Artes im Mittelalter: Wissenschaft – Kunst – Kommunikation [Reprint 2015 ed.] 9783050075457, 9783050033075

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Artes im Mittelalter: Wissenschaft – Kunst – Kommunikation [Reprint 2015 ed.]
 9783050075457, 9783050033075

Table of contents :
VORWORT
Artes im Mittelalter: Eine Einleitung
I. FORMATIONEN UND TRANSFORMATIONEN DES WISSENS Über die Funktion der ars musica im Mittelalter
Durch Bildung zur Tugend: Zur Wissenschaftslehre des Thomasin von Zerclaere
Artes und Weitsicht bei Roger Bacon
Die artes im Lehrplan der Universitäten
Divisio musicae und auditus im frühen 14. Jahrhundert
Macht der Sterne oder Miasmen der Erde: Heinrich von Mügeln und Konrad von Megenburg über die Pest von 1348
Zwischen Gelehrsamkeit und Information: Wissen und Wahrheit im Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit
II. FORTSCHREIBUNGEN VON WISSENSBESTÄNDEN
Zu Begriff und Konzepten des Enzyklopädismus in Byzanz
Die theologische Summa: Zur Bedeutung einer hochmittelalterlichen Literaturgattung
Für eine neue Geschichte der Nachahmungskategorie: Imitatio morum und lectio auctorum in ‘Polieraticus’ VII, 10
Das Kompositionskapitel als Modell poietischer Reflexion: Zur pragmatischen Transformation der ars musica in der Musiktheorie des Hoch- und Spätmittelalters
Boethius’ ‘De Consolatione Philosophiae’ didaktisch aufbereitet: Die anonyme mittelenglische Übersetzung von Buch I in Ms. Oxford Auct. F 3.5
Wissen und Repräsentation: Zur Auseinandersetzung des Hermannus Piscator mit Johannes Trithemius um die Rekonstruktion der Vergangenheit
III. WISSEN UND MAGIE
Die Macht der Magie: Zauberer in der hochmittelalterlichen Epik
Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen
Die Stellung der artes magicae in den hochmittelalterlichen ‘Divisiones philosophiae’
Magie, Religion und Wissenschaft: Hans Stadens Brasilien-Reisebericht von 1557
IV. DIE KÜNSTE UND DIE KUNST
Bildpolitik und Bildungsreform Karls des Großen
Verslehre und Versvertonung im lateinischen Mittelalter
Der Reliefzyklus des Florentiner Domcampanile oder die Kunst der Bildhauer, sich an der Heilsgeschichte zu beteiligen
Narr und Null im Tarock
V. DARSTELLUNGEN DER ARTES
Bildung im Bild: Darstellungen der septem artes liberales in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance
Über die Notwendigkeit der kunst für das Menschsein bei Thomasin von Zerklaere und Heinrich dem Teichner
Der Gelehrte als Narr: Das Lachen über die artes und Wissen im Fastnachtspiel

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Ursula Schaefer (Hg.) Artes im Mittelalter

Ursula Schaefer (Hg.)

Artes im Mittelalter

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Mediävistenverbandes

Abbildung auf dem Einband: Das Kolleg des Henricus de Allemania (Schlußblatt des Liber Eticorum des Frater Henricus de Allemania, Detail), Miniatur des Laurentius de Voltolina (Schule von Bologna), 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts Staatliche Museen zu Berlin Preussischer Kulturbesitz Kupferstichkabinett

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Artes im Mittelalter / Ursula Schaefer (Hg.). - Berlin : Akad. Verl., 1999 ISBN 3-05-003307-X

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

INHALT VORWORT

ix

Ursula Schaefer (Berlin) Artes im Mittelalter: Eine Einleitung

1

I. FORMATIONEN UND TRANSFORMATIONEN DES WISSENS Max Haas (Basel) Über die Funktion der ars musica im Mittelalter

13

Claudia Brinker-von der Heyde (Zürich) Durch Bildung zur Tugend: Zur Wissenschaftslehre des Thomasin von Zerclaere

34

Brigitte Englisch (Bochum) Artes und Weltsicht bei Roger Bacon

53

Jürgen Samowsky (Hamburg) Die artes im Lehrplan der Universitäten

68

Björn R. Tammen (Köln) und Frank Hentschel (München) Divisio musicae und auditus im frühen 14. Jahrhundert

83

Jens Pfeiffer (Berlin) Macht der Sterne oder Miasmen der Erde: Heinrich von Mügeln und Konrad von Megenburg über die Pest von 1348

110

Karina Kellermann (Berlin) Zwischen Gelehrsamkeit und Information: Wissen und Wahrheit im Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit

124

H. FORTSCHREIBUNGEN VON WISSENSBESTÄNDEN Franz Tinnefeid (München) Zu Begriff und Konzepten des Enzyklopädismus in Byzanz

143

Wendelin Knoch (Bochum) Die theologische Summa: Zur Bedeutung einer hochmittelalterlichen Literaturgattung

151

vi Dina de Rentiis (Berlin) Für eine neue Geschichte der Nachahmungskategorie: Imitatio morum und lectio auctorum in 'Policraticus' VII, 10

161

Wolfgang Hirschmann (Erlangen) Das Kompositionskapitel als Modell poietischer Reflexion: Zur pragmatischen Transformation der ars musica in der Musiktheorie des Hoch- und Spätmittelalters

174

Noel Harold Kaylor, Jr. (Cedar Falls, Iowa) Boethius' 'De Consolatione Philosophiae' didaktisch aufbereitet: Die anonyme mittelenglische Übersetzung von Buch I in Ms. Oxford Auct. F 3.5

187

Uta Goerlitz (München) Wissen und Repräsentation: Zur Auseinandersetzung des Hermannus Piscator mit Johannes Trithemius um die Rekonstruktion der Vergangenheit

198

i n . WISSEN UND MAGIE Helmut Brall (Düsseldorf) Die Macht der Magie: Zauberer in der hochmittelalterlichen Epik

215

Klaus Herbers (Erlangen-Nürnberg) Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen

230

Frank Fürbeth (Bochum) Die Stellung der artes magicae in den hochmittelalterlichen 'Divisiones philosophiae'

249

Ralph Schlechtweg-Jahn (Bayreuth) Magie, Religion und Wissenschaft: Hans Stadens Brasilien-Reisebericht von 1557

263

IV. DIE KÜNSTE UND DIE KUNST Bruno Reudenbach (Hamburg) Rectitudo als Projekt: Bildpolitik und Bildungsreform Karls des Großen

283

vii Gunilla Björkvall (Oslo) und Andreas Haug (Erlangen-Nürnberg) Verslehre und Versvertonung im lateinischen Mittelalter

309

Tanja Michalsky (Frankfurt a. M.) Der Reliefzyklus des Florentiner Domcampanile oder die Kunst der Bildhauer, sich an der Heilsgeschichte zu beteiligen

324

Angelika Gross (Paris) Narr und Null im Tarock

344

V. DARSTELLUNGEN DER ARTES Klaus Arnold (Hamburg) Bildung im Bild: Darstellungen der Septem artes liberales in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance

361

Meinolf Schumacher (Wuppertal) Über die Notwendigkeit der kunst für das Menschsein bei Thomasin von Zerklaere und Heinrich dem Teichner

376

Klaus Ridder (Bielefeld) Der Gelehrte als Narr: Das Lachen über die artes und Wissen im Fastnachtspiel

391

VORWORT Vom 24. bis 27. Februar 1997 fand an der Humboldt-Universität zu Berlin das 7. Symposium des Mediävistenverbandes e. V. statt. Die beeindruckende Zahl der auf den call for papers hin eingegangenen abstracts machte das große Interesse deutlich, das in der Mediävistik an dem Thema "Arles im Mittelalter" besteht. Es zeichneten sich auf der Basis der abstracts vier thematische Schwerpunkte ab, aus denen wir für die Tagung vier - teilweise parallel laufende Sektionen - bildeten: "A. Wissenschaftsbetrieb als kulturelle Integration" (Leiter: Michael Borgolte), "B. Artes im Medienwandel" (Leiterin: Ursula Schaefer), "C. Die Künste und die Kunst" (Leiter: Hermann Danuser), "D. Formationen des Wissens" (Leiter: Horst Bredekamp) und "E. Magie und Spiel" (Leiter: Werner Röcke). Als Auftakt zu jeder Sektion haben wir über den call for papers hinaus Kollegen zu Plenarvorträgen eingeladen. So wurden bei der Tagung insgesamt fast vierzig Vorträge gehalten. Dies hätte bei der Drucklegung den Rahmen eines Tagungsbands bei weitem gesprengt. Daher habe ich mich als örtliche Veranstalterin und damit Herausgeberin des Tagungsbandes mit dem Präsidium des Mediävistenverbandes und den Sprecherinnen und Sprechern der Sektion "B. Artes im Medienwandel" dahingehend geeinigt, die Beiträge dieser Sektion als Themenheft der Zeitschrift Das Mittelalter (1. Halbband 1998) zu publizieren. So waren wir in der Lage, fast alle Vorträge der anderen vier Sektionen in den Tagungsband aufzunehmen. Nachdem wir den vollständigen Überblick über alle zur Drucklegung eingereichten Beiträge hatten, schien es uns allerdings sinnvoll, die thematische Einteilung der Tagungssektionen für die Gliederung des Tagungsbandes teilweise aufzugeben und damit auch in manchen Fällen eine neue Zusammenstellung vorzunehmen. Diese - im Vergleich zur Tagung selbst - veränderte Gliederung wird in der 'Einleitung' noch näher zu erläutern sein. Im Blick auf das Berliner Symposium in Februar 1997 möchte ich hier noch einmal Gelegenheit nehmen, allen an der Organisation Beteiligten sehr zu danken für ihre Unterstützung und ihr Engagement. Dank zum ersten den Sektionsleitern Michael Borgolte (Institut für Geschichtswissenschaften der HU), Horst Bredekamp (Kunstgeschichtliches Seminar im Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften der HU), Hermann Danuser (Musikwissenschaftliches Seminar im Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften der HU)) und Werner Röcke (Institut für deutsche Literatur der HU), ohne deren Fachkenntnis und straffe Leitung der Sektionen die thematische Planung und die Durchführung der Tagung in zeitweise drei parallel laufenden Sektionen nicht möglich gewesen wäre. Persönlicher Dank gilt hier aber auch der Leitung der Universität, insbesondere dem damaligen Ersten Vizepräsidenten, Herrn Professor Dr. Konrad Gröger und dem Kanzler, Herrn Rainer Neumann, sowie Frau Dr. Karohl, Frau Karow und Frau Kolb aus dem Präsidialamt der Humboldt-Universität. Meinen Mitarbeiterinnen Anne Rothe und Jana Sodtke sowie Christina Jacobs und Lars Näthe danke ich noch einmal für ihren Einsatz vor und während der Tagung.

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Einen ganz besonderen Dank schulde ich meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin, Frau Dr. des. Christine Ehler. Sie hat nicht nur den Ablauf der Tagung auf das vorzüglichste verantwortlich mitorganisiert, sondern auch bei der Drucklegung entscheidende redaktionelle Hilfe geleistet, technische Probleme aller Art und jeden Ausmaßes souverän bewältigt und ebenso geduldig wie kompetent das Management der bei der Drucklegung notwendigen Schritte jederzeit im Griff behalten. Darin wurde sie unterstützt von Carsten von Leupoldt und Jana Sodtke sowie von Mitarbeitern im Rechnezentrum der Humboldt-Universität, denen ich dafür ebenfalls herzlich danke. Zu danken ist schließlich dem Akademie Verlag Berlin und insbesondere Herrn Karras für ihre Hilfe und verlegerische Langmut. Ursula Schaefer Berlin, November 1998

Ursula Schaefer Artes im Mittelalter und heute: Eine Einleitung 1. Die Beiträge zu den artes im Mittelalter Beim Berliner 7. Symposium des Mediävistenverbandes wurden weit über dreissig Vorträge gehalten. Um die Tagungsbeiträge möglichst umfassend zu publizieren, haben wir uns frühzeitig entschlossen, die Vorträge der Tagungssektion "B. Artes im Medienwandel" getrennt zur Drucklegung zu bringen.1 Die nun im Tagungsband aufgenommenen Artikel geben, eingegliedert in die hier aufgemachten Themengruppen, die Plenarvorträge von Klaus ARNOLD, M a x HAAS und Bruno REUDENBACH wieder sowie die Vorträge, die ursprünglich

den Tagimgssektionen "Wissenschaftsbetrieb als kulturelle Integration", "Die Künste und die Kunst", "Formationen des Wissens" und "Magie und Spiel" zugeordnet waren. Nachdem die schriftlichen Versionen der Beiträge gesichtet waren, erschien es uns - nun im Blick auf das lesende Publikum - angezeigt, gegenüber den Tagungssektionen thematisch teilweise neu zu gruppieren und somit auch die Gruppen in einigen Fällen neu zu benennen. Damit einher gingen deshalb auch "Verlagerungen", das heisst: die neue Zuordnimg einiger Beiträge. Der Abschnitt "I. Formationen und Transformationen des Wissens" führt die Sektionsthemen "Wissenschaftsbetrieb" und "Formationen des Wissens" zusammen. In der Gesamtschau bot es sich weiterhin an, den gegenüber der Tagungssystematik neuen Anschnitt "II. Fortschreibungen von Wissensbeständen" einzurichten. Die sechs dort zusammengefassten Vorträge waren bei der Tagung teils in der Sektion "Wissensschaftsbetrieb", teils in den Sektionen "Die Künste und die Kunst" und "Formationen des Wissens" angesiedelt, zur Drucklegung wurde jedoch diese thematische Klammer sichtbar, die noch einmal einen neuen medialen Schwerpunkt setzt. Abschnitt "III. Wissen und Magie" konzentriert die Tagungssektion "Magie und Spiel" auf den ersten Themenkomplex und nimmt dazu noch einen Vortrag aus der Sektion "Wissenschaftsbetrieb" auf. Der Abschnitt "IV. Die Künste und die Kunst" ist gegenüber der entsprechenden Tagungssektion ebenfalls weniger umfangreich. Auch hier boten sich für einige Beiträge nun noch sinnfälligere Zuordnungen, die Aspekte anderer dort zutagetretender thematischer Zusammenhänge hervorheben. In der Systematik hinzugekommen ist auch der Abschnitt "V. Darstellungen der artes", der Beiträge der Sektionen "Die Künste und die Kunst" und "Magie und Spiel" auf andere Weise neu zusammenordnet. Aus den Titeln der nun präsentierten Themenkreise wird also deutlich, dass wir weder der immanenten arto-Einteilung noch der heutigen Fächersystematik folgen. Ersteres war 1

Sie sind publiziert im Themenband "Artes im Medienwandel" als Heft 2 im zweiten Jahrgang (1998) der Zeitschrift Das Mittelalter.

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Ursula Schaefer

bereits bei der Themenfindung für die Berliner Tagung durch die Mitgliederversammlungen in Göttingen (1993) und Bayreuth (1995) absolut unstrittig, letzteres folgt der transdisziplinären Grunddisposition der Mediävistik. Ziel des Berliner 7. Symposiums sollte es sein, quer zur arfes-Systematik liegende Problemkreise zu umreissen, die im Sinn der interdisziplinären Ziele des Verbandes möglichst breites Interesse finden könnten. Als Stichworte wurden im call for papers zum Beispiel - noch sehr breit - "Artes und Wissen" genannt und dazu angeregt, auf die folgenden Fragen einzugehen: Wie hat sich die Vermittlung und Sicherung von Wissen im Rahmen der artes methodisch-didaktisch vom frühen zum späten Mittelalter verändert, und wie wurde die Systematisierung von Wissen in der gesamten Epoche reflektiert? Ein weiteres thematisches Feld wurde in der Vorbereitimg abgesteckt unter dem Titel "Artes und Macht/Kanon". Dazu gingen wir davon aus, dass "Vor-Schriften", Kanonbildung und Systematisierung von Wissen der Erhaltung von Macht und somit auch deren Unterminierung dienen können. Daher regten wir Beiträge im Blick auf die mittelalterliche Wissenschaftsmethodik, die Stellung und den Umfang zum Beispiel der artes magicae an, die unser Verständnis von der Entwicklung und Funktionalisierung der mittelalterlichen Wissen(schaft)stheorie weiter zu erhellen vermögen. Ich habe den Weg, der zur thematischen Anordnung des Tagungsbandes führte, etwas genauer nachgezeichnet, weil sich so zum einen die Vielfalt der Fragestellungen auffächert, mit der man sich dem Grossthema "Artes im Mittelalter" nähern kann. Darüber hinaus sollte mit dieser Skizze auch deutlich gemacht werden, dass der Gang von der Themafindung für ein solches interdisziplinäres Symposium bis hin zur Publikation der Tagungsakten keineswegs ein gradliniger ist. Das Fortschreiten ist vielmehr gekennzeichnet durch Iteration. Und dass gerade die "Artes im Mittelalter" so deutlich dieses Vorgehen verlangten, liegt, so meine ich, nicht zuletzt an der Forschungslage zu diesem Gegenstand. Die in der Forschung zu traktierenden Problemfelder sind mit Sicherheit längst noch nicht alle erkannt, vor allem aber tun sie sich oft in den Einzeldisziplinen recht disparat auf und werden daher gar nicht immer zu übergeordneten Erkenntnisinteressen zusammengeführt. Die sich hier in den Überschriften der Abschnitte manifestierenden Problemzusammenhänge sind deshalb auch keineswegs zu verstehen als letztgültige Systematisierung. Und ebenso soll die Systematik keinesfalls suggerieren, dass die einzelnen Beiträge ausschliesslich zum einen oder anderen Thema gehörten. Symptomatisch hierfür ist nicht zuletzt die Tatsache, dass wir von der Tagung zur Drucklegung einige Beiträge thematisch rearrangiert haben. Was die Abfolge der Beiträge innerhalb der fünf Schwerpunkte angeht, so haben wir grosso modo - chronologisch geordnet. Dabei ist nicht zu übersehen, dass das frühe Mittelalter eher schwach vertreten ist. Unsere forschende Aufmerksamkeit für die artes als "System der Ordnung des Lehrstoffs" wird, so scheint es, für die Zeit besonders gross, in der dieses System selbst nicht mehr in sich ruht. So gesehen spiegelt dieser Band in ge-

Einleitung

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wisser Weise e negativo das Diktum von Ernst Robert CURTIUS, dass "die artes für das Mittelalter bis zum 12. Jahrhundert die Fundamentalordnung des Geistes" seien.2 1.1 Formationen und Transformationen des Wissens In Abschnitt "I Formationen und Transformationen des Wissens" wird der Bogen gespannt von der karolingischen Renaissance bis in die frühe Neuzeit. An verschiedenen Gegenständen wird sichtbar, wie im Gang der Jahrhunderte die auf dem - scheinbar starren - System der artes aufruhende Wissensordnung überführt wird in das heuristische Streben der scientiae, ohne dass die artes selbst obsolet würden. In dem Beitrag von Max HAAS ("Über die Funktion der ars musica im Mittelalter"; S. 1 4 - 3 3 ) wird dies exemplarisch an der ars musica von der Karolingerzeit bis zum ausgehenden Mittelalter gezeigt, Björn TAMMEN und Frank HENTSCHEL werfen interdisziplinär aus kunst- und musikhistorischer Sicht ein Schlaglicht auf die Transformation dieser ars im 14. Jahrhundert ("Divisio musicae und auditus im frühen 14. Jahrhundert"; S. 8 3 - 1 0 9 ) . Das Heraustreten der artes aus der Abgeschlossenheit klösterlicher Gelehrsamkeit hin zu "lebensweltlicher" Relevanz für den Adel zeigt Claudia BRINKER-VON DER HEYDE anhand des 'Wälschen Gasts' des Thomasin von Zerclaere ("Durch Bildung zur Tugend: Zur Wissenschaftslehre des Thomasin von Zerclaere"; S . 3 4 - 5 2 ) . Wie mit der Aristoteles-Rezeption die Künste des Quadriviums - nun erweitert um die scientia experimentalis - durch Roger Bacon auf neue Wege der Wissensermittlung führen, wird deutlich in den Ausführungen von Brigitte ENGLISCH ("Artes und Weltsicht bei Roger Bacon"; S . 5 3 - 6 7 ) , und Jürgen SARNOWSKY zeichnet nach, in welchem Mass die Aristoteles-Rezeption und ihre Zuordnung zu den artes in den curricularen "Routinebetrieb" an den Artistenfakuläten der europäischen Universitäten im 14. und 15. Jahrhundert aufgenommen wird ("Die artes im Lehrplan der Universitäten"; S. 6 8 - 8 2 ) . Die beiden Beiträge von Jens PFEIFFER und Karina KELLERMANN schliesslich verdeutlichen anhand unterschiedlicher Gegenstände spätmittelalterliches Bemühen, auf zeitgenössische Phänomene in wissenschaftlicher Auseinandersetzung zu reagieren. Jens PFEIFFER wendet sich hierfür verschiedenen Erklärungsversuchen der Pest von 1348 zu ("Macht der Sterne oder Miasmen der Erde: Heinrich von Mügeln und Konrad von Megenburg über die Pest von 1 3 4 8 " ; S. 1 1 0 - 1 2 3 ) . Und zum Abschluss untersucht Karina KELLERMANN an frühneuzeitlichen enzyklopädischen Schriften, an Reiseberichten und an zeitgenössischer Historiographie Wege der Wahrheitsfindung, die nur dem heutigen Betrachter als die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" erscheinen können ("Zwischen Gelehrsamkeit und Information: Wissen und Wahrheit im Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit"; S. 1 2 4 - 1 4 0 ) .

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Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 7. Aufl. Bern, München 1969, S . 5 2 ; meine Hervorhebung.

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Ursula Schaefer

1.2 Fortschreibungen von Wissensbeständen Indem im Mittelalter Wissensbestände auf Pergament tradiert werden, werden sie - im wahrsten Wortsinn - auch "weitergeschrieben". Abschnitt II ordnet verschiedene Formen der Fortschreibung und Weiterschreibung zusammen, die eindringlich zeigen, wie mit der wachsenden Schriftlichkeit ab dem 12. Jahrhundert im westlichen Europa und in Byzanz, dessen Schriftlichkeit nahezu bruchlos die Antike fortsetzt, bereits früher, Texte wieder Texte generieren. Indem Wissenbestände sichernd fortgeschrieben werden, durchlaufen sie notwendigerweise auch einen Transformationsprozess, den wir mit dem Begriff des "Weiterschreibens" zu fassen suchen. An den Beginn dieses Abschnitts haben wir zwei typische Formen des mittelalterlichen Weiter- und Fortschreibens gestellt. Zum einen ist es die Enzyklopädie, die landläufig als epochentypischste Grundform mittelalterlicher Wissenserfassung angesehen wird. Franz TlNNEFELDs Beitrag konzentriert sich auf byzantinische Zeugnisse dieses Typus bis ins 13. Jahrhundert ("Zu Begriff und Konzepten des Enzyklopädismus in Byzanz"; S. 143-150). Reicht der "Enzyklopädismus" zurück zu Isidor von Sevilla und setzt somit den spätantiken Modus der Wissenssicherung fort, so markiert die in der Scholastik neu geschaffene Gattung der Summa nicht nur gesammeltes, sondern auch für den neu sich formierenden Schulbetrieb "aufbereiteten" Wissensbestand einzelner Disziplinen. Summa wird, so zeigt Wendelin KNOCH, in der Scholastik ein Begriff der Wissenschaftstheorie wie auch der Methodologie ("Die theologische Summa: Zur Bedeutung einer hochmittelalterlichen Literaturgattung"; S. 151-160). Didaktisches Bestreben kann Noel Harold KAYLOR, Jr. auch in volkssprachlicher Ausbreitung des "Klassikers" der mittelalterlichen Schulkanons, der 'Consolatio Philosophiae' des Boethius, nachweisen ("Boethius' 'De Consolatione Philosophiae' didaktisch aufbereitet: Die anonyme mittelenglische Übersetzung von Buch I im Ms. Oxford Auct. F 3.5"; S. 187-197). Er zeigt anhand einer (fragmentarischen) englischen Übersetzung des 14. Jahrhunderts auf, wie mit der sprachlichen "Translation" des lateinischen Texts dessen Transformation einhergeht. Wird dort Boethius weitergeschrieben, wird er - ungefähr zur gleichen Zeit - für die ars musica überwunden. Wolfgang HIRSCHMANN wendet sich musiktheoretischen Schriften des 14. und 15. Jahrhunderts zu und weist auf, wie solchermassen die ars musica ihren Ort in den "rechnenden Künsten" des Quadriviums langsam aufgibt ("Das Kompositionskapitel als Modell poietischer Reflexion: Zur pragmatischen Transformation der ars musica in der Musiktheorie des Hoch- und Spätmittelalters"; S. 174-186).3 Das Weiterschreiben durch imitatio ist Thema des Beitrags von Dina D E RENTIIS. Ausgehend vom VII. Kapitel des 'Policraticus' des Johannes von Salisbury zeichnet sie anhand des 'Bienengleichnisses' auf, dass die imitatio auctorum im Blick auf ihre Epochenzuord-

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Die Disziplinen des Quadriviums nennt G. Bernt "rechnende Künste"; s. Artikel: Artes liberales. I. Begriff; II. Geschichte. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1 (1980), Sp. 1058-1061, hier Sp. 1058.

Einleitung

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nung wesentlich differenzierter zu sehen ist, als dies bisher gängig ist ("Für eine neue Geschichte der Nachahmungskategorie: Imitatio morum und lectio auctorum in 'Policraticus' VII, 10; S. 161-173). Uta GOERLITZ schliesslich führt uns mit ihrer Darstellung einer frühneuzeitlichen Auseinandersetzung um die Geschichtsschreibung des Bistums Mainz vor, dass das Fort- und Weiterschreiben von Wissen, zumindest in diesem Fall, nun einhergeht mit "Wahrscheinlichkeitsprüfungen", die textliche auctoritas also an Kriterien gemessen wird, die - je nach Sicht - vor oder hinter dem schriftlich Tradierten liegen ("Wissen und Repräsentation: Zur Auseinandersetzung des Hermannus Piscator mit Johannes Trithemius um die Rekonstruktion der Vergangenheit"; S. 198-212). 1.3 Wissen und Magie Mit dem 12. Jahrhundert - wir haben dies oben schon mit den CuRTius-Zitat umrissen kippt die durch die artes gesicherte "Fundamentalordnung des Wissens". 4 Die in Abschnitt III zusammengefassten Beiträge illustrieren dies auf besondere, im Blick auf den Titel "Wissen und Magie" wahrscheinlich zuerst einmal provozierende Weise. Durch die "Renaissance des 12. Jahrhunderts", also durch den in diesem Jahrhundert sich eröffnenden Zugang zu den Schriften des Aristoteles wird auch der Weg bereitet, auf dem sich die Naturwissenschaften emanzipieren. Verschiedene Etappen, in denen alte Barrieren abgebaut und neue überwunden werden mussten, werden in diesem Abschnitt nachgezeichnet. Sozusagen einstimmend fuhrt uns der Beitrag von Helmut BRALL - nach einem Exkurs in ein literarisches Zeugnis unseres Jahrhunderts - in die Welt der hochmittelalterlichen Epik, in der Zauberer verschiedenster Provenienz und Intention die Ordnung(en) bedrohen. Folglich sind diese denn auch auf ebenso unterschiedliche Weise durch Ausgrenzung mit mehr oder weniger grossem Erfolg unschädlich zu machen ("Die Macht der Magie: Zauberer in der hochmittelalterlichen Epik"; S. 215-229). Klaus HERBERS ("Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen"; S. 2 3 0 - 2 4 8 ) geht sodann wahrhaft ad fontes, indem er unser Augenmerk auf die Sprachsituation in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert und die dortigen Übersetzertätigkeiten lenkt, und er skizziert, wie durch den "Magie-Verdacht" Toledo als Kapitale der Schwarzen Kunst ins Gerede kam. Die Einordnung der artes magicae in die etablierte Wissenschaftssystematik und damit auch deren Ausgrenzung ist das Thema des Beitrags von Frank FÜRBETH ("Die Stellung der artes magicae in den hochmittelalterlichen 'Divisiones philosophiae'"; S. 2 4 9 - 2 6 2 ) , der aufzeigt, dass die Zuweisung des neuen Wissens zur hergebrachten Systematik schwebt, bis Bischof Tempier im Jahr 1277 fürs erste einen deutlichen - aber letztlich doch nicht endgültigen Schlussstrich unter die Diskussion zieht. Dass sich auch 280 Jahre später das "Wissenschaftsverständnis" auf unterschiedlichste Weise mit tradierten Vorstellungen von Magie (als "teuflisch/heidnisch") einerseits und nicht weiter zu hinterfragenden "religiösen Wahr4

Siehe Anm. 2.

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Ursula Schaefer

heiten" andererseits wenigstens oberflächlich vereinen lässt und doch gleichzeitig mit ihnen kollidiert, illustriert im letzten Beitrag dieses Abschnitts Ralf SCHLECHTWEG-JAHN anhand seiner Analyse eines frühneuzeitlichen Reiseberichts aus der "neuen" Welt ("Magie, Religion und Wissenschaft: Hans Stadens Brasilien-Reisebericht von 1557"; S. 263-279). 1.4 Die Künste und die Kunst Die "Kunst" im heutigen Sprachgebrauch liegt quer zum arto-Verständnis des Mittelalters. Malerei, Bildhauerei und Architektur gehörten seit der Antike den artes mechanicae an, sie waren "Handwerke" und daher weder Gegenstand noch Produkt der artes liberales. Literatur und Musik hingegen gehörten als analytische Gegenstände dem Quadrivium und dem Trivium an, wobei für die Literatur die ars dictaminis zumindest zu Teilen zur Poietik wurde. Vor allem der "bildende Künstler" war also Handwerker, die aktiv komponierenden wie die vortragenden musici galten mittelalterlich als Menschen, die praktisch umsetzten, was auf ganz anderer Ebene mathematisch durchdringbar war, die Dichter schliesslich konnten sich aktiv an der ars dictaminis, erwachsen aus der trivialen Rhetorik, orientieren. - Mit anderen Worten: Unser heutiger Begriff von "Kunst", mit dem wir "Schaffen" und "Geschaffenes" bezeichnen, berührt sich zwar an einigen Punkten mit den artes (liberales), Kreativität und Kreation waren dem Mittelalter jedoch, was die "bildende Kunst" angeht, kein den Freien Künsten würdiger Gegenstand, während sich die Literatur über die triviale Rhetorik und die quadriviale Musik als Disziplin zumindest als Gegenstand in der artistischen Systematik wiederfinden. Trotz dieser Disparatheit des mittelalterlichen und des modernen "Kunst"-Verständnisses berühren sich die beiden Konzepte auf unterschiedliche Weise, wie die in Abschnitt IV vorgelegten Beiträge zeigen. Bruno REUDENBACHS Beitrag ("Rectitudo als Projekt: Bildpolitik und Bildungsreform Karls des Grossen"; S. 283-308) führt uns an den frühmittelalterlichen Punkt der planvollen Wiederbelebung der artes liberales in Westeuropa, die sich ihrerseits zum einen der Malerei bediente, um die Bildungspolitik zu transportieren, und die andererseits in der Architektur dem konzeptionellen Willen Karls des Grossen einen heute noch sichtbaren Ausdruck verlieh. War diese Bildungsreform darauf gerichtet, sich der artes mechanicae zu bedienen, um das politische Vorhaben, nämlich die Restitution der artes liberales zu propagieren, was zugleich zu einer Blüte "künsterlischen Schaffens" im heutigen Sinn führte, wenden sich Gunilla BJÖRKVALL and Andreas HAUG einer anderen künsterlischen Koppelung zu, die wiederum aus der interdisziplinären Sicht das Tun des metricus, also dessen, der Versformen lehrt, mit dem des musicus zusammenführt. Die beiden Autoren zeigen in ihren Ausführungen ("Verslehre und Versvertonung im lateinischen Mittelalter"; S. 309-323) somit, wo sich - im Mittelalter - zwei "artistische" Bereiche, die wir heute unter dem Begriff "Kunst" zusammenfassen, praktisch berühren und, so ihr Resultat, diese Berührung doch in der zeitgenössischen Theorie nicht nachweisbar expliziert wird. Tanja MICHALSKY umreisst anhand des Reliefzyklus' am Domcampanile von Florenz, wie sich florentiner Bildhauer in des Wortes wahrem Sinn "einbringen" - das heisst: durch

Einleitung

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Darstellung einreihen - in die Heilsgeschichte und damit manifestieren, dass auch ihr Tun seinen Ort hat in dem durch die artes liberales erschliessbaren ordo der Dinge ("Der Reliefzyklus des Florentiner Domcampanlie - oder: Die Kunst der Bildhauer, sich an der Heilsgeschichte zu beteiligen"; S. 324-343). An einer recht ungewöhnlichen künstlerischen Quellenart, nämlich anhand von oberitalienischen Spielkartensätzen des späten Mittelalters, untersucht Angelika GROSS die Verbindung der durch die Araber eingeführte Null mit der Darstellung des Narren ("Narr und Null im Tarock"; S. 344-358) und zeigt, dass in dieser Kombination auch auf "spielerischem" Weg die Null in Europa langsam Verbreitung findet. 1.5 Darstellungen der artes In Form der personifizierenden Darstellung haben die artes im Mittelalter eine reiche Tradition, die zurückgreifen kann auf die spätantike Darstellung - in " romanhafte [r] Einkleidung" 5 - 'De nuptiis Philologiae et Mercurii' des Martianus Capeila. Mit bildlichen Darstellungen, die in dieser Tradition stehen, setzt sich der erste Beitrag von Klaus ARNOLD auseinander ("Bildung im Bild: Darstellungen der Septem artes liberales in der Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit"; S. 361-375). Semiotisch gesprochen arbeitet ARNOLD auf der Basis der bildlichen Signifikanten deren funktional-gesellschaftliche Signifikate heraus, indem er diese Darstellungen im Kontext ihres Auftretens und hinsichtlich ihrer Funktion analysiert. Im Blick auf mögliche Darstellungen der artes verfahren die Beiträge von Meinold SCHUMACHER und Klaus RIDDER, weiterhin in semiotischer Terminologie, sozusagen umgekehrt: Sie betrachten Darstellungen, in denen die artes als Signifikate fungieren, denen weitere Signifikanten zugeordnet werden. Mit anderen Worten: Klassifiziert als "Darstellungen der artes" sind die beiden letzten Beiträge zu sehen als Metadiskurse über die Künste.6 Dabei wendet sich Meinold SCHUMACHER noch einmal dem 'Wälschen Gast' des Thomasin von Zerclaere zu und stellt ihm eine Reimpaarrede Heinrichs des Teichner zur Seite ("Über die Notwendigkeit der kunst bei Thomasin von Zerklaere und Heinrich dem Teichner"; S. 376-390). Bei Thomasin marschieren, wie wir bereits im Beitrag von Claudia BRINKER-VON DER HEYDE (Absch. I, S. 34-52) gesehen haben, die artes selbst auf, SCHUMACHER konzentriert sich in seinem Beitrag jedoch auf die Teile der Erziehungslehre Thomasins, in denen der Autor zum Mittel des Gleichnisses greift und damit darstellend Wissen mit Tugend verknüpft. Klaus RIDDER gewährt uns abschliessend mit seiner Analyse von Nürnberger Fastnachtspielen des 15./16. Jahrhunderts Einblick in die städtische Haltung zur Bildung und

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Curtius [Anm. 2], S. 48. Die beiden hier angesprochenen Signifikationsmodi nennt Roland BarthesAoHnota/io/j und Metasprache. Im System der Konnotation wird die Ausdrucksebene selbst zur Signifikationsebene ("le plan d'expression est constitué lui-même par un système de signification"), im System der Metasprache stellt die Inhaltsebene ein eigenes Signifikationssystem dar ("le plan de contenu est constitué luimême par un système de signification"); Roland Barthes, Elements de sémiologie. Communications 4 ( 1 9 6 4 ) , S. 91-135, hier S. 130.

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deren Repräsentanten. In den Fastnachtspielen werden in Liebesdingen törichte Gelehrte dargestellt, solche mit mangelnder "beruflicher Kompetenz" und solche, die der Lasterhaftigkeit verfallen sind ("Der Gelehrte als Narr: Das Lachen über artes und Wissen im Fastnachtspiel"; S. 391-409). Es mag überraschen, dass, wie RIDDER zeigt, das "Lachen über artes" jedoch keineswegs deren Marginalisierung widerspiegelt, sondern vielmehr das Gegenteil bezeugt, nämlich die wachsende Relevanz von Gelehrten und gelehrtem Wissen für die Gesellschaft im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. 2. Artes/Arts

heute - oder: Vorwärts ins Mittelalter?

Das Lachen über die Gelehrten und die Gelehrsamkeit, so möchte man zeitgenössich anmerken, ist der Gesellschaft gehörig vergangen. Während vor allem in Grossbritannien beispielsweise der - durchweg auch zum Lachen anregende - Universitätsroman seit längerem ein eigenes, auch jenseits der scientific commmunity überaus erfolgreiches Genre geworden ist, tut man sich in Deutschland damit offensichtlich wesentlich schwerer. 7 Im Anschluss an Klaus RIDDERS Ausführungen könnte man daher mutmassen, dass den Gelehrten und der Gelehrsamkeit - zumindest bei uns - derzeit gesellschaftlich kaum Relevanz zugemessen wird. Wir wollen dieser Frage nicht weiter nachgehen, statt dessen soll hier ein Bogen geschlagen werden von den artes im Mittelalter zu einer Debatte, die derzeit sowohl die bildungspolitischen wie auch die inneruniversitären Gemüter bewegt. Es handelt sich dabei um die Diskussion, die die Politik mit ihrem Ruf nach neuen Studienabschlüssen, allen voraus dem Bachelor!Bakkalaureus, zum Zwecke der "Internationalisierung" des deutschen universitären Studiums entfacht hat. Die Einleitung zu einem Tagungsband, der die Vorträge eines mediävistischen Symposiums zusammenfasst, ist gewiss nicht eigentlich der Ort, sich in die tagespolitische Diskussion um die Leistungsfähigkeit deutscher Universitäten einzumischen. Wenn nun aber einerseits in diesem Band von den artes die Rede ist und andererseits Abschlüsse neu eingeführt oder modifiziert werden sollen, die sich in ihrem Namen auf dizartes beziehen, dann sei es doch gestattet, eine historische Verbindung herzustellen. Abgesehen davon, dass die Politiker - man erkennt es an der alternativen Bezeichnung Bachelor!Bakkalaureus - mit Sicherheit nicht das Mittelalter, sondern zeitgenössisch-globalisierend das "(anglo-)amerikanische Modell" vor Augen haben, könnte wenigstens für die universitas der Lehrenden und Studierenden, der die allfallige Reform des universitären Studiums ein Anliegen ist, der Blick in die mittelalterliche Vergangenheit lehrreich sein. Dabei müssen wir uns jedoch vor Augen fuhren, dass unser "modernes" Universitätssystem mit der Forderung nach der Einheit von Forschung und Lehre dem letzten Jahrhundert entstammt. Wenn nun für die deutsche Universität am Ende des 20. Jahrhunderts die Einführung desBakkalaureats verlangt wird, scheint man damit 7

Für Grossbritannien seien - stellvertretend - die Romane von David Lodge genannt. Dietrich Schwanitz' 'Campus', der 1995 erschien und 1998 sogar verfilmt wurde, war als Buch - vor allem in der "nicht-akademischen" Welt - ein Bestseller-Erfolg. D i e Rezeption unter Kollegen war j e d o c h oft reserviert.

Einleitung

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- so denn der amerikanische Bachelor tatsächlich das Modell sein sollte - weit hinter den Universitätsgedanken Wilhelm VON HUMBOLDTS zurückzufallen. Aber vielleicht ist es ja in der Tat so, dass für das deutsche Bildungssystem heute nicht mehr gelten kann, was Wilhelm VON HUMBOLDT 1810 - im Jahr der Gründung der Berliner Universität - in einem Brief "Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Lehranstalten in Berlin" als Forderung formulierte, nämlich"... die Trennung der höheren Anstalt [= Universität] von der Schule (nicht bloss der allgemeinen theoretischen, sondern auch der mannigfaltigen praktischen besonders) rein und fest zu erhalten". 8 Die Aufgabenverteilung zwischen Schule und Universität umreisst er dann wenig später noch einmal wie folgt: [Es ist] h a u p s ä c h l i c h Pflicht des Staates, seine Schulen so anzuordnen, dass sie den höheren wiss e n s c h a f t l i c h e n Anstalten gehörig in die H ä n d e arbeiten. D i e s beruht vorzüglich auf einer richtigen Einsicht ihres Verhältnisses zu denselben und der fruchtbar w e r d e n d e n U e b e r z e u g u n g , dass nicht sie als S c h u l e n berufen sind, schon den Unterricht der Universitäten zu anticipiren, noch die Universität ein blosses, übrigens gleichartiges C o m p l e m e n t zu ihnen, n u r eine höhere Schulklasse sind, s o n d e r n dass der Uebertritt von der Schule zur Universität ein Abschnitt im j u g e n d l i chen L e b e n ist, auf den die Schule im Falle des G e l i n g e n s den Zögling so rein hinstellt, dass er p h y s i s c h und intellectuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen w e r d e n kann ... 9

Das amerikanische Bildungssystem liefert mit den Curricula, die zum Bachelor of Arts oder Science fuhren, eben jenes "Complement", von dem Wilhelm VON HUMBOLDT spricht. Aus diesem Grund kann dort niemand beispielsweise mit dem medizinischen oder juristischen Studium beginnen, ehe er oder sie nicht den Bacholer-Grad (in Arts oder Science) erworben hat. Vor fünfhundert, sechhundert Jahren verfuhr man an den Universitäten in Paris, Bologna oder Prag ähnlich. Aus Jürgen SARNOWSKYS Beitrag zu diesem Band erfahren wir nämlich, dass an den spätmittelalterlichen Universitäten "der Unterricht in den artes liberales am Anfang des Studiums in allen universitären Fachrichtungen [stand], und die Scholaren [...] bald gehalten [waren], zunächst das Studium an der Artistenfakultät abzuschließen, bevor sie weiterführende Studien in Theologie oder Medizin, Römischem oder kanonischem Recht aufnehmen konnten" (S. 68). Der Erfolg der Universität in HUMBOLDTS Sinn hing damals und hängt heute ab von dem, was die Schule in eben diesem Sinn leistet. Wilhelm VON HUMBOLDTS Vorstellung, dass das Gymnasium den "Zögling so rein hinstellt, dass er physisch und intellectuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden kann", müsste ä jour gebracht werden, aber die deutsche Universität nimmt dies ja noch immer - zumindest als Arbeitshypothese - an. Deshalb muss der Streit, ob die humboldtsche Universität wirklich "tot" sei, und vor allem, wem sie den

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W i l h e l m v o n H u m b o l d t , Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: ders., W e r k e in f ü n f Bänden. H r s g . v o n Andreas Flitner u. Klaus Giel. 4. A u f l . D a r m s t a d t 1994; Bd. 4: Schriften zur Politik und z u m Bildungswesen, S. 255-266, hier S. 256. H u m b o l d t [ A n m . 1], S. 260.

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Exitus zu verdanken habe,10 auch einen anderen möglichen Patienten einbeziehen, nämlich das potentiell darniederliegende Gymnasium. Dort, so stellen wir uns vor, findet- mittelalterlich gesprochen - der elementare "artistische" Unterricht statt, dort werden die zukünftigen Studierenden - unter anderem in den "redenden" und "rechnenden" Künsten unterwiesen. Wenn wir von dieser Aufgabentrennung zwischen Schule und Hochschule einmal absehen, bleibt weiter unbestritten, dass die deutschen universitären Curricula international rein struktursystematisch nicht kompatibel sind. Einzig zum Zweck der internationalen "Passfähigkeit" einen neuen Abschlusstyp zu adaptieren, sollte dennoch als Grund für die Reform der akademischen Abschlüsse nicht hinreichen. Wenn man denn in Zukunft an deutschen Universitäten den Bachelor!Bakkalureus-Grad verleiht, darf das curricular Neue daran nicht allein die verkürzte (Regel-)Dauer bis zur Erlangung dieses Grades sein. Man wird sich darüber hinaus Gedanken zu machen haben über das Ziel, das mit dem Erwerb dieses Grades erlangt werden soll. Dies aber verweist zurück auf das Selbstverständnis jedes einzelnen Faches, das sich intern die Frage stellen muss, wie es sich dort denn verhält mit seiner "Unterscheidung zwischen scientia und ars oder Theorie und Poietik" (HAAS, S. 21). Hier soll der Exkurs in die deutsche bildungspolitische Diskussion des Jahres 1998 abbrechen. Im Blick auf das, was wir aus den Beiträgen in diesem Band über die artes im Mittelalter erfahren, sollte jene Diskussion sich zumindest darauf besinnen, dass das Kürzel "A." nicht nur für "amerikanisch" (oj) arts steht, oder vielleicht besser: dass der Grad des Bachelor of Arts, wenn auch nicht inhaltlich, so doch vom Grundgedanken her, dem Mittelalter näher steht, als die meisten dies wissen. Dass damit hier die Frage nach der "Universität im humboldtschen Sinn" verbunden wird, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass das 7. Symposium des Mediävistenverbandes an der Universität "Unter den Linden" stattfand, die Wilhelm VON HUMBOLDT 1810 gründete und die seit 1949 den Namen der Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt trägt.

10 Vgl. beispielsweise Peter Glotz, Im Kern verrottet? - Fünf vor zwölf an Dutchlabds Universitäten. Stuttgart 1996, S.63-88 ("Ist Humboldt tot?").

TEIL I FORMATIONEN UND TRANSFORMATIONEN DES WISSENS

Max Haas Über die Funktion der ars musica im Mittelalter1

Am 17. Dezember 1996 erteilte die amerikanische Wettbewerbsbehörde zwei schweizerischen Chemiekonzernen die Genehmigung, zu fusionieren. Diese Fusion hat zwar den Verlust von zehn- bis zwölftausend Arbeitsplätzen zur Folge, doch fand es die Konzernleitung angezeigt, zur Feier dieser Genehmigung ein Fest auszurichten. Zeitungsberichten zufolge wurden Besucher beim Eintritt in den Saal mit einer Popversion des Schlusschors aus Beethovens 9. Sinfonie empfangen. Ein Journalist schrieb, die "angemessene, klassische Form" der Sinfonie sei wohl darum nicht gewählt worden, weil sich die Firmenleitung selber so "poppig-frisch" sehe.2 In der gleichen Woche machte eine Fernsehanstalt mit Inseraten auf eine aussergewöhnliche Sendung für den Abend des 24. Dezembers - für den Abend also, den man den "heiligen" nennt - aufmerksam. Angesagt war neben einem Exklusivinterview mit den "Three Tenors" die Ausstrahlung eines der Konzerte dieser drei Sänger. Als Blickfang diente den Inseraten der grossgedruckte Slogan "Nur die Engel singen schöner". Monate zuvor diskutierte 'Der Spiegel' mit einem der Musiker, mit Placido Domingo, über Gagen. Angesprochen auf seinen Status als einer der teuersten Tenöre empfahl Domingo den Reportern, die Einnahmen der Rolling Stones und anderer Bands zu prüfen und fügte als spezifische Differenz zwischen dem Gesangstrio und solchen Bands hinzu: "Aber immerhin werden wir Sänger uns kein Logo von irgendeinem Sponsor auf den Frack kleben". 3 Die drei Beispiele aus dem Meer der Beliebigkeiten haben thematisch gemeinsam, dass sie - in der Sprache des 'Spiegel* gesagt - den "Spagat zwischen den ewigen Werten der Musik und deren Instant-Produkten" betreffen. 4 Ob es tatsächlich um einen Spagat geht, sei dahingestellt: Die Figur scheint jedenfalls nicht ohne mehrfache Verrenkungen ausführbar. Als metaphorische Hilfestellung war sie hier nur darum anzusprechen, weil Musik und ihre Funktion heute der Regel nach kein formulierbares diskussionswürdiges Thema abgeben, im Gegensatz etwa zu Arbeitslosigkeit, Fussballweltmeisterschaft oder Gentechnologie. Denn Musik scheint als tagtägliche Begleiterscheinung bei unterschiedlichsten Gelegenheiten aufzutauchen. Sie vermag non-verbal die Zielsetzung einer Fusion anzuzeigen; doch ist eben die Fusion und nicht deren musikalisch inszenierte Konnotation das Thema. Wir werden tagtäglich mit musikalischen Bruchstücken und einschlägiger Information versorgt, ohne uns

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Der vorliegende Text bietet die leicht redigierte, um die unumgängliche Zahl von Nachweisen erweiterte Vortragsfassung. Um zur weiteren Arbeit am Thema einzuladen, werden wenn immer möglich nur Arbeiten zitiert, die weiterführende Literaturangaben enthalten. Basellandschaftliche Zeitung vom 18.12.1996, S. 1. Der Spiegel 28 (1996), S. 140. Ebd., S. 141.

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dessen gewahr zu sein. Das ist keine Klage, sondern eine Warnung: es ist heute nicht möglich, keine Vorstellung davon zu haben, was Musik ist. Weil wir aber so sublim und unmerklich subkutan geimpft werden, sind unsere Vorstellungen von "Musik" oft vage. Ich kann solche Vagheit nicht durch ein paar Definitionen beseitigen und dann etwas Allgemeingültiges zum Thema Musik darlegen - es wäre eine Albernheit zu meinen, mit dem Schein des aufklärerischen Gestus sei die Komplexität alltäglicher Erfahrungen und Sedimentbildungen zu rationalisieren. Als Historiker glaube ich, anders und sinnvoller vorgehen zu können. Stellen wir uns vor, dass es nicht so sehr um etwas wie die "Substanz des Musikalischen" geht, sondern eher um "Zonen des Musikalischen" - Zonen also, die wir nicht so genau kennen, dem Gemeinsinn nach aber mit dem Begriff "Musik" verbinden. Wir wollen versuchen, in dem schwierig bestimmbaren Abschnitt, den wir "Mittelalter" nennen, nach solchen Zonen zu fahnden. Ich möchte im folgenden drei Zugangswege anbieten. Die ersten beiden beschäftigen sich mit dem Produzieren von Dingen, nämlich mit dem Herstellen von Noten zum Schreiben von Musik und dann mit der besonderen Schulung in der Koordination, die Sänger zu meistern haben, wenn sie Mehrstimmigkeit produzieren. Solche Arten des Produzierens sind durch die Analyse der Handlungen beschreibbar. Sie bieten sich gerade dann an, wenn die stets vertrackte begriffliche Exegese des "Musikalischen" ins schlecht Abstrakte zu führen droht. Handlungsbeschreibungen sind im Falle mittelalterlicher Musik mit einem metaphorischen Potential geladen, das neben Handgreiflichkeit auch erhöhte Anschaulichkeit verspricht. Erst mein dritter Zugang bezieht dann stärker mittelalterliche Sprachregelungen zum Begriff musica mit ein. Beginnen wir also mit Problemen, die mit dem Schreiben von Musik zu tun haben. Die Musikwissenschaft ist sich darin einig, dass im lateinischen Mittelalter erste notierte Zeugnisse seit der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts vorliegen; vollnotierte Messhandschriften sind seit dem 10. Jahrhundert überliefert. 5 Man nennt die verwendeten Zeichen heute Neumen. Der Faustregel nach werden Neumen als "anschaulich" und "analytisch" charakterisiert. Das meint: Neumen vertreten ein melodisches Segment unterschiedlicher Länge; ihrer Gestalt nach lassen sie erkennen, wie die Melodiebewegung verläuft - in dieser Beziehung sind sie "anschaulich" - , und sie geben Hinweise auf Einzeltöne, was zum Merkmal "analytisch" führt. 6 Man kann aufgrund der überlieferten Handschriften wie bei jeder paläo-

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Zu den Anfängen der Neumenschrift: Solange Corbin, Die Neumen (Palaeographie der Musik 1). Köln 1977, S. 21-41. Über die ersten vollnotierten Handschriften: Helmut Hucke, Toward a N e w View of Gregorian Chant. Journal of the American Musicological Society 33 (1980), S. 437-467, hier S. 446-448. - Über den ganzen Komplex "Choral" orientiert David Hiley, Western Plainchant. A Handbook. Oxford 1993. Wulf Arlt, Anschaulichkeit und analytischer Charakter. Kriterien der Beschreibung und Analyse früher Neumenschriften. In: Michel Huglo (Hg)., Musicologie médiévale. Notations et séquences. Actes de la table ronde du C . N . R . S . à l'Institut de Recherche et d'Histoire des Textes, 6-7 sep-

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graphischen Untersuchung nach Differenzierungen von Neumen fahnden und vermag aufgrund der Analyse Kriterien herauszuarbeiten, die eine geographische und zeitliche Einordnung der Zeugnisse ermöglichen. Ich nenne diese Forschungsrichtung für den Moment "Neumengeographie". Für unsere interdisziplinären Anliegen ist die "Neumengeographie" gewiss wichtig, erlaubt sie doch, zusätzlich zu kodikologischen Befunden und textpaläographischen Kriterien weitere Parameter zur Situierung von Handschriften beizubringen. Doch möchte ich diese Facette im folgenden beiseite lassen und mich nur auf die Frage konzentrieren, was diese Faustformel vom "anschaulichen" und "analytischen" Charakter von Neumen meint. Verdutzend ist zunächst das Merkmal der "Anschaulichkeit"; denn zur Frage steht doch dann, welche Transformation dafür verantwortlich ist, dass man Hörbares im lateinischen Mittelalter so schreibt, dass melodisches Substrat "anschaulich" wird. Bekanntlich sprechen wir von "hohen" und "tiefen" Tönen und sind es gewohnt, dass entsprechende Zeichen auf dem Beschreibstoff "oben" oder "unten" angeordnet sind. Antiker Tradition gemäss wird der Unterschied zwischen "hoch" und "tief' als Metapher verstanden: Aristoteles betont an einer Stelle, dass oxys (oder acutus) eigentlich scharf meint und z. B. als Urteil dann geäussert wird, wenn man etwas betastet und die Empfindung von Schärfe hat. 7 Einen Ton als oxys oder acutus zu bezeichnen, ist eine Äusserung katä metaphorän, gemäss einer Übertrao

gung von einem Feld der Sinneswahrnehmung auf ein anderes. Für Vorstellungen im Bereich des Musikalischen ist es nun für das Mittelalter sehr typisch, dass sich das Wahrnehmungsbild von "hoch" und "tief" nicht der Musiklehre, sondern der Grammatik verdankt. Wer Latein lernt, lernt Lesen und Schreiben und wird dabei auch mit der in spätantiken Grammatiken gelehrten Konvention vertraut, dass "hoch" und "tief" mit Akzenten vermittelt wird, die als geschriebene Zeichen nach oben oder nach unten zeigen, wie die Grammatiker versichern. Und es ist dabei natürlich mehr als die akademische Rezitation von Wissen, wenn solche elementare grammatikalische Schulung ein Wahrnehmungsbild fördert, das die Transformation von Hörbarem in Sichtbares ermöglicht. Solche erste Feststellungen signalisieren mehrere Themen zugleich. Die Aufzählung ergibt zum Beispiel: was hat Musik mit Grammatik zu tun? und vor allem: warum hat sie mit ihr überhaupt zu tun? Dann: wie steht es um das Verhältnis von "hörbar" und "sichtbar"? und vor allem: Warum kommt die Idee auf, Musik aufzuschreiben? Ich möchte - nun meinerseits metaphorisch - mehrere Schlaufen bilden, die uns einige relevante Materialien bescheren werden. Bevor der Durcheinander, den meine Schlaufen anrichten, zur Unverständ-

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tembre 1982. Paris 1987, S. 29-55; Max Haas, Notation IV: Neumen. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Bd. 7 (1997), Sp. 296-317. Vgl. Frieder Zaminer, 'Die Tonhöhe'. Zum Problem ihrer Auffassung seit der Antike. In: Michael von Albrecht, Werner Schubert (Hg.), Musik in Antike und Neuzeit. Frankfurt a. M., Bern, New York 1986, S. 17-29, hierS. 19-23. De anima II (420a 19).

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lichkeit führt, werde ich immer wieder in Form knapper Zusammenfassungen die verstreuten Hinweise bündeln. Beginnen wir mit der ersten Schlaufe. Die Septem artes liberales werden im Karolingerreich zunächst und vor allem als Plan oder als Bildungsideal eingeführt. 9 Die Umsetzung des Plans ist mehrfach schwierig. Zunächst einmal gibt es Wissensbestandteile, die als solche schwierig interpretierbar sind, da man ihre Voraussetzungen nicht kennt. So kann man bei Cassiodor und Isidor eine Formulierung finden, derzufolge zwei Formen von Wissen möglich sind. Die eine hat es zu tun mit Dingen, die so und nicht anders sind. In späterer Terminologie würde man sagen: mit dem Wissen von scientia, die sich auf notwendigerweise so und nur so Geschehendes bezieht. Die andere Wissensform ist auf kontingente Daten gerichtet, auf Ereignisse also, deren Abfolge so, aber eben auch anders sein kann.10 Zu den Wissensbestandteilen gehören auch Klassifikationen, die sich nicht auf die artes allein beziehen." Das gilt z. B. für die altehrwürdige Klassifikation, die besagt, dass Wissen insgesamt sich auf die Teile Ethik, Logik und Physik beziehe.12 Was soll man sich nun im 8. oder 9. Jahrhundert darunter vorstellen? Soweit solche Klassifikationen ihrerseits wiederum curriculare Muster bezeugen, ist es bereits darum schwierig, sie mit dem Plan der artes zu verbinden, da man textus ('Textbücher') benötigt, um die artes lehren zu können. Nur sind geeignete textus oft nicht vorhanden. Schon auf dieser elementaren Ebene gibt es demnach Probleme: Welche textus sind z. B. geeignet, in die Astronomie oder Rhetorik oder Logik einzuführen? Man schätzt die mit einer Rahmenhandlung in die artes einführende Schrift 'De nuptiis Philologiae et Mercurii' von Martianus Capella im Karolingerreich vor allem darum, weil hier ein einziger Text nach den beiden Einleitungskapiteln in jeweils einem Buch eine ars

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Vgl. Martin Anton Schmidt, Scholastik. In: Kurt Dietrich Schmidt u. Ernst Wolf (Hgg.), Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. II.G. Göttingen 1969, S. 67-181, hier S. 80. 10 Die im ganzen Mittelalter geläufige Formulierung lautet bei Isidor von Sevilla: Inter artem et disciplinam Plato et Aristoteles harte differentiam esse voluerunt, dicentes artem esse in his quae se et aliter habere possunt; diseiplina vero est, quae de his agit quae aliter evenire non possunt; Etymologiae sive origines I, I, 3. Hrsg. von Wallace Martin Lindsay. Oxford 1911. 11 Zu mittelalterlichen Wissenschaftsklassifikationen vergleiche man die Übersichtsdarstellung von James Weisheipl, Classification of the Sciences in Medieval Thought. Mediaeval Studies 27 (1965), S. 24-90. Zur ikonographischen Tradition: Karl-August Wirth, Von mittelalterlichen Bildern und Lehrfiguren im Dienste der Schule und des Unterrichts. In: Bernd Moeller, Hans Patze u. Karl Stackmann (Hgg.), Studien zum städtischen Bildungswesen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters (Abh. Akad. Wiss. Göttingen, phil.-hist. Klasse, 3. F., Nr. 137). Göttingen 1983, S. 256-370. Eine Analyse der Klassifikationstechniken gibt John E. Murdoch, Album of Science. Antiquity and the Middle Ages. New York 1984, S. 38-51. 12 Etymologiae [Anm. 10], II, XXIV, 3; dazu Weisheipl [Anm. 11], S. 63f.

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nach der anderen behandelt.13 Martians Werk liefert also die ausreichende Zahl der textus. Dass der Text geschätzt wurde, lässt sich nicht allein aus den Kommentaren eines Johannes Scotus oder Remigius von Auxerre ablesen, sondern aus der handschriftlichen Überlieferung.14 Wir finden in der Vielzahl der Manuskripte oft ein Buch aus 'De nuptiis' zusammengenommen mit anderen einschlägigen Texten. Verkürzt gesagt: Martian-Handschriften sind gerade darum so interessant, weil sie immer wieder einen Einblick in ein Curriculum gewähren. Ich werde dabei den Eindruck nicht los, dass mit Martians Text weniger Wissen dargelegt als Wissen legitimiert werden soll: Die sieben Säulen der Weisheit, mit denen Salomo baute,15 legitimieren einigen Kommentatoren zufolge die Siebenzahl der artes, Martians Text andererseits macht gewiss, dass bereits eine entsprechende Stoffordnung vorhanden ist, und darum kann es auch als legitim gelten, um ein einzelnes Buch von 'De nuptiis' herum andere einschlägige Texte einer Disziplin zu gruppieren.16 Die Musiklehre hat in diesem Szenario ihre spezifischen Schwierigkeiten. Neben dem 9. Buch aus 'De nuptiis' kann sie sich auf die 'Institutio musica' wie auf die Einleitungskapitel der 'Institutio arithmetica' des Boethius beziehen. 17 Daraus ergeben sich gerade mehrere Schwierigkeiten, von denen ich eine hervorheben möchte. Boethius begründet das Quadruvium, wie er es nennt, durch die zweifache Zweiteilung der Kategorie der Quantität: Die Zweiteilung der quantitas discreta liefert die Gegenstandsbereiche der Arithmetik und der

13 Adolf Dick (u. Jean Préaux) (Hgg.), Martianus Capeila. 2. Aufl. Stuttgart 1978; engl. Übersetzung und Kommentar: William Harris Stahl u. a., Martianus Capeila and the Seven Liberal Arts I: The Quadrivium of Martianus Capella. Latin Tradition in Mathematical Sciences, 50 B.C. - A.D. 1250 (Records of Civilization: Sources and Studies 84.1). New York, London 1971; ders. u. a., Martianus Capella and the Seven Liberal Arts II: The Marriage of Philology and Mercury (Records of Civilization: Sources and Studies 84.2). New York 1977. 14 Claudio Leonardi, I codici di Marziano Capella. Aevum 33 (1959), S. 443-489 und Aevum 34 (1960), S. 1-99 u. S. 411-524. 15 So Prov 9, 1: Sapientia aedifìcavit sibi domum, excidit columnas septem. 16 Zur Kommentarliteratur: Cora E. Lutz, Martianus Capella. In: Paul Oskar Kristeller (Hg.), Catalogus translationum et commentariorum: Mediaeval and Renaissance Latin Translations and Commentaries. Annotated Lists and Guides. Bd. 2, Washington 1971, S. 367-381; dies., Martianus Capella. Addenda et Corrigenda (with a Note by John J. Contreni). In: F. Edward Krantz, Paul Oskar Kristeller, Catalogus translationum et commentariorum: Mediaeval and Renaissance Latin Translations and Commentaries. Annotated Lists and Guides. Bd. 3, Washington 1976, S. 449452. 17 Anicii Manlii Torquati Severini Boetii De institutione arithmetica libri duo, De institutione musica libri quinque. Accedit geometria quae fertur Boethii. Hrsg. von Gottfried Friedlein. Leipzig 1867 [Ndr. Frankfurt a. M. 1966]. Die beste Übersetzung der 'Institutio musica' stammt von Calvin M. Bower, Fundamentals of music. Anicius Manlius Severinus Boethius. New Haven, CT etc. 1989. - Wesentliche Einblicke in die Boethius-Rezeption vermittelt die 1993 von Michael Bernhard und Calvin M. Bower begonnene Edition der umfangreichsten Glossierung der 'Inst, mus.': Glossa maior in institutionem musicam Boethii I, München 1993- (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Musikhistorischen Kommission 9-12), von der jetzt 4 Bände vorliegen.

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Musik, die entsprechende Teilung der quantitas continua jene der Geometrie und Astronomie. 18 Soweit nun gilt, dass Musik als Theorie zu verstehen und daher mit den Dingen, die so und nicht anders sein können, also mit Notwendigkeitswissen befasst ist, hat sie es mit dem Verhältnis von Zahlen, also mit intelligiblen Grössen zu tun. Heute wie im Mittelalter nennen wir das Konglomerat solcher Grössen "Mengen". 19 Nach mittelalterlichem Verständnis kann eine so begründete Theorie genau darüber etwas aussagen, was die ratio eines Tons oder eines Intervalls ist. Negativ formuliert: es gibt nach mittelalterlicher Ansicht keine theoretische Basis, von der aus die Sukzession klanglicher Ereignisse begründet werden kann. Wenn wir nun berücksichtigen, dass die ars musica vor allem im Elementarunterricht genutzt wird und den pueri eine musikorientierte Weiterschliessung gewähren soll, verdutzt 20

die Lösung des Problems nicht. Bereits Martian stellt in seiner Rahmenhandlung die Hochzeit zwischen Merkur und Philologia als eine doppelte Asymmetrie dar. Merkur ist göttlich, Philologia ist irdisch; Merkur scheint dumm zu sein, jedenfalls benötigt er die Hilfe seines grossen Bruders Apoll, um herauszufinden, wen er heiraten könnte. Die nur irdische Philologia dagegen ist so klug, dass karolingische Kommentatoren sie gelegentlich mit dem Epitheton profunda inventio belegen.21 Damit die Hochzeit möglich wird, muss die nur irdische Philologia göttlich werden. In einem qualvollen Initiationsritual veräussert sie ihr Wissen, indem sie die Bücher der Bibliothek erbricht. Martian beschreibt die einzelnen Volumina, die so entstehen. Die karolingischen Kommentatoren haben dann ihre Schwierigkeiten, das Buch innerhalb der erbrochenen Bibliothek, das Musik in Form von Gesängen und

18 Inst, arithm. I, 1 [Anm. 17], S. 8, Z. 15-S. 9, Z. 8. 19 Bereits Boethius spricht - offensichtlich aus pädagogischen Gründen um Einfachheit bemüht - von multitudo und nicht von quantitas discreta (Inst, arithm. I, 1 [Anm. 17], S. 8, Z. 23). 20 Die Situierung der grösseren Teile mittelalterlicher Musiklehre in ein elementares (und daher z. B. nicht in ein universitäres Curriculum) versuchte ich zu begründen in M . Haas, Studien zur mittelalterlichen Musiklehre I: Eine Übersicht über die Musiklehre im Kontext der Philosophie des 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Forum musicologicum. Basler Beiträge zur Musikgeschichte 3 (1982), S. 323-456, hier S. 368-371; ders., Die Musiklehre im 13. Jahrhundert von Johannes de Garlandia bis Franco. In: Frieder Zaminer (Hg.), Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit (Geschichte der Musiktheorie 5). Darmstadt 1984, S. 89-159, hier S. 113f. Vergleiche jetzt Michael Walter, Sunt preterea multa quae conferri magis quam scribi oportet. Zur Materialität der Kommunikation im mittelalterlichen Gesangsunterricht. In: Martin Kintzinger, Soenke Lorenz u. Michael Walter (Hgg.), Schule und Schüler im Mittelalter: Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 42). Köln, Weimar, Wien 1996, S. 111-143, hier S. 114, Anm. 8 (mit zusätzlicher Literatur). 21 So heisst es im Martian-Kommentar des Remigius von Auxerre über Eurydike, welche musikbezogen die Funktion der Philologia einnimmt: Euridice interpretatur profunda inventio. Ipsa ars musica in suis profundissimis rationibus Euridice dicitur, cuius quasi maritus Orpheus dicitur, id est Q P / 0 X (PQNH id est pulchra vox; Remigii Autissiodorensis Commentum in Martianum Capellam. Hrsg. von Cora E. Lutz. 2 Bde. Leiden 1962 und 1965, hier Bd. 2, S. 310, Z. 12-15. Zur Korrespondenz "Eurydike - Philologia" vgl. Anm. 25.

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besonderen Zeichen enthält, zu würdigen, handelt es sich doch um die von Martian im Anfang des 5. Jahrhunderts umschriebene Idee der notierten Handschrift, von der die Kommentatoren wohl noch keine Vorstellung haben.22 Es bleibe hier unbeantwortet, ob Martian eine ungeniessbare Geschichte vorlegt, wie Ernst Robert CURTIUS vermutet, der seinen Leserinnen und Lesern gerade eine Zusammenfassung der Rahmenhandlung bietet, damit sie den Text nicht lesen müssen, oder ob Martian nicht ohne sanfte Ironie formuliert. 23 Denn bei ihm bringt die irdische Frau die Bibliothek im Olymp zu Ehren. Dichotomisch formuliert steht sie ein für das Wissen, Merkur nur für dessen sprachliche Artikulation. Immer wieder von dieser Figuration ausgehend wird zu karolingischer Zeit ein ganzes Netz von Dichotomien geknüpft. So stellt man etwa der ratiocinatio die sermocinatio gegenüber oder formuliert mit einer Sentenz Ciceros eine Opposition zwischen sapientia und eloquentia.24 Für den Fall der Musik kann die Dichotomie durch die Evokation des Mythos von Orpheus und Eurydike in der kreisförmigen Gestalt personal gefasst werden, der zufolge Orpheus, der Sänger, immer wieder seine Eurydike, seinen Bezirk der Begründung suchen muss, will er nicht Sinnloses vortragen. Eine andere personale Figuration ergibt sich aus der Gegenüberstellung von musicus und cantor, von dem also, der weiss, was dem Singen zugrundeliegt, und von dem, der singt, aber nicht notwendigerweise die Begründung seiner musikalischen Handlung kennt.25

22 In der Edition von Dick u. Préaux [Anm. 13] umfasst der Vorgang die §§ 135-138. Man vergleiche die Übersetzung des kniffligen Textes bei Stahl u. a. 1977 [Anm. 13] , S. 47f. 23 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 4. Aufl. Bern, München 1963, S. 48f. 24 Man vergleiche etwa die folgende Stelle aus dem bereits angeführten Martian-Kommentar des Remigius: Philologia ergo ponitur in persona sapientiae et rationis, Mercurius in similitudine facundiae et sermonis. Ut autem Cicero dicit, eloquentia, id est sermonis copia, sine ratione et sapientia nocet aliquando, raro aut numquam prodest; sapientia vero sine eloquentia prodest Semper, numquam obest [De inventione 1,1]. Cum ergo in sapiente haec duo convenerint, et acumen videlicet rationis et facundia sermonis, tunc quodam modo sociantur Mercurius et Philologia, tuncque promptissimum est unicuique ad scientiam VII liberalium artium posse accedere; Lutz [Anm. 21], Bd. 1, S. 66, Z. 23-29. 25 Die hier gemeinte Version des Orpheus-Mythos findet sich in der 'Musica Enchiriadis'; vgl. Musica et Scolica Enchiriadis una cum aliquibus tractatulis adiunctis (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Musikhistorischen Kommission 3). Hrsg. von Hans Schmid. München 1981, S. 57, Z. 1-12, wo auf die benutzten Quellen verwiesen wird. D i e Annahme, der Mythos sei kreisförmig angelegt, stützt sich auf S. 57, Z. 7-12 mit der dreischichtigen Gliederung (1) "Mythos", (2) haec vita und (3) der eschatologischen Wendung, die sich auf 1 Cor 13,12 bezieht: Sed dum rursus per Orpheum, id est per optimum cantilenae sonum, a secretis suis acsi ab inferis evocatur, imaginarie perducitur usque in auras huius vitae dumque videri videtur, amittitur, scilicet quia inter cetera, quae adhuc ex parte et in enigmate cernimus, haec etiam disciplina haud ad plénum habet rationem in hac vita penetrabilem. Dass Eurydike und Orpheus als Paar Philologia und Merkur korrespondieren, ist ebenfalls eine Interpretation. Sie beruht vor allem auf der Art der Einführung der Philologia ... doctissima bei Martian (Dick u. Préaux [Anm. 13], S. 44, Z. 15). - Zu den Stellen bezüglich musicus und cantor in der mittelalterlichen Musiklehre: Erich

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Solche dichotomische Formulierungen geben wenig Information über die Prozesse, auf die sie verweisen, aber sie machen allen Heranwachsenden eine Grundformation klar, wenn sie wie im Falle der Musiklehre immer wieder in unterschiedlichen Formulierungen eher eingehämmert und eingetrichtert denn gelehrt werden. Zur Verständigung benütze ich für den Moment eine allgemeine Handlungsbeschreibung, um anzuzeigen, worum es bei "Musik" geht. Man könnte, etwas abstrakt, sagen, dass Menschen bei zwei Gelegenheiten lineare oder geordnete Symbolketten benutzen: erstens wenn sie reden, sekundär wenn sie schreiben und zweitens wenn sie Musik produzieren oder sekundär wenn sie Musik aufschreiben. Heranwachsende lernen im Mittelalter dank der Einprägsamkeit der erwähnten Dichotomien, dass das Produzieren der Symbolketten - der Aspekt der sermocinatio also (im Deutschen nennen wir das etwas umständlich "etwas zur Sprache bringen") - nur dann lege artis möglich ist, wenn die Gründe der Produktion gewusst werden. Man denkt sich seit karolingischer Zeit im Mittelalter das Produzieren als trivialen - dem Trivium sich verdankender - Aspekt, der vor allem dank grammatikalischer und rhetorischer Schulung gelingt, während die Gründe für das Produzieren dann ersichtlich werden, wenn die intelligiblen Faktoren als solche zur Diskussion stehen. Soweit diese Schulung als elementar verstanden wird, versucht man, mit dem Aspekt der ratiocinatio, mit Aspekten von Begründungswissen also, gerade ein weiteres Postulat anzumelden. Boethius äussert sich grundsätzlich über die Position des Quadrivium bekanntlich nicht in seinen Einleitungsschriften, sondern im Text, der unter dem Titel 'De trinitate' bekannt geworden ist.26 Darin ordnet er aufsteigend die Erkenntnisbedingungen der Physik, der Mathematik und der Theologie oder der Metaphysik. Die Physik, die mit den natürlichen Gegebenheiten befasste Optik, ist auf Materie und Form gerichtet, während für die mathematische Betrachtungsweise nur die aus der Materie abstrahierte Form wichtig ist. Theologie oder Metaphysik beschäftigen sich dann mit der Form an sich. Zu welch schwierigen Fragen diese Hierarchie der Erkenntnisbedingungen führt, zeigen exemplarisch 'De trinitate'-Kommentare des 12. Jahrhunderts wie jene des Clarembald von Arras, des Thierry von Chartres und - last but not least - des Gilbert de la Porrée. Werden die drei Bereiche aber fürs elementare Curriculum bedacht, wird Erkenntnistheorie für die Zwecke elementarer Pädagogik umgemünzt. Boethius äussert an einer Stelle Bedenken gegenüber der 27 Sinneswahrnehmung, da sie confuse sei. Der Begriff ist wörtlich zu nehmen: Was wir hö-

Reimer, Musicus - cantor. In: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Bd. 2 (1978), S. 3b-7b. 2 6 Boethius. The Theological Tractates. Hrsg. von H. F. Stewart, E. K. Rand, S. J. Tester. 2. Aufl. London, Cambridge, M A 1973, S. 8-12. 27 So heisst es in der 'Inst, mus.' V, 2: Fortasse autem id, quod sensus non integre sed confuse atque a veritate minus quasi quidam incallidus aestimator agnoscit . . . ; [Anm. 17], S. 352, Z. 26-28. Folgerichtig finden sich im 'Didascalicon' II, 17 des Hugo von Saint-Victor (um 1125/30) der Satz: mathematicae autem proprium est actus confusos inconfuse per rationem attendere; Hugonis

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ren oder sehen, ist zunächst immer im Bereich des Konfusen, des Vermischten, da wir in einer natürlichen oder physikalischen Betrachtungsweise Form und Materie ungeschieden wahrnehmen. Erst die Abstraktion, welche die Mathematik leistet, macht der Konfusion ein Ende: Aus dem Vermischten wird das Intelligible herausgefiltert. Ich habe mit Neumen begonnen, bin damit noch nicht fertig und möchte die wichtigsten Punkte rekapitulieren, die sich bis hierher für die Belange einer ars musica ergeben haben und dann gerade erweitern. Was seit dem frühen Mittelalter die ars musica zu leisten hat, ist wesentlich mit dem Elementarunterricht und darum mit dem Schulalltag verbunden. Wenn nun gilt, dass liturgische Gesänge nach unterschiedlichen Graden von Richtigkeit und Unrichtigkeit vorgetragen werden können, müssen bereits die pueri einschlägig sozialisiert werden. Wittgenstein hat dafür auch den klareren Ausdruck der "Abrichtung" benutzt.28 Es wird den pueri beigebracht, dass "Singen" - die alltägliche, unreflektierte Tätigkeit par excellence - ein beurteilbarer Prozess ist. Mit der dichotomischen Unterscheidung zwischen dem Produzieren kontingenter Daten und deren Begründung (in späterer Terminologie ausgedrückt: mit der Unterscheidung zwischen scientia und ars oder Theorie und Poietik) werden Möglichkeiten der Artikulation eingeübt, und gleichzeitig wird am alltäglichen Beispiel die Aufmerksamkeit auf die Ordnungsmuster gelenkt, welche die abstrahierende mathematische Bemühung liefert. Ich habe etwas vereinfacht, damit der eine Punkt deutlich wird: Ars musica kann als Modelldisziplin beschrieben werden, da sie für ihre Zwecke alle artes benutzt. Das wäre aber genau dann unrichtig, wenn die artes ausschliesslich mit einem Wissenschaftsbetrieb assoziiert würden. Im Falle der Musik geht es immer wieder um eine elementare Schulung, die sich mit alltäglicher Sinneswahrnehmung und deren Strukturierung beschäftigt. Viele Texte der Musiklehre lassen sich nur verstehen, wenn das Elementare als Gattungsbedingung verstanden wird. Was aber sind nun Neumen? Man versucht gelegentlich, einen Aspekt kognitionspsychologischer Untersuchung mit einem geflügelten Satz, der vielleicht auf Jean Piaget zurückreicht, verständlich zu machen. Die Sentenz lautet: "Wissen die Kinder, was sie sehen, oder sehen die Kinder, was sie wissen"? 29 Neumen beruhen, wie wir gesehen haben, auf der doppelten Metapher, derzufolge in einer Melodie "hohe" und "tiefe" Töne vorkommen, die auf dem Beschreibstoff gemäss einem "Oben" und "Unten" angeordnet werden. Wer Neumen schreibt, bildet nicht einfach die Melodie ab, sondern schreibt Zeichen gemäss einem grammatikalischen Wahrnehmungsfilter. Man bringt Kindern mit dem Lesen und Schreiben bei, dass die lineare Kette der artikulierten Rede segmentierbar ist, und man bringt ihnen bei, wie Gesungenes in die visuelle Wahrnehmung transformiert werden

de Sancto Victore Didascalicon De Studio Legendi. A Criticai Text. Hrsg. von Charles Henry Buttimer. Washington, D C 1939, S. 35, Z. 20f. 28 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 107, § 206. 29 Thomas Kesselring, Jean Piaget (Beck'sche Reihe Grosse Denker 512). München 1988, S. 97.

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kann. Wird dieser Aspekt berücksichtigt, gibt's Probleme mit einer geläufigen neumenkundlichen Denkfigur. Denn die Neumenkunde hat neben der "Neumengeographie" einen langgehegten Bereich, der sich mit dem Ursprung der Neumen beschäftigt. Es gibt kaum ein Arsenal von Zeichen, das nicht auf seine Verwendungsfähigkeit geprüft worden wäre, als Ursprung lateinischer Neumen einzustehen. So zum Beispiel die ekphonetische Notation - die Kantillationszeichen des byzantinischen Ritus also - , die grammatikalischen Akzente oder die Te'amim, die zur Kantillation des masoretischen Textes verwendeten Zeichen, ganz zu schweigen von der Cheironomie, die als Hypothese vielleicht darum so faszinierend ist, weil man die neuzeitliche Vorstellung von der stets imposanten Herrschaft des Dirigenten über die Musiker ins Mittelalter transportieren kann: Der Chorleiter zeigt mit der Hand den melodischen Verlauf an, wodurch der Chorleiter als Faszinosum gelegentlich so in den Vordergrund gerät, dass die Frage ungestellt bleibt, woher er denn weiss, wie seine Handbewegungen Melodisches zeigen sollen.31 Mein Unwohlsein mit solchen Ursprungshypothesen liegt darin, dass sie stets Objekte der Aussenwelt in Betracht ziehen. Zumindest erwägbar scheint gegenüber dieser exogenen Ausrichtung auch eine endogene: Wer im Elementarunterricht abgerichtet wird, Musik mit einem bestimmten Wahrnehmungsfilter aufzunehmen, weiss eben nicht, was er hört, sondern hört, was man ihm beigebracht hat. Demnach könnte auch vermutet werden, dass Neumen akausal an verschiedenen Orten entstanden, wobei Schreiber sicher auch andere Formen von Neumen sahen und damit wiederum ihr Wahrnehmungsspektrum erweiterten. Nun werden Neumen gelegentlich in Musiktraktaten in Beispielen verwendet. Doch steht die Praxis des Neumenschreibens in einer merkwürdigen Beziehung zur Musiklehre. Ich

30 Ein einschlägiges, prominentes Zeugnis für den Zusammenhang von Grammatik und Musik ist der Anfang der 'Musica Enchiriadis' (zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts oder um 900), wo eine Passage aus dem Kommentars des Calcidius zu Piatos 'Timaios' als Muster genutzt wird; [Anm. 25], S. 3, Z. 1-7. Man vergleiche die kommentierte Übersetzung von Raymond Erickson, Musica Enchiriadis and Scolica Enchiriadis. New Häven, London 1995, S. 1. - Zur Elementarlehre der 'Musica Enchiriadis': Klaus-Jürgen Sachs, Musikalische Elementarlehre im Mittelalter. In: Frieder Zaminer (Hg.), Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter (Geschichte der Musiktheorie 3). Darmstadt 1990, S. 105-161, hier S. 109-116. - Von den Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Grammatik und Musiklehre seien genannt: Mathias Bielitz, Musik und Grammatik. Studien zur mittelalterlichen Musiktheorie (Beiträge zur Musikforschung 4). München 1977; Marie-Elisabeth Duchez, La représentation spatio-verticale du caractère musical grave-aigu et l'élaboration de la notion de hauteur de son dans la conscience musicale occidentale. Acta musicologica 51 (1979), S. 54-73; dies., Description grammaticale et description arithmétique des phénomènes musicaux: le tournant du IXe siècle. In: Jan P. Beckmann u. a. (Hgg.), Sprache und Erkenntnis im Mittelalter: Akten des VI. Internationalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie der Société internationale pour l'étude de la philosophie médiévale, 29. Aug.-3. Sept. 1977 in Bonn (Miscellanea mediaevalia 13. 2). Berlin, New York 1981, S. 561-579; Blair Sullivan, Grammar and Harmony: The Written Representation of Musical Sound in Carolingian Treatises, Ph.D. University of California 1994 ( U . M . I . 9425780). 31 Zur einschlägigen Forschung: M. Haas, Notation IV: Neumen [Anm. 6], S. 296-317.

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möchte das von einem einzelnen Aspekt aus verdeutlichen. Wir verwenden heute zur Bezeichnung unterschiedlicher Formen von Neumen ein Konglomerat von Namen, das seit dem 11. Jahrhundert vor allem in zwei Namenslisten überliefert ist.32 Überspitzt gesagt: Die Überlieferung der Namen beginnt zu einer Zeit, da in weiten Teilen des lateinischen Mittelalters bereits auf Linien mit einer graphisch sehr eingeschränkten Form von Neumen notiert wird. Diese wie andere Neumennamen sind harmlos im Gebrauch, wenn es um die Verständigung geht. Sie haben aber eine gelegentlich unerwünschte Nebenwirkung: Man könnte meinen, die Schreiber hätten die Zeichen geschrieben, die wir benennen. Tatsächlich wissen wir so gut wie nichts über die Sprachregelungen unter den Neumenschreibern und können nur versuchen, aus dem Studium der einzelnen Dokumente den Schreibvorgang nachzuvollziehen. Als sicher gilt, dass ein Schreiber ein melodisches Segment wählt und nach Massen bestimmter Schriftrichtungen Zeichen ordnet. Wir können uns den wesentlichen Aspekt klarmachen, wenn wir solche Verrichtungen mit dem Gebrauch einer Alphabetschrift kontrastieren. Die Zeichen einer Alphabetschrift werden gelernt als konventionelle Zeichen, wobei ein geschlossenes Inventar an Zeichen ein durchaus offenes Inventar an Phonemen repräsentiert. Neumen mögen auch von Konventionen geprägt sein; doch suggerieren nur die vergleichsweise späten Neumenlisten ein geschlossenes Inventar von Namen. Die neumierten Handschriften selber zeigen keine konventionelle Schrift nach Anlage einer Alphabetschrift. Wenn die Musiklehre sich aber darum bemüht, die Grundelemente von Musik zu eruieren, trachtet sie nach einer musikalischen Analogie zu einer Alphabetschrift. Zwar mag die Menge der Artikulationsmöglichkeiten, welche frühe Neumenschriften zu Teilen anzeigen, unendlich gross sein; doch muss man mittelalterlicher Musiklehre zufolge die Menge auf Elemente im Sinne von Grundbausteinen reduzieren können. Was sich später für die Belange der Praxis als Notenschrift durchsetzt, ist stark von dieser Tendenz zur Reduktion auf Grundbausteine geprägt. In der Literatur ist gelegentlich diese Entwicklung als Proprium sogenannter abendländischer Musik eher gefeiert denn erklärt worden.33 Solcher Lesart zufolge bilden die theoretische Reflexion von Musik und deren Überführung in Schrift eine Merkmalskonstellation, die das Fundament einer einzigartigen musikalischen Kultur - eben unserer Kultur - bildet. Ich möchte die mir wenig einsichtigen Argumente solcher Einzigartigkeit hier nicht einzeln vorführen, sondern in der Zusammenfassung und gelegentlichen Erweiterung des bisher Dargelegten zu zeigen versuchen, dass eine ganz andere Lesart der Umstände, die mit den Schlagwörtern "Theorie" und "Schriftlichkeit" befasst sind, sich nahezu aufdrängt. Ich rekapituliere und erweitere in drei Schritten.

32 Die Edition der beiden Listen besorgte Michel Huglo, Les noms des neumes et leurs origines. Études grégoriennes 1 (1954), S. 53-67. 33 Vgl. z. B. Hans Heinrich Eggebrecht, Opusmusik. In: ders., Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik. Wilhelmshaven 1977, S. 225.

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Erstens: Der historische Raum, den wir "Mittelalter" nennen, beherbergt die Vertreter der drei Schriftreligionen, der Anciennität nach aufgezählt des Judentums, des Christentums und des Islam. Wissenschafts- und philosophiehistorisch gilt, dass die sogenannte Antikenrezeption sich im arabischen, hebräischen und lateinischen Schrifttum spiegeln. Der stets interessante Faktor besteht darin, dass der Islam, damit auch das Judentum in der Rezeption antiken Stoffes stets weit schneller und effizienter arbeiten, als dies im lateinischen Mittelalter der Fall ist. Und für die Belange der Musikwissenschaft mag es wichtig sein zu sehen, dass al-Farabi (Alpharabius) in seinem 'Grossen Buch der Musik* vor 950 Probleme diskutiert, die einer lateinischen Musiklehre im Mittelalter erst im 14. Jahrhundert zuwachsen. 34 Warum ist es nun aber so, dass Juden wie Muslimin eine sehr differenzierte Musiklehre, der oft genug ein theoretischer Status zukommt, ausbilden und dabei durchaus Kenntnis haben von der Tatsache, dass Christen Musik aufschreiben, selber aber daran kein Interesse zeigen? Denn weder bei Juden noch Muslimin ist das geringste Bedürfnis zu beobachten, die Corpora überkommener Melodien schriftlich zu fixieren. Die Gründe dafür sind einfach festzumachen: Juden wie Muslimin haben in einer sehr langen Praxis Techniken mündlichen Tradierens ausgebildet, die eine schriftliche Fixierung unnötig machen. 35 Warum aber wird im Rahmen der Schriftreligionen ausgerechnet vom Christentum Notation entwickelt? Das führt uns zum zweiten Punkt. Die Organisation des Karolingerreichs ist ein Topos der Forschung, der hier nicht einzuführen ist. Auf ein Schlagwort verkürzt geht es für meine Belange darum, wie in einem Reich, das gelegentlich mehr als eine Million Quadratkilometer umfasst, eine einheitliche Liturgie- und Gesangspraxis eingeführt und in ihrer Einheitlichkeit garantiert werden kann. Dass die verbindliche Praxis auf Rom zurückgehen muss, ist klar; doch ist der Transfer der Usancen von Rom ins Frankenreich mehrfach schwierig: Es fehlt immer wieder an verbindlichen Formularen für die liturgische Ordnung, und es geht um die Quadratur des circulus vitiosus, wenn versucht wird, eine gewachsene Tradition liturgischen Singens aus Rom ins Frankenreich zu verpflanzen; denn Traditionen haben ihre eigene Gesetzlichkeit: Die einschlägigen Materialien können aufoktroyiert und gleichsam per Dekret zur Tradition erklärt werden, nur funktionieren sie nicht in einer der-

34 Man vergleiche etwa die Untersuchungen Benedikt Reinerts zur Komma-Theorie bei Farabi: Das Problem des pythagoräischen Kommas in der arabischen Musiktheorie. Asiatische Studien XXXIII, 2 (1979), S. 199-217, hier S. 204-207. Farabi bezieht sich auf die zenonischen Paradoxien (vgl. Reinert, S. 207), genauer auf Aristoteles, 'Physik' VII, 5 (250al7-22). Eine Analogie zu diesem theoretischen Vermögen finde ich im lateinischen Mittelalter erst etwa bei Nicolaus Oresmes Analyse des Tons; vgl. Nicole Oresme and the Medieval Geometry of Qualities and Motions. A Treatise on the Uniformity and Difformity of Intensities Known as Tractatus de configurationibus qualitatuum et motuum (The University of Wisconsin Publications in Medieval Science 12). Hrsg. von Marshall Clagett. Madison, Milwaukee, London 1968, S. 304-337. 35 Vgl. M. Haas, Mündliche Überlieferung und altrömischer Choral. Historische und analytische computergestützte Untersuchungen, Bern 1997, S. 138-141; ders., Mittelalter. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Bd. 6 (1997), Sp. 334f.

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art deklarierten oder zitierten, aber eben nicht gewachsenen Tradition.36 Wir haben früheste Neumendenkmäler - also Befestigung von Musik mit Schrift - genau aus der Zeit, in der das liturgische Idiom, das auf Rom zurückgeht und das wir heute "gregorianischer Choral" nennen, als verbindliche Praxis durchgesetzt wird. 37 Dabei verdient eine Hypothese unsere Aufmerksamkeit, der zufolge Neumen nicht primär dafür da waren, als Vorlage des musikalischen Aktes zu dienen, sondern als dessen Kontrolle. Andreas Haug hat in einer Diskussion einmal die kürzest mögliche Formulierung gebraucht, als er sinngemäss sagte: "Man kann aufgrund einer neumierten Version nicht singen, aber man kann aufgrund der Neumen kontrollieren, ob richtig gesungen wird". 38 Im 11. Jahrhundert preist der unermüdliche Propagandist in eigener Sache, der Benediktiner Guido von Arezzo, seine Innovationen mit der Bemerkung, man könne einen bislang unbekannten Gesang (cantus ignotus, cantus inauditus) jetzt innert kürzester Zeit lernen.39 Man mag im Rückblick Vereinfachungen der schriftlichen Fixierung als Fortschritt betrachten. Doch ist in historischer Optik einzig bemerkenswert, dass von "unbekannten Gesängen" die Rede ist; denn in einer traditionellen "chant Community" gibt es natürlich keine unbekannten Gesänge, sondern höchstens Lieder, von denen wir heute behaupten, sie seien neu geschaffen, während die Tradenten aus ihrem überkommenen Arsenal gesanglicher Regulative einfach das benutzen, was ihnen bereits gut vertraut ist, um einen noch nicht benutzten Text zu integrieren. Drittens: Musica als Teil der artes ist wesentlicher Bestandteil der Verbreitung von Usancen, die offiziell auf eine ehrwürdige, auf den grossen Papst Gregor I. zurückreichende Tradition zurückgehen, tatsächlich aber in einem Akt musikalischer Missionierung als kleiner Aspekt der Reichsbildung fungieren. Es zeugt von äusserstem pädagogischem Geschick, die sehr schwierigen überkommenen Texte so umzuformen, dass gerade an den alltäglichen Verrichtungen exemplifiziert wird, in welchem Verhältnis Wissen und Handeln zueinander stehen. Sedimente theoretischer Anliegen von Boethius bieten sich dabei gerade im Falle der Musik an, da deren Gegenstandsbereich die Betrachtung von Mengen ist. Anders gesagt: Erklingende Musik ist nur ein Spezialfall eines weit umfassenderen Musikbegriffs.

36 Die Probleme sind referiert in M. Haas, Mündliche Überlieferung [Anm. 35], S. 138-176. 37 Vgl. Hucke [Anm. 5], 38 Andreas Haug anlässlich eines Symposium zu paläobyzantinischen Notationen in Hernen. Man vergleiche zur Funktion von "Schrift": A. Haug, Zum Wechselspiel von Schrift und Gedächtnis im Zeitalter der Neumen. In: Cantus planus. Papers Read at the Third Meeting. Tihany, Hungary, 19-24 September 1988. Budapest 1990, S. 34-43. 39 Guido von Arezzo, 'Epistola de ignoto Cantu'. In: Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum. Hrsg. von Martin Gerbert. St. Blasien 1784 [Ndr. Hildesheim 1963], Bd. 2, S. 45; vgl. Mary Carruthers, The Book of Memory: A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990, S. 106.

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Ich glaube, dass heute auch alle, die mit Mathematik nichts zu tun haben, die bekannte Definition Cantors kennen, die heute in jeder Begründung einer naiven Mengenlehre zu finden ist. Ihrzufolge wird eine Menge gebildet durch die wohlunterschiedenenen Objekte unserer Anschauung oder unseres Denkens. 40 Elementare Musiklehre beschäftigt sich damit, den pueri solche Elemente vorzuführen, und das derart intensiv, bis sie wohlunterschieden und dann tatsächlich Elemente einer Anschauung wie einer Denkform geworden sind. Das Ziel besteht nicht darin, mit Kindern zu lernen, wie sie wissen können, was sie sehen, sondern man richtet sie ab, zu sehen und zu hören, was sie wissen, indem gezeigt wird, was Wissen ist. Pointiert gesagt: Ich verstehe all jene, die heute mittelalterliche Musiklehre langweilig finden. Wir verstehen unter Musik alles Mögliche, verwickeln aber den Anfang unseres Gedankens in die Nabelschnur einer Metaphysik von unglücklicher Gewissheit, wenn wir glauben, es gehe bei der Lektüre mittelalterlicher Texte um Erhellendes zur Musik in unserem Verständnis. Musiklehre ist im Mittelalter sekundär wissenschaftsgeschichtlich wichtig, denn ihrer Funktion nach bezeugt sie primär Relevanzen der Bildungs- und Sozialgeschichte. Man lehrt Kindern mit Musik nicht, was Musik ist, sondern man lehrt mit Musik, was die Welt ist. Präziser gesagt: Wenn sich Kinder im Laufe der Sozialisierung Weltmodelle aneignen, dann ist die ars musica nicht das übergeordnete Modell, sondern genau das Modell, das erste Ordnungsfaktoren so bereit stellt, dass Sinneserfahrung und Verstandestätigkeit aufgrund alltäglicher Verrichtungen wechselseitig aufeinander bezogen werden. Wechseln wir das Thema und kommen zum zweiten Punkt der drei kasuistischen Annäherungen an die Funktion der ars musica im Mittelalter. Es geht dabei, wie bereits gesagt, um die besondere Schulung in der Koordination, die Sänger zu meistern haben, wenn sie Mehrstimmigkeit produzieren. Mir ist hier nicht an Mehrstimmigkeit überhaupt gelegen, sondern am Kapitel, das wir mit dem Titel "Die Anfänge der Mehrstimmigkeit" zu umschreiben pflegen. Pièce de résistence der Musiklehre, die sich mit dem Gebiet beschäftigt, ist ein Text, der unter dem in seltsamem Griechisch formulierten Titel 'Musica Enchiriadis' bekannt ist. 41 Er stammt aus der zweiten Hälfte oder aus dem Ende des 9. Jahrhundert, entstand wohl in Nordfrankreich und gehört mit über vierzig erhaltenen Handschriften zu den häufigst überlieferten Texten mittelalterlicher Musiklehre. Er liegt in zwei Fassungen vor: der eben zitierten Version und in der sogenannten 'Scolica Enchiriadis'. Damit ist kein Scholion gemeint, sondern die Version der schola, der Schule. Wir können uns die mehr-

4 0 Fritz Reinhardt, Heinrich Soeder, dtv-Atlas zur Mathematik. Tafeln und Texte, Bd. 1, München 1974, S. 23: "Eine Menge ist eine Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen. Die Objekte heißen Elemente der Menge." 41 Zu Ausgabe und Übersetzung vgl. Anm. 30. D i e prägnante Einführung in die Texte bietet Nancy Phillips, Musica enchiriadis. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Bd. 6 (1997), Sp. 654662.

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stimmige Notierung in beiden Texten am ehesten als Koordinatensystem vorstellen.42 Die yKoordinate ist durch Zeichen gegliedert, die jeweils durch Vierergruppen gebildet sind. Jede Vierergruppe zeigt das Intervall einer Quarte an. Pro Zeichen findet sich eine waagrechte Linie. Den einfachen mehrstimmigen Gesang hat der Schreiber in der x-Achse eingezeichnet, indem er die Textsilben in die entsprechenden Tonhöhen einsetzte. Wird eine Silbe nur einmal geschrieben, handelt es sich demnach um einen Einklang; sämtliche anderen Intervalle müssen durch das zweimalige Schreiben der Silbe angezeigt werden. Will man die Lehre, die zu diesem und den anderen Beispielen hinführt, in eine Kurzformel bringen, so könnte sie lauten: Es geht um die Stegreifausführung von Mehrstimmigkeit. Der eine der beiden Sänger - seine Tätigkeit ist in der Übertragung mit hohlen Noten gekennzeichnet - singt den vorgegebenen Gesang. Der zweite begleitet ihn im Abstand einer Quarte; er singt also zur vox principalis die vox organalis. Aufgrund des Tonsystems besteht die Gefahr, dass in der Begleitstimme statt der Quarte ein Tritonus produziert wird - das Intervall der übermässigen Quarte also, das in diesem quartzentrierten Tonsystem unbrauchbar ist. 'Musica' wie 'Scolica Enchiriadis' lehren, wie man im einzelnen diese Gefahr vermeidet. 43 Ich möchte das, was ich bisher zur elementaren Faktur gewisser Musiklehre gesagt habe, verdeutlichen, indem ich drei Termini sowie das Problem der Tritonusvermeidung kurz umschreibe. Was wir "Beispiele" nennen, ist in der 'Enchiriadis' als descriptio bezeichnet. Jeder Ort, der im zweidimensionalen Koordinatensystem mit einer geschriebenen Silbe belegt werden kann, heisst locus. Der Oberbegriff für die Zeichen, welche die Toncharaktere der y-Achse vertreten, lautet nota. Interessant am Beispiel ist nicht so sehr das, was es im einzelnen anzeigt, sondern das, was es zu verstehen ermöglicht. Ich versuche, die Aspekte in vier Punkten zu rekonstruieren: 1. In der Version der 'Scholica' wird erst gegen Ende über die musica als Gebiet orientiert, das sich mit diskreten Quantitäten im Sinne von Mengen beschäftigt.44 Bei der Erörterung dieses wie der anderen Beispiele wird der Begriff allerdings nicht erörtert, sondern vorgeführt: Eine Silbe repräsentiert eine diskrete Quantität. 2. Der Begriff nota ist im Mittellateinischen abenteuerlich schwierig. Man kann gelegentlich mit "Marke" übersetzen und meint damit ein Zeichen, das etwas vertritt. In eine anschauliche Hantierung mit nota kämen wir etwa beim Studium der sogenannten Hausmeta-

4 2 Vgl. das Beispiel bei H. H. Eggebrecht, Die Mehrstimmigkeitslehre von ihren Anfängen bis zum 12. Jahrhundert. In: Frieder Zaminer (Hg.), D i e mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit (Geschichte der Musiktheorie 5). Darmstadt 1984, S. 9-87, hier S. 24. 4 3 Vgl. Eggebrecht [Anm. 42], S. 23-41; Christian Kaden. Tonsystem und Mehrstimmigkeitslehre der 'Musica enchiriadis': Theoretische Spekulation oder pädagogische Handreichung? In: Martin Kintzinger u. a. [Anm. 20], S. 75-87. 4 4 'Scholica Enchiriadis' III, Schmid [Anm. 25], S. 115-119.

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pher in Quintilians 'Institutio'. 45 Weit abstrakter wäre die Diskussion, ginge es um nota im logischen Schrifttum von Boethius.46 Für das einfache Beispiel der 'Enchiriadis' lässt sich eine Grundbedeutung von nota ausmachen, die besagt, dass nota das Zeichen, die Marke ist, die einen Aspekt der Dinge (der res) dem Intellekt vermittelt. Die entsprechende terminologische Diskussion findet sich bezeichnenderweise nicht: Man lernt elementare Konnotationen einer Vokabel, indem ihr Gebrauch bildhaft vorgeführt wird. Wer die Funktion von nota in der 'Enchiriadis' begriffen hat, wird die einschlägigen logischen Diskussionen von Boethius noch nicht verstehen; doch wird in der 'Enchiriadis' eine Grundbedeutung erlernt, die später nicht aufzugeben, sondern zu differenzieren ist. 3. Genauso steht es mit den beiden anderen Begriffen. Locus ist einer der tückischen Begriffe jeder Argumentationstheorie.47 Wer die 'Enchiriadis' lernt, hat Topik als Teildisziplin der Logik noch nicht verstanden. Doch ist die Vorstellung, musikalische Artikulation bewege sich von einem locus zum nächsten, später durchaus verträglich mit einer Topik, die mit einer Sukzession von loci arbeitet. Schliesslich descriptio als dritter Begriff. In der philosophischen Tradition, der sich nicht nur Boethius verpflichtet weiss, ist descriptio der Gegenbegriff zu definitio.48 Wie bereits im Falle von nota und locus wird auch der Begriff descriptio nicht problematisiert, aber in seiner Grundbedeutung korrekt eingeführt. Im Text finden sich mannigfache Definitionen, während ein Konglomerat von Ereignissen, die zusammenwirkend etwas ergeben, solchen descriptiones vorbehalten bleibt. Damit wird die 'Enchiriadis' nicht zum protologischen Text. Doch wird wenigstens zum Teil die Breite des Tentes verständlich: Zentrale philosophische Termini werden so anschaulich verwendet, dass die Musiklehre ihre propädeutische Funktion erfüllen kann. 4. und letztens: Die propädeutische Tendenz tritt noch stärker hervor, wenn wir die Lehre der 'Enchiriadis' ins Auge fassen. Denn es wirkt doch etwas aufwendig, so viel an Lehre einzuführen, um für eine simple Stegreifpraxis von Mehrstimmigkeit, die selbstverständlich ohne Notation auskommt, den Tritonus als Problem verständlich zu machen. Wir kommen näher an die Faktur des Textes heran, wenn wir uns für den Moment vergegenwärtigen, was es heisst, mehrstimmig zu singen. Vorgegeben ist ein cantus, der in einem bestimmten Abstand begleitet wird. Anders gesagt: Zwei Sänger müssen ihre gesanglichen Bemühungen koordinieren, wenn es ihnen glücken soll, den Gesang lege artis zu vollziehen. Das Problem

45 Quintilian, 'Institutio oratoriae' XI, 2 - Marcus Fabius Quintiiianus, Ausbildung des Redners, Zwölf Bücher (Texte zur Forschung 3). Hrsg. und übers, von Helmut Rahn. Darmstadt 1975, Bd.2, S. 591, Z. 13. 4 6 Dieser Bedeutungsstrang ist ausführlich untersucht worden von John Magee, Boethius on Signification and Mind (Philosophia Antiqua 52), Leiden etc. 1989, S. 49-63. 4 7 Man vergleiche zu den loci die Einführung von Klaus Jacobi (Hg.), Argumentationstheorie. Scholastische Forschungen zu den logischen und semantischen Regeln korrekten Folgerns (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 37). Leiden, N e w York, Köln 1993, S. 3-8. 48 Vgl. Heribert M. Nobis, Beschreibung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1 (1971), Sp. 838-842.

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ist die Koordination.49 Machen wir uns das mit einem Gedankenexperiment klar. Zwei Personen sollen miteinander gehen und ihre Bewegungen koordinieren. Man könnte sich vorstellen, dass sie eingehakt gehen oder mit einem über die Schulter der anderen Person gelegten Arm. Sie spüren dann beim Gehen die Gangart der anderen Person, und die Koordination der Gangarten dürfte einfach sein. Komplizieren wir das Beispiel ein bisschen: Unsere zwei Helden sollen ihre Gangart koordinieren, dies aber erstens mit verbundenen Augen und zweitens mit der Gewissheit, dass auf ihrem Weg einige Balken liegen, die sie überschreiten und nicht zum Darüberstolpern benutzen sollen. Jetzt wird's schwierig: Gilt der Gang als gelungen, wenn die Gangarten koordiniert sind, muss ein Mittel gefunden werden, um das bevorstehende Unsichtbare - die Balken - zu meistern. Denn jedes Stolpern wäre ja Zeichen einer missglückten Koordination. Beim Singen gilt sinngemäss das gleiche: Der Tritonus ist zu vermeiden, was nichts anderes heisst, als so zu singen, dass vor dem verflixten Intervall etwas vorgekehrt wird, das es ermöglicht, den Tritonus zu umgehen. Die descriptiones in der 'Enchiriadis' viualisieren demnach eine Gefahr, die nicht abgewendet werden kann, wenn man mitten drin ist, sondern die so abzuwenden ist, dass die Gefahrenzone klanglich nicht realisiert wird. Koordination heisst in diesem Falle nicht nur die Anordnung diskreter Quanten in sukzessiver Folge, sondern die Koordination von Zeitintervallen derart, dass zwei Personen im Zeitverlauf und aufeinander bezogen darauf achten, dass etwas Bestimmtes nicht geschieht. Es dürfte verständlich sein, warum in einem elementaren Text das Problem von Zeit und Koordination als solches nicht artikuliert ist. Ebenso dürfte aber auch einleuchten, dass die scheinbar alberne Bemühung um einfache Stegreifmuster einem weit schwierigeren Unterfangen gilt: "Zeit" wird erlernt, weil das mögliche Missglücken der gemeinsamen Handlung dazu zwingt, den zeitlichen Ablauf zu strukturieren. Die descriptio ist das eine Mittel, um Zeitverlauf zu visualisieren. In der 'Scholica' kommt ein weiteres hinzu. Der als Dialog zwischen magister und discipulus konzipierte Text gibt dem discipulus im Rollenspiel immer wieder die Möglichkeit, den magister nicht nur um zusätzliche Erklärung zu bitten, sondern um Exemplifizierung. Der magister singt dann die Tonfolgen. Lernt der Schüler das Rollenspiel, internalisiert er drei Muster: die Erklärung (die er für sich wiederholen kann), das Gehörte an melodischem Substrat (das er wieder und wieder singen kann) und die Möglichkeit, beide Aspekte sichtbar zu machen. 50

4 9 Den Hinweis auf eine präzise Formulierung des Koordinationsproblems verdanke ich David Lewis, Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung. Berlin, New York 1975, S. 5-52. Zum Koordinationsproblem im Teilgebiet obligatio mittelalterlicher Logik vgl. Jacobi [Anm. 47], S. 265-269. 50 Die kognitionspsychologischen Komponenten, auf die ich mich hier stillschweigend beziehe, sind erörtert in meinem Beitrag "Die Musica Enchiriadis und ihr Umfeld: Elementare Musiklehre als Propaedeutik zur Philosophie" zum Symposium Musik und die Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaften im Mittelalter, Thomas Institut Köln. Der Bericht der Tagung erscheint 1998 in: Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Leiden, New York, Köln.

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Ich habe bislang in einem eher allgemeinen ersten Teil das Elementare im mittelalterlichen Umgang mit der ars musica hervorgehoben. Der zweite Teil sollte die propädeutische Funktion solcher Lehre am denkbar einfachsten Fall verdeutlichen. Nun wird im Mittelalter "Musik" aber durchaus nicht nur in elementarer Absicht besprochen, sondern im Zusammenhang mit philosophisch recht tückischen Fragen. Da ich zu Beginn meines Beitrags mit Hilfe Beethovens 9. Sinfonie und der "Three Tenors" verdeutlicht habe, wie sich das "Grosse der Musik" instrumentalisieren lässt, halte ich diese Art von Grösse für ausreichend umschrieben. So erlaube ich mir, zum Schluss nicht aus dem Warenkasten philosophischer Weisheit alternative Grösse herauszuklauben, sondern ziehe es vor, beim Kleinen zu bleiben. Allerdings benötige ich das Grosse, um zum Kleinen zu kommen, und nehme das Kapitel "Aristotelesrezeption" zum Anlass, das Grosse wenigstens zu benennen und mich dann in den Kleinigkeiten endgültig zu verlieren. Der Faustformel nach wird im 12./13. Jahrhundert Aristoteles, soweit noch nicht bekannt, rezipiert. Ein folgeneicher Satz aus einer der solcherart neu bekannt gewordenen Schriften, aus der sogenannten 'Zweiten Analytik', besagt, dass es unter den mathematischen Wissenschaften einige gebe, die physikalischer seien als andere. 51 Aristoteles meint damit die Musik, die Astronomie und die Optik. Im Falle der Musik ergibt sich das Problem aus der Definition des Subjekts. Sagt man, die Musik untersuche den numerus relatus ad sonos, ist der Term numerus rein mathematisch, der Term sonus dagegen rein physikalisch. Bei Thomas Aquinas findet sich für solche Wissenschaften zwischen Mathematik und Physik der Ausdruck scientiae mediae, die "mittleren Wissenschaften". 52 Es mag sein, dass der Ausdruck auf jene arabische Bibliotheken zurückweist, in denen in der Mitte zwischen den mathematischen und den physikalischen Büchern einschlägige Texte aufgestellt waren. 53 Wie dem auch sei: "Musik" wird in Zusammenhang mit den scientiae mediae zum Paradigma, das für die sehr folgenreiche Problematik einer quantifizierenden, also mathematisch disponierten Physik einsteht. Soweit die praxisorientierte Musiklehre von diesem Denkmodell erfasst wird, müssten wir Einschlägiges aus Texten des 14. Jahrhunderts beibringen. Dieses grosse Kapitel, das dem Schlagwort nach mit der Entstehung neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens assoziiert wird, möchte ich hier nicht verfolgen. Interessanter sind beim Bericht über Stationen der ars musica die scheinbaren Kleinigkeiten, die so grosse Schwierigkeiten mit sich bringen. Zunächst setzt der Begriff "Aristotelesrezeption" voraus, dass Aristoteles ins Lateinische übersetzt wird. Wie man weiß, sind Humanisten vom 15. Jahrhundert bis heute immer wieder entsetzt über diese Übersetzungen. Nehmen wir als nahezu beliebiges Beispiel den

51 Aristoteles, Physik II, 1 (194a7). 52 Thomas Aquinas, Expositio super librum Boethii de trinitate q. 5 a. 3 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 4). Hrsg. von Bruno Decker. Leiden 1965, S. 188.16-S. 189.15. 53 Moritz Steinschneider, Die "mittleren" Bücher der Araber und ihre Bearbeiter. In: Zeitschrift für Mathematik und Physik X . 6 (1866), S. 456-498.

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ersten Halbsatz der 'Nikomachischen Ethik'. Im griechischen Text heisst es päsa techne kai päsa methodos. Im Lateinischen wird daraus der Regel nach so etwas wie omnis ars et omnis doctrina.54 Kein Humanist hat so übersetzt: Methodos wurde natürlich der etymologischen Figur entsprechend zur via discendi55 Allerdings sind die mittelalterlichen Übersetzer alles andere als Stümper. Nur versuchen sie, aus einem sehr interessanten Sprachverständnis heraus jedem griechischen Wort wenn immer möglich ein lateinisches in der Übersetzung zuzuordnen, und zweitens arbeiten sie eine Version aus, die für die Kommentierung ausreichend ist und nicht als selbständiger Text verstanden werden will. Daher wird aus griechisch methodos lateinisch doctrina. Soweit der Übersetzer aber eben für die Zwecke der Kommentierung arbeitet, setzt er ein Warnzeichen: nicht wenige Handschriften haben über diesem doctrina das in Majuskeln geschriebene griechische Wort, also methodos.56 Der mittellateinisch stark polyseme Begriff doctrina wird damit nicht präzisiert, sondern der Benutzer der Handschrift interlinear gewarnt. 57 Die Probleme nehmen allerdings dann in ungewöhnlicher Dichte zu, wenn der gleiche Text vorliegt nach einem Weg, auf dem er verschiedene sprachliche Filter passierte. So benutzt man von der 'Zweiten Analytik' Versionen, die direkt aufs Griechische zurückreichen, verfügt aber auch über eine, deren Vorlage arabisch ist. Besehen wir uns in Kürze die Aussage, die wir heute als Ausdruck einer Subalternationstheorie verstehen und derzufolge die Musik, die Wissenschaft zwischen Physik und Mathematik, von der Arithmetik, der rein mathematischen Wissenschaft, subalterniert wird. Im Griechischen nennt man die einschlägige "Zone des Musikalischen" tä harmonikä und sagt, diese Bestandteile seien der Arithmetik untergeordnet. Entsprechend übersetzt man dann tä harmonikä mit harmonica,58 Tä harmonikä auf Arabisch kann man nur umschreiben, und die entsprechende lateinische Übersetzung folgt getreulich der Vorlage, wenn statt harmonica eine scientia oder ars com-

54 'Ethica Nicomachea' I, 1 (94al). Von den entsprechenden Versionen, die René Antoine Gauthier edierte, sei hier angeführt: 'Ethica Nicomachea'. 'Translatio Roberti Grosseteste Lincolniensis sive Liber Ethicorum' A . Recensio pura (Aristoteles Iatinus XXVI, 1-3). Leiden, Bruxelles 1972, S. 141, Z. 5. 55 In der Ausgabe der 'Aristotelis opera cum Averrois commentariis', Bd. 3, Venedig 1562, f. lr

heisst es: Omnis ars, omnisque discendi via. 56 Vgl. die Marginalie von Robert Grosseteste zu 'Ethica Nicomachea' 1,1 (94al), [Anm. 54], S. 141. 57 Zu den Konnotationen von doctrina vgl. Henri Marrou, "Doctrina" et "Disciplina" dans la langue des pères de l'église. Archivum latinitatis medii aevi 9 (1934), S. 5-25. 58 Es geht um Aristoteles, 'Anal, post.' I, 9 (76a22-25). Die lateinischen Übersetzungen edierten Lorenzo Minio-Paluello und Bernard G. Dod: 'Analytica posteriora. Translationes Iacobi, Anonymi sive Ioannis', Gerardi et recensio Guillelmi de Moerbeke (Aristoteles Iatinus IV, 1-4). Hrsg. von Lorenzo Minio-Paluello u. Bernard G. Dod. Brügge, Paris 1968, S. 22.21-24, 124.12-14 u. S. 295.12-13 (griechisch-lateinische Übersetzungen). Eine Übersicht über das hier nur angeschnittene Problem gibt Haas [Anm. 20], S. 363-365.

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positionis cantus entsteht. 59 Wichtig an der Übersetzung sind drei Dinge: Erstens reden wir heute von "Musik" bezüglich einer Aristoteles-Stelle, die eine "Zone des Musikalischen" meint, nämliche die harmonischen Verhältnisse. Zweitens kann man die Stelle unterschiedlich interpretieren je nachdem, von welcher Übersetzung man ausgeht. Und drittens befinden wir uns beim Studium der Handschriften im Zustand dauernder Ungewissheit. Denn für das artistische Curriculum kann vorgeschrieben werden, welcher textus den Ausgangspunkt bildet; die in der lectio vertretene Ansicht hat der magister aber selber zu verantworten. So können wir beim Lesen der Handschriften fortwährend auf völlig Unerwartetes stossen - z. B. auf einen 'De sensu et sensato'-Kommentar, bei dem jemand am Rand Tonverhältnisse, die Aristoteles wie der Kommentator diskutiert, in Mensuralnotation verdeutlicht hat, 60 oder wir treffen einen Kommentator, der nicht einfach die Tontheorie in 'De anima' II.8 bespricht, sondern die Gelegenheit nutzt, die Fundierung von Musiktheorie mit Hilfe von Guido von Arezzo und dem 'Timaios' von Plato darzulegen. 61 Wollten wir von hier aus weitergehen, stünden uns gerade mehrere Möglichkeiten offen. Wäre der Aufsatz als im Mittelalter durchaus verständliche Kreisfigur gedacht, wäre es folgerichtig, gerade nochmals zu beginnen. Ich habe zu Beginn die zu karolingischer Zeit bekannte Klassifikation erwähnt, derzufolge das Wissen insgesamt aus den Teilen Ethik, Physik und Logik besteht. Mit der Rezeption der aristotelischen Texte und deren Interpretation aus muslimischer und jüdischer Optik wird eine solche Klassifikation einige Jahrhunderte später von den Texten selber her belegbar. Man müsste sich allerdings zur Garde der geistigen Altwarensammler zugehörig fühlen, wollte man damit sagen, das Ideal sei endlich von der Realität eingeholt worden; denn wir können die Bibliothek, die Philologia erbricht, damit noch lange nicht rekonstruieren, und wir wissen noch nichts darüber, wie aus den mittleren Büchern in arabischen Bibliotheken eine "mittlere Wissenschaft" wird. Es wäre möglich, die Arbeit hier abbrechen mit dem Hinweis auf den Kontrast zwischen unserer heutigen Unverfrorenheit, "Musik" als beliebig wiederaufbereitbares Nomen zu gebrauchen und den Schwierigkeiten des Mittelalters, "Zonen des Musikalischen" terminologisch zu fassen. Doch hielt ich dann mein Unterfangen für misslich. Ich ertappte mich als prospektiver Teilnehmer am Ritual jener feierlich verschwitzten akademischen Redepraxis,

59 Vgl. die Edition Minio-Paluello u. Dod [Anm. 58], S. 205, Z. 21-25. - Die Herausgeber konnten damals die arabische Vorlage, welche Gerhard von Cremona für seine Übersetzung ins Lateinische benutzte, nicht ausfindig machen. Dass Gerhard die Version benutzt, die im sog. 'Grossen Kommentar' des Averroes erhalten ist, zeigten Helmut Gätje, Gregor Schoeler, Averroes' Schriften zur Logik. Der arabische Text der Zweiten Analytiken im Grossen Kommentar des Averroes. Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 130 (1980), S. 557-585. 6 0 Man vergleiche den 'De sensu'-Kommentar des Johannes Buridan in der Handschrift Basel, Universitätsbibliothek, ms. F . V . 1 0 , f. 174v, sowie Cambridge, Trinity College Library, ms. R. 14.26, f. 37. 61 Vgl. Ignatius Brady, The Liber de anima of William of Vaurouillon O . F . M . Mediaeval Studies 10 (1948), S. 225-297; 11 (1949), S. 247-307.

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die dauernd klarzulegen bemüht ist, wie wenig klar ist. Ich möchte hier Geschichte nicht zu diesem Zwecke nutzen. Mir kam als aussagekräftiger Schluss eine arabische Anekdote in den Sinn. Sie findet sich in der Enzyklopädie der sufischen Sekte Ihwan as-Safa - in Westeuropa seit dem 19. Jahrhundert bekannt unter dem Namen "die lauteren Brüder". 62 Darin wird in einer ähnlichen Weise, wie Boethius das tut, die spätalexandrinische Faktur des Quadrivium beschrieben. Wohl um den trockenen Bericht über Essenzen, Materialien, Substanzen und andere philosophische Güter, die "Musik" ausmachen, fasslich werden zu lassen, mündet der Bericht in eine Geschichte. Sie geht so:63 Ein wohlhabender Mann lädt Musiker zu sich ein und ordnet sie gemäss ihrem musikalischen Vermögen zu einer Tafelrunde. Ein anderer Mann kommt hinzu. Er ist nicht eingeladen, trägt alte, schmutzige Kleider und ist in dieser Gesellschaft bereits darum fehl am Platze. Die anwesenden Musiker wollen ihn rausschmeissen; doch der Neuling wird vom Gastgeber gut behandelt, was die Runde der Musiker verdutzt und erzürnt. Der Einladende bittet den Neuangekommenen, ihnen etwas vorzutragen. Der holt aus einem Sack einige Holzstäbe und einige Saiten hervor, fügt die Stäbe zusammen und spannt die Saiten. Zunächst spielt er etwas, das die Runde zum Lachen bringt. Alle freuen sich. Dann stimmt er um, und seine nächste Weise breitete Trauer über die Anwesenden. Sie sind betrübt, und sie weinen. Schliesslich stimmt er wieder um, und sein Spiel wiegt alle in den Schlaf. Er geht weg, und so kommt es, dass alle gesehen haben, was er tut, aber keiner weiss, wer er ist.

62 Eine Einleitung samt einer reich kommentierten Übersetzung eines Ausschnitts der Enzyklopädie findet sich bei Susanne Diwald, Arabische Philosophie und Wissenschaft in der Enzyklopädie. 'Kitab Ihwan as-safa' (III). Die Lehre von Seele und Intellekt. Wiesbaden 1975. 63 'Ihwan as-Safa': Rasa'il. Beirut 1983, Bd. 1, S.184f.

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Durch Bildung zur Tugend: Zur Wissenschaftslehre des Thomasin von Zerclaere

Als weihscher gast (89) kommt Thomasins von Zerclaere Buch in tiusche lant (87), die ihrerseits gehalten sind, den Fremdling, wie es einer gut husvrouwe ansteht, bereitwillig aufzunehmen (88).' Doch auch der Gast wird ermahnt, sich seine Gastgeber sorgfaltig auszuwählen. Nur vrume ritr, guote frouwen und wîse pfaffen (14695f.) nämlich haben Verständnis für den Auftrag, den ihm sein Schreiber auf den Weg gegeben hat: davon zu reden, waz vrümheit und waz zuht si/ und waz tugende unde wî/ beidiu wîp unde man/[...]/

ze guoten

dingen komen soi (25-29) (was Tüchtigkeit, gutes Benehmen und Tugend ist, und wie sowohl Frauen wie Männer sie am besten erreichen können). Hilfe, in allen Lebenslagen das Richtige zu tun, nicht mehr und nicht weniger will der Fremdling seinem Zielpublikum bieten. Mahnend und tadelnd, belehrend und aufmunternd entwickelt er seine Vorstellungen von einem tugendhaften und gottgefälligen Leben und spart dabei nicht mit wissenden Kommentaren, in denen er auf anerkannte Autoritäten seiner Zeit und bekannte literarische Muster zurückgreift, immer beherrscht von dem einen Gedanken: der Gefährdung des Menschen durch sich selbst aufgrund seiner nicht beherrschten Triebe entgegenzuwirken. Denn nur der Mensch ist nicht fähig, sich mit dem ihm von Gott zugewiesenen Platz zu begnügen.

1

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Daß bei diesem Anliegen auch das Thema Bildung

Mit 28 Jahren hat der am Hof des Patriarchen von Aquileja lebende Kleriker Thomasin von Zerclaere seine Erziehungslehre geschrieben, die aufgrund seiner eigenen Angaben, sehr genau ins Jahr 1215 datiert werden kann und angeblich in nur zehn Monaten verfaßt wurde (12278ff.). Wenzel sieht darin keine konkrete, sondern eine symbolische Zeitangabe, die sich darauf bezieht, daß Maria ihren Sohn - wie es in einem Lied Walthers von der Vogelweide heißt - wol vierzec wochen und niht mê (L. 5, 37) im Leib getragen hat, bis er das Licht der Welt erblickte"; Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 211. Zu Leben und Werk vgl.: Christoph Cormeau: Thomasin von Zerclaere. In: Verfasserlexikon, 2. Aufl. Bd. 9 (1996), Sp. 896-902. Daniel Rocher, Thomasin von Zerklaere: Der Wälsche Gast (1215-1216). 3 Bde. Lille, Paris 1976; Ernst Johann Friedrich Ruff, Der Wälsche Gast des Thomasin von Zerclaere (Erlanger Studien 35). Erlangen 1982; Charlotte Spartz, Der Wälsche Gast des Thomasin von Circlaria. Studie zu Gehalt und Aufbau. Köln 1960; Hans Teske, Thomasin von Zerclaere. Der Mann und sein Werk. Heidelberg 1933. - Textausgaben: Thomasin von Zerclaere, Der Welsche Gast (Göppinger Arbeiten zur Germanistik Bd. 424). Hrsg. von F. W. Kries. 4 Bde. Göppingen 1984/85 (hier findet sich auch in Band 4 die gesamte reiche Bildüberlieferung); Thomasin von Zerklaere, Der Wälsche Gast. Hrsg. von Heinrich Rückert. Berlin 1965. Zahlen in Klammern im Text beziehen sich auf die jeweilige Verszahl des Zitats. ein ieclîch dinc sin orden hât/ daz ist von der nature rät/ âne alters eine der man/ der sinen orden niht halten kan. (2611 ff.; 'ein jedes Ding hat seinen ihm zugewiesenen Stand. Das ist das Gesetz der Natur. Nur der Mensch kann sich mit dem ihm zugewiesenen Stand nicht begnügen'). An an-

Zur Wissenschaftslehre des Thomasin von Zerclcere

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aufgegriffen wird, kommt dabei wohl kaum unerwartet. Die Art aber, wie Thomasin dieses Thema im VII. Teil seiner Erziehungslehre abhandelt, ist ungewöhnlich und verdient eine genaue Betrachtung.3 Vier Aspekte sollen uns dabei vornehmlich beschäftigen: - der Kontext, in den Thomasin seine Wissenschaftslehre stellt; - die Systematik des Bildungssystems; - die Vereinfachung, Moralisation und Adaption der wissenschaftlichen Disziplinen; - die Funktion von Bildung als einem Korrektiv menschlicher Unvollkommenheit. 1. Der Kontext: Der kosmische Mensch Hat Thomasin in den bisherigen Teilen die Einordnung der angesprochenen Ritter und Pfaffen in ein umfassendes Gesellschaftssystem diskutiert und das richtige Verhalten des einzelnen dieser Ordnung gegenüber plausibel gemacht und gegen die herrschende Unordnung abgegrenzt, so steht jetzt der einzelne Mensch in seiner seelischen und körperlichen Verfaßtheit im Zentrum des Interesses, wobei von Anfang an kein Zweifel daran besteht, wer in dieser Paarverbindung das Sagen haben soll: Nu soll ir wizzen daz ich schribe von der sele und von dem libe. und sage iu waz

meisterschaft

diu sele im libe müge han. (8483-8487) Jetzt soll ihr wissen, daß ich über die Seele und den Körper schreibe; und euch sage, wie die Seele die Herrschaft über den Körper ausüben soll.

Aus diesem üblichen und sicher auch dem Laien bekannten Dualismus von Leib und Seele4 entwickelt Thomasin nun im weiteren ein sich nach unten verbreiterndes und immer weiter ausdifferenzierendes Modell von Gegensatzpaaren. Jedem seelischen Vermögen entspricht mindestens eine körperliche Fähigkeit. Beide Teile sind notwendig, voneinander abhängig und positiv nutzbar, solange sie das Prinzip von Herrschaft und Knechtschaft anerkennen, beide stürzen den Menschen aber ins Verderben, wenn dieses Prinzip verkehrt wird. Sin und bescheidenheit sind die Kräfte der Seele, denen zunächst die Körperkräfte sterke und snelle/behendigkeit gegenüberstehen. Wie die Seele dem Körper, so sind auch diese Kräfte den körperlichen überlegen, denn nur dank ihnen kann der Mensch seiner Herrscherrolle gegenüber dem oft stärkeren oder auch schnelleren Tier gerecht werden, so wie es die göttliche Schöpfungsordnung vorsieht (8557ff.). Allein menschlicher Verstand, Vernunft

3 4

derer Stelle relativiert Thomasin diese Aussage, wenn er auch das Klima als unstaete deklariert und aus dem Sündenfall herleitet (2172ff.). Vgl. auch den Beitrag von Meinolf Schumacher in diesem Band. Vgl. dazu: Alois M . Haas, Todesbilder im Mittelalter. Fakten und Hinweise in der deutschen Literatur. Darmstadt 1989, S. 23f.; Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik. Darmstadt 1980, S. 62-68.

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bzw. Unterscheidungsvermögen kompensieren die körperliche Unterlegenheit gegenüber den Tieren, erreichen mit lihter arbeit (8596), was Körperkräften nie gelingt: bescheidenheit gewinnt ouch mère beidiu guot und ouch ère dan uns des libes Sterke gewinne wir handeln sneller mit dem sinne dai ein groz dine wirt bereit dan mit des libes snellekeit. (8517-8522) Vernunft gewinnt auch mehr Besitz und Ansehen als Körperkraft. Es gelingt uns schneller mit dem Verstand etwas Grosses zu erreichen als mit körperlicher Schnelligkeit. Und es ist allein die Seele, die den Menschen zu einem Verstandeswesen macht und ihn damit essentiell vom Tier unterscheidet: swaz niht mannes sêle hät/ wizzet daz es âne sin bestât. (8579f.; 'Seid gewiß: alles was nicht eine menschliche Seele hat, ist ohne Verstand'). Ergänzt werden die dem Körper als bona innewohnenden Kräfte sterk, snelle und behendekeit im weiteren um glust (Begierde) und schoene (9738). 5 Auch sie müssen beherrscht werden von bescheidenheit

(Vernunft; 9744), um nicht verwerflicher Leidenschaft zu ver-

fallen. Die von außen dem Menschen zugetragenen Glücksgüter, 6 die bona fortunae,

adel,

maht, rêchtuom, name, hêrschaft (9740) und die rede, die sowohl ein inneres wie ein äußeres Gut ist (9834), haben sich dagegen dem sin (Verstand) zu unterwerfen (9748). Tun sie dies nicht, ist der Mensch unter dem Tier einzustufen, weil er allein sich zu übermuot verführen läßt, wie Thomasin an verschiedenen Beispielen ausführt: s wer richtuom, adel, maht, name, hêrschaft, niht enriht mit sinnes kraft der ist ungeslahter vil dan ein vihe, swerz verstén wil. hät ein man än sin grôzez guot, der g winnet dà von übermuot: des entuot ein vihe niht. würde ein ros tumber iht,

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gelust wird bei Thomasin nicht einheitlich kategorisiert. Er gehört an früherer Stelle zu den bona fortunae (5746f. und 6723f.), den äußeren Glücksgütern. In beiden Fällen hält sich Thomasin nicht an die übliche Einordnung, die in voluptas ein Vermögen und kein bonum erkennt; dazu: Ruff [Anm. 1], S. 200f.; Rocher [Anm. 1], S. 516f. 6 Zur Zusammenstellung äußerer und innerer Glücksgüter vgl. Boethius, 'De consolatione philosophiae', Buch III, 2. Prosa; dazu: Rocher [Anm. 1], S. 514f. Zur Bedeutung des Boethius im mittelalterlichen Schulunterricht vgl. Michael Bernhard, Boethius im mittelalterlichen Schulunterricht. In: Martin Kintzinger, Sönke Lorenz und Michael Walter (Hgg.), Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte vom 9.-15. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 1996, S. 11-27. Dem gebildeten Thomasin waren Boethius' Schriften sicher bekannt.

Zur Wissenschaftslehre

des Thomasin von Zerclcere

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swer dem rosse wcer sò holt daz er im macht einn zaum von golt? ez würde niht tumber, daz ist war, swerz mit golde bedahte gar. mache einn tarschen man rèche, er wirt im selben ungeliche: er wcent zehant ein keiser wesen: mit im kan niemen genesen (9747-9762) Wer Reichtum, Adel, Macht, Abstammung, Herrschaft nicht mit der Kraft seines Verstandes beherrscht, der ist viel tierischer als ein Tier. Hat jemand ohne Verstand großen Besitz, so verfällt er leicht dem Hochmut, das macht ein Tier nicht. Ein Pferd wird nicht davon törichter, daß ihm jemand, der es gern hat, einen goldenen Zaum macht. Es würde wirklich auch davon nicht törichter, wenn man es ganz mit Gold bedecken würde. Mache aber einen törichten Mann reich, und er wird sich selbst schnell untreu: er glaubt sofort ein Kaiser zu sein: mit ihm kann niemand gerettet werden. Schon mehrmals ist Thomasin ausführlich auf die Ambivalenz dieser menschlichen "Besitztümer" eingegangen. Je nach Verwendung sind sie übel unde guot (5743ff.). Bei " s i n n vollem Gebrauch haben sie unbestreitbare Qualitäten (4471 f.), indem sie Laster verhindern können (6721ff.). Für den Törichten aber sind sie die Haken des Teufels (5929ff.), weil sie zu weiteren Lastern verführen (4175ff.) und ihn in Sicherheit wiegen, mit ihrer Hilfe zem oberisten guot, zu Gott (611 lf.) zu gelangen. Nicht zuletzt um der Gefahr einer solch tödlichen superbia vorzubeugen, hat Gott den Menschen nun aber mit vier Kräften ausgestattet, die ihn zu hüffscheit und ze guoten dingen (8839) führen sollen: Einiu heizt Imaginatió, diu ander heizet Rätiö diu drite Memorjä ist,

[...] die vierdich Intellectus heiz. (8799-8803) Die eine heißt Imaginatio, die andere Ratio, die dritte Memoria, [...], die vierte nenne ich Intellectus. Ihnen unterstehen aller wisheit und aller tugent (8793), was ihren "unverzichtbaren Ort innerhalb des ethischen Prozesses" verdeutlicht. 8 Sie sind dabei alle vier selbst Zudienerinnen

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Und analog dazu wird kein Hund, dessen Jagdfahigkeit gelobt wird, deshalb töricht, ganz im Gegensatz zu einem törichten Mann, das Kamel bleibt trotz seiner Stärke sanftmütig, genauso wie die schöne Taube, der törichte starke Mensch aber kennt keine Grenzen mehr und schöne Männer und Frauen verfallen in übermuot (9763-9786). Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklsre, Gottfried von Straßburg, Frauenlob,

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der Seele und stehen auch untereinander in einem hierarchischen Verhältnis: Die Imaginatio liefert ihrer "Schwester", der Memoria,

die Bilder, die diese behalten soll, und kann sich

gleichzeitig dieses Gespeicherten zur erneuten Vergegenwärtigung bedienen (8805ff). 9 Die als Informanden dienenden knehte sind wiederum Körperglieder, nämlich die fünf Sinne, die ihrerseits unterschiedliche Wertigkeit besitzen. 10 swaz man von der werlde weiz daz muoz in uns immer vür ze etlicher der fümftür so nimt es Imaginatio und bringetz der vrouwen Ratio

[...]

da von sprich ich, swaz zeiner tür niene get dem leien vür, daz get im doch zem andern in. (9454-9457; 9461-9463) Alles, was man über die Welt weiß, muß in uns immer durch eine der fünf Türen hinein; dann nimmt es die Imaginatio und bringt es der edlen Frau Ratio [...] deshalb kann ich sagen: was immer dem Ungebildeten zu einer Tür nicht hineingeht, findet den Weg durch eine andere. Alles, was Imaginatio mit Hilfe der Sinne aufgenommen hat, muß sie nun über die Memoria der Ratio vermitteln, die dank ihrer Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse den beiden übergeordnet ist. Sie prüft das Gesammelte und gibt der Memoria eine Rückmeldung, was sie tatsächlich behalten soll: Ratio bescheiden sol waz ste übel ode wol und sol enphelhen swaz ist guot der Memorjä ze huot. (8827-8830) Ratio soll das Gute vom Bösen trennen und der Memoria empfehlen, was sinnvoll ist in ihre Obhut zu nehmen.

Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl (Münchner Texte und Untersuchungen 89). München 1988, S. 53. 9 Zur Verschränkung der beiden Seelenvermögen vgl. Horst Wenzel, Imaginatio und Memoria. Medien der Erinnerung im höfischen Mittelalter. In: Aleida Assmann und Dieter Harth (Hgg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. M. 1991 S. 57-82, hier S. 65. 10 Der Tastsinn nämlich ist allen übrigen Sinnen - Sehen, Hören, Schmecken, Riechen - überlegen, denn während jeder Mensch auch ohne einen dieser vier Sinne leben kann, so ist ihm dies ohne Tastsinn nicht möglich (9483-9496).

Zur Wissenschaftslehre des Thomasin von Zerclcere

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Und schließlich leistet der Intellectus die Vermittlerdienste zwischen Welt und Himmel, ist Bote hin zen engein und ze got (8832). Ist die Imaginatio die Vermittlerin erfahrbarer Materialität, die auch dem Tier eigen ist, damit dem Körper noch nahe steht und auch bei einer Verkehrung der seelisch-körperlichen Hierarchie nicht zugrunde geht, so besitzen Ratio und Intellectus Erkenntnisfähigkeit und werden zur Entscheidungsinstanz ethisch-moralischer Werte. Sie sind damit dem Bereich weltlicher Körperlichkeit überhoben, tragen aber auch größere Verantwortung. Wenn sie nicht bereit sind, ihre Aufgabe wahrzunehmen, zerstören sie die gesamte gottgewollte Hierarchie der Körperglieder und machen sich selbst zunichte: der Intellectus ist verlorn der uns alln ist angeborn wan er wil niht erkennen got leistent sinen willn und sin gebot. (8849-8852) Der uns allen von Geburt an mitgegebene Intellektus ist dem Verderben anheimgegeben, wenn er Gott nicht erkennen will und nicht seinen Willen und sein Gebot erfüllt.

Christoph HUBER erkennt in der Trias Imaginatio - Memoria - Ratio eine "enzyklopädische Trivialität" der Medizin," die von einem dreikammerigen Gehirn ausgeht, in dem jeder einzelnen Fähigkeit eine Kammer zugewiesen wird. 12 Die Vorstellung läßt sich bis zur griechischen Medizin zurückverfolgen und findet auf nicht ganz geklärtem Weg über das Arabische Eingang in die lateinische Literatur des 12. Jahrhunderts.13 Und auch der Intellectus als vierte genannte Kraft "entspricht einer im 12. Jahrhundert [...] durchgängigen Tendenz, die religiöse Erkenntnisfähigkeit an die Seelenvermögen anzugliedern".14 Wie immer legt Thomasin also auch hier eine Kompilation bekannten Wissens vor, was zu Beginn des 13. Jahrhunderts allerdings durchaus eine "avancierte Leistung" darstellt,15 zumal er ja nicht nur Gelesenes wiedergibt, sondern in die Volkssprache überträgt und dabei eine eigene Terminologie entwickelt, welche die lateinischen Begriffe auch einem Laienpublikum verständlich macht. Und er gibt sich nicht mit einer physiologischen Beschreibung zufrieden, sondern versteht die Anthropologie als Aufforderung zu ethisch-moralischem Handeln. Ratio, Memoria und Intelligentia gehören traditionell zu den "Truppen" 11 Huber [Anm. 8], S. 48. 12 Huber [Anm. 8], S. 47ff. mit zahlreichen Quellenbelegen in Anm. 96. Thomasin selbst verwendet bei seiner Erklärung zur Memoria den Begriff kamer: diu dritte Memorja ist, diu phleget der kamer zaller vrist (8801f.). Wenzel sieht darin keine physiologische Aussage, sondern eine Metapher: "wie ein Kämmerer über seine Vorräte", so verfügt Memoria "über die gespeicherten Erinnerungen"; Wenzel [Anm. 9], S. 65. 13 Dazu: E. Ruth Harvey, The Inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance (Warburg Institute Surveys 6). London 1975. 14 Huber [Anm. 8], S. 49f., mit wichtigen Quellenbelegen in Anm. 99. 15 Wenzel [Anm. 1], S. 251.

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der Prudentia im Tugend- und Lasterkampf,16 sie werden daher kaum unerwartet von Thomasin dezidiert dazu aufgefordert, diese Aufgabe auch verantwortungsvoll zu übernehmen. Die Welt, die Gott als geordneten Kosmos geschaffen hat, trägt der Mensch als ganzes in sich. Alles, was im Makrokosmos getrennt ist, findet sich in diesem Mikrokosmos der Leib-Seele-Verbindung vereint. 17 Und folgerichtig kann der Mensch nur dann "richtig" leben, wenn in ihm die gleiche Ordnung herrscht wie in der bestehenden Welt, indem die einzelnen Teile richtig aufeinander bezogen sind und die Regeln von Herrschaft und Knechtschaft Beachtung finden. Die Körpermetapher, die so häufig angewendet wurde, um ein wohlgefügtes Staatengebilde zu beschreiben oder auch den Gläubigen in die christliche Kirche zu "inkorporieren", 18 und die auch Thomasin selbst mehrmals verwendet (1723ff.; 12523ff.), ist kein Bild mehr, sondern anthropologisch beschreibbare Realität, die aber nun ihrerseits die ständisch-soziale Ordnung als Metapher begreift, um die Hierarchisierung von Seele und Körper, bzw. Seelenkräften und Körperkräften und deren Verantwortlichkeit zu erklären: Umbe die sele ist zaller

vrist

als umbe einen künec ist. vil rehte der künec rihten

sol,

so ist beriht sin lant wol. (9595-9598) Für die Seele gilt prinzipiell dasselbe wie für den König. Der König muß gerecht richten, dann ist es gut um sein Land bestellt.

Damit wird der Mensch zur Feudalordnung "en miniature" mit gleichzeitig komplementären wie hierarchischen Funktionen.19 Und nur wenn die Seele mit ihren Kräften die Rolle des Herrschers übernehmen kann, ist dieses System lebensfähig. Doch der Sündenfall brachte

16 Vgl. Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum. Hrsg. von Rosalie Green u. a. London 1979, f. 202r., Abb. 273. Auch im 'Arbor virtutum' des Hugo von St. Viktor (PL 176, Sp. 1010) sind memoria und intelligentia der prudentia zugeordnet. Sin und bescheidenheit stehen denn auch im 'Wälschen Gast' - zusammen mit dem reht - an der Spitze der Tugendarmee, mit deren Hilfe sich der miles christianus im Kampf gegen das Laster wappnen soll: den vanen sol dir geben Sin,/ daz du diner tugende her/ beleiten künnest wol ze wer./[...]/ den schilt git dir bescheidenheit (74707475; 'Die Fahne soll dir der Verstand geben, damit du das Heer deiner Tugend wehrhaft anführen kannst, den Schild gibt dir die Vernunft'). 17 Vgl. dazu Brinkmann [Anm. 4], S. 60-73. Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung findet sich auch in Teil II des 'Wälschen Gast': Der Mensch trägt die vier Elemente selbst in sich, ohne sie aber in Einklang bringen zu können (2295ff.). Zur Kosmologie Thomasins: Huber [Anm. 8], S. 25-33. 18 Zur Körpermetapher vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Übers, von Walter Theimer. München 1990. Tilman Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16). Stuttgart 1978; Huber [Anm. 8], S. 36 und Anm. 45. 19 Rocher [ A n m . 1], S. 614.

Zur Wissenschaftslehre

des Thomasin von Zerclcere

das funktionierende System zum Einsturz: wibes und mannes libel sint zem valle

41 bereitet

gar (9572f.). So wie die gesamte Ständeordnung sich verkehrt hat, der Pfaffe sich das Schwert und der Laie sich Schriftgelehrtheit anmaßt (8436ff.; 8678ff.), rebelliert der Knecht Körper gegen die Herrin Seele, die erneut mit dem Hinweis auf die Gefahren verantwortungsloser Regentschaft aufgefordert ist, mit allen Kräften dagegen anzukämpfen: Vit ofie wirt der herren reht versumet durch die bcesen kneht. alsam den vier kreften geschiht, wart si habent ir reht niht durch die bcesen fiimf sinne die sich versümet durch gewinne, aver ist billech unde reht daz der herre slahe den kneht swenner sich versumt ze hart an sener trceclichen vart. alsam sol tuon vrou Rätid mitsamt Imaginatid. (9531-9542) Sehr oft wird das Recht der Herren aufgrund böswilliger Knechte vernachlässigt. So geschieht es auch den vier Kräften, denn sie haben nicht das, was ihnen zusteht, weil sich die böswilligen fünf Sinne aufgrund ihres Gewinnstrebens davon abhalten lassen. Aber es ist nur allzu rechtens, daß der Herr den Knecht, der allzu nachlässig in seiner Trägheit ist, schlägt. Genauso soll dies die edle Frau Ratio zusammen mit Imaginatio tun. Doch die Seele setzt ihre Kräfte zu wenig dezidiert gegen die Auflehnung oder auch nur träge Nachlässigkeit ein, versäumt ihre Herrschaftspflichten und lädt damit Schuld auf sich, die bei Gott - dem wie im Staatswesen obersten Herrn und Richter - zur Verurteilung führen wird: 20 Der künec der muoz ez wirser hän danne die im sint undertän: er gèt an basen werken vor und kumt hin ze der helle tör alsam umb die sèle geschiht: der Up der enlidet niht unz an den suontac ander not, sit er ist zeinem male tot

[...]

20 Diese Auffassung entspricht dem benediktinisch-mönchischen Ideal, nach dem Leib und Seele in ihrem Wissen Gott gehorsam zu dienen haben; vgl. Wilhelm Wühr, Das abendländische Bildungswesen im Mittelalter. München 1950, S. 28.

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diu sei diu ims verhenget hat vert zungnäden also dr&t. (9623-9630; 9633-9634) Dem König wird es schlechter gehen als seinen Untertanen. Er wird bei schlechten Taten vorgezogen und kommt zum Höllentor. Genauso ergeht es der Seele. Der Körper erleidet nichts weiteres bis zum Jüngsten Tag, ist er doch erstmal tot. [...] Die Seele, die es ihm gestattet hat, fällt sofort in Ungnade.

Entscheidend für diese verhängnisvolle, ja tödliche Verkehrung ist die Tatsache, daß sin und bescheidenheit, die Fähigkeiten, die allein den Menschen vom Tier unterscheiden, ihn zum Ebenbild Gottes und den Engeln gleich machen, aufgrund des Sündenfalls nicht mehr in Vollkommenheit zur Verfügung stehen. Damit ist deren Bestimmung, die Erkenntnis und Unterscheidung von Gut und Böse korrumpiert. Der Einsatz des gottgegebenen Verstands für verwerflich weltliches Streben nach gewinnunge, nach Wucher und Besitzvermehrung 21 sind die Folge. 2. Die Systematik des Bildungssystems Zwischen die Erörterung von Seelen- bzw. Körperkräften eingeschoben ist nun scheinbar unvermittelt die Wissenschaftslehre.22 Weit ausgreifend erklärt Thomasin zunächst Inhalt und Ziele des akademischen Lehrbetriebs: wir haben künste vil geschriben der sint uzerwelte siben. liste heizen wir die kunst und heizens vri

[...] swer sich dran verlät, muoz sin än sorge und muoz doch haben guot, (8899-8902; 8910-8911) Wir haben viel an Wissen aufgeschrieben, von denen sieben (Wissensgebiete) besonders ausgezeichnet sind. Künste heissen wir diese und nennen sie frei [...]. Wer immer sich ihnen zuwendet, darf sich nicht (um sein Auskommen) sorgen und muß doch über Besitz verfügen.

Diese etymologische Herleitung aus feudaler Ständeordnung entspricht antiker Tradition, nach der die artes liberales als zweckfreie Beschäftigung des freien Mannes gehobenen Standes galten, die von den artes mechanicae als dem Broterwerb dienend abgegrenzt wer-

21 Wie in jedem Teil der Erziehungslehre steht auch in Teil VII ein Laster im Zentrum, hier Wucher und Übervorteilung. 22 Die Gliederung von Buch VII bei Huber [Anm. 8], Anhang 4, S. 416. Nicht berücksichtigt werden in dieser Schematik aber das enge Aufeinanderbezogensein von Körper und Seele und die strenge Hierarchisierung.

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den. 23 Doch bereits die Erweiterung, nach der niemand sich um seinen materiellen Besitz kümmern darf, will er nicht Gefahr laufen, der liste lere ('der Belehrung durch die Künste') verlustig zu gehen (8912ff.), deutet eine semantische und inhaltliche Verschiebung an, die zwar auch nicht originell ist, aber wichtig wird für die Absicht, die er mit seiner Wissenschaftsschau verfolgt. 24 Zunächst jedoch nennt er Trivium und Quadrivium und definiert in pointierter Kürze die traditionellen Inhalte der einzelnen Disziplinen: 25 Grammaticä lert sprechen rehte; Dialeticä bescheidt daz slehte vome krumben, die wärheit vom valsche; Rhetoricä kleit unser rede mit varwe schöne; Arismeticä diu git ze löne daz man von ir kunst zelen sol; Geometriä lert mezzen wol; Musicä mit wise schaene git uns wtstuom an die dcene; Astronomie lert äne wanc der Sterne nature und ir ganc. (8921-8932) Grammatik lehrt richtiges Sprechen, Dialektik unterscheidet das Geradlinige vom Gekrümmten, die Wahrheit vom Falschen; Rhetorik kleidet unsere Rede mit schöner Farbe; Arithmetik gibt als Lohn die Fähigkeit zu rechnen; Geometrie lehrt richtig zu messen; Musik gibt uns mit schönen Melodien die Kenntnis der Töne; Astronomie belehrt uns über die Natur und den Lauf der Sterne. 23 Seneca, Ep. ad Luc. 88,2: Quare liberalia studio dicta sunt, vides: quia homine libero digna sunt. Alfred Stückelberger, Senecas 88. Brief. Über Wert und Unwert der freien Künste. Text, Übersetzung und Kommentar. Heidelberg 1965. Bereits Hugo von St. Viktor hat dabei den Adel als Zielgruppe bezeichnet: Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation. Zeitschrift für Historische Forschung 11 (1984), S. 257-354; hier: S. 270f. Zum System der artes und ihre Einbindung in das Wissenschaftssystem vgl.: Lexikon des Mittelalters Bd. 1 (1980), Sp. 1058f.; Brigitte Englisch, Die Artes liberales im frühen Mittelalter. (5.-9. Jahrhundert). Das quadrivium und der komputus als Indikatoren für die Kontinuität und Erneuerung der exakten Wissenschaften zwischen Antike und Mittelalter (Sudhoffs Archiv Beiheft 33). Stuttgart 1994. Christoph Huber, Philosophia-Konzepte und literarische Brechungen. In: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.), Literatur, Artes und Philosophie (Fortuna Vitrea 7). Tübingen 1992, S. 1-22; Kintzinger u. a. [Anm. 6]; Josef Koch (Hg.), Artes Liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 5). Leiden, Köln 1976. David C. Lindberg, Von Babylon bis Bestiarium. Die Anfänge des abendländischen Wissens. Übers, von Bettina Obrecht. Stuttgart, Weimar 1994; Uta Lindgren, Die Artes liberales in Antike und Mittelalter. Bildungs- und wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungslinien (Algorismus 8). München 1992. 24 Siehe unten "Bildung als Korrektiv". 25 Zu den Lehrinhalten vgl. Lindberg [Anm. 23], S. 220 u. S. 8-11.

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Traditionell ist im weiteren die Aufzählung der bekannten Autoritäten jedes Fachs, die Thomasin als gebildetem Kleriker zumindest teilweise vertraut gewesen sein dürften. 26 Und auch in der folgenden Erweiterung der Fächer um divinitas, physica,27

decreta und leges

orientiert er sich am Bildungskanon seiner Zeit, wenn er diese Disziplinen - hierarchisch abgestuft in der genannten Reihenfolge - ganz oben im Lehrgebäude ansiedelt und die artes in ihren Dienst stellt. Denn wenn auch Schulbildung auf artistischer Grundlage mehr war 28

als nur Elementarkenntnis, so war sie doch keine Wissenschaft

und galt spätestens seit

dem 12. Jahrhundert in erster Linie als notwendige Grundausbildung für weiterführende Studien, 29 deren Aufgabenbereich von Thomasin genau umrissen wird. Physica ist zuständig für alles Wissen über die Welt, divinitas befähigt zur Erkenntnis Gottes und seines Gebots: von Physica man wizzen sol aller ding nature wol, swaz niderhalb des mänen ist. Divinitas git uns den list daz wir die engel unde got erkennen unde sin gebot. (9115-9120) Von der Physica wird man die Natur aller Dinge erfahren, die unterhalb des Mondes sind. Divinitas gibt uns die Fähigkeit, die Engel und Gott und sein Gebot zu erkennen.

26 Grammatik: Donatus, Priscian, Aristarch; Dialektik: Aristoteles, Boethius, Zeno, Phorphyrius; Rhetorik: Cicero, Quintilian, Sidonius; Arithmetik: Crysipp, Pythagoras; Musik: Gregor, Micalus, Millesius; Geometrie: Thaies, Euklid; Astronomie: Albumsaar, Ptolemäus, Atlas. Zu den Vorlagen dieser Liste, vornehmlich der 'Anticlaudianus' des Alanus ab Insulis vgl. Huber [Anm. 8], S. 54f. mit weiterführenden Literaturangaben; Ruff [Anm. 1], S. 192. 27 Bei Johannes von Salisbury findet sich bereits dieser Gedanke, allerdings sucht er die beiden Fächer als achte und neunte Kunst den artes einzuverleiben: 'De Septem septenis', Sectio 4 (PL 199, Sp. 951ff.). Er reflektiert damit eine Entwicklung, die im Laufe des 13. Jahrhunderts ihren vorläufigen Abschluß findet: Stand der Begriff Theologie vorher sowohl für das Wort Gottes als auch für alles, was mit dem Heiligen zu tun hatte, so wird er jetzt zum Begriff einer selbständigen, definierten Wissenschaft. Zur Entwicklung des Fachs bis ins 17. Jahrhundert vgl. die anregende Arbeit von Arnos Funkenstein, Theology and the Scientific Imagination from the Middle Ages to the Seventeenth Century. Princeton 1986. Bei Thomasin ist die Absetzung gegenüber den artes bereits geschehen, in seiner Definition aber ist er weitgehend noch der unwissenschaftlichen Tradition verpflichtet. 28 Kintzinger [Anm. 6], S. 8. 29 Paul Klopsch, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1980, S. 66; Lindgren [Anm. 23], S. 70: "Die Artes Liberales wurden [...] zur Propädeutik degradiert, auch wenn sie formal die erste und größte Fakultät bildeten".

Zur Wissenschaftslehre

des Thomasin von Zercleere

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Folgerichtig gehört divinitas, ein in volkssprachigen Texten üblicher Terminus für Theologie,

30

zum Bereich der Seele und steht in gleichem Verhältnis zu ihr wie sin und beschei-

denheit, während physica analog den elf Körperkräften dem Leib zugewiesen wird. 31 Beide sind zuständig für die Gesundheit von Seele bzw. Körper: Diu Physica lert uns harte wol wie man sinen lip behiieten sol an guotem stal und an gesunt, daz man niht sieche zaller stunt, und leret, ob man siech si, waz ezzens und waz erzeni zeim ieglichem siechtuom si guot und wä vor sich der sieche behuot. Divinitas lert harte wol wie man die sele behiieten sol daz man niht valle in die sunde mit boesen werken zaller stunde, und ob man drin gevallen si daz man beht vür erzeni neme zehant: daz ist guot; (9077-9091) Physica belehrt uns, wie man seinen Körper in guter Gesundheit behalten soll, um nicht dauernd zu kränkeln, und sie lehrt uns, was man im Krankheitsfall essen soll und welche Medizin für welche Krankheit gut ist und wovor sich der Kranke hüten soll. Divinitas lehrt uns, wie man die Seele pflegen soll, um nicht dauernd mit schlechten Taten der Sünde zu verfallen; und wie man, wenn man ihr verfallen ist, die Beichte sofort als Medizin nehmen soll: das ist gut; Ebenfalls den artes übergeordnet, wenn auch unter den beiden erstgenannten angesiedelt, sind decreta und leges, kanonisches und weltliches Recht. 32 Thomasin gesteht ihnen zwar Daseinsberechtigung zu, prangert aber ihren Mißbrauch in den Händen geld- und machthungriger Herren an, welche den göttlichen Ursprung der Gesetze (9157f.) nicht beachten,

30 Vgl. Hartmann von Aue: Gregorius (Altdeutsche Textbibliothek 2). 13. neu bearbeitete Auflage besorgt von Burghart Wachinger. Tübingen 1984, v. 1187. 31 Vgl. Humbertus de Romanis: Notandum quod sicut in mundo quaedam pars est superior, scilicet caelum, et quaedam inferior, scilicet terra; et in homine quaedam pars magis comprehensibilis, scilicet anima, et quaedam minus, scilicet corpus; zitiert in: Ruedi Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema (Bochumer Studien zur Philosophie 14). Amsterdam 1989, S. 18. 32 Zur Entwicklung der leges vgl. Lexikon des Mittelalters. Bd. 5 (1991), Sp. 1802f. Die decretes sind wohl zu verstehen als das kanonische Recht, wie es mit dem 'Decretum Gratiani' 1140 verbindlich wurde und sich als eigene Wissenschaft unabhängig von der Theologie etablierte.

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ja vergessen haben. Und er beklagt ihre Überhebung über die Theologie, die doch der künste vrouwe zu sein hat (9150).33 Thomasins Bildungssystematik erweist sich als vereinfachte Darstellung des traditionellen Lehrbetriebs34 und findet seine Entsprechung gerade in volkssprachigen Texten,35 in denen die Septem artes liberales Basis sind für die Studien der Theologie, Naturwissenschaft und Jurisprudenz. Die um 1200 sich erst allmählich als akademisches Fach etablierende Medizin36 integriert Thomasin in die physica, ist sich aber wie alle christlichen Autoren bewußt, daß die Heilung der Seele mindestens so wichtig ist wie die Heilung des Körpers, eine Aufgabe, die selbstverständlich divinitas zu übernehmen hat. Warum aber stellt Thomasin dieses Bildungsmodell in einer Erziehungslehre vor, deren Zielpublikum, Laien und einfache Pfaffen, in ihm nur wenig zu suchen hatte und dessen Bildungsinteressen sich ganz erheblich vom Wissenschaftsdiskurs des gelehrten Klerus unterschieden haben dürfte?37 Selbstdarstellung eines gelehrten Klerikers ist dahinter nur bedingt zu vermuten, ein Plädoyer für einen akademischen Bildungsweg adeliger Herren gegen das Bildungsmonopol seiner Standesgenossen wohl auszuschliessen. Und tatsächlich beläßt es Thomasin nicht bei der theoretischen Systematisierung, sondern nimmt eine Vereinfachung, Umdeutung der Inhalte und Adaption an eine höfische Umgebung vor, mit der sich auch die Laienwelt angesprochen fühlen konnte, ja mußte. 3. Vereinfachung, Moralisation und Adaption der wissenschaftlichen Disziplinen Thomasin bereitet die Veränderungen und Umdeutungen vor, indem er darauf verweist, wie alles Wissen in der Welt nur Stückwerk bleibt: dehein man volle

lere

hie nimmer gewinnen

mac

und lebt er unz an den suontac.

(8864-8866)

Kein Mensch kann hier j e alles wissen, selbst wenn er bis zum Jüngsten Tag leben würde.

Im hie ist deutlich das Erdendasein des sich selbst seiner geistigen Vollkommenheit beraubenden Menschen angesprochen, im Gegensatz zum "Dort" einer jenseitigen Welt, die al-

33 Möglicherweise ist in dieser Klage ein Reflex auf die Verselbständigung der Rechtswissenschaft gegenüber der Theologie zu erkennen. Die Vorstellung der gesamten Wissenschaft als einer Magd der Theologie geht auf Augustinus zurück; vgl. Lindberg [Anm. 23], S. 241. 34 Vgl. die sehr viel komplexeren Systeme etwa bei Bernardus Silvestris und bei Alanus ab Insulis, der zu den wichtigsten Quellen Thomasins gerechnet werden kann; s. Klopsch [Anm. 29], S. 69 und Huber [Anm. 8], S. 56f. 35 Etwa im genannten 'Gregorius' [Anm. 30], der die Grundausbildung der artes durchläuft, um sich dann in divinitas und legibus auszubilden (lOlOff.). 36 Lindberg [Anm. 23], S. 348. 37 Kintzinger [Anm. 6], S. 5.

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lein über volle lere verfügt. Wahre wisheit zeigt der Mensch daher nicht in erster Linie im Wissen, sondern in der Sokratischen Erkenntnis "Ich weiß, daß ich nichts weiß": da von spricht ein wiser man 'ich weiz daz ich nimere kan wan daz eine daz mir niht hie ze wizzen geschiht.'

(8875-8878)

Daher sagt ein verständiger Mann: 'ich weiß, daß ich nichts anderes weiß, als daß ich nie alles hier wissen werde'.

Dies entbindet den Menschen keineswegs davon, seinen Verstand zu schulen, aber diese Schulung besteht nicht in einer Anhäufung von Fakten, sondern im sinnvollen Gebrauch der erworbenen Kenntnisse, der sich je nach Person und gesellschaftlichem Status durchaus verschieden darstellt. Die ständische Komponente, mit der Thomasin den Begriff vri liest, macht den geistlichen wie weltlichen Adel zum Bildungsträger, was sicher nicht allein als Recht zu verstehen ist, sondern als "sozialethischer Imperativ" auch eine Verpflichtung einschließt.38 Vernachlässigt der Adelige diese Pflicht, so muß er es sich gefallen lassen, der 39

buren kint (8977) zugerechnet, d. h. ständisch diffamiert zu werden. Vri können die Künste außerdem nur bleiben, wenn sie - wie bereits erwähnt - nicht zur Stabilisierung des materiellen Privilegs eingesetzt werden. Darüberhinaus greift eine weitere Erklärung von vri als einer Aufhebung weltlichen Wunschdenkens die weit über die sozial-politische Forderung hinausreichende christliche Überzeugung auf, nach der das Studium der artes liberales eine befreiende Wirkung auf die Seele hat:40 liste heize wir die künst und heizens vri, wan niemen

wünscht,

der sich dran verlät, haben

mere:

man vindet da wünnecleche

lere. (8901-8904)

Künste heissen wir diese Kenntnisse und nennen sie frei, weil niemand, der sich ihnen zuwendet, noch mehr haben möchte. Man findet dort herrliche Belehrung.

Auf diese Weise vorbereitet, kann der Aufzählung und Kurzcharakterisierung der artes-Fächer deren sehr viel breiter ausgeführte Verlagerung in ethisch moralisch geforderte Verhaltensmuster folgen:

38 Schreiner [Anm. 23], S. 277. 39 In Teil III, den Ausführungen zum Tugendadel mit dem Resümee daz niemen edel heizen sol/ niwan der der rehte tuot (3902f.; 'daß niemand adelig genannt werden soll ausser dem, der richtig handelt') und 4 2 7 0 f f . , betont er, daß nur wer lernwillig ist, ein gerechter Herr sein kann. 4 0 Augustinus, ' D e doctrina christiana', 2,60,3; vgl. Lindgren [Anm. 23], S. 5 mit weiterführenden Quellenangaben in Anm. 2.

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er kan Grammaticä wol der rehte lebet als er sol. ob er niht rehte sprechen kan, so ist er doch ein wise man. der kan Dialeticä ze reht der an guoten dingen ist sieht und sich vor lügen hüeten kan, daz er niht triege einn andern man. der kan Rhetoricä garwe der mit einvalte varwe verwen sine rede kan: wizzet, daz er ist ein wise man.

[-.]

der kan Geometrie wol der nimire tuot danner sol und der niht minner ze tuon muot danne er von rehte tuot. swer Arismeticä kunnen wil, der sol äne zal harte vil guotes tuon nach siner maht beidiu tac unde naht. Der kan Musicä ze reht der sin leben sö machet sieht daz er machet siner worte döne mit den werken eben hellen schöne. Ir sult wizzen daz der man wol Astronomie kan, swer sich zieret mit der tugent Sterne an alter und an jugent. (8999-9028) Der kann die Grammatik gut, der so richtig lebt, wie er sollte. Auch wenn er nicht richtig reden kann, ist er dennoch ein verständiger Mensch. Der kann Dialektik richtig, der in guten Angelegenheiten aufrichtig ist und weiß, sich vor Lügen zu hüten, so daß er niemanden hintergeht. Der kann vollumfänglich die Rhetorik, der mit aufrichtiger Farbe seine Rede färben kann: wißt, daß er ein verständiger Mensch ist. [...] Der versteht sich gut auf die Geometrie, der nie mehr macht, als er soll und sich doch auch nicht weniger zu tun bemüht, als er von rechts wegen tun [soll]. Wer Arithmetik können will, der soll Tag und Nacht nach seinem Vermögen unzählig Gutes tun. Der kann Musik richtig, der sein Leben so schlicht macht, daß er die Töne seiner Worte mit den Taten in harmonischen Einklang bringt. Ihr sollt auch wissen, daß derjenige die Astronomie beherrscht, der sich im Alter und in der Jugend mit den Sternen der Tugend ziert.

Indem die theoretische Begrifflichkeit jeder einzelnen Disziplin zur praktikablen Lebensmaxime des Laien erhoben wird, findet die entscheidende Verschiebung von intellektueller

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Aneignung zu ethisch-moralischer Verinnerlichung statt.41 Die Beherrschung der artes liberales manifestiert sich in sittlicher Leistung.42 Bildung heißt für den Laien Herzensbildung, heißt, in christlicher Einfalt nach göttlichem Willen zu leben. Dieses Anliegen ist so zentral, daß in einem dritten Anlauf noch einmal die erste Explikation der artes liberales als einer intellektuellen Ausbildung gegenüber den moralischen "Artisten" abgewertet wird: Als besserer Grammatiker gilt, wer rehte tuot anstatt nur richtig zu sprechen. Swer zallen ziten sprichet war ('wer zu allen Zeiten die Wahrheit sagt') ist ein vollkommenerer Dialektiker als der daz valsche erkennet zaller vrist ('das Falsche immer erkennt'). Rhetoriker darf sich nennen, der seine Rede ausschmückt, der sie einvaltec macht, ist ihm aber überlegen. Wer kan behalten unde geben ist dem Geometer, der lediglich einen Acker vermessen kann, vorzuziehen, genauso wie der Arithmetiker, der nicht nur allgemein, sondern der tugende schar errechnet. Angenehme Töne zeichnen den Musiker aus, ebenso aber denjenigen, der Wollen und Handeln harmonisch aufeinander abstimmt, und schließlich ist ein besserer Astronom als allein der Sternezähler, wer got erkennet (9028-9062). Der Imperativ, dem sich alles menschliche Handeln zu unterwerfen hat, ist genannt: Erkenne Gott! Die richtig verstandenen und verwendeten Wissenschaften können Hilfe bieten, dieses Ziel zu erreichen und damit das Defizit der Seelenkräfte, allen voran des intellectus, ausgleichen, die diese Gotteserkenntnis verweigern. Ihr Studium bringt den Menschen zur Einsicht in eine gottgewollte Lebensführung. Der emphatischen laudatio temporis acti mit einer ausführlichen Exempelliste berühmter Männer und der Klage über die mangelnde Studierwilligkeit,43 schließt sich daher der Appell an die Väter seiner Zeit an, daz si ir vil liebiu kint/ heizen leren in ir jugent (9261f.; 'daß sie ihre geliebten Kinder in ihrer Jugend ausbilden lassen'). 4. Bildung als Korrektiv Innerweltlich verhelfen Lese- und Schreibkenntnisse zu Herrschaftsfähigkeit, nur wer die Gesetze kennt, kann rechtsprechen, gleichzeitig gründet sich Herrschaftsfähigkeit aber gerade darauf, den sin mit seinen Seelenkräften wieder zum Beherrscher des eigenen Körpers zu machen, im wahrsten Sinn des Wortes also Selbstbeherrschung zu üben und damit die Verkehrung aufzuheben, die sich im Mißbrauch der allein dem Menschen gewährten Fähigkeiten manifestiert, im körper-, weil triebbestimmten weltlichen Streben nach Besitzvermehrung mit Hilfe von Betrug, Geiz und Gewalt. Die Kenntnis des von Gott geschaffenen menschlichen Kosmos und die Buchgelehrsamkeit können dazu beitragen, diese korrupte Defizienz aufzuheben und den Menschen zu Gott zurückzuführen. Vergleichen wir die Wis41 Zur Tradition einer Moralisation der artes liberales und zur Analogie zu dem Johannes von Salisbury zugeschrieben Traktat 'De Septem septenis' vgl. Rocher [Anm. 1], S. 900f.; Huber [Anm. 8], S. 55f. 42 Ruff [Anm. 1], S. 193f.; Spartz [Anm. 1], S. 73. 43 Diese Klage bildet bis in die frühe Neuzeit ein Leitmotiv der Adelskritik; s. Schreiner [Anm. 23], S. 275.

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senschaftslehre mit den Ausführungen zur Anthropologie, zeigt sich eine verblüffende Parallelität. Beide Raster erweisen sich als nahezu deckungsgleich. 44 Ebenfalls dualistisch und hierarchisch gegliedert wird das Bildungssystem zum Analogon der Anthropologie. Divinitas übernimmt den Platz von sin und bescheidenheit, physica den der Körperkräfte. Die artes entsprechen als Bildungsbegriff den fünf Sinnen, als Tugendbegriff treten sie an die Seite der Seelenkräfte. Dies weist darauf hin, daß Thomasin in den Bildungsinhalten ein mögliches Korrektiv sieht, mit welcher der erbsündebedingten Unvollkommenheit des Menschen begegnet werden kann. Ratio, memoria und imaginatio vernachlässigen ihre Pflicht, für die wisheit zu kämpfen, sin und bescheidenheit haben die Erkenntnisfähigkeit verloren. Darum müssen sie von den "künsten" wachgerüttelt und unterstützt werden. Im rhetorischen Beschreibungsduktus von unten nach oben, von den artes liberales über Jurisprudenz und Naturwissenschaften zur Theologie, ist diese Aufstiegsbewegung enthalten, die den Abstieg des Menschen in eine verkehrte dominante Körperlichkeit, wie sie im anthropologischen Modell von oben nach unten vorgeführt wird, aufhebt. Und gleichsam als vermittelndes System zwischen Körper und Seele findet die Wissenschaftslehre ihren Platz zwischen diesen beiden. Wie die personifizierten Kräfte des Mikrokosmos Mensch organisieren sich auch die ebenfalls personifizierten Wissenschaften gemäß der herrschenden Gesellschafts- und Ständeordnung. Und selbstverständlich gilt auch hier das duale Prinzip, gilt das scholastische sie et non: Faktenwissen oder Kompetenz allein genügen nicht. Ein Priester, der lesen kann, ist deshalb noch lange nicht gelehrt, ein Arzt lebt häufig anders als dies seine Kenntnisse erwarten ließen (9299-9342), und umgekehrt ist ein aufgrund mangelnder geistiger Kapazitäten ungebildeter Mensch nicht zwangsläufig ungelehrt. Entscheidend sind allein der Wille und die Intention des Denkens und Handelns: wil du wise sin kurzliche/ so habe geloubn und werc geliche (9675f.; 'willst du schnell verständig sein, so habe gleichermaßen Glauben und Taten'). Denn auch wer die komplexen Zusammenhänge von Gott und Welt nicht verstehen kann, kommt zu allen sinnen vollecliche, wenn er mit einvalt an die Wunder Gottes glaubt (9710ff.). Die Aneignung des zum Seelenheil führenden Wissens kann damit auf zwei verschiedenen Wegen erfolgen: durch intellektuelle Auseinandersetzung und Aneignung der Inhalte der verschiedenen Wissenschaften, die aber nur nützen, wenn angemessene Lebensregeln daraus entwickelt werden, oder durch die intuitive Übernahme und Beherzigung der jeder Wissenschaft inhärenten ethischen Bestimmtheit. Thomasins Ausführungen spiegeln hier ein Dilemma, in dem sich der mittelalterliche Bildungsdiskurs ganz generell bewegte. Die saneta simplicitas, wie sie das Neue Testament propagierte, 45 stand im Widerspruch zu einer dem Klerus vorbehaltenen scientia, die auf antikem Bildungsgut beruhte. Nur eine enge Verbindung von Bildung, Religion und politisch-sozialer Ordnung erlaubte hier zumindest teilweisen Konsens. Der vorliegende Text zeigt deutlich die Probleme, die einer stringenten Systematik im Weg stehen. Dies umso 44 Vgl. die schematische Darstellung am Ende des Aufsatzes. 45 2Kor3,6: "Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig".

Zur Wissenschaftslehre des Thomasin von Zerclcere

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mehr, als sich Thomasins VII. Buch in erster Linie an den weltlichen Adel, an den Laien richtet, 46 seine Bildungsforderung aber selbstverständlich nicht in Richtung Aufhebung des geistlichen Monopols zielt. Mit Hilfe einer Umwandlung des universitären Wissenskonzepts in ethisch-moralisch meßbare Leistung ohne deshalb den akademischen Bildungsweg zu negieren sucht er diesen Balanceakt zu bewältigen. Wie in allen Fürstenspiegeln geht es ihm um menschliche Verhaltensänderung, die gelebtes Wissen voraussetzt. Im paradiesischen Urzustand stand dieses Wissen vollkommen zur Verfügung, seit dem Sündenfall ist der menschliche Verstand korrumpiert und muß sich in einem mühevollen Prozeß dieses Wissen wieder erwerben, sei dies mit Hilfe demütig gelebter und auf Gottes Eingebung vertrauender gelehrter Einfalt oder mit Hilfe intellektueller auf die Erkenntnis Gottes ausgerichteter Studien, wobei es in beiden Fällen Gott selbst ist, von dem kumt aller sin (8759). Die Wahl des Weges überläßt der 'Wälsche Gast' seinen Gastgebern. Eine Ausflucht oder Verweigerung aber läßt er nicht gelten. Da jeder auf seine Art wtse werden kann, helfen weder die Ausrede, wegen mangelnder Belehrung durch den Priester nichts gewußt zu haben,47 noch Beteuerungen, aufgrund Analphabetentums sich dieses Wissen nicht selbst haben aneignen zu können (9433-9442). Der Wille Gottes, auf dessen Erkenntnis alles Tun ausgerichtet sein muß, ist über alle Sinne dem Verstand vermittelbar, "Gelehrtheit" auf verschiedene Weise zu erwerben, denn wer nicht lesen kann, kann hören (9445-9447; 94659471), wer nicht hören kann, kann sehen (9323), wer nicht sehen kann, kann zumindest noch fühlen (9484), denn: swaz zeiner tür/ niene get dem leien vür/ daz get im doch zer andern in (9461 ff.; 'was in den Ungebildeten nicht zu einer Tür hineingeht, geht ihm doch zu einer anderen hinein'). Das Fazit aber ist für alle gleich: nur durch kunst gewinnt man tugent (9263)!

46 Zu Begriff und Bedeutung des Laien vgl. Imbach [Anm. 31], S. 16-26. 47 Mehrmals greift Thomasin den trägen Priester an, der nicht nach der kunst streben wil (6372). Und er beklagt in diesem Zusammenhang die Mißachtung der alten Gelehrten, die er als Autoritäten der Septem, artes liberales nennt.

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Claudia Brinker-von der Heyde

Schematische Darstellung: Das anthropologische Modell

gerüerde smac, wetz, gehoerde. gesicht Die Wissenschaftslehre

Brigitte Englisch Artes und Weltsicht bei Roger Bacon

Prägnant faßte Roger Bacon im 'Opus majus' seine neue Weltsicht zusammen: Et harum scientiarum porta et clavis est mathematica, quam sancti a principio mundi invenerunt, ut ostendam, et quae Semper fuit in usu omnium sanctorum et sapientum prae omnibus aliis scientiis.1 Dieser Grundsatz markiert eine der entscheidendsten Veränderungen des mittelalterlichen Weltverständnisses, die den Beginn der mechanistischen Weltsicht in sich trägt. In der Auffassung Bacons ist es die Mathematik, die seit dem Anbeginn der Welt unveränderlich die Schlüssel zur Enträtselung der Natur bereitstellt. Analog zur Bedeutung des Terminus mathesis entspricht die hier erwähnte Mathematik der naturwissenschaftlichen Bildung, die im Mittelalter traditionell im Quadrivium, der Ausbildung in den Fächern Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik zusammengefaßt war. Die damit postulierte Verbindung jedes natürlichen Vorgangs mit der Mathematik beinhaltet eine grundlegende Erweiterung der Bedeutung des Quadriviums. Bacon adaptierte dergestalt nicht allein die von Isidor von Sevilla formulierte Wesenheit der Mathematik als von abstrakten Größen bestimmte doctrinalis scientia, die durch die intellektuelle Leistung von der Materie geschieden wird; 3 vielmehr erscheint in seiner Interpretation die vom Schöpfer erdachte Welt - von diesen exakten, mathematisch erkennbaren Gesetzmäßigkeiten durchwaltet - als rationaler Kosmos. Diese Aufwertung der Mathematik zum Schlüssel jedweder Wissenschaft, sei sie göttlicher oder menschlicher Prägung, 4 sprengte die bis dahin geltenden Grenzen der theo-

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Roger Bacon, Opus majus. Hrsg. von John H. Bridges. 3 Bde. London 1897-1900 (unv. Nachdruck Frankfurt a. M. 1964), IV, 1 , 1 , Bd. 1, S. 97. Ich zitiere im folgenden mit Band- und Seitenzahl nach dieser Edition. Vgl. hierzu George Sarton, Introduction to the History of Science, Bd. 2. Washington 1963, S. 956, der vermutlich aufgrund der fehlerhaften Assoziation des mittelalterlichen Terminus mathematica mit dem modernen Begriff der Arithmetik konstatiert, daß Bacons mathematisches Wissen sehr begrenzt gewesen sei. Die immer noch maßgebliche Edition Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX. Hrsg. von Wallace M. Lindsay. 2 Bde. Oxford 1911 wurde unlängst in einer spanischen Ausgabe erneut abgedruckt und mit einer Übersetzug versehen: San Isidora de Sevilla, Etimologias. Hrsg. von Jose Oroz Reta u. Manuel A. Marcos Casquero. Einl. von Manuel C. Diaz y Diaz. 2 Bde. 2. Aufl. Madrid 1993. Diese Ausgabe absorbiert durch einen kritischen Apparat einige der Mängel, die dem dringend einer erneuten kritischen Edition bedürfenden Quellentext anhaften. Das oben erwähnte Zitat Etym. 3, Vorwort, I, befindet sich ebd., S. 422: De Mathematica. [...] Latine dicitur doctrinalis scientia, quae abstractam considérât quantitatem. Abstracta enim quantitas est, quam intellectu a materia separantes vel ab aliis accidentibus. Opus majus IV, 1, 1, Bd. 1, S. 97: Et sunt quatuor scientiae magnae, sine quibus caeterae scientiae sciri non possunt, nec rerum notitia haben: quibus scitis, potest quilibet gloriose proflcere in sapientiae potestate sine difficultate et labore, non solum in scientiis humanis, sed divina.

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logisch-pragmatischen Darstellungsformen des Weltgebäudes. Wie Roger Bacon auf der Grundlage der exakten Wissenschaften das mittelalterliche Weltbild durch eine von Analyse und Beobachtung bestimmte Weltsicht ersetzte, wird im folgenden zu zeigen sein. Dabei sollten die Überlegungen des Franziskaners Roger Bacon keineswegs vom historischen Kontext losgelöst betrachtet werden. Seine Lebenszeit (ca. 1219 bis ca. 1292) wie auch seine Tätigkeit als Lehrer an den Universitäten Oxford und Paris banden ihn ein in eine der virulentesten Epochen intellektueller Aktivität im abendländischen Mittelalter. Ausgelöst durch den Informationsfluß der Übersetzungen griechisch-antiker Quellen aus dem arabischen Kulturraum und insbesondere der Wiederentdeckung der Schriften des Aristoteles, hatte eine umfassende Beschäftigung mit den ererbten Wissenschaften eingesetzt. Einen Mittelpunkt bildete dabei die Eingliederung des neuen Wissens in die seit der Patristik entwickelten theologischen Mundanitätskonzepte, was vornehmlich eine Domäne der Scholastik war. 5 In diesem Umfeld der Diskussion und Überprüfung von Wissenschaft nahm Bacon eine durchaus prominente Position ein, was in fast allen wissenschaftsgeschichtlichen Überblicksstudien, so der von George SARTON oder Lynn THORNDIKE,6 aber auch der immer

noch besten Einzeluntersuchung von Andrew G. LITTLE7 stets unterstrichen wird, in denen Bacon im allgemeinen als Fortsetzer der Überlegungen seines geistigen Vorbildes Robert Grosseteste gilt. 8 Zugleich wird aber auch immer auf seine widerstreitende Haltung zu etablierten Wissenschaftspositionen, seine scharfen Angriffe auf die Darlegungen des Albertus Magnus und des Thomas von Aquin oder seinen unduldsamen Charakter hingewiesen, die 5

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Dazu allgemein Alistair C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft, übers, von H . Hoffmann und H . Pleus. München 1977, bes. S. 35-62; Wolfgang Kluxen, Der Begriff der Wissenschaft, In: Peter Weimar (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert (Züricher Hochschulforum 2). Zürich 1981, S. 273-293, bes. S. 276-280; Charles H. Haskins, T h e Renaissance of the Twelfth Century. 2. Aufl. New York 1955. Fernand van Steenberghen, Aristotle in the West. The Origins of Latin Aristotelianism. Übers, von L . Johnston. 2. Aufl. Louvain 1970, bes. S. 89-110. Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science During the First Thirteen Centuries of Our Era. Bd. 2. 5. Aufl. New York 1958, S. 616-691. Einen Überblick über die Literatur zu Bacon bis in die Mitte der 80er Jahre liefern die Bibliographien von Mara Huber, Bibliographie zu Roger Bacon. Franziskanische Studien 65 (1983), S. 98-102 und J. M . G. Hackett und Thomas S. Malony, A Roger Bacon Bibliography (1957-1985). New Scholasticism 61 (1987), S. 184-207. Andrew G. Little (Hg.), Roger Bacon: Essays Contributed by Various Writers. Oxford 1914. Bacons Wissenschaftsauffassung in Einzelstudien thematisiert, wenn auch eher unter philosophischem als naturwissenschaftlichem Vorzeichen, Mara Huber-Legani, Roger Bacon. Lehrer der Anschaulichkeit. Der franziskanische Gedanke und die Philosophie des Einzelnen. Freiburg 1984. Allgemein dazu auch Stewart C. Easton, Roger Bacon and His Search for a Universal Science. Oxford 1952. Zu Grosseteste und seiner Wissenschaftsvorstellung s. Alistair C. Crombie, Robert Grosseteste and the Origins of Experimental Science, 1100-1700, 3. Aufl. Oxford 1969, bes. Kap. 3 u. 4, die sein Verhältnis zu Bacon behandeln; James McEvoy, The Philosophy of Robert Grosseteste. Oxford 1982; ders., Robert Grosseteste, Exegete and Philosopher (Variarum collected studies series 446). Aldershot 1994; Richard Southern, Robert Grosseteste: The Growth of an English Mind in Medieval Europe. Oxford 1986.

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den wahren Erfolg seiner Schriften vereitelt hätten. 9 Faktisch führte aber gerade sein exzeptioneller Umgang mit den Wissenschaften dazu, daß ihn 1266 ein Brief von Papst Clemens IV. mit der Bitte erreichte, ihm eine Darstellung seiner wissenschaftlichen Auffassungen zuzusenden. In Reaktion darauf verfaßte Roger Bacon im darauffolgenden Jahr sein 'Opus majus', 10 dessen intensivere Untersuchung demgemäß im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung sinnvoll erscheint. Wesentliche Grundlage seines dort demonstrierten Wissenschaftsverständisses sind die artes, wobei er dem Quadrivium die entscheidende Position zuwies." Er führte aus, daß jede Disziplin der Mathematik unterzuordnen sei, 12 da ohne sie in den Wissenschaften nichts 13

gesagt werden könne zu erklären.

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und alle übrigen Wissenschaften sie benutzen, um ihre Eigenschaften

Es sei demgemäß die Mathematik, die alles Wissen auf eine rational begreif-

bare Basis zurückführe und wahre Aussagen ohne jeden Irrtum zulasse. 15 Bacon ergänzte 9 Sarton [Anm. 2], S. 953. 10 Andrew G. Little, Introduction. On Roger Bacons Life and Works. In: ders. [Anm. 7], S. 1-31, hier S. lOf. Der Autor verweist darauf, daß zu diesem Zeitpunkt entgegen der Auffassung des Papstes noch keines dieser Werke geschrieben war. Bacon arbeitete das folgende Jahr, nachdem er den Versuch einer umfassenden, systematischen Abhandlung über die Wissenschaften als zu langwierig aufgegeben hatte, an einer einleitenden, vorbereitenden Studie, die heute unter dem Titel 'Opus majus' bekannt ist. Ergänzt wurde sie durch das 'Opus minus', überwiegend eine Einleitung, Zusammenfassung und partielle Erklärung einzelner Punkte des 'Opus majus', sowie das 'Opus tertium'. Roger Bacon nannte das 'Opus majus' manchmal auch "Tractatus praeambulus", in Unterscheidung zu dem großen systematischen Werk über die Wissenschaften, welches er noch zu schreiben hoffte. In jüngerer Zeit ist ein bislang nicht berücksichtigter Teil des 'Opus majus' behandelt worden; s. hierzu K. M. Fredborg, Lauge Nielsen u. Jan Pinborg, An Unedited Part of Roger Bacons's Opus Maius: De Signis. Traditio 34 (1978), S. 75-136. 11 Zwar galt ihm auch das Trivium (Grammatik, Rhetorik, und Dialektik) als unabdingbar für die Betrachtung der Wissenschaften, doch waren für Bacon die Sorge um die korrekte Textüberlieferung und die Erarbeitung adäquater Übersetzungen ebenso zweitrangig wie die Logik. S. dazu auch Southern [Anm. 8], S. 15f. 12 Opus majus IV, 1, 2, Bd. 1, S. 102: Sed non solum dependet cognitio logicae a mathematica propter suum flnem, sedpropter medium et cor ejus [...]. Sed necprincipia demonstrationis, nec conclusiones, nec ipsa tota potest cognosci, nec manifestari nisi in mathematicis rebus, quia ibi solum est demonstratio vera et potens, ut omnes sciunt et exponetur post. Quapropter necesse est logicam a mathematicis dependere. S. dazu Little [Anm. 10], S. 17. Zur Frage der Logik in der Scholastik s. Pearl Kibre u. Nancy G. Siraisi, The Institutional Setting: The Universities. In: David C. Lindberg (Hg.), Science in the Middle Ages. London 1978, S. 120-144, hier S. 124-133. 13 Opus majus IV,1, 3, Bd. 1, S. 103: In quo probatur per rationem quod omnis scientia requirit mathematicam. 14 Opus majus IV,1, 3, Bd. 1, S. 103: Et primo, quia aliae scientiae utuntur exemplis mathematicis. 15 Opus majus IV,1, 3, Bd. 1, S. 105: Sed in mathematica possumus devenire ad plenam veritatem sine errore, et ad omnium certitudinem sine dubitatione: quoniam in ea convenit haberi demonstrationem per causam propriam et necessariam. Et demonstratio facit cognosci veritatem. Gelten vergleichbare Gedankengänge zumeist auch als zentrale Zeugnisse, um Bacons Sonderrolle im Intellektualitätsgefüge seiner Zeit zu demonstrieren, sind es faktisch diese Überlegungen, die ihn mit den Quadriviums-Interpretationen seiner Vorgänger in Verbindung setzen. Wenn er in demselben

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die so definierte Mathematik durch die empirische Wissenschaft, deren Methoden und Zweckanbindung sich ein ganzer Abschnitt des 'Opus majus' begründend widmet. Diese scientia experimentalis,16 die laut Bacon zum damaligen Zeitpunkt in der Ausbildung der Studenten völlig unbeachtet sei, besitze drei Eigenschaften, die ihr Vorrang gegenüber den anderen Wissenschaften einräumten. Der erste und sicherlich entscheidendste Punkt sei die Bestätigung deduktiver Schlußfolgerungen der anderen Wissenschaften einschließlich der Mathematik. Ferner könnten den Wissenschaften durch den Rückgriff auf die Erfahrungsdisziplinen neue Kenntnisse zuwachsen, die auf dem abstrakten Wege der ableitenden Schlußfolgerungen nicht zu erreichen seien, wofür Bacon die Eigenschaften der Magneten als ein Beispiel anführt. 17 Zuletzt erlaubten es die Experimentaldisziplinen, Geheimnisse der Natur zu erforschen und zu entschlüsseln, indem sie neue Erfindungen ermöglichten, wie eine immer brennende Lampe oder explosive Stoffe. 18 Auf diese Weise stellt Bacon den mathematischen Wissenschaften das Experiment zur Seite,19 welches die analytischen Methoden der exakten Wissenschaften um die Komponente der empirischen Informationen erweitert. Vollständiges und überprüfbares Wissen sei gemäß Bacon nur zu erhalten, wenn man die Prinzipien der exakten Lehren durch die Ergeb20

nisse der experimentellen Wissenschaft ergänze. De facto bedeutet dies die Integration der sichtbaren Realität als Maßstab und Korrektiv für das Quadrivium. Damit ersetzt dieser mittelalterliche Franziskanermönch in einem für die Evolution der Naturwissenschaften revolutionären Akt die bloße Tradierung festgefügter Lehren der Altvordern durch eine rationale Vorgehensweise auf der Basis des ererbten Wissens, die über Versuch und Irrtum zu einem nachprüfbaren Ergebnis gelangt. Dieser Gedankengang besagt weitaus mehr als die Forderung nach einer Verifikation intellektuell erarbeiteter Kenntnisse mit Hilfe der beobachteten Realität. Bacon erklärt das Experiment nicht nur als unverzichtbar im wissenschaftlichen Beweisgang, sondern er entwickelt eine auf Empirie basierende innovative Methode zur Erforschung irdischer Vorgän21 ge. In Ausweitung der von Robert Grosseteste erstmals propagierten Überlegung einer

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Abschnitt, aus dem auch die zuvor angeführten Charakteristika der exakten Disziplinen entlehnt wurden, erklärt, daß alle Wissenschaften der Mathematik bedürfen, da sie mit quantitativen Größen handeln, die die Basis allen Wissens formieren, reproduziert er im wesentlichen die eingangs erwähnte Definition aus den 'Etymologiae' des Isidor von Sevilla.; s. dazu Thorndike [Anm. 6], S. 648. Dazu auch Alistair C. Crombie u. J. D. North, Bacon, Roger. In: Dictionary of Scientific Biography. Bd. 1 (1970), S. 380. Opus majus VI, Exemplum III, Bd. 2, S. 218f. Opus majus VI, Exemplum III, Bd. 2, S. 217f. Opus majus I, 3, Bd. 1, S. 6: Quod per auctoritates probatum est experientia cujuslibet certius dijudicatur. Opus majus VI, 1, Bd. 2, S. 167-172. Obwohl Bacon vermutlich Robert Grosseteste niemals kennengelernt hat, waren es doch dessen Schriften und insbesondere die Propagierung des Experiments, die Bacons Überlegungen nachhaltig prägten. S. dazu Southern [Anm. 8], bes. S. 13-19.

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empirisch unterstützten Wissenschaft,22 vertritt Bacon somit als erster den Gedanken des Experiments als dem einzig wirksamen Weg umfassender Erkenntnis.23 Erweitert um diesen Faktor der empirischen Rationalität avanciert der deskriptive Fächerkanon der Mathematik zum zentralen Integrationsbaustein seiner Methode wissenschaftlicher Untersuchung mit permanenter und umfassender Geltung. Roger Bacons Auffassung von den exakten Wissenschaften als die eines analytischen Quadriviums bedeutet eine markante Erweiterung des Quadriviumsbegriffes seiner Epoche. Dessen Strukturen sind im 13. Jahrhundert vornehmlich durch zwei unterschiedliche Traditionsstränge bestimmt. Das Quadrivium ist in dieser Ausgestaltung eine deskriptive Disziplin fachspezifischen Wissens, die Domäne der Beschreibung von Gegebenheiten und Strukturen in den einzelnen Disziplinen. Beispielsweise handelt die Arithmetik vom Wesen und der Aufteilung der Zahlen, die Astronomie widmet sich der Darstellung der Himmelskörper und ihrer Eigenschaften. In der Homogenisierung neuplatonischer und christlicher Wissenschaftsvorstellungen formieren sie den propädeutischen Standard für jede weitere intellektuelle Aktivität. Diese Begrenzung auf die rein reflektorische Ebene wird zwar durch die Rezeption der aristotelischen Schriften gelockert, da Aristoteles das Experiment, wenn auch nicht als Medium zwingender Beweiskraft, so doch prinzipiell zugelassen hat. Die Wiederentdeckung der aristotelischen Schriften bewirkt aber zunächst eher eine Intensivierung der Diskussion um die Wissenschaftsauffassung als eine faktische Veränderungen der wissenschaftlichen Inhalte.24 Im Brennpunkt des Interesses steht das Verhältnis der aristotelischen Philosophie zu

22 William A. Wallace, Causality and Scientific Explanation. Bd. 1, Ann Arbor 1972, S. 49f. merkt an, daß Bacons Forderung die Grossetestes eindeutig übertraf. Vgl hierzu André Goddu, William of Ockham's 'Empiricism' and 'Consturctive Empiricism'. In: Wilhelm Vossenkuhl u. Rolf Schönberger (Hgg.), Die Gegenwart Ockhams. Weinheim 1996, S. 208f. u. S. 216f. Da der Empirismusbegriff gänzlich auf die philosophisch-abstrakte Ebene beschränkt bleibt, wird diese Studie außer zwei kurzen Hinweisen auf Bacons Auslegung des jpec/ei-Terminus (S. 216 und S. 223) gänzlich ohne Berücksichtigung der im 'Opus majus' vorgeführten Überlegungen zum Experiment durchgeführt. 23 S. dazu Raoul Carton, L'Expérience physique chez Roger Bacon. Contribution à l'étude de la méthode et de la science expériementale au XIII e siècle. Paris 1924; J. Würschmidt, Roger Bacons Art des wissenschaftlichen Arbeitens, dargestellt nach seiner Schrift 'De speculis'. In: Little [Anm. 7], S. 229-239. 24 Vgl. dazu Olaf Pedersen, Du Quadrivium à la Physique. Quelques aperçus de l'évolution scientifique au Moyen Âge. In: Josef Koch (Hg.), Artes Liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters. Leiden 1959, S. 107-123. Pedersen diskutiert die Mechanismen der sich verändernden Wissenschaftsauffassung seit dem Hohen Mittelalter. Dabei erkennt er vordringlich dem Aristotelismus eine entscheidende Rolle zu. Die Auseinandersetzung mit dieser wiederentdeckten antiken Denkrichtung habe, parallel zur Ubersetzung weiterer antiker Texte, in Theologie, Philosophie und Wissenschaften eine geänderte Haltung zu den Wissenschaften bzw. deren Ausgestaltung bewirkt. Gesteht Pedersen Bacon auch eine gewisse Bedeutung zu (S. 118), die er hauptsächlich in der Erklärung des Regenbogens und einer bescheidenen Hinwendung zu den ex-

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christlichen Glaubenssätzen, beispielsweise die Unendlichkeitsdoktrin in Relation zur christlichen Prämisse des geschaffenen Kosmos, die aristotelische Lehre der an die Materialität gebunden Seele gegen den Unsterblichkeitsanspruch des Glaubens. Wohl verwendeten Albertus Magnus und später Thomas von Aquin all ihre Argumentationskraft, um die Nützlichkeit der aristotelischen Philosophie für Theologie und Glauben zu demonstrieren und 25

Widersprüche auszuräumen. Es bleibt jedoch grundsätzlich eine Auseinandersetzung über die Charakteristika der Wissenschaften, ihre Natur und Zweckbestimmung, wohingegen die Inhalte nach wie vor im wesentlichen ausgeklammert sind und daher auch keine substantielle Veränderung eintritt. Der eher theoretisch bestimmte Umgang mit der Mathematik wird weitgehend konserviert und lediglich in einen neuen Interpretationszusammenhang gesetzt.26 Sicherlich wäre es falsch anzunehmen, Roger Bacon habe mit der traditionellen mathematischen Bildung gebrochen. Vielmehr erfahrt ihre Zweckbestimmung eine Verlagerung. Die mathematica, die Bacon umschreibt, ist nicht mehr als eine im Bereich des abstrakten Denkens verharrende Geistesübung aufzufassen. Für ihn ist das in den Disziplinen des Quadriviums komprimierte Wissen das zentrale Mittel jedweder Analyse. Das Quadrivium liefert ihm Kenntnisse, die zur Untersuchung naturwissenschaftlicher Phänomene die notwendigen Hilfsmittel bereitstellen, wie für den Regenbogen, das Licht, die Bahnen der Himmelskörper, um nur einige Beispiele zu nennen, in denen Roger Bacon virtuos seine perimentalen Wissenschaften sieht, reicht dies in seiner Interpretation doch nicht an die Bedeutung heran, die der Rezeption der antiken Schriften innewohnte. 25 David C. Lindberg, Von Babylon bis Bestiarium. Die Anfänge des abendländischen Wissens. Übers, von Bettina Obrecht, Stuttgart und Weimar 1994, S. 226-249. Zu Albertus Magnus s. Francis J. Kovach u. Robert W. Shahan (Hgg.), Albert the Great. Commemorative Essays. Norman 1980. Gerbert Meyer u. A. Zimmermann (Hgg.), Albertus Magnus. Doctor Universalis 1280/1980, für den Druck besorgt von Paul-Bernd Lüttringhaus. Mainz 1980; Manfred Entrich, Albertus Magnus. Sein Leben und seine Bedeutung. Graz, Wien, Köln 1982. Aus der vielfaltigen neueren Literatur zu Thomas von Aquin kann hier nur auf einige Werke verwiesen werden: Helmut Hoping, Weisheit als Wissen des Ursprungs. Philosophie und Theologie in der 'Summa contra gentiles' des Thomas von Aquin. Freiburg i. Br. 1997; Jean-Pierre Torreil, Leben und Werk des Thomas von Aquin. Freiburg i. Br. 1995; Richard Heinzmann, Thomas von Aquin. Eine Einführung in sein Denken. Stuttgart 1994; Brian Davies, The Thought of Thomas Aquinas. Oxford 1993, bes. S. 98-138. 26 Von der prinzipiell unveränderten Adaption des traditionellen Quadriviums zeugen nicht zuletzt die besonders im 12., aber auch im 13. Jh. verstärkt auftretenden Abschriften und Bearbeitungen enzyklopädischer Schriften des Frühmittelalters, wie z. B. zu Martianus Capellas 'De nuptiis philologiae et mercurii' (hrsg. von James Willis, Leipzig 1983) oder zu Macrobius' 'Commentarium in Somnius Scipionis' (hrsg. von James Willis, Leipzig 1963), beide vermutlich im 5. Jh. entstanden. Beispiel für eine solche hochmittelalterliche Bearbeitung ist Bernardus Silvestris: The commentary on Martianus Capella's De nuptiis Philologiae et Mercurii. Attributed to Bernardus Silvestris. Hrsg. von Haijo J. Westra, Toronto 1986. Eine systematische Analyse des Fortlebens des Werkes von Macrobius liefert Albrecht Hüttig, Macrobius im Mittelalter: ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Commentarii in Somnium Scipionis (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte 2). Frankfurt a. M . 1990.

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Wissenschaftsmethode anwendet und zu - gemessen an den experimentellen Möglichkeiten der Epoche - überraschenden Ergebnissen und Erklärungen gelangt. In seiner Auslegung dienen die mathematischen Künste keiner passiven Gelehrsamkeit. Sie fungieren als Medien untersuchender Weltbetrachtung, ohne die weder die Bibel noch das irdische Leben verstandesmäßig zu erfassen seien. Den Handlungsspielraum für diese Modifikation des überlieferten Wissenschaftsverständnisses verschafft sich Roger Bacon durch eine konsequent diesseitige Weltkonzeption. Diese beinhaltet eine Abkehr von den Mundanitätsvorstellungen, den Wissenschaftscharakteristika wie auch der scholastischen Methode intellektueller Auseinandersetzung seiner Epoche. 27 Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Vorstellung, daß die Philosophie ohne die Mathematik undenkbar sei und die Theologie nicht ohne die Philosophie be28

stehen könne. Folglich ist für ihn das quantitativ rationale Prinzip unabdingbar zur verstandesmäßigen Erfassung der von Gott eingerichteten Mundanität wie der in der Bibel geschilderten Verkündigung. Diese Einbindung des Quadriviums in die Theologie ist aber keine naturphilosophisch inspirierte Erklärung der letzten Dinge auf der Basis mathematischen Wissens. Eine solche Überlegung hätte durchaus der konventionellen Auffassung des Quadriviums dieser Epoche entsprochen. Bacon konzentriert seine Überlegungen indes auf den diesseitig erfahrbaren Bereich der Schöpfung. Er konstatiert, daß es möglich sei, durch das Wissen über 29die geschaffene Welt - die wahre Philosophie - zu Wissen über den Schöpfer zu gelangen. Gleichfalls unterliegt für Bacon die geistige Wahrheit der physikalischen Welt, die in der Schöpfung eingerichtet worden sei und von der die Heilige Schrift

27 Dies gilt, obwohl Bacon versuchte, im Gefüge der Theologie kritische Punkte seiner Weltsicht auszuklammern und stets dann in den sicheren Hort der Mathematik zurückkehrte, wenn er Gefahr lief, zentrale Glaubenswahrheiten zu tangieren. Dies sollte jedoch nicht als Nachlässigkeit oder mangelnde argumentative Fähigkeit des Verfassers des 'Opus majus' ausgelegt werden. Vielmehr war sein Vorgehen Ausdruck eines gesunden Überlebenswunsches oder auch des Gedankens, das soeben verfaßte Werk nicht gleich selbst den Flammen überantworten zu dürfen. Zu Bacons Haltung gegenüber theologischen Fragen bes. im Kontext wissenschaftlicher Überlegungen s. Celine A . Lertora-Mendoza, Roger Bacon. Sus ideas exegeticas. Naturaleza e gracia 36 (1989), S. 195372; Rudolf Walz, Das Verhältnis von Glaube und Wissen bei Roger Bacon, Diss. Freiburg i. d. Schweiz 1928; Theodore Crowley, Roger Bacon: The Problem of the Soul in his Philosophical Commentaries. Dublin 1950; J. M. G. Hackett, Practical Wisdom and Happiness in the Moral Philosophy of Roger Bacon. Medioevo 12 (1986), S. 55-109. Zu Bacons Naturphilosophie, die z. T. den gleichen Sachkomplex berührt, s. David C. Lindberg, Roger Bacons Philosophy of Nature: A Critical Edition, with English Translation, Introduction and Notes, of 'De multiplicatione specierum' and ' D e speculis concurentibus'. 2. Aufl. Oxford 1983. 28 Opus majus IV, 16, Bd. 1, S. 175: Cum igitur ostensum sit quod philosophia non potest sciri nisi sciatur mathematica, et omnes sciant quod theologia non potest sciri nisi sciatur philosophia, necesse est ut theologus sciat mathematicam. 2 9 Opus majus II, 7, Bd. 1, S. 42: Caeterum totius philosophiae decursus, consistit in eo, ut per cognitionem suae creaturae cognoscatur creator. S. dazu auch Little [Anm. 10], S. 14.

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berichte. 30 Ausgehend von dieser Voraussetzung wird für den Autor des 'Opus majus' die wissenschaftliche Betrachtung der Gesetzmäßigkeiten der existenten Welt, d. h. die Naturwissenschaft, zur unabdingbaren Notwendigkeit, die per se, ohne weitere theologische Begründungen und Rechtfertigungen, zu Gott führen könne. Vordringlich bedeutet dies eine Betrachtung und Überprüfung religiösen Gedankengutes vor dem Hintergrund physikalisch verifizierbarer Fakten, was zunächst den Anschein einer begründenden Legitimation seiner Vorgehensweise erweckt. Doch Bacon geht noch einen ganz entscheidenden Schritt weiter. Er betrachtet die von Gott in der 'Genesis' vorgegebenen Regularien als Naturgesetz, die lex communes naturae31 oder lex naturae

universalis,32

Begriffe die Roger Bacon erstmals benutzt und als innovatives Konzept in die Terminologie 33

der Wissenschaften einführt.

Die Welt basiere folglich auf exakten und permanenten Re-

gularien, deren Plan und Ablauf durch die Mathematik erkannt, demonstriert und erklärt werden könne. Konform dazu seien alle Naturphänomene zwangsläufig als das Ergebnis des verursachenden Wirkens einer materiellen Kraft zu interpretieren, die auf mathematischen Gesetzmäßigkeiten beruhe und an die Normen von Raum und Zeit gebunden sei. 34 Dieser Auffassung entspricht Bacons Vorstellung eines von Gott ohne Widersprüche eingerichteten Kosmos, dessen Mechanismen und Strukturen mit der Schöpfung abgeschlossen seien. 35 30 Opus majus II, 8, Bd. 1, S. 43: Item omnes sancii et sapientes antiqui in suis expositionibus sensum literalem colligunt ex naturis rerum et proprietatibus earum, ut per convenientes adaptationes et similitudines eliciant spirituales sensus [...]. Et propter hoc omnis creatura in se vel in suo simili, vel in universali vel in particulari, a summis coelorum usque ad terminos eorum ponitur in scriptura, ut sicut Deus fecit creaturas et scripturam, sie voluit ipsas res factas ponere in scriptura ad intellectum ipsius tarn sensus literalis quam spiritualis. 31 Opus majus V, 7, 1, Bd. 2, S. 49: ... sedpropter necessitatem et nobilitatem operum animae, species in medio animato tenet incessum medii, et derelinquit leges communes multiplicationum naturalem,, gaudens privilegio animae speciali. S. dazu auch Pierre Duhem, Un fragment inédit de l'Opus tertium de Roger Bacon, précédé d'une étude sur ce fragment. Florenz 1909, S. 78 und 90. 32 Opus majus IV, 9, Bd. 1, S. 151: Nam aliqui dixerunt aerem in instanti moveri usque ad centrum ex lege naturae universalis, ne fleret vacuum. Dazu auch Matthias Schramm, Roger Bacons Begriff vom Naturgesetz. In: Peter Weimar (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jh. (Züricher Hochschulforum 2). Zürich 1981, S. 197-209, insbesondere S. 197f. 33 Crombie u. North [Anm. 16], S. 380. 34 Opus majus IV, 2, 1, Bd. 1, S. llOf.: Nam omnis res naturalis producitur in esse per efficiens et materiam in quam operatur, nam haec duo concurrunt primo. Agens enim per suam virtutem movet et transmutat materiam, ut fìat res. Sed virtus efficients et materiae sciri non potest sine magna mathematicae potestate, sicut nec ipsi effectus produeti. Sunt ergo haec tria, efficiens, materia et effectus. [...] Omne enim efficiens agit per suam virtutem quam facit in materiam subjectam [...]. Et haec species facit omnem operationem hujus mundi; nam operatur in sensum, in intellectum, et in totam mundi materiam per rerum generationem, quia unum et idem fit ab agente naturali in quodeunque operetur, quia non habet deliberationem, et ideo quicquid ei occurrat facit idem. Zu demselben Urteil kommt auch Robert Adamson, Roger Bacon: the Philosophy of Science in the Middle Ages. Manchester 1876, wieder abgedruckt bei Little [Anm. 7], S. 16. 35 Roger Bacon, Liber primus communium naturalium. Partes tertia et quarta. In: Opera hactenus inedita Rogeri Baconi. Hrsg. von Robert Steele, Fase. 3. Oxford 1911, S. 224. Schramm [Anm.

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Demzufolge laufen alle irdischen Vorgänge seitdem ohne Ausnahmen im Rahmen vorgegebener Mechanismen ab. Bacon entwirft also auf der Basis seiner Naturbetrachtung ein Weltbild, das allein auf seine Gesetzmäßigkeiten gegründet ist und außer dem Schöpfungsakt keine weiteren göttlichen Interventionen zuläßt. Damit legt er die Grundlage zu einem physikalischen Weltverständnis, dessen Entstehung im allgemeinen mit Namen wie Galilei oder Kepler verbunden wird. Aufgrund dieser Überlegungen waren für Bacon dem humanen Erkenntnisstreben auch keine Grenzen gesetzt, da Widersprüche, die zunächst als Abweichungen vom göttlichen Regelwerk erschienen, faktisch nur auf unzureichender Erklärung basierten. Demzufolge akzeptierte Bacon gleichfalls keine Tabuzonen intellektueller Aktivität auf der Basis der Mathematik; Unstimmigkeiten und Kontradiktionen seien nur Ansätze zu weiterreichenden, substantiell besseren Reflexionen. Mit dieser Haltung nahm Bacon aber eine konträre Position zu den Überlegungen der Scholastiker ein, 36 die - ausgehend von religiösen Wahrheiten, die sie für unantastbar erklärten - wissenschaftliche Theorien befürworteten oder verwarfen. Die einzige theologische Realität, die für Bacon existierte, war die Rationalität und Homogenität des vom Schöpfergott errichteten und von seiner Allmacht kündenden Universums. Aus diesem wissenschaftstheoretischen Ansatz resultiert eine Abkehr vom zeitgenössischen Wissenschaftsverständnis und der scholastischen Methode. Die von Bacon propagierte Vorstellung eines passiven Weltarchitekten, der das Gebäude, welches er errichtete, nach dessen Fertigstellung selbst nicht mehr betrat, ermöglichte ihm die Forderung nach der Autonomie der Erkenntnisfähigkeit des einzelnen. Auf diese Weise eliminierte er zugleich jede Notwendigkeit, neue Gedanken und Erfahrungen mit den Lehrmeinungen der Altvordern zu harmonisieren. Unter dem Vorzeichen der Vernunft, ausgestattet mit den Waffen eines mathematisch geschulten, analytischen Geistes schien es ihm unumgänglich, die Theorien der Scholastik zu hinterfragen. 37 Sicherlich nicht zufällig begann er das 'Opus majus' mit den causa erroris, einer der wohl scharfsinnigsten und intellektuell selbstsichersten Beschreibung der Irrtümer der gegenwärtigen Wissenschaft. Indem er den Autoritätsglauben, den Vorrang etablierter Auffassungen, den Rückgriff auf populäre Vorurteile und die Verheimlichung von wahrer Unwissenheit durch die Heuchelei von Wissen als Ursachen des desolaten Standes der Wissenschaften betrachtete, kritisierte er etablierte Gebräuche zeit-

32], S. 203f. konstatiert (hier im Kontext des Heberphänomens), daß Bacon, da ihm die aristotelische Ursachenlehre keine ausreichende Erklärungen bot, eine natura universalis als prinzipielle Ursache jeder physikalischen Realität etablierte. Diese allgemeingültige Ursache sei nicht wie bei Aristoteles in einem singulären Beziehungsgefüge verhaftet, sondern "... durch die unbedingte Wirkung, die von ihr ausgeht, konstitutiv für das Bestehen der Welt ..." (S. 203). Folglich sind ihr auch alle naturae particulares untergeordnet. 36 Sarton [Anm. 2], S. 953 merkt an, daß Bacon stets vehement die Schwächen der Scholastik angeklagt habe. 37 Dies konstatierte schon Robert Adamson, Roger Bacon: The Philosophy of Science in the Middle Ages. Manchester 1876; wiederabgedruckt bei Little [Anm. 10], S. 14.

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genössischer Wissenschaftsvorstellungen. Da er zudem die Auffassungen der Kirchenväter als menschlich und daher potentiell als mit Irrtümern behaftet kennzeichnete, konnte der Mensch der Gegenwart Wissen erwerben, welches von ebensolcher Geltung war, wie die Meinung der auf den Sockel der unfehlbaren Autorität gerückten Patristik.39 Auf diese Weise ersetzte Bacon eines der kennzeichnenden Attribute des mittelalterlichen Wissenschaftsverständnisses, die Vergangenheitsverehrung und die Anlehnung an autoritative Weisungen durch den Gedanken, daß Wissen erweiterbar ist. Diese Prämisse der Vermehrung und Verbesserung der Kenntnisse impliziert eine Vorstellung von einem möglichen qualitativem Fortschritt auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften, deren bislang geltende institutionelle Grenzen einer abgeschlossenen Formelgelehrsamkeit unzweifelhaft gesprengt wurden. Bacon modifizierte demnach nicht nur die Nutzanwendung mathematischen Wissens im Bereich empirischer Wissensfindung. Parallel zum Schritt vom erlernbaren zum erforschbaren Wissen stellte er vielmehr auch das Reservoir der Kenntnisse auf eine neue, durch Fortschritt vergrößerbare Basis. Die bedeutsamste Eigenschaft, die Roger Bacon aus dem Gros zeitgenössischer Denker auf dem Gebiet der Naturwissenschaften hervortreten läßt, ist aber die Tatsache, daß er diese Forderungen nicht nur in der Theorie erhebt, sondern die von ihm konturierte Methode auch in praxi umsetzt. Verdeutlicht werden soll dies anhand zweier Beispiele aus dem Bereich der Astronomie, die gemäß Bacon einen fundamentalen Anwendungsbereich in der Komputistik findet. 40 Diese erweist sich zur Demonstration seines wissenschaftlichen Vorgehens als besonders geeignet, da der Bereich der christlichen Zeitberechnung das einzige Gebiet ist, auf dem Bacon ein konkurrierendes Werk zu Robert Grosseteste verfaßt hat.41 Folglich muß man genau in diesem Umfeld von einer Eigenständigkeit der dort vorgeführten Auffassungen Bacons ausgehen, wohingegen seine übrigen Darlegungen gewöhnlich vor den Aussagen seines Vorgängers Grosseteste gespiegelt werden, wie es beispielsweise

38 Opus majus I, 1, Bd. 1, S. 2: Quatuor vero sunt maxima comprehendendae veritatis offendicula, quae omnem quemcumque sapientem impediunt, et vix aliquem permittunt ad verum titulum sapientiae pervenire, videlicet fragilis et indignae auctoritatis exemplum, consuetudinis diuturnitas, vulgi sensus imperiti, et propriae ignorantiae occultatio cum ostentatione sapientiae apparentis. His omnis homo involvitur, omnis status occupatur. 39 Roger Bacon, Causae erroris. Hrsg. von John H. Bridges. In: The 'Opus Majus' of Roger Bacon. Bd. 3. London 1897-1900 (unv. Nachdruck Frankfurt a. M. 1964), S. 1-35. D i e bislang beste Analyse der causae erroris findet sich bei Adamson [Anm. 37], S. 13f. 4 0 Alternative Beispiele wären z. B. Bacons Erklärung der Fallbewegung und Gravitation, die er gänzlich physikalisch-rational, gegen die Meinungen der Scholastiker, erläutert. Zu einem vergleichbaren Urteil kam bereits Anneliese Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft. Studien zur Naturphilosophie des 14. Jahrhundert. Essen 1943, S. 51-55. 41 Laut Bridges [Anm. 1], Bd. 1, S. 208f., Anm. 1 entsprechen die im 'Opus majus' vorgeführten Überlegungen inhaltlich den Darstellungen in Bacons eigenständigem komputistischem Werk, vermutlich aus dem Jahre 1263.

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David C . LINDBERG in unterschiedlichen Studien anhand der Lehren zur Optik immer wieder demonstriert hat. 42 Mit welcher Kompromißlosigkeit Bacon seine eigene Forderung nach Korrektur und empirisch überprüfbarer Neugestaltung überlieferter Lehrmeinungen vertrat, kann anhand seines Argumentationsganges gezeigt werden, mit dem er die chronologische Grundlage der christlichen Inkarnationsära in Zweifel zog und die Berechnung der wahren Passion korrigierte. 43 Den Ausgangspunkt dieser Sequenz bildet die Präsentation der zu widerlegenden These, daß Christus im zweiten Jahr eines 19jährigen Mondzyklus geboren worden sei und daß die Kreuzigung am Freitag, dem 25. März, Mondalter 15 stattfand. Dies könne aber nach Bacon weder auf der Basis der autoritativen Meinungen der Kirchenväter Augustinus und Hieronymus, noch derjenigen der Begründer der christlichen Zeitrechnung, Dionysius Exiguus und Beda, logisch schlüssig vertreten werden. Dasselbe gelte auch für die Überlegungen zeitgenössischer Autoren zur Komputistik, Marianus Scotus (gest. 1082) und Gerlandus von Besançon (erste Hälfte 12. Jahrhundert), die ebenfalls an der Unvereinbarkeit dieser Parameter sachlich gescheitert seien. 44 Bacon erklärte es mithin als unumgänglich, das durch die Tradition festgeschriebene Gerüst komputistischer Weisungen bezüglich der Geburt und Passion Christi zu modifizieren. Die eigenständige Auswertung des biblischen Passionsberichtes ließ ihn zu dem Urteil gelangen, daß zum Zeitpunkt der Kreuzigung das Mondalter nicht 15, sondern erst 14 be42 S. dazu David C. Lindberg, Roger Bacon and the Origins of Perspectiva in the West. In: Edward Grant u. John E. Murdoch (Hgg.), Mathematics and its Applications to Science and Natural Philosophy in the Middle Ages. Essays in honour of Marshall Clagett. Cambridge 1987, S. 249-268. Lindberg räumt Bacon abschließend aber nur einen bedingten Erfolg ein. So sei er methodisch zwar Grossteste und der platonischen Tradition gefolgt (S. 263f.), doch seien Bacons Leistungen auf dem Gebiet der Optik vornehmlich nur der Versuch, das Erbe seiner griechischen und islamischen Vordenker zu ordnen. Faktisch bedeute dies nichts anderes als die Eliminierung der Widersprüche und inhaltlichen Ungenauigkeiten sowie die Harmonisierung der optischen Lehrsätze mit den Lehren von Theologie und Philosophie. Lindberg verkennt damit die innovative Kraft der streng physikalischen Argumentationen wie auch der Methodik Bacons. S. dazu auch ders., Science as a Handmaiden: Roger Bacons and the Patristic Tradition. Isis 78 (1987), S. 518-536. 43 Opus majus IV, Bd. 1, S. 201-210; Southern [Anm. 8], S. 17. 44 Aufgrund logischer Überlegungen könne lt. Bacon, Opus majus IV (Bd. 1, S. 201-210), dieses Parametergefüge nicht zutreffen. Dies nimmt er zum Anlaß, um zunächst auf argumentativer Basis die Stellungnahmen seiner Vorgänger einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Tatsächlich findet er gleich zwei diesem System innewohnende Fehler hinsichtlich der logischen Konsistenz. Nach diesen Voraussetzungen müßte nämlich die Passion im 13. Jahr eines 19jährigen Zyklus stattgefunden haben. Gemäß dem Komputus des Dionysius Exiguus (Opus Magus IV. Bridges, Bd. 1, S. 202f.) würde dies bedeuten, daß die Passion auf einen Sonntag gefallen sei, was dem biblischen Bericht eindeutig widerspreche. Des weiteren müsse, abgeleitet aus dieser autoritativen Lehrmeinung, Jesus zur Zeit der Passion erst 29 Jahre alt gewesen sei. Dies ergebe sich aus der Additon der restlichen 7 Tage des zweiten Jahres des ersten 19jährigen Zyklus, der verbleibenden 17 Jahre sowie der 12 Jahre des zweiten 19jährigen Zyklus, wenn die Passion in dessen 13. Jahr erfolgt sei. Dies könne aber mit dem Evangelium nach Lukas nicht vereinbart werden, nach dem Jesus im Alter von 30 Jahren getauft worden sei.

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tragen habe. Den so ermittelten Wert "luna 14", also Vollmond, analysierte Bacon nun unter Konsultation astronomischer Tafelwerke hinsichtlich adäquater Daten für die Opposition von Sonne und Mond. Er operierte hierbei nicht mehr mit den zyklischen Berechnungsmodellen der Komputisten, sondern ersetzte sie durch die Nutzbarmachung der Alfonsinischen Tafeln im religiösen Kontext, mit denen er die Aussagen der Evangelien in Einklang zu bringen suchte. Auf dieser Grundlage ermittelte er als Datum der wahren Passion Freitag, den 3. April, Opposition von Sonne und Mond ( = astronomischer Vollmond). Dieses Ereignis habe daher im 33. Jahr der Inkarnation gemäß Dionysius Exiguus stattgefunden, was aber nach dem wahren Alter des Herrn erst im 32. Jahr seiner Fleischwerdung gewesen sei. Indirekt gab Bacon also die wirkliche Inkarnation für das Jahr 2 n. Chr. an, womit er faktisch die Basis der gebräuchlichen Zeitrechnung in Frage stellte. Da er dem Papst diesen Wert zur Prüfung übersandte,

schien er seine Darlegungen nicht als abstraktes Ge-

dankenkonstrukt zu begreifen. Offenkundig wollte er durch die Ansprache der höchsten Autorität der christlichen Hierarchie eine Veränderung erreichen, die - und das sei noch einmal betont - in gänzlicher Umkehr der konventionellen Wissenschaftsmethode allein auf der mathematischen Kenntnis, der rationalen Überlegung und der Konsultation von Listen astronomischer Beobachtung basierte. Ähnlich konsequent gestaltet sich das zweite Beispiel für Bacons komputistische Anwendung der exakten Wissenschaften. Eine richtungweisende Überlegung auf dem Sektor kalendarischer Zeiterfassung ist der Abschnitt, der sich der Elimination des dem Julianischen Kalender anhaftenden Fehlers widmet. Dort wird das Faktum der Abweichung von errechneten, kalendarischen und auf der Basis der Astronomie sichtbar verifizierbaren Daten erstmals eindeutig formuliert. 4 5 Den Beginn bildet eine scharfe Attacke Bacons gegen die Verantwortlichen des klerikalen Machtgefüges. So sei die Konfusion des Kalenders nämlich Anzeichen dafür, daß die Kirchenvorsteher

sich aus purer Ignoranz den notwendigen Kenntnissen

verschließen

würden. Dabei sei eine Korrektur des geltenden Kalenders, der noch immer auf den Weisungen Julius Cäsars basiere, unabdingbar notwendig. Zwar habe Cäsar sicherlich einen Kalender in der Güte konstituiert, die zu seiner Zeit praktikabel war. Jedoch sei von allen Gelehrten erkannt worden, daß die Dauer eines Jahres etwas weniger als die von ihm eingesetzten 365 1/4 Tage betrage. Besonders deutlich manifestiere sich diese Ungenauigkeit an den Tagundnachtgleichen und den Sonnenwendpunkten, die nicht mehr an den innerhalb des Kalenders vorgeführten Daten eintreten würden. So hätten sich zu Beginn der Kirche die

45 Opus majus IV, Bd. 1, S. 201-210. Neben der erwähnten Theorie des Dionysius Exiguus wertet Bacon dort gleichermaßen die Berechnungen des Marianus Scotus (Opus Magus IV. Bridges, Bd 1, S. 204f.) und des Gerlandus von Besançon (S. 205f.) aus. Er stellt aber auch dort logische Abweichungen bzw. komputistische Diskrepanzen fest, die ihm die Akzeptanz ihrer Theorien als unmöglich erscheinen lassen.

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Jahrpunkte an den 8. Kaienden der Monate Januar, April, Juli und Oktober befunden. 46 Im gegenwärtigen Jahr47 falle nun z. B. das Frühjahrsäquinoktium auf die 3. Iden des März. 48 Roger Bacon hatte den Kalenderfehler anhand des Fortschreitens der Jahrpunkte nicht nur verifiziert, er dachte den daraus abzuleitenden Ansatz auch folgerichtig zu Ende. Ausgehend von dem präzisen Wert des Ptolemäus, 49 der im Jahr 140 das Frühlingsäquinoktium am 22. März beobachtet habe, errechnete er einen Zeitspanne von 9 Tagen, um die sich die Tagundnachtgleiche bis zu seiner Gegenwart fortbewegt habe. Da aber zwischen dem Jahre 140 und dem Jahr 1267 eine Anzahl von 1127 Jahren liegen würde, ergebe sich mittels Division dieses Wertes durch 9 ein Wandern der Jahrpunkte von einem Tag in 125 Jahren. Damit verfehlte Bacon den exakten Wert von ca. 128 Jahren50 nur um ein weniges. Auch hier sehen wir die Umsetzung von Bacons wissenschaftstheoretischem Anspruch, gemäß dem er den persönlichen, auf mathematischen Fakten und logischer Argumentation beruhenden Aussagen Vorrang vor jedweder Autorität einräumte. Insgesamt war in seiner Interpretation der Bestand von Wissen damit korrigierbar und somit auch erweiterbar geworden. Diese Bemühungen, divergente Lehrmeinungen zu vereinbaren, wurden durch Termini wie consideratione52

und correctio,53

utilitas,54

und experientia55

bestimmt. In seinem

46 Nach Bacon, Opus majus IV (Bd. 1, S. 271), fixiert Beda in seinem Buch über die Zeiten das Frühlingsäquinoktium indessen an den 12. Kai. April. Damit sei das Wandern der Jahrpunkte aber nicht beendet gewesen. Bacon reproduziert also korrekt die diesbezüglichen Überlegungen des Beda Venerabiiis (De temporum ratione. In: Bedae opera de temporibus. Hrsg. v. Charles W. Jones. Cambridge, MA 1943, S. 175-291, bes. Kap. 6, S. 190f. und Kap 30, S. 235f.), die ebenfalls, wenn auch weitaus verhaltener, das Wandern des Frühlingspunktes thematisieren. S. hierzu Brigitte Englisch, Die Artes liberales im frühen Mittelalter (5.-9. Jh.). Das Quadrivium und der Komputus als Indikatoren für Kontinuität und Erneuerung der exakten Wissenschaften zwischen Antike und Mittelalter (Sudhoffs Archiv, Beihefte 33). Stuttgart 1994, bes. S. 363-392. 47 Ferdinand Kaltenbrunner, Die Vorgeschichte der Gregorianischen Kalenderreform. Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 82 (1876), S. 289-414, hier S. 311, identifiziert es mit dem Jahr 1267. 48 Opus majus IV, Bd. 1, S. 272: Sed quamvis usus ecclesiae tenuit in principio aequinoctium esse viii calendas et postea mutavit, et teneat nunc aequinoctium ßxum xii calendas Aprilis, tarnen certum est quod aequinoctium istud non est in locis Ulis, sed jam ascendit in calendario longe ab his locis, et similiter solstitia et reliquum aequinoctium. Nam hob anno fuit solstitium hyemale idibus Decembris per duodecim dies ante nativitatem Domini, et aequinoctium vernale iii idus Martii, et solstitium aestivale est xvii calendas Julii, et aequinoctium autumnale xvi calendas Octobris. 49 Opus majus IV, Bd. 1, S. 273: Nam Ptolemaeus anno cxl ab Incarnatione invenit aequinoctium vernale xi calendas Aprilis et solstitium hyemale xi calendas Januarii, ut patet ex Almagesti. 50 Hermann Grotefend, Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. Bearb. v. Jürgen Asch. 13. Aufl. Hannover 1991, S. 24. 51 Kaltenbrunner [Anm. 47], S. 312-313. 52 Opus majus IV, Bd. 1, S. 183: Secunda radix astronomiae respectu theologiae et proprie respectu textus consistit in locorum mundi consideratione. 53 Opus majus IV, Bd. 1, S. 270: Unde tarnen in cxxx annis superflue computatur unus dies, qui si auferretur, esset calendarium correctum quoad hoc peccatum.

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'Opus majus' entwickelte Bacon auf diese Art einen wesentlichen Ansatz zu einer von Empirie und praktischen Überlegungen bestimmten Wissenschaftsauffassung. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, welche Wirkung Bacons Schrift wohl gehabt hätte, wäre Papst Clemens IV. nicht kurz nach ihrer Fertigstellung gestorben. 56 Sicherlich war sich dieser Papst wie auch Roger Bacon der theologischen Brisanz dieser neuen Wissenschaftsauffassung bewußt. Denn nur so ist die Formulierung im Schreiben des Papstes zu erklären, Bacon möge in seinem 'Opus majus' seine Überlegungen frei, ohne Rücksicht auf dem entgegenstehende Auffassungen des Franziskanerordens darlegen, dessen Leitung jeder Veröffentlichung zustimmen mußte. 57 Aus diesem Grund scheint es meines Erachtens auch unzureichend, das Verstummen der Nachrichten über Bacon von 1277 bis 1292, die im allgemeinen als Zeit der Gefangenschaft interpretiert wird, als sekundären Effekt der Verdam58

mung des Aristotelismus 1277 zu deuten. Bacons Theorien eines von göttlichen Eingriffen freien, physikalischen Kosmos waren selbst spektakulär genug, um seine Verurteilung zu bewirken, vergegenwärtigt man sich z. B. daß sein Ordensgeneral Bonaventura die Unabhängigkeit des menschlichen Verstandes ablehnte, da es unmöglich sei, ohne göttliche Ein59 gebung die Wahrheit zu erkennen. Stellt man dieser Auffassung die auf intellektueller Unabhängigkeit gegründete Weltsicht Roger Bacons gegenüber, scheint seine Ablehnung durch die zeitgenössische Amtskirche fast als logische Konsequenz. Anstelle des geoffenbarten Kosmos der Scholastik ist seine Welt ein von permanenten Regularitäten geordnetes Universum, zu dessen Verständnis die artes, und vornehmlich das mathematische Quadrivium die Kriterien und Mittel bereitstellen. Der mathematische Fächerkanon nimmt infolgedessen tatsächlich, wie im einleitenden Zitat von Bacon gefordert, die Schlüsselposition in der Welt ein, die in der Genesis konstituiert worden war. Da Bacon das Universum als ein von Naturgesetzen durchwaltetes Ganzes auffaßt, das auf mathematischer Exaktheit basiert, zeigen seine Schriften alle wesentlichen Elemente zu einer physikalischen Weltsicht. Der Beginn des mechanistischen Weltbildes liegt folglich nicht in der Frühen Neuzeit, sondern ist eindeutig dem 13. Jahr54 Opus majus IV, Bd. 1, S. 175: Postquam manifesta est necessitas mathematicae in rebus hujus mundi et in scientiis humanis nunc potest istud idem ostendi in divinis. In der Edition von Bridges [Anm. 1] ist das IV. Kapitel des 'Opus majus' als mathematicae in physicae bzw. divinae utiiitas überschreiben. 55 Opus majus VI, Bd. 2, S. 167-222. Das gesamte Buch trägt den Titel De scientia experimentali. 56 John D . North, Roger Bacon. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7 (1995), Sp. 940-942, hier Sp. 940. 57 Der Brief ist gedruckt von J. S. Brewer, Fr. Rogeri Bacon opera quaedam hactenus inedita (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 15). London 1859, S. 1; s. dazu Little [Anm. 10], S. 10. 58 Diese Auffassung vertritt North [Anm. 56], Sp. 940. 59 Lindberg [Anm. 25], S. 236; John Francis Quinn, The Historical Constitution of St. Bonaventure's Philosophy. Toronto 1973, bes. S. 841-896. Zu Bonaventuras Bemühen um die Synthese zwischen Wissenschaft und Erkenntnis unter dem Vorzeichen der Unteilbarkeit christlicher Weisheit s. Andreas Speer, Triplex Veritas, Wahrheitsverständnis und philosophische Denkformen Bonaventuras. Werl in Westf. 1987, S. 113-117.

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hundert als Errungenschaft zuzusprechen. Statt einem im Gefüge mittelalterlichen Denkens verhafteten Autors über das Quadrivium, der über Flugmaschinen, Schießpulver und den Weg von Europa nach Indien spekuliert, fasziniert die Figur des Franziskanermönchs und Universitätsgelehrten Roger Bacon als die des Begründers eines neuen artes-Begriffes und einer innovativen Methode wissenschaftlicher Forschung. 60

60 Es sind diese "Erfindungen", die Roger Bacon allgemein größere Popularität verleihen, als seine faktischen Leistungen in den Wissenschaften, wie die meisten Überblicksstudien oder auch Lexikonartikel belegen, s. z. B. North [Anm. 56], Sp. 941. So handelt beispielsweise 'Opus magnus' VI, Exemplum III (Bridges, Bd. II, S. 218) vom Schießpulver und anderem möglichen Entdeckungen mit Hilfe der scientia experimentalis.

Jürgen Sarnowsky Die artes im Lehrplan der Universitäten

Trotz der Existenz alternativer Modelle und trotz vielfacher Wandlungen im Verständnis der Disziplinen bildeten die von Martianus Capeila im 5. Jahrhundert aufgrund älterer Traditionen dauerhaft bestimmten sieben "freien Künste" während des gesamten Mittelalters das grundlegende Modell für jede Form von Ausbildung. 1 Das galt auch für die seit dem Ausgang des 12. Jahrhunderts entstehenden Universitäten, da diese zumeist aus älteren, regional einflußreichen Bildungsinstitutionen hervorgingen - aus Kathedral-, Stadt- oder Klosterschulen - und dabei deren Lehrprogramm übernahmen.2 Nicht zufällig stand deshalb der Unterricht in den artes liberales am Anfang des Studiums in allen universitären Fachrichtungen, und die Scholaren waren bald gehalten, zunächst das Studium an der Artistenfakultät abzuschließen, bevor sie weiterführende Studien in Theologie oder Medizin, Römischem oder kanonischem Recht aufnehmen konnten.3 In diesem Prozeß der Ausgestaltung eines besonderen universitären Lehrplans erfuhren jedoch die artes eine Reihe von Veränderungen und Ergänzungen. Von entscheidender Bedeutung war dafür die Wiederentdeckung und Übersetzung antiker Texte, insbesondere der Schriften des Aristoteles, denen seit dem 12. Jahrhundert wachsende Aufmerksamkeit zukam. 4 Diese Entwicklung führte zu einer Eingliederung der neuen Inhalte und Lehrbücher 1

2

3 4

Für einen Überblick vgl. immer noch Josef Dolch, Lehrplan des Abendlandes. Ratingen u. a. 1971 3. Aufl. (Neudruck Darmstadt 1982), hier S. 70-71 (zu Martianus Capeila) und S. 71-175 (zu den artes im Mittelalter); sowie u. a. Josef Koch (Hg.), Artes liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 3). Leiden, Köln 1959 (Neudruck 1976); Arts libéraux et philosophie au moyen âge. Actes du quatrième congrès international de philosophie médiévale. Montréal, Paris 1969; Anders Piltz, Die gelehrte Welt des Mittelalters. Köln, Wien 1982 (schwed. Original ersch. 1978); David L. Wagner (Hg.), The Seven Liberal Arts in the Middle Ages. Bloomington, IN 1983; Ingrid Craemer-Ruegenberg u. Andreas Speer (Hgg.), Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter (Miscellanea Mediaevalia 22). 2 Bde. Berlin, New York 1993-1994. Allgemein vgl. Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1, Mittelalter. München 1993, sowie die älteren Darstellungen wie Heinrich Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400. Berlin 1885; Georg Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten. 2 Bde. Stuttgart 1888-1896; Hastings Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages (1895), bearb. Frederick M. Powicke, A. B. Emden. Oxford 1936; Alan B. Cobban, The Médiéval Universities: Their Development and Organization, London 1975; Jozef Ijsewijn u. Jacques Paquet (Hgg.), Universities in the Late Middle Ages (Medievalia Lovanensia I, 6). Louvain 1978. Vgl. dazu u. a. die Hinweise bei Arno Seifert, Statuten- und Verfassungsgeschichte der Universität Ingolstadt (1472-1586) (Ludovico Maximilianea, Forschungen 1). Berlin 1971, S. 151-53. Zur Aristoteles-Rezeption s. u. a. Gérard Verbeke, L'Aristote Latin. In: Guttorm Flistad (Hg.), Contemporary Philosophy. Bd. 6, 2, Dordrecht 1990, S. 749-772; Bernard G. Dod, Aristoteles

Die artes im Lehrplan

der

in die überkommenen Strukturen der art es liberales,

Universitäten

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die durch die aristotelischen Schriften

und durch die Werke anderer antiker und arabischer Autoren inhaltlich aufgefüllt und ergänzt wurden. An den älteren Universitäten w i e Paris und Oxford vollzog sich diese Anpassung des Lehrplans über einen längeren Zeitraum, unter anderem auch deshalb, weil einige der aristotelischen Schriften anfangs auf den Widerspruch der Kirche stießen. So wollte Papst Gregor IX. 1231 das Studium der aristotelischen 'Physik' an der Pariser Artistenfakultät nur zulassen, sofern der Text vorher geprüft und von Irrtümern "gereinigt" worden war, 5 und 1277 erließ der Bischof von Paris, Étienne Tempier, eine Liste von 2 1 9 unter anderem mit den Lehren des Aristoteles verbundenen Artikeln, die nicht vertreten oder verteidigt werden durften. 6 Als es dann - vor allem seit der Mitte des 14. Jahrhunderts - zu einer Fülle neuer Universitätsgründungen kam, waren die Konflikte zwischen der Kirche und den Universitäten weitgehend entschieden, so daß die auf den artes basierenden, mit Aristoteles "aufgefüllten" Lehrpläne fast überall zur Grundlage wurden, vor allem an den nordalpinen Universitäten, die sich im wesentlichen am Vorbild von Paris orientierten, aber zugleich jeweils eigene Wege beschritten. Da die Entwicklungen an den älteren Universitäten weitge-

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hend als bekannt vorausgesetzt werden können, will ich mich in diesem Beitrag auf einige

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Latinus. In: Norman Kretzmann, Anthony Kenny u. Jan Pinborg (Hgg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Cambridge 1982, S. 43-79 und Charles H. Lohr, The Medieval Interpretations of Aristotle. In: Kretzmann, Kenny, Pinborg, S. 80-98; Frederick C. Copleston, Geschichte der Philosophie im Mittelalter. München 1976, S. 191-202 (engl. Original ersch. 1972). Chartularium Universitatis Parisiensis. Hrsg. von Heinrich Denifle u. Emile Châtelain, 4 Bde. Paris 1889-1897, hier Bd. 1, S. 136-39 u. S. 143f. (Bulle Gregors IX. von 1231 Apr. 13; Brief von 1231 Apr. 23). Zu den Verurteilungen von 1277 vgl. u. a. Roland Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277 (Philosophes médiévaux 22). Louvain, Paris 1977; John F. Wippel, The Condemnations of 1270 and 1277 at Paris. Journal of Medieval and Renaissance Studies 7 (1977), S. 169-201; Edward Grant, The Condemnation of 1277, God's Absolute Power, and Physical Thought in the Late Middle Ages. Viator 10 (1979), S.211-44; ders., Science and Theology in the Middle Ages. In: David C. Lindberg u. Ronald L. Numbers (Hgg.), God and Nature. Historical Essays on the Encounter between Christianity and Science. Berkeley, Los Angeles, London 1986, S. 49-75; Jürgen Sarnowsky, God's Absolute Power, Thought Experiments, and the Concept of Nature in the "New Physics" of XlVth Century Paris. In: Stefano Caroti u. Pierre Souffrin (Hgg.), La "Nouvelle Physique" du XlVe siècle. Florenz 1997, S. 179-201; jüngste Wiedergabe des Textes (mit Übersetzung und Kommentar) bei Kurt Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277 (Excerpta classica 6). Mainz 1989. Vgl. auch den Beitrag von Frank Fürbeth in diesem Band. Für eine Übersicht s. Jacques Verger, Grundlagen. In: Rüegg [Anm. 2], S. 49-80. Vgl. u. a. Gordon Leff, Das trivium und die drei Philosophien, und John North, Das quadrivium. In: Rüegg [Anm. 2], S.279-302 u. S. 303-20; Gordon Leff, Paris and Oxford Universities in the Thirteenth and Fourteenth Centuries. New York u. a. 1967, S. 116-60; Andrew G. Molland, The Geometrical Background to the 'Merton' School. The British Journal for the History of Science 4 (1968-69), S. 108-125; James A. Weisheipl, The Liberal Arts in the XlVth-XVth Century Curriculum, in: Arts libéraux [Anm. 1], S.209-13; Pierre Glorieux, La Faculté des Arts et ses maîtres au XHIe siècle. Paris 1971, S. 18-58; Pearl Kibre u. Nancy G. Siraisi, The Institutional Setting: The Universities. In: David C. Lindberg (Hg.), Science in the Middle Ages. Chicago 1978, S.

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der Artistenfakultäten der mitteleuropäischen Universitäten konzentrieren, und zwar auf der Grundlage ihrer vom Ende des 14. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts erlassenen Statuten. 9 Dabei soll nacheinander nach Beispielen für die Ausgestaltung des Triviums, für die des Quadriviums sowie für die Einbindung weiterer Fächer gefragt werden. Die Statuten der erneuerten Wiener Artistenfakultät von 1389 zählen zu den ältesten im mitteleuropäischen Raum. 10 Das Studium der Fächer des Triviums wird darin zunächst 120-44; Jeremy I. Catto u. Ralph Evans (Hgg.), The History of the University of Oxford. Bd. 12, Oxford 1984-1992, u. a. Bd. 1, S. 369-469 (John M. Fletcher, P. Osmund Lewry, James A. Weisheipl), Bd. 2, S. 35-172 u. S. 315-45 (E. Jennifer Ashworth, Paul V. Spade, John D. North und John M. Fletcher); Edith D. Sylla, Science for Undergraduates in Medieval Universities. In: Pamela O. Long (Hg.), Science and Technology in Medieval Society (Annais of the New York Academy of Sciences 441). New York 1985, S. 171-86; George Molland, The Quadrivium in the Universities: Four Questions. In: Craemer-Ruegenberg [Anm. 1], 1, S. 66-78; Claude Lafleur, Scientia et ars dans les introductions à la philosophie des maîtres ès arts de l'Université de Paris au XlIIe siècle. In: Craemer-Ruegenberg [Anm. 1], S. 45-65; Brigitte Stark, Henri d'Andeli, La Bataille des Sept Arts - ein Streit um den Niedergang des Studiums der Grammatik und Rhetorik an der Pariser Universität. In: Craemer-Ruegenberg, S. 900-17; Olga Weijers, L'enseignement du trivium à la Faculté des arts de Paris: la questio. In: Jacqueline Hamesse (Hg.), Manuels, programmes de cours et techniques d'enseignement dans les universités médiévales (Université Catholique de Louvain. Publications de l'Institut d'Études médiévales - Textes, études, congrès 16). Louvain 1994, S. 57-74; E. Jennifer Ashworth, Les manuels de logique à l'université d'Oxford aux XlVe et XVe siècles. In: Hamesse, S. 351-70; John M. Fletcher, Some Unusual Aspects of the English Medieval Universities Used in the Faculty of Arts. In: Hamesse, S. 371-83. 9 Dazu bereits, mit anderem zeitlichen Rahmen: Sönke Lorenz, Libri ordinarie legendi. Eine Skizze zum Lehrplan der mitteleuropäischen Artistenfakultät um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert. In: Wolfgang Hogrebe (Hg.), Argumente und Zeugnisse (Studia Philosophica et Histórica 5). Frankfurt a. M. u. a. 1985, S. 204-58; sowie der Überblick bei Arno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein u. August Buck (Hgg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, 15. bis 17. Jahrhundert. München 1996, S. 197-374, hier S. 204-211 u. S. 235-40; zum Einfluß des Humanismus vgl. die Hinweise bei Werner M. Bauer, Humanistische Bildungsprogramme, und ders., Humanistische Bildungszentren. In: Horst A. Glaser (Hg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 2, Ingrid Bennewitz u. Ulrich Müller (Hgg.), Von der Handschrift zum Buchdruck: Spätmittelalter, Reformation, Humanismus. Reinbek b. Hamburg 1991, S. 245-73. - Der vorliegende Beitrag kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. 10 Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Bd. 2, Statutenbuch der Universität. Wien 1854, S. 170-226; danach bei Alphons Lhotsky, Die Wiener Artistenfakultät 1365-1497 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philos.-histor. Klasse, Sitzungsberichte 247, 2). Wien 1965, S. 223-262 (im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert), hier S. 236; ebd., S. 40-116, hat Lhotsky den Text eingehend kommentiert, geht aber vor allem auf den Lehrplan für die Bakkalare ein. Zu Studium und Lehre an der Wiener Universität nach 1400 vgl. u. a. Claudia Kren, Patterns in arts teaching at the medieval University of Vienna. Viator 18 (1987), S. 321-36; dies., Astronomical teaching at the late medieval University of Vienna. History of Universities 3 (1983), S. 15-30; Paul Uiblein, Johannes von Gmunden. Seine Tätigkeit an der Wiener Universität. In: Günther Hamann u. Helmuth Grössing (Hgg.), Der Weg der Naturwissenschaft von Johannes Gmunden zu Johannes Kepler (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philos.-histor. Klasse, Sitzungsberichte 497). Wien 1988, S. 11-64; Katherine Walsh, Mathematik und Naturwis-

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durch die Bestimmungen über die Prüfung zum Grad des Bakkalars geregelt, die ein zweijähriges Studium voraussetzte. Ähnlich wie in Paris und Oxford lag in Wien das Schwergewicht innerhalb der artes auf der Logik. Für die Grammatik waren nur Vorlesungen über das erste und zweite Buch des 'Doctrinale' des Alexander de Villa Dei" und über das zweite Buch des 'Graecismus' des Eberhard von Bethune12 vorgeschrieben, während jeder Hinweis auf die "klassischen" Lehrbücher Donatus' und Priscians fehlt, ebenso auf die Schriften der im 13. Jahrhundert entwickelten "spekulativen Grammatik".13 Dazu kam ein nicht näher bestimmtes Buch in der Rhetorik.14 Dagegen umfaßte das Programm im Bereich der Logik sowohl die ars vetus als auch die "neue Logik", die durch die 'Summulae' des Petrus Hispanus15 und durch Vorlesungen über die unterschiedlichen Formen von Sätzen, über suppositiones, ampliationes, appellationes, obligationes, insolubilia und consequentiae, also die 'Parva logicalia', 16 vertreten war. Gefordert wurde weiter der Besuch von Vorlesungen über die beiden 'Analytiken' sowie die 'Sophistischen Widerlegungen' des Aristoteles. Wer die Lizenz erwerben, also den ersten Schritt zum Erwerb des Magistertitels machen wollte, mußte - neben den noch zu erwähnenden Schriften des Quadriviums - zusätzlich noch über die Topik des Aristoteles gehört haben.17 Die ars vetus, die beiden 'Analytiken', die 'Widerlegungen' und die 'Topik' waren auch Gegenstand der "privaten" Disputationen, die die Magister mit Bakkalaren und Scholaren führten. Dabei waren sie gehalten, mindestens eine Quaestio mit einem sophisma oder zwei Quaestionen oder zwei sophismata, zu diskutieren, 18 sich also auf logischer Grundlage mit den Problemen der Texte auseinanderzusetzen.

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senschaften im Spätmittelalter. Die Universität Krakau als Vorbild für Wien? Innsbrucker Historische Studien 10-11 (1988), S. 21-41. Edition: Das Doctrinale des Alexander de Villa Dei. Hrsg. von Dietrich Reichling (Monumenta Germaniae paedagogica 12). Berlin 1893. Edition: Eberhardi Bethunensis Graecismus. Hrsg. von Johann Wrobel (Corpus grammaticorum medii aevi 1). Breslau 1887. Zu ihr vgl. u. a. Jan Pinborg, Spéculative Grammar. In: Kretzmann u. a. [Anm. 4], S. 254-69; ders., Grammar, und Irène Rosier, Grammaire. In: Flistad [Anm. 4], 2, S. 779-803 (für einen Forschungsüberbl ick). Zu Grammatik und Rhetorik an den mitteleuropäischen Universitäten vgl. Lorenz [Anm. 9], S. 216-19; Seifert [Anm. 9], S. 208f.. Edition: Petrus Hispanus (Johannes XXI.), Tractatus called afterwards Summulae logicales. Hrsg. von Lambert M . de Rijk. Assen 1972. Vgl. u. a. Martin Grabmann, Handschriftliche Forschungen und Funde zu den philosophischen Schriften des Petrus Hispanus, des späteren Papstes Johannes XXI. (f 1277) (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philos.-histor. Abt. 1936, 9). München 1936, bes. S. 26-85 zur Wirkungsgeschichte der 'Summulae'; Seifert [Anm. 9], S. 2 3 6 zum humanistischen Umgang mit den 'Summulae'. Zu den Entwicklungen in der Logik des 14. Jahrhunderts vgl. u. a. Piltz [Anm. 1], S. 232-35; zu den Universitäten s. Lorenz [Anm. 9], S. 213-16; Seifert [Anm. 9], S. 209f.. Lhotsky [Anm. 10], S. 243; zur mittelalterlichen Rezeption der aristotelischen Topik vgl. u. a. Eleonore Stump, Dialectic. In: Wagner [Anm. 1], S. 125-46, bes. S. 135-41. Lhotsky [Anm. 10], S. 254f.

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Diese Gestaltung des Unterrichts in den Fächern des Triviums findet sich ähnlich auch an den anderen mitteleuropäischen Universitäten, etwa in Prag, wo die knapperen Statuten von 1390 allerdings keine Regelungen für das Studium der Grammatik und Rhetorik enthalten, 19 oder in Krakau, wo 1404/06 in der Grammatik der Besuch einer Vorlesung über das zweite Buch des 'Doctrínale', in der Rhetorik über die 'Poetria nova' des Gottfried von 20

Vinsauf vorgeschrieben war. Die Heidelberger Scholaren, die den Grad eines Bakkalars erreichen wollten, mußten nach Statuten aus der Zeit um 1400 über den Anfang des 'Doctrinale' und einen Teil des 'Grecismus' gehört haben oder nachweisen, "daß sie in der Grammatik auf andere Weise angemessen ausgebildet sind". 21 Dazu zählte wahrscheinlich das Werk des Donatus, das unter den Büchern genannt wird, über die Vorlesungen gehalten wurden. Während die Rhetorik nicht im Fächerkanon erscheint, werden für die Logik wiederum Vorlesungen über die 'Summulae' des Petrus Hispanus und die aristotelischen Schriften zur Logik und Wissenschaftstheorie gefordert, und zwar auch über die 'Topik', aber nur das erste, zweite, sechste und achte Buch. Die Scholaren mußten zudem jeweils dreimal an ordentlichen und außerordentlichen Disputationen teilgenommen und auf sophismata der Magister geantwortet haben. Anders als in Wien war die logica nova erst für diejenigen verpflichtend, die den Grad des Magisters erwerben wollten, und auch nur dann, wenn dazu Veranstaltungen angeboten wurden. Die 22 entsprechende Bestimmung wurde zudem erst nachträglich in die Statuten aufgenommen. Dagegen forderten die Statuten der Kölner Artistenfakultät von 1398 die 'Parva logicalia' schon von den Bakkalaureanden und erlaubten, die 'Summulae' des Petrus Hispanus durch den Kommentar des Pariser Magisters Johannes Buridan zu ersetzen, stellten also via antiqua und via moderna, Realismus und Nominalismus, gleichberechtigt nebeneinander. 23 Hatten die Scholaren den Grad des 19 Monumenta histórica universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis. Bd. 1 , 1 . Prag 1830, S. 48f. u. S. 56f.; vgl. Lorenz [Anm. 9], S. 229. 2 0 Statuta nec non liber promotionum philosophorura ordinis in universitate studiorum Jagellonica ab anno 1402 ad annum 1849. Hrsg. von Joseph Muczkowski. Krakau 1849, S. xii-xiii; vgl. wiederum Lorenz [Anm. 9], S. 230. Zu Gottfried vgl. Ernest Gallo, The Poetria Nova and Its Sources in Early Rhetorical Doctrine (De proprietatibus litterarum, ser. maior 10). Den Haag, Paris 1971. 21 Urkundenbuch der Universitaet Heidelberg. Hrsg. von Eduard Winkelmann, 2 Bde. Heidelberg 1886, hier Bd. 1: Urkunden, S. 34. 22 Ebd., S.43 u. S. 38. 23 Franz Joseph v. Bianco, Die alte Universität Köln sowie die zu Köln administrierten Studien-Stiftungen, Teil 1: D i e alte Universität Köln. 2 Bde. Köln 1855, 2. Aufl. (Neudruck Aalen 1974), S. 122-26; der Text der Statuten ebd., Bd. 2, Anlage VII, S. 59-73, hier S. 66-71; zum Lehrplan der Kölner Universität vgl. Sophronius Ciasen, Der Studiengang an der Kölner Artistenfakultät. In: Koch [Anm. 1], S. 124-36; Anna-Dorothee v. d. Brincken, Die Statuten der Kölner Artistenfakultät von 1398. In: Albert Zimmermann (Hg.), Die Kölner Universität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 20). Berlin, New York 1989, S. 394-414, bes. S. 404-407. - Zu den 'Summulae' Buridans vgl. Bernd Michael, Johannes Buridan. Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters. 2 Bde. Diss. phil., Berlin 1985, Bd. 2, S. 500-552. Einer der Kommentatoren des Buridanschen Texts, Johannes Dorp, ist 1418 an der Kölner Universität nachweisbar, ebd., S. 551. - Zum "Wegestreit" vgl. u. a. die Beiträge in AI-

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Bakkalars erworben, durften sie selbst über diese Texte lesen, dazu über nicht näher benannte rhetoricalia et grammaticalia, die zuvor - in den Anforderungen an den künftigen Bakkalar - wohl als selbstverständlich vorausgesetzt worden waren. Damit waren aber die Anforderungen im Bereich des Triviums bereits abgedeckt. Einen ähnlichen Lehrplan erließ noch um 1460 die Greifswalder Universität.24 In der Rhetorik war für das Bakkalaureat eine Vorlesung über den 'Laborintus', das Lehrgedicht des Eberhardus Alemannus aus dem 13. 25

Jahrhundert, zu besuchen, in der Logik Veranstaltungen über die meisten aristotelischen Schriften und die 'Parva logicalia'; dazu kamen Übungen (exercitia) zur ars vetus, zu den 'Parva logicalia', zur "neuen Logik" und zu Petrus Hispanus. Für das magisterium kamen im Bereich des Triviums wiederum noch eine Vorlesung über die "Topik" sowie Übungen zur "neuen Logik" hinzu. Die in der Regel bald nach der Gründung der Universitäten formulierten Statuten wurden immer wieder der jeweiligen aktuellen Situation angepaßt. Ein Beispiel dafür bietet die Universität Erfurt, deren erste ausführliche, 1412 erlassene Statuten26 - wie im übrigen auch die Studienwirklichkeit27 - im wesentlichen denen der anderen Universitäten entsprachen, aber im Bereich des Triviums mehrfach leicht modifiziert wurden. So gehörten die 'Parva logicalia' zwar 1412 bereits zum Lehrprogramm der Artistenfakultät, waren aber noch nicht für künftige Bakkalare verbindlich. Dies änderte sich vermutlich 1420 mit der Zusammenstellung der zentralen Thesen "praktisch aller Bücher, die für den Grad des Bakkalaureats zu Erfurt gelesen und geprüft werden müssen", durch den jungen Magister Her28

bord de Lippia. Danach mußten vor dem Erwerb des Bakkalaureats die Auslegungen zu den kleinen Traktaten der "neuen Logik" besucht werden, und zwar in einer bestimmten

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bert Zimmermann (Hg.), Antiqui und moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 9). Berlin, New York 1974. Johann Gottfried Ludwig Kosegarten, Geschichte der Universität Greifswald mit urkundlichen Beilagen. Bd. 1, Greifswald 1857, S. 309f. Eberhardus Alemannus, Laborintus. Hrsg. von Edmond Faral. Paris 1958. Zur mittelalterlichen Erfurter Universität und zum Lehrplan der Artisten vgl. u. a. Erich Kleineidam, Universitas studii Erffordensis, Bd. 1-2 (Erfurter theologische Studien 14, 22). Leipzig 1964-1969; Sönke Lorenz, Studium Generale Erfordense. Zum Erfurter Schulleben im 13. und 14. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 34). Stuttgart 1989, bes. S. 59-160; Johannes Kadenbach, Zum Prüfungsstoff ad gradum baccalaureatus in artibus liberalibus an der Universität Erfurt nach der collectio von 1420. In: Craemer-Ruegenberg u. a. [Anm. 1], Bd. 2, S. 807-16; ders., Philosophie an der Universität Erfurt im 14./15. Jahrhundert. Versuch einer Rekonstruktion des Vorlesungsprogramms. In: Ulman Weiß (Hg.), Erfurt 742-1992. Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte. Weimar 1992, S. 155-70. Vgl. die Liste der von Arnold von Lemgo vor seinem Bakkalarexamen im Frühjahr 1399 besuchten Vorlesungen bei Kleineidam [Anm. 26], Bd. 1, S. 231; Kadenbach, Prüfungsstoff [Anm. 26], S. 815. Aufschlüsse erlaubt auch die Einteilung der Sammlung des Amplonius, vgl. Kadenbach, Philosophie [Anm. 26], S.158. Text bei Kadenbach, Prüfungsstoff [Anm. 26], S. 810, und ders., Philosophie [Anm. 26], S. 168; ich schließe mich im folgenden an seine Ausführungen an, obwohl er m. E. die Verbindlichkeit der collectio Herbords für die Ausbildung der Bakkalare nicht eindeutig nachgewiesen hat.

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Ausrichtung, der der "terministischen" Logik. Die Grundlage dafür bildeten die Schriften von drei Autoren des 14. Jahrhunderts, der Engländer Thomas Maniefeit (oder Mauleveit) und Richard Billingham, Magister in Paris bzw. Oxford, sowie des Prager Magisters Johannes de Hollandria. 29 Wohl bedingt durch den Wechsel Herbords an die theologische Fakultät verlor jedoch diese Orientierung auf die via moderna in Erfurt wieder an Bedeutung, und die erneuerten Statuten von 1449 verwiesen die 'Parva logicalia' in die Übungen, ohne die "terministischen" Autoren überhaupt zu erwähnen. Zu einem erneuten Kurswechsel kam es dann mit den Prüfungsbestimmungen des Jahres 1489, die wieder Vorlesungen und Übungen zu den 'Parva logicalia' vorschrieben. Ähnliche, zumindest teilweise durch den "Wegestreit" zwischen via antiqua und via moderna bedingte Statutenänderungen lassen sich auch für andere Universitäten belegen, etwa für Heidelberg 1452, wo beide Wege gleichberechtigt eigene Ordnungen erhielten und unter anderem Marsilius von Inghens 'Parva logicalia' 30

für die via moderna, Petrus Hispanus aber für die via antiqua zugrundegelegt wurde. In Erfurt gewannen am Ausgang des 15. Jahrhunderts allmählich humanistische Tendenzen an Bedeutung, die auf die Entwicklung des Lehrplans einwirkten. Spielte hier wie auch in Köln die Poetik innerhalb der Grammatik schon von Anfang an eine gewisse Rolle, kam es nun zu Verschiebungen innerhalb des Triviums, allerdings im wesentlichen ohne größere Änderungen in den Statuten, so daß z. B. die Regelungen von 1489 zwar die Rhetorik wieder ausdrücklich aufnahmen, aber dafür nur die Beschäftigung mit dem 'Laborintus' vorsahen. 31 Vor allem die Auseinandersetzung mit dem Lateinischen gewann an Gewicht. Jakob Wimpfeling, der 1468/69 ein Jahr in Erfurt studierte, hob später die Bedeutung des Lateins im Erfurter Schulbetrieb hervor, und Erfurter Magister wie Heinrich Boger aus Höxter oder Heinrich Fischer aus Northeim lasen Anfang der 1470er Jahre über das lateinischdeutsche Wörterbuch 'Ex quo', über Metrik, Poetik und ars scribendi,32 Als die in den Bursen und Kollegien gehaltenen Vorlesungen über Poetik, Rhetorik und klassische Autoren den auf die Examina vorbereitenden Veranstaltungen durch ihre hohen Teilnehmerzahlen den Rang abzulaufen drohten, beschloß die Artistenfakultät 1469, daß künftig alle Mitglieder der Fakultät nur noch öffentlich im Collegium maius lesen und über klassische Autoren eine bestimmte Dauer der Vorlesung einhalten sollten. Die Aufzählung der Autoren macht

2 9 Nachweis ihrer Schriften (auch mit Kommentaren) bei Gaudens E. Mohan, Incipits of Logical Writings of the XHIth-XVth Centuries. Franciscan Studies 12 (1952), S. 349-489, hier S. 363, S. 366, S. 370, S. 372, S. 378, S. 399, S. 411, S. 419, S. 439, S. 459, S. 471 u. S. 486 für Erfurter Manuskripte. 30 Kadenbach, Prüfungsstoff [Anm. 26], S. 816; vgl. für die Regelungen im Urkundenbuch [Anm. 21], Bd. 1, S. 165-74 (1452-1455) und Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität. Bd. 1, Das Mittelalter. Heidelberg 1906, S. 167f. Zur Rolle der 'Parva logicalia' des Marsilius von Inghen s. Carl Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande. Bd. 3. Leipzig 1866, S. 94; Grabmann [Anm. 15], S. 63; Lorenz [Anm. 9], S. 215. 31 Kadenbach, Philosophie [Anm. 26], S. 158 u. S. 170; zu Köln vgl. das Siegel in Bianco [Anm. 23], Bd. 1, 1, Abbildung zwischen S. 176 u. S. 177. 32 Dazu und zum folgenden: Kleineidam [Anm. 26], Bd. 2, S. 56-59 u. S. 61f.

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wiederum humanistische Interessen deutlich: An erster Stelle werden Cicero und Virgil mit ihren Werken genannt; dazu kamen Ovid, Terenz, Valerius Maximus und Sallust. Humanistische Tendenzen prägten schließlich auch den neuen Aufschwung der Erfurter Universität um 1500.33 Erfurt hat mit dieser Ausrichtung vielfach auf andere Universitäten eingewirkt, unter anderem auf die 1477 gegründete Mainzer Universität.34 War schon der Gründer der Universität, der Mainzer Erzbischof Diether von Isenburg, humanistisch interessiert, galt dies verstärkt für seinen Nachfolger Berthold von Henneberg, der seit 1455 zusammen mit Rudolf Agricola und Dietrich Gresemund von Meschede in Erfurt studiert hatte. Dietrich Gresemund wurde wie sein gleichnamiger Sohn zur Leitfigur der Mainzer Humanisten, der Vater als Mediziner, der Sohn als Jurist. Vor allem Dietrich Gresemund der Jüngere war jedoch durch seine Schriften und Aktivitäten auch für die Artistenfakultät von besonderer Bedeutung. So schrieb er im Alter von 16 Jahren die 'Lucubratiunculae bonarum Septem artium liberalium ...', die 'Kleinen Nachtarbeiten über die Sieben Freien Künste', ein Lehrgedicht, das Anfang 1494 in Mainz gedruckt wurde und einen Dialog des Autors mit der Philosophie einschloß. Während er im Rahmen der Überlegungen über die artes die Rückkehr zur klassischen Latinität und die Aufnahme des Studiums auch der griechischen Sprache forderte, nahm er in seinem Gespräch mit der Philosophie eine "Erweiterung" des Triviums vor: Die Philosophie als "Mutter aller Tugenden" umfaßt danach die Grammatik, die Dialektik und die Logik mit den studia humanitatis, weiter die Rhetorik, die Poesie und die Historie.35 Diese Einteilung macht die Richtung deutlich, in die nun auch in Mainz die Entwicklung des Lehrplans ging. Die überkommenen Disziplinen und Lehrinhalte wurden durch neue, humanistische Fragestellungen ergänzt, aber zumeist nicht verdrängt, wie dies auch die ersten erhaltenen Statuten der Mainzer Artistenfakultät von 1535 deutlich werden lassen.36 Die Grammatik wurde im Rahmen des Pädagogiums unterrichtet, das in Mainz wie in Tübingen, Ingolstadt, Freiburg und anderenorts der Vorbereitung der oft noch sehr jungen Scholaren auf das eigentliche Studium diente. Die Grundlage dafür bildete weiterhin das Lehrbuch des Donatus, das Grammatik und Rhetorik verband, während das als scholastisch geltende 'Doctrinale' des Alexander de Villa Dei wie in Ingolstadt und Leipzig aus dem 33 Kleineidam [Anm. 26], Bd. 2, S. 157-65 u. ö. 34 Kleineidam [Anm. 26], Bd. 2, S. 132-36; Jürgen Steiner, Die Artistenfakultät der Universität Mainz 1477-1562. Ein Beitrag zur vergleichenden Universitätsgeschichte (Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz 14). Stuttgart 1989, S. 402-04 u. ö. (dort auch zum folgenden). 35 Dietrich Gresemund d. J., Lucubratiunculae bonarum Septem artium liberalium ... Mainz 1494, f. 21v, nach Steiner [Anm. 34], S. 404; vgl. Gustav Bauch, Aus der Geschichte des Mainzer Humanismus. Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde N . F . 5 (1909) ( = Beiträge zu Geschichte der Universitäten Mainz und Gießen. Julius R. Dieterich u. Karl Bader [Hgg.]). S. 3-86, hier S. 25. - Eine Einteilung der studia humanitatis in Historie, Rhetorik und Poesie findet sich dagegen bereits in der Heidelberger Antrittsrede Peter Luders von 1456, Steiner [Anm. 34], S. 409. 36 Ediert bei Steiner [Anm. 34], Anlage 4, S. 544-92. Zum folgenden ebd., S. 561-63 und 580; zum Lehrplan des Triviums ebd., S. 384-423 u. S. 438-40, bes. S. 391 u. S. 438.

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Lehrprogramm herausgenommen wurde. 37 Dafür wurden antike Dichter behandelt, Terenz in der Grammatik, Virgil oder ein anderer in der Poetik. Die Rhetorik-Vorlesungen innerhalb des Pädagogiums setzten sich bereits - im Vorgriff auf die Anforderungen für das Bakkalaureat - mit Cicero auseinander. Die künftigen Bakkalare sollten nach dem Abschluß des Pädagogiums ordentliche Vorlesungen in Logik über das 'Organon' des Aristoteles, in einer besonderen Disziplin Dialektik über eine Einführungsschrift des Kölner Humanisten Johan38

nes Caesarius, in Poetik über Virgil oder andere Dichter und in Rhetorik über die Schriften Quintilians, 39 Ciceros und des Humanisten Rudolf Agricola hören. 40 Dazu kam als weitere Disziplin die Geschichte, für die vielleicht schon 1508/09, mit Sicherheit aber bald darauf eine eigene Lektur eingerichtet worden war, die seit 1513/14 von Nikolaus Fabri wahrgenommen wurde. Gegenstand der Vorlesungen waren vor allem die römischen Historiker Livius, Valerius Maximus, Sallust, Justin, Sueton und andere. Fabri veröffentlichte auf der Grundlage eines Mainzer Manuskripts in der Offizin Peter Schöffers 1518/19 eine LiviusNeuausgabe mit bisher noch nicht bekannten Teilen der 'Römischen Geschichte', und zugleich wurden andere römische Autoren wie Valerius Maximus in dieser Zeit in Mainz mehrfach nachgedruckt. Während an den meisten anderen Universitäten Historie, Rhetorik und Poetik an einem Lehrstuhl vereinigt waren, ging die Mainzer Artistenfakulät mit der Einrichtung ihrer Lektur neue Wege. Dagegen blieb die weitere Ausbildung im Rahmen des Triviums - zumindest den formalen Anforderungen nach - recht traditionell: Für die Anmeldung zum Magisterexamen hatten die Mainzer Scholaren zusätzlich nur noch an Vorlesungen über die aristotelische 'Topik' sowie erneut über die Rhetorik teilzunehmen. Im Bereich des Quadriviums gingen die Entwicklungen nicht so weit wie für die Fächer des Triviums. Ausführliche "konventionelle" Regelungen enthalten wiederum die Statuten der Wiener Artistenfakultät von 1389,41 die für den Erwerb des Bakkalaureats in Arithmetik, Geometrie und Astronomie den Besuch von Vorlesungen zum 'Algorismus', dem mathematischen Werk des al-Khwarizmi, 42 zum ersten 'Buch der Elemente' Euklids43 und über 37 Zur Haltung der Humanisten gegenüber dem Doctrinale und dem Graecismus vgl. W. Keith Percival, Changes in the Approach to Language. In: Kretzmann u. a. [Anm. 4], S. 808-17, hier S. 815; Seifert [Anm. 9], S. 236. 38 Zum Kontext dieser Schrift vgl. Jozef Ijsewijn, Humanistische neulateinische Literatur. In: Bennewitz u. a. [Anm. 9], S. 287-301, hier S. 296f. 39 Edition: Marcus Fabius Quintiiianus, Institutionis oratoriae libri XII. Hrsg. u. übers, von Helmut Rahn (Texte zur Forschung 2-3). 2 Bde. Darmstadt 1972-1975. 4 0 Zu Agricola (1443-1485) vgl. u. a. Georg Ihm, Der Humanist Rudolf Agricola, sein Leben und seine Schriften (Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus alter und neuer Zeit 15). Paderborn 1893. 41 Zum Vergleich mit anderen mitteleuropäischen Universitäten s. wiederum Lorenz [Anm. 9], S. 220-22; Seifert [Anm. 9], S. 209-10. 4 2 Übersetzt durch Adelard von Bath, s. u. a. Alistair C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei (1959, aus d. Engl. Hildegard Hoffmann u. Hildegard Pleus). Köln, Berlin 1959 (Neudruck München 1977), S. 47; zur Wirkung vgl. Michael Masi, Arithmetic. In: Wagner [Anm. 1], S. 147-68, hier S. 156f. - Zum Lehrprogramm an der Wiener Artistenfakultät insbesondere im Bereich des

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Johannes de Sacroboscos Traktat 'De sphaera'44 vorschrieben. Dies sollte zumindest durch Vorlesungen über die aristotelische 'Physik' und über 'De anima' ergänzt werden.45 Anders als bei den Fächern des Triviums wurden die Anforderungen erheblich erweitert, wenn sich der Bakkalar um das Lizentiat, also den ersten Schritt zum magisterium, bemühte.46 Neben Vorlesungen über Bücher der Musik und Arithmetik mußten dann weitere über fünf 'Bücher der Elemente' Euklids sowie über die noch nicht genannten aristotelischen Schriften zur Naturphilosophie besucht werden, zu 'De caelo', 'De generatione', den 'Meteora' und 'Parva naturalia'. Dazu kamen mittelalterliche Vorlagen wie die 'Theorica planetarum',47 die 'Perspectiva communis', ein Werk über Optik von Johannes Peckham,48 die 'Proportiones', wohl in der Regel die des Oxforder Philosophen Thomas Bradwardine,49 die unter den Büchern genannt werden, über die ordinarie, d. h. regulär von Mitte Oktober bis Mitte Juli, zu lesen war, sowie die 'Latitudines formarum', die sich mit der zweidimensionalen Darstellung von Prozessen nach dem Vorbild Nicole Oresmes auseinandersetzten.50 Zum regulären Angebot an kommentierten Texten gehörte daneben auch die falschlich Albertus

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Quadriviums vgl. auch die Vorlesungen Johannes' von Gmunden (1406-1434): Uiblein [Anm. 10], S. 56-58. Zur Euklid-Rezeption im Mittelalter vgl. u. a. Lon R. Shelby, Geometry. In: Wagner [Anm. 1], S. 196-217, bes. S. 204-06; John E. Murdoch, The Medieval Euclid: Salient Aspects of the Translations of the Elements by Adelard of Bath and Campanus of Novara. Revue de synthèse 89 (1968), S. 67-94. Edition: The Sphere of Sacrobosco and Its Commentators. Hrsg. von Lynn Thorndike. Chicago 1949; zur Überlieferung vgl. u. a. Francis B. Brévart, Johannes de Sacrobosco. Das Puechlein von der Spera. Abbildung der gesamten Überlieferung, kritische Edition (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 68). Göppingen 1979. Lhotsky [Anm. 10], S. 236. Lhotsky [Anm. 10], S. 243; die Liste der ordinarie zu lesenden Bücher S. 252f. Zu den möglichen Texten unter dem Titel 'Theorica planetarum' vgl. Kibre u. a. [Anm. 8], S. 130; Uiblein [Anm. 10], S. 56; O. Pedersen, Astronomy. In: Lindberg [Anm. 8], S. 302-37, hier S. 316 mit Anm. 52; ders., The Origins of the 'Theorica planetarum'. Journal for the History of Astronomy 12 (1981), S. 113-23. Edition: John Pecham and the Science of Optics: 'Perspectiva communis'. Hrsg. von David C. Lindberg (Publications in Medieval Science 14). Madison, WI, 1970. Zu ihrer Verbreitung an den mitteleuropäischen Universitäten s. Lorenz [Anm. 9], S. 223. Edition: Thomas of Bradwardine. His 'Tractatus de Proportionibus'. Its Significance for the Development of Mathematical Physics. Hrsg. von H. Lamar Crosby, Jr. (Publications in Medieval Science 2). Madison, WI, 1961, 2. Aufl. - Zur Wirkungsgeschichte vgl. u. a. Jürgen Sarnowsky, Natural Philosophy at Paris and Oxford in the Mid-Fourteenth Century. In: Anne Hudson u. Michael Wilks (Hgg.), From Ockham to Wyclif (Studies in Church History, Subsidia 5). Oxford 1987, S. 125-34; zur Verbreitung an den Universitäten s. Lorenz [Anm. 9], S. 221f. Ausgangspunkt war Oresmes 'Tractatus de configurationibus qualitatum et motuum', Edition: Nicole Oresme and the Medieval Geometry of Qualities and Motions. Hrsg. von Marshall Clagett (Publications in Medieval Science 11). Madison, WI, u. a. 1968; zur Wirkungsgeschichte ebd., S. 73-121, bes. S. 85 (mit Anm. 15) zum hier wohl zugrundeliegenden 'Tractatus de latitudinibus formarum' des Jacopo de Sancto Martino (?).

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Magnus zugeschriebene 'Summa naturalium'. 51 Die aristotelischen Schriften wurden darüber hinaus in den privaten Disputationen der Magister mit Bakkalaren und Scholaren behandelt. 52 Dabei wurden in Wien Schriften von Zeitgenossen als Vorlage genutzt, für die aristotelische 'Physik' die Quaestionen des Pariser Magisters Johannes Buridan, für 'De caelo' seines "Schülers" Albert von Sachsen, der auch der erste Rektor der Wiener Universität gewesen war. 53 Das Studium in den Fächern des Quadriviums war nicht an allen Universitäten in einem solchen Umfang wie in Wien geregelt. So schrieben die ältesten Prager, Heidelberger, Kölner, Krakauer, Leipziger, Erfurter und Greifswalder Statuten für den Erwerb des Bakkalaureats fast nur Vorlesungen über die aristotelische 'Physik' und 'De anima' vor; in Prag, Krakau, Leipzig, Erfurt und Greifswald mußte dazu noch über 'De sphaera' gehört werden. 54 Für den Erwerb des Lizentiats kamen in Heidelberg Auslegungen der anderen aristotelischen Schriften zur Naturphilosophie sowie zu den 'Latitudines formarum' und den 'Proportiones' dazu, sofern entsprechende Veranstaltungen angeboten wurden.55 Darüber hinaus wurden im Unterricht gelegentlich auch die ersten vier 'Bücher der Elemente' Euklids, der 'Algorismus', die 'Perspectiva', 'De sphaera' und die 'Theorica planetarum' behandelt. Die Heidelberger Statuten lassen aber keinen Zweifel daran, daß sich Magister und Scholaren vor allem an den aristotelischen Schriften zu orientieren hatten. Eine Ausnahme davon bildeten - als spätes Echo zu den Konflikten in Paris - die Fälle, in denen die aristotelischen Lehren dem Glauben widersprachen. Dann mußten die Lehrenden ihre Hörer darauf hinweisen, daß Aristoteles nur "der reinen natürlichen Vernunft unter Ausschluß des Glaubens" folge und daß seine Argumente deshalb "sophistisch und fehlerhaft" seien. Die Kölner Statuten forderten von den künftigen Lizentiaten den Besuch derselben Vorlesungen wie in 51 Vgl. u. a. Bernhard Geyer, Die Albert dem Großen zugeschriebene 'Summa naturalium' ('Philosophia pauperum') (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 35, 1). Münster 1938. 5 2 Lhotsky [Anm. 10], S. 255. 53 Zu Inhalt und Überlieferung der beiden Texte vgl. Jürgen Sarnowsky, Die aristotelisch-scholastische Theorie der Bewegung. Studien zum Kommentar Alberts von Sachsen zur Physik des Aristoteles (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N. F. 32). Münster 1989. 54 Monumenta [Anm. 19], S. 48f.; Urkundenbuch [Anm. 21], Bd. 1, S. 34; Bianco [Anm. 23], Bd. 1, S. 122; Statuta [Anm. 20], S. xii; Friedrich Zarncke, Die Statutenbücher der Universität Leipzig aus den ersten 150 Jahren ihres Bestehens. Leipzig 1861, S. 311; Kadenbach, Philosophie [Anm. 26], S. 163; Kosegarten [Anm. 24], 1, S. 309; vgl. Lorenz [Anm. 9], S. 229-35. - Eine unter- oder zumindest nachgeordnete Stellung der 'Physik' wird in Heidelberg daran deutlich, daß die Vorlesungen über die Bücher III bis VIII noch während oder nach der Prüfung nachgeholt und arme Scholaren vom Nachweis des Besuchs dieser Veranstaltungen befreit werden konnten (ebd.). Im Gegensatz dazu traten Krakauer Magister in der ersten Hälfte des 15. Jhs. dafür ein, das Gewicht der 'Physik' noch zu verstärken, indem man sie anstelle der 'Metaphysik' als zentrale Schrift behandelte, s. Mieczystaw Markowski, Die neue Physik an der Krakauer Universität im X V . Jahrhundert. In: Zimmermann [Anm. 23], S. 501-08, hier S. 505. 55 Dazu und zum folgenden Urkundenbuch [Anm. 21], S. 38 u. S. 41f.

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Heidelberg - allerdings nur drei 'Bücher der Elemente' - , dazu eine Vorlesung über Musik, und zwar über die Einführungsschrift des Boethius.56 Ähnlich waren die Anforderungen in Erfurt und Greifswald, wo für den Abschluß des örfes-Studiums neben den Auslegungen aller wichtigeren Texten auch Übungen besucht werden mußten. In Erfurt wurden - ähnlich wie in Krakau und Leipzig - für Arithmetik und Musik auch die Schriften eines weiteren Philosophen des 14. Jahrhunderts genutzt, und zwar von Johannes de Muris (Jean de Meurs).57 Im Laufe der weiteren Entwicklung kam es im Lehrplan des Quadriviums zu keinen grundlegenden Neuerungen. Gelegentlich kamen neue Lehrbücher dazu, etwa in Erfurt der 'Parvulus philosophie naturalis' des Bartholomäus Arnoldi von Usingen vom Ende des 15. Jahrhunderts, der noch 1541 als Grundlage für das Studium im Bereich der Naturphiloso58

phie nachgedruckt wurde, oder in Köln die aus dem Lehrbetrieb der Universität erwachsenen "Kopulate", thomistisch geprägte Zusammenfassungen der aristotelischen Lehren, die parallel zum Vorlesungszyklus gedruckt wurden.59 Denn obwohl die Formen der Lehrveranstaltungen variierten, blieb der Aristotelismus weiterhin prägend. So wurden z. B. in Ingolstadt schon 1476 die "großen" Vorlesungen an der Artistenfakultät in gewissem Sinne zu einem System von Kursen verbunden und 1515 bei einer Fakultätsreform zeitweilig in die Bursen verlegt, doch orientierten sie sich weiterhin an den aristotelischen Schriften, zunächst auf der Basis älterer Kommentare, seit 1515 auf Grundlage der vom Ingolstädter Magister Johann Eck vorgelegten Erläuterungen.60 In Ingolstadt und an anderen jungen Universitäten wie Tübingen wurden um 1500 zudem Repetitorien eingeführt, die "Resumtionen", die den Prüfungskandidaten erlaubten, im letzten halben Jahr vor dem Examen den Prüfungsstoff noch einmal durchzugehen. In Tübingen wurde 1524 ein detaillierter Stundenplan angelegt, der der Wiederholung der Fächer und der aristotelischen Schriften bestimmte Stunden zuwies. Der erste Teil der Naturphilosophie wurde danach z. B. morgens um sieben behandelt, die 'Physik' und 'De caelo' nachmittags um zwei.61

56 Bianco [Anm. 23], 1, S. 126 u. S. 130; zur Boethius-Rezeption vgl. Erich Meuthen, Die alte Universität (Kölner Universitätsgeschichte 1). Köln, Wien 1988, S. 115. 57 Kadenbach, Philosophie [Anm. 26], S. 163; Kosegarten [Anm. 24], Bd. 1, S. 310; Statuta [Anm. 20], S. xiii; Zarncke [Anm. 54], S. 311; zur weiten Verbreitung der musica Muris s. Lorenz [Anm. 9], S. 222; Seifert [Anm. 9], S. 210; zu Johannes de Muris s. u. a. Crombie [Anm. 42], S. 92 u. S. 182; Pedersen [Anm. 47], S. 326f. Allgemein s. Gerhard Pietzsch, Zur Pflege der Musik an den deutschen Universitäten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Hildesheim, New York 1971. 58 Kleineidam [Anm. 26], Bd. 2, S. 162. 59 Erich Meuthen, Die arter-Fakultät der alten Kölner Universität. In: Zimmermann [Anm. 23], S. 366-93, hier S. 388f. 60 Seifert, Statutengeschichte, S.158f. u. Anm.58; Astronomen und Mathematiker blieben in der aristotelisch geprägten Artistenfakultät weiterhin am Rande. 61 Johannes Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen 1477-1537. 2 Bde. Stuttgart 1927-1929, Bd. 1, S. 113, und Bd. 2, S. 39*-40*; zur resumptio vgl. Seifert [Anm. 9], S. 206.

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Die Statuten der Mainzer Artistenfakultät von 1535 machen die Kontinuität des Unterrichts in den Fächern des Quadriviums exemplarisch deutlich. 62 Für den Erwerb des Bakkalaureats war im letzten Semester vor der Prüfung eine ordentliche Vorlesung zur aristotelischen 'Physik' zu besuchen; dazu kamen Vorlesungen über Arithmetik, Astronomie und Musik, erstere auf der Grundlage der 'Arithmetik' des Johannes de Muris und von 'De sphaera'. Bis zum Magisterexamen mußten die Scholaren dann über alle aristotelischen Schriften zur Naturphilosophie - auch über die biologischen - gehört haben, die mit Ausnahme der 'Parva naturalia' alle Gegenstand ordentlicher Vorlesungen waren. Dies war in der Geometrie durch Veranstaltungen über die ersten drei 'Bücher der Elemente' des Euklid zu ergänzen, in Astronomie durch die 'Theorica Planetarum' des Wiener Magisters Georg Peurbach aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die unter anderem auch in Krakau die älteren Lehrbücher verdrängt hatte. 63 Eine wichtige Neuerung war allein die Aufnahme der Geographie, die der Geometrie angeschlossen war. Im jährlichen Wechsel mit Euklid sollte dafür die Schrift 'De situ orbis' des spätantiken Geographen Dionysios Periegetes herangezogen werden, die in Mainz wahrscheinlich in der 1498/99 gedruckten lateinischen Übersetzung des Antonius Beccaria benutzt wurde. 64 Angesichts der Mängel des Werks und des nach der Entdeckung Amerikas im Umbruch begriffenen Weltbilds läßt sich die Aufnahme dieses Texts wohl vor allem durch seine literarischen Qualitäten erklären. Ähnlich wie in der Astronomie wurden auf dieser Grundlage bestenfalls traditionelle Inhalte vermittelt. 6 5 Weitere Fächer, die aus den Statuten der mitteleuropäischen Universitäten erkennbar werden, waren im Fall der Wiener Artistenfakultät 1389 allein die Bereiche der Moralphilosophie und der Metaphysik als Teile des Korpus der aristotelischen Schriften. 66 Beide fehlen bezeichnenderweise in den Anforderungen an einen Bakkalar: Sie wurden offenbar als zu schwer für Anfänger empfunden. Wer jedoch den Magistergrad anstrebte, mußte sowohl 62 Steiner [Anm. 34], S. 391f., S. 423-27, S. 438, S. 440-49 u. S 453-60; Text der Statuten ebd., S. 564f. u. S. 580f. 63 Zu Peurbach s. u. a. Helmuth Grössing, Humanistische Naturwissenschaft. Zur Geschichte der Wiener mathematischen Schulen des 15. und 16. Jahrhunderts (Saecula spiritualia 8). Baden-Baden 1983, S. 79-116; C. Doris Hellman u. N. M . Swerdlow, Peurbach, Georg. In: Dictionary of Scientific Biography. Bd. 15 (1978), S. 473-79; Bauer [Anm. 9], S. 256f.; sowie die Literatur bei Walsh [Anm. 10], S. 23, Anm. 10. - Zur Rezeption in Krakau am Ausgang des 15. Jahrhunderts vgl. Aleksander Birkenmajer, L'Université de Cracovie centre international d'enseignement astronomique à la fin du moyen âge. In: Actes du V i l l e Congrès International d'Histoire des Sciences. Bd. 1, Florenz-Paris 1957, S. 359-63, hier S. 361; allgemein vgl. North [Anm. 8], S. 319. 64 Incipit und Nachweis der Übersetzung bei Lynn Thorndike u. Pearl Kibre (Bearb.), A Catalogue of Incipits of Mediaeval Scientific Writings in Latin. 2. Aufl. Cambridge, M A 1963, Sp. 1565. 65 In der Astronomie waren z. B. die Vorstellungen des Kopernikus trotz einer gewissen Verbreitung seines 'Commentariolus' (vgl. Jürgen Hamel, Nicolaus Copernicus. Leben, Werk und Wirkung. Heidelberg usw. 1994, S. 144-50) noch nicht bekannt geworden; Grundlage waren vielmehr weiterhin die bereits von der Scholastik genutzten Texte. 66 Lhotsky [Anm. 10], S. 243, S. 253 u. S. 255 (auch in den "privaten" Disputationen der Magister); Metaphysik und Moralphilosophie werden als eigene Disziplinen in den Regelungen über die Disputationen der Magister faßbar.

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über die (Nikomachische) 'Ethik', die 'Politik' und die pseudo-aristotelische 'Ökonomik' als auch über die 'Metaphysik' des Aristoteles Vorlesungen gehört haben. Zum Lehrangebot im Bereich der Moralphilosophie zählte in gewissem Sinne auch 'De consolatione philosophiae' des Boethius,67 über das regulär gelesen wurde. Die eigenständige Stellung von Moralphilosophie und Metaphysik ergibt sich für Wien aus den Bestimmungen über die Disputation von Magistern untereinander, die so etwas wie einen Fächerkanon der Artistenfakultät definieren. 68 Logik, Mathematik und Naturphilosophie als den zentralen Bereichen der artes werden dabei - wie auch sonst üblich69 - Moralphilosophie und Metaphysik gegenübergestellt. Ähnlich war die Lage an den anderen Universitäten. In Heidelberg und Köln zählten um 1400 die 'Ethik' und die 'Metaphysik' des Aristoteles zu den Gegenständen der ordentlichen Vorlesungen, ebenso um 1460 in Greifswald, und in Heidelberg und Greifswald sollten die Kandidaten für das Lizentiat zusätzlich über 'Politik' und 'Ökonomik' hören, sofern dazu Veranstaltungen angeboten wurden. Die künftigen Greifswalder Magister sollten überdies 70

an Übungen zur 'Ethik' und 'Metaphysik' teilgenommen haben. In Erfurt wurde um 1400 - nach den Aufzeichnungen des Amplonius - die Moralphilosophie auf der Grundlage von Literal- und Quaestionenkommentaren der Philosophen des 14. Jahrhunderts, Walter Burleys, Alberts von Sachsen und Richard Kilvingtons, gelehrt.71 Von einer ähnlichen Praxis kann auch an anderen Universitäten ausgegangen werden. 72 Diese älteren Auslegungen wurden dann - wie im Fall der aristotelischen Schriften zur Naturphilosophie - um 1500 vielerorts durch jüngere Kommentare ersetzt. Insbesondere die Moralphilosophie unterlag dabei den Einflüssen des Humanismus. Während sie in Ingolstadt zusammen mit der Metaphysik kurzzeitig zugunsten einer verstärkten Rhetorik aus dem Lehrplan genommen, dann aber wieder aufgenommen wurde und durch einen von zwei Lehrstühlen in der Philosophie ver67 Zweisprachige Ausgabe: Boethius, Trost der Philosophie. Hrsg. u. übers, von Ernst Gegenschatz, Olaf Gigon, Zürich 1969 (Neudruck München 1981). 68 Lhotsky [Anm. 10], S. 257. 69 In den Greifswalder Statuten wird z.B. zunächst, für das Bakkalaureat, zwischen loyca, rethorica, phisica und astronomía unterschieden, dann, für das Lizentiat, zwischen loyca, philosophia naturalis, philosophia moralis (beide im Text fälschlich als phisica ...), mathematica und metaphisica; vgl. Kosegarten [Anm. 24], 1, S. 309f. Zu älteren Vorbildern s. Lorenz [Anm. 9], S. 212; zum Autbau in Erfurt und Köln s. Kadenbach, Philosophie [Anm. 26], S. 158. 70 Urkundenbuch [Anm. 21], 1, S. 33 u. S. 38; Bianco [Anm. 23], Bd. 1, S. 126 und 130; Kosegarten [Anm. 24], Bd. 1, S. 310. 71 Kadenbach, Philosophie [Anm. 26], S. 159; zu den Texten vgl. u. a. Georg Heidingsfelder, Albert von Sachsen. Sein Lebensgang und sein Kommentar zur Nikomachischen Ethik (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 22, 3-4). Münster 1921; Georg Wieland, The reception and Interpretation of Aristotle's Ethics. In: Kretzmann u. a. [Anm. 4], S. 657-72, hier S. 666f. 72 Zur Orientierung der Ethik-Vorlesung von Paul von Würzen in Krakau an Johannes Buridan und anderen vgl. Mieczystaw Markowski, Albert und der Albertismus in Krakau. In: Albert Zimmermann (Hg.), Albert der Große. Seine Zeit, sein Werk, seine Wirkung (Miscellanea Mediaevalia 14). Berlin, N e w York 1981, S. 177-92, hier S. 178f. Zur 'Ethik' im Lehrplan der Artistenfakultäten allgemein vgl. Michael [Anm. 23], 2, S. 868f.

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treten war, 73 wurde sie in Mainz an die Fächer des Triviums angebunden, als Erzbischof Berthold von Henneberg 1501 den Humanisten Johannes Rhagius Aesticampianus auf eine von ihm besoldete Lektur für Rhetorik und Moralphilosophie an der Mainzer Artistenfakultät berief. 74 Diese Einheit löste sich zwar nach dem Weggang von Rhagius 1506 an die neugegründete Universität Frankfurt an der Oder wieder auf, denn die Statuten der Artistenfakultät von 1535 nennen einen Lehrstuhl für Rhetorik und eine Lektur für Ethik.75 Doch blieb die Moralphilosophie Teil des Triviums, in das mit Poetik und Geschichte andere "neue" Fächer integriert wurden, auf die schon hingewiesen worden ist. Dieser Durchgang durch die Statuten einiger mitteleuropäischer Universitäten konnte angesichts der Fülle der Probleme und des Materials nur unvollständige Eindrücke vermitteln und mußte zumeist bei formalen Anforderungen stehenbleiben, ohne näher auf die Studienwirklichkeit einzugehen. Es ist jedoch deutlich geworden, daß auch die Lehrpläne der mitteleuropäischen Artistenfakultäten - wie schon die in Paris und Oxford 76 - den einzelnen artes zunächst die jeweiligen aristotelischen Schriften zuwiesen und sie dann um die "Fächer" der Moralphilosophie und der Metaphysik ergänzten. Unterschiede ergaben sich unter anderem in bezug auf die jeweils zugrundegelegten mittelalterlichen Autoren. In einigen Fällen wurden z. B. Kommentare von Pariser, Oxforder und Prager Magistern ausdrücklich als Ergänzung zu den aristotelischen Texten aufgenommen, abhängig von der Ausrichtung der Universität auf via antiqua oder via moderna. Anders als dies einmal für das westliche Europa konstatiert wurde, 77 führte die Ausbreitung des Humanismus dann zu weiteren Änderungen im Lehrplan. So fanden andere Lehrschriften Eingang in die artes, und es kam zu Ergänzungen des Fächerkanons durch Poetik, Geschichte und Geographie, ohne daß das grundlegende Schema aufgegeben wurde. Die Entwicklungen im Lehrplan der spätmittelalterlichen Universitäten zeigen insgesamt die Anpassungsfähigkeit des spätantiken Modells der "Sieben Freien Künste", das so auch an den Universitäten der Neuzeit fortwirkte.

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Seifert [Anm. 3], S. 158-60 mit Anm. 61. Steiner [Anm. 34], S. 404f. Steiner [Anm. 34], S. 408. Zu Oxford vgl. u. a. (nach Statuten von 1431, die die gesamte aristotelische Naturphilosophie unter dem Fach "Astronomie" subsumieren) Leff [Anm. 8], S. 146; zu Paris vgl. u. a. (mit Hinweis auf die Statuten von 1366 und 1452) Lorenz [Anm. 9], S. 227f.

77 Weisheipl [Anm. 8], S. 213: "The main tentative conclusion I wish to suggest is that the faculty of arts had nothing to do with the revival of humanism in the 15th and later centuries ...". Vgl. dagegen Alan B. Cobban, The Medieval English Universities. Oxford and Cambridge to c.1500. Aidershot 1988, S. 243-56, mit deutlichen Hinweisen auf frühe humanistische Tendenzen an beiden Universitäten.

Björn R. Tammen und Frank Hentschel Divisio musicae und auditus im frühen 14. Jahrhundert Ausgangspunkt dieses Beitrags ist eine Schnitzerei des frühen 14. Jahrhunderts am Chorgestühl des Kölner Domes, welche die musica thematisiert. Deren Analyse überschreitet die Grenzen zwischen Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie. Das Bildprogramm bedient sich mehrerer musikbezogener Motive, die zu einem Ganzen verkettet sind. Mit der Methode der Ikonographie im PANOFSKYschen Sinne ist eine Annäherung bis zu einer gewissen Grenze möglich. Für einzelne Motive lassen sich durchaus Vergleichsbeispiele anführen, so daß deren Interpretation durch die Typengeschichte abgesichert ist.1 Das Bildprogramm als solches und ein Einzelmotiv wie die Glocke am Ohr eines Schuljungen sind jedoch einzigartig. Nun wäre es verfehlt, einen einzigen Text als Erklärungsschlüssel suchen zu wollen;2 wohl aber erlauben es Quellen der Artistenfakultät, die Bedeutung des Gehörs zu rekonstruieren und damit die Schnitzerei in das Denken jener Zeit einzuordnen. Dies führt zu zwei Teilen, deren erster den ikonographischen Aspekten (Björn R. Tammen), deren zweiter den im engeren Sinne musiktheoretischen Aspekten (Frank Hentschel) gilt. Nun gehörte die musica theorica dem örtes-Curriculum an, das um 1300 von aristotelischen Schriften und Denkmustern geprägt war. Die Interpretation muß von daher auf wissenschaftstheoretische Texte ausgreifen, die der unvoreingenommene Leser hier nicht unbedingt erwarten würde. 1. Das Bild der Musik am Chorgestühl des Kölner Domes (1308/11): Ein ikonographisches Zeugnis der Differenzierung des Faches3 Die relevanten Schnitzereien befinden sich an der vorderen nordöstlichen Abschlußwange des Chorgestühls des Kölner Domes (1308/11),4 die den Aufgang von der Vorder- zur Hin-

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Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. In: Ekkehard Kaemmerling (Hg.), Ikonographie und Ikonologie. Theorien - Entwicklung - Probleme (Bildende Kunst als Zeichensystem 1). 4. Aufl. Köln 1987, S. 207-225, bes. S. 223. - Zur Methodik der Musikikonographie vgl. zuletzt Tilman Seebass, Musikikonographie. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2., neubearb. Ausgabe [nachfolgend: MGG 2 ]. Bd. 6 (1997), Sp. 13191343 mit Literatur. In der Verabsolutierung des Textes sieht Beat Brenk, Der Concepteur und sein Adressat - Oder: Von der Verhüllung der Botschaft. In: Joachim Heinzle (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 431-450 ein Grundproblem der ikonographischen Methode: "Programme können nicht wie Einzelbilder mit einem einzigen Text gedeutet werden, und die Frage, ob überhaupt Texte Programme inspiriert haben, bleibt ohne verbindliche Antwort" (S. 432). Der folgende Teilbeitrag von Björn R. Tammen.

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terreihe der Nordseite begleitet (nachfolgend: Wange NB). Der linke Hauptvierpaß der Ostseite zeigt einen bärtigen Gelehrten, auf dessen Knien ein geöffnetes Buch liegt, und einen Schuljungen im Diakonsgewand, der dem Klang zweier Handglocken lauscht (Abb. 1). Beide sitzen auf einer gemeinsamen Bank. Die zwischen den zwei bekrönenden Maßwerkbaldachinen verbleibende Fläche wird von einem Glockenspiel ausgefüllt. Ein Hammer, mit dem der Gelehrte im ursprünglichen Zustand eine der drei Glocken anschlug, ist heute verloren, jedoch auf älteren Photographien dokumentiert.5 Zwei unterhalb der Schulszene angeordnete Nebenvierpässe nehmen Darstellungen von Groteskwesen auf. Das in der Achse des Gelehrten plazierte Geschöpf musiziert auf der Citole, einem im 13. und 14. Jahrhundert weit verbreiteten Zupfinstrument; 6 dem Schuljungen korrespondiert ein Mischwesen, das zwei Handglocken schwingt. Die westliche Seite zeigt eine auf einer chiffrenartig angedeuteten Bank thronende Fiedlerin (Abb. 2). Sowohl die Vorhangdraperie als auch das im unteren Zwickel plazierte Hündchen unterstreichen ihre höfische Erscheinung. Zu Füßen der Fiedlerin kauert ein tonsurierter Geistlicher, der in einem Buch zu lesen oder Eintragungen vorzunehmen scheint. Diese Schnitzerei ist Teil der vorderen Reliefebene und erfüllt formal die Funktion eines der Abschlußwange vorgeblendeten Handstützknaufes. Der Versuch, anhand einer Schnitzerei ein musiktheoretisches Konzept zu rekonstruieren, muß sich der medialen Möglichkeiten und Grenzen bewußt sein. Das Bildwerk vermag eine Diskussion unterschiedlicher Argumente oder Denktraditionen nicht zu erbringen; es kann jedoch durch die Kennzeichnung der Personen und ihrer Attribute, durch räumliche Über- und Unterordnung, durch Größe, Sichtbarkeit und andere formale Strategien Wertungen vornehmen, die einer verbalen Aussage nicht nachstehen müssen. Auf die Darstellun-

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D i e Abbildungen, auf die im folgenden verwiesen wird, befinden sich im Anhang zu diesem Beitrag. - A l s grundlegende kunsthistorische Monographie vgl. Ulrike Bergmann, Das Chorgestühl des Kölner Domes (Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Jb. 1986/87). 2 Bde., N e u s s 1987 (m. Lit. u. Abb.). Dank dendrochronologischer Untersuchungen ist das Gestühl sicher datiert, vgl. Ernst Hollstein, Jahresringchronologien aus dem Chorgestühl im Kölner D o m (mit Nachwort von Arnold Wolff). Kölner Domblatt 26/27 (1967), S. 57-64; Bergmann, Bd. 1, S. 19f.; Karl-Heinz Kreuzberg, Die Konstruktion und andere technologische Aspekte des Chorgestühls im Kölner Dom. Kölner Domblatt 59 (1994), S. 137-176. Katalogartige Erfassung der Musikdarstellungen bei Gottfried Göller, Musikdarstellungen am Chorgestühl des Kölner Domes. In: Heinrich Hüschen (Hg.), Musicae Scientiae Collectanea, Festschrift Karl Gustav Feilerer zum 70. Geburtstag. Köln 1973, S. 161-175. Zum folgenden vgl. auch Björn R. Tammen, Das Chorgestühl des Kölner Domes. Eine Quelle zur Musikikonographie des 14. Jahrhunderts. Mitt. d. Arbeitsgemeinschaft f. rhein. Musikgesch. e. V. 79 (März 1992), S. 151-159; ders., Musikdarstellung und Bildprogramm im Chorraum mittelalterlicher Kirchen. 1100-1500. Diss. Köln 1996/97 (Druck i. Vorb.). Vgl. Arthur Pabst, Kirchenmöbel des Mittelalters und der Neuzeit. Chorgestühle, Kanzeln, Lettner und andere Gegenstände kirchlicher Einrichtung. Frankfurt a. M. 1893, T. 11 (r.). Zur Terminologie vgl. Lawrence Wright, The Medieval Gittern and Citole: A case of mistaken identity. The Galpin Society Journal 30 (1977), S. 8-42.

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gen, die durch keinen Titulus erläutert sind, die Kategorie divisio musicae anzuwenden,7 mag zweierlei suggerieren: wissenssystematische Vollständigkeit und formale Geschlossenheit der bildlichen Umsetzung. Daß der Konzeptor des Kölner Chorgestühls in seiner Einteilung der musica einem vorgefundenen Musiktraktat oder auch nur einem allgemeineren enzyklopädischen Werk gefolgt ist, kann nicht ausgeschlossen werden.8 Auch muß hervorgehoben werden, daß Wange NB keineswegs sämtliche Musikdarstellungen des Gestühls vereint, auch, daß sie der Thematik der Musik nicht restlos vorbehalten ist.9 Betrachtet man den Hauptvierpaß - und hier besonders den wie aus dem Leben gegriffenen Schuljungen - , so möchte man von einer realistisch wiedergegebenen Unterweisung in der Musik als ars liberalis ausgehen. Indes widerspricht der Gelehrte völlig den Erwartungen, die man an einen Lehrer der Domschule stellen würde. Ihn als Kleriker wie zu Füßen der Fiedlerin darzustellen, hätte eigentlich nahegelegen. Sein Äußeres könnte bei einem zeitgenössischen Betrachter Assoziationen an heidnische Gelehrsamkeit wachgerufen haben. Daß eine Szene aus dem "konkreten Erfahrungsbereich" des Kölner Domklerus gemeint sein sollte,10 mit dem Glockenspiel als Werkzeug der angewandten Musiklehre, ist unwahrscheinlich. Das musiktheoretische Hilfs- und Anschauungsmittel schlechthin war im Mittelalter, dank seiner idealen Abbildung von Länge und Zahl, das Monochord." Allein aufgrund gußtechnischer Unwägbarkeiten konnten cymbala nicht in so reiner Stimmung angefertigt werden, als daß sie der Veranschaulichung von Intervallproportionen hätten dienen

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Hier verstanden als musiktheoretisches Einteilungsverfahren, den gesamten Gegenstand oder einen Teilbereich betreffend; vgl. Gerhard Pietzsch, Die Klassifikation der Musik von Boetius [!] bis Ugolino von Orvieto. Halle 1929; Ellen Hickmann, Musica Instrumentalis. Studien zur Klassifikation des Musikinstrumentariums im Mittelalter (Slg. musikwissenschaftl. Abh. 55). Baden-Baden 1971; Heinrich Hüschen, Die 'musica instrumentalis' in den Musikklassifikationen des Altertums und des Mittelalters. In: Anke Bingmann u. a. (Hgg.), Studien zur Instrumentalmusik. Lothar Hoffmann-Erbrecht z. 60. Geburtstag (Frankfurter Beitr. z. Musikwiss. 20). Tutzing 1988, S. 3345. 8 Der Begriff "Konzeptor" ist durch mittelalterliche Quellen nicht belegt. Hierunter verstehe ich im Anschluß an Beat Brenk [Anm. 2] den für Auswahl und Anordnung der Motive verantwortlichen Kleriker. 9 Eine analoge Unterrichtssituation, die im rechten Hauptvierpaß dargestellt ist, könnte den zu einem korrekten Verständnis und Vortrag der liturgischen Texte unabdingbaren Lateinkenntnissen gelten. Zur Frage eines übergeordneten artes-Zyklus vgl. Heribert Reiners, Die rheinischen Chorgestühle der Frühgotik. Ein Kapitel der Rezeption der Gotik in Deutschland (Studien z. dt. Kunstgesch. 113). Straßburg 1909, S. 62f.; Jutta Tezmen-Siegel, Die Darstellung der Septem artes liberales in der bildenden Kunst als Rezeption der Lehrplangeschichte (tuduv-Studien: Reihe Kunstgesch. 14). München 1985, S. 219 u. S. 231; Bergmann [Anm. 4], Bd. 2, S. 36f. u. S. 82f. 10 Bergmann [Anm. 4], Bd. 1, S. 36. Vgl. auch dies., Das Chorgestühl (Meisterwerke d. Kölner Domes 3). Köln 1995, S. 37: "ein jugendlicher Diakon übt mit seinem alten Lehrer das Glockenspiel". 11 Vgl. Joseph Smits van Waesberghe, Musikerziehung im Mittelalter (Musikgeschichte in Bildern III, 3). Leipzig 1969, S. 33 u. S. 82-90.

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können. Alles andere hieße, ein Attribut von zweifelhafter Realität als Realie des Schulbetriebs mißzuverstehen. Als Sinnbild geordneter und gottgefälliger Tonhöhenbeziehungen entwickelte sich das Glockenspiel zu einem zentralen Attribut nicht nur der Davids-, sondern auch der MusicaIkonographie. Wurde König David bis zum 12. Jahrhundert zumeist mit einem Saiteninstrument dargestellt, so betätigte er sich in den die Darstellungskonventionen der Folgezeit prägenden französischen Psalterhandschriften des 13. Jahrhunderts oftmals in eigener Person am Glockenspiel. Diese vor allem für die ExM/tate-Initialen (Ps 80) charakteristische Ikonographie scheint sich am Bildtypus der Frau Musica mit attributivem Glockenspiel zu orientieren. 12 Vermutlich in Anspielung auf die 'Schmiedelegende' konnte das Glockenspiel auch als Attribut des Pythagoras fungieren. Der Konzeptor des Kölner Chorgestühls hat es - ikonographisch ungewöhnlich - in den Kontext eines Unterrichtsbildes integriert. Die Beschränkung auf nur drei Glöckchen läßt sich vordergründig mit der Enge der Schnitzfläche erklären, die eine größere Anzahl nur um den Preis übermäßiger Verkleinerung der Bildzeichen erlaubt hätte. 13 Eine für die Intervallehre relevante Zahlenprogression ist anhand der Glockenabmessungen nicht zu ermitteln, jedoch sollte man dies von einer Schnitzerei auch nicht erwarten. Bereits die von links nach rechts abnehmende Größe vermittelt ein anschauliches Bild von der auf Zahlenproportionen basierenden Musiktheorie - der fundamentalen und in zahlreichen Traktaten zur Mensur von Monochord, Orgelpfeifen und Glocken abgehandelten Verbindung von numerus und sonus.'4 Einiges spricht dafür, daß mit der Dreizahl auf die Trias der vollkommenen Konsonanzen Oktav (1:2), Quint (2:3) und Quart (3:4) angespielt werden sollte.15 Als zweites, nicht weniger wichtiges Attribut verfügt der Gelehrte über ein Buch - die Chiffre für Theorie, ihre Vermittlung in Sprache und Kodifizierbarkeit. Die unnatürliche Krümmung des linken Armes zum Buch deutet darauf hin, daß eine vorgefundene Bildvorla-

12 Vgl. Genette Foster, The Iconology of Musical Instruments and Musical Performance in Thirteenth-Century French Manuscript Illuminations. Ph. D. diss. City Univ. of New York 1977, S. 103: "close symbolic association of David and Musica"; Tilman Seebass, Lady Music and her protégés: from musical allegory to musicians' portraits. Musica disciplina 42 (1988), S. 23-61, hier S. 26; Martin van Schaik, The Harp in the Middle Ages. The Symbolism of a Musical Instrument. Amsterdam, Atlanta 1992, S. 108 u. S. 136-141. 13 Zur Größe mittelalterlicher cymbala vgl. Joseph Smits van Waesberghe, Cymbala. Beils in the Middle A g e s (Studies and Documents 1). Rom 1951, bes. S. 17. 14 Vgl. Klaus-Jürgen Sachs, Die Rolle der Mensura von Monochord, Orgelpfeifen und Glocken in der mittelalterlichen Ars Musica. In: Albert Zimmermann (Hg.), Mensura. Maß, Zahl und Zahlensymbolik im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 16). 2 Bde. Berlin 1984, hier: Bd. 2 , S. 459475; Eva Hirtler, Die Musik als scientia mathematica von der Spätantike bis zum Barock (Europäische Hochschulschriften X X X V I , 137). Frankfurt a. M . 1995. 15 Auch die Chartreser Frau Musica, dargestellt am Südwestportal der Kathedrale (ca. 1145/55), bedient als primäres Attribut ein dreiteiliges Glockenspiel. Psalterium, Rebec und Monochord sind als weitere Werkzeuge der musica instrumentalis beigeordnet; vgl. Heinrich Besseler, D i e Musik des Mittelalters und der Renaissance (Hb. d. Musikwiss. 9). Potsdam 1931, T. 6.

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ge nachträglich erweitert wurde; zumindest im Kontext der Davidsminiaturen war ein Buch nicht vorgesehen.16 Die zwei Handglocken des Schuljungen wirken auf den ersten Blick redundant: Hätte dieser nicht den Kopf zum Glockenspiel als akustischer Vorgabe des Lehrmeisters neigen können? Dem Gedanken der Unterweisung wäre eine solche Bildfindung sicher adäquater gewesen, und doch wird mit den Handglocken ein neuartiges, auch musiktheoretisch relevantes Moment in das Unterrichtsbild eingebracht: In der Tätigkeit des Läutens und Lauschens entsteht ein Bild der Sinneswahrnehmung, die sich komplementär zum rationalen Wissen um die zahlhaften Grundlagen der Musik zu verhalten scheint. Das Verhältnis von sensus und ratio war ein wichtiges Thema der Musiktheorie, beginnend mit ihrer ausführlichen Diskussion in den Einführungskapiteln der 'Institutio musicae' des Boethius. Ohne hier dem zweiten Teil des Beitrags (Frank Hentschel) vorgreifen zu wollen, seien zwei Fragen in den Raum gestellt: Wird auditus in den Prozeß der Erlangung von Wissen integriert? Bringt das Bildprogramm womöglich eine seit Boethius geläufige Charakterisierung des Gehörs als eines der ratio untergeordneten famulus zum Ausdruck?17 Wie jeder Musiktheoretiker, so mußte auch der Konzeptor beider Verhältnis in eine Balance bringen. Lehrer und Schüler sitzen gleichberechtigt nebeneinander. Man hätte anders verfahren, hätte allein dem Gelehrten den großen Vierpaß zuweisen und den Schuljungen unterordnen können. Das Nebeneinander von Handglocken und Glockenspiel wirkt wie ein Fortschreiten vom einzelnen Klang, der lediglich das Gehör stimuliert, zur Systematik geordneter Tonhöhenbeziehungen. Die Wahl einer Unterrichtssituation mit Repräsentanten zweier verschiedener Lebensalter erlaubt es schließlich, das Verhältnis von sensus und ratio temporär auszulegen. Aus welchen Quellen sich diese Bildfindung speist, ob in direkter Auseinandersetzung mit Boethius oder in Übernahme aktueller musiktheoretischer Überlegungen, gepaart mit Anregungen der zeitgenössischen Aristotelesdiskussion um die Relevanz der experientia für die Erkenntnis, ist schwer zu entscheiden. In ikonographischer Hinsicht hat der Konzeptor jedenfalls Neuland beschritten: Die sensus-ratio-Thematik spielte in den Illustrationen musiktheoretischer Werke keine Rolle; dabei ist die Neigung des Kopfes zur Schallquelle eine der ältesten mimo-gestischen Ausdrucksformen der Hörwahrnehmung überhaupt.18 Die Wahl von (Hand-)Glocken findet eine naheliegende Erklärung in der Bedeutung gerade dieses Signalinstruments im klerikalen Lebensraum. Eine konkrete Hörerfahrung im Rahmen

16 Exultate-lnitia\en zeigen David fast ausnahmslos mit zwei Hämmern (vgl. Foster [Anm. 12], S. 14) - selbst dann, wenn lediglich eine Glocke dargestellt ist. 17 Boethius, De institutione musica I, 9. Hrsg. von G. Friedlein. Leipzig 1867, S. 196: ut quasi oboediens quidem famulusque sit sensus, iudex vero atque imperans ratio. 18 Elizabeth Sears, The Iconography of Auditory Perception in the Early Middle Ages: On Psalm Illustration and Psalm Exegesis. In: Charles Burnett, Michael Fend u. Penelope Gouk (Hgg.), The Second Sense. Studies in Hearing and Musical Judgement from Antiquity to the Seventeenth Century (Warburg Institute Surveys and Studies 22). London 1991, S. 19-42.

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der Liturgie war beispielsweise das zur eucharistischen Wandlung vollzogene Läuten einer Glocke durch den Ministranten.19 Wenden wir uns der Gegenwelt musizierender Groteskwesen zu. Ein parodistischer Bezug des glockenschwingenden Wesens auf den Schuljungen steht außer Frage: Ist jener mit verhalten lauschendem Gesichtsausdruck wiedergegeben, so lassen die ausgreifenden Armbewegungen der Chimäre auf schrilles Gebimmel schließen. Letztlich wird mit dieser Darstellung die apotropäische Wirksamkeit des "tönenden Erzes" persifliert. Die Autorität des Lehrmeisters findet demgegenüber in einem Mischwesen mit Citole ein Echo. Bezeichnen20

derweise trägt es eine Kopfbedeckung mit heidnischen Konnotationen. Der durch Flügelhelm als Götterbote gekennzeichnete Merkur galt im Mittelalter als ein inventor der Musik, als Erfinder von Syrinx und Lyra. Mit einem "Pseudo-Merkur" in der Achse des Gelehrten und der auf den Schuljungen zielenden Glockenparodie wird die Hauptszene trefflich kommentiert. Die Aufteilung der Schnitzfläche ist wörtlich zu verstehen: Das Empfehlenswerte ist im oberen, das Verwerfliche im unteren Bereich dargestellt.21 Einen Schlüssel zum Verständnis bietet die seit der Mitte des 9. Jahrhunderts im musiktheoretischen Schrifttum belegte Gegenüberstellung von musicus und cantor. Guido von Arezzo hat in den Anfangsversen seiner 'Regulae rhythmicae' (nach 1024/25) den ohne rationale Fundierung musizierenden cantor als ein Tier (bestia) diffamiert. 22 In dieser Polemik mag eine der Wurzeln für das Bildmotiv musizierender Mischwesen liegen, in welchem Spielmann und Tier in eins gesetzt werden. 23 In der im Unterricht vermittelten Wissenschaft und im Gegensatz zwischen musici und cantores erschöpft sich die an der Kölner Gestühlswange entworfene divisio musicae keineswegs. An der Westseite wird das Gesamtbild um eine zusätzliche Dimension erweitert. Vordergründig scheint es, als werde ein in Schriftstudien vertiefter Geistlicher durch weltliche Instrumentalmusik, die eine junge Frau auf der Fiedel ausübt,24 abgelenkt. Das folgende 19 Als frühe Darstellung dieser Praxis vgl. eine Federzeichnung im 'Reuner Musterbuch' (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 507 [ca. 1210/20], f. 12v: Rainer Haussherr [Hg.], D i e Zeit der Staufer. Geschichte. Kunst. Kultur. 5 Bde. Stuttgart 1977, hier Bd. 2, Abb. 538). 20 In den Marginalien mitunter als Chiffre des Monströsen verselbständigt; zur Funktion des Flügelhelms vgl. Bergmann [Anm. 4], Bd. 2, S. 22f. sowie Michael Camille, The Gothic Idol. Ideology and Image-Making in Medieval Art. Cambridge 1989, S. 103f. 21 Vgl. Katrin Kröll, Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Bildkunst des Mittelalters. In: Katrin Kröll u. Hugo Steger (Hgg.), Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae 26). Freiburg i. Br. 1994, S. 11-105, h i e r S . 46. 22 Guidonis Aretini Regulae rhythmicae. Hrsg. von Joseph Smits van Waesberghe u. Eduard Vetter (Divitiae Musicae Artis A IV). Buren 1985, S. 95. 23 Vgl. Reinhold Hammerstein, Diabolus in Musica. Studien zur Ikonographie der Musik im Mittelalter (Neue Heidelberger Studien z. Musikwiss. 6). Bern, Zürich 1974, S. 66. 24 Fünf Saiten sind an einem relativ aufwendig dekorierten Saitenhalter befestigt. D i e Bauweise mit ovalem Korpus, annähernd geraden Flanken und recht kurzem Hals, der einen Lagenwechsel kaum erlaubt haben dürfte, ist für das 13. und 14. Jh. charakteristisch; vgl. Howard Mayer Brown, The Trecento Fiddle and Its Bridges. Early Music 17 (1989), S. 311-329.

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Detail spricht jedoch für eine Deutung als personifizierte Frau Musica, auch wenn die Hoheitszeichen Krone oder Szepter fehlen: Durch ein Maßwerkfragment, links neben dem Gewand zu erkennen, ist eine Sitzgelegenheit angedeutet - die Thronbank der Personifikation. Zudem handelt es sich bei der Fiedel um das vielseitigste zeitgenössische Musikinstrument überhaupt, folgt man etwa dem Zeugnis des um 1300 in Paris wirkenden Johannes de Grocheio. 25 Der Habitus der Fiedlerin entspricht allerdings einem Stadium der Musica-Ikonographie, das Tilman SEEBASS erst im ausgehenden Trecento lokalisiert: Im frühen und hohen Mittelalter weitgehend den Beschreibungen des Martianus Capella verpflichtet, verlören die aries-Personifikationen schrittweise an Abstraktheit. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts verfüge Frau Musica neben dem Glockenspiel auch über alltägliche Musikinstrumente. Im späten 14. Jahrhundert schließlich werde sie nicht länger als Königin in realitätsferner Allegorie, sondern als hübsches vornehmes Mädchen dargestellt. 26 In Hinblick auf den zusammengekauerten Geistlichen zu Füßen der Fiedlerin 27 spricht vieles für eine Verbindung zwischen Musica und begleitender Autoritätsfigur, als deren Prototyp der Chartreser artes-Zyklus gelten kann. Den am Südwestportal der Kathedrale dargestellten Personifikationen der Septem artes liberales, gruppiert um Maria als sedes sapientiae, ist jeweils ein Begleiter beigegeben. Ihre Anwesenheit - mehr optisches Signal denn konkrete inhaltliche Festlegung - verbürgt die Verankerung der artes im Wissen der Anti28

ke. Welche Form von Autorität mag der tonsurierte, mithin verchristlichte Kölner Begleiter vertreten? Diese Frage zu beantworten, setzt voraus, die Kompetenzen einer fiedelspielenden Frau Musica festzulegen. Wörtlich verstanden ein Zeichen für Fiedelspiel, könnte die Fiedel den gesamten Bereich der Instrumentalmusik repräsentieren, wenn nicht musica instrumentalis schlechthin, unter Einschluß auch der Vokalmusik. Unter dieser Voreinstellung läßt 2Q sich der Bezug zwischen Fiedel und Buch als Aufzeichnung von Instrumentalmusik deuten. Einer alternativen Betrachtungsweise, welche die Beziehung zwischen beiden 25 Die Quellenhandschriften zum Musiktraktat des Johannes de Grocheio. Hrsg. von Ernst Rohloff. Leipzig 1972, S. 134-136. 26 Seebass [Anm. 12], S. 32. 27 Vgl. auch Willi Weyres, Empirie und Intuition. Bemerkungen zu zwei Mönchsdarstellungen am Chorgestühl des Kölner Domes. Kölner Domblatt 40 (1975), S. 213-216. 28 Vgl. Jochen Kronjäger, Berühmte Griechen und Römer als Begleiter der Musen und der Artes Liberales in Bildzyklen des 2. bis 14. Jahrhunderts. Diss. Marburg 1973, S. 24-26 u. S. 168-175 (Anm. 185-198). 29 Deren Kodifizierung bezeugt als erster Musiktheoretiker überhaupt Johannes de Grocheio um 1300 mit Überlegungen zu Besonderheiten im modus describendi (Rohloff [Anm. 25], S. 128); vgl. auch Christopher Page, Johannes de Grocheio on secular music: a corrected text and a new translation. Plainsong & Mediaeval Music 2 (1993), S. 17-41, hier S. 21. Erste gesicherte Aufzeichnungen liegen seit dem ausgehenden 13. Jh. vor, vgl. Christiane Schima, Estampie. In: Hwb. d. musikalischen Terminologie. (Loseblattsammlung, Lfg. 1994); dies., Die Estampie. Untersuchungen anhand der überlieferten Denkmäler und zeitgenössischen Erwähnungen. Nebst einer Edition aller Musikbeispiele und Texte zur Estampie. Amsterdam 1995; Lorenz Welker, Estampie. In: MGG 2 . Bd. 3 (1995), Sp. 161-171; Ludwig Finscher, Instrumentalmusik. In: MGG 2 . Bd. 4 (1996), Sp. 873-911.

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Attributen in umgekehrter Richtung beschreibt, gebe ich allerdings den Vorzug: Im Buch, dessen Sachwalter ein Kleriker ist, sind die theoretischen Grundlagen der durch die Fiedlerin verkörperten Musik festgehalten. Nach diesen Vorschriften musiziert sie, ohne hierzu eines Notenblattes zu bedürfen. Chiffrenartig signalisiert das Buch die Theoriefahigkeit dieser Art von Musik. Als Hort kodifizierter Regeln gedeutet, gewinnt das Buch in Relation zur Fiedlerin womöglich eine ähnliche Bedeutung wie das Buch des Gelehrten in bezug auf die vorschriftliche Sinneserfahrung des Schuljungen. Damit ist ein Kernproblem der divisio musicae des Kölner Chorgestühls berührt, die heikle Frage nach dem Verhältnis von Vorder- und Rückseite. Eine Reduktion auf die einfache Formel "Theorie gegen Praxis" - erstere vermittelt im kirchlichen Unterricht, letztere in seculo praktiziert - wäre unzulässig, wo doch bereits in der Schulszene das Monopol der ratio gebrochen wird. Eine gewisse Hilfestellung zur Klärung des Problems bietet die Eröffnungsminiatur zum enzyklopädischen 'Livre dou Trésor' des Brunetto Latini (1210-95) 30

in einer um 1300 entstandenen südfranzösischen Handschrift: Unter den weit ausgebreiteten Armen der philosophia entfaltet sich in dreimal sieben Bildfeldern eine divisio scientiarum. Die Beschreibung der Philosophie durch Martianus Capella mit den auf einer siebensprossigen Leiter angeordneten artes liberales wird zu einer Art "Eskaladierwand" verdreifacht. 31 Zwei Kammern bezieht die Musik in diesem imaginären Lehrgebäude. In der mittleren Spalte findet man sie an zweitoberster Stelle als eine der Septem artes liberales {musique): In cathedra thront der Lehrmeister - sein Buch trägt den erläuternden Hinweis maistre - , vor ihm sitzen einige Schüler. Die linke Spalte enthält an der dritten Position von unten ein Bildfeld mit der Rubrik harperie. Es zeigt einen thronenden Harfenisten und einen stehenden Fiedler. Damit sehen wir uns einer Facette der musica konfrontiert, die seit jeher außerhalb der quadrivialen Disziplin unter dem Primat der Arithmetik stand und über die sich - anders als im Falle der geistlichen Vokalmusik - nicht die schützende Hand der Liturgie legte. Die übrigen in der linken Spalte vereinten Fächer lassen ein gewisses Licht auf diese außerhalb des Quadriviums bestehende Instrumentalmusik fallen: Unterhalb der harperie sind Malerei (peinterie) und Schreibkunst (escriture) dargestellt, darüber Theologie (logique [!]), Kirchenrecht (decres), Medizin (fisique) und weltliches Recht (lois). Zwischen zwei handwerklich-künstlerischen Betätigungen und den höheren Fakultäten lokalisiert, 30 London, The British Library, Ms. Add. 30024, f. l v ; vgl. Michael Evans, Allegorical women and practical men: The iconography of the artes reconsidered. In: Derek Baker (Hg.), Médiéval women, dedicated and presented to Professor Roselind M. T. Hill (Studies in Church History, Subsidia 1). Oxford 1978, S. 305-329, hier T. 1 (nach S. 308); Karl-August Wirth, Von mittelalterlichen Bildern und Lehrfiguren im Dienste der Schule und des Unterrichts. In: Bernd Moeller, Hans Patze u. Karl Stackmann (Hgg.), Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Abh. d. Akad. d. Wiss. i. Göttingen, Philolog.-histor. Kl., F. 3, Nr. 137). Göttingen 1983, S. 256-370, Abb. 36. 31 Vgl. Wirth [Anm. 30], S. 334f.; Horizontalverbindungen zwischen den Disziplinen sind nicht zu erkennen. Insbesondere gilt dies für die Musik, deren zwei Ausprägungen in unterschiedlichen Stockwerken untergebracht wurden; vgl. Evans [Anm. 30], S. 326.

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scheint es sich bei harperie um eine Form angewandten Wissens zu handeln, das allerdings von den in der rechten Spalte zusammen mit Alchemie (nigromance)

und "schwarzer

dargestellten artes mechanicae bewußt getrennt wurde.

32

Magie"

Da man in letzteren

spätestens seit ihrer Systematisierung im 'Didascalicon' des Hugo von St. Viktor produktive und zugleich theoriefähige Disziplinen gesehen hat,33 sollte man den Abstand zur Instrumentalmusik nicht überbewerten. 34 Etwa zur gleichen Zeit, um 1300 in Paris, beschrieb Johannes de Grocheio die Tätigkeit eines guten Fiedelspielers als Handwerk. 35 Zwei Jahrzehnte später formierten sich am selben Ort die Spielleute zu einer Zunft und deklarierten sich zu bons ouvriers.36

Handwerkliche Fundierung scheint eine Voraussetzung für die Theoriefä-

higkeit von Instrumentalmusik, letztlich auch für ihre Aufzeichnung, gewesen zu sein. Nur findet diese, als klangliches Phänomen denn doch zu sehr mit der quadrivialen musica verschwistert, keinen Platz unter den artes mechanicae,

mit denen sie ansonsten eng verbunden

ist. Auch der Kölner Konzeptor dürfte eine theoriefähige instrumentale Praxis von der quadrivialen Musik unterschieden haben. Hierfür wählte er eine Fiedelspielerin als weibliche Personifikation und beglaubigte sie durch eine klerikale Autoritätsfigur. Darüber hinaus be-

32 Zur Bestimmung der Darstellungsinhalte vgl. Wirth [Anm. 30], S. 335f. 33 Vgl. Nicola Senger, Der Ort der "Kunst" im Didascalicon des Hugo von St. Viktor. In: Günther Binding u. Andreas Speer (Hgg.), Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 53-75. 34 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf eine Illustration zur aristotelischen 'Ethik' in der Übersetzung durch Nicole Oresme in einer Handschrift von 1372 (Den Haag, Rijksmuseum Meermanno-Westreenianum, Ms. 10.D.1, f. 110r.). In ungewöhnlicher Ikonographie wird hier Instrumentalmusik einer theoriefähigen art (frz.) zugeordnet. Unter den Darstellungen der fünf "Grundhaltungen des Intellekts" zu Buch VI.l (science, art, prudence, entendement, sapience) sticht bereits aufgrund der Massierung der Attribute die personifizierte art ins Auge. Mit Schürze und Kopftuch im Gewand der werktätigen Frau wiedergegeben, präsentiert sie den Spinnrocken in der linken und die Harfe in der rechten Hand. Schwere körperliche Arbeit ist demgegenüber an die zwei Nebenfiguren eines Schafhirten und eines Landarbeiters delegiert. Vgl. Rineke Nieuwstraten, De intellectuele deugden. Ars, en het vrouwbeeld in de veertiende eeuw. In: Marc Adang u. a. (Hgg.), Met eigen ogen. Opstellen aangeboden door leerlingen en medewerkers aan Hans L. C. Jaffe. Amsterdam 1984, S. 36-47; Ciaire R. Sherman, Imaging Aristotle. Verbal and Visual Representation in Fourteenth-Century France. Berkeley u. a. 1995, bes. S. 123-130 (m. Abb. 34/ 34a). Das Aristotelische ort-Verständnis des Oresme - habit factif avecques vraie raison (zit. nach Nieuwstraten, S. 39; man könnte dies als "produktive Tätigkeit, die Einsicht voraussetzt", umschreiben) - bietet eine weitere Handhabe zur Deutung der Kölner Schnitzerei. Bereits Albertus Magnus hat in seinem 'Ethik'-Kommentar die scientia am Beispiel des Fiedelspiels erläutert; vgl. Christopher Page, Voices and Instruments of the Middle Ages. Instrumental Practice and Songs in France 1100-1300. London 1987, S. 57f. 35 Bonus autem artifex in viella omnem cantum et cantilenam et omnem formam musicalem generaliter introducit...; Rohloff [Anm. 25], S. 136; vgl. auch Page [Anm. 29], S. 31. 36 Vgl. Lawrence Gushee, Two central places: Paris and the French court in the early fourteenth Century. In: Hellmut Kühn u. Peter Nitsche (Hgg.), Bericht über den intern, musikwiss. Kgr. Berlin 1974. Kassel u. a. 1980, S. 131-151; Christopher Page, The Owl and Nightingale. Musical Life and Ideas in France 1100-1300. London 1989, S. 61-69.

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reicherte er die Schulszene um das Glockenspiel und um die Thematik der Sinneswahrnehmung und kontrastierte sie im Geist der musicus-cantor-Dioholovait. Die Frage nach möglichen institutionellen Hintergründen entzieht sich sicherer Beantwortung: Zeugnisse für die zu Beginn des 14. Jahrhunderts an der Kölner Domschule gelehrte musica liegen nicht vor. 37 Und warum überhaupt schmücken diese Musikdarstellungen ein Chorgestühl? Welche Funktion erfüllen sie im Binnenchor der Kathedrale, der nicht Unterrichtsstätte, sondern Vollzugsort der Liturgie ist? Wie läßt sich die Spannung zwischen "wissenschaftlichem" Bildkonzept und "liturgischem" Anbringungsort auflösen? Normative Quellen zur Sitzverteilung der Kölner Domkapitulare haben sich nicht erhalten. Gleichwohl sollte man die Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß der Sitzplatz eines die musica lehrenden oder für ihre Ausübung und Überwachung im liturgischen Alltag verantwortlichen Klerikers - zu denken ist an cantor oder succentor - durch diese Darstellungen ausgezeichnet 38

"

wurde. Vielleicht hat gerade die eingeschränkte Öffentlichkeit des Binnenchores, ein von Darstellungsnormen relativ freier Kommunikationsraum, die ungewöhnliche bildliche Explikation der musica begünstigt, für die man nur einzelne Parallelen, in toto jedoch kein Vorbild finden kann. Die divisio musicae am Chorgestühl des Kölner Domes ist Zeugnis differenzierenden wie synthetisierenden Denkens. Sie überführt die Facetten einer zunehmend komplexen Disziplin in eine sichtbare Ordnungsstruktur. Inwieweit dies insgesamt für das beginnende 14. Jahrhundert charakteristisch ist, kann hier nur angedeutet werden: 1. Um 1300 reflektiert der bereits zitierte Johannes de Grocheio über die Schwierigkeiten, zu einer recta divisio seines Gegenstands zu gelangen. 39 Er kapituliert vor der Aufgabe eines umfassenden Traktates und entwirft stattdessen ein Bild der Musik, wie sie zu seiner Zeit in Paris praktiziert wurde. Innerhalb dieses Mikrokosmos vermag er Bereiche auch der weltlichen Musik in den Blick zu nehmen, an denen Theoretiker vor ihm nicht interessiert waren, und für jede Gattung der simplex musica vel civilis, quam vulgarem musicam appellamus Zielgruppen und Funktionen zu benennen. 40 2. In einem der Anfangskapitel seines zwischen 1321 und 1324/25 verfaßten 'Speculum musicae' (I. 3) sieht sich Jacobus von Lüttich dazu genötigt, den musicus-Begriff, der traditio37 Vgl. allg. Goswin Frenken, Die Kölner Domschule im Mittelalter. In: Erich Kuphal (Hg.), Der Dom zu Köln. Fschr. z. Feier d. 50. Wiederkehr seiner Vollendung [ . . . ] (Veröff. d. Kölner Geschichtsvereins e. V. 5). Köln 1930, S. 235-256. 38 Da sich die im Kölner Domgestühl für Papst und Kaiser reservierten Ehrenplätze am nord- bzw. südöstlichen Ende befanden (vgl. Bergmann [Anm. 4], Bd. 1, S. 50-54 [m. Lit.]), ist denkbar, daß die höchstrangigen Dignitäre in deren Nähe Platz genommen haben. 39 Nobis vero non est facile musicam dividere rede, eo quod in recta divisione membra dividentia debent totam naturam totius divisi evacuare\ Rohloff [Anm. 25], S. 124. 40 Ebd. - Überzeugende Begriffsklärungen bei Doris Stockmann, Musica vulgaris bei Johannes de Grocheio (Grocheo). Berliner Beitr. z. Musikwiss. 25 (1983), S. 3-56, bes. S. 6f. u. S. 21f.; Page [Anm. 29], S. 20f. Vgl. auch Max Haas, Mittelalter. In: MGG 2 . Bd. 6 (1997), Sp. 325-354, hier Sp. 333f. u. Sp. 336.

Divisio

musicae u n d

auditus

93

nellerweise dem Theoretiker vorbehalten war, auszuweiten. Nicht ohne spürbare Reserve läßt Jacobus auch den lediglich ausübenden Instrumentalisten am Begriff des musicus teilhaben. Gemäß Boethius wurde dieser bis dato nach dem Werkzeug benannt, dessen er sich bediente. Adjektivische Zusätze erlauben es nunmehr, einen musicus practicus musicus

speculativus

vel theoreticus

gegenüberzustellen. D e r ideale musicus

und einen

ist zu spekula-

tiver Musikanschauung ebenso wie zu praktischer Ausübung der Musik befähigt. 41 3. Einige Jahrzehnte später, vielleicht um 1400, entfaltet der wenig bekannte Arnulf von Saint-Ghislain eine vierstufige gradus-Lehre.42

Die unterste Ebene völlig ungebildeter can-

tores - dies Arnulfs Oberbegriff - werden in Guidonischer Tradition mit Bildern tierischer Verworfenheit belegt. Das Modell kennt theorieferne Praktiker, die kraft eines naturalis instinctus ihre Hörer einzunehmen vermögen, aber auch praxisferne Theoretiker, die etwa durch einen Stimmfehler an der Ausübung der Musik gehindert werden und die Reichtümer der ars et disciplina

musicalis

an ihre Schüler weitergeben. 4 3 Als besondere Leistung der

zweiten Stufe hebt Arnulf die Befähigung zur Aufzeichnung von Instrumentalmusik hervor. An die Spitze des Systems stellt er - wie Jacobus - jene cantores, die theoretisches Wissen mit der Fähigkeit des Praktikers verbinden. 4 4 In der Pluralität verschiedener Arten der musici bzw. cantores berühren sich die implizite divisio musicae des Kölner Gestühls und die expliziten Konzepte Jacobus' und Arnulfs. Derartige terminologische Differenzierungen führt Erich REIMER auf eine seit dem 13. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit Aristoteles geführte Diskussion über das Verhältnis von Theorie und Praxis zurück. Anders als bei Boethius komme es nunmehr zu einer bloß graduellen Unterscheidung "zwischen rational fundierter und gewohnheitsmäßiger Musikausübung". 4 5 Dem entspreche es, daß seit dem frühen 14. Jahrhundert bei einigen Theoretikern

41 Jacobus Leodiensis, Speculum musicae. Hrsg. von René Bragard (Corpus Scriptorum de Musica 3). 7 Bde. Rom 1955-73, hier: Bd. 1, S. 17-19. Zur Datierung vgl. Max Haas, Studien zur mittelalterlichen Musiklehre I: Eine Übersicht über die Musiklehre im Kontext der Philosophie des 13. und frühen 14. Jahrhunderts. In: Aktuelle Fragen der musikbezogenen Mittelalterforschung (Forum Musicologicum. Basler Beiträge z. Musikwiss. 3). Winterthur 1982, S. 323-456, hier: S. 385-387. 42 Neuedition durch Christopher Page, A Treatise on Musicians from ?c. 1400: The Tractatulus de differentiis et gradibus cantorum by Arnulf de St. Ghislain. Journal of the Royal Musical Association 117 (1992), S. 1-21, bes. S. 15-17. Erich Reimer, Musicus - cantor. In: Hwb. d. musikalischen Terminologie (Loseblattsammlung; Lfg. 1978), S. 10 weist den Traktat pauschal dem 15. Jh. zu. Die zahlreichen Parallelen zu Grocheio und Jacobus, die Page aufzeigt, lassen indes auf eine frühere Entstehung schließen. 43 Page [Anm. 42], S. 16. 44 Dieser eigentlich höchsten Stufe wird eine Subspezies nachgestellt: Sie umfaßt besonders begabte feminae, die u. a. Halbtonschritte in athomos indivisibiles aufzuspalten vermögen; Page [Anm. 42], S. 16. 45 Erich Reimer, Musicus und Cantor. Zur Sozialgeschichte eines musikalischen Lehrstücks. Archiv für Musikwissenschaft 35 (1978), S. 1-32, hier S. 17. Zur Lehre von den genera musicorum im Anschluß an Boethius vgl. auch ders. [Anm. 42], S. 5-8; Walter Salmen, Musiker. In: MGG2. Bd. 6 (1997), Sp. 1213-1258, hier: Sp. 1214.

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die musicus-cantor-Relation nicht länger als "Opposition" sondern als "Inklusion" bestimmt werde. 46 - Vor diesen Hintergrund gestellt, läßt sich eine Brücke zwischen den ikonographischen Besonderheiten der Vorder- und der Rückseite der Kölner Gestühlswange schlagen: Die Aufnahme einer theoriefähigen instrumentalen Praxis und die Wahl einer säkularen Muii'ca-Personifikation, aber auch die Integration der Sinneswahrnehmung in das Gesamtsystem der Theorie scheinen sich gegenseitig zu bedingen.47 Der letztgenannte Aspekt ist im folgenden Teil des Beitrags zu vertiefen. 2. Die Glocke am Ohr: Zwei Fragen an Funktion und Stellung des Gehörs in der mittelalterlichen Musiktheorie48 Der Knabe des Kölner Chorgestühls hält - die Augen ins Leere gerichtet und seinen Lehrer eher ignorierend - eine Handglocke staunend an sein Ohr. Mit dem Staunen aber beginnt 49

nach Aristoteles die Wissenschaft. Daraus leitet sich eine Frage ab: Welche Bedeutung kam dem Gehör im Rahmen der Wissenschaft der Musik des Mittelalters zu? Da sich die Schnitzerei des Chorgestühls auf 1308-11 datieren läßt, hat man sich bei der Annäherung an die Antwort auf diese Frage insbesondere auf das frühe 14. Jahrhundert sowie die zugehörigen Traditionsstränge, die sich aus dem 13. Jahrhundert herleiten, zu beziehen. Zum Ausgangspunkt wird die Artistenfakultät gewählt, die den Ort für die Musik als Wissenschaft darstellte.50 Als geistesgeschichtlich eine der wichtigsten Lehranstalten um 1300 wird die Pariser Universität im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. Es wird demnach von dem Lehrbereich her gefragt, auf den sich die Schnitzerei zu beziehen scheint. Dieser Lehrbereich ist die musica theorica. Eine historisch mögliche Interpretation, nämlich die, die ein an der Artistenfakultät ausgebildeter Betrachter wohl eingenommen hätte, soll den folgenden Untersuchungen den Weg weisen, weil über den Konzeptor des Chorgestühls nichts bekannt ist. Ziel ist es nicht so sehr, die Autorintention (das konkrete Ziel des Konzeptors) zu interpretieren, als vielmehr einen bestimmten Aspekt des 4 6 Vgl. Reimer [Anm. 42], S. 4f.; ders. [Anm. 45], S. 21f. Zur Problematik der Kategorien "Theorie" und "Praxis" in der mittelalterlichen Musiktheorie vgl. auch Solange Corbin, Musica spéculative et cantus pratique. Le rôle de Saint Augustin dans la transmission des sciences musicales. Cahiers de civilisation médiévale 5 (1962), S. 1-12; Albrecht Riethmüller, Probleme der spekulativen Musiktheorie im Mittelalter. In: Frieder Zaminer (Hg.), Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter (Geschichte der Musiktheorie 3). Darmstadt 1990, S. 163-201, hier: S. 179-182, u. S. 188f.; Haas [Anm. 41], bes. S. 332f. 47 Vgl. auch Klaus-Jürgen Sachs, Boethius and the Judgement of the Ears: A Hidden Challenge in Medieval and Renaissance Music. In: Burnett, Fend u. Gouk (Hgg.) [Anm. 18], S. 169-198, bes. S. 187. Sachs sieht im allmählichen Aufstieg des iudicium aurium und der Neubewertung im Verhältnis von musicus und cantor zwei interdependente Vorgänge. 48 Der folgende Teilbeitrag von Frank Hentschel. 4 9 Met. 982b 11 ff. 50 Hierzu insbesondere Haas [Anm. 41], S. 323-456.

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ideengeschichtlichen Kontextes zu beleuchten, in dem jene Darstellung auftrat und auftreten konnte. Die Bedeutung des Gehörs in der Musiktheorie generell rückt daher in den Vordergrund. Die aufgeworfene Frage mag dem unspezialisierten Leser verwunderlich erscheinen. Das Horchen an einem Instrument, das Lauschen auf den Klang und also die Bedeutung des Gehörs scheinen in der Musiktheorie doch eine wichtige Rolle spielen zu müssen. Aber die Musiktheorie als eine mathematische Wissenschaft verfuhr im Mittelalter weitgehend ohne Einbeziehung des Gehörs. Boethius' 'Institutio música', deren für das Mittelalter grundlegende Bedeutung unmöglich überschätzt werden kann,51 trifft in dieser Hinsicht einige deutliche Feststellungen. Zwar läßt sich eine Reihe von Aussagen finden, die die Unentbehrlichkeit des Gehörs und seines Gegenstandes benennen: Ohne Gehör (auditus) gäbe es überhaupt keine Auseinandersetzung mit Klang (nulla disputatio de vocibus), und ohne Klang (sonus) existierte keine Konsonanz (consonantia),52 die im Mittelalter den Hauptgegenstand der música theorica darstellte. Doch für Boethius ist es wichtiger festzustellen, daß dem Urteil der Vernunft mehr zu trauen sei. Ein ganzes Kapitel richtet sich darauf: "Nicht jedes Urteil ist dem Sinnesvermögen zuzubilligen, sondern vielmehr ist der Vernunft zu trauen". 53 Ebenso erklärt Boethius später, daß die Ohren die Konsonanzen zwar beurteilend unterscheiden, die Vernunft jedoch die genaue Bestimmung übernimmt. 54 Überdies demonstriert die Boethianische Musikschrift in ihrem argumentativen Verlauf den Vorrang der arithmetischen - also vernunftgegründeten - Ausrichtung.55 Unterstrichen wird diese methodische Stellungnahme durch die Hervorhebung der Täuschbarkeit der Sinne (error sensuum) sowie ihrer Abhängigkeit von der jeweiligen wahrnehmenden Person (nec ómnibus eadem sentiendi vis), dem jeweiligen Zeitpunkt der Wahrnehmung (nec eidem homini Semper aequalis) und durch den Hinweis auf die materiell bedingte Veränderlichkeit von Instrumenten (saepe multa varietas atque inconstantia).56 Diesen Eigenschaften, die die Zuverlässig-

51 Hierzu z. B. Michael Bernhard, Überlieferung und Fortleben der antiken lateinischen Musiktheorie im Mittelalter. In: Frieder Zaminer (Hg.), Rezeption des antiken Fachs (Geschichte der Musiktheorie 3). Darmstadt 1990, S. 7-35, hier S. 24-31. 52 Boethius, D e institutione musica, I, 9; Friedlein [Anm. 17], S. 195, 18t\; I, 3, S. 189, 15f.; im folgenden zitiert als "Mus.".

53 Non omne iudicium dandum esse sensibus sed amplius rationi esse credendum... (Mus. I, 9, S. 195, 14f.). 54 Mus. I, 28, S. 220, 2f. 55 Als Beispiel diene die Einschätzung der Undezime: Mus. II, 27. Aus rein arithmetischen Gründen zählt ihr Zahlenverhältnis nicht zu den Konsonanzen; dazu: Barbara Münxelhaus, Pythagoras musicus. Zur Rezeption der pythagoreischen Musiktheorie als quadrivialer Wissenschaft im lateinischen Mittelalter (Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik 19). Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 88-94; André Barbera, The Consonant Eleventh and the Expansion of the Musical Tetractys. A Study of Ancient Pythagoreism. Journal of Music Theory 28 (1984), S. 191-223. 56 Mus. I, 9, S. 196, 11-15; I, 9, S. 195, 23-25; I, 10, S. 196, 19-28.

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Hentschel

keit von Sinnesvermögen und -gegenständ gleichermaßen eingrenzen, wird kontrastierend die Unfehlbarkeit der Vernunft gegenübergestellt. 5 7 V o n hier aus wird die Frage verständlicher, weil das Horchen an einer Glocke vor dies e m Hintergrund nicht selbstverständlich als repräsentativ für die Musiktheorie angesehen werden kann. Der V e r w e i s auf das Hören läßt sich von zwei Seiten her näher beleuchten; deshalb möchte ich die oben aufgeworfene Frage in zwei Richtungen hin präzisieren: 1. Inwieweit sind das Ohr oder das Hören selbst Gegenstand der Musiktheorie u m 1300? 2. W e l c h e wissenschaftliche Funktion kommt d e m Gehör für die Musiktheorie u m 1300 zu? 2 . 1 Das Ohr als Gegenstand der Musik: musica und

perspectiva

D i e Musiktheorie des Mittelalters untersucht auf arithmetische Weise Konsonanzen und deren Eigenschaften; 5 8 die perspectiva

untersucht auf geometrische Weise Lichtstrahlen und

deren Eigenschaften. 5 9 V o n daher liegt eine Gegenüberstellung von Optik und Musiktheorie nahe. Es scheint, als sei die theoretische Wissenschaft von der Musik im Mittelalter unserer "Akustik" verwandt. 6 0 Eine Parallelität von Musik und Optik ist auch dadurch vorgegeben, daß - neben Astronomie - beide Wissenschaften nach Aristoteles als scientiae h. als Wissenschaften zwischen Mathematik und Naturwissenschaft galten.

62

mediae,61

d.

D a aber zur

Optik neben der geometrischen Untersuchung des Lichtes auch die physiologische Betrach-

57 ... postrema vero perfectio agnotionisque vis in ratione consistit, quae certis regulis sese tenens nunquam ullo errore prolabitur (Mus. I, 9, S. 195, 21-23). - Zur Problematik des musikalischen Urteils bei Boethius und seiner Rezeption im Mittelalter Sachs [Anm. 47]. 58 Im 13. Jh. nennt der anonyme 'Accessus Philosophorum' die consonantia explizit als den Gegenstand der Musiktheorie: Subiectum musice, sicut dictum est, est discreta quantitas ad aliquid relata, sicut diät Boethius, uel consonantia. Et hoc forte conuenientius dicitur... ; 'Accessus Philosophorum'. Hrsg. von Claude Lafleur. In: ders., Quatre Introductions à la Philosophie au XIII e Siècle. Textes critiques et Études historiques (Université de Montréal. Publications de l'Institut d'Études Médiévales 23). Montréal, Paris 1988, S. 203. 59 Zur Optik: David C. Lindberg, Studies in the History of Medieval Optics. London 1983; ders., Theories of Vision from Al-Kindi to Kepler. Chicago, London 1976; Graziella Federici Vescovini, Studi sulla prospettiva medievale (Università di Torino. Pubblicazioni della facoltà di lettere e filosofia 16). Turin 1965. 60 Vgl. auch Elzbieta Witkowska-Zaremba, System Pitagorejski W Vjeciv Jana De Mûris. Roczniki Teologiczno-Kanoniczne 34/7 (1987), S. 285-292. In der englischen Zusammenfassung spricht die Autorin von "a kind of 'normative acoustic' which investigated the reality of sound with the help of mathematics" (S. 292). 61 Locus classicus ist Aristoteles, 'Physik' II, 2, insbesondere 194a7f. ; siehe hierzu Sir Thomas Heath, Mathematics in Aristotle. Oxford 1970, S. 11-16 mit weiteren Stellenangaben, u. a. aus der 'Zweiten Analytik' und der 'Metaphysik'. 62 Vgl. zu den scientiae mediae im 13. Jh. z. B. Jean Gagné, Du quadrivium aux scientiae mediae. In: Arts libéraux et Philosophie au Moyen Age (Actes du Quatrième Congrès International de Philosophie Médiévale). Montréal, Paris 1969, S. 975-986; Carlos A. Ribeiro do Nascimento, 'Le statut épistémologique des sciences intermédiaires' selon S. Thomas d'Aquin. La Science de la nature. Théorie et pratique. Cahiers d'Études Médiévales 2 (1974), S. 33-95.

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tung der Arten (modi) des Sehens gehört, ist es legitim, die Frage aufzuwerfen, ob zur Musik nicht ebenso die Arten des Hörens zählen. Diese Frage ist nicht anachronistisch, sondern wird indirekt von Autoren des 13. bzw. 14. Jahrhunderts wie Radulphus Brito63 und Robert Kilwardby selbst gestellt. Der Text, auf den sich der vorliegende Beitrag vor allem stützt, ist Robert Kilwardbys 'De ortu scientiarum', ein umfassendes Werk der Wissenschaftsklassifikation, das um die Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben wurde. 64 Die Frage, die Robert aufwirft, lautet: Warum ist die Optik nicht als fünfte mathematische Wissenschaft anzusehen? 65 Der Hintergrund dieser Fragestellung ist der des Quadriviums. Musiktheorie, Optik und Astronomie galten, wie gesagt, in der aristotelischen Wissenschaftstheorie als scientiae mediae. Zu dieser Klassifikation stand das Modell des Quadriviums indessen quer; denn von den genannten Disziplinen gehörten ihm nur Astronomie und Musiktheorie an. Daraus resultiert die Frage, warum die Optik diesen Kanon nicht um eine fünfte Wissenschaft erweitert. Robert Kilwardbys Antwort ist unmißverständlich: Die Optik ist deshalb nicht als fünfte mathematische Wissenschaft anzusehen, weil sie um vieles mehr eine naturbezogene als eine mathematische Wissenschaft ist (vere naturalis scientia et multo verius quam mathematica).66 Ihre Gegenstände sind natürlich; zu ihnen zählen der Gesichtssinn (visus), das Sichtbare (visibilia) und die Sehstrahlen (radii visuales).67 Robert betont die Naturbezogenheit der perspectiva (passiones naturales de his subiectis), ihr Verhaftetsein an der sinnlich wahrnehmbaren Materie (cum materia et motu physicof8 und ihre Beziehung zur wirkenden 69

und Wirkungen empfangenden Seele des Menschen (als des Sehenden). Die Optik schneidet damit Fragen an, die in den Themenbereich von Aristoteles' naturphilosophischer

63 'Quaestiones mathematicae', Paris, Bibl. Nat., Lat. 16609, Bruxelles, Bibl. Royale, 3540-47. Vgl. den Werkkatalog in: Radulphus Brito, Quaestiones super Priscianum Minorem. Hrsg. von Heinz W. Enders u. Jan Pinborg. Stuttgart-Bad Canstatt 1980, Bd. 1, S. 19. Der dort befindliche, auf John E. Murdoch zurückgehende Hinweis auf ein drittes Ms; Brit. Libr., Harley 1 (S. 19, Anm. 13) trifft leider nicht zu. Dieser Text ist mit jenen 'Quaestiones' verwandt, jedoch nicht identisch. Eine Edition der 'Quaestiones mathematicae' ist in Köln derzeit in Arbeit. Der Prolog liegt jetzt vor bei Olga Weijers, La 'disputatio' à la Faculté des arts de Paris (1200-1350 environ) (Studia Artistarum, Etudes sur la Faculté des arts dans les Universités médiévales 2). Turnhout 1995, S. 161-167. In der Handschrift Bruxelles, Bibl. Royale, 3540-47, findet sich die entsprechende quaestio auf den Folien 9r-10v. In die Frage nach der Anzahl der mathematischen Wissenschaften ist die Frage integriert, warum die Optik nicht dazu gezählt wird, so daß es fünf mathematische Wissenschaften gäbe statt nur der vier quadrivialen. 64 Robert Kilwardby, D e ortu scientiarum (Auetores Britannici Medii Aevi IV). Hrsg. von Albert G. Judy Oxford 1976 (im folgenden zitiert als "De ortu"); zur Datierung: S. XVI. 65 D e ortu, S. 48, Nr. 116. 66 D e ortu, S. 48, Nr. 117. 67 D e ortu, S. 48, Nr. 117. 68 D e ortu, S. 49, Nr. 119. 69 Quod enim visibile per lumen sibi inditum irradiet et moveat visum sic vel sie, et quod visus ab eo patitur sie vel sie, naturalis actio vel passio est, causata ex actione et passione primarum qualitatum activarum etpassivarum, et ipsaposterior. De ortu, S. 49, Nr. 119.

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Björn R. Tammen und Frank Hentschel 70

Schrift 'De anima' gehören. Die für die lateinische Aristoteles-Rezeption so wichtigen Begriffe actio und passio sind für eine solche Naturbezogenheit zentral. Darin liegt etwa ihr Unterschied zur Astronomie, die vom Physisch-Materiellen und von Bewegung vollständig abstrahiert (abstrahens ab omni materiaphysica et motu physico).71 Um den Argumentationsgang im einzelnen nachvollziehen zu können, ist zunächst der 72 Begriff der subalternado zu erläutern. Es handelt sich dabei um einen wissenschaftstheoretischen Begriff, der auf die 'Zweiten Analytiken' des Aristoteles zurückgeht. Das hierdurch bezeichnete Konzept regelt das Verhältnis zweier Wissenschaften zueinander durch ein hierarchisches Ordnungs- und Abhängigkeitsgefüge. Von einem Subalternationsverhältnis redet man unter zwei Bedingungen: 1. wenn die untergeordnete oder abhängige Wissenschaft sich der Beweisverfahren der übergeordneten Wissenschaft bedient und 2. wenn der Gegenstand der untergeordneten Wissenschaft in dem Gegenstand der übergeordneten Wissenschaft vollständig enthalten ist, d. h. ein Teil von ihm ist (subiectum sub subiecto).73 Robert fragt nun, ob dieses Verhältnis für die Wissenschaften Geometrie und Optik zutrifft. Zunächst ist einleuchtend, daß das Beweisverfahren tatsächlich in beiden Wissenschaften dasselbe ist, denn die Optik argumentiert geometrisch,74 weil sie Lichtstrahlen wie Linien untersucht. Doch die zweite Bedingung trifft nicht zu, denn zur geraden Linie der Geometrie, an der die perspectiva teilhat, gehört weder der modus videndi, also die Art des Sehens, noch der Gesichtssinn oder das Sichtbare.75 Die spezifisch physiologischen, physikalischen und psychologischen Momente finden in dem Subalternationsverhältnis von Geometrie und Optik demnach keinen Platz. Es ist deshalb unvollständig. Kommen wir hier auf unsere Frage zurück. Sie stellt sich nunmehr folgendermaßen dar: Warum tritt im Falle von Arithmetik und Musiktheorie diese Unvollständigkeit des Subalternationsverhältnisses nicht auf? Was ist der Gegenstand der Musik, so daß sie der Arithmetik nach Art des Subalternationsverhältnisses untergeordnet werden kann? Nach Robert handelt die - im Gegensatz zu música mundana und música humana - hörbare Musik vom "harmonisch gezählten Klang" oder von der "harmonischen Zahl der Klänge". 76 In dieser Formulierung ist die Hinzufügung harmonice bedeutsam. Sie erscheint in der ersten Formulierung als Adverb zum Zählen und in der anderen als Adjektiv zur Zahl und kennzeichnet 70 Vgl. ... ista quae est de modo videndi pertineat ad illam partem naturalis scientiae quae est de anima...; De ortu, S. 48f., Nr. 118. 71 De ortu, S. 49, Nr. 119. 72 Hierzu auch Ribeiro do Nascimento [Anm. 62] und Walter R. Laird, Robert Grosseteste on the subaltérnate sciences. Traditio 43 (1987), S. 147-169. 73 De ortu, S. 42, Nr. 96. 74 Sed quaeret aliquis cum duo praecipue concurrant ad veram subalternationem, ut praedictum est, scilicet quod descendat demonstratio et quod subiectum contineatur sub subiecto, cum primum istorum evidenter appareat in geometría et perspectiva, an similiter sit ibi secundum ?; De ortu, S. 49, Nr. 120. 75 De ortu, S. 49, Nr. 121. 76 ...et ideo posuerunt recte musicam audibilem esse de sono harmonice numéralo vel de numero sonorum harmonico; De ortu, S. 52, Nr. 128. - Vgl. hierzu auch Hirtler [Anm. 14], S. 68-71.

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demnach in beiden Fällen den mathematischen Aspekt genauer. Das "harmonisch" präzisiert also, welcher Ausschnitt aus dem Gegenstand der Arithmetik herausgeschnitten wird, um den Gegenstand der Musiktheorie zu bilden, der mit denselben Beweisverfahren untersucht wird wie der Gegenstand der Arithmetik. Robert Kilwardby kritisiert die Definition des Gegenstandes der Musik durch Boethius, indem er dessen Bestimmung der aufeinander bezogenen Zahlen, von denen es unendlich viele gibt, durch Spezifizierung einschränkt, nämlich auf die, die eine Konsonanz aus Klängen erzeugen.77 So gelangt er lediglich zu den bereits von Boethius etablierten fünf Verhältnissen. Es handelt sich dabei um Oktave, Duodezime und Doppeloktave, Quarte und Quin78

te. Nur diesen fünf consonarüiae kommt jenes Adverbium der "harmonisch" aufeinander bezogenen Zahlen zu. 79 Eine Begründung, warum gerade die mit diesen Konsonanzen gegebenen Zahlenverhältnisse Konsonanzen bilden, bleibt Robert schuldig. Interessanterweise wäre er dann nämlich gezwungen gewesen, naturphilosophische Fragen aufzuwerfen, die sich mit dem Gehör und der Art des Hörens zu befassen hätten. Dann aber wäre das Subalternationsverhältnis von Arithmetik und Musiktheorie ebenso unvollkommen wie das zwischen Geometrie und Optik; die Musiktheorie könnte dann nicht länger als eine der vier quadrivialen Wissenschaften fungieren. Tatsächlich aber liegt ein uneingeschränktes Subaltemationsverhältnis vor. Denn die beiden oben genannten Eigenschaften der Subalternation treffen in ihrem Verhältnis zur arithmetica zu: Der Gegenstand der Musik ist in dem der Arithmetik enthalten, und die Musik bedient sich der Beweisform der Arithmetik (sub subiecto arithmeticae et descendit demonstratio arithmetica in ipsam).i0 Mit der Bestimmung des Gegenstandes der musica theorica hängt die Erkenntnis der Eigenart der Zahl zusammen, die der Musiker im Gegensatz zum Arithmetiker betrachtet: Sie ist im Sinne eines Gegenstandes des Physikers konkret (numerus concretus cum rebus naturalibus), nicht abstrakt wie die Zahl des Arithmetikers, und an ihr haftet Materialität 81 (compositior eo [sc. numero arithmeticae] et materialior). Dennoch ist die Musiktheorie keine Naturwissenschaft. Deshalb fragt Robert, inwiefern sie eine mathematische Wissenschaft darstellt, da ihr Gegenstand doch ein natürlicher ist (subiectum sit naturale). Denn die musica audibilis behandelt Klänge (soni) und Stimmen (voces), die natürliche Dinge (res 82

naturales) sind. Der entscheidende Punkt nun ist, daß der Musiktheoretiker in seinem Fach etwas betrachtet, das dem vorangeht (praecedere natura), was der Physiker betrachtet,

77 Deortu, S. 55f., Nr. 138f. 78 De ortu, S. 56, Nr. 139. 79 De ortu, S. 56, Nr. 139. - Vgl. Hirtler [Anm. 14], S. 69: "... der Begriff des numerus harmonicus entsteht unter diesen Bedingungen aus der Einsicht, daß das sinnlich als angenehm erfahrbare Zusammenklingen bei bestimmten Intervallen mit bestimmten Zahlenverhältnissen korreliert". 80 Deortu, S. 57f. t Nr. 145. 81 De ortu, S. 57, Nr. 143. 82 De ortu, S. 57, Nr. 144.

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nämlich Zahlen bzw. Zahlenverhältnisse. Die Klänge betrachtet der Musiktheoretiker deshalb nicht als Physiker, sondern als Mathematiker, d. h. er betrachtet Naturdinge, res naturales, aber nicht als solche (non ut naturales).84 Der Physiker nämlich betrachtet das Veränderliche, die Bewegung der Luft bei der Erzeugung und Übertragung des Schalls und die Beeinflussung des Gehörs. Bewirken und Empfangen von Wirkungen (passio und actio) stehen somit für den Physiker im Mittelpunkt. Gegenstand der Musik dagegen ist das Wesentliche (essentia) der Stimmen, das man erhält, indem man alles andere von ihnen ausgrenzt. 85 Diese Art der Gliederung des Wissens führt zugleich zu einer Eingrenzung des möglichen Gegenstandes bzw. erst zur Generierung des wissenschaftlichen Gegenstandes. Kann David C. LINDBERG in bezug auf die Optik von einem "physikalisch-mathematischphysiologischen Ansatz" sprechen,86 so müssen wir den der Musiktheorie als (fast) ausschließlich arithmetisch betrachten. Was bedeutet dies nun für die musica, daß ihr Gegenstand zwar eine res naturalis darstellt, diese jedoch nicht als solche betrachtet wird? Was bedeutet es, daß die Zahlen bzw. Zahlenverhältnisse "früher" sind als die Naturdinge? Man wird an ein ontologisches Verhältnis denken: Konsonanzen sind zwar Naturdinge, doch kommt es ihnen "früher" zu, zahlhafte Verhältnisse zu sein. Es scheint zum Wesen der Konsonanzen zu gehören, daß sie Zahlenverhältnisse sind, weshalb es legitim ist, sie auf diese reduziert - abstrahiert - zu betrachten. Roberts Rede von den essentiae der Klänge liefert für diese Interpretation einen Beleg: "Schneide mit dem Verstand also jegliches Tun (actio), Leiden (passio) und jegliche Bewegung heraus, und betrachte das Wesen der Stimmen selbst: So wirst du dort Elemente 87 der Stimmen finden, die bei allen dieselben sind ...". Dies könnte erklären, warum die Optik anders betrachtet wird: Ihre Gegenstände, zu denen doch auch der modus videndi gehört, sind nicht im gleichen Maße ontologisch auf geometrische Größen zurückzuführen. Ein Lichtstrahl ist nicht wesentlich eine geometrische Linie, sondern kann nur durch sie repräsentiert werden. Diese wissenschaftstheoretischen Überlegungen erhalten vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Realität an der Pariser Artistenfakultät des 13. Jahrhunderts Plastizität. Adam POLITZERS großer 'Geschichte der Ohrenheilkunde' kann man entnehmen, daß die

83 D e ortu, S. 58, Nr. 146. - Et quia dicta consideratio musici absolutior est et prior consideratione naturalis, sicut numerus et proportiones numerates rerum priores sunt motu et omnino actione et passione, ideo abstractior est musica quam naturalis scientia, et ideo mathematica est et non naturalis; De ortu, S. 59, Nr. 151. 84 D e ortu, S. 58, Nr. 146. 85 D e ortu, S. 58f., Nr. 147. 86 David C. Lindberg, Von Babylon bis Bestiarium. Die Anfänge des abendländischen Wissens. Stuttgart, Weimar 1994, S. 330. 87 Circumscribe igitur per intellectum omnem istam actionem et passionem et motum, et considera ipsas in se vocum essentias, et invenies illic elementa vocum quae omnibus eadem sunt ...; De ortu, S. 58, Nr. 147; hierzu auch Hirtler [Anm. 14], S. 75f.

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Anatomie des Ohres kaum Gegenstand der Forschung im Mittelalter war. 88 Deshalb gibt es 89

wohl auch keine Abbildungen des Gehörs. In den überlieferten Quellen zur Musiktheorie hätten sie entsprechend auch keinen Platz. Wenn es einen Ort für sie gäbe, dann kämen dafür die Kommentare zur aristotelischen naturphilosophischen Schrift 'De anima' in Frage. 90 Diese Schrift behandelt genau diejenigen Aspekte, die Robert aus der Musik ausgrenzt, weil sie die sinnlich wahrnehmbare Materie, Bewegung und Wirkungen betrachtet. Abbildungen zur Anatomie des Auges dagegen finden sich im Mittelalter zahlreich - und zwar insbesondere in Schriften zur Optik.91 Die erste Frage ist damit beantwortet: Das Ohr ist nicht Gegenstand der Musiktheorie, doch wird diese Tatsache im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Optik von den mathematischen Wissenschaften immerhin unterschwellig reflektiert. 2.2 Das Gehör als Mittel der Wissenschaft Für die Beantwortung der zweiten Frage - welche musikwissenschaftliche Funktion dem Gehör um 1300 zukam - wenden wir uns der 'Musica speculativa' des Johannes de Muris zu, die um 1325 verfaßt wurde. 92 Sie hat die Form einer abbreviatio, einer Kurzfassung der Musikschrift des Boethius und stellt offensichtlich das musiktheoretische Lehrbuch an der 93

"

Artistenfakultät dar. Ihre reiche Uberlieferungslage zeugt von der weiten Verbreitung des Werkes. 94 Die Einleitung der Fassung A richtet ihr Augenmerk auf die Sinnesvermögen. Im Rückgriff auf die 'Nikomachische Ethik' des Aristoteles setzt der Autor Gesichtssinn und Gehör dem Tast- und Geschmackssinn entgegen. Geradezu emphatisch hebt der Text mit einer Aussage an, die einer Inschutznahme der wissenschaftsfähigen Sinne gleichkommt:

88 Stuttgart 1907; Adam Politzer wird nicht müde, in seinen Abschnitten über das Mittelalter (S. 4572) den "trostlosen" Zustand der Anatomie und Heilkunde des Ohres zu beklagen. 89 Eine "erste Abbildung des Hammers und Amboßes und eines Durchschnitts des Gehörorgans" findet sich nach Politzer [Anm. 88], S. 83, bei Andreas Vesalius im Jahr 1543. 90 Eine Orientierung über Inhalt und Rezeption der "akustischen" Abschnitte erhält man bei Michael Wittmann, V o x atque Sonus. Studien zur Rezeption der Aristotelischen Schrift ' D e anima' und ihre Bedeutung für die Musiktheorie (Musikwissenschaftliche Studien 4). Pfaffenweiler 1987. 91 Vgl. zum Auge im Mittelalter: Gudrun Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, 2 Bde. München 1985. Weitere Literatur zu Darstellungen des Auges im Mittelalter findet sich bei Schleusener-Eichholz, S. 44 (Anm. 113). 92 Etwa gleichzeitig sind drei Editionen der 'Musica speculativa' erschienen: Johannes de Muris. Musica Speculativa (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 34). Hrsg. von Christoph Falkenroth. Stuttgart 1992; 'Musica Muris' I Nurt Spekulatywny W Muzykografii Sredniowiecznej (Studia Copernicana 32). Hrsg. von Elzbieta Witkowska-Zaremba. Warschau 1992; Musica speculativa (The Medieval Institute. Musicological Studies 61).Hrsg. von Susan Fast. Ottawa 1994. Im folgenden halte ich mich an den Text von Christoph Falkenroth, zitiert als "Mus. spec.". 93 Haas [Anm. 41], S. 413-415. 94 Siehe die Handschriftenliste in der Edition bei Falkenroth [Anm. 92], S. 40-64.

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Wenn auch die Exzesse tierischer Wollust, durch die Geschmacks- und Tastsinn wegen ihres nicht zügelbaren Dranges die Vernunft niederreißen, nicht ohne Grund getadelt werden - wie es im ersten Buch der Ethik des Aristoteles heißt: 'Die Menge wählt irgend ein bestialisches Leben...' - , so werden deswegen doch nicht Gesichtssinn und Gehör, die dem Verstand durch die Angemessenheit einer schlichteren oder herrlicheren Unterstützung dienen, für geordnete und maßvolle Ergötzlichkeiten verurteilt, wozu Aristoteles im IV. Buch der Ethik bezüglich des gemäßigten Menschen sagt: 'was aber auch immer auf das Heil oder auf die gute Verfassung [hin gerichtet ist], geht gemäßigt und so, wie es sich geziemt, einher', wobei der Gesichtssinn in mancher Hinsicht noch vor dem Gehör gepriesen wird, weil er uns am meisten erkennen läßt und uns viele Unterschiede der Dinge zeigt. 95

Obwohl in dieser Formulierung ethische und erkenntnistheoretische Momente einander durchdringen und die ethischen sogar dominieren, konzentriere ich mich im folgenden auf die erkenntnistheoretischen. Es sind dann zwei Aussagen wichtig: 1. daß Gesichtssinn und Gehör im Gegensatz zu den anderen Sinnesvermögen nicht zu verurteilen seien, da sie dem Verstand dienen, und 2. daß dem Gesichtssinn vor dem Gehör der Vorrang zukommt, da er mehr Unterschiede der Dinge erkennen läßt. Hinter der Vorrangstellung von visus und auditus verbirgt sich eine Sichtweise, die aus Aristoteles hervorgeht und im 13./14. Jahrhundert den Rang einer Communis opinio erhielt. U m sie zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick auf die 'Metaphysik' des Aristoteles werfen, u m sodann deren Kommentare zu konsultieren, so daß wir den Text des Johannes für eine Weile verlassen. "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen", sagt Aristoteles zu Beginn seiner 'Metaphysica' in berühmten Worten. Dies zeige sich an der Liebe zu den Sinnesvermögen - vor allem zu den Augen, die am meisten Unterschiede der Dinge zeigen. 9 6 Nachdem Aristoteles die Wichtigkeit des Erinnerungsvermögens angeschnitten hat, die uns im Augenblick nicht zu interessieren braucht, kommt er auch auf das Gehör zu sprechen, ohne allerdings die Klarheit walten zu lassen, die scholastische Kommentatoren ihren Erläuterungen gewähren: Wer die Fähigkeit zu hören nicht besitzt, ist verständig, ohne

95 Etsi bestialium voluptatum, per quas gustus et tactus suis irrefrenatis impetibus intellectum deiciunt, non immerito vituperentur excessus iuxta illud Aristotelis primo Ethicorum: 'Multi quidem bestialem vitam eligentes [...] ', non propter hoc visus et auditus, qui purioris et amplioris ministerii commoditate intellectui subserviunt, ordinata et moderata damnantur oblectamenta dicente Aristotele IV. Ethicorum de homine temperato quaecumque autem ad sanitatem aut bonam habitudinem existentia prosequitur moderate, ut oportet visu etiam in nonnullo super auditum laudato, eo quod maxime nos cognoscere facit et multas differentias rerum nobis ostendiv, Mus. spec., S. 70.2 - S. 72.1.

96 Omnes homines natura scire desiderant. Signum autem est sensuum dilectio; preter enim et utilitatem propter se ipsos diliguntur, et maxime aliorum qui est per oculos. Non enim solum ut agamus sed nichil agere debentes ipsum videre pre omnibus ut dicam aliis eligimus. Causa autem est quia hie maxime sensuum cognoscere nos facit et multas differentias demonstrat; Aristoteles, Metaphysica. Recensio et Translatio Guillelmi de Moerbeka (Aristoteles Latinus X X V , 3 . 2 ) . Hrsg. von Gudrun Vuillemin-Diem. Leiden, New York, Kòln 1995, S. 11.

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Lernfähigkeit zu besitzen;97 die Bedeutung der Ohren liegt demnach auf dem Gebiet der Lehre. Die Interpretation dieser 'Metaphysik'-Stelle durch mittelalterliche Kommentatoren ge98

schieht zumeist mittels zweier weiterer aristotelischer Schriften: 'De anima' und - vor allem - 'De sensu et sensato'. Aristoteles vertritt hier die Auffassung, der Gesichtssinn sei bezüglich des Notwendigen (für das Lebensnotwendige) und an sich (secundum se) der bessere Sinn, während das Gehör nur bezüglich des Verstandes (Aufnahme sprachlicher Mitteilungen) der bessere Sinn sei, und zwar akzidentell (secundum accidens)." Denn der Gesichtssinn besitze die Fähigkeit, viele Unterschiede und Arten des Vielen (multae differentiae et multimodae) zu zeigen, weil alle Körper farbig seien. Darüber hinaus könne er Allgemeinheiten (communia) wie Größe, Bewegung, Ruhe, Form und Anzahl wahrnehmen; das Gehör dagegen könne nur Unterscheidungen hinsichtlich des Klanges treffen. 100 Seine Bedeutung liege vielmehr in seiner akzidentellen Funktion bezüglich der Klugheit (prudencia). Denn Kenntnis werde durch das (gehörte) Gespräch (sermo audibilis) vermittelt, in dem die Namen als Symbole für etwas fungieren.101 Bei den mittelalterlichen Kommentatoren zeichnet sich eine Communis opinio ab. So unterscheidet Roger Bacon, nachdem er - auf die Frage, welcher Sinn der angenehmste sei 102 die spezifischen Vorteile aller Sinne kurz dargestellt hat, zwischen Gesichtssinn und Gehör, indem er auf ihre charakteristischen Zielrichtungen hinweist: Der Gesichtssinn sei der Anfang der Wissenschaft (scientia) aufgrund seiner Fähigkeit der Entdeckung (per inventionem), das Gehör aufgrund des Empfangens der Lehre 103 (per doctrinara). Ersterem aber komme größeres Ergötzen (delectado) zu als letzterem. Roger Bacon betont also die Freude an der Ursprünglichkeit der durch die Sinne selbst erfahrenen Erkenntnis.104 Dieselbe Unterscheidung trifft Albertus Magnus in seinem 'Metaphysik'-Kommentar (entstanden kurz nach 1262/63),105 indem er jene beiden Sinne als die sensus disciplínales bezeichnet und dem visus die inventio, die Entdeckung, dem auditus die doctrina, also (den 97 Prudentia quidem sunt sine addiscere quecumque sonos audire non potentia sunt; ebda. 98 Zum Gehör: De anima II, 8 (419b4-421a6). Zur Rezeption dieses Textes im 13. Jh.: Wittmann [Anm. 90], 99 Horum autem ipsorum ad necessaria quidem melior est uisus, et secundum se; ad intellectum autem et secundum accidens auditus; Aristoteles, De anima. In: Thomas von Aquin, Sentencia Libri De sensu et sensato (Leonina 45,2). Rom 1985, S. 11.

lOOEbda. lOlEbda. \Q2Quis sensus delectabilior; Roger Bacon, Quaestiones altere supra Libros Prime Philosophie Aristotelis. Hrsg. von Robert Steele. Oxford 1932, F. 11, S. 7. 103Bacon [Anm. 102], S. 8. 104Zum Begriff der experientia bei Roger Bacon zuletzt Jeremiah Hackett, 'Experientia', 'Experimentum' and the Perception of Objects in Space (Roger Bacon). In: Jan A. Aertsen u. Andreas Speer (Hgg.), Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 25). Berlin 1997, S. 101-120. 105Albertus Magnus, Metaphysica. Hrsg. von Bernhard Geyer (Opera Omnia 16). Münster 1960.

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Empfang der) Lehre, zuordnet. Interessant ist, daß der Gesichtssinn insofern hervorgehoben wird, als Albert darauf hinweist, daß die Erkenntnis "aufgrund von Entdeckung" der Lehre vorausgehen müsse, weil diese ohne jene nicht wäre. An derselben Stelle erwähnt Albertus außerdem - wie Roger Bacon, aber ohne Begründung - , daß der Gesichtssinn von größerem Ergötzen sei. 106 Aegidius Romanus, Johannes von Jandun und Johannes Buridanus bestätigen die Konstanz dieser Gedanken bis in spätere Generationen und ins 14. Jahrhundert hinein. Besonders ausführlich geht Aegidius auf die Problematik der Sinne ein. 107 Wiewohl er selbst die referierte Sichtweise insgesamt nicht vollständig akzeptiert, bringt er sie dennoch auf den Punkt: Bezüglich der Erkenntnis kommen dem Gesichtssinn und dem Gehör je besondere Stellungen zu; entsprechend der zweifachen Redeweise hinsichtlich der Erkenntnis, nämlich als einer solchen "aufgrund von Entdeckung" (Gesichtssinn) oder einer solchen "aufgrund von Lehre" (Gehör), werden die beiden Sinne unterschieden. Das Gehör wird hierbei als 108

"im höchsten Maße für die Lehre geeignet" (maxime disciplinabilis) bewertet. Im Hinm blick auf letztere Einschätzung entfaltet Aegidius sogar eine eigene Quaestio. Johannes von Jandun 110 und Johannes Buridanus111 behandeln das Problem weniger umfangreich, bewegen sich prinzipiell jedoch im selben Gedankenfeld. Die Einhelligkeit der Meinungen und das Auftreten jener Aussage der 'Metaphysik' in einer verbreiteten Zitatensammlung, den 'Auctoritates Aristotelis'," 2 deuten daraufhin, daß diese Sichtweise als Allgemeinplatz kursierte. Dies belegt ferner ein anonymer Studienführer (1240-1270), in dem jene Ansicht unproblematisiert aufgenommen wurde. 113 106... nec doctrina fiat, nisi postquam scientia iam generata est in anima docentis, nos autem hic loquamur de primo scientiae generativo: non facimus mentionem de auditu, nec auditus exercitium est adeo delectabile sicut visus . . . ; Geyer [Anm. 105], Lib. I, Tract. I, Cap. 4, S. 7. 107Quaestiones metaphysicales. Venedig 1501 (Neudruck Frankfurt a. M. 1966), f. 6r-8v (quaestiones XII-XVII). 108[Anm. 107], q. XIIII, f. 7r. 109 Utrum solus auditus sit sensus disciplinabilis ita quod habentia auditum sint solum disciplinabilia; [Anm. 107], q. XVII, f. 8r-8v. Aegidius bejaht diese Frage im wesentlichen, indem er sagt, denjenigen Sinnenwesen, die ein Gehör besitzen, sei es eigentümlich, für Lehre empfänglich zu sein (f. 8v): Tunc dico quod auditus est proprie disciplinabilis: unde illud animal quod habet auditum est proprie disciplinabilis. 110Quaeritur circa istam partem Vtrum uisus sit maxime cognoscitiuus; Quaestiones in libros metaphysice. Venedig 1553 (Neudruck Frankfurt a. M. 1966), q. VII, f. 6r-6v. 111 Queritur sexto vtrum sensus visus inter ceteros sensus debeamus magis diligere-, In Metaphysicam Aristotelis Quaestiones. Paris 1588 (Neudruck Frankfurt a. M. 1964), q. VI, f. 6r-6v. WISensus visus multas nobis rerum differentias demonstrat; Auctoritates Aristotelis. Hrsg. von Jacqueline Hamesse. In: dies.. Les Auctoritates Aristotelis. Un Florilège Médiéval. Étude Historique et Édition Critique (Philosophes Médiévaux 17). Louvain 1974, S. 115. 113Hervé le Breton, Philosophia. Hrsg. von Claude Lafleur. In: ders., La 'Philosophia' d'Hervé le Breton, alias Henri le Breton, et le Recueil d'Introductions à la Philosophie du Ms. Oxford, Corpus Christi College 283, deuxième partie. Archives d'Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen A g e 62 (1995), S. 359-442, hier S. 366f.

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Soweit haben wir also gesehen, welche Auffassung sich hinter der Vorrangstellung von Gesichtssinn und Gehör in der Einleitungsphrase der 'Musica speculativa' verbirgt. Aber damit ist der Text des Johannes de Muris noch nicht ausgeschöpft; vielmehr ist auf eine feine, aber entscheidende Differenz aufmerksam zu machen, die aus Implikaten der Schrift einerseits und der Communis opinio andererseits erwächst. Absichtsvoll oder unbewußt hat Johannes de Muris die Bedeutung des aristotelischen Zitats durch den Kontext in seiner Nuancierung tiefgreifend geändert. Kommt in den Kommentaren sowie bei Aristoteles selbst dem Gehör eine besondere Stellung durch die Erkenntnis aufgrund von Lehre zu, so legt Johannes dem Leser nahe, dem Gehör eine unmittelbar auf den Gesichtssinn folgende Rangstellung einzuräumen, ohne die qualitative und funktionale Unterscheidung zwischen Erkenntnis aufgrund von Lehre einerseits und Erkenntnis aufgrund von Entdeckung andererseits zu treffen, die fester Bestandteil der dargestellten Auffassung war. Der Systematisierung der Erkenntnis durch Entdeckung (Gesichtssinn) einerseits und Lehre (Gehör) andererseits, durch die die behandelten scholastischen Kommentatoren den aristotelischen Text klarer gemacht haben, folgt Johannes nicht. Wie wir sehen konnten, stellen auch die meisten der übrigen Autoren Gesichtssinn und Gehör eindeutig an die Spitze. Deshalb sticht die Auffassung des Johannes nicht sogleich als eigenwillig in die Augen. Jener qualitativen und funktionalen Unterscheidung der zwei obersten Sinnesvermögen folgt Johannes jedoch offensichtlich nicht; er unterscheidet sie bloß graduell.114 Damit wird impliziert, daß auch das Gehör der Entdeckung dient. Nun könnte eingewendet werden, Johannes expliziere den Hintergrund der Vorrangstellung von Gesichtssinn und Gehör nicht, weil er gemäß der allgemeinen Sichtweise als selbstverständlich galt. Doch wird die vorangehende Interpretation durch zwei Detailbeobachtungen bekräftigt: Johannes stellt dem eigentlichen Text seiner 'Musica speculativa' aristotelische Grundsätze voran, die den Anfang aller Erkenntnis von der Sinneserfahrung thematisieren. 115 In der Musik wird es sich dabei in erster Linie um gehörsinnliche Erfahrungen handeln. Die Darstellung der Pythagoras-Legende durch Johannes rückt das gehörsinnliche Phänomen viel stärker in den Vordergrund, als dies bei Boethius der Fall ist." 6 In der musica übernimmt offensichtlich das Gehör die Funktion, die dem Gesichtssinn in anderen Wissenschaften zukommt. Weiterhin bestätigt wird diese Interpretation durch Johannes' kurze Zeit zuvor geschriebene 'Notitia artis musicae' (1321). Vielleicht noch aussagekräftiger wird darin das Gehör dem Gesichtssinn ebenbürtig gegenübergestellt - freilich vermittelt durch den Vergleich von Klang mit Licht. Die Tatsache, daß Licht sich kugelförmig von einem Punkt aus gleichmäßig in alle Richtungen ausbreitet, fand in naturphilosophischen und optischen Schriften des 13. Jahrhunderts Erwähnung. So schreibt Robert Grosseteste in seinem Traktat 'De luce seu de inchoatione formarum': "Ich meine, daß das 114... visu etiam in nonnullo super auditum laudato, eo quod maxime nos cognoscere facit et multas dijferentias rerum nobis ostendit; Mus. spec., S. 70.8 -S. 72.1.

115Mus. spec., S. 90f; vgl. auch Haas [Anm. 41], S. 396f., Anm. 343. 116Vgl. Mus., I, 10 mit Mus. spec., S. 92-105

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Licht die erste körperliche Form ist, die manche Körperhaftigkeit nennen. Das Licht nämlich ergießt sich selbst in alle Teile, so daß aus einem Lichtpunkt eine Lichtkugel hervorgeht, wenn nicht etwas Schattiges im Wege steht". 117 Obwohl analoge Beobachtungen nicht dem Bereich der Wissenschaft von der Musik angehören, wie im Zusammenhang mit der ersten Fragestellung erörtert wurde, wendet Johannes de Muris ganz ähnliche Beschreibungsformeln, wie sie Robert für die Lichtausbreitung gewählt hat, nun auf die Stimme an: "Die über eine bestimmte Zeit gemessene, hervorgebrachte Stimme verbreitet sich in der Luft nicht nur gemäß Punkt, Linie oder Oberfläche, sondern körperlich und kugelförmig"; und er macht den Vergleich mit dem Licht explizit: "ganz nach Art einer Kugel wie das Licht im durchscheinenden [Medium], was erhellt, wenn sechs Ohren auf sechs verschiede118

nen Positionen verteilt sind". Zugleich ist hiermit die Eigenschaft des Klanges, des Objektes des Gehörs, angezeigt, durch Sinneserfahrung zur Erkenntnis führen zu können. Mit den sechs (oder drei?) Hörenden (sex aures) an verschiedenen Stellen wird ja nachgerade ein Versuchsaufbau beschrieben. Im Kontext seiner "hauptberuflichen" Tätigkeit als Astronom, die ihn auch dazu brachte, die Wichtigkeit eigener Sinneserfahrung hervorzuheben, 119 erhält dies besonderes Gewicht. Damit ist auch die zweite Frage geklärt. Einer der repräsentativsten Autoren der Musiktheorie des frühen 14. Jahrhunderts - Johannes de Muris - ist sich der wissenschaftlichen Funktion des Gehörs im Rahmen der theoretischen Wissenschaft von der Musik bewußt und hebt sie hervor. Was läßt sich daraus nun, auf den Knaben mit der Handglocke und seinen Lehrer im Kölner Chorgestühl rückblickend, folgern? 1. Relativ sicher auszuschließen ist jedenfalls die Annahme, es könnte sich um einen Hinweis auf die Thematisierung des Gehörs selbst handeln. Das hat die Beantwortung unserer ersten Frage gezeigt. 2. Eine Interpretation der beiden dargestellten Figuren als Repräsentanten für den befehlenden Richter "Vernunft" und seinen gehorchenden Diener "Sinnesvermögen", so wie Boethius die Funktion der beiden Erkenntnisvermögen in einem Vergleich charakterisiert hat, läßt sich in einen historisch spezifischeren Rahmen plazieren: Das Horchen des Knaben 1 nFormam primam corporalem, quam quidam corporeitatem vocant, lucem esse arbitror. Lux enim per se in omnem partem se ipsam diffundit, ita ut a puncto lucis sphaera lucis quamvis magna subito generetur, nisi obsistat umbrosum; Robert Grosseteste, De luce seu de inchoatione formarum. Hrsg. von Ludwig Baur. In: ders., Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste, Bischofs von Lincoln (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und des Mittelalters 9). Münster 1912, S. 51-59, hier S. 51; vgl. auch Johannes Peckham, Perspectiva communis. Hrsg. von David C. Lindberg. Madison 1970, prop. 1.5, S. 70. 118Vojc prolata certo tempore mensurata non solum sefacit in aere secundum punctum aut lineam vel superficiem, sed corporaliter et sphaerice, ad instar sphaere ut lumen in diapha.no, quod patet per sex aures dispositas secundum sex differentias positionis; Johannes de Muris, Notitia artis musicae (Corpus Scriptorum de Musica 17). Hrsg. von Ulrich Michels. O. O. 1972, II, III, 2; S. 71. 119Hierzu Guy Beaujouan, Observation et Calculs astronomiques de Jean de Murs (1321-1344). In: Actes du XIV e Congres international d'histoire des sciences Bd. 2. Tokyo, Kyoto 1974, S. 27-30.

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könnte mit der Akzentverschiebung bei Johannes de Muris in Zusammenhang zu bringen sein, die sich aus der Rezeption der aristotelischen Erkenntnistheorie herleitet: die Einsicht in die wissenschaftliche Notwendigkeit des Gehörs für die Musiktheorie. Der Knabe repräsentiert dann nicht den Empfang der Lehre durch das Gehör - deshalb horcht er auf die Glocke, nicht auf den Lehrer - , sondern das staunende Betrachten des Naturphänomens, das am Anfang der Musiktheorie steht.

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Abbildung 1 Köln, Dom: Chorgestühl (1308/11), Abschlußwange NB (Ostseite, linker Hauptvierpaß mit Nebenvierpässen). Mit freundlicher Genehmigung des Rheinischen Bildarchivs Köln, Nr. 603 758.

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Abbildung 2 Köln, Dom: Chorgestühl (1308/11), Abschlußwange NB (Westseite, Zwickel mit Handstützknauf) Mit freundlicher Genehmigung des Rheinischen Bildarchivs Köln, Nr. 33 355.

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Macht der Sterne oder Miasmen der Erde: Heinrich von Mügeln und Konrad von Megenberg über die Pest von 13481 Anders als die meisten Seuchen und Epidemien, die Europa seit der Antike heimgesucht haben, ist die Pest von 1348 nie aus dem kulturellen Gedächtnis der Moderne verschwunden. Das mag daran liegen, daß sie mit Boccaccio einen Chronisten gefunden hat, der ihr auch jenseits des engeren Kreises der Medizin- und Kulturhistoriker einen Platz im Bewußtsein derer verschaffte, die ursprünglich nichts anderes wollten, als in den Geschichten des 'Decamerone' vergnügliche Unterhaltung zu finden. Es ist jedenfalls auffällig, daß zumeist gerade diese Epidemie herangezogen wird, wenn es darum geht, deutlich zu machen, was drohen könnte, wenn bisher unbekannte oder mutierte Erreger ähnlich günstige Verbreitungswege finden könnten, wie sie die Pest durch Tröpfcheninfektion und Flohbisse zur Verfugung hatte. 2 Ein wenig fühlt sich der Leser an die zur Zeit der Pest häufig erzählte oder gemalte Geschichte von den drei Lebenden und den drei Toten und deren Warnung erinnert: "Was ihr seid, waren wir! Was wir sind, werdet ihr sein!" Die Pest von 1348 ist, scheint es, eine moderne Seuche. Sie ist es in mehrfacher Hinsicht: Ihre Verbreitung ist direkte Auswirkung der ausgedehnten Handelsbeziehungen innerhalb und außerhalb Europas. Im Oktober 1347 durch genuesische Handelsschiffe von der Krim nach Messina eingeschleppt, verbreitet sie sich rasch in Richtung Norden. 3 Im Januar 1348 erreicht sie Venedig und Pisa, im Februar Lucca, im März Florenz, Bologna und Padua, im Mai Orvieto und Siena, im Juni Parma und Trento, im Juli Piacenza und Ferrara,

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Der Text wurde als Vortrag konzipiert. Diesen Charakter hat auch die hier vorliegende schriftliche Fassung weitestgehend bewahrt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Herrn Prof. Dr. Dr. Gundolf Keil und Herrn Dr. Michael Stolz für eine Reihe wichtiger Hinweise und Anregungen im Anschluß an den Vortrag zu danken. Jüngstes Beispiel ist eine Reihe von im März 1994 gesendeten Radiointerviews mit George Duby, die unter dem Titel: Unseren Ängsten auf der Spur. Vom Mittelalter zum Jahr 2000. Köln 1996 auf Deutsch publiziert wurde. Zur Ausbreitung der Pest vgl.: Gundolf Keil, Seuchenzüge des Mittelalters. In: Bernd Hermann (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter. Stuttgart 1986, S. 109-128; ders., Pest im Mittelalter: die Pandemie des "Schwarzen Todes" von 1347 bis 1351. In: Walter Buckl (Hg.), Das 14. Jahrhundert. Krisenzeit. Regensburg 1995, S. 95-107; Klaus Bergdolt, Der schwarze Tod in Europa. 2. Aufl. München 1994; Manfred Vasold, Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. München 1991, S. 38-107.

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im August Rom.4 In Süddeutschland wütet die Pest seit 1349. Im Laufe dieses Jahres durchquert sie ganz Deutschland.5 Sie verbreitet sich zu Wasser und zu Land und schert sich nicht um Stadt- und Ländergrenzen. Bis 1400 hat sie in mehreren Wellen ein Drittel der europäischen Bevölkerung ausgelöscht.6 Es ist trotz der zahlreichen Dokumente nicht ganz leicht, sich ein Bild vom "großen Sterben" zu machen, obwohl selbst die trockensten Chroniken noch ein Gutteil des Grauens ahnen lassen, das die Menschen erfaßt haben muß. Die Vermutung liegt nahe, daß eine solche Epidemie es den Überlebenden schwerlich gestattete, ihre vorherige Existenz ohne weiteres wiederaufzunehmen. Dennoch schrieb erst 1927 der Kulturhistoriker Egon FRIEDELL, der Ausbruch der Pest bezeichne die "Geburtsstunde der Neuzeit", da es einer solchen Katastrophe bedurft hätte, die ehedem festgefügte "realistische" Weltordnung des Mittelalters so zu erschüttern, daß sie einem neuen "nominalistischen" Zugang zur Welt den Platz räumte.7 Für FRIEDELL war bekanntlich "der Nominalismus die wichtigste Tatsache der neueren Geschichte, viel bedeutsamer als die Reformation, das Schießpulver und der Buchdruck", 8 eine Theorie, der man eine gewisse Einseitigkeit nicht wird absprechen können. Neuere, an demographischen und mentalitätsgeschichtlichen Methoden orientierte Arbeiten schärften den Blick für die Folgen der Katastrophe auf das Alltags- und Wirtschaftsleben der folgenden Zeiten. Der Aachener Wirtschaftswissenschaftler Karl Georg ZINN etwa hat, ausgehend von Friedell, aber mit gänzlich anderer Herangehensweise als dieser, versucht, die Rolle der Pest bei der Ausbildung jener "apokalyptischen Trias" von "waffentechnischer Überlegenheit, ideologischer Überheblichkeit und mentaler Brutalität" zu beschreiben,9 die bis vor nicht allzu langer Zeit die weltweite Dominanz des europäischen Kapitalismus gesichert habe. Wie auch immer, es mag hier weitgehend außer acht bleiben, ob die Pest sinnvollerweise den Gründungsmythen der Moderne einzureihen ist. Die Texte der meisten Zeitgenos4

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Zu zeitgenössischen italienischen Reaktionen auf den Ausbruch der Pest vgl.: Die Pest 1348 in Italien. Hrsg. und übers, von Klaus Bergdolt. Mit einem Nachwort von Gundolf Keil. Heidelberg 1989. Vgl. neben der in Anm. 3 genannten Literatur die alten aber immer noch lesenswerten Untersuchungen: J. F. C. Hecker, Der schwarze Tod im 14. Jahrhundert. Nach den Quellen für Aerzte und gebildete Nichtärzte bearbeitet. Berlin 1832 (Nachdruck Vaduz, Liechtenstein 1993); Karl Lechner, Das große Sterben in Deutschland in den Jahren 1348 bis 1351 und die folgenden Pestepidemien bis zum Schlüsse des 14. Jahrhunderts. Innsbruck 1884 (Nachruck Vaduz, Liechtenstein 1994); Robert Hoeniger, Der schwarze Tod in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte des vierzehnten Jahrhunderts. Berlin 1882 (Nachdruck Vaduz, Liechtenstein 1994). Vgl. Neidhart Bulst, Der schwarze Tod. Demographische, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte der Pestkatastrophe von 1347-1352. Bilanz der neueren Forschung. Saeculum 30 (1979), S. 45-67, v. a. S. 50-54. Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele. Von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. Gütersloh o. J., S. 96. Friedell [Anm. 7], S. 105. Karl Georg Zinn, Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert. Opladen 1989, S. 10.

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sen sind, wie kaum anders zu erwarten, von jeder Modernität weit entfernt. Sie bieten düstere Momentaufnahmen vom Verfall des öffentlichen Lebens, schildern oft auch individuelle Todesfälle. Ärztliche Gutachten, die in großer Zahl überliefert sind, ergehen sich in der Darstellung der Ursachen der Seuche und bieten, wenn sie nicht klug genug sind, zu sofortiger und langwährender Flucht zu raten, eine Fülle von nicht nur nach heutigem Verständnis sinnlosen Rezepten und Anweisungen. "Zu allem Unglück", schreibt Francesco Petrarca, "kommt hinzu, daß man Gründe und Ursprünge der Krankheit nicht kennt. Doch sind weder die Unwissenheit noch die Seuche selbst so hassenswert wie die Flausen und Fabeln der Leute, die, obgleich sie alles behaupten, nichts wissen, deren Mund, obgleich an Lügen gewöhnt, am Ende ebenfalls schweigt". 10 Petrarcas Eingeständnis der völligen Unkenntnis um Ursachen und Therapien der Pest, die zu ergänzen wäre durch die lapidare Schilderung des Ausbruchs der Krankheit in Boccaccios 'Decamerone', sagt mehr über die tiefgreifenden Erschütterungen aus, als die Texte derer, die professionell mit Welterklärung befaßt sind. Boccaccio schreibt: So sage ich denn, 1348 Jahre waren seit der heilbringenden Fleischwerdung des Gottessohns vergangen, als die edle Stadt Florenz, die schönste Stadt Italiens, von der todbringenden Pest heimgesucht wurde. Entstand sie durch die Einwirkung der Himmelskörper, oder schickte sie der gerechte Zorn Gottes? Jedenfalls hatte sie einige Jahre zuvor im Orient begonnen."

Boccaccio nennt damit zwei der gängigsten Erklärungen für den Ausbruch der Pest, trifft jedoch zwischen beiden keine Wahl und bietet auch sonst keine Alternative an. Nur wenige haben das intellektuelle Risiko gewagt, auf jenen letzten Rest "Sinngebung des Sinnlosen" zu verzichten, der darin besteht, wenigstens die Ursachen einer Bedrohung zu kennen, deren Übermacht man täglich vor Augen hat oder gar am eigenen Leib erfahren muß. Für Boccaccio - ich zitiere Winfried WEHLE - "durchkreuzte vielmehr - modern gesagt: [...] falsifizierte - [die Pest] geradezu alle eingeführten Hypothesen auf den Sinn des Lebens und insgeheim der Autoritäten, die ihre Macht von der Gewißheit ihrer Einsichten ableiteten". 12 Der Kontrast der Auffassungen Boccaccios oder Petrarcas zu den Texten Heinrichs von Mügeln und Konrads von Megenberg, von denen im folgenden die Rede sein wird, könnten schärfer kaum sein. Im Gegensatz zu den italienischen Autoren kennen sie deren Verunsicherung nicht. Sie verteidigen vielmehr auf sehr unterschiedliche Weise und auf unterschiedlichem Niveau die Dominanz derjenigen Autoritäten, die die alte Ordnung repräsen-

10 Zitiert nach nach Bergdolt [Anm. 4], S. 105. 11 Zitiert nach der Übersetzung von Kurt Flasch in: Giovanni Boccaccio, Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron. Italienisch-Deutsch. Neu übersetzt und erklärt von Kurt Flasch. Mainz 1992, S. 211. 12 Winfried Wehle, Der Tod, das Leben und die Kunst. Boccaccios Decameron oder der Triumph der Sprache. In: Arno Borst u. a. (Hgg.), Tod im Mittelalter. Konstanz 1992, S. 221-260, hier S. 225.

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tieren. Die Pest ist natürlich auch für sie ein exzeptionelles Ereignis, bleibt aber dennoch mit herkömmlichen Theorien erklärbar. 1. Eine astrologische Erklärung der Pest: Heinrich von Mügeln Ich beginne mit Heinrich von Mügeln. Über sein Leben ist nur wenig bekannt, und so kann ich mich kurz fassen. Eine datierte Widmung an einen Hertneid von Pettau, Landesmarschall der Steiermark, stammt aus dem Jahr 1369. Weitere Widmungen dokumentieren Beziehungen zu Herzog Rudolf IV. von Österreich, König Ludwig I. von Ungarn und zu Kaiser Karl IV., in dessen Regierungszeit (1346-1378) aller Wahrscheinlichkeit nach Heinrichs Schaffensperiode fallt. Heinrich verfügt über ein hohes Maß an Bildung, so daß auf eine klerikale Ausbildung geschlossen werden muß. Daß er sich selbst mehrfach "Laie" nennt, spricht allerdings dagegen, daß er ein geistliches Amt innehatte. 13 Heinrich nun widmet der Erklärung der Pest ein dreistrophiges Gedicht (IX, 1-3, in Stackmanns Zählung Nr. 194-196):14 194 Wer nu wil wissen das, wo von der große sterbe was, der folge meines tichtes maß: die leit in uf die rehten ban. zwelfe der zeichen sin des himmels nach der lere min, die der planeten hüselin heißen, nu ist der Wassermann ein zeichen und Saturni hus das gröste in dem er hat sin wirde. des ich tröste, sag ich unrecht mich röste! sint ich gelesen han die kunst. 195 Da nun Saturnus was in sinem hus, sich schickte das her Jupiter gefüget saß mit im in einer wirdikeit. Saturnus von der kraft sins huses da wart sigehaft

13 Der Lebensabriß folgt dem Artikel von Karl Stackmann in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 3 (1981), Sp. 815-827. 14 Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Hrsg. von Karl Stackmann. 3 Bde. Berlin 1959, hier Bd. 2, S. 236-239. Ich folge der normalisierten Fassung Stackmanns; die m. W. bisher einzige Auseinandersetzung mit diesem Gedicht findet sich bei Johannes Kibelka, 'der wäre meister'. Denkstile und Bauformen in der Dichtung Heinrichs von Mügeln. Berlin 1963, S. 183-189.

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und drang kern Jupiter in haft: der twang frucht, tieren brachte leit. kalt, trucken ist Saturnus sam die erde, flicht unde warm ist Jupiter der werde, in solcher ungeberde Saturnus weckte todes brunst. 196 Nu Sprech ich sunder wan: sint menschen form den Wassermann heckte, so must es so ergan, das menschen bilde lite not. wer aber ir fug geschehen in andern zeichen, hör ich jen, als in den fischen - , sunder spen so weren vil der fische tot. Albumazar und Ptolomeus schriben die regel, so das ich sie laße bliben. wer die gert widertriben, dem rucht uß herzen tummer dunst.

Der Text zeugt neben Kenntnissen in der Astronomie und Astrologie auch von einem nicht unerheblichen Selbst- und Sendungsbewußtsein. Die von Heinrich an anderen Stellen gern und oft vorgestellte Selbststilisierung als warer meister schimmert deutlich zwischen den Zeilen hervor. Dies mag die übertrieben wirkende Versicherung, daß er sich rösten lassen wolle, wenn er irre, am Anfang ebenso erklären, wie am Schluß die Diskreditierung derer, die es wagen könnten, den von ihm verbreiteten Lehren Abu Masars und Ptolomäus' zu widersprechen. Solche Äußerungen gehören zum Standardrepertoire von Spruchdichtern und sollten daher nicht über Gebühr ernst genommen werden. Immerhin, das Ziel, das Heinrich von Mügeln seinen Lesern vor Augen stellt, ist hochgesteckt: Diejenigen, die die Ursache der Pest zu kennen wünschten, würden von ihm auf die Bahn rechten Wissens geleitet werden. Der hier vorliegende Text gehört zu den wenigen, die innerhalb von Heinrichs Oeuvre überhaupt aktuellen Anlässen gewidmet sind, aber auch er zeigt, daß die Kommentierung von Tagesereignissen nicht seine Sache ist, selbst dann nicht, wenn sie so gravierend sein sollten wie die Pest. Man kann sich schwerlich dem Eindruck entziehen, diese sei kaum mehr als ein Anlaß, ohnehin als richtig erkanntes Wissen ein weiteres Mal zu bestätigen. Dabei steht die Aggressivität, mit der die eigene Rolle als meisterlicher Spruchdichter15 je-

15 Vgl. Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität. Heidelberg 1958, 3. Kap.: Der 'wäre meister', S. 69-171; Hans-Joachim Behr, Der 'wäre meister' und der 'schlechte lay'. Textlinguistische Beobachtungen zur Spruchdichtung Heinrichs von Mügeln und Heinrichs des Teichners. LiLi 10 (1980), S. 70-85.

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der Kritik von vornherein entzogen wird, trotz des topischen Charakters solcher Invektiven in merkwürdigem Kontrast zur überaus nüchternen und geradezu beiläufigen Behandlung der irdischen Folgen der als mythologisches Drama inszenierten kosmischen Abläufe. Dem himmlischen Geschehen gilt so ausschließlich Heinrichs Interesse, daß angesichts der notwendigen Irdenferne einer solchen Betrachtung die Pest selbst beinahe aus dem Blick gerät. Wenn es richtig sein sollte, daß Abstraktion bisweilen von der Realität entlastet, so mag darin die Erklärung liegen, daß es keiner weiteren Überlegung wert zu sein scheint, ob sich eine Katastrophe wie die Pest vielleicht gängigen Deutungsmustern entziehen könnte. Für Heinrich ist es klar, daß der Ausbruch der Seuche sich mit Mitteln beschreiben läßt, wie sie die im System der artes verankerte Astronomie zur Verfügung stellt, eine Astronomie freilich, die, wie im späteren Mittelalter so oft, bis zur UnUnterscheidbarkeit mit Astrologie durchsetzt ist. Die weit verbreitete Lehre von den Planetenkindern, die Heinrich neben den üblichen, auch andernorts mehrfach wiederholten Standards über Stern- und Planetenbewegungen in einem eigens der Astronomie gewidmeten Buch darstellt,16 sind nur ein Beispiel für die enge Verbindung von Himmel und Erde. So kann es nicht überraschen, wenn er in seinem Werk 'Der Meide Kranz' die Verbindung der Astronomie zur Medizin, die auch die PestGedichte bestimmt, ausdrücklich herstellt, indem er die Astronomie sagen läßt: sust weiß ich louf und Sternen art von mir got menschen kundik wart welch arzt hie miner künst enpirt, mit dem die sichen sint verirt. (V. 511-14) 17

Eine solche Auffassung ist im 14. Jahrhundert zu weit verbreitet, als daß eine bestimmte Autorität zu nennen wäre, auf die sich Heinrich in diesem Fall stützt. Überhaupt ist bei ihm der "Wille zum Selbstdenken", wie Karl Stackmann in Anlehnung an die berühmte Formulierung Kants aus 'Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?' einmal schrieb, nicht sehr ausgeprägt.18 Intellektuelle Risiken, zumindest wenn sie darin bestünden, sich von Hergebrachtem zu lösen, umgeht er, indem er sich auf gesichertes Wissen zurückzieht. Wenn er in der ersten Strophe seines Pest-Gedichts - nach der Darstellung seiner didaktischen Ziele - damit fortfährt, über die zwölf Häuser des Tierkreises zu berichten, von denen Saturn das des Wassermann besitze, so gibt er lediglich Ansichten seiner Autoritäten Ptolomäus und

16 Die kleineren Dichtungen [Anm. 14], Buch XII, S. 347-365. Das Buch trägt die Überschrift: Hie wil der meister sonderlich sagen von der kunst Astronomie; vnd die selben lieder singen sich in dem houe done als die Bibel. 17 Heinrich von Mügeln, Der Meide Kranz. Hrsg. und eingel. von Willy Jahr. Leipzig 1908, S. 108f.; vgl. dazu Annette Volfing, Heinrich von Mügeln 'Der meide kränz'. A commentary (Münchner Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 111). Tübingen 1997, S. 139f. 18 Stackmann [Anm. 15], S. 149.

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Abu Masar wieder. 19 Die schrecklichen Folgen eines möglichen Irrtums ("sag ich unrecht, mich röste") wird er so nicht gefürchtet haben. Die Exposition der Pesterklärung bewegt sich also auf ausgetretenen Pfaden. Ein wenig irritierender ist demgegenüber die zweite Strophe, die die Pest als Ergebnis einer Konjunktion von Jupiter und Saturn im Wassermann erklärt, also einen dem aktuellen Ereignis angepaßten Sonderfall astronomischer Theorie darstellt. Es ist verwunderlich, daß Heinrich hier anderes behauptet als die herrschende Doktrin. Das von Philipp VI. 1348 in Auftrag gegebene Pestgutachten der Pariser Medizinischen Fakultät, dem sich die meisten zeitgenössischen Expertisen anschließen, spricht von einer Konjunktion der drei oberen Planeten, d. h. der beiden genannten zusammen mit dem Mars, eine nach astrologischem Verständnis sinnvolle Erklärung, da der Mars die negativen Auswirkungen potenziert: Dicamus igitur quod remota et primaeva causa istius pestilenciae fuit et est aliqua constellatio celestis. anno domini 1345 fuit maxima coniunctio trium superiorum planetarum videlicet 20a die mensis martii in aquario...20

Allerdings steht Heinrich mit seiner abweichenden Meinung, wie zu erwarten, nicht allein. Der florentinische Chronist Giovanni Villani, der 1348 selber der Seuche zum Opfer fällt, spricht von einer Konjunktion von lediglich zwei Planeten, die große Bedrohungen erwarten ließe. 21 Die gleiche Meinung findet sich unter den drei Erklärungen des Pestausbruchs, die der Genueser Arzt Gentile da Foligno seinem Pestregimen voranstellt: Circa causam huius pestilenciae variatur consideratio magistrorum. Quidam magistri dicunt, scilicet astrologi, eclipsim solis a multis annis praeteritam fore causam. Alii dicunt conjunctionem magnam Saturni et Jovis, quae fuit Anno domini 1345 in signo aquarij, cujus aequationem habes cum effectibus. Alii dicunt hoc pervenisse ex corruptione aquae causata a Saturno in Piscibus.22

Das astronomische Geschehen selbst ist geschildert als gewalttätige Gefangennahme des Jupiter durch Saturn. Der mißgünstige Planet Saturn überwältigt Jupiter durch die wirdekeit

19 Vgl. Abu Masar, The Abbreviation of the Introduction to Astrology. Together with the Medieval Latin Translation of Adelard of Bath. Hrsg. und übers, von Ch. Burnett, K. Yamamoto u. M. Yano. Leiden 1994, S. 100 (1, 70): Aquarii Signum Saturni domicilium est, ... 2 0 Zitiert nach der von Hoeniger veröffentlichten Edition des ersten Kapitels des Pestgutachtens im Anhang zu seinem Buch [Anm. 5], S. 149-156, hier S. 153; in J. F. C. Heckers Gesamt-Edition des Gutachtens (Wissenschaftliche Annalen der gesammten Heilkunde 29 [1834], S. 219-239, hier S. 221) weicht der Wortlaut der Stelle geringfügig ab. 21 V g l . Friedrich von Bezold, Astrologische Geschichtskonstruktionen im Mittelalter. In: ders., Aus Mittelalter und Renaissance. München, Berlin 1918, S. 165-195 mit Anm. S. 399-411, zur Pest von 1348 vgl. S. 176-178 und Anm. S. 404 f. 22 Gentile da Folignos Pesttraktat wird zitiert nach: Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des "schwarzen Todes" 1348 (Folge III). Hrsg. von Karl Sudhoff. Archiv für die Geschichte der Medizin 5 (1912), S. 83-86, Zitat S. 83.

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seines Hauses und verkehrt so dessen an sich günstigen Einflüsse. 23 Sehr allgemein gehalten ist, wie bereits oben angedeutet, die Schilderung der Folgen dieser unseligen Konstellation. Feldfrüchte und Vieh, eigentlich die Domäne des Saatgottes Saturn, werden von Jupiter geschädigt. Satumus "weckt" (im Gegenzug?) todes brunst. Trotz seines sonst so ostentativen Bemühens um Wissenschaftlichkeit findet sich in diesem Text eine poetische Überformung der schlichten Erklärung. Zur Untermalung seiner Pesterklärung weckt er - ein narratives Element innerhalb des ansonsten wissenschaftlichen Erkärungen verpflichteten Gedichts - die Erinnerung an den alten Mythos vom Kampf der Göttergenerationen, den er offensichtlich für interessant genug hält, um ihn andernorts in aller Ausführlichkeit zu schildern.24 Dieser Reminiszenz dient auch die Betonung der gegensätzlichen Eigenschaften - man könnte sagen - Temperamente der Planeten. Natürlich gehören diese zum Gemeingut der Astronomie, werden aber in unserem Text eingewoben in eine Geschichte vom Streit anthropomorpher Planetengötter, dessen Folgen - was ihm allerdings kaum der Rede wert ist - die Erde und ihre Bewohner zu tragen haben. Die letzte der drei Strophen verläßt die mythische Ebene wieder. Auf den ersten Blick will nicht recht einleuchten, warum uns Heinrich hier etwas als erklärungsbedürftig präsentiert, was doch in seiner schrecklichen Realität so offenkundig zu sein scheint, nämlich daß die Pest Menschen tötet. Dies ist erst dann verständlich, wenn man sich erinnert, daß unter den von Gentile da Foligno angeführten Theorien sich auch eine befand, gemäß derer der Planet Saturn durch seinen Aufenthalt im Sternbild der Fische das Wasser vergiftet und so die Pest ausgelöst habe: A Iii dicunt hoc pervenisse ex corruptione aquae causata a Saturno in Piscibus. Die Betonung der menschlichen Gestalt des Wassermanns, ebenfalls eine Übernahme von Abu Masar, 25 dient also der Bestätigung des Analogieprinzips, auf dem die Astronomie beruht. Der Saturn in den Fischen hätte nach dem gleichen Prinzip lediglich ein Fischsterben, aber keineswegs die herrschende Pest auslösen können. Diese Theorie kann also notwendigerweise nur falsch sein, wogegen umgekehrt die von Heinrich von Mügeln präsentierte Theorie richtig sein muß, weil sie alle Erfordernisse korrekten astronomischen Denkens erfüllt. Was hat ein unbedarfter Leser oder Hörer Heinrichs tatsächlich über den Ausbruch der Pest erfahren? Wenig genug, scheint mir, aber darf man überhaupt voraussetzen, daß ein unbedarfter Leser angesprochen werden sollte? Karl STACKMANN schrieb über die didaktische Absicht der Spruchdichter, ihr Ziel sei es nicht, "Erstaunen über eine grundlegende Veränderung überkommener Anschauungen zu erregen, sondern sich der freundlichen Zustimmung aller rechtlich Denkenden beim Wiedererkennen einfacher Grundwahrheiten zu

23 Wirdekeit ist eine Lehnübersetzung von dignitas, was z. B. bei Abu Masar die Macht eines Planeten in seinem Haus bezeichnet; vgl. Abu Masar [Anm. 19], S. 114 (3, 32) u. S. 116 (3, 49). 24 D i e kleineren Dichtungen [Anm. 14], S. 286-289. (X, 31/32; Nr. 242/43). 25 Abu Masar [Anm. 19], S. 100 (1,72 f.): Natura eius [sc. Aquarii] calida et húmida, aería, sanguínea; sapor eius dulcis; masculinum; diurnum; hiemale; pars eius in arboribus altis, aquisfluentibus; figure[t] humane; paucorum liberorum, interdum nullorum; vocis parve.

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versichern". 26 Vieles scheint mir dafür zu sprechen, daß eine solche Beschreibung des Verfahrens prinzipiell auch hier, wo es um mehr als um einfache Wahrheiten geht, zutrifft. Allerdings sind die Fakten in erstaunlich knapper Form präsentiert und bisweilen auch einfach zu unvollständig, als daß jemand, der vorher nichts über grundlegende astronomische Lehren und Anschauungen wußte, sich umfassend über die Pest informiert fühlen dürfte. Die Zwischenstufen, die nach gängigen Vorstellungen durchschritten werden müssen, damit eine Gestirnskonstellation Phänomene wie den große sterbe bewirken kann, etwa atmosphärische Veränderungen, sind gänzlich ausgelassen. So ist der oben beschriebene Wiedererkennenseffekt nur bei einem informierten Publikum zu erreichen, das die zum Textverständnis notwendigen Ergänzungen eigenständig vorzunehmen in der Lage ist. Hier allerdings zeigt sich Heinrich von Mügeln trotz seiner ihm inzwischen mehrfach zugesprochenen Befangenheit im Traditionellen sehr wohl als origineller Dichter, weniger freilich in seinem theoretischen Zugriff auf das Phänomen der Pest - hier wird man nichts zurücknehmen müssen als vielmehr in der Offenheit der von ihm gewählten Darstellungsform, die den Rezipienten, will er denn verstehen, wovon eigentlich die Rede ist, zu einem hohen Maß an Selbstbeteiligung zwingt. Dem "rechtlich Denkenden" wird seine "freundliche Zustimmung" durchaus nicht leicht gemacht, wenngleich das, dem dann letzlich zugestimmt werden soll, nicht durch seine revolutionäre Neuheit besticht. 2. Die Krise der artes liberales und der Ausbruch der Pest: Konrad von Megenberg Ein gänzlich anderer Umgang mit dem Phänomen der Pest findet sich bei Heinrichs Zeitgenossen Konrad von Megenberg. Er will bei seinen Lesern tatsächlich das "Erstaunen über eine grundlegende Veränderung überkommener Anschauungen" (STACKMANN) erregen, das Heinrich von Mügeln seinem Auditorium nicht zumuten wollte. Dennoch ist auch er kein Umstürzler, sondern ein zutiefst konservativer Mensch. Zunächst aber auch hier einige Informationen zum Leben des Autors. 27 Konrad wird 1309 in Megenberg bei Nürnberg geboren. Eine Stelle als Lektor ermöglicht ihm ein Studium an der Sorbonne, wo er auch zwischen 1334-1342 als Magister lehrt. Zwischenzeitlich, 1337 bis 1341, hält er sich an der päpstlichen Kurie in Avignon auf. Bis 1348 ist er Rektor der Wiener Stephansschule, der späteren Universität. In diesem Jahr siedelt er nach Regensburg über, wo er 1359 Dompfarrer wird. Dieses Amt behält er aus unbekannten Gründen nur vier Jahre. Die Zeit bis zu seinem Tod 1374 lebt er ebendort als einfacher Domherr.

26 Stackmann [Anm. 15], S. 109. 27 Der Lebensabriß folgt dem Artikel von Georg Steer in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5. (1986), Sp. 221-236; vgl. auch Sabine Krüger, Konrad von Megenberg. In: Gerhard Pfeiffer (Hg.), Fränkische Lebensbilder: Neue Folge der Lebensläufe aus Franken (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe VII A, Bd. 2). Würzburg 1968, S. 83-103; Helmut Ibach, Leben und Schriften des Konrad von Megenberg. Berlin 1938.

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Konrad von Megenberg hat sich in gleich drei Schriften mit dem Erdbeben vom 25. Januar 1348 auseinandergesetzt, das seiner Ansicht nach die unmittelbare Ursache für den Ausbruch der Pest war: in einer noch unedierten deutschen Schrift mit der lateinischen " 28 Überschrift 'Causa terre motus', einer längeren lateinischen Abhandlung, dem 'Tractatus 29 de mortalitate in Alamannia' und schließlich in einem Von dem erdbidem überschriebenen 30

Kapitel seines 'Buches der Natur'. Von diesen Schriften wird uns vor allem die lateinische beschäftigen. Der lateinische Traktat, verfaßt 1350, ist an den jungen Kardinal Pierre Roger de Beaufort gerichtet, Neffe Papst Clemens VI. und selbst späterer Papst Gregor XI. Die Schrift dient der Bewerbung um eine Klerikerstelle im Umkreis des Kardinals. Obwohl es zynisch klingen mag, ist der Augenblick doch gut gewählt, da gerade der Klerus durch die Pest ungeheure Verluste erleidet und deshalb zahlreiche Stellen neu zu besetzen hat.31 Wir wissen nicht, warum Konrad dennoch keinen Erfolg hatte. Ausgangsfrage für Konrad ist, ob die Pest den Menschen von Gott als Strafe für ihre Sünden gesandt worden oder aufgrund natürlicher Abläufe entstanden sei. Die erste Möglichkeit schließt er aus, da die Pest die Menschen offensichtlich nicht verbessert habe und demnach die Rache Gottes mißglückt sein müsse, was - unmittelbar einleutend - nicht sein könne. Die zweite These wird mit durchaus scharfsinnigen Überlegungen ebenfalls widerlegt. Der langsamste Planet sei Saturn, aber auch der halte sich bei seinem dreißigjährigen Umlauf durch den Zodiak in jedem Zeichen nur zweieinhalb Jahre auf. Jeder andere Planet bleibe aber noch weniger lange in einem Zeichen, so daß eine Planetenkonjunktion unmöglich eine Seuche erklären könne, die in manchen Ländern schon fünf oder sechs Jahre wüte. Nachdem Konrad diese beiden grundsätzlichen Fragen abgehandelt hat, geht er die hauptsächlichen Meinungen über den Ausbruch der Pest durch, um ihr Für und Wider abzuwägen. Als Erklärungsmöglichkeiten kommen demnach in Frage: 1. die Juden, die die Brunnen vergiftet hätten; 2. eine Planetenkonstellation; 3. der Zorn Gottes über die verderbte Zeit; 4. eine Vergiftung der Luft durch die Freisetzung der in der Erde eingeschlossenen Miasmen während des Erdbebens vom 25. Januar 1348.

28 München clm 903, f. 10r-12r. 29 Sabine Krüger, Krise der Zeit als Ursache der Pest. Der Traktat 'De mortalitate in Alamannia' des Konrad von Megenberg. In: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Mitarbeitern des Max-Planck-Institutes für Geschichte. Göttingen 1972, Bd. 2, S. 839-883, Text S. 861-883. Die dem Text vorangestellten Ausführungen Sabine Krügers bieten eine vorzügliche Einleitung in die mit Konrads Traktat verbundenen Probleme. 30 Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861 (3. Nachdruck Hildesheim 1994), S. 107-113. 31 Vgl. B. I. Zaddach, Die Folgen des schwarzen Todes (1347-1351) für den Klerus Mitteleuropas. Stuttgart 1971.

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Ich gehe nicht auf alle vier Theorien und ihre Bestätigung oder Ablehnung in gleichem Umfang ein. Die astronomische Argumentation, deren Widerlegung Konrad mit geringfügigen Ergänzungen einfach vom Anfang in den zweiten Textteil übernimmt, kann im folgenden außer acht bleiben. Auch soll nicht weiter auf die, wie Konrad schreibt, in Deutschland vorherrschende Meinung (opinio in Alamannia generalis)32 eingegangen werden, die Juden hätten die Brunnen vergiftet und so die Pest herbeigeführt - eine Behauptung, die er mit dem ebenso simplen wie bestechend einleuchtenden Argument widerlegt, die Juden würden wohl kaum selbst an der Pest sterben, wenn sie für diese verantwortlich wären. Da es nunmehr um Konrads eigene Ansichten gehen soll, sind für unseren Zusammenhang vor allem zwei der angeführten Theorien interessant: die gegenüber dem Anfang wesentlich erweiterte Erklärung der Pest durch den Zorn Gottes und die neu eingebrachte Miasmentheorie. Wie gesagt hatte Konrad die Annahme, die Pest sei von Gott zur Besserung der sündigen Menschheit gesandt worden, mit dem Argument zurückgewiesen, das Verhalten der Menschen würde in diesem Falle nur das Scheitern des göttlichen Planes dokumentieren, was selbstverständlich nicht möglich sein könne. Im zweiten Textteil nun findet sich das Argument neu aufgezäumt wieder, indem gezeigt wird, daß Gott angesichts des Verfalls der Wissenschaften und Künste allen Grund hatte, die Pest zu schicken: Und diese Meinung wird zurecht angeführt, weil dem, der die verschiedenen Arten menschlichen Lebens betrachtet, nichts oder zumindest sehr wenig an menschlicher Tugend auffällt, die sich in unseren Zeiten bewahrt hätte. Ach, auf jedem Sitz, den einstmals die Tugend innehatte, hat nun das Laster Platz genommen. Das sichere Wissen um die Dinge hat die Philosophen verlassen und in jeder freien Wissenschaft hat die üble Liebe zum Irrtum ( e r r o f i l i a ) - die Stiefmutter der Wahrheit - die Philosophie, die Amme aller Tugenden, mit räudiger Hand niedergeschlagen. Kein Sinn für Wahrheit wird in unserer Zeit geschätzt, und ich glaube, wenn er käuflich wäre, würde er keinen Käufer finden. 3 3

Die folgende seitenlange Beschreibung des Verfalls der einzelnen Wissenschaften und Künste bewegt sich zwischen der überkommenen Topik allgemeiner Zeitklage und der präzisen Beobachtung zeitgenössischer intellektueller Entwicklungen. Für diese aber ist die Pest die verdiente Strafe, genauer: für eine neue Metapysik, die Gott beleidigt, für eine Physik, die sich ihrer Grundlagen entledigt, für eine Ethik, die den Verfall der öffentlichen Ordnung

32 Krüger [Anm. 29], S. 866. 33 Krüger [Anm. 29], S. 871: Et movetur hec digne opinio, quia speculanti in singulos status humane condicionis nicftil aut valde parum utique videtur humana virtus, sibi nostris temporibus thésaurisasse. In omni prochdolor sede ubi tunc virtus ibi nunc vicium videtur hereditasse. Recessit firma rerum sciencia a philosophis, et in quolibet liberali studio errofilia maligna, veritatis noverca philosophiam, omnium virtutum nutricem, manu fetida stravit. Nullum veritatis ingenium nostro tempore appreciatur, et credo, quod si venale esset, non inveniret emptorem. Der Ausdruck: philosophia, omnium virtutum nutrix ist möglicherweise eine Anspielung auf Boethius, Cons. Phil. I, 3, 4: o omnium magistra virtutum.

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betreibt, schließlich und vor allem auch für den Niedergang der artes liberales.34 Es ist das Besondere dieses Textes, daß Konrad Namen von Schuldigen nennt. Johannes von Jandun und Marsilius von Padua, die gegen den Primat des Papstes geschrieben haben, stehen für den Verfall der scienciae morales, Martin von Dacia, einer der Begründer der logica nova, verantwortet den Verfall der Grammatik, die von "altersher Türhüterin und Amme aller Wissenschaften" gewesen sei (omnium scienciarum ostiaria et nutrix antiquissima), die Zerstörer der Physik und Metaphysik sind - ungenannt, aber leicht zu identifizieren - die Skotisten und die Nominalisten, vor allem Wilhelm von Ockham. "So also", beschließt Konrad diesen Abschnitt, "wird Gott durch eine solche Fülle Laster dieser Art in der verderbten Welt erzürnt und streckte die Sünder in den verschiedenen Landstrichen nieder". 35 Gott aber töte die Menschen nicht direkt, sondern bediene sich als Mittler einer tödlichen Substanz, jener Miasmen nämlich, die in großer Fülle während des gewaltigen Erdbebens von 1348 freigesetzt worden seien. Megenbergs Argumentation ist zu kleinteilig, als daß sie hier in allen Details wiedergegeben werden könnte. Er gibt acht Gründe dafür an, warum nur diese Theorie alle Schwierigkeiten des Seuchenverlaufs erklären könne, er formuliert gegen jeden dieser Gründe Einwände, um dann wiederum alle diese Einwände einzeln zu widerlegen. Ich beschränke mich darauf, die Gründe zu skizzieren: 1. die Pest sei unmittelbar am Epizentrum des Bebens ausgebrochen; 2. an Wassern gelegene Orte seien stärker betroffen als Orte im Inland, weil die in Meeresnähe eingeschlossenen Miasmen besonders verderbt seien; 3. überall, wo die Seuche andauere, seien die Jahreszeiten ungewöhnlich nebel- und dunstreich gewesen; 4. Früchte und Blätter verfaulten schon auf den Bäumen; 5. Orte seien überschwemmt worden, weil Erdwasser aus den Dünsten die Quellen und Flüsse gespeist habe; 6. Kranke zeigten Symptome, die wie Betrunkenheit aussähen und daher rührten, daß die giftigen Dünste zu Kopf stiegen; 7. die Armen stürben vor den Reichen, weil sie schlechtere Nahrung zu sich nähmen, die während des Verdauungsprozesses nicht so viele warme Dünste erzeuge, die das Aufsteigen des Pestdunstes verzögern könnten; 8. schließlich habe man bei vorangegangenen Erdbeben beobachtet (Albert/Avicenna), daß Menschen sich durch mineralhaltige Dünste in Salzsäulen verwandelt hätten, so daß die Analogie naheläge, die andersartigen Pestmiasmen für den Massentod verantwortlich zu machen.

34 Eine genauere Untersuchung zum philosophischen und theologischen Hintergrund von Konrads Pesttraktat soll im Rahmen einer größeren Arbeit durchgeführt werden. 35 Krüger [Anm. 29], S. 877: Sic ergo tot et tantis talibus(que) viciis mundo depravato irascitur deus et homines peccatores per diversa mundi climata stravit.

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Konrad befindet sich zur Zeit der Abfassung des Traktats in Regensburg, einer Stadt, die die Auswirkungen des verheerenden Bebens nicht selbst zu spüren bekommen hat und zu diesem Zeitpunkt von der Pest noch nicht betroffen ist.36 Er hat die Orte der Katastrophe nicht mit eigenen Augen gesehen, hat jedoch anscheinend mit Augenzeugen gesprochen.37 So mischt sich in seinem Text die Wiedergabe fremder Beobachtungen mit angelesenem Bildungswissen, das er zumindest in den Traktat für den Kardinal reichlich einfließen läßt. In der deutschen Bearbeitung im 'Buch der Natur' wird er weitgehend auf Buchgelehrsamkeit verzichten, was den Akzent des Textes gegenüber der lateinischen Abhandlung deutlich verschiebt. Den befreundeten Laien scheint er die Bildungskatastrophe, die Gottes Zorn provoziert hat, nicht gebührend nahebringen zu können. So beschränkt er sich hier auf die Widerlegung der Konjunktions- und der Vergiftungtheorie und handelt ausführlich von den Miasmen. Soll man daraus folgern, die Darstellung der krisenhaften Zeit sei Konrad deshalb letztlich weniger wichtig? Kaum, denn gerade dieses Thema durchzieht wie kein anderes sein Werk. Bereits in seiner 1337 in schlechten leoninischen Hexametern verfaßten Jugendschrift 'Planctus Ecclesiae in Germaniam' ist die Krise der Zeit Hauptgegenstand seines Interesses und mit Marsilius von Padua und Johannes von Jandun sind schon hier, lange bevor die Folgen ihres Tun für alle sichtbar werden konnten, die genannt, die neben anderen für den Verfall der Lebensumstände verantwortlich sind. Die Pest ist somit vielleicht exzeptionelles, aber keineswegs gänzlich unerwartetes Symptom der Krise. Natürliche Erklärungen wie Planetenkonstellationen oder Verschwörungstheorien wie die den Juden angelastete Brunnenvergiftung müssen daher in ihrem Erklärungsgehalt notwendigerweise insuffizient bleiben. Nur das Zusammenspiel von göttlicher Rache und dem natürlichen Ablauf der durch Miasmen hervorgerufenen Pest kann eine Erklärung bieten, die dem Verlauf der Seuche angemessen scheint. "Der Aufstand der Natur gegen die Kultur" (Winfried WEHLE) ist gerade in den Dimensionen der hervorgerufenen Zerstörungen Ausdruck dafür, wie ernst kulturelle Errungenschaften zu nehmen sind. Wissenschaften und Künste sind unabdingbare Versatzstücke des menschlichen Umgangs mit der Welt, und so kann Gott Fehler im Denken ebensowenig dulden wie sündhaftes Handeln. Daß Gott, um dies zu demonstrieren, sich apokalyptischer Mittel wie Erdbeben und Pest bedient, zeigt das Ausmaß der Bedrohung, es zeigt aber vor allem, daß diejenigen, die das alte Denken verteidigen, auf der richtigen Seite stehen. So scheint die Pest trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer Schrecken für Konrad eine gewisse Genugtuung bedeutet zu haben. Sie ist das Fanal, das Gott gegen die Verderbnis der intellektuellen und politischen Elite aufrichtet. Sie ist vor allem das Zeichen, um das sich die rechtgläubigen Theologen und Philosophen scharen, um die zu bekämpfen, deren Denken - nunmehr für jedermann offensichtlich - die Welt zerstört.

36 Die Pest erreicht Regensburg erst im Sommer 1350; vgl. Hoeniger [Anm. 5], S.17. 37 Vgl. Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. In: ders., Barbaren, Ketzer und Artisten. 2. Aufl. München, Zürich 1990, S. 528-563, hier S. 538.

Macht der Sterne oder Miasmen der Erde

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Man wird nicht ernsthaft fragen dürfen, ob Konrads eigene Erkärungen des Pestausbruchs in Deutschland "besser" sind als diejenigen, die er diskutiert und ablehnt. Zumindest seine Widerlegung der jüdischen Verschwörung wird ihm unsere Sympathie einbringen, wobei anzumerken ist, daß er hier lediglich die von Clemens VI. verkündete offizielle Kirchendoktrin wiedergibt. Konrad ist ein konservativer Denker, der mit großer Beunruhigung die neuen Entwicklungen der Philosophie und Theologie zur Kenntnis nimmt. Er weiß sich in seiner Besorgnis mit der Amtskirche und ihren Organen einig, und so mußte ihm ein Kardinal und Neffe des amtierenden Papstes sicherlich als angemessener Ansprechpartner erscheinen. Welche Konsequenzen aber schweben ihm vor? Er sagt darüber nichts ausdrücklich, aber es dürfte nicht allzu schwer zu erraten sein, an was er denkt: die Wiederherstellung des alten Status von Metaphysik, Physik und Ethik, vor allem der artes liberales, kurz - und dies wäre tatsächlich eine moderne Forderung - eine Reform der Universitäten.

Karina Kellermann Zwischen Gelehrsamkeit und Information: Wissen und Wahrheit im Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit

Die Wissenskonzeptionen des Mittelalters sind durch die Größen der Analogie, des ordo und der Norm geprägt, während die neuzeitlichen Muster des Wissens durch kausale Logik, allgemeine Zugänglichkeit und radikalen Pragmatismus gekennzeichnet sind. Der mittelalterlichen Wissenssicherung durch Autoritäten steht die neuzeitliche Gewißheit durch Erfahrung gegenüber. So trennscharf wie diese apodiktischen Sätze insinuieren, sind mittelalterliches und neuzeitliches Weltbild allerdings nicht zu scheiden. Derartige generalisierende Urteile erleichtern zwar die Systematisierung, verstellen aber den Blick auf Entwicklungsschritte und Zwischenstufen. Erst allmählich verlieren die Methoden der exakten Wissenschaft, Messen und Rechnen, ihren Makel als Ausgeburten der superbia und werden als quantitative Methoden der wissenschaftlichen Weltaneignung akzeptiert.1 Die curiositas

ist

in christlicher Tradition zunächst eine Todsünde, wird transitorisch zur läßlichen Sünde, bis sie schließlich als Tugend reüssiert. 2 Für die lange Phase des Übergangs, die punktuell schon im 14. Jahrhundert einsetzt, das 15. und 16. Jahrhundert prägt und stellenweise noch im 17. Jahrhundert zu beobachten ist, hat sich in der Forschung die Formel von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" eingebürgert. Mit diesem Oxymoron sucht man die Widersprüche zu fassen, wie sie etwa die Naturgeschichte des Konrad von Megenberg (1348/50) aufweist, 3 die - nicht sporadisch, son-

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Sabine Heimann, "Von erfarung aller land". Zum Wissenschaftsverständnis Sebastian Brants. In: dies. u. a. (Hgg.), Soziokulturelle Kontexte der Sprach- und Literaturentwicklung. Festschrift für Rudolf Große zum 65. Geburtstag (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 231). Stuttgart 1989, S. 433-444, hier S. 435. Lorraine Daston, Neugierde als Empfindung und Epistemologie in der frühmodernen Wissenschaft. In: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Opladen 1994, S. 35-59, hier S. 35. - Jan-Dirk Müller, Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann (Hgg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5). Stuttgart 1984, S. 252-271, hier S. 252: "An den 'Umbesetzungen' in einem Argumentationssystem, in dem curiositas als Laster figurierte, konnte ein wesentlicher Aspekt am Entstehungsprozeß der modernen Welt beschrieben werden." - Grundlegend: Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. 3. durchges. Aufl. 1984. In: ders., Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausg. Frankfurt a. M. 1996, S. 261-528. Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861 (Neudruck Hildesheim 1962). Hier findet sich auch an exponierter Stelle - am Ende des Prosaprologs - das auf Analogie bauende Mikrokosmosprinzip: Nü hän ich kurz begriffen, wie der mensch der ganzen werlt sei geleich, dar umb haizt er in krie-

Zwischen

Gelehrsamkeit

und

Information

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dem werkumspannend - allegorisches Verständnis mit empirischen Beobachtungen mischt. Den Widerspruch synoptisch umgesetzt hat ein Holzschnitt aus den Reisebeschreibungen des Bernhard von Breydenbach: Neben den nach der Natur und morphologisch korrekt abgebildeten Tieren Krokodil, Salamander und Kamel trabt dort das wahrhaffiige

Einhorn durchs

Bild. 4 Mag die Formel von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in der deskriptiven Anwendung noch zu akzeptieren sein, taugt sie mit Sicherheit nicht als heuristische Kategorie und ist eher Signum einer gewissen Hilflosigkeit als erkenntnisfördernd. 5 Es ist an der Zeit, die in dem Begriffspaar benannte spezifische Inkompatibilität genauer zu kennzeichnen und die gattungs- sowie wissenschaftsübergreifende Umbruchsphase in den Blick zu nehmen.

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chischer sprach microcosmus, daz ist als vil gesprochen als die ciain werlt. dar umb sprechent hübsch leut: ich sach alle werlt in ainem rock (S. 4). Vgl. auch Wolfgang Schäffner, Schauplatz der Topographie. Zur Repräsentation von Landschaft und Körper in den Niederlanden (15501650). In: Jan-Dirk Müller (Hg.), "Aufführung" und "Schrift" in Mittelalter und Früher Neuzeit (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17). Stuttgart, Weimar 1996, S. 596-616, der den von Michel Foucault (Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966) formulierten Wandel von der Episteme der Ähnlichkeit zur Episteme der Repräsentanz folgendermaßen illustriert: "Die Formen der Ähnlichkeit stiften in der Renaissance die grundlegende Ordnung des Wissens. Nicht der Unterschied, sondern der Zusammenhang mit allen anderen Dingen bestimmt die Gegenstände des Wissens. Nur dasjenige, was durch Figuren wie convenientia, aemulatio, analogia oder sympathia bestimmt ist, kann Gegenstand dieses Wissens werden. Der Sternenhimmel, die Landschaft, der menschliche Körper sind nur verschiedene Register der Natur in ein und derselben Topographie der Sichtbarkeit, deren Signaturen lesbar wie ein Buch sind. [...] Die Transparenz der Dinge jedoch scheint am Ende des 16. Jahrhunderts zu verschwinden; dabei zeichnet sich ein Umbruch von der mikro-/makrokosmischen Ähnlichkeit zu einem System der Repräsentation ab, in dem Worte und Dinge in ein neues Spiel der Zeichen eintreten. An die Stelle der Signaturen-Lektüre, bei der die Ordnung den Dingen einfach abgelesen wird, tritt die Arbeit der Geometer, Anatomen und Exerziermeister, die diese Ordnung erst herzustellen haben" (S. 596-598). Bernardus Breydenbach, Sanctarum peregrinationum // in montem Syon ad christi // sepulcrum in Hierusalem opus. Speier (Petrus Drach) 1502 (Erstdruck Mainz 1486). Nach Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M. 1991, S. 680f. Zu den Implikationen dieser Formel vgl. Ursula Link-Heer, Weltbilder, Epistemai, Epochenschwellen. Mediävistische Überlegungen im Anschluß an Foucault. In: Hans-Jürgen Bachorski u. Werner Röcke (Hgg.), Weltbildwandel. Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit (Literatur - Imagination - Realität 10). Trier 1995, S. 1956, hier S. 20: "Selbst die salomonische Formel von der Gleichzeitigkeit des 'Ungleichzeitigen' impliziert das Eingeständnis, daß wir Alterität nicht synchron zu ordnen vermögen, sondern auf einer idealen Zeitachse als Abstände zu einem Fokus verorten, den wir wohl als unser eigenes Weltbild identifizieren müßten".

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1. Allegorie und Empirie in der Naturkunde Für den Problemaufriß bediene ich mich einiger Beispiele aus dem naturkundlichen Schrifttum, der Reiseliteratur und der Kartographie, da dort die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" besonders augenfällig ist und folglich immer wieder konstatiert wurde. Die mittelalterlichen Tier-, Pflanzen- und Steinbücher sehen ihre zentrale Aufgabe in der Präsentation von Fakten, die in der allegoretischen Ausdeutung des Buches der Welt und des Buches der Bücher, der Bibel, zum Einsatz kommen. Dieser Funktion zeigen sich die Enzyklopädien seit Isidors 'Etymologiae' verpflichtet.6 Die Garanten dieser naturkundlichen Wahrheit sind die notorischen Autoritäten, zunächst die der Antike, allen voran Plinius, dann die der Patristik. Diese Legitimationsweise verliert auch in der langen Phase des Übergangs von theologischer zu empirischer Naturdeutung nicht umstandslos ihre Geltung, aber sie setzt sich auch nicht ungebrochen fort. Christel MEIER sagt über diese Interimszeit: Die Periode des Übergangs vom späten 13. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts läßt für unser Problem keine geradlinig-konsequente Entwicklung erkennen; sie bildet vielmehr eine breite Zone des Nebeneinanders der Möglichkeiten, wo bei einem Autor die eine, beim andern die andere Reflexionsvariante dominiert, bei einer Eigenschaft so, bei der nächsten anders argumentiert wird. Wollte man die Periode unter dem Aspekt der Entwicklung sehen, stellte sie sich als überaus reich an Rückfällen dar.7

Die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren sind gerade dann besonders herausgefordert, die allegorische Auslegung der Naturphänomene zu legitimieren, wenn diese sich auf deren wunderbare Eigenschaften stützt, Eigenschaften, die nach Erkenntnissen der fortgeschrittenen Naturwissenschaft falsifiziert werden können. Manche Autoren allerdings nehmen diese Herausforderung nicht an und repetieren einfach den naturwissenschaftlich überholten Forschungsstand, um an ihn bruchlos die Auslegung anschließen zu können, oder sie belassen es bei einem kommentarlosen Nebeneinander von neuen naturwissenschaftlichen Fakten, die die vormalige Basis der res als unwahr erweisen, und der unverändert übernommenen Allegorese. So berichtet Cornelius a Lapide 6 7

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Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX. Hrsg. von W. M. Lindsay. 2 Bde. Oxford 1911 (Neudruck 1966). Christel Meier, Argumentationsformen kritischer Reflexion zwischen Naturwissenschaft und Allegorese. Frühmittelalterliche Studien 12. (1978), S. 116-159, hier S. 122. In meinen folgenden Ausführungen und den Belegen bin ich den grundlegenden Forschungen von Christel Meier verpflichtet, d. i. außer dem genannten Aufsatz: dies., Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert. Teil 1 (Münstersche Mittelalter-Schriften 34/1). München 1977. Meier, Argumentationsformen [Anm. 7], S. 123: "Von skeptischen Überlegungen werden in der Allegorese nicht alle Eigenschaften zur selben Zeit und in gleicher Intensität erfaßt. Es sind zunächst und vor allem die 'wunderbaren' Merkmale in der natura der Dinge, die kritische Reflexion herausfordern, das heißt solche Eigenschaften, die am ehesten dem Experiment, dem natürlichen Kausalitätsprinzip und der ratio sich entzogen bzw. entzogen hätten, wenn das geprüft worden wäre (was oft gar nicht geschieht)".

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(gest. 1637) von der Entstehung der Perle aus den Säften der Muschel, um dann in der allegoretischen Ausdeutung dieses Naturvorgangs auf die vita Apostolica et religiosa doch an die zuvor verworfene breite Tradition anzuknüpfen. Diese besagt, daß die Perle Produkt einer Befruchtung der Muschel durch den Tau des Himmels ist.9 Daneben aber versuchen einige Autoren, die Diskrepanz zu benennen, manche sogar zu erklären. So sieht Johannes von San Geminiano Fakten- und Bedeutungswahrheit in gradueller Abstufung zueinander: "Das halte ich hinsichtlich der Gottesfurcht für wahrer (verius) als hinsichtlich des Berylls ...". 1 0 Die allegorische Ausdeutung kann so schwer wiegen, daß Bedenken gegenüber dem Wahrheitsgehalt der res in Kauf genommen werden. Diese Überlegung veranlaßt bereits Augustin, die schon ihm fragwürdige Pelikanbeschreibung des 'Physiologus' zur Ausdeutung zuzulassen." Andere wie Girolamo Ruscelli von Viterbo versuchen die Auslegung zu retten, indem sie pseudo-naturwissenschaftlich argumentieren und auf die durch unterschiedliche Fundorte bedingten differenten Substanzen hinweisen: Die im Experiment geglückte Zerschlagung von Diamanten widerlege Plinius' Aussage vom Bocksblut als einzigem Medium der Diamantenerweichung keineswegs, weil dieser sich auf die Steine Arabiens und Indiens bezogen habe, während der experimentelle Versuch mit Diamanten der westlichen Welt durchgeführt worden sei.12 Da die Berufung auf Autoritäten in den Wissenschaften noch lange ihren hohen Rang behält, wird sie auch in den Naturwissenschaften eingesetzt und kann dort nachgerade zur Entlastung des Autors bei fraglich gewordenen Proprietäten dienen. Ich zitiere noch einmal Johannes von San Geminiano, um en passant auf das Nebeneinander differenter Argumentationsformen bei ein und demselben Autor hinzuweisen; er appelliert im Prolog seiner 'Summa' an die Leser, man möge bedenken, daß er

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Cornelius a Lapide, Commentarius in apocalypsin S. Johannis. Opera Bd. 10. Antwerpen 1717, S. 336 b CD; zitiert nach Meier, Argumentationsformen [Anm. 7], S. 124f. 10 Johannes von S. Geminiano, Summa ... de exemplis et similitudinibus rerum. Basel 1499 (ohne Paginierung). II 37: Quod de timore domini verius puto quam de berillo-, Zitat u. Übers, nach Meier, Argumentationsformen [Anm. 7], S. 127. 11 Sancti Aurelii Augustini opera omnia, Enarrationes in psalmos. Migne (PL 37), Sp. 1299: Vos sie audite, ut si verum est, congruat; si falsum est, non teneat. Dicuntur hec aves tanquam colaphis rostrorum occidere parvulos suos, eosdemque in nido occisos a se lugere per triduum: postremo dicunt matrem seipsam graviter vulnerare et sanguinem suum super filios fundere, quo illi superfusi reviviscunt. Fortasse hoc verum, fortasse falsum sit: tarnen si verum est, quemadmodum illi congruat, qui nos vivificavit sanguine suo, videte. Meier, Argumentationsformen [Anm. 7], S. 129, spricht von der "Indifferenzformel", die sich häufig in der "Aussageform siue vera sint siue non für die Eigenschaft" findet, "gegen die die über sie erschlossene Bedeutung mit verissime tarnen abgehoben wird". 12 Ieronimo Ruscelli, Le imprese illustri con espositioni, et discorsi ... al serenissimo et sempre felicissimo re catolico, Filippo d'Austria. Venedig 1566, S. 165-168; Beleg nach Meier, Argumentationsformen [Anm. 7], S. 132.

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"die weniger glaubhaften Berichte [...] nicht selbst erfunden, sondern von großen Vorgängern übernommen" habe.13 Wie falsch die Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung der Rationalisierung in der Naturkunde ist, hat jüngst erst Thomas CRAMER mit der Nachzeichnung der langen und kurvenreichen Geschichte des Wunderbaren belegt.14 Das 16. Jahrhundert ist längst angebrochen, als der Begriff des Wunderbaren aus der Natur verbannt ist, und noch sehr viel länger dauert es, bis Greif, Basilisk, Einhorn, Onager und Drache ihr Unwesen nicht mehr in der Natur treiben dürfen. Michael Herr will in seinem Werk 'Gründtlicher underricht/ wahrhafte und eygentliche Beschreibung ... aller vieriüißigen thier' aus dem Jahr 1546 nur solche Tiere abhandeln, von deren Existenz sich jedermann durch Augenschein überzeugen kann. Nichtsdestoweniger enthält sein Buch auch ein Kapitel über den Greifen, in dem er unter der Überschrift Was vom Greiffen genommen/ vnd nutzlich zur arzney gebraucht werden mag in Form eines Tatsachenberichts über Aussehen, Art und wunderbare Verhaltensweisen dieses Vogels schreibt. Dann aber meldet er punktuell - bei der dem Greifen zugeschriebenen Eigenschaft des Schatzhütens - Zweifel an und verzichtet auf die im Titel angekündigte medizinische Rezeptur. 15 Diese Strategie, trotz großer Skepsis bezüglich der wunderbaren Eigenschaften eines Tieres es für die Fauna dennoch zu retten, wendet auch Jacques Grevin an. Statt der existentiell-substantiellen Ablehnung des ganzen monstrum begnügt er sich mit der Negation einer akzidentellen Eigenschaft: Dies läßt mich glauben, daß alles erlogen ist. [...] Aber ich will deswegen nicht behaupten, man könne überhaupt keine Basilisken finden. Ich meine jedoch, daß sie weniger gefahrlich sind, als man gemeinhin behauptet. Es ist aber wahr, daß sie unter den Schlangen die giftigsten sind. 16

13 Meier, Argumentationsformen [Anm. 7], S. 136: Johannes von S. Geminiano: Summa ... de exemplis et similitudinibus rerum. Basel 1499, Prolog (unpag.): Sciant me ex meo ingenio ea non confinxisse, sed maiorum scriptis deprompta. 14 Thomas Cramer, Der Umgang mit dem Wunderbaren in der Natur: Portenta, monstra, prodigia in der Zoologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit - Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen - . In: Gerhild Scholz Williams u. Stephan K. Schindler (Hgg.), Knowledge, Science, and Literature in Early Modern Germany. Chapel Hill, London 1996, S. 151-192. Meine Ausführungen und Belege dieses Abschnitts stützen sich auf diesen Aufsatz. 15 Michael Herr, Gründtlicher underricht/ wahrhafte und eygentliche Beschreibung ... aller vierfüßigen thier. Straßburg (Barth. Beck), 1546. Bl. Ljb; zitiert nach Cramer [Anm. 14], S. 162 u. Anm. 69. 16 Jacques Grevin, De venenis libri duo. Antwerpen (Plantin) 1571. S. 85: Quae fidem etiam mihifaciunt, haec omnia esse falsa ... Neque propterea affirmare ausim, nullos omnino inueniri Basiliscos. Existimo tarnen minus perniciosos esse, quam vulgo habentur. Verum quidem est eos ex serpentibus venenosissimos esse; Zitat u. Übers, nach Cramer [Anm. 14], S. 165 u. Anm. 88.

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Walther Ryff tradiert in seinem 'Thierbuch Alberti Magni' von 1545 das Diktum des Albertus Magnus, daß die Geburt des Basilisken aus einem Hahnenei wider die Natur sei, um diese Aussage mit einem stattlichen Hahnenbasilisken im Bild zu illustrieren.17 In der Auseinandersetzung zwischen Erfahrung und tradiertem Buchwissen, die das 16. Jahrhundert bestimmt, gibt es nicht wenige Versuche, diese beiden Extrempositionen zu vermitteln: Der Augenscheinbeweis wird auf die Autoritäten übertragen und ersetzt somit des Autors eigene Erfahrung. Dieser Synthese verdanken Einhorn, Onager und Drache ihr langes Leben. Dabei können die widersprüchlichen Informationen der Autoritäten zur "scheinbar wissenschaftlichen Genauigkeit in der Differenzierung" aufgewertet werden,18 so, wenn der 'Gesnerus redivivus' die Artenvielfalt des Einhorns aus ihnen ableitet und durch zehn verschiedene Illustrationen belegt.19 Ganz im Trend der Zeit liegt Felix Fabri (1484), der die eigene defiziente Erfahrung und das autoritätengestützte Wissen vermittelt. Er kann mit der Beschreibung eines Einhorns aufwarten, das er gemeinsam mit seiner Pilgergruppe zu Gesicht bekommen hat. Die naturkundliche Observation wird durch die genaue Angabe von Zeit, Ort und Entfernung gesichert. Die visuelle Einschränkung bei der Beobachtung aus allzu großer Distanz sucht Fabri durch das Zitat einer Passage aus Isidors 'Etymologiae' auszugleichen, das er als ergänzende Präzisierung anfuhrt: Mit großem Eifer betrachteten wir dieses edle Tier und beklagten heftig, daß es uns nicht näher war, damit wir es genauer beobachten konnten. Denn dieses Tier ist einzigartig in vieler Hinsicht: Zunächst heißt es, daß es ein besonders wildes Tier sei und ein Horn von vier Fuß Länge mitten auf der Stirn habe, daß es, wen es damit spießt, entweder in die Luft wirft oder durchbohrt. 20

2. Das Wunderbare in der Reiseliteratur Das Wunderbare und seine Wahrnehmung stehen auch im Zentrum weiterer Berichte über Reisen in die Fremde, die seit dem 13. Jahrhundert stetig zunehmen. In diesem Genre wird 17 Thierbuch Alberti Magni. Von Art Natur vnd Eygenschafft der Thierer ... durch Waltherum Ryff verteutscht. Frankfurt (Cyriacus Jacobi) 1545, Bl. YV b ; nach Cramer [Anm. 14], S. 164 u. Anm. 84. 18 Cramer [Anm. 14], S. 172. 19 Gesnerus Redivivus auctus & emendatus. Oder: Allgemeines Thier=Buch/ ... vormahls durch den Hochberühmten Herrn Conradum Gesnerum In Lateinischer Sprache beschrieben / und nach ihm / Durch den Hochgelehrten Herrn Conradum Forerum M . D . ins Teutsche versetzt. Frankfurt 1669. Liber I, S. 781; nach Cramer [Anm. 14], S. 171f. 2 0 Fratris Felicis Fabri Evagatorium in terrae sanctae. Hrsg. von Cunradus Dietericus Hassler. 3 Bde. Stuttgart 1843, hier Bd. 3, S. 441: Cum magna diligentia hanc nobilissimam bestiam respeximus et vehementer dolebamus, quod non proximior nobis fuit, ut magis determinate eam inspexissemus. Est enim bestia haec singularissima in multis conditionibus: in primis dicitur, quod sit bestia saevissima et unum cornu quatuor pedum habet in medio frontis ita acutum et validum, ut quidquid petierit aut ventilet aut perforet-, Zitat u. Übers, nach Cramer [Anm. 14], S. 172 u. Anm. 127. Für das Isidor-Zitat vgl. Etym. [Anm. 6], Buch 12, 2, 12.

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oft und gern die Beschreibung imaginierter und die authentischer Reisen vermischt. Marco Polos Reisebericht aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts zählt die sehend wahrgenommenen architektonischen Wunderwerke wie auch die erlebten fremden Gebräuche Asiens auf und stellt sie neben qualitativ andere Beschreibungen, die von religiösen Wundern berichten.21 So wenig wie Marco Polos empirische Erfahrung der östlichen Wunder die Vorstellung von den fernen Ländern verändert hat, so wenig hat auch seine auf Augenschein beruhende Beschreibung eines Einhorns, nämlich eines Rhinozeroses, Eingang in die Naturbücher gefunden. Die monstra aber, die zur Vorstellung von der Welt im Osten gehören, sind in seinem Reisebericht von marginaler Bedeutung.22 Ganz anders Jean de Mandeville, dessen 'Voyages' zur selben Zeit (1480) vom selben Drucker in der deutschen Übersetzung von Michel Velser gedruckt werden.23 Hier haben die Wunder des Ostens, also die kuriosen Mischwesen, die zum Bestand des enzyklopädischen Wissens des Mittelalters gehören, einen herausragenden Platz. Das Erschreckende dieser monstra versucht Mandeville abzumildern, indem er "sie sammelt und rubriziert, ordnet und systematisiert, sie lediglich auflistet oder aber [...] eine Geschichte erzählt". 24 Die Rezeption, die die literarische Reisebeschreibung der legendenhaften Brandan-Geschichte ('Navigatio Sancti Brandani') im 15. Jahrhundert erfährt, ist ein besonders interessanter Fall von "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", wie Helga NEUMANN gezeigt hat. 25 Während in der 'Navigatio'-Fassung, die von Johannes Hartlieb aus dem Lateinischen übersetzt wurde, 26 das Reiseerlebnis der Fremde noch mit der theologischen Interpretation kompatibel ist, erscheint die Fremde in der ebenfalls in deutscher Prosa verfaßten 'Reise'-Fassung als Erfahrungsfeld für den Geographen und Naturforscher. 27 Beide Texte finden zur gleichen Zeit ihr Publikum, und zwar in einem verblüffenden Überlieferungsverbund: Die traditionell theozentrischer Wissensordnung verpflichtete 'Navigatio'-Fassung ist gemeinsam mit den Reiseberichten Marco Polos, Mandevilles und Odoricos de Pordenone überliefert, 21 Die oberdeutsche Übersetzung wird 1481 von Anton Sorg in Augsburg gedruckt. Vgl. Ernst Bremer, Polo, Marco. In: Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 7 (1989), Sp.771-775. 2 2 Nach Werner Röcke, Wunder der Fremde und der Traum vom Reisen. Darstellungsmuster neuer Welten in Augsburger Frühdrucken des 15./16. Jahrhunderts. In: Günter Berger u. Stephan Kohl (Hgg.), Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Literatur - Imagination - Realität 7). Trier 1993, S. 87-102, hier S. 90-93. 23 Jean de Mandeville, Reisen. Neudruck der Erstdrucke der deutschen Übersetzungen des Michel Velser (Augsburg 1480) und des Otto von Diemeringen (Basel 1480/81). Hrsg. u. m. einer Einl. versehen von Ernst Bremer u. Klaus Ridder (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A 21). Hildesheim u. a. 1991. 24 Röcke [Anm. 22], S. 95. 25 Helga Neumann, Reden über Gott und die Welt. Brandans Meerfahrt. - Diskursdifferenzierung im 15. Jahrhundert. In: Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel (Hgg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Stuttgart (im Druck). 26 Johannes Hartliebs Übersetzung ist enthalten in: Sankt Brandans Meerfahrt. Ein lateinischer und drei deutsche Texte. Hrsg. von Karl A . Zaenker (SAG 191). Stuttgart 1978; vgl. Neumann [Anm. 25]. 27 Prosa-Reisefassung, Handschrift m, U B München cod. ms. 688. Vgl. Neumann [Anm. 25],

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die "moderne" 'Reise'-Fassung jedoch bildet mit religiöser Literatur eine Überlieferungsgemeinschaft.28 Auch die Reisen in den neuen Kontinent Amerika leiten eine lange Phase des Übergangs 29

vom alten zum neuen Weltbild ein. Optisch eindrucksvoll umgesetzt sind die Schwierigkeiten, die man mit der Vorstellung von einem vierten Erdteil hatte, in einem kartographischen Extremfall. Die sogenannten Drachenschwanzkarten bilden Amerika (nach 1492) zweimal ab: Es erscheint sowohl als Erdteil der Alten als auch als Erdteil der Neuen Welt, einmal als 30Appendix Asiens im Osten und ein zweites Mal im äußersten Westen als eigener Kontinent. Welche Erklärungen sind nun aus den mannigfach konstatierten "Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen" zu gewinnen, und welche Schlüsse hat die Forschung daraus gezogen? Unter Einsatz raffinierter Strategien versuchen die Autoren und Kompilatoren, das Alte zu erhalten, es nicht durch neue Erkenntnisse zu verdrängen. Ihre Techniken sind recht vielfaltig; sie reichen von der Ignoranz des naturwissenschaftlichen Fortschritts über die Addition alten und neuen Wissens zu einer in sich widersprüchlichen Summe bis zum Abdrängen des empirisch nicht erklärbaren und doch kostbaren Wissensschatzes in andere Wissensbereiche. Der additive Umgang mit den alten und neuen Erfahrungen hat eine Reihe von Modi ausgebildet, deren wichtigste ich noch einmal resümiere:31 1. Die empirische Erfahrung wird durch Autoritätenberufung und/oder Wahrheitsbezeugung ergänzt. 2. Der als unüberwindbar aufscheinende Widerspruch zwischen Tradition und Erfahrung wird auf einen Nebenwiderspruch gelenkt und dort beseitigt. 3. Die beiden Bereiche treten in ein Steigerungsverhältnis zueinander, wobei der Bedeutungswahrheit ein höherer Rang als der Faktenwahrheit eingeräumt wird. 4. Der Widerspruch wird auf zwei Medien, Text und Bild, verteilt: 28 Neumann [Anm. 25]: "Die [ . . . ] Unterschiede zwischen 'Reise' und 'Navigatio' sind im 15. Jahrhundert offenbar nicht wahrgenommen worden". 29 "[D]aß die 'Berichte von der Entdeckung neuer Inseln' durch Kolumbus zunächst keineswegs als etwas Umstürzendes aufgenommen zu werden brauchten", findet eine Erklärung in der "seit Honorius gängigen Großgliederung der Erdbeschreibungen, die stets vier Abteilungen enthält: 1. Asien, 2. Europa, 3. Afrika, 4. Inseln. Der 4. Abschnitt 'Inseln' entzieht sich jedem Anspruch auf eine kartographisch kohärente Darstellung." Neue, vormals unbekannte Inseln können hinzutreten; Hartmut Kugler, Mittelalterliche Weltkarten und literarische Wissensvermittlung. Zur Erdbeschreibung Rudolfs von Ems. In: Horst Brunner u. Norbert Richard Wolf (Hgg.), Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache (Wissensliteratur im Mittelalter 13). Wiesbaden 1993, S. 156-176, hier S. 176. 3 0 Angela Enders, Fremde Menschen in fremder Natur. Formen der Vereinnahmung einer Neuen Welt in romanischen Reiseberichten des 16. Jahrhunderts. In: Berger u. Kohl [Anm. 22], S. 103135, hier S. 105f. 31 Meier, Argumentationsformen [Anm. 7], S. 124 unterscheidet drei grundsätzlich unterschiedliche methodische Strategien der Naturauslegung: "Zwischen den Extremen der mit Schweigen geübten Fortführung der Allegorese auf der Basis inzwischen überholter naturkundlicher Fakten, die während der Übergangsperiode in breitem Strom vorhanden ist, und des kommentarlosen Verstummens der allegorischen Deutung der Natur, das gegen Ende der Zeit mehr vordringt, tritt eine Anzahl von typischen Arten der Bewältigung des Interpretationsdilemmas auf ...".

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"Das Bild stellt vor Augen, was der Text dementiert. Auf der gleichen Seite nebeneinandergestellt, repräsentieren sie ganz unterschiedliche Traditionen und Erkenntnisstufen und damit die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen". 32 Alle diese Additionsmodi laufen darauf hinaus, daß die Erfahrung die Tradition ergänzt und bestätigt, manches Mal legitimiert sogar umgekehrt die Autorität erst die Erfahrung, nie aber erreicht die Erfahrung den Rang eines grundsätzlichen Korrektivs. 3. Autopsie und Sinnstiftung in der Geschichtsdichtung Im folgenden setze ich mit meinen eigenen Forschungen ein, wenn ich den Blick auf einige Geschichtsdichtungen des 15. und 16. Jahrhunderts lenke. Das geschieht zum einen, weil ich zeigen möchte, daß sich die von der Forschung immer wieder im naturwissenschaftlichen Schrifttum konstatierte "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" zu einem früheren Zeitpunkt in Historiographie und Geschichtsdichtung findet; mit gutem Grund: Dort ist seit alters die Wahrheitsdiskussion beheimatet. Dort wurde - zunächst in der Formel res fictae sive res factae - an einer Ausdifferenzierung von Wahrheit und Fiktion schon zu Zeiten gearbeitet, als die "Naturwissenschaft" noch fest in der Hand der Theologie war. Über die Kategorie der Erfahrung steht die Naturkunde in direkter Abhängigkeit von der Geschichtsschreibung: Von ihr hat sie den Augenscheinbeweis, das Hauptkriterium für Erfahrungswissen, entlehnt. Ich konzentriere mich hier auf historisch-politische Ereignisdichtungen, Texte, die über politische Vorfälle tendenziös berichten. 33 Indem sie auf ein zeitgeschichtliches Ereignis rekurrieren und einen Informationsanspruch erheben, gehören sie zur Gegenwartschronistik, in ihrer literarischen Machart aber sind sie unter die Dichtungen zu subsumieren. 34 Ihre Autoren frequentieren die überkommenen Beglaubigungsformeln, darunter Wahrheitsbeteuerungen, allen voran die adtestationes rei visae. Flankiert werden sie durch Quellenberufungen, deren traditionelle Hierarchie - schriftliche Quellen rangieren vor mündlichen aufgegeben wird. Briefe, Kriegsnachrichten und Warendeklarationen stehen als schriftliche Nachrichtenmedien neben mündlichen Berichten und dem rumor, der um diese Zeit als gemein geschrey ein eigenes Profil und damit an Wertschätzung gewinnt. Der ursprüngliche Sinn der Quellenberufung als Autoritätenversicherung hat ausgedient. Überhaupt läuft der Authentizitätsnachweis über Ereignisnähe und Augenschein dem Anspruch der Objektivität

32 Cramer [Anm. 14], S. 164. 33 Weitere Studien zur Wahrheitsdiskussion in den Geschichtsschreibung und -dichtung wie auch eine Ausdehnung des Untersuchungsmaterials bis in das 17. Jahrhundert sind geplant. 34 Zur historisch-politischen Ereignisdichtung habe ich in meiner Habilitationsschrift gehandelt: Karina Kellermann, Abschied vom "historischen Volkslied". Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung. Habil.schr. masch. Berlin 1996. Dort finden sich auch die hier nur knapp anzitierten Beispiele in einem größeren und anderen Frageinteressen verpflichteten Zusammenhang.

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und der Anbindung an große Geschichtsschreiber den Rang ab. Wie hier gearbeitet wird, sollen ein paar Beispiele belegen. Hans Schneider, zeitweise Reimsprecher Maximilians, dichtet zwischen 1476 und 1513 politische Reimreden und dokumentiert einen kritischen Empirismus im Umgang mit Augenschein, Gewährsleuten und Quellen. Da er in seinen Texten auf aktuelle Ereignisse reagiert, ist er an rezenten Informationen interessiert, die er propagandistisch aufbereitet. Mehrfach bricht er seine Berichte ab, weil er keine oder keine zuverlässigen Nachrichten über die weitere politische Entwicklung hat. In der Reimrede über die Eroberung des Raubritterschlosses Hohenkrähen stützt er sich auf die Auskünfte eines Augenzeugen und sieht sich veranlaßt, seine Dichtung zu beschließen, wenn die Zeugenschaft dieses Gewährsmannes endet: Was darnach würd flir newe mer, das ist in meinem wißen nicht, ich het villeicht sust weiter dicht. Darumb so wil ichs prechen ab, piß daß ich weiter potschaft hab, und habs gemacht auf den beschaid, wie des mir Herman Gropmar sait, der hat gesehen selb die dat, als Hanns Schneider gesprochen hat.35

Die Schilderung eines weiteren Zugs gegen Raubritterburgen beendet Hans Schneider schon nach 106 Versen, weil es ihm an zuverlässigen Informationen gebricht.36 In einer anderen Reimrede erfahrt man etwas über die Nachrichtenmedien, auf die ein Dichter politischer Ereignisse dann angewiesen ist, wenn es sich um Vorfälle in entfernteren Regionen handelt: Der kaufleut gschrift und botten sag und ander mer kompt vil an tag.37

Auch in diesem Fall nötigt der Mangel an Faktenwissen den Autor, seinen Bericht abzuschließen: Domit mein red soll haben end, biß weiter Sachen wirt volendt, so rieht ich nach der weisen rat?1

Der Anspruch des Publizisten auf rezente Wirkung beeinflußt nicht nur Quellenauswahl und Wahrheitsbezeugung, sondern begünstigt auch das Medium des Buchdrucks. Wie eilig es 35 Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Hrsg. von Rochus von Liliencron. 4 Bde. Leipzig 1865-1869 (Neudruck Hildesheini 1966), Bd. 3, Nr. 270, V. 150-158. 36 Liliencron [Anm. 35], Bd. 3, Nr. 271, V. 107-111. 37 Liliencron [Anm. 35], Bd. 3, Nr. 259, V. 5f. 38 Liliencron [Anm. 35], Bd. 3, Nr. 259, V. 91-93.

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Hans Schneider und seine Druckerin haben, den Ereignisbericht über Nürnberger Eroberun39

gen im Landshuter Erbfolgekrieg im Druck zu verbreiten, läßt sich zum einen daran ablesen, daß sie sich nicht damit aufhalten, vorab die für Versdichtungen notwendige Druckerlaubnis des Rates einzuholen.40 Die Folge: Druck- und Verbreitungsverbot. Zum anderen erstellt Schneider die erste Fassung seiner Dichtung sofort im Anschluß an die militärischen Erfolge Nürnbergs, zu einem Zeitpunkt, an dem er noch nicht die Namen der städtischen Hauptleute kennt;41 er nimmt das partielle Informationsdefizit zugunsten größtmöglicher Aktualität in Kauf und erhöht sogar die Glaubwürdigkeit der Informationen durch das wiederholte Eingeständnis seiner begrenzten Kenntnis: War nun der erst zeug tue/ waiß ich nit [...] - und gegen Ende des Berichts: und wer die hauptleut sein gewesen, kund ich nit aller zu"samen lesen, doch zimlich die mir send bekant die werden hie mit kurz genant.*2

Diese Bekundungen und die Reklamation der Augenzeugenschaft nur für die Ausschnitte aus dem Kriegsgeschehen, dessen Beobachtung man dem in der Stadt weilenden Dichter wohl zutrauen kann, steigern die Authentizität des Berichts. Zur selben Zeit und im selben Genre wird nach wie vor mit den traditionellen veritasFormeln operiert, die sich um empirisch gestützte Faktenwahrheit nicht scheren. Die Augenzeugenschaft oder persönliche Teilnahme des Autors werden in derart stereotypen Formeln beschworen, daß sie als Kategorien singulärer Erfahrung nicht ohne weiteres taugen. Wenn die Dichter auf eine Sicherung ihrer Aussagen verzichten, sind diese eher dem überkommenen Legitimationsgestus des Gegenwartshistoriographen zuzuschreiben, dessen Ideal die adtestatio rei visae ist, als ernstzunehmendes Signum subjektiver Beobachtung. Nicht selten wird eine Korrelation von stilistischer Schlichtheit, die sich einem überlegten Vorsatz oder fehlender Gelehrsamkeit verdankt, und der Wahrheitsverkündung hergestellt. Wilhelm Sunneberg legitimiert im Jahre 1504 seine Dichtung trotz mangelnder Bildung, weil sie im Dienste der Wahrheitsverkündung stehe: ich pin ain guter armer knecht, des günnen mir mein nachpaurn wol, wenn ich die warheit reden sol. Doch weiß ich nichts das mir geprist, denn daß ich nit hab weis und list alls auß der kunst rethorica.43

39 Liliencron [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 235. 4 0 Vgl. Arnd Müller, Zensurpolitik der Reichsstadt Nürnberg. Von der Einführung der Buchdruckerkunst bis zum Ende der Reichsstadtzeit. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 4 9 (1959), S. 66-169, hier S. 72. 41 Vgl. Frieder Schanze, Schneider, Hans. In: Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 8 (1992), Sp. 789f. 4 2 Liliencron [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 235, V. 117f. u. V. 327-330.

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Er handelt somit nach der verbreiteten Maxime: Wahrheit verpflichtet zur Mitteilung. Konrad Silberdrat, der trotz seines Meistertitels in bewußter rhetorischer Zurückhaltung die schlichte Form der Reimpaarrede gewählt hat, bemüht eine altbewährte Argumentation, die besagt, daß die Wahrheit unverstellt und schnörkellos dargeboten werden muß, da rhetorische Finessen zum gleißenden Schein der lügenhaften Dichtung gehören. Er expliziert eindringlich die Wahl dieser ästhetisch eher anspruchslosen Form durch das Wahrheitsgebot. Seine Rede aus dem Jahr 1423 endet mit den Worten: [...] sprach maister Cunrat Silberdrat, der uns diß warhait gesprochen hat mit grobem unvermeßen gedieht.

[...]

Er hat sich uf die warheit gerieht, nit anders ho'rt man in disem gedieht, des ziueht er sich ufJhesus Crist und alle die, den dar umb ze wißen istr

Gleichgültig, ob die politischen Dichter auf den idealisierten Wahrheitsbegriff rekurrieren oder sich um nachprüfbare Erfahrungswahrheit bemühen, immer hat die Wahrheit einem publizistischen Interesse gerecht zu werden, dem an Objektivität im heutigen Verständnis nicht gelegen ist. "Den von den Reimpublizisten erläuterten syn von Ereignissen würde man heute als 'Tendenz' bezeichnen", so Bernd THUM.45 Ahnlich der zweckgerichteten interpretatorischen Leistung des Dichters, der dem Stoff erst durch Deutung Sinn verleiht, liegt die besondere Leistung des Publizisten in seiner Fähigkeit, in ungeordneten und schwer durchschaubaren politischen Situationen Sinn zu stiften oder auch in klaren Verhältnissen das Publikum auf die eine wahre Sicht einzuschwören. Anspielungen auf das Geschäft des Ausdeutens und Interpretierens mag man noch in Wendungen erkennen wie: Nun merket all zu" diser zeit,/ was dise rede uns bedeut,46 oder: Ich will euch noch eines bedeuten,! vonposem geschlecht, ungetreuen leuten,47 Daraus ergibt sich, daß die so bezeichnete "Tendenz" eben nicht, wie im modernen Gebrauch üblich, pejorativ gesehen werden darf; denn die Einseitigkeit der Darstellung und die Selektion der Fakten dienen der Sinnvermittlung durch den politischen Autor, der sich als Wahrheitsträger begreift. Er ähnelt dem Geschichtsdichter des frühen und hohen Mittelalters, der abschreckende oder nachahmenswerte Viten illustrer historischer Personen tra43 Liliencron [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 233, V. 2-7. 44 Liliencron [Anm. 35], Bd. 1, Nr. 59, V. 449-451 u. V. 457-460. 45 Bernd Thum, Der Reimpublizist im deutschen Spätmittelalter. Seibstverständnis und Selbstgefühl im Lichte von Status, Funktion und historischen Verhaltensformen. In: Franz Viktor Spechtler (Hg.), Lyrik des ausgehenden 14. und 15. Jahrhunderts (Chloe. Beihefte zum Daphnis 1). Amsterdam 1984, S. 309-378, hier S. 362. 46 Liliencron [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 151, V. lf. 47 Liliencron [Anm. 35], Bd. 2, Nr. 228, V. 227f.

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diert, obwohl er ihren Wahrheitswert bezweifelt. Er tut dies, um durch markante Exempla die heilsgeschichtliche Wahrheit zu befördern. Auch die historisch-politischen Ereignisdichter ordnen und strukturieren ihre Fakten zum Nutzen einer höheren Wahrheit. Insofern stehen sie in der Tradition der Historiographen. Zugleich aber brechen sie mit dem universalistischen Zugriff auf die Geschichte. Die politische Publizistik des ausgehenden Mittelalters konzentriert sich auf politische Einzelfälle der aktuellsten Gegenwart von zum Teil nur lokaler Bedeutung. Die Rezenz der Nachrichten veranlaßt die häufigen Wahrheitsbeteuerungen oder die Ausbreitung der Quellenlage, bei der Autoritäten gar nicht mehr, Autopsien aber umso höher geschätzt werden. Die regionale und zeitliche Beschränkung, die sich der historisch-politische Ereignisdichter auferlegt, ist zu einem Teil durch das gestiegene Interesse am Mikrokosmos, zum anderen aber durch eine existenzielle Verunsicherung verursacht. Weil er durch einen vermehrten Informationsfluß zwar von entfernten politischen und wirtschaftlichen Vorkommnissen erfährt, aber nicht durchschaut, wie Ausländisches und Inländisches, Politik und Wirtschaft miteinander zusammenhängen, begnügt er sich mit dem Einzelereignis, über das er sich ausreichend informiert wähnt. Da er aber gleichzeitig an dem alten Anspruch der Auswahl, Deutung und Auslegung der Fakten festhält, kommt es zur tendenziösen Präsentation der Ereignisse. Nicht in weltgeschichtlichen Dimensionen, sondern auf der Ebene der Partikularinteressen und des Parteiengezänks ist der Publizist aufgefordert, Sinn zu stiften. Die disparaten Ansprüche, nachprüfbare Fakten zu berichten und dennoch das Publikum zum richtigen Verständnis anzuleiten und gezielt zu steuern, zwingen ihn in den Spagat zwischen extremer Parteilichkeit einerseits und ausgeprägtem Wahrheitsstreben andererseits. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Der Begriff der Wahrheit selbst beginnt sich langsam, aber unumkehrbar zu verändern. Unter dem Einfluß der empirischen Methoden der Naturwissenschaften werden die allein durch Autoritäten gestützten Wahrheiten zunehmend obsolet, eine Entwicklung, die von den Sachtexten ihren Ausgang nimmt.48 Das führt dazu, daß dem Erfahrungswissen ein höherer Stellenwert als vormals eingeräumt wird. Im Rahmen der Geschichtsschreibung resultiert daraus eine Präferenz und Aufwertung der Gegenwartshistoriographie. Einige Autoren zollen der gewachsenen Bedeutung der empirischen Wahrheit Tribut, indem sie ihrem Erfahrungswissen Grenzen stecken, die vom Publikum nachvollziehbar sind. Hans Schneider hat in mehreren seiner Reimreden auf die Durchsichtigkeit seiner Informationen und Kenntnisse hingearbeitet, indem er seine Augenzeugenschaft nur für einen geographisch begrenzten Raum behauptet, das Versiegen seiner

48 Hannes Kästner und Eva Schütz, Beglaubigte Information. Ein konstitutiver Faktor in Prosaberichten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Vorstand d. Vereinigung d. dt. Hochschulgermanisten (Hg.), Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1.-4. April 1979. Berlin 1983, S. 450-469, hier S. 456: "Zunehmend wird der Versuch deutlich, mittels exakter Einzelbeobachtungen von der durch die Heilsgeschichte bestimmten theozentrischen Systemgläubigkeit abzurücken".

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Quelle kundtut, über unzureichende Nachrichten klagt und seine Dichtung gegebenenfalls abbricht. Quer durch die verschiedenen Sachgruppen der Reiseliteratur, Naturkunde, Mantik, Heilkunde und eben auch Geschichte gilt aber, daß empirisches Wissen die Beglaubigungsformeln nicht substituiert, sondern ergänzt. So werden die alten Traditionen in der Wahrheitsdiskussion keineswegs umstandslos über Bord geworfen, und es bleibt bei einer grundsätzlichen Zweckbindung des Wahrheitsbegriffs, der in jedem Falle auf die Gesellschaftsordnung zu beziehen ist. Dominant und während des ganzen Mittelalters präsent ist die moralische Dimension der Wahrheit. Exemplarische Gestaltung, religiöse Zurichtung, historische Verallgemeinerung oder Simplifizierung komplexer Wahrheiten sind zum Ziele der lebensweltlichen Unterweisung nicht nur erlaubt, sondern sogar opportun. Im Grunde geschieht in der politischen Geschichtsdichtung dasselbe wie in den naturaund wzMrtJws-Büchern, die zwar die Kategorie der Erfahrung aufnehmen, sie aber nicht als Korrektiv des Wissens einsetzen. Hier wie dort wird die neue empiriegesättigte Sicht dem alten Konzept nur hinzugefügt; eine Separierung von Faktenwahrheit einerseits, die einem geschichtlich-dokumentarischen Diskurs zuzuordnen wäre, und einer integumentum- oder allegorischen oder exemplarischen Wahrheit andererseits, die einem literarischen Diskurs aufgegeben wäre, wird nicht vollzogen. Der politische Dichter vermittelt in seiner Person die Positionen des Historiographen und des Sinndeuters. Der erste Schritt zur Informationsgesellschaft ist gemacht, indem der Autor auf öffentliche Meinung - gemein geschrey - reagiert und sich als Publizist versteht, der für eine Öffentlichkeit, und sei sie auch nur eine partielle, schreibt. Zugleich wird der Deutungsanspruch und damit eine berufsbezogene Exklusivität nicht aufgegeben, die sich im traditionellen Bezugsrahmen des ordo als Auslegungsaktivität entfaltet. Die Grenze zwischen fabula und historia wird durchlässig, weil Dichtung und Geschichtsschreibung sich begegnen in dem Anspruch, Neuigkeiten in unter49

haltsamer Weise zu erzählen und zu verbreiten. Dies läßt sich im Blick auf die gesamte Gegenwartschronistik des 15. und 16. Jahrhunderts beobachten. Und auch im Umgang mit der Wahrheit zeigt sich die an der historisch-politischen Ereignisdichtung belegte innovativtraditionelle Mischung: Wenn Chronisten - wie Sigismund Meisterlin und Aeneas Silvio den modernen wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff kennen und benennen, bleibt er der Theorie verhaftet, in der Praxis unterscheiden sich die Repräsentanten alter und neuer Wahrheit kaum. 5 0 49 Rolf Sprandel, Geschichtsschreiber in Deutschland 1347-1517. In: Frantiäek Graus (Hg.), Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme (Vorträge und Forschungen 35). Sigmaringen 1987, S. 289-318, hier S. 308. Dies gilt nicht nur für den Grenzrain von historisch-politischer Dichtung und Historiographie. Wie eng die frühen Prosaromane, die sich nicht von ungefähr Historien nennen, in der Wissensvermittlung, dem Wahrheitsanspruch, dem Erfahrungstypus an die historischen Gattungen und ihre Argumentationsmuster anschließen, hat Müller [Anm. 2] eindrücklich gezeigt. 50 Sprandel [Anm. 49], S. 309; Sigmund Meisterlin beschließt die Vorrede seiner zwischen 1485 und 1488 abgefaßten 'Chronik der Reichsstadt Nürnberg' folgendermaßen: Darumb geen wir an die history und werfen zu rucken alle fabel oder sagmer, wann es ist uns solichs in history nit gepür-

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Zum Schluß will ich die Linien schärfer ausziehen und auf die Problematik der Koinzidenz des Inkompatiblen zurückkommen. Die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit steht unter dem Zeichen der Verwissenschaftlichung. Die Gelehrsamkeit verläßt ihren angestammten akademischen Platz und vermischt sich in der Volkssprache mit dem dort zumeist mündlich umlaufenden nicht-gelehrten Erfahrungswissen. Dabei werden kleine und große Grenzzäune überrannt: Der politische Dichter erobert mit der Deutung von Wunderzeichen und Prophezeiungen Bereiche des Spezialwissens, und der Naturgeschichtsschreiber reißt die theologische Bastion der Allegorese ein. Die Gelehrsamkeit mit der ihr eigenen Exklusivität hat ausgedient, potentiell steht dem Laien das ganze Wissen als Information zur Verfügung. Während die vorherige Separierung von Arkanwissen und Laienbildung die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" überhaupt nicht ins Bewußtsein treten ließ, zeigt sich in der Konfrontation dieser beiden Wissenstypen in denselben Produktions- und Rezeptionsräumen zunächst ihre Inkompatibilität. Wir reagieren auf diese Inkonsequenz mit der Formel von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen". Wir decken Widersprüche auf und lasten sie einer aus unserer Sicht unzulässigen Diskursmischung an: Der naturwissenschaftliche, der theologische, der literarische, der künstlerische, der historische und der tagespolitische Diskurs gehen wild durcheinander und zwar vor einem Publikum, bei ein und demselben Autor, manchmal sogar in einem einzigen Text. Diese Sicht ist durchaus legitim, entspricht unserem neuzeitlich geprägten systematisierenden Denken und zeitigt ebensolche wissenschaftlichen Ergebnisse. Der Erkenntnis der langen Übergangszeit ist sie nicht zuträglich; einer Übergangszeit, die zwischen der dichotomisch gespaltenen Gelehrten-Laien-Gesellschaft des Mittelalters und der neuzeitlichen Informationsgesellschaft mit ihren diversifikatorischen Wissenschaftsdiskursen auf der einen und einem davon geschiedenen literarischen und künstlerischen Diskurs auf der anderen Seite anzusetzen ist. Das Wissenskonzept dieser Zwischenzeit zeichnet sich aus durch eine unbändige Neugierde,51 eine Sammelwut und Systematisierungsversuche, ein Ausprobieren der Begrifflichkeit sowie eine wahre Informationsflut, die durch den Buchdruck einem heterogenen Publikum überantwortet wird.52 Erst nach und nach bilden sich getrennte Wissenslich, die allein die warheit aischet. [...] und bestetigen unser sag mit gewaltigem schreiben der gescheen ding; Sigmund Meisterlin's Chronik der Reichsstadt Nürnberg 1488. Hrsg. von Matthias Lexer. In: D i e Chroniken der deutschen Städte 3. Leipzig 1864 [Neudruck Göttingen 1961], S. 1178, hier S. 32.) 51 Im Begriffsraster Blumenbergs [Anm. 2], S. 272 ist es die "naive [] Neugierde" im Unterschied zur "selbstbewußten Neugierde", die eine "reflektierte Neugierde" ist. 52 Link-Heer [Anm. 5], S. 19-23 u. passim hat auf die Chance hingewiesen, die Michel Foucault (Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966) mit seiner Kategorie der Episteme eröffnet hat, die diskursive Formationen ohne Epochencharakteristik und Integrationszwang zuläßt. Mit diesem Modell ist eine Möglichkeit aufgezeigt, aus den unilinear-diachronischen Geschichtsauffassungen auszubrechen: "Das, was man häufig unter dem Problemtitel der 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' beschrieben hat, läßt sich dann unter dem Aspekt der seriellen Reproduktion von Spezialwissen und seinen respektiven Diskursen reformulieren. [...] Erst die (schriftliche) Diffusion des traditional voneinander isolierten Wissens kreiert das Bedürfnis in-

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diskurse heraus, so daß eine Theologie neuer Prägung einer empirischen Naturwissenschaft, eine faktengesättigte Ereignisgeschichte den fiktionalen Bereichen von Literatur und Kunst gegenübersteht. In der Interimsphase werden mannigfache Versuche unternommen, den Körper als Träger und Quelle von Sinn zu erhalten, die Aufspaltung in Körper und Bewußtsein aufzuhalten. 53 Zäh ringt man um die Einheit von Wissen und Nutzen, von Gelehrsamkeit und Vorbildlichkeit, um den Erhalt des handlungsleitenden Wissens. Schon Mitte des 14. Jahrhunderts kleidet Heinrich der Teichner seine kontrastive Schilderung der alten Gelehrten und der jungen Vielwisser in eine laudatio temporis acti, sieht also die ursprüngliche Harmonie von Worten und Taten, von Intellekt und Ethos schwinden: wa si mit den Worten cherten, da gingen auch die werch der mit, daz si phlagen guter sit. daz ist nu den jungen wild, irew wort und irew pild die sind ungleicher geschieht,54

"Die vielfältigen Kenntnisse relativieren sich bis zur Aufhebung jeglicher Verbindlichkeit. Ein solches Wissen, resümiert Heinrich der Teichner, sei kein eigentliches Wissen mehr", bemerkt Horst WENZEL.55 Der Teichner sieht zwar durchaus den Informationsgewinn, pointiert aber die Gefahr eines objektivierten Wissens. Kampflos geben er und seine Kollegen das Terrain nicht preis; sie suchen Wege, das neue Wissen zu nutzen und die alte Orientierung nicht zu verlieren. Gegen die apodiktische Rede von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", die die neuzeitliche Sicht der Diskurstrennung verabsolutiert und aus einer olympischen Beobachterposition heraus behauptet, daß das Gleichzeitige schon ein Ungleichzeitiges gewesen sei, ein Altes und ein Neues unverstanden und unvermittelt aufeinanderprallten, setze ich in pointierter Kürze die Formel von dem Versuch der "Vereinbarkeit des Unvereinbaren". Die moderne Sicht, die nur das Widersprüchliche oder sogar terdiskursiver Integrationen - mit dem Risiko, in strikte inquisitorische Kontrolle genommen zu werden. Die Situation erscheint für das Spätmittelalter typisch und erweckt für heutige Rezipienten jenen Eindruck der Disparität und des Heterocliten, den wir so gerne durch Aufspaltung des Archivs in noch 'mittelalterliche' und schon 'neuzeitliche' Segmente zu überwinden trachten" (S. 35f.). 53 Hans Ulrich Gumbrecht, Beginn von 'Literatur'/Abschied vom Körper? In: Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg u. Dagmar Tillmann-Bartylla (Hgg.), Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. München 1988, S. 15-50 sucht die "Wissensstrukturen der mittelalterlichen Gesellschaft" auszudrücken in der "Formel vom Stellenwert des Körpers als Quelle und Träger des 'Sinns'", während "Sinnkonstitution eigentlich erst seit dem Heraufkommen der mentalen Gestalt 'Subjektivität' - also erst seit dem Ende des Mittelalters - dem Menschen als Leistung zugeschrieben wurde" (S. 25). 54 Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. 3 Bde (Deutsche Texte des Mittelalters 44, 46, 48). Berlin 1953-56, hier Bd. 3, Gedicht Nr. 564, V. 1626-31. 55 Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 201; dort auch das Teichner-Zitat.

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Lächerliche in der Vermischung der Diskurse und Erkenntnisse am Ende des Mittelalters konstatiert, verstellt gänzlich den Blick auf ein Jahrzehnte bis Jahrhunderte währendes Ringen um eine integrative Wissensentwicklung. Sind doch die Autoren dieser Interimszeit von der Idee besessen, das Unvereinbare zu vereinbaren, reiben sie sich gerade in dem Versuch auf, die neuen Erkenntnisse mit dem alten Weltbild zu harmonisieren.

TEIL II FORTSCHREIBUNGEN VON WISSENSBESTÄNDEN

Franz Tinnefeid Zu Begriff und Konzepten des Enzyklopädismus in Byzanz

Die Enzyklopädisierung des Wissens wurde als wichtigstes Medium der Wissensvermittlung in jüngster Zeit Gegenstand intensiverer Forschung auch der Mediävisten. Der einschlägige Artikel im Lexikon des Mittelalters definiert Enzyklopädie als "systematisch zusammengefaßte Darstellung des Wissens". 1 Unter diese allgemein gehaltene Begriffsbestimmung lassen sich Varianten der Gattung einordnen, die im Umfang (Universal- oder Spezialenzyklopädien), aber auch in der Anordnung des Stoffes voneinander unterschieden sind; der Stoff kann entweder systematisch oder alphabetisch im Sinne der heutigen Lexika angeordnet sein. Im ersteren Fall ist der Zusammenhang der Wissensgebiete besser erkennbar, aber das Einzelwissen schwerer aufzufinden, im anderen Fall läßt sich zwar leichter nachschlagen, aber das Wissen wird in isolierte Einzelheiten aufgespalten. Als dritte Variante ist noch die systematisch angeordnete Enzyklopädie zu nennen, die zugleich auch auf ein letztes, höheres Ziel des gesamten Wissens ausgerichtet ist, worunter im Mittelalter durchweg der Gott der Christen zu verstehen ist.2 Zur ersten Form kann man z. B. die 'Etymologiae' des Isidor von Sevilla (gest. 636) zählen, eine umfassende und systematisch gegliederte, wenn auch nicht erschöpfend vollständige Sammlung des zu seiner Zeit verfügbaren Wissens, das auf diese Weise an einen breiteren Leserkreis vermittelt werden sollte. Hier behandelten die Bücher 1-3 die artes liberales, Buch 4 die Medizin, Buch 5 die Jurisprudenz usw. Eine Hinordnung des Ganzen auf ein übergeordnetes Ziel ist hier noch nicht erkennbar, wohl aber bereits im enzyklopädischen Werk des Hrabanus Maurus (gest. 856) 'De rerum naturis', in dem das Wissen nach der Schöpfungsund Seinsordnung gegliedert und so letztlich auf Gott hin ausgerichtet ist. Enzyklopädien mit einer entsprechenden theologischen Zielsetzung gab es in größerer Zahl ab dem 12. Jahrhundert; der Umfang ihres Materials war aber oft beschränkt. Eine alphabetische Anordnung wurde erstmals im 13. Jahrhundert von Thomas von Cantimprö innerhalb der einzelnen Kapitel seiner Enzyklopädie durchgeführt. Dieses Konzept wurde in der Folgezeit in Richtung auf das moderne Konversationslexikon hin weiterentwickelt. In der Byzantinistik werden die Begriffe "Enzyklopädie, enzyklopädisch, Enzyklopädik, Enzyklopädismus" seit einiger Zeit neu diskutiert. Bis vor kurzem verstand man hier unter 1 2

J. Gruber, J. Verger, G. Bernt, M.-R. Jung, K. Bitterling, P. Schmitt, Ch. Hannick, Enzyklopädie, Enzyklopädik. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 3 (1986), Sp. 2031-2039. Die folgenden Angaben über abendländische Enzyklopädien nach Konrad Vollmann, Von Isidor von Sevilla zu Albertus Magnus. Die großen mittelalterlichen Enzyklopädien. In: 'Handbuch Medienwissenschaft' der Reihe 'Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft', Artikel Nr. 79 (im Druck; der Autor stellte mir dankenswerterweise sein Manuskript zur Verfügung).

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"Enzyklopädik" im wesentlichen das Sammeln von Materialien zu verschiedenen Wissensbereichen, wie es im 10. Jahrhundert unter Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos angeregt und gefordert worden war. Diese Verwendung des Begriffs reicht zurück bis zu KRUMBACHER.3 Sie wurde von DAIN eingehend begründet, 4 und angesehene Byzantinisten wie LEMERLE5 und HUNGER6 verliehen ihr durch Übernahme die Sanktion. Erst fast hundert Jahre nach KRUMBACHER unterzog ODORICO diesen Enzyklopädiebegriff erstmals einer grundsätzlichen kritischen Prüfung. 7 Er schlug vor, jede Form rein kompilativer Tätigkeit auf Begriffe wie "Sammlung" oder "Inventar" (griech. ouAAoYn) zu reduzieren und als Enzyklopädien nur Werke gelten zu lassen, die Uber die reine Sammeltätigkeit hinaus das Gesamtwissen bzw. das Teilwissen eines Wissenszweiges entsprechend dem Stand der Zeit in schöpferischer ("inventorischer") Weise systematisieren. Allerdings hatte, wie ODORICO selbst bemerkt, vor ihm bereits der Byzantinist und Slavist HANNICK in seinem Teilbeitrag zum obengenannten Artikel im Lexikon des Mittelalters

stillschweigend eine

Deutung des Begriffs vorausgesetzt, die weit über bloße Sammeltätigkeit hinausgeht. 8 HANNICK erwähnt den Sammler Konstantinos Porphyrogennetos nur noch im Literaturverzeichnis 9 und führt im Text des Artikels eine Reihe von byzantinischen und slavischen Werken 3

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Karl Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Litteratur von Justinian bis zum Ende des oströmischen Reiches (527-1453) (Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft IX. 1). 2. Aufl. München 1897, S. 258 bezeichnet die konstantinischen Exzerpte als "die große Enzyklopädie der Geschichte und Staatswissenschaft". Alphonse Dain, L'encyclopédisme de Constantin Porphyrogénète. Lettres d'humanité 12 (= Bulletin Assoc. G. Budé, Supplément III, 4) (1953), S. 64-81. In der Zusammenfassung seiner Ergebnisse (S. 80f.) unterscheidet der Autor zwei Formen der enzyklopädischen Tätigkeit unter Kaiser Konstantinos: 1. Die Exzerptensammlung: "La première [sc. forme] est spécifiquement constantinienne et consiste en fabrication d'extraits: on réduisit la production antérieure, et notamment la tradition héritée des anciens, à des formules plus brèves, formules qui, par conséquence, entraînaient l'oubli et la perte des ouvrages que l'on avait pu jusque là conserver in extenso". 2. die Kompilation: "L'autre forme est celle de la compilation, ordinairement paraphrasée, qui s'applique plus volontiers aux travaux modernes qu'à la littérature ancienne: de sources antérieures diverses et diversement combinées, on fait un ouvrage nouveau, passible à son tour de rajeunissement et de nouvelles compilations. Cette formule n'est pas propre au règne de Constantin Porphyrogénète, mais c'est lui et son entourage qui lui ont assuré la plus grande vogue". Paul Lemerle, Le premier humanisme byzantin (Bibliothèque byzantine. Études 6). Paris 1971, S. 266. Vgl. auch den unten, Anm. 9, zitierten Beitrag von Lemerle. Herbert Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, Bd. 1-2 (Handbuch der Altertumswissenschaft XII.5.1-2). München 1978, hier Bd. 1, S. 244 u. S. 361f. Paolo Odorico, La cultura della lYAAOTH. 1) II cosidetto enciclopedismo bizantino, 2) Le tavole del sapere (Sacra parallela) di Giovanni Damasceno. Byz. Zeitschr. 83 (1990), S. 1-21. Christian Hannick, Enzyklopädie, Enzyklopädik, III, 4, Byzantinische (und slavische) Literatur. In: Lexikon des Mittelalters. Bd.3 (1986), Sp. 2036-2038. Hannick [Anm. 8], Literatur zu III, 4, Sp. 2039 zitiert C. de Boor, Suidas und die Konstantinische Exzerptensammlung. Byz. Zeitschr. 21 (1912), S. 381-424; 23 (1914), S. 1-127, weist aber auch hin auf P. Lemerle, L'Encyclopédisme à Byzance à l'apogée de l'empire et particulièrement sous Constantin VII Porphyrogénnète. Cahiers d'histoire mondiale 9 (1966), S. 596-616, der hier den Enzyklopädiebegriff vor allem auf die Exzerptensammlungen unter Konstantinos VII. bezieht.

Enzyklopädismus in Byzanz

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auf, welche dem von ODORICO entwickelten Konzept bereits bis zu einem gewissen Grade zu entsprechen scheinen, ohne sich allerdings, entsprechend dem beschränkten Umfang eines Lexikonartikels, auf eine Diskussion des Begriffs einzulassen. Es soll hier nicht diskutiert werden, ob der von HANNICK verwendete und von ODORICO ausführlich verteidigte Enzyklopädiebegriff der allein richtige ist. Wie eingangs gezeigt, finden auch in der Mediävistik engere und weitere Definitionen des Begriffs Anwendung. Die sogenannte Kultur des Sammeins und Inventarisierens, die Byzanz im 10. Jahrhundert stark prägte, kann nach wie vor durchaus im weiteren Sinne als eine Variante des Enzyklopädismus verstanden werden. So führt auch HANNICK z. B. ein Werk wie die 'Bibliothek' des Photios an, welche nicht mehr als eine Sammlung von Exzerpten und Resümees aus älteren Autoren ist. Man wird sogar sagen dürfen, daß sich ohne Sammeln und Exzerpieren eine Enzyklopädie kaum herstellen läßt. Doch blieb die frühere Forschung zu sehr auf diesen Aspekt enzyklopädischer Tätigkeit fixiert und wurde erst durch HANNICK und ODORICO dazu angeregt, die Frage nach der Existenz von Enzyklopädien in Byzanz, die einem inventorischen Gesamtkonzept verpflichtet sind, überhaupt zu stellen. ODORICO selbst konzentriert sich im weiteren Verlauf seines Beitrages nur auf ein Werk, in dem er ein entsprechendes Konzept, das von der Forschung bisher in seiner Eigenart nicht beachtet wurde, zu erkennen glaubt. Dieses Werk soll nicht im Zentrum des vorliegenden Beitrages stehen, aber doch auf der Basis seiner Beobachtungen kurz vorgestellt werden. Es trägt den schlichten griechischen Originaltitel Tä 'lepä ('Die heiligen Dinge'), ist aber üblicherweise unter dem lateinischen Namen 'Sacra Parallela' bekannt. 10 ODORICO weist das Werk, das man bisher zu den Gnomologien bzw. Florilegien oder Sentenzensammlungen zählte, 11 mit RICHARD12 dem Kirchenvater Johannes von Damaskos (8. Jh.) zu, dessen Autorschaft allerdings von anderen bestritten wurde. 13 Er versucht nun vor allem zu zeigen, daß das Konzept der 'Sacra Parallela', das in der Vorrede (Prooimion) dieses Werkes ausführlich erläutert wird, der Systematik vorausgehender Sammlungen, z. B. des 'Pandectes Sacrae Scrip-

10 Das Originalwerk ist zum Teil nur noch in späteren Überarbeitungen erhalten. Eine kritische Edition, welche die gesamte komplizierte Überlieferung aufarbeitet, liegt bisher nicht vor. Was in der PG Bd. 95, Sp. 1041-1588 und Bd. 96, Sp. 9-442 unter diesem Namen abgedruckt ist, ist eine der späteren Kurzfassungen, ediert von Michel Lequien, Sancti Joannis Damasceni ... opera omnia quae exstant, Bd. 2, Paris 1712, nach einer unvollständigen Handschrift des 15. Jahrhunderts (vgl. Odorico [Anm. 7], S. 19 mit Anm. 66 sowie S. 15, Anm. 51). Einen Überblick über die handschriftliche Überlieferung gibt Odorico [Anm. 7], S. 13. 11 Hans-Georg Beck, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich (Handbuch der Altertumswissenschaft XII.2.1). München 1959, S. 482 nennt es "eine biblisch-patristische Stoffsammlung für das ethische und asketische Leben"; Marcel Richard, Florilèges grecs. In: Dictionnaire de Spiritualité. Bd. 5 (1964), Sp. 475-512, hier Sp. 476, reiht es unter die Florilegien ein. 12 Richard [Anm. 11], Sp. 476-486. 13 Vgl. Odorico [Anm. 7], S. 12, Anm. 41.

Franz Tinnefeid

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turae', 1 4 erheblich überlegen ist, vor allem wegen seiner systematischen Anordnung nach den drei Kategorien Gott, menschliche Dinge (äv8pcbniva n p ä Y p a T a ) , Tugenden und Laster, aber auch wegen des Angebots einer Nachschlagehilfe, einem am Anfang des Gesamtwerkes stehenden alphabetisch

angeordneten

Kapitelverzeichnis. 1 5

Man kann infolgedessen

das

G a n z e entweder der systematischen Anordnung gemäß gleichsam passiv lesen oder auch es aktiv befragen, indem man ein gewünschtes Stichwort nachschlägt. S o wird zugleich das Auffinden des Details ermöglicht und der Vorteil einer systematischen Anordnung nicht aufgegeben. Die ' S a c r a Parallela' sind also ein gutes Beispiel für ein innovatorisches Enzyklopädiekonzept, wie es ODORICO vorschwebt. Er beschränkt sich, wie gesagt, a u f dieses eine B e i s piel, deutet aber an, daß der zitierte Artikel von HANNICK16 für eine weitere Behandlung des T h e m a s richtungweisend sein könnte. 1 7 HANNICK nennt aus dem Bereich der byzantinischen Literatur einerseits fachbezogene Teilenzyklopädien, die hier - bis a u f eine, das ' S y n t a g m a ' des Pachymeres (s. u.) - nicht näher behandelt werden sollen, andererseits aber auch zwei Werke, die über die Grenzen der Einzeldisziplinen hinausgehen und einen strukturierten Überblick über das gesamte Wissen einer Epoche geben wollen. Diese beiden und das zuerst genannte Werk wurden aber noch nicht näher a u f ihren enzyklopädischen Charakter untersucht. Dazu sollen die folgenden Ausführungen einige Anregungen geben. Wir beginnen mit einer knapp gefaßten Enzyklopädie des 11. Jahrhunderts, verfaßt von dem Universalgelehrten und Staatsmann Michael Psellos, dessen gesamte literarische Hinterlassenschaft man im übrigen wegen der Vielseitigkeit seiner wissenschaftlichen T h e m e n als Beiträge zu einer umfangreichen Enzyklopädie verstehen könnte. In der genannten Schrift, die unter dem lateinischen Titel ' D e omnifaria doctrina' bekannt ist, 18 versuchte er das gesamte Wissen seiner Zeit im Überblick darzustellen. Sie ist in vier Autoren-Redaktionen überliefert, von denen nur die dritte und vierte eigentlich als " E n z y k l o p ä d i e " bezeichnet werden können. Psellos begann mit einem Werk über Aporien zur Physik (Red. 1), erweiterte dieses um einen theologischen Vorspann (Red. 2), fügte sodann weitere Antworten a u f verschiedene Fragen und Aporien für seinen kaiserlichen Zögling, den Prinzen Michael Dukas, hinzu (Red. 3 ) und gelangte schließlich zu einer Fassung (Red. 4 ) , die zwar nur noch wenig 14 Antiochos aus Kleinasien, der später in der Sabaslaura bei Jerusalem lebte, verfaßte um 6 2 0 einen navöEKTn«; Tnq ayla«; Ypan