Die Kunst der Germanen im frühen Mittelalter [Reprint 2020 ed.]
 9783112331880, 9783112331873

Citation preview

VOR- UND FRUHGESCHICHTLICHE KUNST H c r a u » g c g e b c n mit Unterstützung ves Archäologischen Institute» des Deutschen Reiche»

Golöcnce Spangenpaar mit Älmanöincinlagcn, Zürich

Wilhelm Albert von Jenny

Die Kunst der Germanen

im frühen Mittelalter

Deutscher Kunstverlag Berlin 1940

Es lieferten:

Das Papier Scheufelen, Oberlenningen; die Druckstöcke Karl Lemke, Graph. Kunstanstalt; de-n Druck O von Holten; den Einband H. Sperling. Alle in Berlin. Den Einbandschmuck zeichnete Prof. Ernst Böhm, Berl

INHALTSVERZEICHNIS Die geraden Zahlen verweisen auf den Textteil, di« sch ragen auf den Dil verteil

Vorwort

.........................................................................................

Die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung

/

Völkerwanderung und Merowingcrzeit 13

7 9

12

Goten und Langobarden 14........................................................

14

Der mitteleuropäische Kunstkreis 33

24

Die Angelsachsen 70

35

Die Nordgermanen 80...............................................................

40

Die Bilddenkmäler der Merowingerzeit 94..................

51

Der Übergang zum Hochmittelalter /o/.........................................

54

Die karolingische und spätangelsächsische Kunst 106

54

Die Wikingerkunst (800-1 ioo) ///

58

Zu den Bildern

.............................................................................

Schriftenverzeichnis

63 77

Die Zahlen am Rande der Textseiten »erweisen auf den Bilderteil

Das vorliegende Buch will einen Überblick über die germanische Kunst des FrühmittclalterS geben. ES soll eine gewisse Lücke deS SchrifttumeS schließen, indem eS als

handlicher, doch nicht zu knapp gehaltener Tafelband neben die Abbildungswerke der engeren Fachliteratur tritt.

Der einleitende Text will in übersichtlicher Form die Hauptlinien des kunstgeschichtlichen

Entwicklungsganges nachzcichnen. Auf Literaturhinweise in Form von Fußnoten oder Anmerkungen ist dabei verzichtet worden. Als ein gewisser Ersatz möge daS ziemlich aus­ führlich gehaltene

Schriftenverzeichnis

dienen,

dessen Gliederung mit der Kapitel-

einteilung deS Bandes übereinstimmt. Für fachwissenschaftliche Benutzer ist überdies ein

Verzeichnis der wichtigsten Literaturstellen beigefügt, welche auf die einzelnen abgebildeten Denkmäler Bezug nehmen. Die Abbildungen sind größtenteils Neuaufnahmen; sie wurden dem „Bildarchiv zur

Deutschen Vor- und Frühgeschichte" entnommen, daS der Deutsche Kunstverlag in den Jahren 1934—38 mit Unterstützung deS RcichSerzichungSministeriumS und deS Archäologischen

Institutes deS Deutschen Reiches anlegtc. Der Verlag durfte sich dabei der fachwiffenschaftlichen Beratung durch die Herren Professor W. B u t t l e r, Dr. F. Holste, Dozent H. Jankuhn,

Professor

E.

Sprockhoff,

Dozent

I.

Werner

und Dozent

K. W i l l v 0 n se d e r erfreuen; insbesondere war eS Ernst Sprockhoff, der dem Unter­ nehmen von Anfang an fördernd zur Seite stand. Die Originalaufnahmen, die hier zum ersten Mal veröffeiltlicht werden, machten Dr. Hilde Bauer, Helga Gläßner und Rosemarie Möller.

Ein kleiner Teil der Abbildungsvorlagen wurde in freundlicher Weise von verschiedenen nordischen Museen zur Verfügung gestellt. Sollte daS vorliegende Buch eine günstige Aufnahme finden, so ist ein ähnlich auS-

gestatteter zweiter Band geplant, der die vorgeschichtliche Kunst Deutschlands behandeln wird.

Berlin, im Frühjahr 1940.

Wilhelm A. von Jenny

DIE ERSTEN JAHRHUNDERTE UNSERER ZEITRECHNUNG Die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung stellen in der Geschichte des germanischen

Kunstschaffens eine Art von Vorbereitungsperiode dar, welche dem Frühmittelalter vorauf­ geht. Um Christi Geburt etwa hat die germanische Kunst endgültig jenes lange und überaus

tiefe Wellental durchlaufen, das auf ihre erste, bronzezeitliche Blüteperiode gefolgt war.

Langsam beginnt die Linie der Entwicklung wieder anzusteigen; kaum merklich erst, dann immer deutlicher, setzen jene neuen Antriebe ein, welche schließlich vom 4. und 5. Jahrhundert

ab die frühmittelalterliche Hochblüte des germanischen Kunstschaffens heraufführen. So sind

die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung eine Periode des Erwachens und ersten Erprobens neuer Kräfte, eine Anlauffrist gleichsam, die dem vollen künstlerischen Aufschwung vorangeht. Aber noch halten sich Schöpferkraft und Leistung in engen Grenzen. Am frühesten wird der neue Anstieg auf technisch-handwerklichem Gebiet erkennbar. In der Beherrschung der Goldschmiedekunst entwickeln die ersten Jahrhunderte bereits eine Meisterschaft, die üi der Folge kaum mehr übertroffen wird. Der rein künstlerische Gehalt der Schöpfungen aber

bleibt weit hinter ihrer technischen Vollendung zurück. Es herrscht ein trocken-handwerklicher Geist, eine ausgesprochen nüchterne Kunstgesinnung, die alles Gewicht auf saubere Aus­

führung legt und sich mi übrigen mit einer Verzierung rein technisch-geometrischen Gepräges zufrieden gibt.

ES ist kaum möglich, das germanische Kunstschaffen der ersten Jahrhunderte in Stilstufen zu gliedern. Dazu ist das Zeitalter im ganzen an Kunstäußerungen noch zu arm. Wohl aber läßt sich deutlich eine Entwicklung erkennen, welche in einer ganz bestimmten Richtung ver­

läuft. Um die Wende der Zeitrechnung sieht das germanische Kunsthandwerk noch unter den

Nachwirkungen jener starken keltischen Einflüsse, denen es in den voraufgehenden zwei Jahr­

hunderten auSgesctzt war. Es herrscht eine Geschmacksrichtung, die dem festlandskeltischen Spätlatenestil nahe verwandt ist. Eine Flächenverzierung tritt kaum auf; das Kunstwollen

lebt sich vor allem in der Fonngebung der Waffen und Schmuckstücke aus. Man bevorzugt

^bewegte" oder von innerer Spannung erfüllte Formen. Die eiserne« Lanzenspitzen erhalten

oft ein geflammtes Blatt, die Schwertscheiden ein geschwungenes Mundstück. Die Gewand­ spangen werden so gebildet, daß sie in ihrem ganzen Bau sinnenfällig das Wirken der

elastischen Federkraft zum Ausdruck bringen. Mit dem politischen Untergang deS festländi­ schen KeltentumcS, mit dem Vordringen der römischen Weltmacht bis zum Rhein und zur

Donau kommt auch dieser keltisierende Stil im germanischen Kunstschaffen rasch zum Ab­ klingen. Er wird schon im i. Jahrhundert durch eine Filigranvcrzierung abgelöst, die sich vom

hellenistischen Südrußland und von der unteren Donau her über große Teile der germanischen Welt auöbreitct. Es erscheinen geflochtene Goldhalskettcn mit zierlichen 8-förmigen Schlie-

2

ßen, dazu kleine Anhängsel und Berlocken, die in feiner Filigranarbeit mit Goldkörnerauf­ lagen (Granulation) und dünnen Drahtgeschlingen belegt werden — zumeist Arbeiten von hoher handwerklicher

Vollendung.

Besonders

beliebt ist in dieser Periode die

sogenannte Pyramiden- oder Traubengranulation — das pyramidenförmige Aufeinander­

türmen mehrerer Goldkügclchen — eine Technik, die gleichfalls auö der hellenistischen Misch-

9

kunst SüdrußlandS stammt. Auf den Gewandspangen — der künstlerischen Leitform dieses

Zeitalters — betätigt sich die Filigranverzierung anfänglich als tektonisch gliedernder Zierat, indem sie Bügel und Fuß mit gekörnten Gold- oder Silberdrähten ein faßt und so die mar­

kanten Linien des Umrisses nachzeichnet. Bald aber beginnt der Filigranschmuck auch flächen­ bedeckend zu werden. Der Bügel der Spangen wird mit feinen, eingehämmerten Silberfäden

überzogen oder mit allerlei Auflagen bedeckt; und schon im i. Jahrhundert erscheinen Formen, die gleichsam völlig von wucherndem Filigranwerk übersponnen sind. Vereinzelt stellen sich auch höhere Ornamentmotive in Gestalt schmaler Flechtbänder ein. Der Höhe-

5

punkt dieser Filigranverzierung ist zu Beginn des 2. Jahrhunderts schon überschritten; sie scheint sich aber in verschiedenen Gebieten ohne Unterbrechung bis in das 3. und 4. Jahr­

hundert gehalten zu haben, um dann in die etwas anders geartete Filigrantechnik der be­ ginnenden Völkerwanderungszeit überzugehen. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist die Filigranverzierung deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie die endgültige Überwin­

dung deö schmuckfeindlichen keltisierenden Stiles bedeutet. Die germanische Kunst hat sich

wieder der Ausbildung einer Flächenverzierung zugewandt und damit jene Entwicklungs­ bahn beschritten, die schließlich in das reiche ornamentale Kunstschaffen des Frühmittelalters auSmündet. Der nachbarliche Einfluß der römischen Reichsprovinzen komntt im gennanischen Fund­ stoff der ersten Jahrhunderte mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Massenhaft auftretendes

Einfuhrgut, das bis nach Skandinavien verhandelt wird — Sigillaten, Glas, Bronze- und

Silberschirr — bezeugt, daß man an germanischen Fürstenhöfen und Edelsitzen die Erzeug­

nisse des römischen Kunstfleißes sehr wohl zu schätzen wußte. Dagegen ist der Einfluß Roms auf das germanische Kunstschaffen in dieser Periode noch nicht allzu bedeutend; er bleibt auch örtlich auf bestimmte Laildschaften beschränkt. Am klarsten erkennbar wird er in den

großen Moorfunden SchlcSwig-HolsteinS und Dänemarks — Anhäufungen von Weihegaben, die an bestimmten heiligen Plätzen im Moore niedergelegt wurden. Hier tritt neben

rein germanischen Erzeugnissen eine Gruppe von Arbeiten auf, in denen sich germanische und

provinzialrömische Stilelemenle nnschen. Ihr EntstehungSgebiet dürfte teils in der römischen Provinz Niedergermanien — am Niederrhein — teils in den unnnttelbar angrenzenden Teilen des freien Germanien zu suchen sein. In die Gruppe dieser gemischten Arbeiten gehören

die Fundgcgenstände unserer Tafeln 4 bis 8; für die Silberscheibe auS dem ThorSberger

4-8

Moor konnte jüngst die Herkunft aus einer provinzialen Werkstatt der Kölner Um­ gegend nachgcwiesen werden. Die kleinen, aufgenicteten Tiergestalten dieses Schrnuck-

stückeö sind nachträgliche Zutaten von germanischer Hand. Abgesehen von der Gruppe der

Moorfunde ist jedoch der römische Einfluß während der ersten Jahrhunderte nicht eben stark.

Die meist figürlich verzierten Erzeugnisse des römischen Kunsthandwerkes haben der ganz anders eingestellten germanischen Kunst dieses Zeitalters keine brauchbaren Anregungen zu geben. Werden aber ausnahmsweise figurale Motive römischer Herkunft in den germanischen

Formenschatz übernommen, so verfallen sie binnen kurzem der Auflösung. Ein ausgezeich­ netes Beispiel sind die norddeutsch-skandinavischen Schlangenringe des beginnenden 4. Jahr­

hunderts — goldene Arm- und Fingerringe mit Tierkopfenden, die in Anlehnung an eine gebräuchliche Ringform der römischen Rheinlande entstehen. Bei den älteren Ringen dieser

10

Gruppe sind die Schlangenköpfe der römischen Vorlage noch deutlich zu erkennen; bei den jüngeren Stücken werden sie immer schematischer gestaltet, um schließlich in stummelförmige 9

Gebilde überzugehen, wie sie der Schlangenring aus dem Cottbuser Goldfund zeigt. Die Beziehungen der germanischen Welt zum Südosten, die schon im i. Jahrhundert zur Übernahme der älteren Filigranverzierung führten, erfahren im Laufe des 3. Jahrhunderts

durch die Aufrichtung des südrussischen Gotenreiches und durch die Landnahme der Wandalen in der heutigen Slowakei eine weitere Vertiefung. Hier, im Südosten des germanischen

Raumes, beginnt sich — wohl unter dem Einfluß bestimmter provinzialrömischer Spangen­ formen — die germanische Gewandspange in jenen breitflächigen Typus umzubilden, der

dann für die ganze Völkerwanderungszeit kennzeichnend bleibt. Die goldenen Spangen aus den wandalischen Fürstengräbern von Sacrau bei Breslau, die um 300 anzusetzen sein

12

mögen, zeigen

diesen Umbildungsvorgang schon in vollem Gange. Der Kopf der

Spange erweitert sich zu einer fächerförmigen, halbrunden Platte, während gleichzeitig der

Fuß in eine breite, rhombisch geformte Bildung übergeht. Und nur der Mittelteil des Bügels bewahrt noch seine alte, bandförmige Gestalt. So wird aus dem ganz schlank gebauten, von

dynamischer Spannung erfüllten Schmuckstück des 1. Jahrhunderts ein breitflächig-dekorativeö Schaustück, auf dem sich die Verzierung immer uneingeschränkter ausleben kann.

Gleichzeitig mit dieser Umgestaltung der Spangenformen geht eine zweite Welle des Filigran­ schmuckes über den ganzen Osten der germanischen Welt hinweg, um sich schließlich mit ihren Ausläufern bis nach Thüringen, Dänemark und Skandinavien fortzupflanzen. Diese

jüngere Filigranverzierung unterscheidet sich von der älteren Filigrantechnik des i. Jahrhun­

derts hauptsächlich dadurch, daß die geperlten, gezwirnten oder geflochtenen Golddrähte io, 12

nunmehr mit Vorliebe bündelweise, in zahlreichen Parallelreihen aufgelegt werden, so

daß die Schmuckstücke oft wie von einem goldenen Strickwerk überzogen erscheinen. Auch

diese Zierweise ist hellenistisch-iranischen Ursprunges und aus Südrußland übernommen. Daneben erscheinen Auflagen in Gestalt von Doppelspiralen und allerlei lockerem Schling-

9/12

werk, wie dies die Sacrauer Goldspangen und Hängezierate zeigen. Die letzteren gehen in ihrer Form auf die sogenannten Lunulen, d.h. auf Halbmond- oder peltaförmige Anhänger

der provinzialrömischen Kunst zurück. Bald nach 300 beginnen dann auch die ersten bunten 10

Edelsteine oder Glasflüsse aufzutreten; die Entwicklung gleitet unmerklich, ohne jeden

Bruch in den „farbigen Stil" der Völkerwanderungszeit hinüber. Im ganzen betrachtet, ist das Entwicklungsstreben der germanischen Kunst während der

ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung ganz unverkennbar auf Ausbildung einer Flächen­ verzierung gerichtet. Aber diese selbstgestellte Aufgabe wird vorerst nur unzureichend und auf

einer verhältnismäßig niederen Ebene künstlerischer Gestaltung gelöst. Zunächst gelingt eS der germanischen Kunst noch nicht, zu einem wirklich flächenbedeckenden, d.h. flächenauSdeutenden Ornament zu kommen. In der Regel bleibt die Filigranverzierung, auch dort,

wo sie scheinbar flächenfüllend auftritt, ihrem wahren Wesen nach ein bloßeS Randornament. 12

Dies zeigen außerordentlich klar gerade die Sacrauer Spangen. Hier wird z. B. bei

den beiden äußeren Spangen der Abbildung die Verzierung der Kopfplatte nur dadurch

11

gebildet, daß man einfach das einfassende Randornament in mehreren konzentrischen Ringen

Römisches Reich und germanische Stämme um 350

wiederholt. Dieses Notauskunftsmittcl verrät überdeutlich, wie weit die germanische Kunst dieser Periode noch von einer echten Flächcnvcrzierung entfernt ist. Die andere Beschränktheit dieser Ornamentik aber liegt in dem Gehalt der angewandten Zierelemente. Es sind Gebilde

rein technisch-mechanischen Ursprunges und Wesens, die hier als Zierat auftreten — geperlte und geflochtene Golddrähte, kleine Goldkügelchcn und anderes dieser Art mehr. So verinag

sich die Verzierung auch in ihrem künstlerischen Gehalt nicht über die Stufe einer rein mechanisch-geometrisch bestimmten Formenwelt zu erheben. Im Grunde sind es einfache

Strick- oder Apptikationsmuster, denen wir hier gegenübcrstehen und noch fällt keinerlei erwärmender Schimmer organischen Lebens in die starre und nüchterne Welt dieser Kunst.

VÖLKERWANDERUNG UND MEROWINGERZEIT Mit dem Beginn der Völkerwanderung (375) tritt die ornamentale Kunst der germanischen Stämme in einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte ein, der sich bis zum Ausgang des mcro-

wingischen Zeitalters erstreckt. Sie durchläuft nunmehr eine Periode ausgesprochener Hoch­

blüte und lebhaft fortschreitender Entwicklung, in der ihre schöpferischen Kräfte immer mächtiger hcrvorbrechcn. Von der handwerksmäßigen Trockenheit und Nüchternheit, die den Erzeugnissen der voraufgegangenen Jahrhunderte anhaftctc, ist in den Tagen der Völker­

wanderung und des merowingischen Reiches nicht mehr viel zu verspüren. Das künstlerische

Ringen geht nach wie vor um die Ausbildung einer Flächenverzierung, aber diese Aufgabe

wird jetzt mit unvergleichlich wirkungsvolleren Kunstmitteln und auf einer weit höheren

Ebene der Gestaltungskraft gelöst. Die germanische Kunst entdeckt den Reiz der Farbe; sie arbeitet tritt den bestrickenden Färb- und Materialwirkungen, die von der Verwendung



Römisches Reich und germanische Stämme um 350

wiederholt. Dieses Notauskunftsmittcl verrät überdeutlich, wie weit die germanische Kunst dieser Periode noch von einer echten Flächcnvcrzierung entfernt ist. Die andere Beschränktheit dieser Ornamentik aber liegt in dem Gehalt der angewandten Zierelemente. Es sind Gebilde

rein technisch-mechanischen Ursprunges und Wesens, die hier als Zierat auftreten — geperlte und geflochtene Golddrähte, kleine Goldkügelchcn und anderes dieser Art mehr. So verinag

sich die Verzierung auch in ihrem künstlerischen Gehalt nicht über die Stufe einer rein mechanisch-geometrisch bestimmten Formenwelt zu erheben. Im Grunde sind es einfache

Strick- oder Apptikationsmuster, denen wir hier gegenübcrstehen und noch fällt keinerlei erwärmender Schimmer organischen Lebens in die starre und nüchterne Welt dieser Kunst.

VÖLKERWANDERUNG UND MEROWINGERZEIT Mit dem Beginn der Völkerwanderung (375) tritt die ornamentale Kunst der germanischen Stämme in einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte ein, der sich bis zum Ausgang des mcro-

wingischen Zeitalters erstreckt. Sie durchläuft nunmehr eine Periode ausgesprochener Hoch­

blüte und lebhaft fortschreitender Entwicklung, in der ihre schöpferischen Kräfte immer mächtiger hcrvorbrechcn. Von der handwerksmäßigen Trockenheit und Nüchternheit, die den Erzeugnissen der voraufgegangenen Jahrhunderte anhaftctc, ist in den Tagen der Völker­

wanderung und des merowingischen Reiches nicht mehr viel zu verspüren. Das künstlerische

Ringen geht nach wie vor um die Ausbildung einer Flächenverzierung, aber diese Aufgabe

wird jetzt mit unvergleichlich wirkungsvolleren Kunstmitteln und auf einer weit höheren

Ebene der Gestaltungskraft gelöst. Die germanische Kunst entdeckt den Reiz der Farbe; sie arbeitet tritt den bestrickenden Färb- und Materialwirkungen, die von der Verwendung



bunter Edelsieinauflagen ausgehcn. Sie entwickelt in der Tierornamentik eine Flächen­ verzierung organisch-lebendigen Fornrgchaltcs/ welche die Schmuckstücke mit einem kunst­

vollen Gespinst abstrakt stilisierter Tierleiber überzieht. So entstehen Arbeiten, die mit ihrem farbigen Glanz, mit ihrer unerschöpflichen omamentalen Phantasie zu hervorragendsten Leistungen des Kunsihandwcrkes gehören. Gleichzeitig aber wird der Umkreis der bloß

zierenden und schmückenden Kunst auch schon überschritten: vom 7.Jahrhundett ab stellen sich die ersten Anfänge einer frei schaffenden, darstellenden Kunst ein, deren Hauptgegen­

stand die menschliche Gestalt ist. Leise kündigen sich damit jene ganz neuen künstlerischen Möglichkeiten an, die erst viel später in den Schöpfungen des Hochmittelalters und der Neuzeit voll verwirklicht werden.

Durch die Ereignisse der Völkerwanderungszeit findet die Abgeschlossenheit der germa­ nischen Welt für immer ein Ende. Die germanischen Stämme treten auf fremdem Boden

mit fremden Kulturen in Berührung, ihre Geschichte weitet sich mehr und mehr zur Geschichte Gesamteuropas aus. So ist es nur eine notwendige Folge der geschichtlichen Vorgänge,

wenn nunmehr auch im germanischen Kunstschaffen die Auseinandersetzung mit Fremdem einen unvergleichlich breiteren Raum einnimmt als jemals vorher. Der römische Einfluß

beginnt erst jetzt seine volle Stärke zu entfalten, nachdem die einstigen Grenznachbarn des Im­ periums selbst zu Herren römischen Bodens geworden sind, nachdem sie das politische und kulturelle Erbe des weströmischen Reiches angetreten haben. Gleichzeitig wirkt vom Osten her,

durch dieWandcrzügederGoten vermittelt, derEinfluß der hellenistischen, iranischen undinner­ asiatischen Kunst. Und in dem Maße, wie die Christianisierung der germanischen Welt im 6. und

7. Jahrhundett fottschreitet, beginnt auch der christliche Osten einen deutlich wahrnehmbaren Einfluß auf die germanischen Völker West- und Südeuropas auszuüben, einen Einfluß, der sich bald nach Mittel- und Nordeuropa fortpflanzt. Und selbst die Einfälle der asiatischen

Steppenvölkcr, der Hunnen und Awaren, sind nicht ganz spurlos vorübergegangen. So ist die

germanische Kunst des Frühmittelalters durchsetzt mit Formen, Motiven, Zierweisen und Techniken, die fremden Ursprunges sind. Aber gerade