greift aber bei diesen Beschreibungen deutlich auf weitere Stereotype zurück, um dem Leser oder der Leserin das Verhalten der einzelnen Flüchtlingsgruppen zu erklären. In einem Abschnitt über die Kambodschaner beschreibt Gilles die kambodschanischen Flüchtlinge als sehr schüchtern. Zugleich geht er darauf ein, dass die Khmer immer ein geheimnisvolles Lächeln trügen, um ihr Gesicht zu wahren, und dass ihnen Höflichkeit gegenüber Älteren sehr wichtig sei. Außerdem erörtert Gilles, dass die Khmer als Bauern ihren Boden lieben, sie immer gerne laute Musik und Geräusche um sich haben, dass es bei den Khmer keine Idee von Gemeinwohl gebe, wohingegen die Familie die wichtigste Institution darstelle. In einem darauffolgenden Vergleich zu den »gemischten«66 Sino-Khmer, die laut Gilles sehr fleißig seien, erörtert er, dass

64 65 66

Claude Gilles: Cambodgiens, Laotiens, Vietnamiens de France. Regard sur leur intégration, Paris: L’Harmattan 2004, S. 23. Ebd., S. 29. Ebd., S. 32.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

»reine Khmer«67 der Arbeitswelt keine Bedeutung beimessen und ein Problem mit dem Glücksspiel haben.68 Seine Beschreibungen lassen keine Zweifel daran, dass er die aufgenommenen kambodschanischen Flüchtlinge als sehr gutmütige und höfliche, jedoch etwas rückständig und deshalb teilweise Lastern zugeneigte Menschen sah, die größtenteils vom Land kamen. Trotz der fehlerhaften Charakteristiken, die er den Khmer beispielsweise unter Bezug auf das Glücksspiel zuschreibt, geht Gilles letztlich davon aus, dass vor allem Höflichkeit und Zurückhaltung für die positive Aufnahme seitens der französischen Bevölkerung mit verantwortlich waren. Die Erklärungskraft, die Gilles solchen Stereotypen beimisst, zeigt, wie gewichtig diese für seine Wahrnehmung des Prozesses waren. Dass solche stereotypen Wahrnehmungen in der französischen Gesellschaft verankert waren, zeigt sich auch an einem Zeitungsartikel über zwei kambodschanische Flüchtlinge, den die Zeitung Le Monde 1985, als der Diskurs über die Flüchtlinge ambivalenter wurde, abdruckte. Der Artikel stellt vor allem die Unterschiede zwischen den beiden Flüchtlingen dar: »Der wohlhabende Kaufmann ist Sino-Kambodschaner, der Arbeitslose am Ende seiner Rechte ist Khmer.«69 Bis hin zum Aussehen von »Pran, dem echten Khmer vom Land mit dunkler Hautfarbe«70 , hob die Autorin die vielfältigen Unterschiede im Lebensstil, der Kultur und den Ressourcen zwischen Khmer und SinoKhmer in Paris hervor. Dabei lag der Schwerpunkt des Artikels vor allem auf den ökonomischen Aktivitäten und Ressourcen der beiden Flüchtlinge. Während die Autorin die Khmer, die »zu Hause Bauern oder kleine Beamte [waren] und die Schwarzarbeit [verabscheuten]«, als arm und ehrlich beschrieb, waren die Chinesen laut Verfasserin gewiefte Geschäftsmänner, die kleine Betriebe führten und gleichzeitig von der französischen Sozialhilfe lebten, während sie »versuchten, ihre Familienmitglieder nachzuholen [indem sie] 10.000 Francs an einen Schleuser zahlten [und] juristische Prozeduren zur Einwanderung im Rahmen von ›Familienzusammenführung‹ anstießen.«71 Da seit Anfang der 1980er Jahre die Angst vor den ökonomischen Flüchtlingen wuchs, betteten sich solche stereotypen Beschreibungen in diese Diskurse ein und befeuerten zugleich die Wahrnehmung, dass ein Teil der Flüchtlinge, nämlich

67 68 69 70 71

Ebd. Ebd., S. 32–35. Chantal Blandin: Les galettes et le riz de l’exil, in: Le Monde, 14.10.1985. Ebd. Ebd.

193

194

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Chinesen und Sino-Khmer, in genau diese Kategorie einzuordnen seien und sie dementsprechend keinen Anspruch auf die unter der linken Regierung immer knapper werdenden Aufnahmeressourcen haben sollten. Die Beschreibungen der »asiatischen Kulturen und Mentalitäten«72 in Gilles Büchern sollten auch der seiner Meinung nach notwendigen Unterscheidung zwischen Kambodschanern, Laoten und Vietnamesen dienen, die, wie er in seinem Buch »De l’enfer à la liberté« (Von der Hölle zur Freiheit) schreibt, von der französischen Bevölkerung häufig nur als chinois73 wahrgenommen würden. Diese amalgame Wahrnehmung aller asiatiques bestehend aus Laoten, Kambodschanern, Vietnamesen und Chinesen war ein generelles Phänomen in der französischen Gesellschaft und zeigt, wie stark das Fantasiebild Indochinas, in dem sich nicht die Realität sondern eine imaginierte Realität äußerte, in Frankreich verbreitet war.74 Doch auch wenn Gilles laut eigenen Angaben versuchte, diese amalgame Wahrnehmung zu durchbrechen, wodurch er zugleich seinen Status als Experte für die Region Südostasien untermauerte, schreibt er an einer anderen Stelle davon, dass »man feststellen könnte, dass die asiatische Logik nicht die französische«75 sei. Dementsprechend bewegte sich Gilles Wahrnehmung ebenfalls wie eine Variable, die zu einem bestimmten Grad sowohl Verallgemeinerungen als auch Differenzierungen zuließ. Dabei basierten diese Differenzierungen vor allem auf kulturellen Unterschieden, die durch die ethnische Zugehörigkeit determiniert wurden. Des Weiteren weisen die Einschätzungen, die Gilles über die Flüchtlinge verfasste, Parallelen sowohl zu kolonialen französischen Wahrnehmungsmustern als auch zu global zirkulierenden Diskursen auf. So waren seine Einschätzungen der Flüchtlinge von Stereotypen geprägt, die sich seit der Kolonialzeit auch in Wissenschaft und Populärkultur wiederfanden und die auf langen Traditionslinien einer exotisierenden Wahrnehmung des kolonialen Anderen begründet waren.76 Die Historikerin Nicola Cooper weist beispielsweise nach, dass das koloniale Stereotyp von den Südostasiaten als »unterwürfige,

72 73 74

75 76

C. Gilles: Cambodgiens, Laotiens, Vietnamiens de France, S. 29–31. C. Gilles: De l’enfer à la liberté, S. 17. Siehe auch: Pierre-Jean Simon: L’indochine française. Bref aperçu de son histoire et des représentations coloniales, in: Hommes et Migrations 1234, November-Dezember (2001), S. 14–22, hier S. 19–20; S. Nann: Les Cambodgiens en France. C. Gilles: Cambodgiens, Laotiens, Vietnamiens de France, S. 29. Vgl. hierzu folgenden, sehr umfangreichen Sammelband: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

gelassene [und] friedliche Bauern«77 , wie sie sich ebenfalls in den Ausführungen von Gilles finden lassen, weit in der französischen Gesellschaft verbreitet war. Dagegen weisen die von Gilles beschriebenen negativen Stereotype, wie beispielsweise die Neigung zum Glücksspiel, Parallelen zu Topoi der globalen Populärkultur auf. Ausgehend von einem stark von Hollywood-Filmen der 1920er Jahre beeinflussten naiven Exotismus, verwendeten beispielsweise auch französische Filmemacher Stereotype, wie Glücksspiel, illegalen Handel und Grausamkeiten, um den asiatischen Raum zu charakterisieren.78 Diese Anknüpfung der Zuschreibungen sowohl an die koloniale Erfahrung als auch an globale amalgamierte Stereotype über die »Asiaten« zeigt die weit verzweigte Verbreitung dieser Wahrnehmungsmuster. Dennoch charakterisierte Gilles die Kambodschaner in seinen Büchern ja gerade vor dem Hintergrund der Autorität eines französischen Staatsbürgers, der sowohl Augenzeuge in der Kolonie gewesen war als auch in Frankreich in der Flüchtlingsaufnahme gearbeitet hatte, und durch diese persönliche Erfahrung erhielten seine Darstellungen für sein französisches Lesepublikum einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit. Auch bei den kolonialen Akteuren und Akteurinnen des CNE hatten stereotype Wahrnehmungen eine legitimierende und zugleich die Praxis determinierende Funktion in der Flüchtlingsaufnahme und für die ökonomische Integration der Flüchtlinge. Wenn es um die Legitimierung des gesamten Unterfangens ging, leistete das CNE stereotypen Wahrnehmungen Vorschub, um beispielsweise gegenüber dem Staat die Weiterführung der Flüchtlingsaufnahme oder die Forderung nach einer Erhöhung der Aufnahmezahlen zu begründen. So verwies Jean Sainteny beispielsweise gegenüber der Regierung unter Giscard d’Estaing schon 1976 darauf, dass sich »die Eingliederung [der Flüchtlinge] in die französische Gesellschaft unter den besten Bedingungen vollzieht« und ihre »Präsenz großen Anklang bei der französischen Bevölkerung findet«, was vor allem an den »persönlichen Qualitäten dieser Flüchtlinge«79 liege. Einerseits wollten die CNE-Akteure und -Akteurinnen mit solchen Zuschreibungen die Regierung bestärken, dass sich das

77 78

79

N. Cooper: France in Indochina, S. 194. Zur Frage der populären Wahrnehmung Indochinas in Frankreich siehe: Olivier Barlet/Pascal Blanchard: Rêver. L’impossible tentation du cinéma colonial (1920–1950), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France, S. 182–195; Beate Weghofer: Cinéma Indochina. Eine (post-)koloniale Filmgeschichte Frankreichs, Bielefeld: transcript 2010. Yves Cannac: Notiz »Immigration vietnamienne«, 11.02.1976, ANF.

195

196

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Engagement für die Flüchtlinge lohne und daher auch eine Weiterführung des Engagements sinnvoll sei. Andererseits war das CNE davon überzeugt, dass diese Charakteristiken der Flüchtlinge für eine insgesamt bessere Integration verantwortlich waren, als dies bei anderen Migrationsgruppen der Fall war. Denn für das CNE stand fest, dass die »Eingliederung dieser Asiaten [nirgends] zurückweisende oder rassistische Reaktionen nach sich zog«, was »ohne Zweifel auf ihre Diskretion, Flexibilität und Intelligenz«80 zurückzuführen sei. Doch über die Fähigkeit, sich gesellschaftlich einzugliedern, zog das CNE solche stereotypen Charakterisierungen auch heran, um das ökonomische Integrationspotenzial der Flüchtlinge hervorzuheben. Die hohe Bedeutung des ökonomischen Integrationspotenzials lag darin begründet, dass es sich bei der schnellen Integration in den Arbeitsmarkt, wie im zweiten Kapitel bereits dargelegt, um den erklärten Wunsch und das Ziel der Regierung handelte, die sich um die Auswirkungen der Aufnahme in einem von der Wirtschaftskrise gebeutelten Frankreich sorgte. Dies war dem CNE bewusst: »Die meisten Flüchtlinge haben sich vor Ende des sechsmonatigen Aufenthaltes [in den CPHs] erfolgreich in das französische Wirtschaftsleben integriert und sind ›flügge geworden‹. Es ist überraschend, dass sie auch in von Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen Beschäftigung in der Landwirtschaft, der Industrie, im Handwerk oder in den freien Berufen finden. Es handelt sich um intelligente, mutige und anpassungsfähige Arbeitskräfte. Die Familien sind entschlossen, sich ein zweites Leben in einer freien Welt aufzubauen: Sie haben absolut kein Anspruchsdenken.«81 Die hohe ökonomische Integrationsfähigkeit war auch gerade deshalb so bedeutsam, weil die Regierung unter Giscard d’Estaing in dieser Zeit bemüht war, andere Migrationsgruppen, allen voran die sogenannten Arbeitsmigranten, zur Rückreise in ihre Ursprungsländer zu bewegen, was nach dem Ende der legalen Migration nach Frankreich im Jahre 1974 ein weiterer Schritt zur Ausweisung unerwünschter Einwanderer war.82 Dabei waren auch die durch

80 81 82

CNE: Notiz an den Präsidenten der Republik »Situation des réfugiés dans le monde«, 14.12.1979, 1852INVA-63, CADC. CNE: »Synthèses de l’accueil des réfugiés«, 14.11.1979, 1852INVA-63, CADC. Alec G. Hargreaves: Immigration, ›Race‹ and Ethnicity in Contemporary France, New York: Routledge 1999; P. Weil: La France et ses étrangers.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

die Gesetze von Christian Bonnet und Lionel Stoléru83 anvisierten Migrationsgruppen, allen voran die Menschen aus den sogenannten Maghrebstaaten, von rassistischen und negativen Stereotypen betroffen, durch die ganze ethnisch-nationale Gruppen als Straftäter charakterisiert wurden.84 Dies zeigte sich auch in einer Studie, die darauf verwies, dass die politisch Verantwortlichen die südostasiatischen Flüchtlinge im Gegensatz zu den traditionellen Arbeitsmigranten und -migrantinnen als »fügsamer« einstuften.85 Des Weiteren sah der französische Staat die Migranten und Migrantinnen aus den sogenannten Maghreb-Staaten bereits seit Ende des Algerienkrieges als Gefahr für die innere und äußere Sicherheit. Diese Idee verstärkte sich ab 1979 mit dem Aufkommen massiver Arbeitslosigkeit und der iranischen Revolution, als der französische Staat begann das »Migrationsproblem mit der islamistischen Gefahr zu verknüpfen«86 . Die stereotype Wahrnehmung der südostasiatischen Flüchtlinge, die die kolonialen Akteure propagierten, bot dementsprechend gerade auch in Abgrenzung zu den Stereotypen über andere Migrationsgruppen eine Möglichkeit zu erklären, warum die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge unterstützenswert war. Die Stereotype, mit denen allen voran das CNE die Flüchtlinge wahrnahm und beschrieb, entwickelten im Zusammenhang mit der ökonomischen Integration der Flüchtlinge zugleich eine determinierende Kraft. Die CNE-Akteure und -Akteurinnen leiteten aus den angenommenen typischen Charakteristiken der Flüchtlinge und ihren kulturellen und sprachlichen Möglichkeiten besondere Eignungen für den Arbeitsmarkt ab. Dies äußerte sich beispielsweise darin, dass sie häufiger versuchten, südostasiatische Flüchtlinge in das

83

84

85 86

Lionel Stoléru war von 1977 bis 1981 als Staatssekretär für manuelle Arbeiter und Migranten zuständig. 1977 setzte Stoléru eine Prämie von 10.000 Francs für Migranten aus, die in ihre Heimat zurückkehren wollten. Christian Bonnet war von 1977 bis 1981 Innenminister Frankreichs. 1980 erließ er ein Gesetz zur »Prävention illegaler Migration« durch das er die Einreisebestimmungen für Frankreich restriktiver gestaltete. Darüber hinaus erlaubte das Gesetz, Personen, die sich irregulär in Frankreich aufhielten, abzuschieben und zuvor in Abschiebehaft zu setzen. Pascal Blanchard et al.: L’immigration. L’installation en métropole des populations du Maghreb (1946–1961), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France, S. 461–479, hier S. 464–466. J.-P. Masse: L’exception indochinoise, S. 114–115. Mathieu Rigouste: L’armée et la construction de l’immigration comme menace, in: Pascal Blanchard/Nicolas Bancel (Hg.): Culture post-coloniale, S. 113–124, hier S. 116–117.

197

198

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Hotelgewerbe zu vermitteln, »da ihre Qualitäten für diese Art von Arbeit perfekt geeignet«87 seien. Bei einem Blick auf die weiteren Vermittlungsangebote des CNE fällt auf, dass südostasiatische Flüchtlinge neben dem Hotelgewerbe vor allem in großen Fabriken, wie beispielsweise Citroën, anfingen, am Fließband zu arbeiten und in den Dienstleistungssektor vermittelt wurden, wo sie unter anderem in Änderungsschneidereien, in Restaurantbetrieben, als Hausangestellte oder in Reinigungsfirmen Beschäftigung fanden.88 Dieser Zusammenhang zwischen stereotyper Wahrnehmung und ökonomischer Integration zeigt, dass die durch ihre koloniale Vergangenheit beeinflussten CNE-Akteure und -Akteurinnen ihre stereotype Wahrnehmung in eine ganz bestimmte Aufnahme- und Integrationspolitik einfließen ließen. Damit blieben Stereotype nicht allein Wahrnehmungsmuster, sondern sie übersetzten sich in reale Handlungen und determinierten für Teile der Flüchtlinge, in welchen Arbeitsbereichen sie ihr Leben in Frankreich begannen.

Flüchtlingsaufnahme, Kulturpflege und koloniale Nostalgie in Frankreich Das Engagement für die Flüchtlinge aus Südostasien war für die kolonialen Akteure und Akteurinnen nicht nur eine Form humanitärer Hilfe den ehemals kolonialen Subjekten gegenüber, denen sie sich weiterhin verbunden fühlten. Gerade die koloniale Nostalgie für Indochina und das Gefühl einer tiefen Verbundenheit mit den Menschen der Region wirkte sich dahingehend aus, dass sich viele der in den Reihen des CNE und der ANAI engagierten Personen in der Flüchtlingsaufnahme betätigten und die Aufnahme der Flüchtlinge als ehrenvolle Aufgabe begriffen. Gekoppelt war diese Nostalgie an die medial verbreitete Wahrnehmung, dass die Kulturen Südostasiens, insbesondere die Kultur der Khmer, dem Untergang geweiht schienen. Aus diesem Grund engagierte sich das CNE auch im Bereich der Kulturpflege und unterstützte die Flüchtlinge darin, ihre Sprache und traditionellen Tänze zu bewahren. Bei vielen der Anciens d’Indochine – Militärangehörige wie auch Zivilisten, die in Südostasien gelebt hatten und für die das Ende der französischen Kolonien in Indochina gleichbedeutend mit einem Heimatverlust war – existierte

87 88

CNE: »Compte rendu de la réunion du conseil d’administration«, 23.02.1984, DIR 4/38, OFPRA. CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 13.01.1978, 1852INVA-63, CADC.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

eine tief empfundene koloniale Nostalgie und Sehnsucht nach Indochina.89 Diese äußerte sich laut dem populärwissenschaftlichen »Dictionnaire de la guerre d’Indochine« in metaphorischer Anlehnung an die Symptome von Tropenkrankheiten als das »Gelbe Leiden« (Mal jaune): »›Diejenigen, die sie [die Städte Saigon und Hanoi] liebten, und sie waren viele, zogen sich dort ein Leiden zu, von dem sie nicht genesen konnten, le Mal jaune. Eine Art Nostalgie, die in manchen Nächten voller Kakerlaken, in manchen Tagen der Verlassenheit zum Fieberschub wird.‹ Die meisten der Anciens d’Indochine bewahren, trotz des Krieges und ihres Leidens, in ihren Herzen die ergreifende Erinnerung an Indochina. Viele sprechen noch immer emotional darüber, als ob sie die Gerüche noch atmen würden, als ob sie vor den Spektakeln des indochinesischen Lebens stünden. Von der Metropole für mindestens zwei Jahre abgeschnitten, enttäuscht von den Nachrichten aus Frankreich, haben sich viele von ihnen ganz ihrer Mission der Befriedung verschrieben.«90 Diese Gefühle von Nostalgie gegenüber der südostasiatischen Region und ihrer Bewohner und Bewohnerinnen waren auch beim CNE und der ANAI stark verbreitet. Durch die häufig engen biografischen Verknüpfungen mit der ehemaligen Kolonie Indochina bei den Akteuren und Akteurinnen vom CNE und der ANAI, waren das gelebte Narrativ von Heimatverlust und dem Ende des kolonialen Unterfangens in Indochina sowie einer tiefgehenden kolonialen Nostalgie auch Teil des Engagements in der Flüchtlingsaufnahme. Dies verdeutlicht eine Rede des Staatssekretärs für die Angelegenheiten der Veteranen, Maurice Plantier, über die Feierlichkeiten zum Begräbnis des unbekannten Soldaten aus Indochina im Mai 1980, die die ANAI-Mitgliederzeitschrift im Rahmen eines groß angelegten Berichts über die Veranstaltung abdruckte:

89

90

Zur Frage der kolonialen Sehnsüchte, die sich mit Indochina verbanden und deren Vorgeschichte siehe u. a.: P. Blanchard/S. Lemaire/N. Bancel (Hg.): Culture coloniale en France; Pascal Blanchard/Éric Deroo: Le Paris Asie. 150 ans de présence de la Chine, de l’Indo-Chine, du Japon … dans la capitale, Paris: La Découverte 2004; P. Brocheux/ D. Heméry: Indochine; A. Ruscio: Du village à l’exposition. Vgl. außerdem die Untersuchung des Kolonialhistorikers Alain Ruscio zur kolonialen Nostalgie bei den piedsnoirs: A. Ruscio: Nostalgérie, S. 7–15. Michel Bodin: Dictionnaire de la Guerre d’Indochine 1945–1954, Paris: Economica 2004, S. 168–169.

199

200

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

»Er [der unbekannte Soldat] würde uns auch seine Zuneigung zu den Völkern der indochinesischen Halbinsel mitteilen: den Vietnamesen, den Laoten, den Kambodschanern […] Wie könnte man heute nicht auf die Nostalgie für Indochina und sein Volk verweisen, die all jene, Militärs und Zivilisten, die dort gelebt haben, in Erinnerung behalten. In ihren Herzen tragen sie die immense Frustration einer Liebe, die teilweise geteilt wurde, aber die nicht so erblüht ist, wie sie, zum Wohle aller Beteiligten, hätte blühen sollen. Das Unglück, das derzeit die indochinesischen Völker heimsucht, quält und bewegt alle Franzosen, aber, und ich weiß, dass ich es oft sage, vor allem Sie alle, die anciens d’Indochine, und es ist das Verdienst Frankreichs, dass wir eine terre d’accueil sind und bleiben, für diejenigen von ihnen, die hier im Exil leben. Frankreich war ihre zweite Heimat; durch die Last der Geschichte wird es zur ersten.«91 Koloniale Nostalgie und Flüchtlingsaufnahme standen in dieser Betrachtung in einer direkten Verbindung zueinander. Und der Personenkreis, zu dem Plantier bei den Feierlichkeiten sprach, war zugleich der Personenkreis, von dem Plantier sprach. Denn gerade bei dem Begräbnis des in Indochina gefallenen unbekannten Soldaten, das in Paris und im Pas-de-Calais unter anderem von Hélène Bastid, weiteren Mitgliedern der ANAI und ranghohen Mitgliedern der Armee besucht wurde, trafen sich die Akteure und Akteurinnen, die solche Erinnerungen an Indochina teilten und für die unter anderem das Engagement in der Flüchtlingshilfe eine Möglichkeit war, ihre positiven Erinnerungen an die Region in Wohltaten für die Flüchtlinge umzuwandeln. Im Rahmen dieser Verhandlung spielte auch die Vernichtung der südostasiatischen Kulturen eine bedeutsame Rolle. So machte das CNE in der Öffentlichkeit deutlich, dass Kambodscha durch die vietnamesische Besatzung und den Bürgerkrieg dabei sei, »seine Identität zu verlieren [und] bald nur noch in den Erinnerungen der Kambodschaner [existiere], die das Exil gewählt«92 haben. Aufgrund dieser Wahrnehmung unterstützte das CNE unter anderem die Arbeit von Gustave Meillon und Jean Letourneau, die das l’Institut de l’Asie du Sud-Est gegründet hatten, um der »systematischen Zerstörung nationaler Kulturen«93 in Südostasien entgegenzuwirken. Meillon und Letourneau blickten ähnlich wie andere Akteure und Akteurinnen des

91 92 93

Cérémonies en l’honneur du Soldat Inconnu d’Indochine, 1980, Bulletin de l’A.N.A.I. CNE: Informationsbrief an Unterstützer, 22.02.1985, DIR 4/38, OFPRA. CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 27.06.1980, 1853INVA-144, CADC.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

CNE auf eine lange Verflechtung mit Indochina zurück, da sie beide Teil des kolonialen Apparats in Indochina und Frankreich gewesen waren.94 Mit ihrer Arbeit versuchten die beiden, die Sprachen aus Indochina zu erhalten, und erstellten zu diesem Zweck Materialien, wie Wörterbücher und literarische Sammlungen, mit denen die Kinder der Flüchtlinge ihre Muttersprache lernen konnten. Diese Form der Kulturpflege verband vor allem Gustave Meillon mit der Möglichkeit, einer besseren Integration der Flüchtlinge in Frankreich, was mit Blick auf den dem republikanischen Ideal zugrunde liegenden Assimilationsgedanken außergewöhnlich war und in den Reihen des CNE umstritten. So äußerte der Politiker Léo Hamon in einer Sitzung des CNE seine Befürchtungen, dass die Flüchtlinge sich nicht richtig in Frankreich assimilieren könnten, wenn sie zu viel über ihre eigene Kultur und Sprache lernten. Diese Befürchtungen beschwichtigte Meillon wie folgt: »Die Flüchtlinge integrieren sich nur dann wirklich und harmonisch in die französische Gemeinschaft, wenn sie ihre eigene Kultur bewahren und wissen, wie sie ihre Muttersprache sprechen können.«95 Meillon war sich sicher, dass das republikanische Ideal der notwendigen Assimilation von Einwanderern und Einwanderinnen als Grundlage für die mündige Teilnahme an Politik und Gesellschaft im Fall der südostasiatischen Flüchtlinge nicht durch die Unterstützung von Kulturpflege gefährdet war. Vielmehr war die Pflege des kulturellen Erbes des ehemaligen Indochina eine Notwendigkeit für eine erfolgreiche Integration. Vor allem im Vergleich zur Wahrnehmung der Migranten und Migrantinnen aus den sogenannten Maghrebstaaten zeigt sich die Besonderheit dieser Sichtweise, da die französische Politik und ein Teil des gesellschaftlichen Diskurses diese Migranten und Migrantinnen bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einer

94

95

Während Meillon als kolonialer Verwaltungsbeamter in Indochina gearbeitet hatte und nach seiner Rückkehr ab 1948 als Sprachlehrer am Institut national des langues et civilisations orientales (INALCO) arbeitete, war Letourneau von 1950 bis 1953 als Minister für Indochina zuständig gewesen, wobei er die Indochinapolitik Frankreichs maßgeblich beeinflusste und versuchte, über die französische Intervention die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern sowie Indochina als Teil der Union française zu erhalten. Letzteres war der französische Versuch, die kolonialen Gebiete nach Vorbild des Commonwealth in einem Verbund zu erhalten, über den weiterhin wichtige Politikbereiche in den Kolonien, wie Außen-, Verteidigungs-, Justiz-, und Währungspolitik, durch Frankreich gesteuert werden sollten. CNE: Rapport conseil d’administration, 27.06.1980, CADC.

201

202

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

stereotypen und rassistischen Form als nicht integrierbar wahrnahmen. Eine Tendenz, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts weiter verfestigte.96 Durch die finanziellen Hilfen für traditionelle Tanz- und Musikgruppen versuchte das CNE außerdem, sowohl einen Beitrag zur kulturellen Bewahrung südostasiatischer Traditionen zu leisten als auch Werbung für die Flüchtlingsaufnahme in der französischen Öffentlichkeit zu machen. Das CNE begann in den 1980er Jahren, Gelder einzuwerben, um traditionelle kambodschanische und laotische Ensembles, die versuchten, ihre Kultur »zu bewahren und bekannt zu machen«97 , zu unterstützen. In einer internen Auswertung sprachen die CNE-Aktiven davon, dass die Gruppen und ihre Darbietungen immer größere Erfolge feierten, was »das steigende Interesse des französischen Publikums bewies«98 und wofür unter anderem »der asiatische Charme ein wichtiger Faktor«99 sei. Für das CNE war die Förderung der Kulturensembles demnach eine Möglichkeit, öffentlichkeitswirksame Werbung für die Sache der Flüchtlinge zu machen und zugleich Darstellungsformen in Frankreich zu präsentieren, die für die kambodschanische Kultur als typisch galten und die durch die Förderung in Frankreich ihren »Untergang«100 im Ursprungsland überdauerten. Diese Unterstützung bedeutete zugleich, dass die Akteure und Akteurinnen, die ihr »armes und liebes Indochina«101 noch aus der Kolonialzeit gekannt hatten, ein Stück der Kultur ihrer ehemaligen Heimat in Frankreich erneut erleben konnten. Noch deutlicher wird die Verbindung von kolonialer Nostalgie und Flüchtlingsaufnahme bei der Restauration des sogenannten Tempels102 der Erinnerung im Pariser Vorort Nogent-sur-Marne. Der Tempel, der 1984 abbrannte, 96

Siehe hierzu u. a.: P. Blanchard et al.: L’immigration; Lucas Hardt: Zwischen Räumen und Fronten. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1962, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, S. 155–175; Leo Lucassen: The Immigrant Threat. The Integration of Old and New Migrants in Western Europe since 1850, Urbana, Chicago: University of Illinois Press 2005, S. 171–196; Neil MacMaster: Colonial Migrants and Racism. Algerians in France, 1900–62, Basingstoke, London: Macmillan Press 1997, S. 1–21. 97 CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 23.02.1984, DIR 4/38, OFPRA. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 CNE: Informationsbrief Unterstützer, 22.02.1985, OFPRA. 101 H. Bastid: Le mot de la présidente, 1980, Bulletin de l’A.N.A.I. 102 Eigentlich handelte es sich bei dem Gebäude nicht um einen Tempel oder eine Pagode, sondern um den Nachbau eines traditionellen Gemeinschaftsgebäudes (Dinh) aus der Provinz Thudaumôt. Diese Gebäude waren der Mittelpunkt dörflichen Lebens in

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

war Anfang des 20. Jahrhunderts nordwestlich von Saigon gefertigt und nach Frankreich gebracht worden, um im Rahmen einer Kolonialausstellung erst in Marseille und dann in Paris gezeigt zu werden. Folgend nutzten Veteranenverbände den Tempel als Erinnerungsort, um der im Ersten Weltkrieg in Indochina gefallenen Soldaten zu gedenken. Die ANAI übernahm die Pflege und den Lobbyprozess zur Restauration des Tempels 1980, nachdem der Vorläuferträger – ein Verein mit Namen Souvenir Indochinois – kein Geld mehr hatte. Dadurch wurde der Tempel Teil der Gedenkarbeit und Erinnerungspolitik der ANAI.103 Die Restauration des Tempels war der ANAI laut Mitgliederzeitschrift von 1982 unter anderem deshalb so wichtig, weil die Flüchtlingsaufnahme in vollem Gange war und die Flüchtlinge sich über die Anlagen an ihre Heimat erinnern konnten: »Diese Restaurierung ist umso notwendiger, als der Zustrom von Flüchtlingen aus den drei indochinesischen Ländern Kambodscha, Laos und Vietnam es zwingend erforderlich macht, die Gesamtheit von Gebäude, Nebendenkmälern und Garten zu restaurieren, die […] ein kleines, aber reizendes und originalgetreues Stück dieses asiatischen Landes, das ihnen so sehr am Herzen liegt, wiedererstehen lassen.«104 Den Autor schien es dabei nicht zu stören, dass es sich bei dem Tempel um ein Bauwerk aus Vietnam handelte. Seiner Ansicht nach konnten sich alle drei Flüchtlingsgruppen mit diesem Bauwerk identifizieren und darin ein Stück verlorener Heimat finden. Diese Verklammerung verdeutlicht, dass der Tempel ein konstruiertes Abbild der vermeintlichen Heimat der Flüchtlinge darstellte und als ein solches Teil eines Fantasieproduktes Indochina war. Im letzten Absatz des Artikels wird auch deutlich, warum der Autor den Bezug auf diese Art und Weise herstellte oder genauer gesagt, für wen er dies eigentlich tat. Denn er lud »alle [die Leser und Leserinnen] ein, dort einen Spaziergang zu machen«105 und vor Ort in ihren Erinnerungen zu schwelgen: »Mit ein wenig Fantasie können die Mitglieder der A.N.A.I. gar nicht anders als auf ihre Vietnam und sie dienten sowohl für religiöse Zeremonien als auch für administrative Vorgänge und Gerichtsverfahren. 103 Zur Geschichte des Tempels siehe: Eric T. Jennings: Representing Indochinese Sacrifice. The Temple du Souvenir Indochinoise of Nogent-sur-Marne, in: Kathryn Robson/ Jennifer Yee (Hg.): France and »Indochina«. Cultural Representations, Lanham u. a.: Lexington Books 2005, S. 29–47. 104 Guy Demaison: Le temple du souvenir, in: Bulletin de l’A.N.A.I., 1982, 2. 105 Ebd.

203

204

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Jugenderinnerungen an diese Region zurückzublicken, von deren Landschaft sie sich eine Nostalgie bewahrt haben sowie eine tiefe und herzliche Sympathie für ihre Bewohner.«106 In dem Artikel zeigt sich deutlich, wie nah das Heimatbedürfnis der Flüchtlinge, das der Autor als Legitimationsstrategie für die Restaurierung heranzog, sowie die koloniale Nostalgie der ANAI-Mitglieder, für die der Tempel in dem Artikel als ein Sehnsuchtsort dargestellt wird, beieinander lagen. Die Flüchtlingsaufnahme und Flüchtlingshilfe stellten sich in dieser Verquickung als Ausgangspunkte dafür dar, dass auch koloniale Nostalgie einen Platz fand und sich im Kontext des Engagements für die geflohenen Personen aus Vietnam, Kambodscha und Laos ausleben ließ.

Die Kolonialzeit als gemeinsamer Referenzpunkt in der Flüchtlingsaufnahme Auch für die Flüchtlinge stellte die Kolonialzeit einen Referenzpunkt dar, aus dem sie Ansprüche auf Asyl und Unterstützung seitens der französischen Regierung ableiteten. Dies zeigte sich deutlich im Asylantrag einer Frau aus Battambang, den sie im Dezember 1980 beim Office français de protection des réfugiés et apatrides einreichte. Darin verwies sie auf die koloniale Verbindung der beiden Länder, als sie darauf aufmerksam machte, dass sie nicht nach Kambodscha zurückkehren könne und deshalb um Asyl in Frankreich bitte, wobei sie schrieb, dass Frankreich »auch nach Ansicht [ihrer] Eltern […] vor langer Zeit ein Wohltäterland meines lieben Heimatlandes, Kambodscha«107 gewesen sei. Auch wenn die 1963 geborene Antragstellerin die Kolonialzeit nicht mehr persönlich erlebt hatte, stellte sie mit diesem Hinweis gegenüber den Sachbearbeitern und Sachbearbeiterinnen beim OFPRA einen gemeinsamen historischen Bezugspunkt heraus. Dass sie dabei die Wohltätigkeit Frankreichs während der Kolonialzeit hervorhob, erscheint im Kontext eines Flüchtlingsantrages fast wie der Versuch, diese Beziehung zwischen wohlmeinendem Kolonisator und kolonialem Subjekt in den Kontext der Flüchtlingsaufnahme und noch spezifischer auf ihre Situation gegenüber den französischen Behörden zu übertragen. Diese Übertragung der kolonialen Verbindung in den Kontext des Engagements für die Geflohenen erscheint somit fast wie die Aufforderung, weiterhin existierende koloniale Verpflichtungen gegenüber den Flüchtlingen einzulösen. 106 Ebd. 107 Lam Ly: Antrag beim OFPRA, 03.12.1980, 89–12-06301, OFPRA.

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

Über den Verweis auf die geteilte koloniale Vergangenheit konnten Flüchtlinge auch zeigen, dass ihnen Sprache, Gesellschaft und Kultur Frankreichs vertraut waren, wodurch sie gegenüber dem französischen Staat unterstrichen, dass sie die Fähigkeiten hatten, sich schnell in das Leben in Frankreich einzufinden, sollten sie aufgenommen werden. Dies war beispielsweise bei dem Bittschreiben einer Gruppe von Flüchtlingen der Fall, die in der Administration in Pailin und Battambang gearbeitet hatten. Im Oktober 1975 sandten sie über einen Vermittler ein Bittschreiben an den Präsidenten Giscard d’Estaing, in dem die Unterzeichner um Aufnahme für sich und ihre Familien baten. Zu diesem Zweck verwiesen sie positiv auf die Kolonialzeit, indem sie Kambodscha als Teil der frankophonen Ländergemeinschaft darstellten und betonten, dass vor allem »die administrative Struktur eine gewisse Ähnlichkeit mit Frankreich«108 hätte. Gerade mit diesem Hinweis zeigten die Flüchtlinge geschickt, dass die postkoloniale Verbindung der frankophonen Länder,109 ihnen nicht unbekannt war und sie die darin vermittelten Kenntnisse und Werte verinnerlicht hatten. Um diesen Eindruck zu verstärken, verwiesen die Flüchtlinge im Weiteren auf die engen emotionalen Bindungen zwischen Kambodscha und Frankreich: »Wir haben die Gewohnheit, Ihr Land [Frankreich] wie unsere zweite Heimat zu lieben.«110 Die Verweise auf die Nähe zwischen Frankreich und Kambodscha sollten aufzeigen, wie nah die Flüchtlinge sich Frankreich fühlten, weil das französische Kolonialreich seine Spuren in Kambodscha hinterlassen hatte. Ungeachtet der bereits über 20 Jahre andauernden Unabhängigkeit Kambodschas verwiesen die Flüchtlinge gegenüber der französischen Regierung auf eine emotionale und bürokratisch-organisatorische Nähe zwischen den beiden Ländern, wodurch die Flüchtlinge sich in der Lage sahen beziehungsweise den Eindruck vermitteln wollten, schnell an das Leben in Frankreich anknüpfen zu können, um dadurch den Wert des eigenen Lebens für Frankreich sowie die eigene Zugehörigkeit zur französischen Lebenswelt hervorzuheben. Dementsprechend hatten die kolonialen Traditionslinien auch für die Flüchtlinge einen Wert, da sie diese als gemeinsame Referenzpunkte darstellen konnten und unter Verweis auf diese Traditionslinien einerseits auf die Verpflichtungen der

108 Nhim Nhek et al.: Brief von ehemaligen Bürokraten der Lon Nol Regierung an Valéry Giscard d’Estaing, [um 1975], AG/5(3)/902, ANF. 109 Gabrielle Parker, Francophonie et universalité. Évolution de deux idées jumelles, in: Pascal Blanchard/Nicolas Bancel (Hg.): Culture post-coloniale, S. 228–242. 110 Nhim Nhek et al.: Brief an Giscard d’Estaing, [um 1975], ANF.

205

206

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

ehemaligen Kolonialmacht gegenüber der ehemaligen Kolonie und den kolonialen Subjekten verweisen konnten und andererseits auch die eigene Nähe zur französischen Lebensweise sowie die damit verbundene Disposition zur schnellen Eingliederung in die französische Gesellschaft erklären konnten.

4.3 Fazit Die französische Kolonialzeit in Indochina überdauerte auf mehreren Ebenen und insbesondere über ehemalige zivile und militärische Akteure und Akteurinnen aus Indochina bis in die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge hinein. Insbesondere bei den Akteuren und Akteurinnen des CNE und der ANAI, die sich in diesem Bereich engagierten, zeigte sich ihre koloniale Vergangenheit augenfällig. Die Netzwerke, in denen sie sich für die Flüchtlinge einsetzten, waren deutlich von Verbindungen zu anderen ehemaligen kolonialen Akteuren und Akteurinnen geprägt, und auch in ihrer Zusammenarbeit mit der konservativen Regierung unter Präsident Giscard d’Estaing äußerte sich eine spezifische konservative Linie, durch die der Präsident versuchte, ein konservatives Gegengewicht, auch in den Reihen ehemalig kolonialer Akteure und Akteurinnen zu organisieren. Darüber hinaus wirkte die koloniale Vergangenheit sowohl über eine koloniale Nostalgie der Akteure und Akteurinnen sowie eine spezifische antikommunistische Erinnerungspolitik in der Flüchtlingsaufnahme als auch in der Art und Weise, wie CNE und ANAI diese organisierten, weiter. So waren die Flüchtlinge für die ANAI und das CNE einerseits lebende Beweise dafür, dass das französische Engagement in Indochina gerechtfertigt war. Andererseits konnten die Mitglieder von CNE und ANAI im Zusammenhang mit dem Engagement für die geflohenen Menschen aus Vietnam, Kambodscha und Laos auch eine koloniale Nostalgie befriedigen. Anhand der südostasiatischen Flüchtlingsmigration nach Frankreich lassen sich daher sowohl Rückschlüsse auf Muster und Wirkmächte postkolonialer Flüchtlingsmigration ziehen als auch ein größerer Zusammenhang zur Entwicklung der postkolonialen französischen Geschichte aufzeigen. Gerade in der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung, die auf die südostasiatische Flüchtlingskrise folgte, waren die Flüchtlinge ein moralisch aufgeladenes Symbol, um für konservative erinnerungspolitische Narrative zu argumentieren. Dadurch zeigten sich die Reste der kolonialen Vergangenheit nicht nur in der Praxis der Flüchtlingsaufnahme, sondern auch in der ideellen Überliefe-

4. Koloniale Traditionslinien im Engagement für die südostasiatischen Flüchtlinge

rung der Kolonialzeit sowie der erinnerungspolitischen Verhandlung kolonialer Geschichte in Frankreich. Diese ideelle Überlieferung der Kolonialzeit war auch abseits der erinnerungspolitischen Verhandlung bedeutsam. So vermittelten vor allem die kolonialen Akteure und Akteurinnen der ANAI und des CNE eine stereotype Wahrnehmung der Flüchtlinge, die zugleich in der kolonialen Erfahrung, ihrer Verarbeitung im Rahmen eines kolonialen Fantasieproduktes sowie in globalen Diskursen wurzelte. Die weit verzweigten Facetten dieser stereotypen Wahrnehmung äußerten sich dabei sowohl in einer paternalistischen Form als Legitimationsstrategie für die Flüchtlingsaufnahme als auch in einer Form, über die ethnischen Gruppen ein Anspruch auf die Ressourcen der Flüchtlingsaufnahme zu- oder abgesprochen wurde. Dabei galt die Beziehung zwischen der imperialen Vergangenheit und dem postkolonialen französischen Staat auch als ein Referenzpunkt für die Flüchtlinge, aus dem sich gegenüber der französischen Regierung Ansprüche ableiten ließen oder über den die Flüchtlinge ihr hohes Integrationspotenzial im Falle einer Aufnahme darstellen konnten. Die kolonialen Traditionslinien in der Flüchtlingsaufnahme zeigen eindrucksvoll, dass das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina kein wirkliches Ende kolonialer Geschichte bedeutete. Der französische Staat, unter anderem getragen von kolonialen Akteuren und Akteurinnen, die in der Gesellschaft und den politischen Institutionen aufgrund enger Verflechtungen mit der Regierung ein hohes Maß an Einfluss ausübten, war weiterhin geprägt von politischen und sozialen Handlungsmustern sowie Strukturen, die die koloniale Vergangenheit ihm vererbt hatte. Dass dieser Aspekt französischer Geschichte ein solches Gewicht in der Aufnahme entfaltete, zeigt darüber hinaus auch, wie deutlich Frankreichs sehr national-spezifische Geschichte als Faktor in dem Prozess der Aufnahme fungierte. Die engagierte Zivilgesellschaft kam damit nicht nur aus einem linken Spektrum, sondern auch aus einem rechts-konservativen Milieu. Dabei waren beide Lager deutlich von einer antikommunistischen und antitotalitären Einstellung geprägt.

207

Schlussbemerkungen

Auch wenn es in internationalen und europäischen Verträgen und Konventionen kein individuelles Recht auf Asyl gibt, gibt es doch ein Recht darauf, Asyl in einem anderen Land zu suchen, und ein Recht darauf, nicht abgeschoben zu werden, sollte dem Antragsteller oder der Antragstellerin im Ursprungsland Gefahr für Leib und Leben drohen. Allerdings begannen die Staaten der Europäischen Gemeinschaft, maßgeblich vorangetrieben von Frankreich und Deutschland, bereits seit Mitte der 1980er Jahre, spätestens aber seit den 1990er Jahren, die europäische Abschottungspolitik politisch zu konzipieren, sie haben sie durchgesetzt und schlussendlich zu einer gesetzlich legitimierten Realität gemacht.1 Paradoxerweise hielten sich die beteiligten Staaten bei der Etablierung ihrer Politik an die Vorgaben internationaler Menschenrechtsabkommen. Dazu richteten die Staaten ein komplexes Geflecht von subsidiären Schutzsystemen sowie erschwerten Visavergabe-Verfahren ein, wodurch die Bestimmungen internationaler Flüchtlings- und Menschenrechtsabkommen umgangen werden konnten. Denn dadurch, dass die Flüchtlinge schon vor den Außengrenzen der Europäischen Union von der Einreise abgehalten werden, können sie ihren Antrag zur Prüfung, ob ein Schutzanspruch besteht, gar nicht erst einreichen, und wo es keinen Antrag gibt, gibt es auch keine Pflicht zu schützen. Diese Realität bedeutet auch einen stetigen Anstieg von Todesfällen, wie die Zahlen des UNHCR zur Situation im Mittelmeer nahelegen, die von 27.695.000 Menschen sprechen, die im Zeitraum von 2013 bis 2023 beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren verschwanden oder verstarben.2 1

2

Siehe hierzu: P. de Bruycker: D’un système européen d’asile vers un droit européen; D. S. FitzGerald: Refuge beyond Reach; C. Lülf: Conflict Displacement and Legal Protection. UNHCR: Operational Data Portal. Refugees Situation. Mediterranean Situation, https ://data.unhcr.org/en/dataviz/95?sv=0&geo=0#_ga=2.102892288.1427098112.1674386 042-692131382.1657982168 (zuletzt geprüft am 22.01.2023).

210

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

In dieser Situation, in der sich die Bedeutung staatlicher Macht und staatlichen Handelns durch Grenzsicherung und die juristischen Fallstricke des europäischen Asylrechts verdeutlichen, nutzen zivilgesellschaftliche Organisationen, aber auch die betroffenen Flüchtlinge regelmäßig Menschenrechtsdiskurse als Verteidigungsstrategien, wodurch diese allgegenwärtig und auf das Engste verflochten mit dem erhobenen Anspruch auf Asyl sind. Dieser politische Kampf für die Wahrung der Menschenrechte von Flüchtlingen hat in den letzten vier Dekaden an Intensität zugenommen. Wie im vorliegenden Buch gezeigt wurde, hatten Menschenrechtsnarrative für die Aufnahme der kambodschanischen Flüchtlinge als Teil der südostasiatischen Flüchtlingsmigration, unabhängig davon, dass der französische Staat die Flüchtlinge koordiniert nach Frankreich holte, noch nicht die Bedeutung, die sie seit den 1990er Jahren besitzen und die sich ganz besonders in der europäischen Flüchtlingskrise der letzten Jahre zeigten. Im Rahmen dieser Untersuchung anhand des französischen Beispiels zeigten sich die ersten Ansätze einer solchen koordinierten Menschenrechtspolitik durch zivilgesellschaftliche Organisationen im Bereich der Flüchtlingsaufnahme ab Mitte der 1980er Jahre und diese Bewegung gewann bis in die 1990er Jahre an Kraft. Auch Stefan-Ludwig Hoffmanns zeichnete nach, dass die Menschenrechte erst in den 1990er Jahren ihren politischen Bedeutungsgehalt erreichten, wodurch er zugleich seine These von einem Durchbruch der Menschenrechte in dieser Dekade unterstützt.3 Anhand des in diesem Buch untersuchten Beispiels von Flüchtlingsaufnahme, das von den 1970er Jahren bis Ende der 1980er Jahre andauerte, lässt sich dahingegen zeigen, dass es nicht zielführend ist, den »Durchbruch der Menschenrechte« an einem genauen Zeitpunkt festzumachen, sondern dass es gewinnbringender ist, die langen Prozesse darzustellen, die zu aufeinanderfolgenden »Durchbrüchen« in verschiedenen Bereichen und zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten, führten. Denn globale Menschenrechtsdiskurse zeigten ihre Wirkungsmacht für die Flüchtlingsaufnahme vor allem im Zusammenspiel mit national spezifischen Faktoren und einer empathiegeleiteten Wahrnehmung der Krise in Südostasien. Auch wenn Menschenrechte immer wieder hervortraten, wenn Intellektuelle, Politiker und Politikerinnen von der Flüchtlingsaufnahme sprachen und für Aufnahme warben, waren sie für eine ganze Reihe von engagierten Akteuren und Akteurinnen in der Zivilgesellschaft und aus einem rechts-konservativen Spektrum

3

S.-L. Hoffmann: Human Rights and History, S. 302.

Schlussbemerkungen

eben nicht maßgeblich für ihre Bereitschaft, die Flüchtlinge aufzunehmen und gerade letztere Akteure trugen die Aufnahme auf der lokalen Ebene. Ganz unabhängig davon, wann der »Durchbruch« verortet wird, spielen Staaten und die Machtausübung von Regierungen über ein Staatsterritorium eine bedeutsame Rolle. Dieses Buch zeigt genau diese essenzielle Bedeutung eines Staates im Zusammenhang mit Flucht und vor allem folgenden Aufnahmeprozessen anhand der kambodschanischen Flüchtlingsmigration nach Frankreich in den 1970er und 1980er Jahren. Dazu wurden im ersten Kapitel die Darstellung der Krise in großen französischen Tageszeitungen sowie die Situation in Südostasien und vor allem in den thailändischen Flüchtlingslagern analysiert. Es wurde gezeigt, dass und wie französische Intellektuelle und humanitäre Akteure und Akteurinnen, deutlich von der Strömung der antitotalitären Wende in Frankreich sowie von der innerfranzösischen Vergangenheitsbewältigung beeinflusst, die empathiegeleitete Wahrnehmung der Krisensituation in Kambodscha und Thailand gezielt steuerten. Zugleich übertrugen diese Akteure die innerfranzösischen Verhandlungen auf die Situation vor Ort und insbesondere auf ihren politischen Kampf gegen das kommunistische Vietnam als aus ihrer Sicht totalitärem Aggressor. Auch wenn sich ein Teil dieser Akteure, darunter das Komitee Un bateau pour le Vietnam, in Frankreich für höhere Aufnahmeanstrengungen einsetzte und dies medial inszenierte, hatten ihre Maximalforderungen nach einer massiven Ausweitung des Engagements nur punktuell Einfluss auf die Politik der französischen Regierung und des französischen Präsidenten, die bemüht waren, die Aufnahmelasten über internationale Konferenzen, wie im Juli 1979 in Genf, breiter international zu verteilen. Somit stieß der Einfluss zivilgesellschaftlich und medial organisierter Handlungsnotwendigkeit durchaus an Grenzen staatlich politischer Praxis. Die Untersuchungen in diesem Kapitel verdeutlichten darüber hinaus auch, dass die Analyse von universellen Menschenrechtsideen und -diskursen deutlich besser funktioniert, wenn sie als Element eines politischen Kampfes verstanden werden, in dem ihre Universalität nicht einfach vorausgesetzt wird. So bezogen sich unterschiedliche Akteure – sowohl zivilgesellschaftlich als auch staatlich – zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf Empathiediskurse und Menschenrechte, um dadurch politische Ziele zu erreichen oder die Notwendigkeit der Flüchtlingsaufnahme in Frankreich darzulegen. Dabei variierten Gehalt und Bedeutung der Menschenrechtsdiskurse je nach Akteur deutlich. Dies zeigte sich beispielsweise daran, wie französische Intellektuelle oder die MSF in den thailändischen Flüchtlingslagern eine gezielte Steuerung

211

212

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

der Krisenwahrnehmung unter anderem zur Unterstützung ihres politischen Kampfes gegen Vietnam als angeblich totalitären Aggressor in der Region nutzten. Insbesondere die MSF zielten in ihrem Kampf dabei weniger auf das Recht der Flüchtlinge, Asyl in Frankreich zu erhalten, sondern darauf, dass ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sich in Südostasien, auch auf kambodschanischem Territorium, frei bewegen konnten, um den Opfern vor Ort Hilfe zu leisten. Auch die Art und Weise, wie die MSF die virtuelle Hungersnot und den Genozid in Kambodscha in ihren Kampagnen aufgriffen, zeigte, dass die MSF darüber Politik machten. Dass diese Form der Politik in Frankreich auf fruchtbaren Boden fiel, lag auch an der sehr präsenten Verhandlung von Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Diese Faktoren waren genauso wenig universell wie die Form von antitotalitärer Politik, die die französischen MSF daraus ableiteten, auch wenn ihre Kampagnen global rezipiert wurden. Die Rolle von Staaten ist essenziell, wenn es um die Analyse von historischen und gegenwärtigen Fluchtbewegungen und -aufnahmen geht, egal, ob Staatssysteme Menschen durch Gewalt zur Flucht zwingen, ob Staaten Flüchtlinge wohlwollend aufnehmen, wie im Fall der südostasiatischen Flüchtlingsmigration nach Frankreich, oder ob Staaten Flüchtlinge ausweisen und ihnen ein Recht auf Asyl verwehren. Die Bedeutung des französischen Staates mit all seinen personalen und institutionellen Akteuren wurde im zweiten Kapitel untersucht. Seine Bedeutung zeigte sich daran, dass die initiale Entscheidung der konservativen Regierung unter Präsident Giscard d’Estaing einen langfristigen Prozess startete, in dem Frankreich innerhalb von 15 Jahren 128.531 Menschen, davon 47.356 Kambodschaner und Kambodschanerinnen, aus dem ehemaligen Indochina4 aufnahm und ihnen darüber die Möglichkeit gab, ihre Rechte innerhalb des französischen Staatsverbandes wieder wahrzunehmen. Dabei waren es nicht nur Menschenrechtsdiskurse, die zu der Aufnahme führten. Vielmehr war ein Zusammenspiel von humanitärem Engagement, innenpolitischen Faktoren wie der Wirtschaftskrise und den Auseinandersetzungen mit der Union der Linken und einem postkolonialen staatlichen Rassismus verantwortlich für die von der französischen Regierung veranlasste Aufnahme der Flüchtlinge in Frankreich. Auch unter der folgenden linken Regierung spielten innenpolitische Faktoren wie die wirtschaftliche Rezession oder der Aufstieg der extremen Rechten eine bedeutende Rolle für das weitere Vorgehen in der Flüchtlingsaufnahme. Von Beginn des Prozesses an überlagerten die Vorgaben der französischen Regierung die 4

K. Meslin: Accueil des Boat People, S. 36.

Schlussbemerkungen

Kriterien internationaler Abkommen, denn sowohl die konservative wie auch die linke Regierung wollten sowohl beim Auswahlprozess in den Flüchtlingslagern als auch über ihre Institutionen in Frankreich, insbesondere über das OFPRA, die Kontrolle über den Aufnahmeprozess und die aufgenommenen Flüchtlinge behalten. Auf Menschenrechtspolitik und -diskurse griff die französische Regierung in diesem Zusammenhang allerdings höchstens in Form diplomatischer Rhetorik zurück, da sie vermeiden wollte, über Menschenrechte eine zu deutliche Form außenpolitischer Moralpolitik gegenüber anderen Staaten zu praktizieren, wie dies die USA taten, da dies ihrer Meinung nach den globalen und europäischen Entspannungsprozess gefährdete. Für die französische Regierung hatten die Flüchtlinge in diesem Zusammenhang eine symbolische Bedeutung, die zugleich die Wirkungsmacht der lange zurückreichenden und genuin republikanischen Traditionen der Terre d’Asile oder der Menschenrechtsideen der Französischen Revolution zeigte. Dabei zeigte sich allerdings auch, dass staatliches Handeln nicht einzig durch eine Regierung geformt wurde, sondern nur der Blick auf Regierung und Staatsapparat mit all seinen Akteuren und Akteurinnen sowie Institutionen erklären kann, wie sich staatliches Handeln konstituierte. Denn innerhalb des Staatsapparats differenzierten sich die Wahrnehmungen der Flüchtlinge, wie beispielsweise der Blick auf die Direktion des OFPRA offenbarte. So gab es innerhalb der Direktion von Anfang an Bedenken, ob die Flüchtlinge tatsächlich alle vrais réfugiés nach den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention seien, und diese Bedenken verstärkten sich mit der Zeit erheblich. Und auch bevor die Flüchtlinge überhaupt in Frankreich ankamen, gab es staatliche Akteure, die bei der Auswahl in den Flüchtlingslagern durchaus Handlungsspielraum in der Auslegung der staatlichen Kriterien besaßen und diesen nutzten. Somit war der Staat in seiner Gesamtheit mit allen handelnden Akteuren und Akteurinnen sowie Institutionen bedeutsam für die Aufnahmepraxis. Auch wenn die Idee universeller Menschenrechte sowie ihre jeweiligen zivilgesellschaftlichen Verteidiger und Verteidigerinnen in der neuen Menschenrechtsgeschichte häufig als eine Art Gegenstück zu staatlicher Macht betrachtet werden, ist dieser Dualismus wenig zielführend, er verstellt unter Umständen eher den Blick auf Nuancierungen. Diese Nuancierungen zeigten sich im Fall der Aufnahme südostasiatischer Flüchtlinge beispielsweise daran, dass die Aktivisten und Aktivistinnen des Komitees Un bateau pour le Vietnam und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen auf Entscheidungsprozesse des Staates einwirkten und sogar selber Teil staatlichen Handelns waren.

213

214

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Hier sind unter anderem die Institutionen zu nennen, die in Kooperation mit France terre d’asile für den französischen Staat die Aufnahme in den Centres provisoires d’hébergement durchführten, oder auch die Vielzahl privater zivilgesellschaftlicher Akteure und Akteurinnen, die sich in den Prozess einbrachten. Letztere übernahmen die Flüchtlingshilfe teilweise oder ganz vom Staat und gestalteten den Vorgang dadurch mit, wie anhand des Beispiels von der Organisation SIPAR aufgezeigt wurde. Durch den Fokus auf dieses Fallbeispiel konnte darüber hinaus auch ein Beitrag zur französischen Asyl- und Fluchtgeschichte geleistet werden. So wurde klar, dass die kambodschanischen Flüchtlinge und im erweiterten Sinne alle südostasiatischen Flüchtlinge deutlicher in die Untersuchungen zur Verschärfung des Asylrechts einbezogen werden müssen. Nicht alle Flüchtlinge aus Südostasien erhielten die gleiche wohlwollende Aufnahme, und ein Teil war ebenso von den Verschärfungen des Asylrechts betroffen wie andere Gruppen von Flüchtlingen. Die in der Forschung häufig anzutreffende Meinung, dass die südostasiatischen Flüchtlinge eine Ausnahme dargestellt hätten, muss somit stärker differenziert werden. Darüber hinaus zeigte sich umgekehrt, dass die französische Asyl- und Fluchtgeschichte von einer Öffnung hin zu Fragen der Menschenrechtsgeschichte profitiert, da hierüber deutlich die intellektuellen Umbrüche der 1970er und der 1980er Jahre in einen Bezug zu Fällen von Flüchtlingsaufnahme gestellt werden können. Genauso lassen sich über diesen Fokus Veränderungen im Verhältnis zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Flüchtlingsaufnahme und dem Staat nachvollziehen. Im dritten Kapitel dieses Buches wurde der Blick auf den staatlichen Rahmen noch vertieft, indem Prozessdynamiken und Akteure analysiert wurden, die teilweise in Kooperation mit und teilweise in Konfrontation zum Staat den Aufnahmeprozess auf der lokalen Ebene durchführten. Darüber hinaus zeigte sich sowohl bei diesen Akteuren als auch bei den Flüchtlingen, dass die Wahrnehmung der Hilfen nicht im Rahmen eines Menschenrechtsverständnisses verankert war. Lokale Organisationen trugen in Zusammenarbeit mit der Organisation France terre d’asile den Aufnahmeprozess. Dies zeigte sich am Beispiel des Centre provisoire d’hébergement, dem Foyer Guy Houist in Rennes. Innerhalb dieser lokalen Institutionen bildeten sich teilweise ganz eigene und lokal beschränkte Formen aus, um auf die staatlichen Vorgaben zu reagieren und diese in Übereinstimmung mit den lokalen Gegebenheiten zu bringen, indem die Direktion beispielsweise auf Forderungen der Flüchtlinge einging und nationale Vorgaben bei Nichterfüllbarkeit flexibler handhaben konnte. Zugleich

Schlussbemerkungen

stimmten die Sichtweisen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Foyer Guy Houist in vielen Bereichen des Integrationsprozesses mit den Vorgaben der Regierung überein, wodurch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen diese Vorgaben als ihr persönliches Anliegen betrachteten. Ähnlich stellte sich die Situation auch bei privaten Akteuren und Akteurinnen dar. Je mehr Privatpersonen in den Prozess hineindrängten, desto mehr vergrößerte sich das Aufnahmedispositiv sowie die Reibungspunkte mit den staatlichen Stellen und der Regierung. Dies zeigte sich anhand der Untersuchung der privaten Akteure und Akteurinnen innerhalb der Organisation SIPAR. Kontrolle, Konflikt und Kooperation mit dem Staat waren dadurch maßgebliche Faktoren für die Ausgestaltung des Aufnahmeprozesses und formten diesen deutlich mit. Zugleich zeigte sich bei der Untersuchung der lokalen Ebene des Prozesses auch, dass Menschenrechtsideen und -diskurse als Grundlage für Flüchtlingshilfe auf dieser Ebene nicht sehr weit verbreitet waren und dass die Untersuchung mehrerer Ebenen, insbesondere in der zeithistorischen Menschenrechtsforschung, durchaus sinnvoll ist, um die Bedeutung von Menschenrechtsdiskursen ab den 1970er Jahren in eine Relation zur regionalen und lokalen Wahrnehmung dieser Menschenrechtsdiskurse zu setzen. Für private Akteure und Akteurinnen der Organisation SIPAR spielte beispielsweise der christliche Glaube eine weitaus bedeutendere Rolle für das Engagement. Durch die Untersuchung der Wirkungsmacht und der Bedeutung von Menschenrechtsdiskursen und Menschenrechtsideen auf unterschiedlichen Analyseebenen wurde dementsprechend nachgewiesen, dass der Aufstieg der Menschenrechte nicht geradlinig und synchron verlief, sondern dass es zu dem Zeitpunkt, an dem Menschenrechte in einigen Bereichen bereits eine belegbare Wirkungsmacht erzielten, wie dies beispielsweise in den Erfolgen von Amnesty International seit den 1970er Jahren deutlich wird, sie diese Wirkungsmacht in anderen Bereichen des zivilgesellschaftlichen Engagements für Flüchtlinge noch lange nicht besaßen. Diese Fragmentierung ideengeschichtlicher und politischer Prozesse sollte in der Menschenrechtsforschung noch stärkere Beachtung finden. Zugleich zeigte sich, dass es bei den französischen Akteuren, die sich in der Aufnahme engagierten, durchaus ein Bewusstsein gab, selbst eine Verlängerung der humanitären Arbeit in Südostasien zu sein und die eigene Arbeit als eine Reaktion auf die durch die Medien propagierten Empathiediskurse zu sehen. Die empathiegeleitete Flüchtlingshilfe als Verlängerung der humanitären Arbeit in der Krisenregion war somit ein wichtiger Baustein des Selbstverständnisses der lokalen

215

216

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Helfer und Helferinnen in der Flüchtlingshilfe und Grundlage für ihr eigenes Engagement. Das Engagement für Flüchtlinge kam zu einem großen Teil nicht von linken aktivistischen Organisationen, sondern von einem konservativen, politisch rechten und antikommunistischen Spektrum der Gesellschaft und Politik. Ein Aspekt dieses Engagements ›von rechts‹ bestand darin, dass sich Akteure und Akteurinnen mit persönlichen Verbindungslinien zur französischen Kolonialzeit in den Prozess einbrachten. Die historische Verbindung Frankreichs zum ehemaligen Indochina spielte somit eine wichtige Rolle für die französische Flüchtlingshilfe. So war es nicht einzig die Entscheidung des konservativen Präsidenten, das Flüchtlingsprojekt zu initiieren und mit Leben zu füllen, sondern es setzten sich rechte und konservative Teile der Gesellschaft für die Aufnahme ein. Konservative Publizisten füllten nach 1975 das Vakuum, das linke Intellektuelle hinterließen, die sich zuvor für die kommunistischen Bewegungen in Südostasien eingesetzt hatten, sich ab Beginn der Flüchtlingskrise jedoch mit ihren Beiträgen zurückhielten beziehungsweise Selbstkritik übten. Dadurch verschob sich der Diskurs insgesamt nach rechts. Es waren vielfach Personen mit einem biografischen Bezug zur französischen Kolonialzeit, die sich nun beim Empfang von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Indochina engagierten. So waren beispielsweise das CNE gemeinsam mit dem Veteranenverband ANAI, die über Personalunionen und Überschneidungen bei den Betätigungsfeldern eine enge Verbindung hatten, wichtige Akteure in der Koordination der Aufnahme. Über diesen Prozess versuchten die im CNE und im Veteranenverband ANAI Engagierten zugleich, Hilfen für die Flüchtlinge zu organisieren und ihre erinnerungspolitische Deutung der französischen Kolonialzeit und des Indochinakrieges als einen gerechtfertigten antikommunistischen Krieg im öffentlichen Diskurs zu verankern. Die Erinnerungspolitik, die diese Gruppen im Zusammenhang mit der Flüchtlingsaufnahme machten, hatte im Kern die gleiche Zielscheibe wie die antitotalitären Linken mit ihren Forderungen nach Menschenrechten: Kommunistische Regierungen, die durch ihre totalitäre Politik ihre Bevölkerungen unterdrückten. Antikommunismus war dementsprechend eine der wichtigsten Treibkräfte für das aktive Engagement für die Flüchtlinge aus Südostasien. Es zeigte sich ebenfalls, dass ideelle Traditionslinien wie Stereotype oder koloniale Nostalgie Einfluss auf den Aufnahmeprozess hatten, wenn die Akteure und Akteurinnen beispielsweise aufbauend auf stereotypen und rassistischen Wahrnehmungen bestimmte Arbeitsfelder als besonders geeignet für die Flüchtlinge betrachteten. Die Auswirkungen der französischen

Schlussbemerkungen

kolonialen Vergangenheit wurden über die Akteure und Akteurinnen des CNE und der ANAI beim Empfang südostasiatischer Flüchtlinge sichtbar. Diese historische Besonderheit Frankreichs im Bereich der Flüchtlingshilfe ist ein Hinweis darauf, dass die französische Migrations-, Asyl- und Fluchtgeschichte in ihren kolonialen Zusammenhang eingebettet werden muss. Nur über die Untersuchung kolonialer Traditionslinien lassen sich Mechanismen, wie beispielsweise Rassismus, und deren Auswirkungen auf die Inklusion und Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen wirklich greifen. Der Fokus auf ökonomische Fragen mit Bezug auf Asylgeschichte und historische Fluchtbewegungen wird dadurch um einen Aspekt erweitert, der in seiner langfristigen Betrachtung auch Erklärungen für gegenwärtige Formen von Inklusion und Exklusion in der französischen Gesellschaft bietet. Seit den 1990er Jahren haben Menschenrechte international an Bedeutung gewonnen. Dabei ist der Menschenrechtsidealismus der 1990er Jahre, der eng mit dem Ende des Kalten Krieges sowie der Verbreitung neoliberaler Wirtschaftssysteme und liberaler gesellschaftlicher Ideale zusammenhing, einem distanzierteren Blick gewichen. Zu oft hat sich ihr universeller Anspruch als reine Rhetorik oder als Versuch, westliche Gesellschaftsmodelle zu transplantieren, entpuppt, zu sehr ist die globale Menschenrechtsarbeit mit all ihren Nichtregierungsorganisationen, internationalen Institutionen, Rechtstexten sowie Menschenrechtsanwälten und -anwältinnen zu einer internationalen Maschinerie angewachsen, die nach einem eigenen Selbstverständnis und unter dem kontinuierlichen Druck der Spendenakquise und damit des fortwährenden Wettbewerbs, funktioniert. Vielleicht haben die Menschenrechte ihren Zenit überschritten.5 Aber Menschenrechtsideen sind flexibel, sie lassen sich in unterschiedlichen Kontexten und durch unterschiedliche Akteure und Akteurinnen verwenden. Ihr Bedeutungsgehalt, ihre Wirkungsmacht sowie ihre politische Kraft hat sich bis in die 1990er Jahre und darüber hinaus enorm entwickelt, und der Kampf für mehr Menschenrechte von Flüchtlingen an den europäischen Außengrenzen zeigt, dass Menschenrechte ein politisches Mobilisierungspotenzial in den europäischen Gesellschaften besitzen. Um die Frage, welches Potenzial für soziale Veränderung und die Aufweichung staatlicher Souveränitäten Menschenrechtsideen gegenwärtig und zukünftig noch in sich tragen, zu beantworten, muss vielmehr darauf geschaut werden, wer sich auf Menschenrechte beruft und mit welchen Zielen diese Personen, Gruppen, Staaten oder Institutionen Menschenrechtsdiskurse anwenden. Denn 5

S. Hopgood: The Endtimes of Human Rights.

217

218

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

die Durchsetzungskraft und die Bedeutung der Menschenrechte werden sich daran messen, ob sie zukünftig für emanzipatorische oder reaktionäre politische Projekte instrumentalisiert werden.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur Online-Quellen Bulletin de l’A.N.A.I. Activités de l’A.N.A.I. Action contre la falsification de l’histoire de la France en Indochine, 1984, 2. Bastid, Hélène: Le mot de la Présidente, 1980, 1. Demaison, Guy: Le temple du souvenir, 1982, 2. Simon, Guy: Editorial, 2001, 1. Les cérémonies en l’honneur du Soldat Inconnu d’Indochine. Inhumation à N.D. de Lorette. Abdruck der Rede des Staatssekretärs für Veteranen Maurice Plantier, 1980, 3. Retour en France du corps du Soldat Inconnu d’Indochine, 1980, 2. Souvenirs du Comité national d’entraide pour les réfugiés d’Indochine, 1993, 2. Reden des Präsidenten Giscard d’Estaing, Valéry: Allocution prononcée par M. Valery Giscard d’Estaing a l’occasion de la remise de la medaille et du prix nansen. palais des nations, geneve le lundi 10. décembre 1979, https://www.elysee.fr/valerygiscard-d-estaing/1979/12/10/allocution-prononcee-par-m-valery-giscard -destaing-a-loccasion-de-la-remise-de-la-medaille-et-du-prix-nansen-p alais-des-nations-geneve-le-lundi-10-decembre-1979 (zuletzt geprüft am 14.08.2022). Giscard d’Estaing, Valéry: Message aux armées de M. Valéry Giscard d’Estaing à l’occasion des cérémonies en l’honneur du soldat inconnu d’Indochine. Paris, Cour des Invalides, 7 juin 1980, https://www.elysee.fr/front/pdf/ely see-module-4811-fr.pdf (zuletzt geprüft am 20.08.2022).

220

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Dokumente von Organisationen FTDA: Histoire de france terre d’asile. 1971–1980 La mise en place de l’action de france terre d’asile et du dispositif national d’accueil, https://www.france -terre-asile.org/1971-1980/france-terre-d-asile/histoire/1971-1980 (zuletzt geprüft am 20.08.2022). Médecins Sans Frontières: Principes de Chantilly, Chantilly, 17.02.1997, http:/ /associativehistory.msf.org/fr/principes-de-chantilly (zuletzt geprüft am 13.08.2022). SIPAR Cambodge: 40 ans d’Action pour le Cambodge, https://www.sipar.org/ (zuletzt geprüft am 20.08.2022). UNHCR: Operational Data Portal. Refugees Situation. Mediterranean Situation, https://data.unhcr.org/en/dataviz/95?sv=0&geo=0#_ga=2.1028 92288.1427098112.1674386042-692131382.1657982168 (zuletzt geprüft am 22.01.2023). UNHCR: Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 und Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, Broschüre von 2015, https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uplo ads/sites/27/2017/03/GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansicht.pdf (zuletzt geprüft am 19.08.2022).

Gedruckte Quellen Alquier, Jean-Yves (Hg.): Chant Funèbre pour Phnom Penh et Saïgon, Paris: SPL 1975. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Imperialismus (= Band 2), München: Piper 1986. Bodin, Michel: Dictionnaire de la Guerre d’Indochine 1945–1954, Paris: Economica 2004. Brauman, Rony: Penser dans l’urgence. Parcours critique d’un humanitaire. Entretiens avec Catherine Portevin, Paris: Seuil 2006. Bruckner, Pascal: Le sanglot de l’homme blanc. Tiers monde, culpabilité, haine de soi, Paris: Le Seuil 1983. Chomsky, Noam: Réponses inédites à mes détracteurs parisiens (= Spartacus Cahiers mensuels, Séries B, Band 128), Paris: Spartacus 1984. Gilles, Claude: De l’enfer à la liberté. Cambodge – Laos – Vietnam, Paris: L’Harmattan 2000.

Literaturverzeichnis

Gilles, Claude: Cambodgiens, Laotiens, Vietnamiens de France. Regard sur leur intégration, Paris: L’Harmattan 2004. Glucksmann, André: Les maîtres penseurs, Paris: Grasset 1977. Grellety Bosviel, Pascal/Bocquillon Sophie: Toute une vie d’humanitaire. 50 ans de terrain d’un médecin-carnettiste, Bordeaux: Elytis 2013. Jenson, Jane/Ross, George: The View from Inside. A French Communist Cell in Crisis, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1984. Kouchner, Bernard: Le malheur des autres, Paris: Odile Jacob 1991. Lacouture, Jean: Survive le peuple cambodgien, Paris: Le Seuil 1978. Lévy, Bernard-Henri: La barbarie à visage humain, Paris: Grasset 1977. Paxton, Robert O.: Vichy France. Old Guard and New Order, 1940–1944, New York: Knopf 1972. Petitmengin, Magali: Graines de bois. 25 ans avec les Cambodgiens, o.O.: editoo.com 2005. Ponchaud, François: Cambodge. année zéro, Paris: Julliard 1977. Thévenet, Amédée: La guerre d’Indochine racontée par ceux qui l’ont vécue. Un devoir de mémoire assumé ensemble, Paris: France-Empire 2001.

Ungedruckte Quellen Les Archives Nationales de France (ANF) Ajchenbaum, Yves: »Les populations originaires d’Asie du Sud-Est accueillies en France au sein des Centres provisoires d’hébergement, 1980–1981«. Statistische Untersuchung der Organisation FTDA, [Mai 1983] (19900260/12). Ausschnitt aus einem Interview mit dem Generalsekretär vom OFPRA, Gilles Rosset, 1982 (19990260/26). Badinter, Robert: Brief an den Innenminister, 09.09.1982 (19930008/1). Boutinard Rouelle, Michel: Notiz an den Vorsitzenden des Kabinetts »Action des pouvoirs publics en faveur des réfugiés et des rapatriés d’Asie du SudEst«, 30.10.1975 (AG/5(3)/2491). Cannac, Yves: Notiz an den Präsidenten »Immigration vietnamienne«, 11. 02.1976 (AG/5(3)901). Cannac, Yves: Notiz an Jean-David Levitte, 03.11.1977 (AG/5(3)/901). Cheysson, Claude: Über die Perspektiven für die Aufnahme der südostasiatischen Flüchtlinge in Frankreich, 22.05.1984 (19930008/1). Das Innenministerium unter Christian Bonnet an alle Präfekturen: »Circulaire n°79-269«, 05.07.1979 (19870417/8).

221

222

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Dufoix, Georgina: Schreiben »Sur dispositif d’accueil«, 05.07.1983 (19930008/5). Fabre, Daniel: Vortrag in Genf bei einer Konferenz zur Integration von Flüchtlingen in Europa, 12.09.1983-15.09.1983 (19930008/1). Fabre, Daniel: Brief über SIPAR und Mme. Petitmengin, 05.12.1983 (19930008/1). Fabre, Daniel: »Notifications sur les décisions de la réunion interministérielle du 9 mai 1984«, 29.05.1984 (19930008/5). Kouchner, Bernard: Brief an Valéry Giscard d’Estaing im Namen des Komitees Un bateau pour le Vietnam, 21.06.1979 (AG/5(3)901). Lenoir, René: Kommunikation im Ministerrat »l’accueil des réfugiés du sudest asiatique«. Der Staatssekretär für soziale Angelegneheiten im Gesundheitsministerium über den Empfang der Flüchtlinge, 10.09.1975 (AG/5(3)/2491). Levitte, Jean-David: Notiz an den Präsidenten zum Gespräch mit Jean Sainteny, 26.02.1976 (AG/5(3)/901). Levitte, Jean-David: Notiz an den Präsidenten »Réfugiés d’Indochine«, 10.10.1977 (AG/5(3)901). Levitte, Jean-David: Notiz für den Präsidenten »Présidence du ›Comité Sainteny‹ d’entraide franco-indochinois«, 18.04.1978 (AG/5(3)/901). Levitte, Jean-David: Notiz für den Präsidenten »Réfugiés d’Indochine«. Notiz mit handschriftlichen Anweisungen von Valéry Giscard d’Estaing, 07.03.1979 (AG/5(3)/901). Levitte, Jean-David: Notiz an den Präsidenten »sur l’audience Sartre et quelques autres«, 22.06.1979 (AG/5(3)901). Levitte, Jean-David: Notiz an den Präsidenten »campagne nationale de collecte en faveur des Cambodgiens«, 13.11.1979 (AG/5(3)901). Mauroy, Pierre: Brief des Premierministers an Daniel Fabre mit einem Dekret zur Ernennung Fabres als interministeriellen Delegierten für Flüchtlinge, 14.04.1983 (19930008/1). Nhim Nhek et al.: Brief von ehemaligen Bürokraten der Lon Nol Regierung an Valéry Giscard d’Estaing, [um 1975] (AG/5(3)/902). »Note sur l’activité du S.I.P.A.R.«, [November 1983] (19930008/6). Petitmengin, Magali: »Compte Rendu d’Activité du SIPAR«, 22.10.1984 (19930008/5). Protokoll des Treffens zwischen Mitgliedern des Komitees Un bateau pour le Vietnam und Valéry Giscard d’Estaing, 26.06.1979 (AG/5(3)901).

Literaturverzeichnis

Protokoll des Ministerrats, »Objet Politique d’accueil des réfugiés«, 22.12.1982 (19930008/1). Protokoll des Ministerrats vom 1. April 1985 »Objet Réfugiés du Sud-Est asiatique«, 07.10.1985 (19930008/5). Toffin, Jean-Louis: Der französische Botschafter in Thailand schreibt an den Außenminister über die Zeugenschaft des Brigadiers Sor-Buon, ehemaligem General der nationalen Armee der Khmer, 23.06.1975 (AG/5(3)/956). Centre des Archives Diplomatiques de La Courneuve (CADC) Basdevant, Pierre: Brief des Direktors vom OFPRA an das Außenministerium, 12.04.1977 (1852INVA-3). Belorgey, Jean-Michel: Notiz »Comité national d’entraide franco-vietnamien, franco-cambodgien, franco-laotien et sur les amenagements souhaitables du dispositif administratif de pilotage de la politique d’accueil et d’insertion sociale des réfugiés«, 26.11.1981 (1853INVA-141). CNE: »Compte-rendu du conseil d’administration«, 28.03.1977 (1852INVA-63). CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 13.01.1978 (1852INVA-63). CNE: »Synthèses de l’accueil des réfugiés«, 14.11.1979 (1852INVA-63). CNE: Notiz an den Präsidenten der Republik »Situation des réfugiés dans le monde«, 14.12.1979 (1852INVA-63). CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 25.04.1980 (1853INVA-141). CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 27.06.1980 (1853INVA-144). FTDA: Brief »Note sur les Centres provisoires d’hébergement«, 12.07.1979 (454INVA-1895). Notiz »Réunion consultative du Haut Commissaire pour les réfugiés sur le problème des réfugiés d’Indochine«, 13.12.1978 (1852INVA-5). Notiz »Réflexions des Services du Département sur le sujet de Droit de l’Homme«, 23.04.1979 (454INVA-1909). »Rapport sur le fonctionnement et les activités du CNE«, [um 1980] (454INVA-1895). Telegramm an den UNHCR über das französische Aufnahmedispositiv, [nach dem 15.05.1979] (1852INVA-5). Fondation nationale des sciences politiques, Centre d’histoire de Sciences Po, Archives d’histoire contemporaine. Sainteny, Jean: Brief an den französischen Botschafter in Tel Aviv, 18.11.1975 (Fonds Jean Sainteny 6 SA 1).

223

224

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Office français de protection des réfugiés et apatrides (OFPRA) Chhea Chhun Neth: Antrag beim OFPRA, 06.07.1979 (93–10-03985). CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 29.09.1978 (DiR 4/38). CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 16.02.1979 (DiR 4/38). CNE: »Compte rendu de la réunion du conseil d’administration«, 23.02.1984 (DIR 4/38). CNE: »Rapport au conseil d’administration«, 23.02.1984 (DIR 4/38). CNE: Informationsbrief an Unterstützer, 22.02.1985 (DIR 4/38). CNE: »Compte rendu de l’assemblée générale extraordinaire«, 06.11.1992 (DIR 4/38). Dumas, Roland: Brief an Jean-Michel Belorgey, den Präsidenten des Comité national d’entraide, 19.03.1985 (DIR 4/38). Hour Leng Phea: Antrag beim OFPRA, 23.09.1983 (93–02-02148). Internes Papier »La demande d’asile cambodgienne«, 27.02.2015. Khau Siv Eng: Antrag beim OFPRA, 05.12.1976 (90–01-12883). Krem Vibol: Antrag beim OFPRA, [Mai 1984] (93–07-03555). Lam Ly: Antrag beim OFPRA, 03.12.1980 (89–12-06301). Long Seang Hong: Antrag beim OFPRA, 28.02.1985 (89–12-07107/08). Ma Binh Huy: Antrag beim OFPRA, 19.04.1983 (91–11-02954). Ngo Sieu Huoy: Antrag beim OFPRA, 09.07.1980 (90–10-01726). Sou, Yahan: Antrag beim OFPRA, 15.12.1986 (92–06-02978). Tätigkeitsbericht des OFPRA für das Jahr 1976, 1977 (DIR 12 ). Tätigkeitsbericht der Abteilung Südostasien des OFPRA für das Jahr 1983, 1984 (DIR 1/2). Tätigkeitsbericht des OFPRA für das Jahr 1985, [1986] (DIR 1/3). Archives of the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) Morison-Turnbull, Jennifer: Reaktion auf eine Anfrage zu Adoptionsmöglichkeiten aus der Schweiz, 10.01.1980 (100.THA.CAM Refugees from Cambodia in Thailand [Vol. 14], Fonds II, Series 2, Box 194, source n° 760). Sousa, Patrick de: Reaktion auf eine Anfrage zu Adoptionsmöglichkeiten aus Frankreich, 24.01.1980 (100.THA.CAM Refugees from Cambodia in Thailand [Vol. 14], Fonds II Series 2 Box 194, source n° 792).

Literaturverzeichnis

Zeitungs- und Fernsehbeiträge Antenne 2 Dieuleveult, Philippe de: Philippe de Dieuleveult, Réfugiés Thailande (= Le Journal de 20H), 02.07.1979, https://www.ina.fr/video/CAB7901263601/re fugies-thailande-video.html (zuletzt geprüft am 21.08.2022). Raymond Aron sur les réfugiés indochinois (= Question de temps), 25.06.1979, https://www.ina.fr/video/I00018247/raymond-aron-sur-les-refugies-ind ochinois-video.html (zuletzt geprüft am 21.08.2022). Rony Brauman à propos des origines de son engagement dans l’humanitaire (= L’heure de vérité), 01.02.1992, https://www.ina.fr/video/I04128346/rony -brauman-a-propos-des-origines-de-son-engagement-dans-l-humanita ire-video.html (zuletzt geprüft am 21.08.2022). Tertre, Patrice du/Abouchar, Jacques/Poivre d’Arvor, Patrick: Camp Khao I Dang (= Le Journal de 20H), 04.07.1980, https://www.ina.fr/vide o/CAB8001092701/camp-de-kao-i-dang-video.html (zuletzt geprüft am 20.08.2022). La Croix Bottazzi, Menotti: Accueillir les réfugiés, transformer le monde, 03.07.1979. Colson, Bernadette: Cambodge. Une marche difficile et contestée, 03.02.1980. Dasse, Martial: Le peuple cambodgien, enjeu d’une bataille, 04.11.1979. L’Humanité Berthelot, Marcellin/Goutmann, Marie-Thérèse/Saudmont, Yves: Nous ne pouvons accueillir de nouveaux émigrés. Neuf maires communistes de la région parisienne estiment que leurs municipalités ont déjà dépassé l’effort possible, 10.07.1979. Moreau, Yves: Aider le Cambodge, 06.11.1979. Que les municipalités de droite prennent leur responsabilités. Les concentrations excessive d’immigrés ne doivent pas produire de nouveaux ghettos, 06.07.1979. Vidal, Jean-Emile: Une »opération réfugiés«. Tout le monde n’a pas trouvé son compte dans les témoignages, 09.07.1979. Le Figaro Description rose d’un génocide, 13.02.1984.

225

226

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Giscard: La réinsertion des réfugiés doit être poursuivie, 01.08.1979. O.N.U.: 210 millions de dollars pour le Cambodge l’aide occidentale piétine en Thaïlande, 07.11.1979. Réfugiés khmers. La famine et les bombes, 10.11.1979. Vente edicace au profit des réfugiés d’Indochine, 22.02.1980. Le Monde Beer, Patrice de: Enthousiasme populaire, 18.04.1975. Bergeroux, Noël-Jean: Le montant du prix sera consacré à des actions en faveur des réfugiés du Cambodge et d’Afrique, 12.12.1979. Blandin, Chantal: Les galettes et le riz de l’exil, 14.10.1985. Confusion dans la capitale cambodgienne, 19.04.1975. Delaunay, Jean: Histoire, télévision et défense nationale, 06.03.1984. Descamps, Christian: André Glucksmann la philosophie et la guerre, 31.03. 1980. Fontaine, André: Le troisième génocide du siècle, 06.07.1979. George, Susan: Les organisateurs de la ›marche pour la survie‹ ne ›tenteront pas de violer la frontière khmère‹. POINT DE VUE Une action mal engagée, 31.01.1980. La Guérivière, Jean de: Le calvaire de Hong Siv Pha, médecin rentré volontairement au Cambodge en 1976, 12.07.1979. Leconte, Daniel: Les réfugiés politiques en France, 19.01.1981. M. Long Boret s’est rendu. De notre envoyé spécial, 20. und 21.04.1975. Paringaux, Roland-Pierre: ›La marche pour la Survie du Cambodge‹ Pour que nul ne dise ›je ne savais pas…‹, 08.02.1980. Ponchaud, François: Un travail gigantesque, 17.02.1976. Ponchaud, François: Un nouveau type d’homme, 18.02.1976. Tarnero, Jacques: Les habits vieux de la gauche française, 01.08.1979. TF1 Burgat, Jean Louis: Le Cambodge après Pol Pot (= Actualités 20H), 27.01.1979, https://www.ina.fr/video/CAA7900099901/le-cambodge-apres-pol-pot-vi deo.html (zuletzt geprüft am 14.08.2022). Debré, François: Cambodge. Encore la guerre (= L’événement), 18.10.1979, http s://www.ina.fr/video/CAA7900920001/cambodge-encore-la-guerre-vide o.html (zuletzt geprüft am 14.08.2022).

Literaturverzeichnis

Sonstiges Chomsky, Noam/Herman, Edward S.: Distortion at fourth hand, in: The Nation, 06.06.1977. Ophüls, Marcel: Le Chagrin et la Pitié 1971. ORTF Télévision. Valéry Giscard d’Estaing: Vous n’avez pas le monopole du coeur. Valéry Giscard d’Estaing bei der Fernsehdebatte zu den Präsidentschaftswahlen 1974, 10.05.1974, https://www.ina.fr/video/I07115728/vale ry-giscard-d-estaing-le-monopole-du-coeur-video.html (zuletzt geprüft am 14.08.2022). Siemons, Mark: Der nackte Mensch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.03.2016, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/menschenrechte-in-d er-fluechtlingskrise-ein-paradox-14132626.html (zuletzt geprüft am 01. 08.2022).

Interviews Delphine Bordet interviewt von Laura Wollenweber, 12.09.2016, Fontenaysous-Bois. Luc Menguy, Marie-Rose Menguy, Ida Simon-Barouh interviewt von Laura Wollenweber, 23.06.2017, Rennes. Magali Petitmengin interviewt von Laura Wollenweber, 15.03.2017, Versailles. Monna Thuon interviewt von Laura Wollenweber, 27.06.2017, Paris.

Sekundärliteratur Akoka, Karen: France. Boat People Brought by Plane, in: Becky Taylor/Karen Akoka/Marcel Berlinghoff/Shira Havkin (Hg.): When Boat People Were Resettled, 1975–1983. A Comparative History of European and Israeli Responses to the South-East Asian Refugee Crisis, Cham, London: Palgrave Macmillan 2021, S. 47–77. Akoka, Karen: La fabrique du réfugié à l’Ofpra (1952–1992). Du consulat des réfugiés à l’administration des demandeurs d’asile. Dissertation, Poitiers 2012. Amos, Jennifer: Unterstützen und Unterlaufen. Die Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948–1958, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein Verlag 2010, S. 142–168.

227

228

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Angoustures, Aline/Kévonian, Dzovinar/Mouradian, Claire (Hg.): Réfugiés et apatrides. Administrer l’asile en France (1920–1960), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2017. Artous, Antoine/Epsztajn, Didier/Silberstein, Patrick (Hg.): La France des année 1968, Paris: Éditions Syllepse 2008. Attard-Maraninchi, Marie-Françoise: Histoire de Migration à Marseille. Le Cosmopolitisme de L’Entre-Deux-Guerres (1919–1945), Aix-en-Provence: Edisud 1990. Bancel/Gilles Boëtsch/Éric Deroo/Sandrine Lemaire (Hg.): Nostalgérie. L’interminable histoire de l’OAS, Paris: La Découverte 2015. Barlet, Olivier/Blanchard, Pascal: Rêver. l’impossible tentation du cinéma colonial (1920–1950): in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France. De la Révolution Francaise à nos jours, Paris: CNRS Éditions 2008, S. 182–195. Barnett, Michael: Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca, London: Cornell University Press 2011. Bass, Gary J.: Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York: Knopf 2008. Becker, Elizabeth: When the War was Over. The Voices of Cambodia’s Revolution and its People, New York: Simon and Schuster 1986. Benthall, Jonathan: Disasters, Relief and the Media, London: Tauris 1993. Berstein, Serge/Milza, Pierre: Histoire de la France au XXe siècle. De 1974 à nos jours, Brüssel: Éditions Complexe 1994. Berstein, Serge/Rémond, René/Sirinelli, Jean-François (Hg.): Les années Giscard. Institutions et pratiques politiques 1974–1978, Paris: Fayard 2003. Besnardeau, Clémentine: Mouvement des corps entre questions migratoires et questions humanitaires. Masterarbeit, Paris 2008. Bielefeldt, Heiner: Menschenrechte – universaler Normenkonsens oder eurozentrischer Kulturimperialismus?, in: Manfred Brocker/Heino Nau (Hg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 256–268. Billion, Pierre: Où sont passés les ›travailleurs réfugiés‹? trajectoires professionnelles des populations du Sud-Est Asiatique, in: Hommes et Migrations 1234, November-Dezember (2001), S. 38–49. Blanc-Chaléard, Marie-Claude: Réfugiés, migrants, étrangers. Les mots et les causes de la Cimade (années 1970–1990), in: Dzovinar Kévonian/Geneviève Dreyfus-Armand/Marie-Claude Blanc-Chaléard/Marianne Amar (Hg.): La Cimade et l’accueil des réfugiés. Identités, répertoires d’actions et poli-

Literaturverzeichnis

tique de l’asile, 1939–1994, Paris: Presses universitaires de Paris Nanterre 2013, S. 225–244. Blanchard, Pascal/Bancel, Nicolas (Hg.): Culture post-coloniale 1961–2006. Traces et mémoires coloniales en France, Paris: Édition Autrement 2005. Blanchard, Pascal/Deroo, Éric/El Yazami, Driss/Fournié, Pierre/Manceron, Gilles: L’immigration. L’installation en métropole des populations du Maghreb (1946–1961), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France. De la Révolution Francaise à nos jours, Paris: CNRS Éditions 2008, S. 461–479. Blanchard, Pascal/Deroo, Éric: Le Paris Asie. 150 ans de présence de la Chine, de l’Indo-Chine, du Japon … dans la capitale, Paris: La Découverte 2004. Blanchard, Pascal/Lemaire, Sandrine/Bancel, Nicolas (Hg.): Culture coloniale en France. De la Révolution Francaise à nos jours, Paris: CNRS Éditions 2008. Boilley, Pierre: Loi du 23 février 2005, Colonisation, indigènes, victimisation. Évocations binaires, représentations primaires, in: Politique Africaine 98, 2 (2005), S. 131–140. Boltanski, Luc: Distant Suffering. Morality, Media, and Politics, Cambridge: Cambridge University Press 1999. Bon Tempo, Carl J.: Americans at the Gate. The United States and Refugees During the Cold War, Princeton: Princeton University Press 2008. Bösch, Frank: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München: C.H.Beck 2019. Bösch, Frank: Engagement für Flüchtlinge. Die Aufnahme vietnamesischer ›Boat People‹ in der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen 14, 1 (2017), S. 13–40. Bourg, Julian: From Revolution to Ethics. May 1968 and Contemporary French Thought, Montreal: McGill-Queen’s University Press 2007. Brink, Cornelia: ›Bildeffekte‹. Überlegungen zum Zusammenhang von Fotografie und Emotionen, in: Geschichte und Gesellschaft 37, 1 (2011), S. 104–129. Brocheux, Pierre (Hg.): Du conflit d’Indochine aux conflits indochinoise, Brüssel: Éditions Complexe 2000. Brocheux, Pierre/Heméry, Daniel: Indochine. La colonisation ambiguë (1858–1954), Paris: La Découverte 1995. Brugère, Fabienne/Le Blanc, Guillaume: La Fin de l’hospitalité. Lampedusa, Lesbos, Calais … jusqu’où irons-nous?, Paris: Flammarion 2017.

229

230

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Bruycker, Philippe de: D’un système européen d’asile vers un droit européen des réfugiés, in: Jean-Yves Carlier/Dirk Vanheule (Hg.): Europe and Refugees: A Challenge? L’Europe et les réfugiés: un défi?, Den Hague, London, Boston: Kluwer Law International 1997, S. 159–185. Buchanan, Tom: ›The Truth will Set you Free‹. The Making of Amnesty International, in: Journal of Contemporary History 37, 4 (2002), S. 575–597. Buchanan, Tom: Amnesty International in Crisis. 1966–1967, in: Twentieth Century British History 15, 3 (2004), S. 267–289. Bultmann, Daniel: Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017. Burgess, Greg: Refuge in the Land of Liberty. France and its Refugees, from the Revolution to the End of Asylum, 1787–1939, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008. Cadeau, Ivan: La guerre d’Indochine. De l’Indochine française aux adieux à Saigon, 1940–1956, Paris: Éditions Tallandier 2019. Chabal, Émile: Après l’empire. les idéaux politiques face aux nouvelles réalités sociales, in: Emmanuel Laurentin (Hg.): Histoire d’une république fragile 1905–2015. Comment en sommes-nous arrivés là?, Paris: Fayard; France Culture 2015, S. 37–44. Chandler, David P.: Brother Number One. A Political Biography of Pol Pot, Boulder/CO: Westview Press 1999. Chandler, David P.: The Tragedy of Cambodian History. Politics, War, and Revolution since 1945, New Haven, London: Yale University Press 1991. Charlot, Monica: L’émergence du Front National, in: Revue française de science politique 36, 1 (1986), S. 30–45. Christofferson, Michael S.: French Intellectuals Against the Left. The Antitotalitarian Movement of the 1970s, New York: Berghahn Books 2004. Clark, Anne M.: Diplomacy of Conscience. Amnesty International and Changing Human Right Norms, Princeton: Princeton University Press 2001. Condamines, Charles: L’aide humanitaire entre la politique et les affaires, Paris: L’Harmattan 1989. Conklin, Alice L.: A Mission to Civilize. The Republican Idea of Empire in France and West Africa, 1895–1930, Stanford: Stanford University Press 1997. Cooper, Nicola: France in Indochina. Colonial Encounters, Oxford, New York: Berg 2001. Costa-Lascoux, Jacqueline/Yu-Sion, Live: Paris-XIIIe. Lumières d’Asie, Paris: Édition Autrement 1995.

Literaturverzeichnis

Crépeau, François: Droit d’asile. De l’hospitalité aux contrôles migratoires, Brüssel: Bruylant 1995. Cruft, Rowan/Liao, S. M./Renzo, Massimo (Hg.): Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford: Oxford University Press 2015. Cuypers, Dane: L’impertinent du Cambodge. François Ponchaud entretiens avec Dane Cuypers, Paris: Magellan & Cie 2013. Davey, Eleanor: Idealism Beyond Borders. The French Revolutionary Left and the rise of humanitarianism, 1954–1988, Cambridge: Cambridge University Press 2015. DeGooyer, Stephanie/Hunt, Alastair/Maxwell, Lida/Moyn, Samuel: The Right to Have Rights, London, New York: Verso 2018. Deroche, Alexandre/Martial, Mathieu/Gasparini, Eric (Hg.): Droits de l’homme et colonies. De la mission civilisatrice au droit à l’autodétermination, Aix-en-Provence: Presses universitaires d’Aix-Marseille 2017. Dewhurst Lewis, Mary: The Boundaries of the Republic. Migrant Rights and the Limits of Universalism in France, 1918–1940, Stanford: Stanford University Press 2007. Di Fabio, Udo: Menschenrechte in unterschiedlichen Kulturräumen, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hg.): Gelten Menschenrechte universal? Begründung und Infragestellung, Freiburg i.Br.: Herder 2008, S. 63–97. Diaz, Delphine: Un asile pour tous les peuples? Exilés et réfugiés étrangers en France au cours du premier XIXe siècle, Paris: Armand Colin 2014. Douzinas, Costas/Gearty, Conor (Hg.): The Meanings of Rights. The Philosophy and Social Theory of Human Rights, Cambridge: Cambridge University Press 2014. Drake, David: Intellectuals and Politics in Post-War France, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2002. Dreyfus-Armand, Geneviève/Frank, Robert/Lévy, Marie-Françoise/ZancariniFournel, Michelle (Hg.): Les années 68. Le temps de la contestation, Paris: Éditions Complexe 2008. Duclos, Jean-Claude/Cogne, Olivier (Hg.): Face au genocide du Cambodge à l’Isère, Isère : Musée de la Résistance et de la déportation de l’Isère 2008 Ebihara, May M./Mortland, Carol A./Ledgerwood, Judy (Hg.): Cambodian Culture since 1975. Homeland and Exile, Ithaca: Cornell University Press 1994. Eckel, Jan/Moyn, Samuel (Hg.): Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2012.

231

232

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Eckel, Jan: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2014. Eckel, Jan: Humanitarisierung der internationalen Beziehungen? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 38, 4 (2012), S. 603–635. Edwards, Kathryn M.: Contesting Indochina. French Remembrance between Decolonization and Cold War, Oakland: University of California Press 2016. Edwards, Kathryn M.: Traître au colonialisme? The Georges Boudarel Affair and the Memory of the IndochinaWar, in: French Colonial History 11 (2010), S. 193–209. Eldridge, Claire: From Empire to Exile. History and Memory within the PiedNoir and Harki Communities, Manchester: Manchester University Press 2016. Fall, Bernard B.: Street without Joy. The French Debacle in Indochina, Guilford, Connecticut: Stackpole Books 2018. Fassin, Didier/Rechtman, Richard: The Empire of Trauma. An Inquiry into the Condition of Victimhood, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2009. Fassin, Didier: Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley: University of California Press 2011. Fehrenbach, Heide/Rodogno, Davide (Hg.): Humanitarian Photography. A History, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2015. Fehrenbach, Heide: Children and Other Civilians. Photography and the Politics of Humanitarian Image Making, in: Heide Fehrenbach/Davide Rodogno (Hg.): Humanitarian Photography. A History, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2015, S. 165–193. FitzGerald, David S.: Refuge beyond Reach. How Rich Democracies Repel Asylum Seekers, New York: Oxford University Press 2019. Fröberg Idling, Peter: Pol Pots Lächeln. Eine Reise durch das Kambodscha der Roten Khmer, Frankfurt a. M.: Edition Büchergilde 2013. Gastaut, Yvan: Français et immigrés à l’épreuve de la crise (1973–1995), in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 84, 4 (2004), S. 107–118. Gatrell, Peter: The Making of the Modern Refugee, Oxford: Oxford University Press 2013. Gélinet, Patrice: Indochine 1945–1954. Chronique d’une guerre oubliée, Paris: Éditions Acropole 2014. Géraud, Marie-Odile: Regards sur les Hmong de Guyane française. Les détours d’une tradition, Paris: L’Harmattan 1997.

Literaturverzeichnis

Geuss, Raymond: History and Illusion in Politics, Cambridge: Cambridge University Press 2001. Gilles, Germain: De la réponse technique à l’interrogation ethique. Première mission d’un Médecin sans Frontières dans un camp de réfugiés cambodgiens et vietnamien. Dissertation, Lyon 1991. Givoni, Michal: Holocaust Memories and Cosmopolitan Practices. Humanitarian Witnessing between Emergencies and Catastrophe, in: Amos Goldberg/Haim Hazan (Hg.): Marking Evil. Holocaust Memory in the Global Age, New York, Oxford: Berghahn Books 2015, S. 121–145. Givoni, Michal: The Care of the Witness. A Contemporary History of Testimony in Crises, Cambridge: Cambridge University Press 2016. Glendon, Mary A.: A World Made New. Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights, New York: Random House 2002. Goebel, Michael: Anti-Imperial Metropolis. Interwar Paris and the Seeds of Third World Nationalism, Cambridge: Cambridge University Press 2015. Götze, Susanne: Die Neue Französische Linke von 1958–1968. Engagement, Kritik, Utopie, Marburg: Tectum Verlag 2015. Gousseff, Catherine: L’exil russe. La fabrique du réfugié apatride (1920–1939), Paris: CNRS Éditions 2008. Green, Nancy L./Poinsot, Marie (Hg.): Histoire de l’immigration et question coloniale en France, Paris: La Documentation française 2008. Greenhill, Kelly M.: Weapons of Mass Migration. Forced Displacement, Coercion, and Foreign Policy, Ithaca: Cornell University Press 2010. Groppo, Bruno: Exilés et réfugiés. L’évolution de la notion de réfugié au XXe siècle, in: Historia Actual Online, 2 (2003), S. 69–79. Hardt, Lucas: Zwischen Räumen und Fronten. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1962, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019. Hargreaves, Alec G.: Immigration, ›race‹ and Ethnicity in Contemporary France, New York: Routledge 1999. Hassoun, Jean-Pierre/Tan, Yinh P.: Les Réfugiés de l’Asie du Sud-Est de langue chinoise. Langues et dialectes, eléments d’histoire (péninsule Indochinoise), aspects ethnographiques (région parisienne), Paris: Mission du Patrimoine Ethnologique 1986. Heerten, Lasse: A wie Auschwitz B wie Biafra. Der Bürgerkrieg in Nigeria (1967–1970) und die Universalisierung des Holocaust, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8, 3 (2011), S. 394–413.

233

234

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Heerten, Lasse: The Biafran War and Postcolonial Humanitarianism. Spectacles of Suffering, Cambridge: Cambridge University Press 2017. Heyde, Veronika: Frankreich im KSZE-Prozess. Diplomatie im Namen der europäischen Sicherheit 1969–1983, München, Wien: De Gruyter Oldenbourg 2017. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein Verlag 2010, S. 7–37. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Human Rights and History, in: Past & Present 232, 1 (2016), S. 279–310. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Zur Kontingenz der Menschenrechte. Replik auf Udo Di Fabio, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hg.): Gelten Menschenrechte universal? Begründung und Infragestellung, Freiburg i.Br.: Herder 2008, S. 204–212. Hopgood, Stephen/Snyder, Jack/Vinjamuri, Leslie (Hg.): Human Rights Futures, Cambridge: Cambridge University Press 2017. Hopgood, Stephen: Keepers of the Flame. Understanding Amnesty International, Ithaca: Cornell University Press 2006. Hopgood, Stephen: The Endtimes of Human Rights, Ithaca: Cornell University Press 2013. Hopkins, Anthony G. (Hg.): Global History. Interactions between the Universal and the Local, Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2006. Hopkins, Anthony G.: Introduction. Interactions between the Universal and the Local, in: Anthony G. Hopkins (Hg.): Global History. Interactions between the Universal and the Local, Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2006, S. 1–38. Horvarth, Robert: The Solzhenitsyn Effect. East European Dissidents and the Demise of the Revolutionary Privilege, in: Human Rights Quarterly 29, 4 (2007), S. 879–907. Hourmant, François: Le désenchantement des clercs. Figures de l’intellectuel dans l’après-Mai 68, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 1997. Hunt, Lynn: Inventing Human Rights. A History, New York: Norton 2007. Hunt, Lynn: The Long and the Short of the History of Human Rights, in: Past & Present 233, 1 (2016), S. 323–331. Ignatieff, Michael: The Warrior’s Honor. Ethnic War and the Modern Conscience, New York: Henry Holt 1997.

Literaturverzeichnis

Iriye, Akira: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 2002. Ishay, Micheline R.: The History of Human Rights. From Ancient Times to Globalization Era, Berkeley: University of California Press 2004. Jackson, Julian/Milne, Anna-Louise/Williams, James (Hg.): May 1968. Rethinking France’s Last Revolution, London: Palgrave Macmillan 2011. Jennings, Eric T.: Representing Indochinese Sacrifice. The Temple du Souvenir Indochinoise of Nogent-sur-Marne, in: Kathryn Robson/Jennifer Yee (Hg.): France and »Indochina«. Cultural Representations, Lanham u. a.: Lexington Books 2005, S. 29–47. Journoud, Pierre: Dien Bien Phu. Du témoignage à l’histoire, in: Pierre Journoud/Hugues Tertrais (Hg.): 1954–2004. La bataille de Dien Bien Phu entre histoire et mémoire, Paris, Saint-Denis: Société française d’histoire d’outre-mer 2004. Kalter, Christoph: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2011. Kalter, Christoph: From Global to Local and Back. The ›Third World‹ Concept and the New Radical Left in France, in: Journal of Global History 12, 1 (2017), S. 115–136. Kalter, Christoph: Rückkehr oder Flucht? Dekolonisierung, Zwangsmigration und Portugals retornados, in: Geschichte und Gesellschaft 44, 2 (2018), S. 250–284. Kalter, Frank (Hg.): Migration und Integration, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008. Kandler, Philipp: Neue Trends in der ›neuen Menschenrechtsgeschichte‹, in: Geschichte und Gesellschaft 45, 2 (2019), S. 297–319. Kasper, Sebastian: Spontis. Eine Geschichte antiautoritärer Linker im roten Jahrzehnt, Münster: edition assemblage 2019. Keck, Margaret E./Sikkink, Kathryn: Activists beyond Borders, Ithaca, London: Cornell University Press 1998. Kelly, Patrick W.: Sovereign Emergencies. Latin America and the Making of Global Human Rights Politics, Cambridge, New York: Cambridge University Press 2018. Keys, Barbara: Reclaiming American Virtue. The Human Rights Revolution of the 1970s, Cambridge/MA, London: Harvard University Press 2014. Kiernan, Ben: The Pol Pot Regime. Race, Power, and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge, New Haven: Yale University Press 2008.

235

236

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Kiernan, Ben: How Pol Pot Came to Power. Colonialism, Nationalism, and Communism in Cambodia, 1930–1975, New Haven: Yale University Press 2004. Kleinschmidt, Harald: Migration und Integration. Theoretische und historische Perspektiven, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2011. Kleist, Olaf: Über Flucht forschen. Herausforderungen der Flüchtlingsforschung, in: PERIPHERIE 35, 138/139 (2015), S. 150–169. Klose, Fabian: Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien, 1945–1962, München: Oldenbourg Verlag 2009. Kunth, Anouche: Exils arméniens. Du Caucase à Paris 1920–1945, Paris: Éditions Belin 2016. Lacroix, Justine/Pranchère, Jean-Yves/Maas, Gabrielle: Human Rights on Trial. A Genealogy of the Critique of Human Rights, Cambridge, New York: Cambridge University Press 2018. Lauren, Paul G.: The Evolution of International Human Rights. Visions Seen, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1998. Laurence Binet/Martin Saulnier: Médecins Sans Frontières. Evolution of an International Movement. Associative History 1971–2011, Genf: MSF International 2019. Laurens, Sylvain: Une politisation feutrée. Les hauts fonctionnaires et l’immigration en France, Paris: Belin 2009. Legoux, Luc: Crise de l’asile, crise de valeurs, in: Hommes et Migrations 1198–1199, Mai-Juni (1996), S. 69–77. Legoux, Luc: La crise de l’asile politique en France, Paris: Centre Français sur la Population et le Développement 1995. Legoux, Luc: La politique d’asile, in: Philippe Dewitte (Hg.): Immigration et intégration. L’état des savoirs, Paris: Éditions La Découverte 1999, S. 341–351. Lemaire, Sandrine/Blanchard, Pascal: Exhibitions, expositions, médiatisation et colonies (1870–1940), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France. De la Révolution Francaise à nos jours, Paris: CNRS Éditions 2008, S. 111–119. Lochak, Danièle: Les politiques de l’immigration au prisme de la législation sur les étrangers, in: Didier Fassin/Alain Morice/Catherine Quiminal (Hg.): Les lois de l’inhospitalité. Les politiques de l’immigration à l’épreuve des sanspapiers, Paris: Éditions La Découverte 1997, S. 29–45. Loescher, Gil: The UNHCR and World Politics. A Perilous Path, New York, Oxford: Oxford University Press 2001.

Literaturverzeichnis

Lucassen, Leo: The Immigrant Threat. The Integration of Old and New Migrants in Western Europe since 1850, Urbana, Chicago: University of Illinois Press 2005. Lülf, Charlotte: Conflict Displacement and Legal Protection. Understanding Asylum, Human Rights and Refugee Law, Oxford, New York: Routledge 2019. MacMaster, Neil: Colonial Migrants and Racism. Algerians in France, 1900–62, Basingstoke, London: Macmillan Press 1997. MacMaster, Neil: The ›seuil de tolérance‹. the Uses of a ›Scientific‹ Racist Concept, in: Maxim Silverman (Hg.): Race, Discourse and Power in France, Aldershot: Gower Publishing Company 1991, S. 14–28. Maffessoli, Murielle: Zuwanderung und Integrationspolitik in Frankreich, in: Frank Baasner (Hg.): Migration und Integration in Europa, Baden-Baden: Nomos 2010, S. 13–42. Major, Patrick: Torschlußpanik und Mauerbau. ›Republikflucht‹ als Symptom der zweiten Berlinkrise, in: Burghard Ciesla/Michael Lemke/Thomas Lindenberger (Hg.): Sterben für Berlin? Die Berliner Krisen 1948 1958, Berlin: Metropol Verlag 2000, S. 221–243. Mann, Itamar: Humanity at Sea. Maritime Migration and the Foundations of International Law, New York: Cambridge University Press 2016. Masse, Jean-Pierre: L’exception indochinoise. Le dispositif d’accueil des réfugiés politiques en France, 1973–1991. Dissertation, Paris 1996. Mayblin, Lucy: Asylum After Empire. Colonial Legacies in the Politics of Seeking Asylum, London: Rowman and Littlefield International 2017. Mazower, Mark: The Strange Triumph of Human Rights, 1933–1950, in: The Historical Journal 47, 2 (2004), S. 379–398. Menguy, Luc: L’accueil des ›boat people‹ à Rennes entre 1975 et 1985, in: Hommes et Migrations 1234, November-Dezember (2001), S. 33–37. Merziger, Patrick: The ›radical humanism‹ of ›Cap Anamur‹. ›German Emergency Doctors‹ in the 1980s: a Turning Point for the Idea, Practice and Policy of Humanitarian Aid, in: European Review of History: Révue européenne d’histoire 23, 1–2 (2016), S. 171–192. Meslin, Karine: Les réfugiés cambodgiens, des ouvriers dociles? Genèse et modes de pérennisation d’un stéréotype en migration, in: Revue européenne des migrations internationales 27, 3 (2011), S. 83–101. Meslin, Karine: Parcours migratoires et représentations. L’exemple des ressortissants de l’ancienne Indochine, in: Nancy L. Green/Marie Poinsot (Hg.):

237

238

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Histoire de l’immigration et question coloniale en France, Paris: La Documentation française 2008, S. 31–36. Meslin, Karine Accueil des boat people. Une mobilisation politique atypique, in: Plein Droit 70, 3 (2006), S. 35–39. Meslin, Karine: Les réfugiés cambodgiens de la région des Pays de la Loire. Études ethnographique d’une immigration de »bonne réputation«. Dissertation, Nantes 2004. Mesnard, Philippe: La victime écran. La répresentation humanitaire en question, Paris: Textuel 2002. Metzl, Jamie F.: Western Responses to Human Rights Abuses in Cambodia, 1975–80, Houndmills, Basingstoke, London: Palgrave Macmillan 1996. Möhring, Maren: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München: Oldenbourg Verlag 2012. Moine, Caroline: Denouncing or Supporting the Chilean Dictatorship in West Germany? Local Associations of Solidarity and Their Transnational Networks Since the 1970s, in: Global Society 33, 3 (2019), S. 332–347. Molden, Berthold: Genozid in Vietnam. 1968 als Schlüsselereignis in der Globalisierung des Holocaustdiskurses, in: Jens Kastner/David Mayer (Hg.): Weltwende 1968. Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien: Mandelbaum 2008, S. 82–97. Moumen, Abderahmen: De l’Algérie à la France. Les conditions de départ et d’accueil des rapatriés, pieds-noirs et harkis en 1962, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 3, 99 (2010), S. 60–68. Moumen, Abderahmen: Les harkis en 1983. Discours médiatiques et représentations sociales, in: Hommes et Migrations 1313, 1 (2016), S. 55–61. Mousseau, Jacques: La télévision et son public, in: Communication et langages 87, 1. trimestre (1991), S. 40–69. Moyn, Samuel/Eckel, Jan (Hg.): The Breakthrough. Human Rights in the 1970s, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2013. Moyn, Samuel: The End of Human Rights History, in: Past & Present 233, 1 (2016), S. 307–322. Moyn, Samuel: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge/MA, London: Harvard University Press 2010. Moyn, Samuel: A Holocaust Controversy. The Treblinka Affair in Postwar France, Waltham/MA, Hanover: Brandeis University Press; University Press of New England 2005.

Literaturverzeichnis

Nann, Stéphanie: Les Cambodgiens en France. Entre l’image et la réalité, in: Migrations Société 109, 1 (2007), S. 147–162. Nann, Stéphanie: Les Cambodgiens en France et aux États-Unis. Une étude comparée des stratégies d’acculturation avec la satisfaction de vie et l’estime de soi. Dissertation, Amiens 2005. Neier, Aryeh: The International Human Rights Movement. A History, Princeton: Princeton University Press 2012. Noiriel, Gérard: Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe-XXe siècle). Discours publics, humiliations privées, Paris: Fayard 2007. Noiriel, Gérard: Le creuset français. Histoire de l’immigration XIXe-XXe siècle, Paris: Édition du Seuil 2006. Noiriel, Gérard: Réfugiés et sans-papiers. La République face au droit d’asile xixe–xxe siècle, Paris: Calman-Lévy 1998. Noiriel, Gérard: Représentation nationale et categories sociales. L’exemple des réfugiés politiques, in: Genèses 26 (1997), S. 25–54. Ong, Aihwa: Buddha is Hiding. Refugee, Citizenship, the New America, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 2003. Ory, Pascal/Sirinelli, Jean-François: Les intellectuels en France. De l’Affaire Dreyfus à nos jours, Paris: Perrin 2004. Paige, Arthur: Unfinished Projects. Decolonization and the Philosophy of JeanPaul Sartre, London: Verso 2010. Parker, Gabrielle: Francophonie et Universalité. Évolution de deux Idées Jumelles, in: Pascal Blanchard/Nicolas Bancel (Hg.): Culture post-coloniale 1961–2006. Traces et mémoires coloniales en France, Paris: Édition Autrement 2005, S. 228–242. Paulmann, Johannes (Hg.): Humanitarianism & Media. 1900 to the Present, New York, Oxford: Berghahn Books 2019. Peabody, Sue/Stovall, Tyler (Hg.): The Color of Liberty. Histories of Race in France, Durham, London: Duke University Press 2003. Poinsot, Éric: Vers une lecture économique et sociale des droits humains. L’évolution d’Amnesty International, in: Revue française de science politique 54, 3 (2004), S. 399–420. Poutrus, Patrice G.: Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin: Ch. Links Verlag 2019. Prak-Vath: Les difficultés recontrées par les réfugiés Cambodgiens pour leur installation en France. (mémoire sur l’intégration des réfugiés Cambodgiens en France et particulièrement à Lyon de 1975 à 1985). Thèse de 3e cycle, Paris 1992.

239

240

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Prognon, Nicolas: France. Welcoming Chilean Exiles, a Mark of the Resonance of the Unidad Popular in French Society?, in: Kim Christiaens/Idesbald Goddeeris/Magaly Rodríguez García (Hg.): European Solidarity with Chile 1970s-1980s, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2014, S. 186–205. Putnam, Robert: Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, in: International Organization 42, 3 (1988), S. 427–460. Rechtman, Richard: The Survivor’s Paradox. Psychological Consequences of the Khmer Rouge Rhetoric of Extermination, in: Anthropology & Medicine 13, 1 (2006), S. 1–11. Rechtman, Richard: Stories of Trauma and Idioms of Distress. From Cultural Narratives to Clinical Assessment, in: Transcultural Psychiatry 37, 3 (2000), S. 403–415. Renard, Léa: Mit den Augen der Statistiker. Deutsche Kategorisierungspraktiken von Migration im historischen Wandel, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15, 3 (2018), S. 431–451. Reynell, Josephine: Political Pawns. Refugees on the Thai-Kampuchean Border, Oxford: Oxford University Press 1989. Rigouste, Mathieu: L’armée et la construction de l’immigration comme menace, in: Pascal Blanchard/Nicolas Bancel (Hg.): Culture post-coloniale 1961–2006. Traces et mémoires coloniales en France, Paris: Édition Autrement 2005, S. 113–124. Risse, Thomas/Stephen C. Ropp/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights. International Norms and Domestic Change, Cambridge: Cambridge University Press 1999. Robic-Diaz, Delphine/Ruscio, Alain: Cinéma, chanson, littérature post-coloniaux. continuité ou rupture? (1961–2006), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France. De la Révolution Francaise à nos jours, Paris: CNRS Éditions 2008, S. 677–682. Robinson, Courtland W.: The Comprehensive Plan of Action for Indochinese Refugees, 1989–1997. Sharing the Burden and Passing the Buck, in: Journal of Refugee Studies 17, 3 (2004), S. 319–333. Robinson, Courtland W.: Terms of Refuge. The Indochinese Exodus and the International Responses, London, New York: Zed Books 1998. Ross, Kristin: May ʻ68 and Its Afterlives, Chicago: University of Chicago Press 2002. Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: Stanford University Press 2009.

Literaturverzeichnis

Rousso, Henri: The Vichy Syndrome. History and Memory in Postwar France, Cambridge/MA: Harvard University Press 1991. Ruscio, Alain: Du village à l’exposition. Les Français à la rencontre des Indochinois, in: Pascal Blanchard/Nicolas Bancel/Gilles Boëtsch/Éric Deroo/ Sandrine Lemaire (Hg.): Zoos humains et exhibitions coloniales. 150 ans d’inventions de l’Autre, Paris: La Découverte 2011, S. 308–316. Ruscio, Alain: Littérature, chansons et colonies (1900–1920), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France. De la Révolution Francaise à nos jours, Paris: CNRS Éditions 2008, S. 131–152. Sargent, Daniel: Eine Oase in der Wüste? Amerikas Wiederentdeckung der Menschenrechte, in: Jan Eckel/Samuel Moyn (Hg.): Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2012, S. 259–289. Sauvage, Monique/Veyrat-Masson, Isabelle: Histoire de la télévision française. De 1935 à nos jours, Paris: Nouveau monde éditions 2012. Schiller, Nick/Çağlar, Ayse: Towards a Comparative Theory of Locality in Migration Studies. Migrant Incorporation and City Scale, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 35, 2 (2009), S. 177–202. Ségur, Philippe: La crise du droit d’asile, Paris: Presses Universitaires de France 1998. Shawcross, William: The Quality of Mercy. Cambodia, Holocaust, and Modern Conscience, New York: Simon and Schuster 1984. Short, Philip: Pol Pot. The History of a Nightmare, London: John Murray Publishers 2004. Siméant, Johanna: Socialisation catholique et biens de salut dans quatre ONG humanitaires françaises, in: Le Mouvement Sociale 227, 2 (2009), S. 101–122. Simon, Patrick: Race, Ethnicization, and Discrimination. Is History Repeating itself or is this a Postcolonial Peculiarity?, in: Nicolas Bancel/Pascal Blanchard/Dominic Thomas (Hg.): The Colonial Legacy in France. Fracture, Rupture, and Apartheid, Bloomington: Indiana University Press 2017, S. 187–197. Simon, Pierre-Jean: L’Indochine française. Bref aperçu de son histoire et des représentations coloniales, in: Hommes et Migrations 1234, November-Dezember (2001), S. 14–22. Simon-Barouh, Ida: Cambodians in Rennes. A Study of Inter-Ethnic Relations, in: Urban Anthropology 12, 1 (1983), S. 1–28.

241

242

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Simon-Barouh, Ida: Cheminements cambodgiens, hmong, lao, vietnamiens, in: Hommes et Migrations 1234 (2001), S. 5–13. Simon-Barouh, Ida: L’accueil des réfugiés d’Asie du Sud-Est à Rennes, in: Pluriel débat 28 (1981), S. 23–56. Sirinelli, Jean-François: Les vingt décisives. Le passé proche de notre avenir 1965–1985, Paris: Fayard 2007. Sirinelli, Jean-François: Mai 68. L’événement Janus, Paris: Librairie Arthème Fayard 2008. Sirinelli, Jean-François: Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions au XXe siècle, Paris: Fayard 1990. Sontag, Susan: Regarding the Pain of Others, New York: Farrar, Straus and Giroux 2003. Stein, Barry: The Geneva Conferences and the Indochinese Refugee Crisis, in: The International Migration Review 13, 4 (1979), 716–123. Stora, Benjamin/Leclère, Thierry: La guerre des mémoires. La France face à son passé colonial, La Tour-d’Aigues: Éditions de l’Aube 2007. Stora, Benjamin: Les immigrés algériens en France. Une histoire politique 1912–1962, Paris: Hachette 2009. Tabeau, Ewa/They, Kheam: Demographic Expert Report. The Khmer Rouge Victims in Cambodia, April 1975-January 1979. A Critical Assessment of Major Estimates, 30.09.2009, https://www.eccc.gov.kh/sites/default/files/d ocuments/courtdoc/D140_1_1_Public_Redacted_EN.PDF (zuletzt geprüft am 29.07.2022). Taguieff, Pierre-André: Origines et métamorphoses de la nouvelle droite, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 40, Oktober-Dezember (1993), S. 3–22. Tertrais, Hugues: Face à l’Asie, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 101–102, 1 (2011), S. 46–47. Tignères, Serge/Ruscio, Alain: Dien Bien Phu: Mythes et réalités, 1954–2004. Cinquante ans de passions françaises, Paris: Les Indes savantes 2005. Tignères, Serge: La guerre d’Indochine et l’opinion publique française entre 1954 et 1994. Dissertation, Toulouse 1999. Ungar, Steve: L’Exposition coloniale (1931), in: Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire/Nicolas Bancel (Hg.): Culture coloniale en France. De la Révolution Francaise à nos jours, Paris: CNRS Éditions 2008, S. 259–268. Unger, Daniel: Ain’t Enough Blanket. International Humanitarian Assistance and Cambodian Political Resistance, in: Stephen J. Stedman/Fred Tanner (Hg.): Refugee Manipulation. War, Politics, and the Abuse of Human Suffering, Washington: Brookings Institution Press 2003, S. 17–56.

Literaturverzeichnis

Valette, Jacques: La guerre d’Indochine 1945–1954, Paris: Armand Colin 1994. Vallaeys, Anne: Médecins Sans Frontières. La biographie, Paris: Fayard 2004. Valluy, Jérôme: Rejet des exilés. Le grand retournement du droit d’asile, Bellecombe-en-Bauges: Croquant 2009. Veyrat-Masson, Isabelle/Denis, Sébastien/Sécail, Claire (Hg.): Sous les images la politique … Presse, cinéma, télévision, nouveaux médias (XXe-XXIe siècle), Paris: CNRS Éditions 2014. Viet, Vincent: La France immigrée. Construction d’une politique 1914–1997, Paris: Fayard 1998. Vössing, Michael: Competition over Aid? The German Red Cross, the Committee Cap Anamur, and the Rescue of Boat People in South-East Asia, 1979–1982, in: Johannes Paulmann (Hg.): Dilemmas of humanitarian aid in the twentieth century, Oxford: Oxford University Press 2016, S. 345–370. Wangen, Gérold de: Les débuts de France terre d’asile, in: Hommes et Migrations 1198–1199, Mai-Juni (1996), S. 94–95. Weghofer, Beate: Cinéma Indochina. Eine (post-)koloniale Filmgeschichte Frankreichs, Bielefeld: transcript 2010. Weil, Patrick: Liberté, égalité, discriminations. L’identité nationale au regard de l’histoire, Paris: Gallimard 2008. Weil, Patrick: La France et ses étrangers. L’aventure d’une politique de l’immigration de 1938 à nos jours, Paris: Gallimard 2005. Weinke, Annette: Vom ›Nie wieder‹ zur diskursiven Ressource. Menschenrechte als Strukturprinzip internationaler Politik seit 1945, in: Norbert Frei/Annette Weinke (Hg.): Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 12–39. Weissmann, Fabrice: Silence Heals … From the Cold War to the War on Terror, MSF Speaks Out. A History, in: Claire Magone/Michaël Neuman/Fabrice Weissmann (Hg.): Humanitarian Negotiations Revealed. The MSF Experience, London: Hurst and Company 2011. Wieviorka, Annette: L’Ère du témoin, Paris: Plon 1998. Wijers, Gea: The Reception of Cambodian Refugees in France, in: Journal of Refugee Studies 24, 2 (2011), S. 239–255. Wirsching, Andreas/Therborn, Göran/Eley, Geoff/Kaelble Hartmut/ Chassaigne, Philippe: The 1970s and 1980s as a Turning Point in European History?, in: Journal of Modern European History 9, 1 (2011), S. 8–26.

243

244

Eine postkoloniale Flüchtlingskrise

Withol de Wenden, Catherine: La question migratoire au XXIe siècle. Migrants, réfugiés et relations internationales, Paris: SciencesPo les presses 2017. Withol de Wenden, Catherine: Ouverture et fermeture de la France aux étrangers. Un siècle d’évolution, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 73, 1 (2002), S. 27–38. Withol de Wenden, Catherine: La crise de l’asile, in: Hommes et Migrations 1238, Juli-August (2002), S. 6–12. Wolin, Richard: The Wind from the East. French Intellectuals, the Cultural Revolution, and the Legacy of the 1960s, Princeton: Princeton University Press 2010. Woyke, Wichard: Die Außenpolitik Frankreichs. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010.

Geschichtswissenschaft Manuel Gogos

Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n) 2021, 272 S., Hardcover, Fadenbindung, durchgängig vierfarbig 40,00 € (DE), 978-3-8376-5423-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5423-7

Thomas Etzemüller

Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion 2021, 294 S., kart. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2

Thilo Neidhöfer

Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 2021, 440 S., kart., 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Geschichtswissenschaft Norbert Finzsch

Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 2021, 528 S., kart., 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7

Frank Jacob

Freiheit wagen! Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert 2021, 88 S., kart. 9,90 € (DE), 978-3-8376-5761-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5761-0

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte 2022/2, Heft 86: Papierkram September 2022, 192 S., kart., 24 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 22,00 € (DE), 978-3-8376-5866-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5866-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de