Die Konkurrenz zwischen dem Strafverfahren und dem anwaltsgerichtlichen Verfahren in gleicher Sache: als Beispiel für die Disziplinarverfahren der freien Berufe [1 ed.] 9783428516643, 9783428116645

Inwieweit konkurrieren anwaltsgerichtliche Verfahren und Strafverfahren in gleicher Sache miteinander?Tobias Wagner unte

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Die Konkurrenz zwischen dem Strafverfahren und dem anwaltsgerichtlichen Verfahren in gleicher Sache: als Beispiel für die Disziplinarverfahren der freien Berufe [1 ed.]
 9783428516643, 9783428116645

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Schriften zum Strafrecht Heft 165

Die Konkurrenz zwischen dem Strafverfahren und dem anwaltsgerichtlichen Verfahren in gleicher Sache als Beispiel für die Disziplinarverfahren der freien Berufe

Von

Tobias Wagner

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

TOBIAS WAGNER

Die Konkurrenz zwischen dem Strafverfahren und dem anwaltsgerichtlichen Verfahren in gleicher Sache als Beispiel für die Disziplinarverfahren der freien Berufe

Schriften zum Strafrecht Heft 165

Die Konkurrenz zwischen dem Strafverfahren und dem anwaltsgerichtlichen Verfahren in gleicher Sache als Beispiel für die Disziplinarverfahren der freien Berufe

Von

Tobias Wagner

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

n2 Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-11664-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Katharina, Franziska und Viktoria

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozeßrecht der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg entstanden. Sie lag der Juristischen Fakultät im Wintersemester 2003/2004 als Dissertation vor und wurde mit dem Förderpreis der Schmitz-Nüchterlein-Stiftung ausgezeichnet, worüber ich mich sehr gefreut habe. Sie ist auf dem Stand von Januar 2004. An erster Stelle danke ich aufs Herzlichste meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Volker Erb, der meine Arbeit stets interessiert, aufmerksam und hilfreich begleitete. Durch seine wohlwollende Unterstützung war ich in der Lage, meine wissenschaftlichen Studien zügig zu einem guten Ende zu bringen. Ebenso bedanke ich mich beim weiteren Gutachter der Dissertation, Herrn Prof. Dr. Heinz Stöckel, für seinen anerkennenden Zweitbericht. Mein weiterer Dank gilt Herrn RiBGH Dr. Rolf Raum, der mich durch seine nützlichen Hinweise auf das Thema der Dissertation aufmerksam gemacht hat. Des weiteren möchte ich meine jetzigen und ehemaligen Kollegen am Lehrstuhl, namentlich Frau Dr. Gabriele Kett-Straub, Herrn Dr. Patrick Liesching, Herrn Dr. Ralph-Pierre Grunewald und Herrn Stefan Maier, nicht unerwähnt lassen, die mir während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter stets kollegial und freundschaftlich begegnet sind und allzeit hilfreich und ratgebend zur Seite standen und stehen. Herzlichen Dank dafür. Zu guter Letzt danke ich meinen Eltern und meiner Frau, die mir immer die nötigen Freiräume eingeräumt haben und die beste Unterstützung haben zukommen lassen. Ohne sie wäre dies alles nicht möglich gewesen. Erlangen, im Mai 2004

Tobias Wagner

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

B. Gegenstand und Verfahrensweise der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

C. Praktische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Kapitel Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens A. Historische Entwicklung der Advokatur und des berufsgerichtlichen Verfahrens für Rechtsanwälte in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert . . . . . I. Die Advokatur und die berufsständische Disziplinargewalt vor 1879 . . . . . II. Die Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 und die Entwicklung nach 1879 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Ehrengerichtsbarkeit von 1933 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Entwicklung in der Nachkriegszeit und die BRAO von 1959 . . . . . . . . V. Vom Ehrengericht zum Anwaltsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Schutzzweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

20 20 24 28 31 35 36

2. Kapitel Der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens

38

A. Die Systematik der §§ 115b, 118 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

B. Gründe für den Vorrang des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

C. Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

D. Annex: „Dasselbe Verhalten“ gem. §§ 115b S. 1, 118 I S. 1 BRAO . . . . . . . I. Der strafprozessuale Tatbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vergleich mit der einheitlichen anwaltlichen Pflichtverletzung der BRAO

45 46 48

10

Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

49

A. Die Tatbestandsalternativen der §§ 118 Abs. 1 S. 1 und 2 BRAO . . . . . . . . I. § 118 Abs. 1 S. 1 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. § 118 Abs. 1 S. 2 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 49 50

B. Folgen der Nichtbeachtung des Aussetzungszwanges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

C. § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die gesicherte Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. § 118 Abs. 1 S. 3 2. Alt. BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. § 118 Abs. 4 BRAO als „Korrektiv“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 53 54 54

D. Überlappung von strafprozessualer Tat und einheitlicher anwaltlicher Pflichtverletzung mangels Sachverhaltsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Relevanz des Vorrangs des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Relevanz des Einheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Einheitsprinzip nach bisheriger Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen des Einheitsprinzips nach bisheriger Auffassung . . . . . . . . . . . a) Einschränkung wegen sonst unhaltbarer Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . b) Definition der einheitlichen Pflichtverletzung über „judikativen Akt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wortlautargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gewohnheitsrechtliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Konzentration berufsrechtlicher Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik und Vergleich mit der „Einheitssanktion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konsequenz der Aufgabe des Einheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unterschied zwischen Einheitspflichtverletzung und Einheitssanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Praxisrelevanz des Unterschieds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Materiellrechtlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gleichzeitige Aburteilung beruflicher und außerberuflicher Pflichtverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lösung von bestehenden Problemen durch die Einheitssanktion . . . aa) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Urteilstenorierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Prozeßökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abkehr von der einheitlichen Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Relevanz des Beschleunigungsgebotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 56 57 57 58 58 59 60 60 61 61 62 62 63 63 63 65 65 66 67 68 69 70 71 72

Inhaltsverzeichnis

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IV. Lösung des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aussetzung auch der strafrechtlich irrelevanten Teile zugunsten des Einheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abtrennung der strafrechtlich irrelevanten Teile in ein separates Verfahren zugunsten des Beschleunigungsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weiterverhandlung der strafrechtlich irrelevanten Teile unter Teilaussetzung der strafrechtlich relevanten als Kompromiß . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aber: Einfluß der Konzentrationsmaxime, § 229 StPO . . . . . . . . . . . c) Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Teleologische Reduktion des § 118 Abs. 1 BRAO . . . . . . . . . . . bb) Praxisrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 77 78 81 81 81 82 82 83 84

4. Kapitel Doppelbewertung desselben Verhaltens und der (positive und negative) disziplinäre Überhang A. Die Verfassungskonformität der anwaltsgerichtlichen Ahndung nach strafgerichtlicher Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Absehen von anwaltsgerichtlichen Ahndungen im Hinblick auf den Grundsatz ne bis in idem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Auslegung und Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auslegung nach dem Normzweck des Art. 103 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . a) Unterschiedliche Funktion und Zielrichtung von Strafe und anwaltsgerichtlicher Maßnahme – Begriff der „allgemeinen Strafgesetze“ in Art. 103 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedürfnis getrennter staatlicher Reaktion auf das jeweilige Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auch: Konsequenz aus der Annahme eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Parallelsanktionierung im Lichte sonstiger Verfassungsgrundsätze . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Begriffsbestimmung von „Strafe“ und „Ordnungsmaßnahme“ gem. § 115b BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ordnungsmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Auflagen und Weisungen nach § 153a StPO und die analoge Anwendung des § 115b BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Planwidrige Regelungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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85 86 87 88

88 90 93 94 94 96 96 97 97 98 98

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Inhaltsverzeichnis 2. Vergleichbare Interessenslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strafcharakter der Auflagen und Weisungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sanktioneller Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der sanktionelle Charakter der einzelnen Auflagen und Weisungen des § 153a Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleichbarkeit zwischen den von § 115b BRAO umfaßten Sanktionen und den Auflagen und Weisungen des § 153a StPO . . . . . . . . . . . . a) Beurteilung anhand des Sinns des § 115b BRAO . . . . . . . . . . . . . . . b) Schluß „a majore ad minus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die analoge Anwendung anderer Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ausländische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschränkung durch gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen? . . . . . . . a) Relevante Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vergleichbarkeit der Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 54 SDÜ als Doppelbestrafungsverbot für das anwaltsgerichtliche Verfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Auslegung des Art. 54 SDÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Gründe für eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung (positiver disziplinärer Überhang, § 115b BRAO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Beurteilung des disziplinären Überhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beurteilung anhand der vorherigen unzureichenden Pflichtenmahnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fallgruppen bei berufsinternen Pflichtverletzungen . . . . . . . . . . . . . . 2. Beurteilung anhand der vorherigen ungenügenden Wahrung des Ansehens der Anwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung der vorausgegangenen Sanktion des Strafverfahrens . . . 3. Außerberufliche Pflichtverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Notwendigkeit der Einzelfallentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der „Sonderfall“ des § 115b S. 2 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Der Einfluß einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme auf ein späteres Strafurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problemaufriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anrechnung über § 51 StGB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anrechnung über die Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regelung im Beamtendisziplinarrecht als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 99 100 102 102 102 103 104 104 106 106 108 108 109 110 110 113 114 114 116 117 118 118 119 120 120 122 122 123 123 124 124

E. Anwaltsgerichtliche Ahndung trotz Freispruchs im Strafverfahren (negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 I. Systematik und Vergleichbarkeit von § 115b und § 118 Abs. 2 BRAO . . . 125 1. Gesetzessystematischer Unterschied oder historische Entwicklung? . . . 125

Inhaltsverzeichnis

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2. Unterschied in Wertung und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gemeinsamkeit: Behandlung eines disziplinären „Restes“ . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Tatbestand des § 118 Abs. 2 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dieselben Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freispruch im vorausgehenden Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vergleichbare strafprozessuale Verfahrensbeendigungen . . . . . . . . . . aa) Staatsanwaltschaftliche Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gerichtliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Nichteröffnungsbeschluß, § 204 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gerichtliche Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Irrtümlicher (fehlerhafter) Freispruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formell fehlerhafter Freispruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Materiell (offensichtlich) fehlerhafter Freispruch . . . . (4) Freispruch wegen strafrechtsspezifischer Gründe . . . . . . . . (5) Freispruch in ausländischen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einschränkung durch das Gemeinschaftsrecht . . . . . . . g) Ausnahme: Straftat im Ausland begangen und dort nicht strafbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Folge des § 118 Abs. 2 BRAO: Prozeßhindernis oder „negativer“ disziplinärer Überhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Negativer“ disziplinärer Überhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirkung eines strafgerichtlichen Freispruchs nach anwaltsgerichtlicher Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lösung de lege lata: Analoge Anwendung von § 118 Abs. 4 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vergleichbare Interessenslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lösung de lege ferenda: Ergänzung des § 118 Abs. 4 BRAO . . . . .

126 127 127 128 128 129 129 129 129 132 132 133 135 135 136 139 143 143 144 145 145 146 146 147 148 148 149 149 150

F. Bewertung des disziplinären Überhangs bei Überlappung der strafrechtlich und anwaltsgerichtlich zu ahndenden Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I. Bewertung des positiven disziplinären Überhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 II. Bewertung des negativen disziplinären Überhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen im Strafverfahren (§ 118 Abs. 3 BRAO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geschichte und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zweck des § 118 Abs. 3 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153 153 153 154

14

Inhaltsverzeichnis II. Reichweite der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriff des „Urteils im Strafverfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Urteil nach § 267 Abs. 4 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Urteil im Privatklageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausländisches Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Strafbefehlsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bindung an Einstellungsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Einstellung nach Rechtsmittelbeschränkung auf das Strafmaß . . . . . g) Beschluß nach § 371 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begriff der „urteilsberuhenden tatsächlichen Feststellungen“ . . . . . . . . . III. Die anwaltsgerichtliche Lösung von der Bindung gem. § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriff des „Zweifels an der Richtigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausnahme vom Lösungsbeschluß: Vorrang der innerprozessualen Bindung vor § 118 Abs. 3 BRAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155 155 156 156 157 159 160 163 163 164 165 165 166 166 166 168 170

5. Kapitel Ergebnisse und Schlußbetrachtung

172

A. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 B. Zusammenfassende Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Schrifttumsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Einleitung _

_

„O nümoi d' ožk ™wsi dÍò prÎò tÎn ažtÎn perÍ twn ažtwn ojte dßkaò ojt' ežqýnaò ojte diadikasßan ojt' ållo toiout' oždÊn e œai.“1 _

_

_

Dieser ursprünglich vom attischen Politiker und Redner Demosthenes (um 384–322 v. Chr.) stammende, zumeist aus dem Lateinischen zitierte Rechtsgrundsatz ne bis in idem beschreibt in eindrucksvoller Kürze das schon aus dem attischen und römischen Recht stammende Prinzip, daß „über dieselbe Streitsache nicht zweimal gestritten werden solle“.2 Während dieses in der athenischen Polis des vierten vorchristlichen Jahrhunderts im Hinblick auf die aus heutiger rechtsstaatlicher Sicht ungeordneten Verhältnisse im Gerichtsverfahren zum einen keinesfalls selbstverständlich, zum andern aber auch dringend notwendig war, um den Be- oder Angeklagten zu schützen, hat sich der Grundsatz ne bis in idem als Verfahrensprinzip im Lauf der Geschichte durch- und festgesetzt3 und fand im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland so seinen Niederschlag in Art. 103 Abs. 3, wonach niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf.4 Auch im Entwurf einer Europäischen Verfassung wurde der ne bis in idem-Grundsatz mit Art. II-50 nunmehr verankert, der besagt, daß niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf.

A. Problemstellung Die in §§ 113 ff. der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) geregelte Ahndung für anwaltliche Pflichtverletzungen durch das anwaltsgerichtliche (früher: ehrengerichtliche) Verfahren (§§ 116 ff. BRAO) bestimmt, daß ein Rechtsan-

1 Demosthenes, Rede gegen Leptines, § 147: „Wegen derselben Sache gestatten die Gesetze zweimal gegen denselben weder Prozeß zu führen, noch Strafe zu verhängen, noch eine Entscheidung zu fällen, noch etwas anderes derartiges durchzuführen.“ 2 Vgl. Büchmann, Geflügelte Worte, Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, 26. Aufl., Berlin 1918, S. 436. 3 Zur Geschichte des ne bis in idem-Grundsatzes siehe Specht, S. 7 ff. 4 Zum Prinzip ne bis in idem siehe im Einzelnen Kap. 4. A. I.

16

Einleitung

walt für berufliche und außerberufliche5 Pflichtverletzungen in einem grundsätzlich standesinternen Verfahren vor dem Anwaltsgericht (§ 119 Abs. 1 BRAO) mit Maßnahmen gem. § 114 BRAO belegt werden kann, die von einer Warnung bis hin zur Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft, also quasi einem Berufsverbot gleichkommend, reichen. Die in Frage kommenden beruflichen Pflichtverletzungen gehen oftmals mit strafbaren Handlungen des Rechtsanwaltes einher: So stellt eine Unterschlagung und Veruntreuung von Mandantengeldern neben einer beruflichen Pflichtverletzung gem. § 43a Abs. 5 BRAO auch eine Straftat gem. §§ 246, 266 StGB dar. Eine außerberufliche Pflichtverletzung wird nach dem neueren6 Wortlaut des § 113 Abs. 2 BRAO nur als eine solche geahndet, wenn diese zugleich eine strafbare Tat oder zumindest eine Ordnungswidrigkeit darstellt.7 Treffen also in einer Tat anwaltliche Pflichtverletzung und strafbare Handlung zusammen und soll diese sowohl standesrechtlich als auch strafgerichtlich geahndet werden, ergibt sich ein Konkurrenzverhältnis zwischen Strafverfahren und anwaltsgerichtlichem Verfahren, das vor allem von zwei Problemkreisen geprägt ist: 1. In welcher Reihen- und Rangfolge müssen die beiden Verfahren behandelt werden und wie muß verfahren werden, wenn der anwaltsgerichtliche und der strafrechtliche Tatvorwurf nicht übereinstimmen, etwa weil neben den strafbaren Handlungen noch weitere nicht strafbare anwaltschaftliche Pflichtverletzungen im Raum stehen? 2. Welchen Einfluß hat das Verfahren und die Sanktion des vorangegangenen Prozesses auf den nachfolgenden? Darf der Rechtsanwalt im Sinne des eben angesprochenen Grundsatzes ne bis in idem überhaupt ein zweites Mal sanktioniert werden?

B. Gegenstand und Verfahrensweise der Untersuchung Entsprechend der Problemstellung sollen die Fragen im Rahmen dieser Untersuchung geklärt werden. In diesem Zusammenhang werden aber noch weitere Fragen verfahrensrechtlicher Natur aufgeworfen und behandelt. So soll sich intensiv mit der bislang wenig erörterten Thematik beschäftigt werden, ob das Modell der einheitlichen Pflichtverletzung im anwaltsgerichtlichen Verfahren einer dogmatischen Überprüfung standhält. 5 6 7

§ 113 Abs. 2 BRAO. Seit G. v. 2.9.1994 (BGBl. I S. 2278). Feuerich/Weyland § 113 Rn. 13.

C. Praktische Bedeutung

17

Im Rahmen der Diskussion um die Relevanz des vorhergehenden in bezug auf das nachfolgende Verfahren ist ein besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt, welche Arten der Verfahrensbeendigung möglicherweise die zusätzliche Sanktionierung beeinflussen können. Bevor jedoch die angesprochenen Problemkreise behandelt werden, muß sinnvoller Weise die historische Entwicklung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens und dessen Zweck dargestellt werden, ohne die das Verständnis für die Lösung der aufgeworfenen Probleme schwer fällt. Auf die Erörterung von Geschichte und Zweck des Strafverfahrens wird mit Hinweis auf die umfassende Literatur hierzu allerdings verzichtet.

C. Praktische Bedeutung Das anwaltsgerichtliche Verfahren als Disziplinarverfahren zur Sanktionierung anwaltschaftlicher Pflichtverletzungen hat bezogen auf die Quantität der Verfahren eine eher geringe Bedeutung. So verzeichneten die Ehren- und Anwaltsgerichte in den Jahren 1990 bis 19948 deutschlandweit konstant lediglich etwa 450 Verfahren pro Jahr. In die zweite Instanz, die Ehren- und Anwaltsgerichtshöfe gelangten lediglich etwa 50 bis 80 Verfahren und vor dem Anwaltssenat des BGH wurden nicht einmal 30 diesbezügliche Verfahren jährlich verhandelt. Dennoch ist dem anwaltsgerichtlichen Verfahren eine aus der geschichtlichen Entwicklung9 folgende spezifische qualitative Relevanz für den anwaltschaftlichen Berufsstand zuzuerkennen, der sich vor allem auf den noch zu erörternden Schutzzweck des Verfahrens10, in erster Linie der Reinhaltung des Anwaltsstandes und der Wahrung des Ansehens in der Öffentlichkeit, stützt und primär wohl Präventivcharakter besitzt, was unter anderem die geringe Anzahl der Verfahren begründen könnte. Die Betrachtung der Konkurrenz zwischen dem anwaltsgerichtlichen und dem Strafverfahren in gleicher Sache ist aber noch in über das anwaltschaftliche Standesrecht hinausreichender Hinsicht interessant. Die Regelungen des anwaltsgerichtlichen Verfahrens, insbesondere die für das Konkurrenzverhältnis zwischen Berufsverfahren und Strafverfahren relevanten, sind in vielerlei Hinsicht inhaltsgleich mit denen der Disziplinargerichtsverfahren anderer freier Berufe, der Beamten und Richter (siehe die Übersicht über die einschlägigen vergleichbaren Normen in nachstehender Tabelle). 8 Vgl. Henssler/Prütting-Dittmann (1. Aufl. 1997) Vorb § 92 Rn. 20 f.; aktuellere Zahlen liegen bislang nicht vor. 9 Siehe dazu Kap. 1. A. 10 Kap. 1. B.

§ 109 Abs. 1

§ 109 Abs. 2

§ 109 Abs. 3

§ 118 Abs. 2

§ 118 Abs. 3

§ 92

§ 115b

§ 118 Abs. 1

StBerG

BayArchG

Architekten (Bayern)

Art. 67 Abs. 3 Art. 39 i.V.m. Art. 67 Abs. 3 BayHKaG

BayHKaG

Heilberufe (Bayern)

§ 102 Abs. 3 Art. 86 Abs. 3 Art. 39 i.V.m. Art. 86 Abs. 3 BayHKaG

§ 102 Abs. 2 Art. 86 Abs. 2 Art. 39 i.V.m. Art. 86 Abs. 2 BayHKaG

§ 102 Abs. 1 Art. 86 Abs. 1 Art. 39 i.V.m. Art. 86 Abs. 1 BayHKaG

§ 103a

PatAnwO

Steuerberater Patentanwälte

BRAO

Rechtsanwälte

Freie Berufe (Auswahl)

§ 83 Abs. 3

§ 83 Abs. 2

§ 83 Abs. 1

§ 69a

WiPrO

Wirtschaftsprüfer

§ 14

BDO a. F.

§ 23 Abs. 1 (behördl. Verfahren); § 57 Abs. 1 (gerichtl. Verfahren)

§ 14 Abs. 2

§ 63 Abs. 1 i. V. m. § 14 Abs. 2 BDG § 63 Abs. 1 i. V. m. § 23 Abs. 1 BDG

§ 18 Abs. 1

§ 63 Abs. 1 i. V. m. § 22 Abs. 1 u. 2 BDG oder § 3 BDG i. V. m. § 94 VwGO

§ 63 Abs. 1 i. V. m. § 14 Abs. 1 BDG

DRiG

Richter

§ 17 Abs. 5

§ 22 Abs. 1 § 17 Abs. 1 u. 3 u. 2 (behördl. Verfahren); § 3 i. V. m. § 94 VwGO11 (gerichtl. Verfahren)

§ 14 Abs. 1

BDG

Beamte

Öffentlicher Dienst (Auswahl)

18 Einleitung

C. Praktische Bedeutung

19

Auch wenn das beamtendisziplinarrechtliche Verfahren durch die Neuordnung des Beamtendisziplinarrechts im neuen BDG seit 2002 v. a. hinsichtlich des Orientierungswechsels vom StPO- hin zum Verwaltungsverfahren12 nunmehr vom anwaltsgerichtlichen und den übrigen Disziplinarverfahren der freien Berufe abweicht, sind die Bestimmungen über das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Verfahren nach dem BDG und dem Strafverfahren zwar modifiziert und aktualisiert, in den Grundzügen aber gleich und vergleichbar geblieben. Insofern können die hier gewonnenen Erkenntnisse auch für das Beamtendisziplinarverfahren von Belang sein. Vor allem aber aufgrund der Inhaltsgleichheit mit den Konkurrenzvorschriften vieler anderer freier Berufe können die nachfolgenden Ausführungen zum anwaltsgerichtlichen Verfahren durchaus auf jene übertragen und parallel betrachtet werden, denn die Verfahrensordnungen stimmen in „wesentlichen Fragen des Disziplinarrechts [. . .] meist überein.“13 Das anwaltsgerichtliche Verfahren wurde aber gerade auch deshalb als Beispiel gewählt, weil dieses im Rahmen der Disziplinarverfahren der freien Berufe schon historisch vorbildlich ist: So begründen sich etwa die fünf berufsgerichtlichen Senate am BGH auf den Ehrengerichtshof beim RG nach der RAO von 1878.14 Darüber hinaus gilt die Bundesrechtsanwaltsordnung „als dasjenige Rechtsgebiet, welches als typisches Beispiel ähnlicher Rechtsordnungen gelten kann.“15 Außerdem liegen abgesehen von den Quellen zum Beamtendisziplinarverfahren, auf die im Rahmen dieser Arbeit neben den anwaltsgerichtlichen aufgrund der bereits gezeigten Parallelität Bezug genommen werden kann, zum anwaltsgerichtlichen Verfahren im Vergleich zu den anderen freiberuflichen Verfahren weitaus die meisten (auch wenn sich selbst diese quantitativ sehr beschränken) Quellen in Rechtsprechung und Literatur vor, so daß sich die Bezugnahme darauf am ehesten anbietet. Dabei kann festgestellt werden, daß die Rechtsprechung der berufsrechtlichen Senate des BGH beim Disziplinarrecht die meisten Gemeinsamkeiten aufweist.16

11

Vgl. BT-Drs. 14/4659, S. 41 zu § 22. Vgl. BT-Drs. 14/4659, S. 33 f. mit dem Hinweis, für das in das Beamtenrecht eingebundene Beamtendisziplinarverfahren sei die Orientierung an den Strafverfahrensvorschriften „in dieser Form ohnehin nicht mehr zeitgemäß“, was für die Disziplinarverfahren der freien Berufe so selbstverständlich nicht gelten kann. 13 Rössler FS Peters, S. 249, 250. 14 Glanzmann FS BGH 25 J., S. 185. 15 Rössler FS Peters, S. 249, 250. 16 Glanzmann FS BGH 25 J., S. 185, 187. 12

1. Kapitel

Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens A. Historische Entwicklung der Advokatur und des berufsgerichtlichen Verfahrens für Rechtsanwälte in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert Zunächst soll ein Überblick über die Entwicklung der Berufsgerichtsbarkeit für Rechtsanwälte in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis heute geschaffen werden. Zwar soll dies nur in einer einführenden Zusammenfassung geschehen, jedoch ist dies unerläßlich für das sachliche Verständnis des heute angewandten anwaltsgerichtlichen Verfahrens. Der Schwerpunkt soll auch hier auf dem historischen Aspekt des berufsgerichtlichen Verfahrens liegen.1

I. Die Advokatur und die berufsständische Disziplinargewalt vor 1879 Das Deutschland des angehenden 19. Jahrhunderts war geprägt vom Bestreben nach politischer Einheit, Demokratie und Freiheitsdenken. Herausragende Ereignisse und eindrucksvollste Beispiele hierfür waren das Wartburgfest der deutschen Burschenschaften am 18. Oktober 1817, das Hambacher Fest am 27. Mai 1832 und die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt am 18. Mai 1848. Freilich wurden diese Bestrebungen von Regierungsseite zu bekämpfen versucht2 und auch die Nationalversammlung scheiterte an unüberwindbaren Meinungsverschiedenheiten der Beteiligten. Dennoch blieben die Bestrebungen nach einem geeinten, liberalen und demokratischen Deutschland erhalten und wurden von verschiedenen gesellschaftlichen Schichten weitergetragen. In gleicher Weise strebte auch die Advokatur in den meisten deutschen Staaten nach einer unabhängigen und freien Berufsausübung.3 Ausgangslage war 1 Vertiefend Holly, der eine umfassende Darlegung der Geschichte der Ehrengerichtsbarkeit bietet. 2 So etwa durch die Karlsbader Beschlüsse durch das Plenum des Bundestages vom 20.9.1819, die die deutschen Studentenverbindungen verboten, und das Vereinigungsverbot der Bundesversammlung vom 5.7.1932, das jegliche Vereine mit politischer Ausrichtung verbot.

A. Historische Entwicklung für Rechtsanwälte in Deutschland

21

eine weitgehende Abhängigkeit der Advokaten von den Gerichten als gerichtliche Hilfspersonen.4 In zahlreichen Ländern schlossen sich deshalb in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Anwälte zu örtlichen Vereinen zusammen.5 Viele von diesen beschlossen bereits eine Disziplinargerichtsbarkeit mit sehr weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten von Verweis und Geldstrafe bis hin zur Ausschließung aus dem Verein, die von den Anwaltsvereinen selbst ausging.6 In Schleswig-Holstein bildete sich sogar eine ständige Advokatenkammer nach französischem Vorbild, ebenfalls mit weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten für ehrwidrige Handlungen von Mitgliedern. In Baden begnügte man sich dagegen mit einer reinen Überwachung der Tätigkeit von Mitgliedern, die bei Verstößen zur Anzeige bei den Behörden oder zum Ausschluß aus dem Verein führen konnte.7 Parallel zu den politischen Einheitsbestrebungen in den deutschen Ländern bemühten sich die Anwälte auch länderübergreifend um einen Zusammenschluß der Advokatur, was jedoch von den verschiedenen Regierungen wegen des befürchteten Verlusts ihrer Länderhoheit zu verhindern versucht wurde. Daß den Regierungen dies jedoch letztendlich nicht gelang, zeigen zahlreiche Bestrebungen zu Treffen deutscher Rechtsanwälte. So beschloß der württembergische Anwaltverein 1843 die Berufung einer Advokatenversammlung „zum Zwecke gesetzmäßigen Wirkens für Einführung eines gemeinsamen teutschen Rechts“ und berief eine solche für die Berufsgenossen in allen deutschen Ländern zum 1. Juli 1844 ein.8 Zwar fand die Idee großen Anklang innerhalb der deutschen Anwaltschaft, jedoch wurde die Versammlung wegen der Teilnahmeverbote, die die Regierungen Preußens, Bayerns und Kurhessens den jeweiligen Anwälten auferlegte, aber auch wegen interner Querelen, schließlich abgesagt. Weitere Versuche, in Leipzig und Kiel Anwaltstage abzuhalten, scheiterten ebenfalls am Widerstand der dortigen Regierungen.9 Schließlich fand der erste Anwaltstag vom 6. bis 8. August 1846 in der freien Stadt Hamburg statt, da die dortigen Behörden dagegen keine Einwendungen erhoben. Auch der zweite Anwaltstag wurde ein Jahr später in Hamburg, am 30. September 1847, eröffnet.10 Im Jahr darauf wurde in Dresden auf der dritten Anwaltsversammlung vom 27. bis 29. August 1848 ein deutscher Anwaltverein gegründet.11 Es wurde über Rechtseinheitlichkeit, Verfahrensfragen und 3

Holly, S. 221. Huffmann, S. 15. 5 Vgl. Weißler, S. 503. 6 So im Dresdner, Leipziger, Frankfurter, Oldenburger und Anhalter Verein. 7 Vgl. zum ganzen Weißler, S. 504. 8 Weißler, S. 507. 9 Weißler, S. 516. 10 Ausführlich zu diesen ersten Anwaltstagen Weißler, S. 516 ff. 4

22

1. Kap.: Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

das Problem einer einheitlichen Anwaltschaft in den deutschen Ländern diskutiert. Die Organisation der Advokatur war in Deutschland nunmehr zu einer politischen Frage geworden.12 Auch die Forderung nach einer ständischen Disziplinargewalt durch „Anwaltskammern als Disziplinarbehörden“13 wurde erhoben. Ähnlich dem Schicksal der Deutschen Nationalversammlung auf politischer Ebene 184814 verlor sich auch der deutsche Anwaltverein von 1848 in die Bedeutungslosigkeit.15 Der Gedanke eines freiheitlichen Zusammenschlusses deutscher Advokaten blieb allerdings erhalten.16 Zwischenzeitlich gründeten sich in vielen deutschen Ländern neue Anwaltvereine17, die bedeutsamsten in Preußen und Bayern (jeweils 1861)18. Von diesen ging die Initiative zur Gründung „eines allgemeinen teutschen Anwaltvereins“19 aus: Die zunächst vom preußischen Anwaltverein 1867 angeregte, aber anfangs erfolglose Versuch zur Gründung wurde nach Beginn des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 vom Anwaltsrat des bayerischen Anwaltvereins wieder aufgegriffen. So wurde von beiden Vereinen zu einem Anwaltstag am 25. August 1871 in Bamberg eingeladen, auf dem die Gründung eines deutschen Anwaltvereins auf der Tagesordnung stand und schließlich mit großer Mehrheit beschlossen wurde.20 Dieser beschäftigte sich in der Folgezeit auch mit einer Rechtsanwaltsordnung21 und damit auch mit der Frage einer einheitlichen Sanktionierung von Ehrverstößen. Parallel zu den Anwaltstagen und der Entwicklung des deutschen Anwaltsvereins wurden „Deutsche Juristentage“ veranstaltet, der erste in Berlin vom 28. bis 30. August 1860.22 Zwar war dieser ein Zusammenschluß aller juristischen Berufssparten23, doch beschäftigte er sich auch mit Fragen einer Anwalts11

Holly, S. 225 f.; Weißler S. 520 ff. Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt, S. 22. 13 Weißler, S. 521. 14 Siehe Seite 20. 15 Vgl. Weißler, S. 561. 16 Vgl. Weißler, S. 562. 17 So in den Jahren 1860/61 in Nassau, Lippe, Sachsen-Koburg, Anhalt, Bremen und Baden (Weißler, S. 547). 18 Hierzu ausführlich Weißler, S. 547 ff. und S. 555 ff. 19 Dieser „Deutsche Anwalt Verein“ (DAV) besteht noch heute in gleicher Form „zur Pflege und Förderung aller beruflichen und wirtschaftlichen Interessen der Anwaltschaft“; vgl. DAV, Porträt des DAV, http://www.anwaltverein.de/01/01/01_lang.html; die Folgerung Hollys, der heutige DAV führe sich auf den von 1848 zurück (vgl. dort S. 226 Fn. 4), ist somit ungenau. 20 Zum Ganzen Weißler, S. 562. 21 So auf dem Anwaltstag in Würzburg 1874 und folgende; vgl. Weißler, S. 566 f. 22 Seitdem 64 Juristentage, zuletzt in Berlin 2002; vgl. DJT, Die deutschen Juristentage in zeitlicher Folge und ihre Präsidenten, http://www.djt.de/content/rueckblick/ zeitlichefolge.html. 23 Hierzu Conrad/Dilcher/Kurland-Conrad, S. 11. 12

A. Historische Entwicklung für Rechtsanwälte in Deutschland

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ordnung.24 Auf den Juristentagen in Mainz (1863)25 und Hamburg (1868)26 wurde die Forderung nach einer freien, einheitlichen deutschen Rechtsanwaltschaft erhoben.27 Dies zeigt, daß alle Bestrebungen der deutschen Advokatur auf eine einheitliche, freie und unabhängige Berufsausübung ausgelegt waren. Damit ging auch die Tendenz zur eigenverantwortlichen staatsunabhängigen Sanktionierung ehrenwidrigen Verhaltens von Rechtsanwälten einher. Ausgangspunkt war eine vollständige staatliche Disziplinaraufsicht. So lag in Bayern seit dem Codex juris Bavarici Judicarii von 1753 die Strafgewalt bei dem Gericht, „vor dem der Advocat eingeschworen wurde.“28 Durch königliche Verordnung von 1813 wurde die Disziplinargewalt weiterhin den bayerischen Gerichten vorbehalten.29 Auch in den anderen deutschen Ländern wurde kaum an „frei gewählte Ehrenräte mit voller Disziplinarstrafgewalt“30 gedacht. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Anwaltsordnungen, die eine mehr oder weniger selbständige Disziplinargewalt vorsahen. In Hannover (1833) begnügte man sich mit „Advokatendeputationen“ mit geringen Sanktionsmöglichkeiten, wogegen in Preußen 1847 erstmals in Deutschland eine „Ehrenratverordnung“ erlassen wurde, die „freigewählte Ehrenräte mit unbeschränktem Disziplinarstrafrecht erster Instanz“ vorsah.31 Diesem Vorbild folgten viele deutsche Staaten.32 So wurde im Laufe der Jahre der Einfluß der Regierungen auf die Disziplinargewalt geringer, wenngleich oftmals die staatliche Aufsicht aufrecht erhalten wurde.33 Auf dem ersten Preußischen Anwaltstag 1861 wurde deshalb die Forderung nach der Beseitigung der „Reste der gerichtlichen Disziplinargewalt“34 erhoben. Neben dem Streben nach einer unabhängigen Disziplinargewalt war der Wille zur Vereinheitlichung der Anwaltsordnung in Deutschland, somit auch der Berufsgerichtsbarkeit im Vordergrund. Dennoch bestanden bis zur Reichsgründung unterschiedliche Regelungen bzw. Entwürfe35, die auf eine einheitliche Regelung nach 1871 warteten. 24

Vgl. Conrad/Dilcher/Kurland-Conrad, S. 30; Olshausen, S. 88 ff. Olshausen, S. 88 f. 26 Olshausen, S. 91 ff. 27 Vgl. Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt, S. 22. 28 Schroeder, BRAK-Mitt. 1997, S. 11. 29 Vgl. Schroeder, BRAK-Mitt. 1997, S. 11. 30 Weißler, S. 542. 31 Weißler, a. a. O. 32 Vgl. Weißler, S. 542 ff. 33 Z. B. in Braunschweig durch den Oberstaatsanwalt, in Hannover und Oldenburg durch die Aufsicht des Justizministeriums über die Anwaltskammer; vgl. Weißler, S. 542 ff. 34 Weißler, S. 550. 25

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1. Kap.: Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

Das Disziplinarverfahren selbst wurde in den verschiedenen Staaten ab Mitte des 19. Jahrhunderts ähnlich geregelt. Offenbar nach preußischem Vorbild36 war in fast allen Staaten übereinstimmend „die Übertragung der Disziplinargerichtsbarkeit erster Instanz an ein frei gewähltes Genossengericht“37 und in zweiter an ein staatliches38 vorgesehen. Auch das Strafensystem mit einfachem und geschärftem Verweis, Geldstrafe, Suspension bis zu zwei Jahren und Ausstoßung war allerorts vergleichbar.39 Dennoch gab es in den verschiedenen Anwaltsordnungen Unterschiede, wie etwa die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft40, die Zulassung der Öffentlichkeit41 oder die Organisation der Disziplinargewalt lediglich als „Anwaltskammer“ und „Ausschuß“ oder als „richtige Standesgerichte“.42 Durch die „Ablösung der Rechtsanwaltschaft von der Staatsgewalt“43 war eine freie Advokatur bereits weitestgehend verwirklicht, wenn auch verschiedenen Ortes der Rechtsanwalt formell noch Beamter blieb. Gerade die soeben gezeigten Unterschiede in den Disziplinarverfahren machen deutlich, daß man sich dem Ziel der Vereinheitlichung der Anwaltschaft, der Anwaltsordnungen und damit auch der Disziplinarverfahren zwar angenähert, es aber keineswegs erreicht hat.

II. Die Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 und die Entwicklung nach 1879 Nach Vollendung der Deutschen Einigung im Kaiserreich von 1871 war auch die Vereinheitlichung der Berufsordnung der Deutschen Rechtsanwälte zwingend notwendig geworden. Im Rahmen einer großen Justizreform44 Anfang 1877, die v. a. die Schaffung eines Gerichtsverfassungsgesetzes45, einer Zivil-46 35

So im Großherzogtum Weimar und in Bayern; vgl. Holly, S. 227. Weißler, S. 546. 37 Weißler, S. 546. 38 In Oldenburg frei/staatlich gemischt. 39 Weißler, S. 547. 40 In Oldenburg beispielsweise war Verfahrensvoraussetzung die Anklage durch die Staatsanwaltschaft, in Sachsen und Sachsen-Koburg-Gotha war sie überhaupt nicht am Verfahren beteiligt und in Baden stand ihr lediglich Informationsrecht in erster Instanz und Berufungsrecht zu; vgl. Weißler, S. 544 ff. 41 In Oldenburg etwa war nur die Anwaltsöffentlichkeit und mit Zustimmung des Beschuldigten die Öffentlichkeit zugelassen, in Sachsen überhaupt keine Öffentlichkeit; vgl. Weißler, S. 544 f. 42 Vgl. Weißler, S. 544 ff. 43 Weißler, S. 547. 44 Holly, S. 229. 45 RGBl. 1877, S. 41. 46 RGBl. 1877, S. 83. 36

A. Historische Entwicklung für Rechtsanwälte in Deutschland

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und einer Strafprozeßordnung47 vorsah, sollten auch Regelungen über die Rechtsanwaltschaft geschaffen werden48, speziell „grundlegende Bestimmungen für die einheitliche Verfassung der deutschen Rechtsanwaltschaft“49. Zunächst war vorgesehen, diese als Titel IX.a (später im Gesetzgebungsverfahren Titel XI) in das Gerichtsverfassungsgesetz einzubeziehen.50 Da jedoch der Wunsch der „verbündeten Regierungen“ bestand, die „Verhältnisse der Rechtsanwaltschaft im Zusammenhang mit der vorbehaltenen Anwaltskammerverfassung durch besonderes Gesetz zu ordnen“51, außerdem der Titel als unvollständig betrachtet wurde und mit nicht unberechtigter Kritik seitens des Anwaltstages behaftet war52, beschloß der Reichstag in dritter Lesung, den Titel über die Rechtsanwaltschaft aus dem GVG zu streichen53. Zusätzliche Motivation für diese Entscheidung des Reichstages war das Versprechen des Bevollmächtigten des Bundesrates Leonhardt, preußischer Justizminister, daß dem Reichstag „bereits in der nächsten Sitzungsperiode eine umfassende Anwaltsordnung“ vorgelegt werde, die sowohl die Zulassung als auch die Disziplinarordnung abschließend regeln sollte.54 Nach intensiven Vorberatungen und Vorarbeiten, nicht zuletzt durch die deutsche Anwaltschaft selbst55, wurde dann am 24.10.1877 dem Bundesrat der Gesetzesentwurf einer umfassenden Rechtsanwaltsordnung durch die Reichsregierung vorgelegt, der am 6.2. 1878 nach Beschlußfassung mit geringen Korrekturen an den Reichstag weitergeleitet wurde.56 Nach Beratungen in einer Reichstagskommission und im Reichstagsplenum57 wurde die Rechtsanwaltsordnung schließlich am 23.5.1878 mit einer „sehr erheblichen Mehrheit“58 beschlossen, am 1.7.1878 verkündet und trat zusammen mit GVG, ZPO und StPO am 1.10.1879 in Kraft.59 Die Rechtsanwaltsordnung von 1878 (RAO-1878) wird oft als die „MAGNA CHARTA“60 oder „Grundgesetz“61 des deutschen Anwaltsstandes bezeichnet. 47

RGBl. 1877, S. 253. Holly, S. 229. 49 Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt, S. 23. 50 Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt, S. 23; Holly, S. 229; ausführlich: Weißler, S. 579 ff. 51 Weißler, S. 584. 52 Huffmann, S. 65. 53 Huffmann, a. a. O. 54 Huffmann, a. a. O. 55 Vgl. Ostler, NJW 1979, 1959. 56 Weißler, S. 587; Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt, S. 23; Ostler, NJW 1979, 1959; Henssler/Prütting-Koch Einl. Rn. 4; insoweit ungenau Huffmann, S. 66. 57 Ausführlich zum Gesetzgebungsverfahren: Weißler, S. 591 ff. 58 Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt, S. 23; Weißler, S. 597. 59 Vgl. Henssler/Prütting-Koch Einl. Rn. 4. 60 Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt, S. 23. 61 Henssler/Prütting-Koch Einl. Rn. 7 nach Ostler, NJW 1979, 1959. 48

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1. Kap.: Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

Auch wenn diese Begriffe auf Kritik stoßen, weil die RAO-1878 (nur) „von dem Berufsbild des Rechtsanwaltes als Einzelanwalt und als Prozeßbevollmächtigter vor Gericht“62 ausgehe, bleibt dennoch festzuhalten: Mit der RAO „hatten endlich 1878, nach 60 Jahren der Auflehnung gegen die richterliche Disziplinargewalt, die Rechtsanwälte in ganz Deutschland ein autonomes und einheitliches Disziplinarstatut erhalten. Daß dieses endlich den Anforderungen der Rechtspflege und vor allem der Rechtsanwaltschaft gerecht wurde, zeigt die Tatsache, daß sich die Bestimmungen von 1878 bis heute fast unverändert erhalten haben“63 und „daß bei allen Änderungen im Detail das heutige Anwaltsrecht noch immer auf den Grundentscheidungen des Gesetzgebers von 1878 beruht“64. Somit bildet die Rechtsanwaltsordnung von 1878 den Grundstein für die Entwicklung des Anwaltsrechts in Deutschland. Auch das berufsgerichtliche Verfahren wurde in der RAO-1878 grundlegend geregelt und die unterschiedlichen Bestimmungen der einzelnen Länder (vgl. Kap. 1. A. I. oben) damit vereinheitlicht: Das ehrengerichtliche Verfahren wird in den §§ 62 ff. RAO-1878 geregelt. Ebenso wie die gesamte RAO-1878 Grundlage für alle späteren Regelungen bezüglich der Rechtsanwaltschaft gilt (vgl. oben), ist auch „das Verfahren vor dem Ehrengericht und dem Ehrengerichtshof in seinen Grundzügen und teilweise sogar im einzelnen maßgebend für die gesamte spätere Gesetzgebung auf dem Gebiete der Ehrengerichtsbarkeit geworden“65. Im Gegensatz zur heutigen dreistufigen Gerichtsbarkeit66, bestehend aus den Instanzen Anwaltsgericht (§§ 119 I, 92 ff. BRAO), Anwaltsgerichtshof (§§ 143 I, 100 ff. BRAO) und Senat für Anwaltssachen am BGH (§§ 145 I, 106 ff. BRAO), war das ehrengerichtliche Verfahren nach der RAO-1878 zweistufig aufgebaut. Die erste Instanz bildete das Ehrengericht gem. § 67 RAO-1878, das ausschließlich mit Rechtsanwälten, namentlich den fünf Vorstandsmitgliedern der jeweiligen Anwaltskammer des Oberlandesgerichtsbezirks, besetzt war.67 In zweiter und gleichzeitig letzter Instanz (Berufungsinstanz) entschied der Ehrengerichtshof (EGH), der beim Reichsgericht eingerichtet war68, gem. § 90 RAO1878.69 Der EGH gliederte sich in zwei Senate mit je vier hauptamtlichen Richtern des Reichsgerichts und drei Mitgliedern der Rechtsanwaltskammer beim Reichsgericht.70 62 63 64 65 66 67 68 69

Henssler/Prütting-Koch a. a. O. Huffmann, S. 67. Henssler/Prütting-Koch Vorb § 92 Rn. 5. Ostermann, S. 15. Hartstang, Anwaltsrecht, Teil II III. 3., S. 734. Vgl. Holly, S. 236; Ostermann, S. 14; Henssler/Prütting-Koch Vorb § 92 Rn. 5. Henssler/Prütting-Koch Vorb § 92 Rn. 5. Vgl. Holly, S. 237.

A. Historische Entwicklung für Rechtsanwälte in Deutschland

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Die mehrheitliche Besetzung des EGH mit hauptamtlichen Richtern stieß in den Folgejahren auf Kritik aus den Reihen der Anwaltschaft: Von ihnen wurde der Ruf erhoben, daß der EGH nur aus Anwälten, gewissermaßen als „iudicium parium“71, bestehen dürfe. Begründet wurde dies damit, daß sich die entstandene freie Advokatur im Lauf der Jahre bewährt habe und ihr deshalb auch eine völlig unabhängige Berufsgerichtsbarkeit zugebilligt werden solle.72 Darüber hinaus sollten nicht nur am RG zugelassene Anwälte richten, sondern es mußte „vielmehr die Gesamtanwaltschaft vertreten sein“, da die „Anschauungen aus den verschiedenen Kammerbezirken [. . .] bei den Entscheidungen zum Ausgleich kommen“73 müßten. Die bestehende Einrichtung des EGH wurde deshalb auch als „Zubehör des Reichsgerichts“74 bezeichnet. Trotz dieser Bestrebungen kam es in der Folgezeit nicht zu einer derartigen Umgestaltung.75 Vielmehr blieb die Besetzung des EGH bis 193476 gleich und auch danach änderte sich bis zur heutigen Zeit nicht viel.77 Interessant bleibt diese im Zusammenhang mit dem Ruf nach freier Advokatur stehende Bestrebung deshalb, weil in neuerer Zeit von Teilen der Rechtsanwaltschaft genau das Gegenteil dessen, nämlich die weitestgehende Besetzung der ehren- (jetzt anwalts-)gerichtlichen Instanzen mit Berufsrichtern, v. a. wegen befürchteter Interessenskollisionen angestrebt wird.78 Aber auch hinsichtlich anderer Verfahrensregelungen kann das ehrengerichtliche Verfahren der RAO-1878 als grundlegend für die weitere Entwicklung angesehen werden: Mit Ausnahme des temporären Vertretungsverbotes nach § 114 I Nr.4 BRAO sind die Sanktionen des § 63 RAO-1878 mit der heutigen Bestimmung identisch79. Auch das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft ist vergleichbar: Damals wurde das Verfahren durch Antrag auf ehrengerichtliche Voruntersuchung oder Einreichung einer Anschuldigungsschrift eingeleitet80, heute sieht § 121 BRAO nur letzteres vor. Auch die Konkurrenznorm zum Strafverfahren, § 118 BRAO, gründet auf dem Gedanken des § 65 RAO-1878, wonach das ehrengerichtliche Verfahren während der Dauer des Strafverfahrens nicht zu eröffnen oder nach bereits erfolgter Eröffnung auszusetzen ist und nach Freispruch im Strafverfahren das ehrengerichtliche Verfahren nur dann stattfindet, 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Vgl. Holly, a. a. O.; Ostermann, S. 15; Henssler/Prütting-Koch Vorb § 92 Rn. 5. Stranz, DJZ 1907, 114. Vgl. Stranz, DJZ 1909, 123; dagegen Friedländer § 90 Anm. 21. Stranz, DJZ 1909, 123, 127. Stranz, DJZ 1909, 123, 128; Henssler/Prütting-Koch Vorb § 92 Rn. 5. Holly, S. 239. Siehe dort unter Kap. 1. A. III. Siehe jeweils dort (Kap. 1. A. III. und Kap. 1. A. IV.). Vgl. BVerfG v. 11.6.1969 – 2 BvR 518/66, NJW 1969, 2192; Husmann, S. 8 ff. Abgesehen von der Maximalhöhe der Geldbuße. Ostermann, S. 16.

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1. Kap.: Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

wenn die dort ermittelten Tatsachen eine ehrengerichtliche Bestrafung begründen.81 Auch knüpft die heutige gesetzliche Beschränkung der Öffentlichkeit gem. § 135 BRAO an die Regelung des § 82 RAO-1878 an.82 Neben weiteren Ähnlichkeiten der RAO-1878 zur heutigen BRAO sind hier vor allem die Verweisungsnormen der §§ 66 und 91 RAO-1878 zu nennen, die mit dem heutigen § 116 BRAO korrelieren und eine subsidiäre entsprechende Anwendung der StPO auf das ehrengerichtliche Verfahren vorsehen. Diese dokumentierten bereits damals die Nähe des ehrengerichtlichen Verfahrens zum Strafverfahren. Zwar wurden auf Anwaltstagen in der Folgezeit des Erlasses der RAO-1878 „Änderungswünsche bezüglich der Ehrengerichtsbarkeit erörtert“83, jedoch ergaben sich bis zum Ende der Weimarer Republik 1933 im Hinblick auf die Ehrengerichtsbarkeit keine einschneidenden Veränderungen, lediglich die Höhe der Geldstrafe mußte an die veränderten Währungsverhältnisse angepaßt werden.84

III. Die Ehrengerichtsbarkeit von 1933 bis 1945 Die erste größere Änderung der Rechtsanwaltsordnung im „Dritten Reich“ war die Einführung eines vorläufigen Vertretungsverbotes bei Erwartung der Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft im Jahre 193385 (§ 91a RRAO), vergleichbar mit dem heutigen § 150 BRAO. Diese entsprach einer „alten Forderung der Anwaltschaft“86. Außerdem wurde die Höchststrafe von 1000 Goldmark auf 5000 RM festgesetzt, § 65 I Nr. 1 RRAO.87 Eine zwar nur indirekt mit dem ehrengerichtlichen Verfahren zusammenhängende, aber dennoch bemerkenswerte und den Nationalsozialismus charakterisierende Änderung der RRAO wurde bereits mit dem „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ vom 7.4.193388 vollzogen. Aus ideologischen Gründen wurde dadurch Rechtsanwälten „nichtarischer Abstammung“ (§§ 1, 2) und solchen, die sich „im kommunistischen Sinne betätigt haben“ (§ 3), die Zulassung willkürlich versagt bzw. konnte diese zurückgenommen werden.89

81 Zur chronologischen Konkurrenz des anwaltsgerichtlichen Verfahrens mit dem Strafverfahren siehe Kap. 2. 82 Henssler/Prütting-Dittmann § 135 Rn. 1. 83 Holly, S. 239; vgl. oben im Hinblick auf die Besetzung des EGH. 84 Holly, a. a. O. 85 RGBl. I S. 109 ff., vgl. Holly, S. 241. 86 Ranz, S. 13. 87 Holly, S. 241. 88 RGBl. I, 188. 89 Holly, S. 242; vgl. auch Noack, § 24 RRAO, Nr. 4.

A. Historische Entwicklung für Rechtsanwälte in Deutschland

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Ideologisch geprägte Gesetzesänderungen betreffend das ehrengerichtliche Verfahren waren die Einführung eines Begnadigungsrechts durch den „Führer und Reichskanzler“ 193590 und die Zuständigkeit der Ehrengerichte für die Abnahme der Vereidigung des Anwalts auf den „Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler“91. Entsprechend „der endgültigen Übertragung der Justiz auf das Reich“92 und der allgemein zentralistischen Ausrichtung des Dritten Reiches wurde durch dieses Gesetz93 eine einheitliche Reichs-Rechtsanwaltskammer geschaffen (§ 41 I RRAO) und die Rechtsanwaltskammern der OLG-Bezirke waren demnach ebenso wie die Ehrengerichte und der Ehrengerichtshof lediglich deren Organe (§ 44 RRAO). Die Einflußnahme der nationalsozialistischen Regierung gerade auf das ehrengerichtliche Verfahren wird auch deutlich, wenn man die Abhängigkeiten der Institutionen untereinander betrachtet: Der Reichsminister der Justiz ernannte im Einvernehmen mit dem Reichsführer des BnsdJ94 die Präsidenten der Rechtsanwaltskammern auf die Dauer von fünf Jahren (§ 50 I RRAO95). Diese wiederum bestimmten als Vorsitzende des jeweiligen Ehrengerichts nach § 67 RRAO die weiteren Mitglieder. Auf der Ebene des zweitinstanzlichen Ehrengerichtshofs war dies vergleichbar: Der ebenfalls vom Reichsminister der Justiz im Einvernehmen mit dem Reichsführer des BnsdJ berufene (§ 45 II RRAO) Präsident und das ebenso berufene (§ 46 I RRAO) Präsidium der ReichsRechtsanwaltskammer bestimmten die neben dem Präsidenten und seinem ständigen Stellvertreter tätigen weiteren anwaltlichen Mitglieder des Ehrengerichtshofes (§ 90 RRAO). Letztlich ließen sich also alle anwaltlichen Mitglieder der Ehrengerichte und des Ehrengerichtshofes auf die direkte oder indirekte Bestimmung durch den Reichsminister der Justiz (in Kooperation mit dem Reichsführer des BnsdJ) zurückführen. Somit fand ein Übergang vom bislang kollegialen zum präsidialen System nach den Grundsätzen des autoritären Staates statt.96 Die hauptamtlichen Richter des Ehrengerichtshofes wurden überdies vom Präsi-

90 „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Ausübung des Gnadenrechts in Ehrengerichtssachen der Rechtsanwälte“ v. 27.2.1935 (DJ 35, 356); vgl. auch Noack, § 64 RRAO, Nr. 4. 91 § 19 „zweites Gesetz zur Änderung der Rechtsanwaltsordnung“ v. 13.12.1935, RGBl. I S. 1470; Holly, S. 245; vgl. auch Noack, § 19 RRAO. 92 Ostermann, S. 19. 93 Vgl. Fn. 91. 94 „Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen“, später „Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund“ (NSRB), eine Untergliederung der NSDAP, gegründet 1928. 95 I. d. F. v. 13.12.1935, vgl. Fn. 91; dies gilt auch für die in diesem Absatz folgende §§ der RRAO. 96 Ranz, S. 15; vorher wurden die Organe aus der Mitte der Kammern gewählt.

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1. Kap.: Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

dium des Reichsgerichts ernannt, das seinerseits vom „Führer und Reichskanzler“ persönlich bestimmt wurde97 (§ 90 I RRAO). Die These Hollys, durch diese Besetzung und die Zuordnung des Ehrengerichtshofs zur Reichs-Rechtsanwaltskammer sei „der Wunsch der Anwaltschaft erfüllt, die Ehrengerichtsbarkeit noch mehr als bisher dem Berufsstand zu übertragen“98, ist wohl formal korrekt, relativiert sich aber unter diesen Voraussetzungen: Denn vielmehr fügte sich die ehrengerichtliche Rechtsprechung in das nationalsozialistische Machtgefüge und Steuerungssystem ein (Giesebrecht nennt dies in seiner stark ideologisch geprägten Dissertation 1938 die „verwaltungsmäßige Eingliederung der Standesgerichte in die staatliche Gesamtverwaltung“99), was nicht zuletzt im bereits angeführten Begnadigungsrecht Hitlers seinen Ausdruck fand. Treffend und deutlich beschreibt Noack das ideologische Gepräge der RRAO im Dritten Reich: „Die RAO. v. 1.7.1878 ist unter der Herrschaft des Liberalismus entstanden [. . .] Die RRAO. v. 21.2.36 zeigt dagegen eine einheitliche Systematik auf der Grundlage einer sie beherrschenden Weltanschauung, des Nationalsozialismus.“100

Die RRAO wurde am 21.02.1936101 zwar neu bekannt gemacht, enthielt aber im Vergleich zu den bisherigen Regelungen keine inhaltlichen Veränderungen, sondern formulierte die bestehenden lediglich neu102, insbesondere was das ehrengerichtliche Verfahren betraf103. Am ehrengerichtlichen Verfahren selbst wurde bis 1943 inhaltlich wenig Signifikantes verändert. Das Verfahren bestand weiterhin aus zwei Instanzen (Ehrengericht und Ehrengerichtshof, § 69 RRAO-1936), wobei der Ehrengerichtshof organisatorisch aus dem Reichsgericht aus- und bei der Reichs-Rechtsanwaltskammer eingegliedert wurde.104 Die Besetzung der Ehrengerichte blieb gleich, während im Ehrengerichtshof entsprechend seiner organisatorischen Umgliederung mit der Auswechslung des Präsidenten des Reichsgerichts durch den Präsidenten der Reichs-Rechtsanwaltskammer als Vorsitzenden ein Übergewicht der Anwaltschaft gegenüber den hauptamtlichen Richtern geschaffen wurde.105 Der Staatsanwaltschaft stand auch weiterhin das Anklagemonopol zu.106 Die Konkurrenzregelung zum Strafverfahren des § 67 RRAO-1936 war mit Aus97

Giesebrecht, S. 33. Holly, S. 242. 99 Giesebrecht, S. 33. 100 Noack, Vorbemerkung V. 101 RGBl. I S. 123; im folgenden: RRAO-1936. 102 Holly, S. 248. 103 Ranz, S. 15. 104 Holly, S. 242. 105 Vgl. Holly, S. 243; vgl. auch oben zur vermeintlichen „Verbesserung der Selbstbestimmung der Rechtsanwälte“. 98

A. Historische Entwicklung für Rechtsanwälte in Deutschland

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nahme der Regelung für Anwaltsassessoren107 praktisch inhaltsgleich mit dem § 65 RAO-1878 (siehe Kap. 1. A. II.). Die Öffentlichkeit war grundsätzlich auch weiterhin ausgeschlossen (§ 85 RRAO). Allerdings konnten andere Personen als die Mitglieder der RRAK nach dem freien Ermessen des Vorsitzenden, auch gegen den Willen des Angeklagten108, als Zuhörer zugelassen werden, was ebenfalls als Ausfluß des totalitären und autoritären Systems gedeutet werden könnte. Weitere Neuerungen waren die Möglichkeit einer ehrengerichtlichen Bestrafung trotz vorher erteilter Rüge gem. § 65 III RRAO-1936109 und die selbständige Anordnung von Beweiserhebungen des Vorsitzenden des Ehrengerichts gem. § 89 I S. 2 RRAO-1936.110 1943111 wurde die Ehrengerichtsbarkeit in ihrer damaligen Form völlig beseitigt und deren Aufgaben den Dienstgerichten für Beamte übertragen. Laut § 7 I dieser Verordnung112 sollte dies lediglich für die Dauer des Krieges wegen des dadurch bedingten Personalmangels erfolgen113, bedeutete dennoch einen tiefen Eingriff in das anwaltliche Standesrecht114.

IV. Die Entwicklung in der Nachkriegszeit und die BRAO von 1959 Nach der Kapitulation und dem Ende des Dritten Reichs 1945 war die RRAO-1936 wegen ihres nationalsozialistischen Gedankenguts faktisch außer Kraft getreten.115 Es begann die Zeit der alliierten Militärgerichtsbarkeit.116 Zunächst wurde die Dienstaufsicht über die Rechtsanwälte von den Präsidenten der LG ausgeübt. Gegen deren Maßnahmen konnte Einspruch zur Disziplinarkammer eingelegt werden.117 Die Zulassung der Anwälte geschah durch die Militärregierung.118 106

Noack, § 73, Nr. 3. Mit dem G. v. 13.12.1935 (vgl. Fn. 91) wurde ein sog. Probe- und Anwärterdienst für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft eingeführt (siehe Holly, S. 245). 108 Noack, § 85, Nr. 2. 109 Vgl. hierzu die entsprechende, wenn auch erweiterte Vorschrift des § 115a BRAO. 110 Ranz, S. 15. 111 Verordnung zur Änderung und Ergänzung der Reichs-Rechtsanwaltsordnung v. 1.3.1943, RGBl. I, S. 123. 112 Siehe Fn. 111. 113 Henssler/Prütting-Dittmann Vorb. § 92 Rn. 7. 114 Ranz, S. 16. 115 BT-Drs. III/120, S. 44; Ostermann, S. 20; Henssler/Prütting-Koch Einl. Rn. 9. 116 Kopp, BRAK-Mitt. 1998, S. 57; Schroeder, BRAK-Mitt. 1997, S. 11. 117 Kopp, BRAK-Mitt. 1998, a. a. O. 107

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1. Kap.: Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

Sehr bald jedoch wurden in den einzelnen Besatzungszonen eigene, unabhängige Rechtsanwaltsordnungen geschaffen.119 So wurde in den Ländern der französischen Zone120 und in Berlin121 die RAO-1878 in der am 30.1.1933 geltenden Fassung „mit geringfügigen Änderungen“122 wieder in Kraft gesetzt.123 Zwar wurden in den Ländern der amerikanischen Besatzungszone (Bayern124, Hessen125 und Württemberg-Baden126) jeweils neue, untereinander im einzelnen uneinheitliche 127 Rechtsanwaltsordnungen verabschiedet128, aber auch dort wurde „der Zustand der Reichs-Rechtsanwaltsordnung wieder hergestellt“129. Allein in Bremen griff man auf die RRAO-1936 zurück, durch Verordnung wurde allerdings die Ehrengerichtsbarkeit bei den Rechtsanwaltskammern neu geregelt.130 In den Ländern der amerikanischen und französischen Besatzungszone orientierte man sich somit zwar mehr oder weniger stark an der RAO-1878, dennoch schuf jedes Land eigene gesetzliche Regelungen. Einen anderen Weg schlugen die Länder der britischen Besatzungszone (Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen131, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen) ein: Am 10.3.1949 wurde eine gemeinsame „Rechtsanwaltsordnung für die britische Zone“ (RAO-bZ)132 erlassen, die Angelegenheiten der Rechtsanwaltschaft waren damit einheitlich geregelt. Auf der anderen Seite entfernte sich diese RAO-bZ trotz weitgehender Anlehnung an die RAO-1878 vor allem unter anderem in manchen Bestimmungen über die Ehrengerichtsbarkeit, „noch am weitesten von dieser“.133 Größter Unterschied zur RAO-1878 und zu den RAOen der meisten anderen Länder 118

Schroeder, BRAK-Mitt. 1997, S. 11. Kopp, BRAK-Mitt. 1998, S. 57. 120 Baden: 19.07.1946, Amtsbl. d. Landesverwaltung Baden S. 43; WürttembergHohenzollern: 06.09.1946, GVBl. S. 251; Rheinland-Pfalz: für Hessen-Pfalz 31.08. 1946, Amtl. Mitt. d. Oberreg.-Präs. Hessen-Pfalz S. 524, für Rheinland-Hessen-Nassau 18.10.1946, Amtsbl. f. d. Oberpräsidium v. Rheinland-Hessen-Nassau und f. die Regierungen in Koblenz und Montabaur S. 228. 121 Zunächst durch Erlässe der alliierten Kommandatur v. 21.12.1945 u. 31.01.1946, später durch Gesetz über vorläufige Maßnahmen auf dem Gebiete des Anwaltsrechts v. 06.05. 1952, GVBl. Berlin S. 311. 122 Ranz, S. 20. 123 Ostermann, S. 20. 124 RAO v. 06.11.1946, BayGVBl. S. 371. 125 RAO v. 18.10.1948, HessGVBl. S. 126. 126 RegBl. d. Regierung Württemberg-Baden S. 101. 127 Vgl. Ranz, S. 17. 128 Ostermann, S. 20. 129 Holly, S. 253. 130 Ostermann, S. 20. 131 Bis 31.12.1946, danach zur amerikanischen Besatzungszone. 132 VOBlbZ S. 60. 133 Ostermann, S. 20. 119

A. Historische Entwicklung für Rechtsanwälte in Deutschland

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außer Bayern war das Übergewicht der Rechtsanwälte bei der Besetzung des zentral in Hamburg eingerichteten Ehrengerichtshofes als Berufungs- und Beschwerdeinstanz.134 Weitere Änderungen und Neuerungen der RAO-bZ gegenüber der RAO-1878 war „die ausdrückliche Regelung des Rügerechts135, die Einführung eines über das [vorläufige] Vertretungsverbot hinausgehenden [vorläufigen] Berufsverbotes“136 sowie verfahrensrechtlich etwa die Übertragung der Sitzungspolizei auf das Ehrengericht und die Rechtshilfe.137 Verfahrensrechtlich war den Länderregelungen gemeinsam, daß in allen Ländern außer in der britischen Zone und in Bayern138 jeweils bei den Oberlandesgerichten ein Ehrengerichtshof als Berufungs- und Beschwerdeinstanz geschaffen wurde.139 Von den größtenteils gleich gebliebenen Verfahrensregelungen, die in den verschiedenen RAOen übernommen wurden, seien insbesondere noch die Staatsanwaltschaft beim OLG als Anklagebehörde und die Nichtöffentlichkeit der Hauptverhandlung genannt.140 Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß trotz vieler verschiedenartiger Regelungen in den einzelnen Ländern eine „gemeinsame Grundeinstellung“ durch die durchwegs mehr oder minder starke Anlehnung an die RAO1878 festzustellen war.141 Aber gerade wegen der divergierenden Bestimmungen im Detail war ein einheitliches Recht, ein „einheitliches Anwaltsgesetz“142 zwingend notwendig geworden, wobei die bisherigen Gesetze in den Ländern „für die Fortentwicklung des Berufsrechts wertvolle Gedanken“143 enthielten. Dementsprechend hat der Gesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz gem. Art. 74 I Nr. 1 GG 1959 relativ spät – zehn Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland – Gebrauch gemacht und eine einheitliche Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO)144 geschaffen. Dort wurde aus den Länderregelungen Bewährtes übernommen und das anwaltliche Recht darauf basierend weiterentwickelt.145 So sollten insbesondere die „neuen rechts134 Vorsitzender und drei weitere anwaltliche Mitglieder, dagegen nur ein Senatspräsident oder OLG-Rat; vgl. Ostermann, S. 21. 135 § 78 RAO-bZ. In der RAO-1878 wurde das Rügerecht des Kammervorstandes aus § 49 I Nr. 1 RAO-1878 gefolgert; vgl. Friedländer, § 49 Anm. 11. 136 Ranz, S. 41 (§ 111 RAO-bZ). 137 Vgl. Ranz, S. 41. 138 In der britischen Zone wurde zentral ein Ehrengerichtshof in Hamburg (s. o.), für die drei bayerischen OLG-Bezirke einer in München geschaffen. 139 Vgl. Ranz, S. 43. 140 Vgl. Ranz, S. 46. 141 Vgl. BT-Drs. III/120, S. 45. 142 Ranz, S. 49. 143 Ranz, a. a. O. 144 V. 01.08.1959, BGBl. I S. 565. 145 Amtl. Begr., BT-Drs. III/120, S. 47, 48.

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1. Kap.: Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

staatlichen Gebote des Grundgesetzes“ beachtet, der „Rechtsschutz des einzelnen Rechtsanwalts verstärkt“ und entsprechend der Vorschriften des Grundgesetzes über die rechtsprechende Gewalt die Ehrengerichtsbarkeit, „insbesondere bei der Bildung der Ehrengerichte“ neu gestaltet werden.146 Gerade auf letzteres soll ebenso wie auf die Verfahrensvorschriften der BRAO hier allerdings noch nicht näher eingegangen werden, da sie den Hauptteil der Abhandlung darstellen und an entsprechender Stelle eingehend behandelt werden. Das zentrale Element der Rechtsanwaltschaft, der Ruf nach freier Advokatur, der seit der RAO-1878 bestand und im Lauf der Jahre von der Gesetzgebung mehr oder weniger147 berücksichtigt wurde (s. o.), wurde von der BRAO aufgegriffen und noch erweitert. So wurden die fakultativen Versagungsgründe bei der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft (§ 6 RAO-1878) nicht berücksichtigt und die Freizügigkeit innerhalb des Bundesgebietes verwirklicht (§ 5 BRAO).148 Eine fortwährende Forderung der Anwaltschaft im Hinblick auf die Freiheit der Advokatur gerade im Bereich des ehrengerichtlichen Verfahrens (vgl. oben Kap. 1. A. II., S. 27) wurde allerdings nur unzureichend umgesetzt: bei der Besetzung des letztinstanzlichen Entscheidungskörpers, des Senats für Anwaltssachen am BGH, wurde mit einem Verhältnis von vier zu drei Richtern der Schwerpunkt wieder zu Gunsten der hauptamtlichen Richter gesetzt.149 Das Verdienst der BRAO von 1959 war also zum einen die Vereinheitlichung der Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet des anwaltschaftlichen Berufsrechts und zum anderen die Fortführung und Vertiefung des Prinzips der Freiheit der Advokatur – trotz des soeben angesprochenen und noch zu vertiefenden Defizits im Bereich der Ehrengerichtsbarkeit – gerade auch in Abgrenzung zur „Situation der Rechtsanwaltschaft in der Sowjetzone“.150 Dort besaß ab Ende des zweiten Weltkriegs zwar vorerst die RAO1878 formelle Gültigkeit151, für die wenigen übriggebliebenen Einzelanwälte galt diese sogar noch bis 1981152. Die freie Advokatur wurde aber bereits dadurch zerschlagen, daß durch die „Verordnung über die Bildung von Kollegien der Rechtsanwälte“ vom 15.5.1953153 und letztlich durch „das Gesetz über die Kollegien der Rechtsanwälte“ vom 17.12.1980154 sog. Rechtsanwalts-Kollegien geschaffen und diese unter Staatsaufsicht gestellt wurden.155 Die disziplinari146 147 148 149 150 151 152 153

Amtl. Begr., BT-Drs. III/120, S. 47. V. a. im Dritten Reich, siehe dort Kap. 1. A. III. Amtl. Begr., BT-Drs. III/120, S. 48. Vgl. hierzu die Übersicht in Hartstang, Anwaltsrecht, S. 735. Henssler/Prütting-Koch § 2 Rn. 6. Hartstang, Anwaltsrecht, S. 795. Henssler/Prütting-Dittmann Vorb. § 92 Rn. 10. DDR-GBl. I, S. 725.

A. Historische Entwicklung für Rechtsanwälte in Deutschland

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sche Aufsicht übernahm zunächst die Mitgliederversammlung der Kollegien. Gegen deren Maßnahmen konnte der Justizminister angerufen werden. Ab 1980 reduzierte sich die Disziplinargewalt auf den Vorstand des Kollegiums. Nach dem Fall der Mauer 1989 wurde zunächst die disziplinarische Ahndung dem Justizminister übertragen156, der basierend auf einem Abschlußbericht eines aus drei Rechtsanwälten bestehenden Disziplinarausschusses entschied. Kurz vor der Wiedervereinigung führte das Rechtsanwaltsgesetz vom 13.9.1990157 die Berufsgerichtsbarkeit für Rechtsanwälte nach dem Vorbild der BRAO158 und somit ein wichtiges Element der freien Advokatur wieder ein.159

V. Vom Ehrengericht zum Anwaltsgericht Wie bereits 1878 und 1959 wurde bald nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 3.10.1990 die „Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet des Berufsrechts für Rechtsanwälte“160 notwendig. Zudem schrieb das BVerfG durch seine Beschlüsse vom 14.7.1987161 eine zwingende „Neuordnung des Berufsrechts“162 vor, da die bis dato geltenden Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts nun entgegen bisheriger Auffassung nicht mehr „als Hilfsmittel zur Auslegung und Konkretisierung der Generalklausel über die anwaltlichen Berufspflichten (§ 43 BRAO) herangezogen werden“163 durften.164 Aus diesen Gründen erließ der Bundesgesetzgeber am 2.9.1994165 das Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte. Dieses behob die angesprochenen Probleme. Der „als nicht mehr zeitgemäß empfundene“166 Begriff der „Ehre“ wurde aus der BRAO gestrichen167 und die Berufs154 DDR-GBl. 1981 I, S. 1; damit einhergehend das „Musterstatut der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR“ (DDR-GBl. 1981 I, S. 4) und die „Anordnung über die Aufgaben und die Tätigkeiten der Einzelanwälte“ (DDR-GBl. 1981 I, S. 10), die in geringer Zahl noch übrig waren; vgl. Hartstang, Anwaltsrecht, S. 795 f. 155 Vgl. zum Ganzen Hartstang, Anwaltsrecht, S. 795 f. 156 „Verordnung über die Tätigkeit und die Zulassung von Rechtsanwälten mit eigener Praxis“ v. 22.2.1990, DDR-GBl. I, S. 147. 157 DDR-GBl. I, S. 1504. 158 Henssler/Prütting-Dittmann Vorb. § 92 Rn. 13. 159 Vgl. zum Ganzen Kopp, BRAK-Mitt. 1998, 56, 57; Henssler/Prütting-Dittmann Vorb. § 92 Rn. 8 ff. 160 Feuerich/Weyland Vorbem. Rechtseinheit, Überschrift vor Rn. 1. 161 BVerfG v. 14.7.1987 – 1 BvR 537/81 u. a., NJW 1988, 191. 162 BVerfG, NJW 1988, 191. 163 BVerfG, NJW 1988, 191. 164 Vgl. auch BT-Drs. 12/4993, S. 22 f. 165 BGBl. I S. 2278. 166 BT-Drs. 12/4993, S. 38. 167 Schroeder, BRAK-Mitt. 1997, 12.

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1. Kap.: Geschichte und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

gerichte als „Anwaltsgericht“ und „Anwaltsgerichtshof“ umbenannt. Gleichzeitig vollzog sich somit eine Rechtsvereinheitlichung für das gesamte Bundesgebiet. Eine über die Umbenennung hinausgehende Umstrukturierung der Berufsgerichtsbarkeit fand allerdings nicht statt. Aufgaben, Besetzung, Organisation und rechtlicher Charakter sind gleich geblieben.168

B. Schutzzweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens Auf den ersten Blick erscheint die Bedeutung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens verglichen mit anderen Verfahren169 verschwindend gering170, zumal die Zahl ehren- bzw. anwaltsgerichtlicher Verfahren im Verhältnis zur Zahl zugelassener Rechtsanwälte in den letzten Jahren „sogar geringer geblieben“171 ist. Gerechtfertigt wird die anwaltsgerichtliche Sanktionierung im Rahmen einer eigenen ständigen Gerichtsbarkeit172 durch den Schutzzweck des Verfahrens. Sinn und Zweck der Anwaltsgerichtsbarkeit ist nach allgemeiner Auffassung, ausschließlich das Ansehen und die Ehre des Rechtsanwaltsstandes zu schützen und das Vertrauen in die Anwälte zu festigen.173 Begründet wird dies in Abgrenzung zu einer Mindermeinung174, die auch die „Sicherung gemeinwohlorientierter Interessen“175 in den Schutzzweck einschließt, daß andernfalls der Grundsatz ne bis in idem gem. Art. 103 Abs. 3 GG verletzt wäre.176 Als weiteres Indiz gegen die Gemeinwohlorientierung könnte § 135 I S. 1 BRAO angeführt werden, der im Unterschied zum Grundsatz des § 169 GVG die Öffentlichkeit von der anwaltsgerichtlichen Hauptverhandlung ausschließt. Für die Auffassung Gellners und Wassermanns spricht letztlich auch der ein168

Vgl. Henssler/Prütting-Dittmann Vorb. § 92 Rn. 3; Feuerich/Weyland §92 Rn. 1. So betrug z. B. die Geschäftsbelastung der Gerichte in Strafsachen 1998 in den ersten Instanzen (AGe, LGe und OLGe) 855.502, in den Berufungsinstanzen (LGe) 57.883, und in den Revisionsinstanzen (OLGe und BGH) 9.950 Verfahren, nach: Bundesministerium der Justiz, Zahlen aus der Justiz, 2000, S. 4 ff. 170 Siehe bereits Einleitung 2. C. 171 Hartstang, Anwaltsrecht, S. 738. 172 im Unterschied zu vielen anderen Berufsgerichtsbarkeiten existiert für das anwaltsgerichtliche Verfahren mit Ausnahme des Senats für Anwaltssachen am BGH eine eigene ständige Gerichtsbarkeit, vgl. Henssler/Prütting-Dittmann Vorb. § 92 Rn. 4. 173 Gellner NJW 1963, 995, 996; Wassermann JR 1967, 138, 139; Ziegenhagen, S. 34; BGH v. 4.3.1985 – AnwSt (R) 8/84, BRAK-Mitt. 1985, 173; Feuerich/Weyland § 122 Rn. 1 und BT-Drs. V/2842, S. 29 sprechen von der ,Reinhaltung des Berufsstandes‘. Holly, S. 283, betrachtet diese ,Hebung des Ansehens‘ als historisch begründetes Ziel der Anwaltschaft selbst. 174 Ziegenhagen, S. 21 ff. 175 Ziegenhagen, S. 34. 176 Vgl. Gellner NJW 1963, 995, 996; ausführlicher zum Grundsatz ne bis in idem unter Kap. 4. A. I. 169

B. Schutzzweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens

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deutige Wille des Gesetzgebers, der durch die Einführung des § 122 V BRAO177, der ausdrücklich § 172 StPO für unanwendbar erklärt, einen möglichen „Verletzten im Rechtssinne“ im anwaltsgerichtlichen Verfahren also ausschließt.178 Auch der Gesetzgeber begründet dies mit einem rein standesinternen Schutzzweck.179 Zudem wird das Allgemeininteresse bei Verstößen gegen Berufspflichten ausreichend durch das Strafrecht und den daraus folgenden Strafprozeß gewährleistet, insbesondere durch die Ehr- und Persönlichkeits(§§ 164, 185 ff. StGB), die Vermögens- (§§ 263, 266 StGB), die Verfahrensschutz- (§§ 153 ff. StGB) und die speziellen Anwaltsdelikte (§§ 203 I Nr. 3, 356 StGB).180 Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß auch das anwaltsgerichtliche Verfahren – trotz etwa der Nichtöffentlichkeit der Hauptverhandlung – eine gewisse Außenwirkung ausstrahlt. In diese zwingende Außenwirkung, die wohl jeglichem juristischen Verfahren bei entsprechendem öffentlichem Interesse innewohnt, einen zielgerichteten Schutzzweck hineinzuinterpretieren, würde jedenfalls zu weit führen und den Willen des Gesetzgebers, der sich insoweit eindeutig geäußert hat,181 überstrapazieren. Umstritten ist weiterhin, ob die Zielrichtung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens und dessen Maßnahmen nur in die Vergangenheit, also auf die reine Ahndung von Berufspflichtverletzungen gerichtet ist182 oder auch als Zwangsmittel zur Einhaltung von Berufspflichten in die Zukunft zeigt.183 Mit Hinweis auf eine moderne Bewertung des Disziplinarrechts184 und im Hinblick auf das soeben Ausgeführte muß die anwaltsgerichtliche Sanktion auch eine Zielrichtung in die Zukunft besitzen. Nur so, durch die Ermahnung des Rechtsanwalts zu zukünftigem standesgemäßem Verhalten, kann letztendlich dem Ziel der Reinhaltung des Anwaltsstandes und der Aufrechterhaltung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Anwälte entsprochen werden.185

177

G. v. 13.1.1969, BGBl. I S. 25 (damals § 122 IV). Zu diesem Komplex ausführlich Gellner NJW 1963, 995, 996. 179 Vgl. BT-Drs. V/2848, S. 29. 180 Vollkommer, S. 141; eingehend vgl. Roxin, Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, E III. Aus der jüngsten Rechtsprechung sei hier noch die Strafbarkeit wg. Geldwäsche (§ 261 StGB) durch die Annahme von Verteidigerhonorar, BGH v. 4.7.2001 – 2 StR 513/00, BGHSt 47, 68 genannt. 181 Vgl. oben Fn. 179. 182 Isele § 113 II A, S. 1349. 183 Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 988. 184 Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 988. 185 Auch Isele gesteht diese Zukunftswirkung letztlich zu, vgl. Isele § 113 II A, S. 1349. 178

2. Kapitel

Der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens Konflikte zwischen anwaltsgerichtlichem Verfahren und Strafverfahren treten dann auf, wenn ein Rechtsanwalt wegen „desselben Verhaltens“ sowohl disziplinarrechtlich durch das Anwaltsgericht als auch strafrechtlich durch das Strafgericht belangt werden soll. Oftmals steht bereits auf der anwaltsgerichtlichen Ebene des Verweises eine strafbare Handlung im Hintergrund. Beispiel: Ein Rechtsanwalt behält eine Forderung, die er für einen Mandanten eingezogen hat, für sich ein. Dies kann strafrechtlich den Tatbestand der Unterschlagung (§ 246 StGB) und der Untreue (§ 266 StGB) erfüllen, aber auch anwaltsrechtlich kann dies einen Verstoß gegen Berufspflichten (§ 43a Abs. 5 BRAO) darstellen und kann somit sowohl strafprozessual als auch anwaltsgerichtlich verfolgt werden.

Sodann ist zu fragen, welches Verfahren zuerst durchgeführt, inwieweit das eine oder andere ausgesetzt werden muß und in welcher Weise Erkenntnisse aber auch Sanktionen des einen Verfahrens auf das andere Verfahren einwirken. Der daraus entstehende, praktisch unumgängliche Konflikt zwischen den Verfahren „ist so alt wie die Ehrengerichtsbarkeit überhaupt“1. Durch §§ 115b, 118 BRAO soll eine Lösung herbeigeführt werden.

A. Die Systematik der §§ 115b, 118 BRAO Der Grundsatz des Vorranges des Strafverfahrens fußt auf § 118 BRAO, der nach allgemeiner Ansicht dem Strafverfahren einen absoluten, unbedingten Vorrang gegenüber dem anwaltsgerichtlichen Verfahren einräumt.2 Aber auch § 115b normiert das Verhältnis zwischen beiden Verfahren. Systematisch bedeutet dies im einzelnen: 1. Ein anwaltsgerichtliches Verfahren kann bei laufendem Strafverfahren zwar eingeleitet, muß aber bis zur Beendigung3 des strafgerichtlichen Verfahrens ausgesetzt werden (§ 118 Abs. 1 S. 1 BRAO).

1

Isele § 118 I. Vgl. bereits Friedländer, § 65 Anm. 2; BT-Drs. III/120, S. 99; auch Feuerich, NJW 1988, 181; Rössler FS Peters, S. 249, 258; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 1; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 1; BGH v. 13.11.1978 – AnwSt (R) 14/78, BGHSt 28, 178, 179 = NJW 1979, 1171 = EGE XIV, 209, 210. 2

B. Gründe für den Vorrang des Strafverfahrens

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2. Ein bereits laufendes anwaltsgerichtliches Verfahren muß bei Einleitung eines Strafverfahrens bis zu dessen Beendigung ausgesetzt werden (§ 118 Abs. 1 S. 2 BRAO). Aus diesem absoluten chronologischen Vorrang des Strafverfahrens4 folgt auch formell-inhaltlich die strafprozessuale Priorität: 1. Wurde bereits im Strafverfahren eine Strafe oder Maßnahme5 verhängt, ist von einer anwaltsgerichtlichen Ahndung abzusehen, es sei denn, diese ist zusätzlich erforderlich, um den spezifischen Sinn des anwaltsgerichtlichen Verfahrens zu erfüllen (= positiver disziplinärer Überhang; § 115b S. 1 BRAO).6 2. Wegen Tatsachen, die Gegenstand eines Freispruchs im Strafverfahren waren, kann das anwaltsgerichtliche Verfahren nur dann eingeleitet oder fortgesetzt werden, wenn diese, ohne den Tatbestand einer Straf- oder Bußgeldvorschrift zu erfüllen, eine Pflichtverletzung des Rechtsanwalts enthalten (= negativer disziplinärer Überhang; § 118 Abs. 2 BRAO).7 3. Die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils sind für die Entscheidung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens grundsätzlich bindend, außer das Anwaltsgericht beschließt die nochmalige Prüfung dieser Feststellungen (§ 118 Abs. 3 BRAO).8

B. Gründe für den Vorrang des Strafverfahrens Durch diesen absoluten Vorrang des Strafverfahrens sollen Überschneidungen und Widersprüche vermieden werden, die durch die gleichzeitige Behandlung desselben Sachverhalts in zwei getrennten Verfahren entstehen können: Einerseits ist diese Überlegung von Effektivitätserwägungen geleitet (dieselben Zeugen wären zweimal zu vernehmen, dieselben Beweise müßten doppelt erhoben werden). Andererseits kann dies auch eventuell widersprechende Entscheidungen im Straf- und im anwaltsgerichtlichen Verfahren verhindern.9 Außerdem sollen „im Strafverfahren im allgemeinen die umfangreicheren Mittel für die Tatsachenfeststellung zur Verfügung stehen“10. 3 Zur Ausnahme dieses Grundsatzes bei Fortsetzung nach „gesicherter Sachaufklärung“ gem. § 118 Abs. 1 S. 3 siehe Kap. 3. C. 4 Hierzu im einzelnen Kap. 3. A. 5 Zur Begriffsbestimmung und Abgrenzung vgl. Kap. 4. B. 6 Kap. 4. A. 7 Kap. 4. E. 8 Kap. 4. G. 9 Vgl. zum Ganzen BT-Drs. III/120, S. 99; BT-Drs. XI/3253, S. 25; Feuerich, NJW 1988, 181; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 1; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 1.

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2. Kap.: Der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens

Das Effizienzargument ist freilich plausibel, allerdings bedingt dies für sich alleine gesehen keine rationale Begründung für einen Vorrang gerade des Strafverfahrens. Ebenso könnte demnach dem anwaltsgerichtlichen Verfahren der Vorrang eingeräumt werden, insofern wäre eine gesetzgeberische Entscheidung zu Gunsten des Strafverfahrens willkürlich11, wenn nicht noch andere Aspekte hinzutreten. Ebenso einleuchtend erscheint zunächst auch das Argument, widersprechende Entscheidungen durch die Priorisierung verhindern zu wollen.12 Allerdings kritisiert Isele13, der Gedankengang sei nur „bedingt richtig und in entscheidenden Punkten überholt“: Wie etwa im Verhältnis Strafrecht und Zivilrecht hätte es schon „von jeher divergierende Entscheidungen gegeben“. Demnach liege die Möglichkeit differierender Urteile im unterschiedlichen Wesen beider Verfahren, sei also nicht systemwidrig und könne daher kein Kriterium für den Vorrang des Strafverfahrens sein. Dieser Argumentation läßt sich allerdings nicht folgen: Bereits das erwähnte Beispiel des Vergleichs mit Zivil- und Strafverfahren ist gänzlich unbrauchbar, da unterschiedliche Ergebnisse beider Verfahren aus einer differierenden Beweislastverteilung resultieren: Während im Zivilprozeß die für das Urteil relevante Beweislage im Zweifel durch die Verteilung der Beweislast auf die Parteien ermittelt wird, entscheidet im Strafprozeß der Grundsatz „in dubio pro reo“ bei Zweifeln. Im übrigen sind die Verfahrensvorschriften über die Beweisaufnahme im Zivil- und Strafprozeß grundsätzlich unterschiedlich, so daß auch vor diesem Hintergrund ein unterschiedliches Verfahrensergebnis erklärbar und akzeptabel ist. Im Gegensatz dazu würden divergierende Ergebnisse in Straf- und anwaltsgerichtlichen Verfahren nicht auf eine unterschiedliche Beweislastverteilung zurückgehen, da hier wie dort der Grundsatz „in dubio pro reo“ zweifelhafte Beweislagen entscheidet und im übrigen die strafprozessualen Vorschriften über die Beweisaufnahme (§§ 244 ff. StPO) mit Ausnahmen im Detail grundsätzlich über die Verweisungsnorm des § 116 BRAO im anwaltsgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbar sind14, also auch die Mittel der Beweisaufnahme vergleichbar sind. Deshalb bestünde hier ohne die Bevorzugung des einen oder des anderen Verfahrens eben die Gefahr, daß durch eine unterschiedliche Beweiserhebung und -würdigung verschiedene, widersprüchliche Ergebnisse zustande kämen. 10

Vgl. BT-Drs. XI/3253, S. 25. Ähnlich Isele § 118 II A, der von „keiner logisch zwingenden Begründung“ spricht. 12 So etwa BGH v. 13.11.1978 – AnwSt (R) 14/78, BGHSt 28, 178, 180 f. 13 Isele § 118 II A. 14 Vgl. nur Feuerich/Weyland § 116 Rn. 48. 11

B. Gründe für den Vorrang des Strafverfahrens

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Freilich bleibt dennoch die Frage offen, ob dies wegen der verschiedenen Schutzrichtungen beider Verfahren15 nicht doch hinnehmbar und vielleicht sogar wünschenswert ist. Eine unterschiedliche Bewertung desselben Verhaltens auf disziplinar- und strafrechtlicher Ebene ist durchaus nicht ungewöhnlich: Etwa im Bereich polizeilichen Handelns kann u. U. trotz strafrechtlicher Rechtfertigung eines Verhaltens durchaus ein beamtendisziplinarrechtlicher Verstoß vorliegen.16 Aber auch dieser Vergleich geht an der hier angesprochenen Problematik vorbei: Es geht nämlich nicht um eine verschiedentliche Bewertung desselben Sachverhalts auf der jeweiligen materiellen Ebene. Hierfür finden sich entsprechende Regelungsmechanismen im Rahmen der materiellen Konkurrenz im Zusammenhang mit dem „disziplinären Überhang“.17 Resumée einer derartig unterschiedlichen materiellen Betrachtung wären letztlich auch lediglich unterschiedliche, nicht aber widersprüchliche Ergebnisse. Hier interessiert indes die Problematik eines möglichen widersprüchlichen Ergebnisses allein aufgrund unterschiedlicher Beweiserhebung. Dies zu verhindern war Intention des Gesetzgebers bei der Formulierung des § 118 BRAO, insbesondere der Absätze 1 und 3.18 Im Interesse der Einheitlichkeit zweier Verfahren, die sich zum einen durch ihre formelle Ähnlichkeit und zum anderen durch den gemeinsamen sanktionellen Charakter auszeichnen, der trotz unterschiedlicher Schutzzwecke erkennbar ist, ist die Priorisierung eines der Verfahren durch legislative Entscheidung im Hinblick auf die einheitliche Beweisaufnahme gerechtfertigt und angezeigt. Allerdings ist die Entscheidung für den Vorrang des Strafverfahrens auch mit dem Argument der Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen allein im Hinblick auf die Auswahl eines Verfahrens insofern wiederum willkürlich, als auch mit der Bevorzugung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens solche widersprüchlichen Entscheidungen vermieden werden könnten. Als eindeutiges Argument für die Bevorzugung des Strafprozesses wird die Tatsache angeführt, daß dem Strafprozeß „im allgemeinen die umfangreicheren Mittel für die Tatsachenfeststellung zur Verfügung stehen“19, da dieser „auf eine Wahrheitsermittlung von Amts wegen optimal“20 ausgerichtet sei. Im Hin15

Im einzelnen dazu siehe Kap. 1. B. Dazu MüKomm-Erb § 32 Rn. 166, 169 m. w. N.; str., andere Auffassungen gehen entweder von einer generellen Erweiterung polizeilicher Eingriffsbefugnisse durch § 32 StGB aus und sehen in einer strafrechtlich gerechtfertigten Handlung gleichzeitig ein rechtmäßiges hoheitliches Handeln (vgl. MüKomm-Erb § 32 Rn. 167 m. w. N.) oder lehnen die Anwendung von § 32 StGB für hoheitliches Handeln gänzlich ab (vgl. MüKomm-Erb § 32 Rn. 168 m. w. N.). 17 Hierzu eingehend Kap. 4. 18 Vgl. BT-Drs. III/120, S. 99. 19 BT-Drs. XI/3253, S. 25; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 1. 20 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 43. 16

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2. Kap.: Der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens

blick auf § 116 S. 2 BRAO, der die StPO sinngemäß für anwendbar erklärt, erscheint dieses Argument auf den ersten Blick unzureichend. Wenn schon (mit Ausnahmen im Detail) die StPO sinngemäß auf das anwaltsgerichtliche Verfahren anwendbar ist, dann gelten hier wie dort dieselben Vorschriften auch und gerade bezüglich der Beweiserhebung und der Tatsachenfeststellung. Vor diesem Hintergrund böte also das Strafverfahren grundsätzlich keine umfangreicheren Mittel zur Tatsachenfeststellung. Allerdings ist zu beachten, daß zum einen einige Vorschriften der StPO im anwaltsgerichtlichen Verfahren eben nicht anwendbar sind (insbesondere die mit § 117 BRAO – Verhaftungsverbot des Rechtsanwalts – kollidierenden Vorschriften21), die Erkenntnisse aus den entsprechenden, im vorhergehenden Strafverfahren möglicherweise durchgeführten Maßnahmen dann aber im späteren anwaltsgerichtlichen Verfahren verwertbar sind.22 Zum anderen werden regelmäßig selbst grundsätzlich mögliche Maßnahmen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit23 im Strafverfahren aufgrund dessen höherer Bedeutung eher möglich sein als im anwaltsgerichtlichen Verfahren. Es ist deshalb nicht nur die Prozeßökonomie, sondern insbesondere auch die Prozeßtaktik, die für einen Vorrang des Strafverfahrens spricht. Letztlich läßt sich auch aus der insgesamt größeren Bedeutung des Strafverfahrens für die Allgemeinheit ein Vorrang rechtfertigen. Im übrigen spricht auch die Gesetzessystematik sowohl innerhalb des anwaltsgerichtlichen Verfahrens als auch nach außen dafür: Nur durch eine (insbesondere zeitliche) Bevorzugung des Strafverfahrens läßt sich im Regelfall die Intention des Gesetzgebers verwirklichen, den Einfluß des Strafverfahrens auf das berufsgerichtliche Verfahren sowohl im Hinblick auf den disziplinären Überhang nach § 115b BRAO24 als auch hinsichtlich eines möglichen Prozeßhindernisses durch strafgerichtlichen Freispruch i. S. d. § 118 Abs. 2 BRAO25 sowie mit Blick auf die Bindung an tatsächliche Feststellungen des Strafprozesses nach § 118 Abs. 3 BRAO26 geltend zu machen. Außerdem stellt das Strafverfahren das allgemeinere Verfahren dar und da Konkurrenzen mit vielen spezielleren Verfahren (v. a. Disziplinarverfahren) denkbar sind, spricht die gesamtrechtssystematische Erwägung dafür, die Konkurrenz in den speziellen Verfahren zu regeln, gleichzeitig dem Strafverfahren 21 Im Einzelnen vgl. etwa Feuerich/Weyland § 116 Rn. 19 ff.; Henssler/PrüttingDittmann § 116 Rn. 11 ff. 22 Z. B. bei § 100a StPO: BGH v. 15.3.1976 – AnwSt (R) 4/75, BGHSt 26, 298 = NJW 1976, 1462 = EGE XIII, 128. 23 Vgl. Pfeiffer, vor § 94 Rn. 1; KK-Pfeiffer Einl. Rn. 30 f.; KK-Nack vor § 94 Rn. 6; M-G Einl. Rn. 20. 24 Kap. 4. A. 25 Kap. 4. E. 26 Kap. 4. G.

C. Ausnahmen

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aufgrund seiner „Allgemeingültigkeit“ den Vorrang zu gewähren und die Probleme, die sich durch die Konkurrenzsituation ergeben, weitestgehend in die speziellen Verfahren, hier also das anwaltsgerichtliche Verfahren, zu verlagern.27 Dadurch können Widersprüche und Konflikte einfacher und klarer vermieden werden, als diese in einem nachfolgenden Strafverfahren zu behandeln. In der Gesamtsicht der Argumente kann festgestellt werden, daß erstens die Entscheidung zugunsten eines der beiden Verfahren aus Gründen der Effizienz und der Vermeidung von Widersprüchen richtig und wichtig ist und zweitens eine Entscheidung für die Priorisierung des Strafverfahrens wegen seiner Bedeutung, der umfangreicheren Mittel für die Tatsachenfeststellung und der klareren Systematik geboten ist.

C. Ausnahmen Der absolute Vorrang des Strafverfahrens gilt nicht uneingeschränkt für alle Verfahrensarten der StPO. Zwar war zum Entwurf der RAO-1878 der generelle Vorrang vorgesehen, was sich aber nicht durchsetzen konnte. Der uneingeschränkte Vorrang galt dann nur für das Offizialverfahren, nicht also etwa für das Privatklageverfahren, auch wenn Friedländer ein Abwarten des Strafverfahrens auch in diesem Fall für opportun hielt.28 Diesen Gedanken führt die heutige BRAO fort, wonach der Grundsatz gilt, daß der Vorrang des Strafverfahrens nur solchen Verfahren zugebilligt wird, in denen die Staatsanwaltschaft „die öffentliche Klage erhoben“29 hat. Damit ist die Fortführung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens per Gesetzeswortlaut neben dem Privatklageverfahren, das gem. § 374 StPO (i. d. R. nur) vom Verletzten angestrengt wird und bei dem die Staatsanwaltschaft gerade nicht zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 377 I S. 1 StPO), wegen der fehlenden öffentlichen Klage zulässig.30 Konsequenterweise sperrt dann aber wiederum die Übernahme der Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft gem. § 377 II StPO das anwaltsgerichtliche Verfahren.31 Auch das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ist gegenüber dem anwaltsgerichtlichen Verfahren nicht vorrangig i. S. d. § 118 BRAO, da es hier (noch) an der Anklageerhebung fehlt. Letzteres kann aber unter den Voraussetzungen des § 118b BRAO ausgesetzt werden, wenn schon das strafrechtliche Ermittlungsverfahren für das Anwaltsgerichtsverfahren vorgreiflich ist, d.h. die dort zu ent27

Zu den einzelnen Problemen siehe Kap. 3 ff. Vgl. Friedländer, § 65 Anm. 2. 29 Gesetzeswortlaut des § 118 Abs. 1 S. 1; vgl. BT-Drs. III/120, S. 99. 30 Vgl. dazu auch BT-Drs. III/120, S. 99; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 4, Jessnitzer/Blumberg § 118 Rn. 1. 31 Siehe auch Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 4. 28

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2. Kap.: Der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens

scheidende Frage bereits für die Entscheidung im anwaltsgerichtlichen Verfahren von zentraler Bedeutung ist.32 Vice versa hemmt das Strafverfahren die Durchführung des anwaltsgerichtlichen Ermittlungsverfahrens (§§ 116 BRAO, 160 StPO) nicht.33 Allerdings ist auch dabei § 118b BRAO zu beachten, der eine Aussetzung begründen kann.34 Die Staatsanwaltschaft kann also ihre Ermittlungen fortsetzen und eine Anschuldigungsschrift beim Anwaltsgericht einreichen (§ 121 BRAO), wodurch das anwaltsgerichtliche Verfahren eingeleitet wird (§ 118 Abs. 1 S. 1 BRAO)35. Erst dann muß das Anwaltsgericht als „einzig zulässige Tätigkeit“36 die Aussetzung des Verfahrens beschließen37. Die Weiterermittlung der Staatsanwaltschaft und v. a. die Einreichung der Anschuldigungsschrift sind nicht nur zulässig sondern auch notwendig, um die Verfolgungsverjährung gem. § 115 BRAO i. V. m. § 78c I S. 1 Nr. 6 StGB zu unterbrechen.38 Auch im Stadium des anwaltsgerichtlichen Revisionsverfahrens (§ 145 BRAO) ist eine Aussetzung gem. § 118 Abs. 1 S. 2 BRAO nach dem Sinn der Vorschrift fraglich. Zweck der Aussetzung ist im Zusammenhang mit der Bindung an die strafprozessualen Feststellungen gem. § 118 Abs. 3 BRAO in erster Linie die Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen durch unterschiedliche Tatsachenfeststellung. Da sich das Revisionsverfahren lediglich auf die Überprüfung von Rechtsfehlern beschränkt (§ 116 BRAO i. V. m. § 337 StPO)39 ist eine Sachverhaltsfeststellung im anwaltsgerichtlichen Verfahren bereits abgeschlossen. Demnach kann eine Tatsachenfeststellung im dazwischentretenden Strafverfahren, die der der anwaltsgerichtlichen Feststellung widerspricht, dort nicht mehr berücksichtigt werden, eine Aussetzung wäre also sinnlos.40 Dagegen kann jedoch eingewendet werden, daß mittlerweile auch die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen im Revisionsverfahren in begrenztem Umfang anerkannt ist. Durch die sog. Darstellungsrüge kann die Plausibilität der tatrichterlichen Beweiswürdigung auch in der Revision geltend gemacht werden.41 Überdies kommt eine Überprüfung der Verletzung einer gerichtlichen 32

Vgl. Feuerich, NJW 1988, 181. Vgl. Feuerich, NJW 1988, a. a. O.; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 2. 34 Vgl. EGH München v. 12.2.1976 – BayEGH II – 19/75, NJW 1976, 816, 817; Feuerich, NJW 1988, 181; Isele § 118b II. 35 Zur Einleitung des Verfahrens durch Einreichung der Anschuldigungsschrift bezogen auf den gleichlautenden § 109 I S. 1 StBerG vgl. BGH v. 15.10.1984 – StbStR 1/84, BGHSt 33, 54, 57. 36 Isele § 118 II B 2 a cc. 37 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 7; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 4. 38 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 2; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 6. 39 Vgl. nur KK-Kuckein, § 337 Rn. 3; M-G § 337 Rn. 1. 40 So Feuerich/Weyland § 118 Rn. 9; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 5. 41 KK-Kuckein, § 337 Rn. 4; M-G § 337 Rn. 26. 33

D. Annex: „Dasselbe Verhalten‘‘

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Aufklärungspflicht gem. § 116 BRAO i. V. m. § 244 II StPO dahingehend in Betracht, ob die Beweiswürdigung rechtlich einwandfrei zustande gekommen ist, insbesondere ob bestimmte Ermittlungen unterlassen worden sind.42 Solch eine (indirekte) Überprüfung von Tatsachen eröffnet durchaus die Möglichkeit des Einflusses von Tatsachenermittlungen aus einem konkurrierenden Strafverfahren: Im Rahmen des Strafverfahrens könnten eben Tatsachen auftauchen, die den Schluß auf einen eben genannten Verstoß innerhalb des anwaltsgerichtlichen Verfahrens zulassen. Nach genauerer Betrachtung kann eine solche Konstellation allerdings nicht zur Anwendbarkeit des § 118 Abs. 1 S. 2 BRAO mit der Konsequenz der Aussetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens auch in der Revisionsinstanz führen: Zweck des § 118 BRAO ist die Vermeidung widersprüchlicher Tatsachenfeststellungen. Das Revisionsgericht ist aber prinzipiell gehindert, eigene Feststellungen zu treffen.43 Die oben genannten Ausnahmen relativieren nur die grundsätzliche Pflicht, tatrichterliche Feststellungen zum Sachverhalt als unabänderlich hinzunehmen. Da somit aber die Feststellung des Sachverhalts auf tatsächlicher Ebene im Stadium der anwaltsgerichtlichen Revision nicht mehr verändert werden darf und deshalb Bestand hat, kann dies – auch wenn im Strafverfahren möglicherweise andere Feststellungen getroffen werden – nicht mehr verändert werden. Schließlich ist es nicht Sinn des § 118 BRAO, der Beweiserhebung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens durch das Abwarten des Strafverfahrens „auf die Sprünge zu helfen“, sondern lediglich Widersprüche in der Tatsachenfeststellung zu vermeiden. Deshalb gebieten es Prozeßökonomie und ratio legis des § 118 BRAO, auf eine Aussetzung des Verfahrens im Stadium der Revision zu verzichten.44 Aus eben diesem Grund muß aber die Aussetzung sogleich angeordnet werden, wenn das anwaltsgerichtliche Verfahren durch Zurückverweisung gem. §§ 116, 146 III BRAO i. V. m. § 354 StPO an die tatsachenfeststellenden Instanzen gelangt45, da dann der Schutzzweck des § 118 BRAO wieder greift.

D. Annex: „Dasselbe Verhalten“ gem. §§ 115b S. 1, 118 I S. 1 BRAO Schon bei der Definition des Begriffes „desselben Verhaltens“46 ergeben sich im Zusammenhang mit der Umgrenzung der Handlung des Rechtsanwaltes Probleme. 42 43 44 45

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

HK-Temming, § 337 Rn. 10. HK-Temming, § 337 Rn. 9. auch Feuerich, NJW 1988, 181, 182. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 9; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 5.

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2. Kap.: Der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens

Ansatzpunkt für die Erörterung ist hierbei der Tatbegriff im strafprozessualen und anwaltsgerichtlichen Sinne, da dieser den Prozeßgegenstand bestimmt und durch ihn beschrieben wird, was dem Beschuldigten vorgeworfen wird47.

I. Der strafprozessuale Tatbegriff Zunächst ist der strafprozessuale Tatbegriff gem. §§ 155, 264 StPO strikt von dem des materiellen Strafrechts (§ 73 ff. StGB a. F., §§ 52 ff. StGB n. F.) zu trennen. Dieser bereits durch das Reichsgericht deutlich gemachte48 Unterschied wurde durch das BVerfG bestätigt49 und ist auch in der Literatur allgemeine Meinung50. Grund für die Trennung ist die differierende Zweckverfolgung beider Rechtsfiguren.51 Nach der Definition von RG und BGH52 bedeutet die einheitliche strafprozessuale Tat „den vom Eröffnungsbeschluß (zugelassene Anklage, § 207) betroffenen Vorgang einschließlich aller damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, die geeignet sind, das in diesem Bereich fallende Tun des Angeklagten unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar erscheinen zu lassen, also das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch den Eröffnungsbeschluß bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet, ohne Rücksicht darauf, ob sich bei der rechtlichen Beurteilung eine oder mehrere strafbaren Handlungen im sachlichrechtlichen Sinne statt oder neben der im Eröffnungsbeschluß bezeichneten Straftat ergeben.“53 Nach dieser Auffassung liegt dem Strafprozeßrecht also ein historisch-„ontologischer“54 oder auch „naturalistischer“55 Tatbegriff zugrunde. Zwar ist diese Definition für die meisten prozessualen Konstellationen ausreichend und brauchbar, allerdings erkennt auch der BGH v. a. in jüngerer Rechtsprechung56, daß dieser rein historisch-ontologische Tatbegriff eine ge46

§ 118 Abs. 1 S. 1 BRAO. So Beulke, Der prozessuale Tatbegriff, S. 782 m. w. N. 48 Vgl. RG v. 22.9.1938 – 2 D 467/38, RGSt 72, 339, 340 f. m. w. N. 49 Vgl. BVerfG v. 8.1.1981 – 2 BvR 873/80, BVerfGE 56, 22, 28 ff. = NJW 1981, 1433, 1434 f. 50 Deutlich Beulke, Der prozessuale Tatbegriff, S. 781, 784; auch: Pfeiffer, § 264 Rn. 2; KK-Engelhardt, § 264 Rn. 3; M-G § 264 Rn. 6; LR-Gollwitzer, § 264 Rn. 3; Schlüchter SK StPO, § 264 Rn. 8. 51 Vgl. KK-Engelhardt, § 264 Rn. 3. 52 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei KK-Engelhardt, § 264 Rn. 3. 53 KK-Engelhardt, § 264 Rn. 3; vgl. auch Beulke, Der prozessuale Tatbegriff, S. 781, 782 m. w. N. (dort Fn. 8). 54 Vgl. LR-Gollwitzer, § 264 Rn. 4. 55 Detmer, S. 1. 47

D. Annex: „Dasselbe Verhalten‘‘

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wisse Unschärfe aufweist. Aber auch eine anderweitige Abgrenzung des Tatbegriffs, insbesondere eine erneute Heranführung an den sachlichrechtlichen Handlungsbegriff57 weist „erkennbar Schwächen auf“58. Gerade die Verknüpfung von materiellrechtlicher Tateinheit mit dem prozessualen Tatbegriff stößt etwa bei der strafprozessualen Behandlung von Dauerdelikten im verfassungsrelevanten59 Spannungsfeld zwischen Doppelbestrafung und Strafklageverbrauch auf Grenzen. Vor allem in diesem Grenzbereich von „Ausnahmefällen“60, etwa wenn sich ein Dauerdelikt über längere Zeit erstreckt (z. B. eine mehrere Monate dauernde Freiheitsberaubung, § 239 StGB, in deren Verlauf gegenüber dem Opfer eine Reihe weiterer Straftaten, wie z. B. Vergewaltigungen, Körperverletzungen oder Beleidigungen begangen werden)61, bereitet die Lösung Schwierigkeiten. Zwar finden sich Ansätze, die versuchen, die Probleme durch Aufteilung der im Rahmen des Dauerdelikts begangenen Einzeltaten in materiell selbständige Taten (materiellrechtlicher Ansatz62) bzw. durch gänzliche Trennung der materiellrechtlichen Tateinheit vom prozessualen Tatbegriff (prozessualer Ansatz63) zu lösen, doch überzeugen diese in letzter Konsequenz nicht: Ersterer würde nicht nur eine unnatürliche Aufspaltung an sich zusammenhängender Einzelakte bedeuten, sondern auch zu einer wegen der Anwendung von § 53 StGB unangemessen hohen Gesamtbestrafung führen64, während letzterer vor allem im Hinblick auf die Verfahrensökonomie (Nachtragsanklageerfordernis weiterer Teilakte) und auf materielle Probleme bei der prozessualen Aufspaltung nach § 52 StGB eigentlich zusammenhängender Delikte Schwierigkeiten mit sich bringt65.66 Nicht zuletzt deshalb wurde ein „einheitlicher Tatbegriff mit vorberechenbaren und für alle Fälle passenden Abgrenzungskriterien [. . .] bisher nicht gefunden“67.

56 BGH v. 24.7. 1987 – 3 StR 36/87, BGHSt 35, 14,19; BGH v. 1.10.1997 – 2 StR 520/96, BGHSt 43, 252, 255 = NStZ 1998, 251 m. zust. Anm. Erb = StV 1998, 482 m. abl. Anm. Fürstenau. 57 Vgl. KK-Engelhardt § 264 Rn. 3 m. w. N. 58 Beulke, Der prozessuale Tatbegriff, S. 781, 806. 59 Art. 103 Abs. 3 GG. 60 Erb, GA 1994, 265, 266. 61 Zu Begriff und Abgrenzung des Dauerdelikts siehe BGH v. 3.10.1989 – 1 StR 372/89, NJW 1990, 196; BGH v. 7.8.1996 – 3 StR 318/96, NStZ 1997, 79. 62 Vgl. krit. Erb, GA 1994, 265, 270 ff. m. w. N. dort in Fn. 26. 63 Vgl. Erb, GA 1994, 265, 272 f. m. w. N. dort in Fn. 34. 64 So auch Erb, GA 1994, 265, 271. 65 Vgl. Erb, GA 1994, 265, 274. 66 Zum Ganzen auch Beulke, Der prozessuale Tatbegriff, S. 781, 796 ff. 67 LR-Gollwitzer § 264 Rn 10.

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2. Kap.: Der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens

Letztlich spielt die angesprochene Problematik beim Vergleich des Strafprozesses mit dem anwaltsgerichtlichen Verfahren angesichts der wenig vorstellbaren Deliktskonstellationen bei Rechtsanwälten jedoch nur eine untergeordnete Rolle, so daß auf eine detaillierte Ausführung hier verzichtet werden kann.

II. Vergleich mit der einheitlichen anwaltlichen Pflichtverletzung der BRAO Ausgangspunkt der Sanktionierung im anwaltsgerichtlichen Verfahren ist die einheitliche anwaltliche Pflichtverletzung gem. § 113 BRAO. Diese wird grundsätzlich entsprechend dem strafprozessualen Tatbegriff definiert.68 Danach ist (ungeachtet der oben genannten Besonderheiten bei Dauerdelikten) auch im anwaltsgerichtlichen Verfahren maßgebend „das zur Aburteilung in beiden Verfahren bestehende Lebensverhältnis [. . . und] das einheitliche geschichtliche tatsächliche Ereignis“69. Im Rahmen der Neuordnung des Beamtendisziplinarrechts wurde der Begriff „dieselben Tatsachen“ (in § 17 Abs. 1 und 5 BDO a. F., §§ 22, 14 Abs. 2 BDG) durch den Begriff „derselbe Sachverhalt“ (so schon in § 14 BDO a. F., jetzt § 14 Abs. 1 BDG) ersetzt und somit die unterschiedlichen Begriffe vereinheitlicht. Aufgrund der Inhaltsgleichheit, die den verschiedenen Begriffen innewohnt, wäre dies ohne Sinnveränderung auch für die Begriffe „dasselbe Verhalten“ (§§ 115b, 118 Abs. 1 BRAO) und „dieselben Tatsachen“ (§ 118 Abs. 2 BRAO) zu empfehlen. Es läßt sich also feststellen, daß dem strafprozessualen und dem anwaltsgerichtlichen Tatbegriff dieselbe Definition zugrunde liegt. Dies wirft wiederum die Frage verfassungsrechtlicher Art auf, ob bei gleichzeitiger Aburteilung desselben Verhaltens im Straf- als auch im anwaltsgerichtlichen Verfahren ein Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG vorliegt.70

68

Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941. BGH v. 13.11.1978 – AnwSt (R) 14/78, BGHSt 28, 178, 179; vgl. Feuerich, NJW 1988, 181, 182; Rössler FS Peters, S. 249, 258. 70 Hierzu später eingehend unter Kap. 4. A. 69

3. Kapitel

Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens A. Die Tatbestandsalternativen der §§ 118 Abs. 1 S. 1 und 2 BRAO §§ 118 Abs. 1 S. 1 und 2 BRAO sichern den chronologischen Vorrang des Strafverfahrens dadurch, daß ein wegen derselben Tatsachen eingeleitetes ehrengerichtliches Verfahren während der Dauer des Strafverfahrens auszusetzen ist. Insofern ist die Regelung inhaltsgleich mit § 65 Abs. 1 RAO-18781, der aber eine Aufteilung und Unterscheidung in die Fallgruppen Strafverfahren zeitlich vor anwaltsgerichtlichem Verfahren (dann Einleitung und sofortige Aussetzung2) und Strafverfahren zeitlich danach (dann Aussetzung des bereits eingeleiteten Verfahrens) nicht vorgenommen hat. Die Aufteilung der Sätze 1 und 2 dient damit im Vergleich zur alten Fassung des § 65 I RAO in erster Linie der Klarheit und Verdeutlichung.

I. § 118 Abs. 1 S. 1 BRAO § 118 Abs. 1 S. 1 BRAO sieht vor, daß die Staatsanwaltschaft im anwaltsgerichtlichen Verfahren trotz schwebendem Strafverfahren durch Einreichung einer Anschuldigungsschrift gem. § 121 BRAO Anklage erheben kann. Schon die frühere Regelung des § 65 Abs. 1 RAO ließ dies im Sinne einer „Kann“-Vorschrift zu. Eine Einleitung des Verfahrens ist überdies als empfehlenswert zu betrachten3, vor allem weil nach Klageerhebung die Verjährung gem. § 115 S. 2 BRAO i. V. m. § 78c Abs. 1 Nr. 6 StGB unterbrochen wird4 und aufgrund der darauffolgenden Aussetzung des Verfahrens sodann gem. § 115 BRAO i. V. m. § 78b I Nr. 2 StGB ruht, da nach der Aussetzung alle Verfolgungsmaßnahmen per Gesetz (§ 118 BRAO) ausgeschlossen sind5. 1 § 65 I RAO: „Ist gegen einen Rechtsanwalt wegen einer strafbaren Handlung die öffentliche Klage erhoben, so ist während der Dauer des Strafverfahrens wegen der nämlichen Thatsachen das ehrengerichtliche Verfahren nicht zu eröffnen und, wenn die Eröffnung stattgefunden hat, auszusetzen.“; so auch BT-Drs. III/120, S. 99. 2 Vgl. Friedländer, § 65 Anm. 3. 3 Vgl. schon Friedländer, § 65 Anm. 3. 4 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 7.

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

Im Gegensatz zur Regelung des § 67 Abs. 1 RRAO-1936, die noch die Eröffnung des Verfahrens durch das Ehrengericht als zulässig erachtete6, um ggf. ein vorläufiges Vertretungsverbot gem. § 95 RRAO verhängen zu können7, darf das Anwaltsgericht nunmehr außer dem Beschluß, das Verfahren auszusetzen, keine weiteren Schritte mehr unternehmen, insbesondere nicht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließen.8 Im Hinblick auf die Voraussetzungen eines vorläufigen Vertretungsverbotes gem. § 150 BRAO ist dies auch nicht mehr nötig, da hierzu mittlerweile die Einleitung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens (und erst recht die Eröffnung des Hauptverfahrens) nach dem Wortlaut des § 150 Abs. 2 S. 1 BRAO entbehrlich ist. Als weiteres Argument für das Eröffnungsverbot des Hauptverfahrens dient die Tatsache, daß das Strafverfahren zusätzlich noch weiteres Belastungsmaterial hervorbringen kann.9 Durch das Abwarten des Strafverfahrens noch vor dem anwaltsgerichtlichen Hauptverfahren können die gesamten Belastungsmaterialien dann schlüssiger und geordneter in das anwaltsgerichtliche Hauptverfahren eingebracht werden.

II. § 118 Abs. 1 S. 2 BRAO Systematisch einfacher stellt sich demgegenüber die Regelung des § 118 Abs. 1 S. 2 BRAO dar: Ein bereits eingeleitetes anwaltsgerichtliches Verfahren muß in jedem Verfahrensstadium bis hin zur Berufungsinstanz sofort ausgesetzt werden.10 Eine Ausnahme gilt dabei für das anwaltsgerichtliche Revisionsverfahren. Das Verfahren muß in diesem Stadium wegen der fehlenden Einflußmöglichkeit möglicher abweichender Tatsachenfeststellungen des Strafgerichtes aus genannten Gründen11 nicht mehr ausgesetzt werden.

B. Folgen der Nichtbeachtung des Aussetzungszwanges Bislang wenig erörtert sind die Folgen einer Nichtbeachtung des Aussetzungszwangs durch das Anwaltsgericht, also die Frage, was geschieht, wenn das Anwaltsgericht trotz Erhebung der öffentlichen Klage das Verfahren fortsetzt bzw. trotz schwebendem Strafverfahrens das Hauptverfahren eröffnet. Le-

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Vgl. (zu § 109 StBerG) BGH v. 15.10.1984 – StbStR 1/84, BGHSt 33, 54, 55 f. Vgl. Noack § 67 Nr. 1. 7 Vgl. Noack § 95 Nr. 2a. 8 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 7 m. w. N. 9 So auch Friedländer, § 65 Anm. 5. 10 Vgl. Feuerich, NJW 1988, 181, 182; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 9. 11 Zur Ausnahme im anwaltsgerichtlichen Revisionsverfahren siehe bereits Kap. 2. C. 6

B. Folgen der Nichtbeachtung des Aussetzungszwanges

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diglich die Feststellung, die Verletzung des Aussetzungsgebotes stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, ist zu finden.12 Um die Konsequenz dieses Verfahrensmangels erörtern zu können, ist ein Blick auf die allgemeinen Regelungen bezüglich Aussetzung und Revisionsgründe der StPO geboten. Ausgangsnorm ist dabei § 228 StPO hinsichtlich der Aussetzung und §§ 337, 338 StPO hinsichtlich der Revisionsgründe. Darüber hinaus kennt die StPO viele Aussetzungsvorschriften, etwa §§ 145 Abs. 3 (Zeitmangel des neu bestellten Verteidigers), 217 Abs. 2 (Ladungsfrist), 246 Abs. 2 (verspätete Beweisanträge) und 265 Abs. 3, 4 StPO (Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes). Grundsätzlich kann ein Urteil, das darauf beruht, daß die Aussetzung unterlassen oder ablehnt wurde, mit der Revision nachgeprüft werden.13 Die Revision stützt sich hierbei in der Regel auf § 337 StPO, in Einzelfällen14 kann sogar der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 815 vorliegen, etwa bei Verstoß gegen § 217 Abs. 2 StPO16 oder gegen § 265 Abs. 3, 4 StPO17. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, daß diese Normen durchwegs dem Schutz des Angeklagten und dem Interesse und der Sicherung der Verteidigung dienen. § 338 Nr. 8, der von der Beschränkung der Verteidigung spricht, kommt „regelmäßig nur“18 bei Verletzung solcher Vorschriften in Betracht. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei § 118 Abs. 1 S. 1, 2 BRAO um eine Vorschrift, die vor allem dazu dient, durch den Vorrang des Strafverfahrens mittels Aussetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens widersprüchliche Tatsachenfeststellungen zu vermeiden, die keinesfalls jedoch den Schutz des Angeklagten und die Sicherung der Verteidigung im Auge hat.19 Fraglich ist lediglich, ob eine Anwendung von § 338 Nr. 8 StPO zumindest dann denkbar ist, wenn sich die Tatsachenfeststellung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens im Vergleich zu der im Strafverfahren für Angeklagten und Verteidigung negativ auswirkt und dadurch die fehlende Aussetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens tatsächlich die Verteidigung beschränkt. 12 Feuerich, NJW 1988, 181, 182; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 9; zum im wesentlichen Inhaltsgleichen (BT-Drs. III/120, S. 99) § 17 BDO (§ 13 BDO a. F.) vgl. Claussen/Janzen § 17 BDO Rn. 9c; Köhler/Ratz-Hummel § 22 Rn. 9. 13 Vgl. OLG Schleswig v. 18.4.1956 – Ss 69/56, SchlHA 1956, 298 f.; OLG Hamm v. 2.12.1971 – 4 Ss 1055/71, NJW 1972, 1096; Dahs/Dahs Rn. 205; LR-Gollwitzer § 228 Rn. 33. 14 Vgl. KK-Kuckein § 338 Rn. 101. 15 § 338 Nr. 8 StPO wird teilweise auch nur als relativer Revisionsgrund angesehen, vgl. etwa Hellmann, V § 3 Rn. 23 m. w. N. 16 Vgl. Sarstedt/Hamm Rn. 1088 m. w. N. 17 Vgl. HK-Julius § 265 Rn. 32; KK-Engelhardt § 265 Rn. 32. 18 Ranft Rn. 2175; KK-Kuckein § 338 Rn. 99. 19 Siehe bereits Kap. 2. B.

52

3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

Von einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung durch Gerichtsbeschluß20 und damit Bejahung des § 338 Nr. 8 StPO kann aber nur dann ausgegangen werden, wenn das Gericht den Beschluß bereits im Hinblick auf eine Beschränkung der Verteidigung erlassen hat, dieser also darauf gerichtet war.21 Von einer solchen Zielrichtung kann bei der Unterlassung der Aussetzung keinesfalls die Rede sein: Zu diesem Zeitpunkt kann das Anwaltsgericht noch gar nicht abschätzen, ob sich die möglicherweise widersprüchlichen Tatsachenfeststellungen gegenüber denen des Strafverfahrens für die Verteidigung beschränkend auswirken. Die Anwendung des § 338 Nr. 8 StPO (i. V. m. § 116 S. 2 BRAO) scheidet demnach zwingend aus. Somit bleibt als möglicher Revisionsgrund nur § 116 S. 2 BRAO i. V. m. § 337 StPO. Dieser setzt neben der Verletzung einer Norm die weitere Feststellung voraus, „daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe“ (§ 337 I StPO). Es muß also ein kausaler Zusammenhang zwischen Gesetzesverletzung und Urteil bestehen, das Urteil müßte ohne Gesetzesverletzung anders ausgefallen sein.22 Nach allg. M. genügt dafür die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs.23 Bei Verletzung materiellen Rechts, also etwa bei widersprüchlichen Feststellungen24, ergibt sich die Kausalität ohne weiteres aus dem Urteil.25 Die Nichtbeachtung des Aussetzungszwangs stellt demgegenüber zunächst einmal einen Verfahrensfehler dar, bei dem die Kausalität zum Urteil positiv festgestellt werden muß, eine „Prüfung der Beruhensfrage“26 ist notwendig, wobei es genügt, daß das Beruhen der Entscheidung auf dem Rechtsfehler nicht ausgeschlossen werden kann, da eine potentielle Kausalität ausreicht27. Im Falle eines Verstoßes gegen § 118 Abs. 1 S. 1, 2 BRAO muß also geprüft werden, ob sich die Fortsetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens trotz laufendem Strafverfahren auf das Urteil im anwaltsgerichtlichen Verfahren im Vergleich zu einer Aussetzung verändernd ausgewirkt hat. Grundsätzlich ist dem Revisionsgericht eine Bewertung vorinstanzlicher Tatsachenfeststellungen verwehrt (§ 337 Abs. 1 StPO), es ist an die tatrichterlichen 20 Einem Beschluß i. S. d. § 338 Nr. 8 StPO steht auch ein unterlassener Beschluß gleich, vgl. KK-Kuckein § 338 Rn. 102; KMR-Paulus § 338 Rn. 98 jeweils m. w. N. 21 So auch KK-Kuckein § 338 Rn. 102. 22 H.M., z. B. Hellmann, V § 3 Rn. 25 m. w. N.; Ranft Rn. 2192; Volk, § 36 Rn. 17; KK-Kuckein § 337 Rn. 33. 23 Hellmann, V § 3 Rn. 25 m. w. N.; Ranft Rn. 2192; BGH v. 28.7. 1967 – 4 StR 243/67, BGHSt 21, 285, 290. 24 M-G § 337 Rn. 40. 25 Hellmann, V § 3 Rn. 26; M-G § 337 Rn. 40. 26 Hellmann, V § 3 Rn. 27. 27 Hellmann, V § 3 Rn. 27; BGH v. 16.2.1965 – 1 StR 4/65, BGHSt 20, 160, 164; BGH v. 28.7. 1967 – 4 StR 243/67, BGHSt 21, 285, 290; BGH v. 15.11.1968 – 4 StR 190/68, BGHSt 22, 278, 280.

C. § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO

53

Feststellungen gebunden.28 Dies gilt selbst dann, wenn diese von den strafgerichtlichen Feststellungen abweichen, da die innerprozessuale Bindung der Bindung gem. § 118 Abs. 3 BRAO vorgeht.29

C. § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO I. Die gesicherte Sachaufklärung Eine Ausnahme vom absoluten Vorrang des Strafverfahrens ist die Fortsetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens nach gesicherter Sachaufklärung (§ 118 Abs. 1 S. 3 BRAO). Diese Ausnahme war in der RAO von 1878 noch nicht vorgesehen und wurde erst 1969 als „Kann“-Vorschrift in die BRAO aufgenommen. 1989 wurde die Regelung nochmals verändert und die „Kann“- in eine „Muß“-Vorschrift umgewandelt, somit besteht seitdem ein Fortsetzungszwang. Außerdem wurde die ungenaue Formulierung des § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO a. F., „Das ehrengerichtliche Verfahren kann fortgesetzt werden, wenn die Sachaufklärung gesichert ist [. . .]“, die in den Folgejahren zu Diskussionen und Meinungsstreitigkeiten führte und deshalb ihren Zweck nur bedingt erfüllte,30 entsprechend der vom BGH getätigten Auslegung durch § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO n. F. erweitert31, wodurch auch der Meinungsstreit grundsätzlich gelöst wurde32: Demnach kann und muß das anwaltsgerichtliche Verfahren fortgesetzt werden, wenn die Sachaufklärung als durch die Verhandlung im anwaltsgerichtlichen Verfahren „so gesichert erscheint, daß bei vernünftiger Überlegung eine entgegenstehende Entscheidung hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen in dem später abgeschlossenen Strafverfahren nicht zu befürchten ist.“33 Damit ist auch der früheren Kritik34 begegnet, durch das Abwarten des Strafprozesses würde das im allgemeinen einfachere anwaltsgerichtliche Verfahren insbesondere dort, wo die Gefahr einander widersprüchlicher Entscheidungen im Hinblick auf die Beweiserhebung in der Hauptverhandlung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens gering erscheint, verschleppt werden.35 28 Vgl. nur BGH v. 1.4.1952 – 2 StR 13/52, BGHSt 2, 248 f.; Dahs/Dahs Rn. 317; Sarstedt/Hamm Rn. 274; KK-Kuckein § 337 Rn. 3; s. a. oben bei Kap. 2. C. 29 Dazu siehe später eingehend Kap. 4. G. III. 4. 30 So die amtl. Begr. BT-Drs. XI/3253 S. 25. 31 G. v. 13.12.1989, BGBl. I S. 2135. 32 Auf eine Erörterung dieses Meinungsstreits wird deshalb verzichtet. 33 BGH v. 13.11.1978 – AnwSt (R) 14/78, BGHSt 28, 178, 181. 34 Vgl. Isele § 118. 35 Vgl. BT-Drs. XI/3253, S. 25.

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

Der Sinn dieser Regelung liegt auf der Hand: Sobald die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen wegen der gesicherten Sachaufklärung gebannt ist, ist auch der bereits erörterte Zweck der Regelung des absoluten Vorrangs entfallen. Die Problematik, daß ohne ein (nachfolgendes) Strafurteil wegen §§ 115b und 118 Abs. 2 BRAO eine Maßnahmenzumessung nur schwer möglich ist36, ist durch § 118b BRAO weitestgehend entschärft, da dieser unabhängig von § 118 Abs. 1 BRAO eine Aussetzung des Verfahrens vorsieht, wenn im Strafverfahren als „anderem gesetzlich geordnetem Verfahren“ über die Frage der Bestrafung oder die Höhe der Strafe entschieden wird, und dies für die Entscheidung über eine Maßnahme überhaupt (wegen fehlenden disziplinären Überhangs gem. § 115b BRAO37 oder auch wegen möglichen Freispruchs und § 118 Abs. 2 BRAO38) oder über deren Höhe (bei disziplinärem Überhang gem. § 115b BRAO39) von wesentlicher Bedeutung ist.40

II. § 118 Abs. 1 S. 3 2. Alt. BRAO Anders als die gesicherte Sachaufklärung ist die zweite Alternative des Fortsetzungszwanges von eher untergeordneter Bedeutung: Wenn im strafgerichtlichen Verfahren aus Gründen nicht verhandelt werden kann, die in der Person des Rechtsanwalts liegen, muß das anwaltsgerichtliche Verfahren fortgesetzt werden. Regelmäßig wird es aber so sein, daß dieselben Gründe, die zum Verhandlungshindernis im Strafverfahren führen, dieses auch im anwaltsgerichtlichen Verfahren begründen, etwa weil der Rechtsanwalt abwesend oder verhandlungsunfähig ist.

III. § 118 Abs. 4 BRAO als „Korrektiv“ Stellt sich nach der Entscheidung des Anwaltsgerichts nach § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO heraus, daß die vom Anwaltsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen von denen des Strafgerichts abweichen, kann das anwaltsgerichtliche Verfahren wiederaufgenommen werden, sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Rechtsanwalts. Dadurch wird der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens im Hinblick auf eine einheitliche Tatsachenfeststellung, wie er sich in § 118 Abs. 3 BRAO niederschlägt41, gewahrt und so eine „möglichst weitgehende Übereinstimmung der Entscheidungen“42 sichergestellt. 36 37 38 39 40

Vgl. Isele § 118 II B 3 c cc c1, S. 1563. Siehe Kap. 4. C. I. Siehe Kap. 4. E. III. Siehe Kap. 4. C. I. Vgl. auch Feuerich/Weyland § 118b Rn. 5; BT-Drs. V/2848, S. 29.

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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Auch gegen die Wiederaufnahme zu Lasten des Rechtsanwalts ist aus rechtsstaatlicher Sicht nichts einzuwenden: Bis zur Entscheidung des Strafgerichts kann der betroffene Rechtsanwalt eben gerade mit Blick auf die gesetzliche Systematik des § 118 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Abs. 4 BRAO noch nicht auf den Bestand der anwaltsgerichtlichen Entscheidung in dieser Hinsicht vertrauen.

D. Überlappung von strafprozessualer Tat und einheitlicher anwaltlicher Pflichtverletzung mangels Sachverhaltsidentität Im Zusammenhang mit dem gleichen Tatbegriff (vgl. Kap. 2. D.) treten noch weitere Probleme auf. Bei der Behandlung von Fällen, in denen sich beide Verfahren in tatsächlicher Hinsicht überschneiden, weil „die in der ehrengerichtlichen Einheitstat zusammengefaßten Geschehnisse über den Gegenstand des Strafverfahrens“43 hinausreichen, ergibt sich ein Konflikt zwischen Einheitsprinzip, Vorrang des Strafverfahrens und Verfahrensbeschleunigungsgebot44: Würden Einheitsprinzip und Vorranggrundsatz angewandt werden, müßte das gesamte Verfahren ausgesetzt und das Strafverfahren abgewartet werden, auch wenn nur ein Teil der anwaltsgerichtlichen Anschuldigungspunkte strafrechtlich relevant sind, da nach dem Einheitsprinzip eine Abtrennung der Verfahrensteile unzulässig ist.45 Dies würde zu einer Behinderung des Verfahrens führen und dem Beschleunigungsgrundsatz widersprechen. Dagegen würde bei Beachtung von Beschleunigungsgebot und Vorrangsprinzip das Einheitsprinzip durchbrochen werden. Der absolute Vorrang des Strafverfahrens würde ignoriert, wenn man Einheitsprinzip und Beschleunigungsgebot folgen würde. Demnach stünden dem Anwaltsgericht drei Verfahrensvarianten zur Auswahl: 1. Abwarten des Strafverfahrens und Aussetzung des gesamten anwaltsgerichtlichen Verfahrens; 2. Abwarten des Strafverfahrens und Abtrennung sowie Aussetzung der strafrechtlich relevanten Verfahrensteile des anwaltsgerichtlichen Verfahrens; 3. Fortsetzung des gesamten anwaltsgerichtlichen Verfahrens ohne Aussetzung. Für eine Entscheidung ist es zunächst bedeutsam, die drei Grundsätze zu definieren, deren Relevanz und Bedeutung festzulegen und untereinander abzuwägen. 41 42 43 44 45

Siehe dazu dort ausführlich Kap. 4. G. Vgl. BT-Drs. 11/3253; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 17. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 946. Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 946. Vgl. Feuerich/Weyland § 114 Rn. 50.

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

I. Relevanz des Vorrangs des Strafverfahrens Wie bereits in Kap. 2. dargestellt, wird dem Strafverfahren ein absoluter Vorrang gegenüber dem anwaltsgerichtlichen Verfahren eingeräumt. Allerdings hat schon der Gesetzgeber Ausnahmen dieses Vorrangs etwa durch § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO geschaffen. Auch die weiteren, bei Kap. 2. C. genannten Ausnahmen zeigen, daß der Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens nicht unumstößlich ist. Dennoch bleibt festzuhalten, daß sämtliche Ausnahmen durch sachliche Erwägungen begründet sind und umgekehrt das Bedürfnis für einen strafprozessualen Vorrang nur dann wegfällt, wenn die Gründe, die für einen Vorrang des Strafverfahrens sprechen,46 wegen der konkreten Sachlage nicht mehr durchgreifen und somit das Festhalten am Vorrang reiner Formalismus wäre. Anders stellt sich die Situation in diesem Zusammenhang dar: Hier „konkurriert“ der Vorrang des Strafverfahrens lediglich mit anderen Grundsätzen (Einheitsprinzip und Beschleunigungsgebot). Die Gründe, die für den Vorrang des Strafverfahrens sprechen, sind hier gerade nicht zu mißachten. Insofern muß der absolute Vorrang des Strafverfahrens als unumstößlicher Grundsatz erhalten bleiben, da ansonsten die Systematik des § 118 BRAO ausgehebelt werden würde. Deshalb scheidet Variante drei, die den Vorrang des Strafverfahrens gänzlich aufheben würde, als system- und gesetzeswidrig von vornherein aus. Insofern geht auch die Lösung zu kurz, die mit dem Hinweis darauf, daß es zumindest dann, wenn der nicht strafrechtlich angeklagte Teil nicht bedeutungslos ist, schon an der Sachverhaltsidentität fehle, den Aussetzungszwang ablehnt.47 Dadurch würde das Prinzip des Vorrangs des Strafverfahrens mißachtet, der auch bei teilweiser Sachgleichheit durchschlagen muß.48 Somit kann zunächst festgehalten werden, daß zumindest was den strafrechtlichen Teil des anwaltsgerichtlichen Verfahrens anbelangt, eine Aussetzung unumgänglich ist. Einheitsprinzip und Beschleunigungsgebot befinden sich also in einem Widerstreit.49 Demnach muß die jeweilige Relevanz geprüft und zwischen den beiden Grundsätzen abgewogen werden, um entscheiden zu können, wie im Falle der Überlappung zwischen anwaltsgerichtlichem Verfahren und Strafverfahren prozessual vorgegangen werden muß.

46

Vgl. Kap. 2. B. So Feuerich/Weyland § 114 Rn. 62. 48 Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 946. 49 Anders Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 946, der hier einen Widerstreit zwischen dem Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens und dem Einheitsprinzip sieht. 47

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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II. Relevanz des Einheitsprinzips 1. Das Einheitsprinzip nach bisheriger Auffassung Das Prinzip der Einheit der Pflichtverletzung (Einheitsprinzip) im anwaltsgerichtlichen Verfahren umfaßt den Grundsatz, daß „über das gesamte in den zugelassenen Anschuldigungsschriften als schuldhaft vorgeworfene Verhalten eines Rechtsanwalts nur einheitlich entschieden werden“ darf.50 Dieses Prinzip hat die Rechtsprechung aus dem Wortlaut des § 113 Abs. 1 BRAO hergeleitet, der von einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme spricht. Daran hält sie bislang noch51 mit „Beharrungskraft“52 fest.53 Im einzelnen bedeutet das, daß das Disziplinargericht „in allen Rechtszügen das gesamte pflichtwidrige Verhalten, auch wenn sich der Berufsangehörige wiederholt verfehlt hat, als eine einheitliche Pflichtverletzung mit einer Maßnahme“54 ahnden muß. Eine Aufspaltung der Anschuldigungspunkte dahingehend, etwa den Anwalt in einzelnen Punkten freizusprechen, in anderen aber zu verurteilen, ist demnach nicht zulässig, ein Teilfreispruch55 insofern irrelevant. Demnach hat sich die Überprüfung eines derartigen erstinstanzlichen Urteils auch auf das gesamte Urteil zu beziehen.56 Auch müssen Pflichtverletzungen, von deren Ahndung einzeln betrachtet wegen § 115b BRAO abzusehen wäre, in einer Gesamtbewertung des Verhaltens des Rechtsanwaltes mitberücksichtigt werden.57

50 Feuerich/Weyland § 114 Rn. 49; vgl. BGH v. 25.9.1961 – AnwSt (R) 4/61, BGHSt 16, 237, 240 ff.; BGH v. 27.5.1968 – AnwSt (R) 8/67, BGHSt 22, 157, 166; BGH v. 25.1.1971 – AnwSt (R) 7/70, BGHSt 24, 81 = NJW 1971, 1048 = MDR 1971, 413 = EGE XI, 101, 102; BGH v. 5.12.1977 – AnwSt (R) 5/77, BGHSt 27, 305 = NJW 1978, 836 = EGE XIV, 162; BGH v. 20.5.1985 – StbStR 9/84, BGHSt 33, 225, 229; BGH v. 15.12. 1986 – StbStR 5/86, BGHSt 34, 248; EGH Hamm v. 5.2.1975 – 5 EVY 5/73, EGE XIII, 169, 172; EGH b. OLG Koblenz v. 13.3.1954 – EV 8/51, EGE III, 6; vgl. auch Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 942. 51 Vgl. aber unten Kap. 3. D. II. 4. 52 Eylmann, AnwBl 1999, 338. 53 Vgl. Feuerich/Weyland § 114 Rn. 49; Henssler/Prütting-Dittmann § 113 Rn. 5. 54 Glanzmann FS BGH 25 J., S. 185, 187. 55 So auch Rössler FS Peters, S. 249, 252; EGH v. 6.10.1955 – EGH 6/55, EGE II, 200, 203; EGH b. OLG Koblenz v. 13.3.1954 – EV 8/51, EGE III, 6, 26. 56 Vgl. Rössler FS Peters, S. 249, 252; BGH v. 25.9.1961 – AnwSt (R) 4/61, BGHSt 16, 237; so i. Erg. schon EGH v. 22.3.1924 – I. Senat. G. 23/23, EGH 19, 52, 53, der allerdings offen ließ, ob dies auch für gegenständlich und zeitlich unabhängige Verfehlungen gilt. 57 Vgl. BGH v. 5.12.1977 – AnwSt (R) 5/77, BGHSt 27, 305 = NJW 1978, 836 = EGE XIV, 162.

58

3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

2. Grenzen des Einheitsprinzips nach bisheriger Auffassung Andererseits erfährt das Einheitsprinzip Grenzen und wird oft „nicht ganz folgerichtig durchgeführt.“58 So ist nicht ausgeschlossen, daß neben einem anderweitig rechtshängigen Verfahren ein zweites getrennt abgeurteilt werden kann oder trotz rechtskräftigen Urteils weitere frühere Verfehlungen nachträglich geahndet werden, ein Strafklageverbrauch also nicht stattfindet.59 Die Abgrenzung bestimmt sich auch im anwaltsgerichtlichen Verfahren nur nach dem strafprozessualen Tatbegriff.60 a) Einschränkung wegen sonst unhaltbarer Ergebnisse So muß der Grundsatz der Einheit der Standesverfehlung eingeschränkt werden, um nicht zu „unhaltbaren Ergebnissen“61 zu kommen: Zwar muß grundsätzlich das gesamte vorwerfbare Verhalten des Rechtsanwaltes, das durch die Ermittlungen aufgedeckt worden ist, in einem Verfahren zusammengefaßt und einheitlich abgeurteilt werden. Dies verhindert aber andererseits nicht, daß etwaige weitere Verfehlungen, die nachträglich zum Vorschein kommen, dennoch gerichtlich behandelt (da durch das vorhergehende Verfahren kein Strafklageverbrauch eintritt) und separat abgeurteilt werden können.62 Außerdem wird das Einheitsprinzip wiederum von der Rechtsprechung korrigiert und um den Begriff der Selbständigkeit der Einzelverfehlung erweitert, um ungereimte Ergebnisse im Bereich der Verjährung von Pflichtverletzungen, die in keinerlei Zusammenhang stehen63, und bei der Ahndung außerberuflicher und strafgerichtlich abgeurteilter Verstöße zu vermeiden.64 Damit wird zudem die weitergehende Frage aufgeworfen, welche Kriterien eine einzelne Pflichtverletzung als selbständig qualifizieren, also wann eine Tat derart weit sachlich abgetrennt ist, um von einer Einzelverfehlung zu sprechen. Jähnke kritisiert zu Recht, daß diese Unterscheidung von den Gerichten mit einer gewissen Willkür 58

Glanzmann FS BGH 25 J., S. 185, 187; vgl. auch Jähnke FS Pfeiffer, S. 941,

948. 59

Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 942, Nachw. bei Fn. 6. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 948 f. mit Hinweis auf die (zu bejahende) verfassungsrechtliche Frage, ob dies im Hinblick auf Art. 103 Abs. 3 GG verfassungskonform ist, vgl. BVerfG v. 17.12.1953 – 1 BvR 147, BVerfGE 3, 58, 149 f.; BVerfG v. 26.5.1970 – 1 BvR 668, 710/68 und 337/69, BVerfGE 28, 264, 276 ff. 61 Eylmann, AnwBl 1999, 338. 62 Vgl. oben. 63 BGH v. 20.12.1965 – NotSt (Brfg) 2/65, MDR 1966, 523; BGH v. 27.5.1968 – AnwSt (R) 8/67, BGHSt 22, 157, 166; BGH v. 15.10.1984 – StbStR 1/84, BGHSt 33, 54, 58. 64 Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 949; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 73. 60

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

59

vorgenommen wird, obwohl der Zusammenhang mehrerer Pflichtverletzungen ein „objektiver Befund“ sei.65 Doch selbst solche objektiven Kriterien lassen unterschiedliche Schlüsse zu: Betrachtet man das Verhalten des Rechtsanwalts als Schwerpunkt der Bewertung, wird regelmäßig eine Abtrennung zu unterbleiben haben, da meist alle Pflichtverletzungen auf die gleiche innere Einstellung und Gesinnung des Täters zurückzuführen sind.66 Auf der anderen Seite würde sich der Begriff der Einheitstat bei einem Maßstab von zeitlicher, örtlicher und sachlicher Nähe zwischen den einzelnen Pflichtverletzungen sehr an den strafrechtlichen Tatbegriff annähern und dadurch noch vager werden. b) Definition der einheitlichen Pflichtverletzung über „judikativen Akt“ Darüber hinaus entsteht die Konstellation der einheitlichen Pflichtverletzung nicht etwa aus der natürlichen Betrachtung aller vorwerfbaren Handlungen des beschuldigten Rechtsanwalts, wie es an anderer Stelle – etwa beim Tatbegriff – geschieht. Vielmehr definiert sich die einheitliche Pflichtverletzung über das, was das Gericht im Hauptverfahren als eine solche zusammenfaßt67. Hingegen bleiben die einzelnen Taten im Ermittlungsverfahren bis zur Erhebung der Anklage und den Eröffnungsbeschluß des Hauptverfahrens entsprechend § 264 StPO selbständig.68 So kann etwa die Staatsanwaltschaft nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, „ob eine neue Verfehlung [. . .] in ein wegen einer anderen Verfehlung bereits gerichtshängiges Disziplinarverfahren eingeführt oder einer gesonderten disziplinaren Verfolgung unterzogen werden soll.“69 Der Begriff der einheitlichen Pflichtverletzung definiert sich also lediglich durch einen judikativen Akt, was insofern systemwidrig ist, als „Beurteilungseinheiten wie im Strafrecht die Einzelhandlung, die natürliche Handlungseinheit [. . .] sich nur aus dem Tatgeschehen selbst und nicht aus einer viel später liegenden prozessualen Behandlung ergeben können.“70

65

Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 949. Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 945. 67 BGH v. 25.1.1971 – AnwSt (R) 7/70, BGHSt 24, 81, 86; vgl. auch Rössler FS Peters, S. 249, 252. 68 Feuerich/Weyland § 113 Rn. 21. 69 So für das Beamtendisziplinarverfahren BVerwG v. 9.6.1983 – 1 D 44.83, BVerwGE 76, 90; siehe auch Feuerich/Weyland § 114 Rn. 60. 70 Feuerich/Weyland § 114 Rn. 71 mit Hinweis auf Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 948. 66

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

c) Wortlautargument Für das Einheitsprinzip wird unter anderem der Wortlaut des § 113 Abs. 1 BRAO angeführt: Dieser spricht von einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme. Daß damit tatsächlich „eine“ im Sinne einer aufzählenden Kardinalzahl und nicht einfach nur ein unbestimmter Artikel gemeint ist, unterstreicht die Historie der Gesetzgebung im disziplinarrechtlichen Bereich.71 Die Tatsache, daß „eine Maßnahme“ verhängt wird, beinhaltet allerdings nur, daß die Sanktionierung der anwaltlichen Pflichten einheitlich geschehen muß.72 Ob die einzelnen anwaltlichen Pflichtverletzungen als einheitlich betrachtet werden müssen, beinhaltet die Formulierung indes nicht.73 Im Gegensatz dazu läßt der Wortlaut eigentlich das Umgekehrte vermuten, wenn in § 113 Abs. 1 BRAO von den „Pflichten“ im Plural die Rede ist. d) Gewohnheitsrechtliche Entwicklung Auch das Argument, das Prinzip der Einheit der Standesverfehlung sei aufgrund langjähriger Rechtsprechung historisch gefestigt, überzeugt nicht: In den Entscheidungen, die am Einheitsprinzip festhalten, wurde stets die relativ einfache Problematik behandelt, daß mehrere Verfahren zusammengefaßt werden müssen oder eine Aufspaltung eines anwaltsgerichtlichen Verfahrens untersagt wurde.74 Überall dort, wo das Einheitsprinzip mit anderen gewichtigen Interessen und Grundsätzen kollidiere, wurden die soeben erwähnten „Ausnahmen“ zugelassen. Überdies war der früheren Rechtsprechung des Ehrengerichtshofes der Begriff der einheitlichen Pflichtverletzung in der heutigen Enge nicht zugrunde gelegt. So hat der EGH die Einheitlichkeit „jedenfalls“ verneint, „wenn die Vorfälle sich zeitlich und räumlich ganz selbständig gegenüberstehen“75. Aus der Rechtsprechungstradition läßt sich das Prinzip jedoch nicht herleiten.76

71 Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 952 f. mit Hinweis auf Beamten- und Wehrdisziplinarrecht. 72 So auch Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 952, der von „Einheitssanktion“ spricht. 73 So auch Prütting, AnwBl 1999, 361, 367. 74 Vgl. etwa EGH v. 22.3.1924 – I. Senat. G. 23/23, EGH 19, 52; BGH v. 25.9.1961 – AnwSt (R) 4/61, BGHSt 16, 237; BGH v. 5.12.1977 – AnwSt (R) 5/77, BGHSt 27, 305 = NJW 1978, 836 = EGE XIV, 162. 75 EGH v. 16.10.1926 – I. Senat. G. 9/26, EGH 20, 89, 90 m. w. N. 76 Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 954 ff.; Eylmann, AnwBl 1999, 338, 339.

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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e) Konzentration berufsrechtlicher Reaktionen Hintergrund der Rechtsfigur der einheitlichen Pflichtverletzung ist wohl vielmehr das Ziel, die berufsrechtlichen Reaktionen zusammenzubringen und die Sanktionen zu konzentrieren. Dabei soll nicht die einzelne, spezielle Tat in den Vordergrund gerückt werden, sondern vielmehr das gesamte Verhalten, eine „diffuse Berufsausübungs- und Lebensführungsschuld“77 des Anwalts, gestützt auf den Zweck der Wahrung des Anwaltsstandes und das Vermeiden einer „Minderung der Anwaltsehre schlechthin“78, im Mittelpunkt stehen.79 Zwar ist unbestritten, daß im anwaltsgerichtlichen Verfahren durchaus die Ansehenswahrung der Rechtsanwaltschaft durch das Anhalten des Rechtsanwalts zum pflichtgemäßen Verhalten im Zentrum steht.80 Dies kann aber nicht dazu führen, daß die differenzierte Betrachtung des konkreten Fehlverhaltens des Rechtsanwalt zugunsten einer verschwommenen und letztlich nicht mehr nachvollziehbaren Gesamtbetrachtung aufgegeben wird. Es widerspricht deshalb auch dem Rechtsstaatsgedanken, wenn lediglich allgemein festgestellte „Unzulänglichkeiten einer Person, Charakterfehler oder Leistungsschwächen mit strafenähnlichen Maßnahmen“81 belegt werden. 3. Kritik und Vergleich mit der „Einheitssanktion“ Bei kritischer Betrachtung drängt sich demnach der Verdacht auf, daß sich das Einheitsprinzip durch die Gerichte mit Hilfe der Fiktion einer einheitlichen Pflichtverletzung als eine aus Opportunität und Zweckmäßigkeit geschaffene Möglichkeit darstellt, mehrere Verfehlungen in einem Verfahren zusammenfassen und aburteilen, bei Bedarf (siehe Selbständigkeit der Einzelverfehlung) aber auch wieder trennen zu können. Es kann also der Eindruck entstehen, daß sich das „Prinzip“ nur aus der unreflektierten Iteration einer einmal aufgestellten, willkürlichen „These“, die Verfehlungen seien zusammenzufassen, gefestigt und aufgrund tatsächlicher Probleme gleichsam parallel wieder aufgelöst hat. Dementsprechend kann das Einheitsprinzip auch als „besonders merkwürdiges Phänomen“82 bezeichnet werden.

77 78 79 80 81 82

Eylmann, AnwBl 1999, 338. Eylmann, a. a. O. Vgl. Prütting, AnwBl 1999, 361, 367. Vgl. Kap. 1. B. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 954; Eylmann, AnwBl 1999, 338. Prütting, AnwBl 1999, 361, 367.

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

a) Konsequenz der Aufgabe des Einheitsprinzips Auf diese kritische Behauptung aufbauend läßt sich fragen, ob ein relevanter, sich negativ auswirkender Unterschied entstehen würde, wenn man das Prinzip der Einheitlichkeit der Standesverfehlung aufgeben und auf eine Einheitssanktionierung reduzieren würde, wie sie genau betrachtet auch der Wortlaut des § 113 Abs. 1 BRAO als „Minimum“ vorgibt.83 aa) Unterschied zwischen Einheitspflichtverletzung und Einheitssanktion Der Unterschied zwischen Einheitspflichtverletzung und Einheitssanktion, wie sie hier aufgeworfen wird, besteht darin, daß bei ersterer das gesamte anwaltliche Fehlverhalten als Einheit zu betrachten ist, ohne die einzelnen Pflichtverletzungen gesondert zu bewerten84, die „nicht einmal gedanklich“ je eine besondere Sanktion nach sich ziehen85, während bei der Einheitssanktionierung zunächst die einzelnen Pflichtverletzungen gesondert betrachtet und bewertet werden, um sodann eine einheitliche Sanktion im Sinne einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme gem. § 113 Abs. 1 BRAO zu verhängen (zur Verdeutlichung des Unterschieds vgl. Skizze).

Einheitliche Pflv. 1

Pflv. 2

Pflv. 1

Pflv. 2

Pflv. 3

Pflv. 3

Pflichtverletzung Erwägung

Erwägungen

Maßnahme

Einheitssanktion

Skizze: Vergleich zwischen dem bestehenden Modell der einheitlichen Pflichtverletzung (links) und dem angedachten System der Einheitssanktion (rechts)86 (Abk.: Pflv. = Pflichtverletzung)

83

Vgl. oben. Vgl. oben Fn. 54. 85 Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 945. 86 Vgl. zu letzterem das für die Einheitsstrafe vorgeschlagene Modell in Hettinger, S. 212. 84

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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bb) Praxisrelevanz des Unterschieds Zwar besteht zwischen beiden Modellen ein großer dogmatischer Unterschied, in der Praxis wird aber auch bei der Annahme einer Einheitspflichtverletzung das Anwaltsgericht zunächst jede einzelne Pflichtverletzung getrennt betrachten müssen, um deren Relevanz und Gewichtung für die daraufhin vorzunehmende einheitliche Pflichtverletzung bewerten zu können. Insofern bestünde wohl in der praktischen Vorgehensweise kaum ein Unterschied zwischen Einheitspflichtverletzung und Einheitssanktion, da bei beiden zunächst die Einzeltaten geprüft werden müssen. Bei der Einheitspflichtverletzung müssen die Einzeltaten lediglich schon vorher zusammengezogen werden und die einzelnen Pflichtverletzungen gedanklich als eine zusammengefaßt werden. Ein Nachteil kann dabei in dieser Hinsicht nicht gesehen werden, im Gegenteil würden, wenn auch im Urteil die einzelnen Pflichtverletzungen getrennt betrachtet werden, die Übersicht und Klarheit der Entscheidungen profitieren. (1) Materiellrechtlich Materiellrechtlich fällt mit der Einheitspflichtverletzung die Unterscheidung zwischen Tateinheit und Tatmehrheit weg, da dann nur noch eine einzige Tat als eine Einheit im Rechtssinne – die einheitliche Pflichtverletzung – existiert, die zu sanktionieren ist.87 Etwas anders kann dies bei der Annahme einer Einheitssanktionierung betrachtet werden: Hier ist durchaus denkbar, die Begriffe von Tateinheit und Tatmehrheit trotz oder gerade wegen einer einheitlichen Sanktionierung beizubehalten.88 Genausogut könnte aber auch das im Strafrecht bestehende Konkurrenzensystem ohne Bedeutung bleiben. Dies würde heißen, daß zumindest bei der Annahme der letzteren Bedingung – also ohne die Rechtsfiguren Tateinheit und Tatmehrheit – auch in dieser Hinsicht ein relevanter Unterschied zwischen Einheitspflichtverletzung und Einheitssanktion nicht erkennbar wäre: Im Ergebnis würden so oder so auf Sanktionierungsebene alle Pflichtverletzungen gemeinsam betrachtet und zusammen bewertet werden. Eine Vorverlagerung der Verbindung von einzelnen Verletzungen wäre nach dieser Überlegung indes überflüssig. (2) Gleichzeitige Aburteilung beruflicher und außerberuflicher Pflichtverletzungen Ein signifikanter Unterschied würde aber bei der gleichzeitigen Aburteilung beruflicher und außerberuflicher (§ 113 Abs. 2 BRAO) Fehlverhalten entstehen: 87

Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 944; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 52. Vgl. hinsichtlich einer Diskussion um die Einführung einer Einheitsstrafe im Strafrecht: Hettinger, S. 128 ff. 88

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

Da nach der Definition der Einheitstat das Verhalten des Rechtsanwalts in seiner Gesamtheit auch dann nicht außerhalb seines Berufes liegt, wenn von mehreren Pflichtverletzungen einige berufliche, andere außerberuflicher Art sind, ist grundsätzlich nicht zu prüfen, ob die besonderen Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 BRAO (für das Beamtendisziplinarrecht § 77 Abs. 1 S. 2 BBG) bezüglich der außerberuflichen Verfehlungen vorliegen, also ob die Handlung in besonderem Maße geeignet ist, das Ansehen des Anwaltsstandes zu beeinträchtigen.89 Dieser Vorgehensweise begegnet zu Recht erheblicher Kritik:90 Durch die Einschränkung des § 113 Abs. 2 BRAO sollen die Eigentümlichkeiten außerberuflicher Verstöße berücksichtigt und deren berufsgerichtliche Ahndung zurückgedrängt91 und somit auf ein disziplinarrechtlich notwendiges Minimum reduziert werden. Es ist deshalb nicht einsehbar, daß die Prüfung des Vorliegens besonderer Voraussetzungen der Sanktionierung außerberuflichen Verhaltens von dem Zufall abhängig gemacht wird, ob das relevante außerberufliche Verhalten mit weiteren anwaltlichen Pflichtverletzungen zu einer einheitlichen Pflichtverletzung zusammengefaßt wird. Diesem Einwand wird entgegengehalten, daß die einzelnen Taten bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens getrennt bleiben92 und somit die Staatsanwaltschaft bereits im Vorfeld prüfen kann, ob die Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 BRAO vorliegen, auch wenn dem Gericht durch die Verbindung der Taten zur Einheit diese Prüfung verwehrt bleibt.93 Gerade letzteres zeigt aber, daß der Hauptvorwurf an diesem System bestehen bleibt: Die Beurteilung, ob ein Verhalten die Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 BRAO erfüllt, muß im Hinblick auf das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 2 S. 1 GG) im Sinne eines Schutzes des Beschuldigten dem Anwaltsgericht vorbehalten bleiben. Darüber hinaus wäre der Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 GG, § 1 GVG) tangiert, da nach der Entscheidung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, ob ein außerberufliches Verhalten die Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 erfüllt oder nicht, der Anwaltsrichter durch die Verbindung zur Einheitspflichtverletzung keine andere Entscheidung mehr treffen kann und insofern an die Entscheidung der Staatsanwaltschaft gebunden ist, zumal dem Gericht bei alleiniger Aburteilung eines außerberuflichen Verhaltens diese Entscheidung – nach Eröffnung des Hauptverfahrens – treffen muß94. 89 Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 944; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 53; BGH v. 5.12.1977 – AnwSt (R) 5/77, BGHSt 27, 305 = NJW 1978, 836 = EGE XIV, 162; BGH v. 29.1.1996 – AnwSt (R) 11/95. 90 Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 950 f.; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 76. 91 Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 950. 92 Siehe oben. 93 Feuerich/Weyland § 113 Rn. 21 f.

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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Anders würde die Frage beurteilt werden, wenn die einzelnen Pflichtverletzungen, wie vorgeschlagen, zunächst getrennt zu bewerten wären: Dann wären die einzelnen außerberuflichen Taten für sich gesehen am Maßstab des § 113 Abs. 2 BRAO zu messen und als Pflichtverletzung auszuscheiden, wenn sie die dort vorgegebenen Voraussetzungen nicht erfüllen, unabhängig davon, ob parallel noch weitere Verfehlungen zu beurteilen sind. So könnte auch der berechtigten Kritik entsprochen werden. Ähnlich stellt sich die Problematik dar, wenn mehrere außerberufliche Pflichtverletzungen zu beurteilen sind, denn auch in diesem Fall kann nach dem Idealbild der einheitlichen Pflichtverletzung nicht jede Tat getrennt betrachtet werden. Nach bisheriger Rechtsprechung soll die Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 BRAO bei den einzelnen Pflichtverletzungen vorliegen, „bei einer zusammenfassenden Gesamtwürdigung aller Einzelakte“ 95 vorgenommen werden. Diese Lösung überzeugt nicht, täuscht sie doch darüber hinweg, daß trotz des Grundsatzes der einheitlichen Standesverfehlung eine insofern an sich unzulässige Einzelprüfung vorgenommen werden muß und diese dann unter dem Deckmantel der zusammenfassenden Gesamtwürdigung verschleiert wird. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die hier vertretene Beurteilung des Begriffs der „einheitlichen Pflichtverletzung“ i. S. des Erfordernisses „einer einheitlichen Sanktionierung“ die dogmatisch sinnvollere Alternative dar. b) Lösung von bestehenden Problemen durch die Einheitssanktion Auch im Hinblick auf eine unangemessene Benachteiligung des betroffenen Rechtsanwalts ergeben sich Schwierigkeiten bei der Umsetzung der bestehenden Rechtslage, insbesondere im Zusammenhang mit der zeitlichen Ausuferung der zu beurteilenden einheitlichen Pflichtverletzung. aa) Verjährung Zum einen würden Verjährungsvorschriften umgangen werden, wenn eine Tat nach Ablauf ihrer Verjährungsfrist durch die Verbindung mit jüngeren Taten zu einer Einheitstat wieder aus ihrer Verjährung herausgenommen wird96, da gem. § 115 S. 2 BRAO i. V. m. § 78a S. 1 StGB die Verjährung erst mit Beendigung

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Vgl. BGH v. 4.5.1970 – AnwSt (R) 6/69. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 944; vgl. BVerwG v. 19.6.1968 – II D 42.67, BVerwGE 33, 162. 96 So BVerwG v. 22.6.1978 – 1 D 46.77, BVerwGE 63, 88. 95

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

der Tat, hier also erst mit der Beendigung der letzten Teilhandlung des Gesamtkomplexes97 und mit der tatsächlichen Beendigung des Fehlverhaltens98 beginnt. Über dieses unbefriedigende, ja sogar rechtsstaatlich bedenkliche99 Ergebnis versucht sich die Rechtsprechung wiederum durch die Konstruktion von Ausnahmefällen hinwegzuhelfen. So soll, wie oben bereits erwähnt, die Gesamtbetrachtung der Verjährung dann nicht gelten, „wenn es sich um mehrere völlig selbständige, in keinerlei Zusammenhang stehende Verfehlungen“ handelt.100 Abgesehen von der sich daraus entwickelnden Abgrenzungsproblematik ließe sich unter subjektiver Betrachtung des Verhaltens des Rechtsanwalts in einer allen Verfehlungen innewohnenden unveränderten negativen Gesinnung, Neigung oder Charaktereigenschaft101 fast immer ein Zusammenhang herstellen. Im übrigen paßt die im Beamtendisziplinarrecht angewandte Formulierung des bloßen Bestrafungsverbotes102 im anwaltsgerichtlichen Verfahren nicht, da es sich hier – nicht zuletzt wegen des direkten Verweises des § 115 BRAO in die Verjährungsvorschriften des StGB – um eine echte Verjährungsvorschrift handelt.103, 104 Durch eine Trennung der Einzeltaten könnte auch im Hinblick auf die Verjährungsproblematik Klarheit und Rechtssicherheit geschaffen werden, da dann die Verjährung gem. § 115 BRAO bezüglich jeder Pflichtverletzung getrennt beurteilt würde und bereits verjährte Taten ausgeschieden werden müßten. bb) Rückwirkungsverbot Zum anderen wird kritisiert, daß durch die einheitliche Pflichtverletzung das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG umgangen wird105: Dieses beinhaltet den Grundsatz, daß die Strafbarkeit einer Tat vor deren Begehung gesetzlich bestimmt gewesen sein muß. Gem. § 2 Abs. 2 StGB ist dabei der Zeitpunkt der 97 Feuerich/Weyland § 115 Rn. 7; BGH v. 27.5.1968 – AnwSt (R) 8/67, BGHSt 22, 158, 166; BGH v. 15.10.1984 – StbStR 1/84, BGHSt 33, 54, 58. 98 Feuerich/Weyland § 115 Rn. 7; BGH v. 19.4.1983 – 1 StR 859/82, NStZ 1983, 559. 99 So Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 950. 100 Siehe Nachw. in Fn. 63. 101 Vgl. oben und Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 945 m. w. N. 102 Claussen/Janzen § 4 Rn. 1. 103 Vgl. amtl. Begr. zur Neufassung von § 115 BRAO (G. v. 13.1.1969, BGBl. I, 25), BT-Drs. V/2848, S. 24; auch BGH v. 5.10.1970 – AnwSt (R) 3/70, BGHSt 24, 1. 104 Vergleichbar ist dies auch mit der Problematik des vom Großen Senat des BGH mit ähnlicher Argumentation aufgegebenen Fortsetzungszusammenhangs, siehe dazu BGH GS v. 3.5.1994 – GSSt 2 und 3/93, BGHSt 40, 138. 105 Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 950.

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Beendigung der Tat maßgebend. Ausgangspunkt ist der Gedanke, „daß der Täter beim Tatentschluß in der Lage sein muß, die ihm drohenden Folgen zu überblikken.“106 Dies sei aber im Falle einer einheitlichen Pflichtverletzung, die sich über Jahre hinzieht und die „mannigfaltige Pflichtverletzungen“ umfaßt und in deren Zwischenzeit sich das betreffende Gesetz ändert, nicht mehr gegeben.107 Dem ist entgegenzusetzen, daß auch bei Zusammenfassung der Einzeltaten zu einer Pflichtverletzung das Rückwirkungsverbot angewendet werden muß und auch kann. Ähnlich wie bei Dauerdelikten (und ggf. Fortsetzungstaten108) im Strafrecht muß bei strafbegründenden Gesetzesänderungen darauf abgestellt werden, welche Teilakte von einer möglichen Gesetzesänderung erfaßt sind. Nur diese dürfen entsprechend der neuen Gesetzeslage beurteilt werden.109 Diese Regelung ist auch entsprechend auf das anwaltsgerichtliche Verfahren grundsätzlich anwendbar.110 Demnach kann die betroffene Handlung des Rechtsanwalts also schon begrifflich nicht Teil der einheitlichen Pflichtverletzung sein, sie war vielmehr zum Zeitpunkt ihrer Begehung disziplinarrechtlich irrelevant, da anwaltsrechtlich nicht sanktioniert. Die anwaltsgerichtliche Rechtsprechung beurteilt dies jedoch anders und läßt als relevanten Beurteilungszeitpunkt „die (Begehung und) Beendigung der zeitlich letzten Pflichtverletzung“111 gelten. Insofern wäre die Kritik wiederum berechtigt. cc) Wiederaufnahme Ähnliche Kritik im Hinblick auf eine Benachteiligung des beschuldigten Rechtsanwalts begegnet der noch herrschenden Ansicht bei der Frage der Wiederaufnahme des anwaltsgerichtlichen Verfahrens aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Diese ist für das anwaltsgerichtliche Verfahren gem. § 116 S. 1 BRAO in § 359 Nr. 5 StPO geregelt. Anders als das Strafrecht kennt das anwaltsgerichtliche Verfahren aber kein „milderes Strafgesetz“ i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO, sondern nur § 113 BRAO als die einzige Sanktionsnorm.112 Aus diesem Grund ist eine Wiederaufnahme nur mit der Aussicht auf einen Frei106

Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 950 m. w. N. Jähnke FS Pfeiffer, a. a. O. 108 Zu deren Konstruktion und Aufrechterhaltung vgl. Sch/Sch-Stree, Vor §§ 52 ff. Rn. 31; BGH GrS v. 3.5.1994 – GSSt 2 und 3/93, BGHSt 40, 138; BGH v. 20.6.1994 – 5 StR 595/93, BGHSt 40, 195; BGH v. 20.6.1994 – 5 StR 304/94, StV 1994, 479. 109 Für das Strafrecht vgl. Sch/Sch-Eser, § 2 Rn. 15; T/F, § 2 Rn. 3. 110 Vgl. T/F, § 2 Rn. 3; BGH v. 21.11.1960 – AnwSt (R) 5/60, BGHSt 15, 227, 228; BGH v. 22.7.1963 – NotSt (Brfg) 2/62, BGHSt 19, 90, 91 m. w. N.; BGH v. 5.3.1979 – AnwSt (R) 15/78, BGHSt 28, 333, 336 f. 111 BGH v. 15.10.1979 – AnwSt (R) 3/79, BGHSt 29, 124 und 128 f. 112 Vgl. Isele Anh. 2 zu § 116, StPO § 359 II C 2 b. 107

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spruch zulässig113, auch Einstellung oder Maßnahmenmilderung sind durch die Wiederaufnahme nicht erreichbar.114 Vor dem Hintergrund der Annahme einer einheitlichen Pflichtverletzung ist dies höchst problematisch: Nachdem hierdurch sämtliche Pflichtverletzungen des Anwalts zu einer zusammengefaßt werden, ist die Wiederaufnahme dementsprechend nur dann möglich, wenn in Hinsicht auf die gesamte Einheitspflichtverletzung ein Freispruch zu erwarten ist. Dies ist dann ungerecht und geradezu unhaltbar, wenn in einem Verfahren zwei Anschuldigungspunkte vorliegen, von denen einer schwerwiegend ist, der andere aber für sich gesehen „nur“ zu einer Warnung führen würde. Würden nun hinsichtlich des schwerwiegenden Punktes neue Tatsachen oder Beweismittel auftauchen, könnte das Verfahren nicht gem. §§ 116 S. 1 BRAO, 359 Nr. 5 StPO wiederaufgenommen werden, da nicht mit einem Freispruch zu rechnen ist: Es würde auf Warnung wegen der leichteren Pflichtverletzung erkannt werden. Demnach bliebe der hohe Maßnahmenausspruch bestehen. Diese Konsequenz wird völlig zu Recht nicht nur als „bedauerlich“115, sondern überdies als Widerspruch zu „elementaren Bedürfnissen der Gerechtigkeit“116 bezeichnet. Dies führt insbesondere dann zu einer Schieflage, wenn in einem sachgleichen Strafverfahren ein Vorwurf durch Teil-Wiederaufnahme bereits weggefallen ist.117 Durch eine Trennung der Anschuldigungspunkte auf der Ebene der Pflichtverletzung könnte dies mit einer dem Strafverfahren bekannten Teil-Wiederaufnahme118 gelöst werden, indem nur wegen der für eine Wiederaufnahme in Frage kommenden Teile erneut verhandelt und gegebenenfalls freigesprochen werden würde, was für den Maßnahmenausspruch und die Einheitsstrafe die Folge einer Maßnahmenminderung hätte.119 dd) Urteilstenorierung Ein weiterer merklicher Unterschied ergäbe sich bei der Urteilstenorierung: Während im bestehenden System weder die Zahl der begangenen Pflichtverletzungen genannt werden kann, noch ein Teilfreispruch möglich ist120, müßten 113 Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 947; Feuerich/Weyland § 116 Rn. 77; Isele Anh. 2 zu § 116, StPO § 359 II C 2 b cc m. w. N. aus der Rspr. 114 Feuerich/Weyland § 114 Rn. 78. 115 So früher schon Friedländer, Exkurs zu § 91, Anm. 5; daran anknüpfend Isele Anh. 2 zu § 116, StPO § 359 II C 2 b cc. 116 Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 952; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 78. 117 Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 952; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 78. 118 BGH v. 27.1.1960 – 2 StR 604/59, BGHSt 14, 85, 88 = NJW 1960, 780 = MDR 1960, 518; M-G § 359 Rn. 3. 119 So auch Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 958; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 83. 120 Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 946; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 64 m. w. N.

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bei der Einheitssanktion ähnlich wie im Strafverfahren alle zur Last gelegten Einzelpflichtverletzungen auch im Urteilstenor genannt werden. Zudem müßte das Gericht bei entsprechender Sach- und Rechtslage einen Teilfreispruch aussprechen. Im Hinblick auf Klarheit und Übersichtlichkeit des Urteils wäre eine Trennung auf der Ebene der Pflichtverletzungen sinnvoll, gerade auch im Hinblick darauf, daß möglicherweise weitere Pflichtverletzungen des Rechtsanwaltes aufgedeckt und getrennt abgeurteilt werden können. Dies war bisher zwar auch nicht durch einen Strafklageverbrauch behindert121, die dann entstehenden verschiedenen Verfahren mit den unterschiedlichen Anschuldigungspunkten könnten letztlich auch im Urteil deutlich voneinander getrennt und differenziert werden. ee) Prozeßökonomie Schließlich spricht auch die Prozeßökonomie gegen die bisherige Dogmatik und Praxis der einheitlichen Pflichtverletzung: Während es bislang wegen der Zusammenfassung der Taten auf Pflichtenebene nicht möglich ist, einzelne Pflichtverletzungen abzutrennen, ist auch eine getrennte Berufung bezogen nur auf einzelner Anschuldigungspunkte nicht möglich. Es muß vielmehr das gesamte dem Rechtsanwalt vorgeworfene Verhalten in der Berufung überprüft werden, also auch Punkte, die von der Erstinstanz unbestritten als anwaltsrechtlich nicht relevant bewertet wurden. Ein Teilfreispruch kommt demnach ebenso nicht in Betracht.122 Nebenbei sei erwähnt, daß im Gegensatz zu diesem Verbot der vertikalen Teilrechtskraft die horizontale Teilrechtskraft auch nach derzeitiger Rechtslage im anwaltsgerichtlichen Verfahren möglich ist, da hier lediglich der vom gesamten anwaltlichen Fehlverhalten geleitete Schuldausspruch vom Rechtsfolgenausspruch der entsprechenden Maßnahme getrennt wird.123 Insofern wäre eine Berufungsbeschränkung gem. §§ 116 S. 1 BRAO, 318 StPO zulässig.124 Demgegenüber würde eine Aufsplittung der einzelnen Pflichtverletzungen dazu führen, daß nur die strittigen Anschuldigungspunkte in der Berufung überprüft werden müßten und die restlichen Teile, die gem. § 264 StPO eigenständige Taten beinhalten, bezüglich ihres Schuldausspruches rechtskräftig werden könnten. Somit würde auch vertikale Teilrechtskraft eintreten können, was in 121

Vgl. oben. EGH v. 22.3. 1924 – I. Senat. G. 23/23, EGH 19, 52, 53; BGH v. 25.9.1961 – AnwSt (R) 4/61, BGHSt 16, 237 = NJW 1961, 2219 = EGE VI, 130. 123 So auch Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 947 Fn. 33 m. w. N.; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 66, § 116 Rn. 71. 124 Vgl. Feuerich/Weyland § 116 Rn. 69 ff. 122

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der Berufungsinstanz zu einer wesentlichen Verschlankung und Effizienzsteigerung führen würde. 4. Abkehr von der einheitlichen Pflichtverletzung Mittlerweile wird zumindest auf der Ebene der Revision vom BGH auch schon eine Art Teilfreispruch zugelassen.125 Bei genauerer Betrachtung bedeutet dieses Urteil bereits eine ansatzweise Abkehr vom Prinzip der einheitlichen Pflichtverletzung, da der Anwaltssenat zwar darauf hinweist, daß nach diesem Prinzip „grundsätzlich keine Unterteilung in ,selbständige Handlungen‘“126 erfolgen kann. Gleichzeitig gibt er aber der Kritik nach, indem er bestätigt, daß der Grundsatz „nicht konsequent durchgeführt“127 wird und läßt im folgenden „sehenden Auges“ die vertikale Teilrechtskraft solcher Vorgänge [. . .], die keine Standesverfehlung darstellen“128, als weitere Ausnahme vom Einheitsprinzip mit dem berechtigten Hinweis darauf zu, „daß ein Rechtsanwalt andernfalls in einer neuen Hauptverhandlung nochmals mit Vorwürfen konfrontiert würde, die nach rechtsfehlerfreier Würdigung des zuständigen Richters eine Verurteilung nicht tragen können.“129 Eine klare Absage an das Einheitsprinzip wird nunmehr auch in jüngster Rechtsprechung vorgenommen. So entschied das Anwaltsgericht Celle130 und in Folge auch der Niedersächsische Anwaltsgerichtshof 131 im Zusammenhang mit der Verjährungsproblematik explizit, daß sie an der Rechtsprechung des BGH zur einheitlichen Pflichtverletzung nicht mehr festhalten. Neben den bereits genannten Argumenten verweisen die Gerichte auch auf die vergleichbare Rechtsprechung des Großen Senats132 im Zusammenhang mit der fortgesetzten Handlung133, der in diesem Zusammenhang gerade auch im Hinblick auf die Gesetzeswidrigkeit und den Zwang des Systems, Ausnahmeregelungen zu schaffen und damit einen begrifflichen Torso übrig zu lassen134, die Zusammennahme mehrerer verschiedener, voneinander unabhängiger Tathandlungen – hier die fortgesetzte Handlung (jedenfalls für die dort zu beurteilenden Straftatbestände), im Disziplinarrecht die einheitliche Pflichtverletzung – ablehnt. 125 Feuerich/Weyland § 114 Rn. 74 mit Verweis auf BGH v. 14.12.1981 – AnwSt (R) 20/81, BGHSt 30, 312. 126 BGH v. 14.12.1981 – AnwSt (R) 20/81, BGHSt 30, 312, 313. 127 BGH a. a. O. m. Hinw. auf Glanzmann FS BGH 25 J., S. 185, 187. 128 BGH a. a. O. 129 BGH a. a. O. 130 Anwaltsgericht Celle v. 17.7.2001 – AnwG I 1/01, NdsRpfl 2001, 414. 131 Nds. AGH v. 14.10.2002 – AGH 35/01, BRAK-Mitt. 2003, 36. 132 BGH GS v. 3.5.1994 – GSSt 2 und 3/93, BGHSt 40, 138. 133 Anwaltsgericht Celle v. 17.7.2001 – AnwG I 1/01, NdsRpfl 2001, 414, 415 f. 134 BGH GS v. 3.5.1994 – GSSt 2 und 3/93, BGHSt 40, 138, 154 f.

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5. Konsequenz Somit bleibt vom Einheitsprinzip letztlich die auch dem Gesetzeswortlaut des § 113 Abs. 1 BRAO genügende135 Einheitssanktion übrig, so daß die einzelnen Pflichtverletzungen getrennt voneinander zu beurteilen und zu bewerten und in einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme zu ahnden sind. Zentraler Anknüpfungspunkt muß deshalb ähnlich wie im Jugendstrafrecht, wo das Gesetz (§ 31 Abs. 1 JGG) bei mehreren Taten ebenfalls eine einheitliche Maßnahme vorsieht, die einzelne, dem Anwalt vorgeworfene Pflichtverletzung bleiben.136 Als Konsequenz aus der Aufspaltung des Verfahrensgegenstandes auf der Ebene der Pflichtverletzungen stellt sich die Frage, ob die durch die einheitliche Pflichtverletzung hervorgerufene Pflicht zur Verbindung von Verfahren durch das Anwaltsgericht137 (eine Pflicht zur Verbindung von Anschuldigungspunkten durch die Staatsanwaltschaft besteht schon jetzt ohnehin nicht138) weiterhin aufrecht erhalten werden kann. Dies erscheint deshalb sinnvoll, weil sich eine derartige Verbindung aus Effizienzgründen anbietet. Allerdings stellt sich die Frage bereits bei der Betrachtung des Gesetzeswortlautes als unproblematisch dar: Aus § 113 Abs. 1 BRAO geht hervor, daß wegen der Pflichtverstöße eines Rechtsanwaltes „eine anwaltsgerichtliche Maßnahme“ verhängt wird. Im Hinblick auf das soeben Ausgeführte, insbesondere bei Betrachtung der Ausnahmen vom Einheitsprinzip, die eine getrennte Aburteilung der Pflichtverletzungen zulassen, läßt sich die Zusammenfassungspflicht so formulieren, daß das Anwaltsgericht nach Möglichkeit alle Anschuldigungspunkte und Pflichtverletzungen in einem Verfahren zusammenfassen und zu einer einheitlichen anwaltsgerichtlichen Maßnahme kommen muß. Im Unterschied zur bisherigen Rechtslage können aber die „Ausnahmen“ dann als systemimmanente Sonderfälle betrachtet werden, da die künstliche Rechtsfigur der Einheitspflichtverletzung fehlt, die zur Formulierung systemsprengender Ausnahmen genötigt hat. Solche Sonderfälle wären dann anzunehmen, wenn andere, gewichtigere Verfahrensgrundsätze tangiert sind. Liegen diese nicht vor, führen die Grundsätze des Beschleunigungsgebots und der Verfahrensökonomie zu einer Verbindungspflicht.139 Somit ist im Zusammenhang mit dem hier zu behandelnden Problem der Überschneidung von strafprozessualer Tat und einheitlicher anwaltlicher Pflicht135

Vgl. oben. Vgl. Eylmann, AnwBl 1999, 338. 137 Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 945; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 61; Isele § 114 V B 4 m. w. N. 138 Siehe oben; BVerwG v. 9.6.1983 – 1 D 44.83, BVerwGE 76, 90; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 60. 139 Vgl. auch Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 958; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 82. 136

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

verletzung mangels Sachverhaltsidentität zu fragen, ob ein solcher systemimmanenter Sonderfall vorliegt. Doch auch bei der Beibehaltung des dogmatischen status quo ist unter Hinweis auf die im vorhergehenden angesprochenen Probleme und Ausnahmen, die das Prinzip der einheitlichen Pflichtverletzung heraufbeschwört, festzustellen, daß sich dieses Prinzip für sich gesehen als sehr schwach und angreifbar darstellt und mögliche Ausnahmen durch das Eingreifen anderer relevanter Verfahrensprinzipien zulässig sind. Als ein solches möglicherweise relevantes Prinzip ist in diesem Zusammenhang das Beschleunigungsgebot zu nennen, dessen Einfluß im folgenden zu betrachten ist.

III. Relevanz des Beschleunigungsgebotes Das Beschleunigungsgebot ergibt sich heute direkt aus Art. 6 Abs. 1 EMRK140, das dort als „Recht auf angemessene Verfahrensdauer“141 („within a reasonable time“/„dans un délai raisonnable“142) bezeichnet wird. Doch auch vor der Geltung der EMRK war das Beschleunigungsgebot im deutschen Strafprozeß als Grundprinzip verankert. Verfassungsrechtlich aus dem Rechtsstaatsprinzip143 und der allgemeinen Fürsorgepflicht144 im Strafprozeß hergeleitet, findet es in zahlreichen Normen der StPO seinen Niederschlag.145 Im Bereich der Untersuchungshaft folgt dies auch direkt aus Art. 5 Abs. 3 S. 2 EMRK und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG.146 Es beinhaltet, „Strafverfahren in der kürzest möglichen Zeit unter Beachtung aller sonstiger rechtsstaatlicher Grundsätze durchzuführen; die mit jedem Strafverfahren für den Beschuldigten verbundenen Belastungen dürfen nicht länger als unbedingt nötig aufrecht erhalten bleiben.“147 Um die Bedeutung des Beschleunigungsgebots innerhalb der hier beschriebenen Konkurrenzsituation feststellen zu können, ist es zunächst nötig, den Zweck 140 Europäische Menschenrechtskonvention vom 4.11.1950 (ETS 5) i. d. F. v. Protokoll Nr. 11 vom 11. Mai 1994. 141 IntKommEMRK-Miehsler/Vogler Art. 6 Rn. 309. 142 Aus der authentischen Fassung des Art. 6 Abs. 1 EMRK, englisch und französisch. 143 BGH v. 10.11.1971 – 2 StR 492/71, BGHSt 24, 239, 240. 144 BGH v. 24.9.1974 – 1 StR 365/74, BGHSt 26, 1, 4; zum Begriff vgl. z. B. M-G Einl. Rn. 156 m. w. N. 145 Vgl. Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 330; HK-Krehl Einl. Rn. 16 (jeweils mit Beispielen). 146 Vgl. Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 331. 147 Gössel, Gutachten C, S. C91 (These 1).

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dieser Verfahrensmaxime zu definieren. Wie bereits erwähnt, dient das Beschleunigungsgebot in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten:148 Durch eine möglichst zügige Behandlung des ihm zur Last gelegten Sachverhalts sollen körperliche und nervliche Überbelastungen149, außerdem berufliche und wirtschaftliche Nachteile, wie etwa der Verlust der Kreditwürdigkeit150 und eine „regelmäßig für die ganze Familie [. . .] schwer zu ertragende Unsicherheit“151 vermieden werden. Insbesondere beim unschuldigen Betroffenen spricht zusätzlich der Gedanke der möglichst schnellen Rehabilitierung und Befreiung „von der Ungewißheit und dem Makel eines strafrechtlichen Vorwurfs“152 für eine möglichst kurze Verfahrensdauer. Gerade im berufsgerichtlichen Verfahren spielt die Frage der beruflichen und wirtschaftlichen Nachteile, darüber hinaus aber gerade auch der Verlust an Seriosität, Glaubwürdigkeit und Ansehen des Anwalts, durch ein Verfahren im Zusammenhang mit der schnellen Rehabilitierung bei Unschuld eine ökonomisch nicht zu unterschätzende Rolle. Je länger sich ein Verfahren hinzieht, desto deutlicher wird sich Plutarchs sprichwörtliches „semper aliquid haeret“ auf die zukünftige Berufsausübung des Rechtsanwalts auswirken. Insofern können neben den genannten Verfassungsgrundsätzen von Art. 6 Abs. 1 EMRK, Rechtsstaatsprinzip und Fürsorgepflicht auch Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG als durch das Beschleunigungsgebot gewährleistete Verfassungsprinzipien angeführt werden, wenn diese freilich auch nur in abgeschwächter und indirekter Form tangiert sind. Daran ändert auch nichts, daß eine Verfahrensverzögerung im Einzelfall für den Beschuldigten nicht zu verachtende positive Effekte haben kann. Durch ein Hinauszögern kann eine günstigere Beweislage erzielt werden, wenn etwa Zeugen das Erinnerungsvermögen und die Glaubhaftigkeit schwindet. Die Gesetzeslage kann sich zu Gunsten des Beschuldigten ändern, er kann in den Genuß einer Verfahrenseinstellung oder Amnestie gelangen, Verfolgungsverjährung tritt ein oder der Zeitablauf wird zumindest als begünstigender Faktor bei der Strafzumessung berücksichtigt.153 Dies alles kann aber bei einer dogmatisch sinnvollen Betrachtung des Beschleunigungsgebotes wenig Beachtung finden, da es sich hierbei meist um prozeßtaktische Zufallsereignisse handelt, deren Relevanz auch für die Praxis eher gering sein dürften. Darüber hinaus können sich die 148

KK-Pfeiffer Einleitung Rn. 11. Vgl. BGH v. 22.10.1975 – 1 StE 1/74/StB 60–63/75, BGHSt 26, 228, 232 f.; auch Kloepfer, JZ 1979, 209, 214. 150 Vgl. Kohlmann FS Maurach, S. 501, 502; Kloepfer a. a. O. 151 Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 331. 152 Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 332; vgl. auch BGH v. 10.11.1971 – 2 StR 492/ 71, BGHSt 24, 239, 240 f.; vgl. auch Hillenkamp, JR 1975, 133, 134 f. 153 Vgl. zum Ganzen BGH v. 10.11.1971 – 2 StR 492/71, BGHSt 24, 239, 240 f.; Kohlmann FS Maurach, S. 501, 502; Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 332. 149

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soeben genannten Vorteile für den Beschuldigten auch zu dessen Nachteil auswirken, auch Entlastungszeugen und -beweise können an Wert und Glaubhaftigkeit verlieren und eine bewußte Hinauszögerung des Prozesses durch den Betroffenen kann sich auch im Urteil negativ auswirken. Gerade auch die eben aufgezeigte Tatsache, daß in einem langen Prozeß wichtige Beweise ihr Gewicht verlieren können, zeigt, daß neben dem Individualinteresse des Betroffenen auch ein erhebliches öffentliches Interesse an der Verfahrensbeschleunigung herrscht. In erster Linie ist dies die „wahrheitssichernde Funktion“154. Da ein zentrales Anliegen des Strafverfahrens (und auch des anwaltsgerichtlichen Verfahrens) die Wahrheitsfindung, basierend auf dem Gerechtigkeitsprinzip, darstellt155, erscheint das Beschleunigungsgebot auch im Lichte dessen von großer Bedeutung. Die wahrheitssichernde Funktion entfaltet der Beschleunigungsgrundsatz dadurch, daß – wie bereits angedeutet – eine Verkürzung der Verfahrensdauer die Präsenz, Glaubhaftigkeit und Verwertbarkeit von Beweisen und Zeugenaussagen erhöht.156 Ein weiteres öffentliches Interesse157 kann darin gesehen werden, daß im Interesse einer Schaffung baldigen Rechtsfriedens im Sinne eines möglichst friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens die möglichst schnelle Klärung eines diesen Frieden störenden Sachverhalts angestrebt werden muß. Darüber hinaus entfaltet ein möglichst kurzes Verfahren auch general- und individualpräventive Wirkung, indem der Grundsatz, daß die Strafe der Tat auf dem Fuß folgen soll, durch das Streben nach Verfahrenskürze besser verwirklicht werden kann.158 Fraglich ist aber, welcher Zeitraum für die Beurteilung der Verfahrensdauer maßgeblich ist. So kann ein ausgedehntes Ermittlungsverfahren dazu führen, daß die Beweise im Hauptverfahren klarer strukturiert sind, deutlicher hervortreten und dadurch straffer behandelt werden können, was zur Folge hat, daß das Hauptverfahren verkürzt wird und somit die Präsenz der Beweise aus der grundsätzlich mündlichen Verhandlung dem Tatrichter bei der Urteilsfindung höher ist, als bei einer langwierigeren Beweisaufnahme im Hauptverfahren. Andererseits bedeutet eine Verkürzung des gesamten Geschehens beginnend bei der Tat bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens159 eine höhere Prä-

154 Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 332; vgl. BVerfG v. 26.5.1981 – 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250, 280. 155 Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 332; vgl. nur HK-Krehl Einleitung Rn. 1; M-G Einl Rn. 10; KK-Pfeiffer Einleitung Rn. 7. 156 Vgl. Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 332 f. 157 Dazu im Ansatz BGH v. 22.10. 1975 – 1 StE 1/74/StB 60–63/75, BGHSt 26, 228, 232. 158 Zum Ganzen vgl. Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 333 m. w. N.

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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senz des Tatgeschehens bei Zeugen und eine bessere Aktualität von Beweisen im Hinblick auf die Entfernung zur Tat. Der eher auf die subjektive Sicht des Betroffenen und dessen Interesse an einer zügigen Behandlung abstellende Ansatz definiert den Beginn der angemessenen Frist „mit der Bekanntgabe des Schuldvorwurfs an den Betroffenen [. . .], jedenfalls aber mit der Verhaftung aufgrund eines Haftbefehls“160. Das Interesse des Betroffenen stellen auch der Europäische Gerichtshof und die Europäische Kommission für Menschenrechte (EGMR und EKMR) in den Vordergrund, wobei der jeweilige Zeitpunkt des ersten Eingriffs dabei unterschiedlich betrachtet, im Grundsatz aber durch die Formulierung „to date from the day on which the suspicion against a person begins to have substantial repercussions on his situation“161 deutlich gemacht wird.162 Diese subjektive Sichtweise ist heute wohl h. M.163 und aufgrund des Übergewichts des Individualinteresses des Betroffenen als primärer Zweck des Beschleunigungsgebotes164 zu bevorzugen. Im Zusammenhang mit der hier zu behandelnden Problematik der Aussetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens wegen teilweise kollidierendem Strafverfahren spielt das Beschleunigungsgebot also die Rolle, daß v. a. im Interesse des beschuldigten Rechtsanwalts an einer Verminderung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Belastungen, aber auch im öffentlichen Interesse in mehrfacher Hinsicht (insbesondere um Beweise möglichst aktuell zu halten), das anwaltsgerichtliche Verfahren möglichst straff durchgezogen werden soll. Dies gilt auch für den Fall, daß ein bereits bestehendes Strafverfahren die Eröffnung des entsprechenden anwaltsgerichtlichen Hauptverfahrens hemmt (§ 118 Abs. 1 S. 1 BRAO), da das Verfahren eingeleitet werden kann und sollte165, somit ein erster Eingriff zu Lasten des Betroffenen vorliegt und damit die angemessene Frist im Sinne des Beschleunigungsgebotes auch in diesem Fall zu laufen beginnt. Daß dabei ein dazwischentretendes Strafverfahren auf das anwaltsgerichtliche Verfahren (meist in erheblichem Maße) verzögernd wirkt, liegt auf der Hand. Allerdings könnte in der Unterbrechung durch das Strafverfahren eine dem Beschleunigungsgebot immanent innewohnende Schranke liegen: Voraussetzung für dieses ist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, daß das Verfahren in angemessener Frist abgeschlossen wird. Schon aus der grundsätzlichen Bindung des Anwaltsgerichts an die Feststellungen des Strafprozesses nach § 118 Abs. 3 BRAO läßt 159 Zur weniger umstrittenen Problematik des Endes der Frist vgl. Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 335 m. w. N. (Fn. 48 u. 49). 160 BGH v. 3.2.1982 – 2 StR 374/81, NStZ 1982, 291. 161 EGMR, Case of Neumeister v. Austria v. 27.6.1968 – 1936/63, A/8 §13. 162 Vgl. IntKommEMRK-Miehsler/Vogler Art. 6 Rn. 313 m. w. N. 163 Vgl. Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 335 m. w. N. 164 Vgl. oben. 165 Vgl. oben Kap. 3. A. I.

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

sich ersehen, ohne hier bereits näher auf die Vorschrift einzugehen166, daß es nicht nur opportun sein dürfte, sondern vielmehr das Anwaltsgericht verpflichtet ist, das Strafverfahren abzuwarten. Deshalb kann das Abwarten grundsätzlich als angemessene Verzögerung im Sinne des Beschleunigungsgebots gewertet werden, denn dieses ist nicht verletzt, „wenn die Strafverfolgung von Gesetzes wegen nicht fortgesetzt werden konnte.“167 Hier stellt sich die Situation allerdings differenzierter dar: Neben dem strafrechtlich relevanten Teil, weswegen eine Aussetzung des Verfahrens in Betracht kommt, beschäftigt hier insbesondere der Teil des anwaltsgerichtlichen Verfahrens, der nicht mit einem Strafverfahren kollidiert. Ersterer darf aus dem eben dargestellten keinesfalls fortgeführt werden. Fraglich ist aber weiterhin, wie mit dem anderen Teil zu verfahren ist.

IV. Lösung des Konflikts Aus dem soeben Gesagten ergibt sich nunmehr folgendes Bild: Während das Einheitsprinzip auf der Ebene der Pflichtverletzungen als überholt, zumindest jedoch als sehr schwach bezeichnet werden kann, erlangt das Beschleunigungsgebot gerade im anwaltsgerichtlichen Verfahren auch wegen seiner einschneidenden persönlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen bei Verfahrensverzögerungen einen nicht zu verachtenden Stellenwert. Darüber hinaus kann auch festgehalten werden, daß das ohnehin zweifelhafte Prinzip der einheitlichen Pflichtverletzung aus der einfachgesetzlichen Regelung des § 113 Abs. 1 BRAO folgt und somit eine Konstruktion des Gesetzgebers darstellt, läßt sich das Beschleunigungsgebot in seinem Grundsatz aus Verfassung (Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG) und Menschenrechten (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) herleiten.168 Allerdings erfährt auch das Beschleunigungsgebot seine Schranken dadurch, daß es selbst „nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit den rechtsstaatlichen Erfordernissen und der auch dadurch bedingten Grundstruktur des Strafverfahrens [hier: des anwaltsgerichtlichen Verfahrens] gesehen werden“169 darf. Dies ist etwa dann relevant, wenn durch eine Beschleunigung des Verfahrens der „fair trial“-Grundsatz, die Wahrheitsfindung oder nach der Devise „langsamer ist oft schneller“ gar das Beschleunigungsgebot selbst verletzt würde.

166

Dazu eingehend Kap. 4. G. BGH v. 20.2.1990 – 3 StR 278/89, BGHSt 36, 363, 372; Detter, Zum Strafzumessung- und Maßregelrecht, NStZ 1990, 483, 486; Pfeiffer FS Baumann, S. 329, 336. 168 Zum Ganzen vgl. soeben Kap. 3. D. II. und 3. D. III. 169 Gössel, Gutachten C, S. C91, These 2. 167

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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Gerade der Bezug zu den letzten beiden Grundsatzkonflikten wird in der Konkurrenz zwischen anwaltsgerichtlichem Verfahren und Strafprozeß verwirklicht: Sinn der Aussetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens zugunsten des Strafprozesses ist gerade die möglichst einheitliche und umfassende Findung und Beurteilung der wahrheitsgemäßen Tatsachen, was durch den Strafprozeß besser gewährleistet werden kann.170 Dementsprechend ist selbstverständlich die Aussetzung zumindest der strafrechtlich relevanten Verfahrensteile zwingend. Fraglich ist deshalb letztendlich, wie die strafrechtlich nicht tangierten Teile und Pflichtverletzungen prozessual behandelt werden müssen. Hierzu sind in Konkretisierung zu den in Kap. 3. D. zu Beginn angesprochenen Lösungen drei Varianten denkbar: 1. Aussetzung auch dieser Teile zugunsten des Einheitsprinzips 2. Abtrennung dieser Teile in ein separates Verfahren zugunsten des Beschleunigungsgebots 3. Weiterverhandlung dieser Teile unter Teilaussetzung der strafrechtlich relevanten als Kompromiß 1. Aussetzung auch der strafrechtlich irrelevanten Teile zugunsten des Einheitsprinzips Janzen empfiehlt (für § 17 BDO a. F.) die Aussetzung des ganzen Disziplinarverfahrens und bezeichnet die Trennung der Verfahrensteile als Ausnahme, auch wenn er die Beschränkung des Aussetzungszwangs auf den strafrechtlich relevanten Teil anerkennt.171 Hier wird also das Einheitsprinzip in den Vordergrund gerückt, wobei zu beachten ist, daß dieser Ansicht das Prinzip der Einheitspflichtverletzung zugrunde liegt. Demzufolge erscheint es folgerichtig, daß ein einheitlich zu betrachtendes Verhalten (auch wenn es aus mehreren verschiedenen Taten besteht) in einem Verfahren nur gesamtheitlich behandelt werden könne, da ansonsten die geschaffene Einheit wieder auseinanderfiele. Allerdings kann auch diese Sichtweise nicht darüber hinwegtäuschen, daß trotz des Konstruktes der Einheitspflichtverletzung die einzelnen Taten auf verschiedenen Lebenssachverhalten basieren können und demnach im Rahmen der Beweisaufnahme auch durchaus getrennt voneinander behandelt werden können. Wie letztlich die verschiedenen Taten innerhalb der einheitlichen Pflichtverletzung bewertet werden, steht auf einem gänzlich anderen Blatt. Hier müßte nach der bisherigen Auffassung des Einheitsprinzips eine „Zusammenführung“

170 171

Dazu oben eingehend Kap. 2. B. Claussen/Janzen-Janzen § 17 BDO Rn. 3b.

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

stattfinden. Es ändert jedoch nichts daran, daß ein Aussetzen der strafrechtlich irrelevanten Teile im Stadium des Verfahrens einschließlich der Beweisaufnahme grundsätzlich weder nötig noch opportun ist. Noch deutlicher stellt sich dies unter Zugrundelegung des „neuen“ Begriffs des Einheitsprinzips, der Einheitssanktion, dar. Werden die einzelnen Taten erst im Rahmen der Maßnahmenbildung und Strafzumessung zusammengefaßt, ist ein Abwarten der strafrechtlich relevanten Taten bei der Entscheidung über die Behandlung der restlichen Anschuldigungspunkte noch weniger sinnvoll. Etwas anderes könnte sich nur ergeben, wenn eine derart lange Verzögerung durch das Strafverfahren zu erwarten ist, so daß auch die Behandlung der nicht strafrechtlich relevanten Teile bereits abgeschlossen wäre und zu befürchten ist, daß aufgrund von § 229 StPO i. V. m. § 116 Abs. 1 BRAO das anwaltsgerichtliche Verfahren insgesamt ausgesetzt werden müßte mit der Konsequenz, daß dieses vollständig neu verhandelt werden müßte.172 2. Abtrennung der strafrechtlich irrelevanten Teile in ein separates Verfahren zugunsten des Beschleunigungsgebots Sodann ist zu fragen, ob die Teile gänzlich voneinander abgetrennt und in separaten Verfahren behandelt werden können, um dem Beschleunigungsgebot insoweit noch mehr entgegenkommen zu können, als ein baldiger Verfahrensabschluß hinsichtlich der strafrechtlich irrelevanten Teile erreicht werden kann. Für das insoweit ähnliche Beamtendisziplinarverfahren läßt das Bundesverwaltungsgericht eine Trennung der Anschuldigungspunkte zu, wenn die Staatsanwaltschaft nach pflichtgemäßem Ermessen nicht warten will, bis alle Verfahrensteile entscheidungsreif sind.173 Nach der bisherigen Auffassung der einheitlichen Pflichtverletzung scheidet eine Trennung gem. § 4 StPO i. V. m. § 116 S. 1 BRAO aber generell aus, da die „Einzeltaten“ des Rechtsanwalts nach der Zusammenführung der Anschuldigungspunkte in der Anklageschrift zu einer Pflichtverletzung werden und insofern begriffsnotwendig schon nicht mehrere trennbare „Sachen“ i. S. d. § 4 StPO vorliegen.174 Folgt man dieser Sichtweise, bleibt nur die unten zu diskutierende Möglichkeit der „Teilweiterverhandlung“ übrig. Geht man dagegen mit der hier vertretenen Ansicht davon aus, daß die einzelnen Pflichtverletzungen zunächst getrennt voneinander behandelt werden können,175 ist eine mögliche Verfahrenstrennung anzudenken. Diese ist etwa 172

Vgl. hierzu sogleich Kap. 3. D. IV. 3. BVerwG v. 4.9.1978 – 1 DB 22.78, BVerwGE 63, 123, 125; siehe auch Feuerich/Weyland § 114 Rn. 59. 174 Vgl. Feuerich/Weyland § 116 Rn. 12. 173

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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auch dann möglich, wenn zu erwarten ist, daß die strafrechtlich nicht relevanten Teile wegen ihrer im Vergleich zu den gleichzeitig strafrechtlich relevanten Teilen geringen Bedeutung niedergeschlagen werden könnten, sich insofern im Vergleich zu den strafgerichtlich angeklagten als „bedeutungsloser, der Straftat nachgeordneter Annex“176 darstellen. In einem solchen Fall wird aber zu überlegen sein, ob statt der Verfahrenstrennung ein Ausscheiden der nachgeordneten Teile gem. § 154a StPO i. V. m. § 116 S. 1 BRAO177, möglicherweise aber auch eine Aussetzung des gesamten Verfahrens178, aus prozeßökonomischen Gründen eher in Betracht zu ziehen ist. Für die Praxis wird dies auch der wohl relevanteste Fall sein, da kaum vorstellbar ist, daß strafrechtlich unkritische Pflichtverletzungen neben Straftaten eines Rechtsanwalts erheblich ins Gewicht fallen. Vielmehr werden diese meist eine untergeordnete Rolle spielen, es sei denn, sie stehen aufgrund ihrer Quantität durch den Rechtsanwalt etwa neben einer einzelnen Straftat. Dann muß beurteilt werden, ob die Trennung des Verfahrens möglich und opportun ist. Dazu sind die Auswirkungen einer Trennung zu betrachten. Einzelne Anschuldigungspunkte würden getrennt voneinander behandelt und beurteilt werden. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit sich die getrennte Aburteilung auf das vom Rechtsanwalt insgesamt zu tragende Sanktionenmaß auswirkt. So ist es beispielhaft möglich, daß ein Anwalt bei gemeinsamer Abhandlung aller relevanter Taten „gerade noch“ einen Verweis bekommt, bei getrennter Behandlung zwei.179 Da eine „Gewichtung“ der Maßnahmen i. S. etwa zweier „einfacher“ gegenüber einem „verschärften“ Verweis nach der abschließenden Regelung des § 114 Abs. 1 BRAO nicht möglich ist180 und nach Isele eine Zurückführung von mehreren verhängten Maßnahmen auf eine ausgeschlossen sei181, rückt eine gerechte Lösung in weite Ferne. Lediglich im Anwendungsbereich des § 154 StPO ist ein gerechtes Ergebnis denkbar182. Wenn also in einem Folgeverfahren die zu verhängende Maßnahme gegenüber der vorigen nicht ins Gewicht fällt, kann von einer zweiten Ahndung abgesehen werden. In dem hier zu diskutierenden Zusammenhang ist eine solche Konstellation allerdings kaum vorstellbar, da durch eine Abtrennung und Aussetzung der strafrechtlich relevanten Teile diese das Folgeverfahren i. S. d. 175

Siehe oben Kap. 3. D. II. 4. Feuerich/Weyland § 114 Rn. 62. 177 Anwendbar, vgl. Feuerich/Weyland § 116 Rn. 36; vgl. auch ders., § 114 Rn. 63; BGH v. 5.12.1966 – NotSt (Brfg) 2/66, BGHSt 21, 232, 236. 178 So Feuerich/Weyland § 114 Rn. 62. 179 Beispiel nach Isele § 114 V B 5 a, S. 1362. 180 Vgl. etwa Feuerich/Weyland § 114 Rn. 9. 181 Isele § 114 V B 5, S. 1362. 182 Isele § 114 V B 5 b, S. 1362. 176

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

§ 154 StPO bilden und aufgrund ihres Gewichts der strafrechtlichen Relevanz wohl nie unbeträchtlich ins Gewicht fallen. Aber auch in der hier relevanten Konstellation des – mehr oder weniger – Gleichgewichts der beiden zu erwartenden Maßnahmen läßt sich durch einen Härteausgleich eine Lösung anbieten, die die Rechtsprechung im Zusammenhang mit § 55 StGB entwickelt hat.183 Danach muß, wenn die Einzelstrafen nicht mehr festzustellen sind, bei der Bildung einer neuen Gesamtstrafe gem. § 55 StGB das frühere Strafmaß außer acht gelassen und im Rahmen einer neuerlichen Betrachtung aller Einzeltaten bei der neuen Gesamtstrafe entsprechend berücksichtigt werden, um den durch das Außerachtlassen entstehenden Nachteil auszugleichen. Diese Konstellation ist vergleichbar mit der hiesigen: Einer (nachträglichen) Feststellung von „Einzelmaßnahmen“ steht hier von vornherein schon die Einheitssanktion des § 113 Abs. 1 BRAO entgegen, so daß eine wie auch immer hergeleitete entsprechende Anwendung des § 55 StGB ausscheiden würde. Demnach müßte im zweiten Urteil ein Härteausgleich vorgenommen und die Erstmaßnahme dort entsprechend angemessen berücksichtigt werden.184 Problematisch im Zusammenhang mit der Aussetzung gem. § 118 Abs. 1 BRAO ist allerdings, daß durch die Anwendung eines Härtefallausgleichs ein Gesetzesverstoß gegen § 113 Abs. 1 BRAO (Prinzip der einheitlichen Sanktionierung) durch das die Aussetzung entscheidende Gericht sehenden Auges185 in Kauf genommen wird, somit anders als im obigen Fall, wo die fehlende Möglichkeit der Anwendung von § 55 StGB aufgrund einer Unterlassung der Bildung von Einzelstrafen durch den Härtefall ausnahmsweise ausgeglichen wird. Schon rein sprachlich läge dann also weniger ein Härte- als vielmehr ein Standardfall vor. Da aber auch hier am Einheitsprinzip im Sinne einer Einheitssanktion festgehalten wird, wonach die Maxime besteht, nach Möglichkeit alle dem Rechtsanwalt vorgeworfenen Anschuldigungen in einem Urteil und einer Maßnahme zu Ausdruck zu bringen, wäre eine derartige Lösung deshalb grundsätzlich abzulehnen.

183

Vgl. BGH v. 26.3.1997 – 2 StR 107/97, BGHSt 43, 34; auch T/F § 55 Rn. 8a. Im Grundsatz so auch schon EGH v. 9.5.1934 – II. Senat. G 7/34, EGH 28, 72; zu den Einzelheiten der „Anrechnung“ vgl. T/F § 55 Rn. 7b m. w. N. 185 Die hier in Betracht gezogenen Vergleichsfälle behandeln im Gegensatz dazu versehentliche Verfahrenstrennungen. 184

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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3. Weiterverhandlung der strafrechtlich irrelevanten Teile unter Teilaussetzung der strafrechtlich relevanten als Kompromiß a) Grundsatz Eine letzte Möglichkeit könnte darin bestehen, daß das gesamte Verfahren weder ausgesetzt noch aufgespaltet werden müßte, sondern innerhalb desselben Verfahrens nur diejenigen Teile weiterverhandelt werden, die nicht im Konflikt mit einem Strafverfahren stehen, während nur die strafrechtlich relevanten Teile zunächst ausgesetzt oder die Hauptverhandlung im Falle des § 118 Abs. 1 S. 1 BRAO im Hinblick auf diese Teile nicht eröffnet wird. Erstere könnten dann bis zur Entscheidungsreife gelangen. Nach Abschluß des Strafverfahrens könnte das gesamte Verfahren fortgesetzt und wegen der grundsätzlichen Bindung des Anwaltsgerichts an die Feststellungen im Strafverfahren gem. § 118 Abs. 3 BRAO im Hinblick auf die strafrechtlich relevanten Anschuldigungspunkte relativ rasch zu Ende geführt und ein einheitliches Urteil, wie es § 113 Abs. 1 BRAO vorsieht, gefällt werden. Damit würde sowohl dem Einheitsprinzip als auch dem Beschleunigungsgebot weitestgehend Rechnung getragen. b) Aber: Einfluß der Konzentrationsmaxime, § 229 StPO Wie bereits oben bei Kap. 3. D. IV. 1. angedeutet, kann sich eine solche Vorgehensweise aber im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot in manchen Konstellationen als geradezu kontraproduktiv erweisen: Werden nämlich die strafrechtlich irrelevanten Teile weiterverhandelt und gelangen ihrerseits zur Entscheidungsreife, obwohl ein Ende des Strafprozesses bezüglich der strafrechtlich relevanten Teile noch nicht in Sicht ist, müßte das Verfahren insgesamt ausgesetzt werden. Dies ergibt sich dann nicht aus § 118 Abs. 1 BRAO, sondern vielmehr aus § 229 Abs. 4 S. 1 StPO i. V. m. § 116 S. 2 BRAO. Zweck des § 229 StPO ist es, „das Gericht an eine möglichst enge Aufeinanderfolge der Verhandlungstage zu binden, damit die zu erlassende Entscheidung unter dem lebendigen Eindruck des zusammenhängenden Bildes des gesamten Verhandlungsstoffs ergeht. Mit der Vorschrift soll gewährleistet sein, daß das Urteil aus dem „Inbegriff der Verhandlung“ gewonnen werden kann.“186 § 229 StPO ist somit Ausfluß der Konzentrationsmaxime. Danach „soll die ganze Hauptverhandlung möglichst in einem Zug durchgeführt werden“187 und dadurch erreicht werden, daß sich das Gericht bei seiner Entscheidung auf möglichst frische und unvermittelte Eindrücke von den urteilsbildenden Faktoren aus der mündlichen Verhandlung (und nicht etwa aus den Akten) stützen 186 187

Vgl. BGH v. 25.07.1996 – 4 StR 172/96, NJW 1996, 3019 m. w. N. KK-Pfeiffer Einl. Rn. 10.

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3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

kann.188 Ein Überschreiten der in § 229 Abs. 1 bis 3 StPO genannten Fristen189 hätte demnach gem. § 229 Abs. 4 S. 1 StPO zur Folge, daß die gesamte Hauptverhandlung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens von neuem begonnen und damit die durch die vorherige Weiterverhandlung gefundenen Feststellungen Beweise erneut erhoben werden müßten. Dies würde aber hinsichtlich des weiterverhandelten anwaltsgerichtlichen Verfahrens der Prozeßökonomie widersprechen und das Beschleunigungsgebot geradezu ins Leere laufen lassen: Sämtliche gefundenen Beweise und getroffenen Tatsachenfeststellungen wären unverwertbar und die gesamte Beweisaufnahme hinsichtlich der strafrechtlich irrelevanten Teile müßte wiederholt werden. Eine Beschleunigung des Verfahrens würde dadurch zumindest für diese Fälle jedenfalls nicht erreicht werden können. c) Konsequenz Für die Konstellationen, bei denen die Konzentrationsmaxime einer Weiterverhandlung nicht im Wege steht, ist nun noch zu überlegen, wie eine solche Weiterverhandlung mit dem Gesetzeswortlaut zu vereinbaren ist. aa) Teleologische Reduktion des § 118 Abs. 1 BRAO Die Weiterverhandlung eines Teils der Anschuldigungspunkte, wie unter a) vorgeschlagen, entspricht nicht dem Wortlaut des § 118 Abs. 1 BRAO, der von der Aussetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens spricht. Eine Gesetzesformulierung in § 118 Abs. 1 BRAO, wie etwa „[. . .] es muß aber bis zur Beendigung des strafgerichtlichen Verfahrens insoweit ausgesetzt werden“ wäre in dieser Richtung eindeutiger. Es müßte demnach eine teleologische Reduktion vorgenommen werden, nach der der § 118 Abs. 1 S. 1 und 2 BRAO im Zusammenhang mit dem Einheits188

Vgl. KK-Pfeiffer a. a. O. Für „Normalverfahren“ zehn Tage (§ 229 Abs. 1 StPO), für umfangreichere Verfahren auch bis zu 30 Tagen (§ 229 Abs. 2 StPO); an dieser Stelle kann dahingestellt bleiben, ob diese starre und verhältnismäßig enge Fristenregelung angemessen und im Sinne von Beschleunigungsgebot und Konzentrationsmaxime sinnvoll ist; vgl. krit. hierzu Bertram NJW 1994, 2186, 2187; Schlüchter GA 1994, 397, 419 f.; siehe auch den Änderungsvorschlag des § 229 StPO von Gössel Gutachten C S. 76 Nr. 14: Die bisherigen Abs. 2 und 3 sollen durch folgenden Abs. 2 ersetzt werden: „Zur Einführung eines nicht präsenten Beweismittels durch einen zulässigen Beweisantrag darf das Verfahren auch bis zu 30 Tagen unterbrochen werden; [. . .]“. In dessen analoger Anwendung auf die ausstehenden Tatsachenfeststellungen des vorrangigen Strafverfahrens statt des „nicht präsenten Beweismittels durch einen zulässigen Beweisantrag“ könnte auch für das anwaltsgerichtliche Verfahren Erleichterung in dieser Hinsicht durch die vorgeschlagene Fristerweiterung erreicht werden. 189

D. Überlappung mangels Sachverhaltsidentität

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prinzip des § 113 Abs. 1 BRAO (in der hier vertretenen Auffassung der Einheitssanktion) und dem Beschleunigungsgebot auf die strafgerichtlich relevanten Teile beschränkt wird. Komplizierter scheint es, die teleologische Reduktion bei Anwendung des Einheitsprinzips als einheitliche Pflichtverletzung herzuleiten, da eine Teilung eines einheitlichen Anschuldigungspunktes, wie er von der Ansicht konstruiert wird,190 denknotwendig nicht möglich ist. In diesem Fall könnte eine Lösung darin bestehen, daß die Einheitstat so weit aufgeklärt werden muß, bis eine Kollision mit dem Strafverfahren erreicht ist. Somit könnten zunächst die strafrechtlich irrelevanten Sachverhalte der Einheitstat verhandelt werden und nach Ende des Strafverfahrens oder im Fall des § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO das anwaltsgerichtliche Verfahren abgeschlossen werden. bb) Praxisrelevanz Aufgrund des soeben bei b) zum Einfluß der Konzentrationsmaxime Gesagten stellt sich die Frage, welche praktische Relevanz dieser Lösung zukommt. Dadurch, daß nach Verstreichen der Frist des § 229 Abs. 1 bis 3 StPO i. V. m. § 116 S. 2 BRAO im anwaltsgerichtlichen Verfahren sämtliche auch für den strafrechtlich erheblichen Verfahrensteil irrelevante Beweise erneut zu erheben sind, ist eine Teilaussetzung nur dann sinnvoll, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aussetzung der Abschluß des konkurrierenden Strafverfahrens absehbar ist, bevor die Beweisaufnahme über die strafrechtlich irrelevanten Teile abgeschlossen und (dann) die Frist des § 229 Abs. 1 bis 3 StPO verstrichen ist, so daß das anwaltsgerichtliche Verfahren unter Erhaltung der bereits festgestellten Tatsachen fortgesetzt werden kann. Eine solche Prognose ist zwar von Fall zu Fall zu entscheiden, erscheint jedoch nur dann zugunsten der Teilaussetzung aufgrund der relativ kurzen (Standard-)Frist des § 229 Abs. 1 StPO realistisch, wenn der rechtskräftige Abschluß des Strafverfahrens im Vergleich zur anzunehmenden Dauer des strafrechtlich irrelevanten Teils des anwaltsgerichtlichen Verfahrens absehbar ist. Im Falle des § 118 Abs. 1 S. 2 BRAO, wenn also während des Laufs eines anwaltsgerichtlichen Verfahrens die öffentliche Klage im Strafverfahren erst erhoben wird, wird dies regelmäßig nicht der Fall sein, da ein rechtskräftiger Abschluß meist (v. a. wegen der Möglichkeit von Rechtsmitteln) nicht vorhersehbar ist. Für den Fall des § 118 Abs. 1 S. 1 BRAO (Einleitung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens während laufendem Strafverfahren) gilt mit Blick ebenfalls auf die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln, daß eine Teilaussetzung in der Regel wohl nur dann in Frage kommt, wenn der Abschluß des Verfahrens 190

Siehe oben.

84

3. Kap.: Der chronologische Vorrang des Strafverfahrens

in letzter Instanz abzusehen ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Beweisaufnahme für die strafrechtlich irrelevanten Teile im anwaltsgerichtlichen Verfahren im Vergleich zu der im übrig bleibenden Strafverfahren ex ante als wesentlich umfangreicher und damit länger darstellt. Dabei ist aber zu beachten, daß das anwaltsgerichtliche Verfahren nicht dadurch hinausgezögert und verlängert werden darf, daß die Verhandlung nur „formal“ oder „zum Schein“ fortgesetzt wird, um den § 229 StPO zu umgehen, etwa durch Verteilung einer Urkundsverlesung auf mehrere Termine.191 4. Ergebnis Damit ist unter Berücksichtigung sowohl des Beschleunigungsgebotes als auch des Einheitsprinzips sowie der Einhaltung des Vorrangs des Strafverfahrens die dritte Variante, also die Teilaussetzung nur der strafrechtlich relevanten Teile, zu wählen, es sei denn, das Strafverfahren würde sich derart lange hinziehen, daß wegen der sich in § 229 StPO i. V. m. § 116 S. 2 BRAO widerspiegelnden Konzentrationsmaxime auch die Aussetzung der nur anwaltsgerichtlich angeschuldigten Teile zu befürchten ist. Letzteres wird in der Praxis wohl den Regelfall darstellen. Dann müßte von vornherein das gesamte Verfahren ausgesetzt werden (Variante 1). Ein freies Wahlrecht des Gerichts192 in der Entscheidung über ein Vorgehen in dieser Situation ist aber grundsätzlich abzulehnen.

191 192

BGH v. 25.07.1996 – 4 StR 172/96, NJW 1996, 3019. So Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 946.

4. Kapitel

Doppelbewertung desselben Verhaltens und der (positive und negative1) disziplinäre Überhang A. Die Verfassungskonformität der anwaltsgerichtlichen Ahndung nach strafgerichtlicher Verurteilung Nach § 115b BRAO ist von einer anwaltsgerichtlichen Ahndung desselben Verhaltens (zum Begriff vgl. Kap. 2. D.) grundsätzlich abzusehen, wenn bereits eine anderweitige Strafe, Disziplinarmaßnahme, eine berufsgerichtliche Maßnahme oder eine Ordnungsmaßnahme verhängt worden ist, es sei denn, eine anwaltsgerichtliche Ahndung ist zusätzlich erforderlich, um den Anwalt zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und das Ansehen der Rechtsanwaltschaft zu wahren. Daraus folgt, daß unter bestimmten Voraussetzungen2 eine Sanktionierung sowohl durch das Straf- als auch das Anwaltsgericht möglich ist. Hierbei stellt sich die Frage, ob diese Parallelsanktionierung verfassungskonform ist. Beispiel: Ein Rechtsanwalt wird wegen Untreue (§ 266 StGB) strafgerichtlich zu einer Geldstrafe verurteilt. Bei der Strafzumessung wird insbesondere seine berufliche Stellung berücksichtigt, innerhalb der er die Tat begangen hat. Die Staatsanwaltschaft erhebt nach Rechtskraft des Urteils Anklage zum Anwaltsgericht mit dem Ziel, den Anwalt wegen Verstoßes gegen § 43a Abs. 5 BRAO nochmals zu einer Geldbuße (§ 114 Nr. 3 BRAO) verurteilen zu lassen.

1 Die Verwendung des Begriffspaares positiver und negativer disziplinärer Überhang soll auf die grundsätzlich unterschiedliche Richtung der beiden Möglichkeiten zusätzlicher anwaltsgerichtlicher Ahndung hinweisen: Während beim positiven Überhang über die strafgerichtliche Verurteilung hinaus noch eine weitere anwaltsgerichtliche Ahndung im Raum steht (§ 115b BRAO), wird beim negativen Überhang die Pflichtverletzung trotz Freispruchs im Strafverfahren geahndet (§ 118 Abs. 2 BRAO) und geht somit „in eine andere – demgegenüber „negative“ – Richtung“ wie das Strafverfahren. 2 Vgl. dazu Kap. 4. C.

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4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

I. Das Absehen von anwaltsgerichtlichen Ahndungen im Hinblick auf den Grundsatz ne bis in idem Der Grundsatz ne bis in idem, der schon im älteren attischen und römischen Recht seinen Ursprung hat, findet seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag in Art. 103 Abs. 3 GG.3 Darüber hinaus hat er in allen Rechtssystemen, die fundamentale Rechte garantieren, Anerkennung gefunden4 und ist mittlerweile auch international gesetztes Recht.5 Kern des Verfassungsprinzips in Art. 103 Abs. 3 GG ist das Verbot, eine verbrauchte Strafklage zu wiederholen6, um somit den schon Bestraften oder rechtskräftig Freigesprochenen gegen erneute Verfolgung und Bestrafung wegen derselben Tat zu schützen.7 Daraus folgend liegt der Gedanke nahe, daß eine Doppelbewertung desselben Verhaltens durch das Anwaltsgericht einerseits und das (i. d. R.8) Strafgericht andererseits ohne eine entsprechende „Anrechnung“, wie sie § 115b BRAO andeutet, gegen eben jenes Doppelbestrafungsverbot9 verstoßen würde. Zu fragen ist also, ob § 115b BRAO eine verfassungsrechtlich notwendige Einschränkung der anwaltsgerichtlichen Ahndung darstellt, also der Geltungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG durch gleichzeitige anwalts- und strafgerichtliche Ahndung tangiert ist. Den Ansatzpunkt für die Beurteilung stellt die Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem in seiner verfassungsmäßigen Gestalt des Art. 103 Abs. 3 GG dar. Danach kann beurteilt werden, ob es sich bei der anwaltsgerichtlichen Ahndung neben einer anderweitigen um eine „echte“ Doppelbestrafung handelt, oder ob die jeweiligen Sanktionen unabhängig nebeneinander bestehen bleiben können. 3 Vgl. Einleitung; zur geschichtlichen Entwicklung des Grundsatzes siehe Specht, S. 7 ff. 4 Vgl. Committee on Citizens’ Freedoms and Rights, Justice and Home Affairs, Charter of Fundamental Rights of the European Union (comments), Article 50, htp:// www.europarl.eu.int/comparl/libe/elsj/charter/art50/default_en.htm . 5 So etwa Art. 14 Nr. 7 Vereinte Nationen – International Convenant on Civil and Political Rights v. 16.12.1966; Art. 4 Nr. 1 Europarat – Protocol No. 7 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Liberties v. 22.11.1984; Art. 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Amtsbl. d. Europ. Gemeinschaften 2000/C 364/01). 6 BVerfG v. 17.1.1961 – 2 BvL 17/60, BVerfGE 12, 62, 66. 7 BGH GrS v. 9.12.1953 – GSSt 2/53, BGHSt 5, 324, 328 nach (insoweit „vorkonstitutionell“) RG v. 12.11.1937 – 1 D 323/37, RGSt 72, 99, 102; vgl. auch Maunz/ Dürig-Schmidt/Aßmann Art. 103 Abs. III Rn. 271; auf die Funktion als objektive Verfahrensnorm (ders. Rn. 272) soll hier nicht weiter eingegangen werden. 8 Neben anderen Gerichten und Behörden, für die Art. 115b BRAO ebenso anwendbar ist, vgl. im folgenden Kap. 4. A. II. 9 Zur (ungenauen und verkürzten) Begriffsbestimmung vgl. Maunz/Dürig-Schmidt/ Aßmann, Art. 103 Abs. III Rn. 293.

A. Die Verfassungskonformität der anwaltsgerichtlichen Ahndung

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1. Historische Auslegung und Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 3 GG Ausgangspunkt für die Überlegung, ob bei zusätzlicher diziplinärer Sanktion ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG vorliegt, ist der Wortlaut der Verfassungsnorm und deren Entstehungsgeschichte. Art. 103 Abs. 3 GG spricht von einer doppelten Bestrafung „aufgrund der allgemeinen Strafgesetze“. Es stellt sich mithin also die Frage, ob die anwaltsgerichtliche Sanktionierung auch unter diesen Begriff eines allgemeinen Strafgesetzes fällt. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 3 GG, so fällt auf, daß sowohl der Herrenchiemseer Verfassungskonvent als auch der Parlamentarische Rat ausdrücklich die Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 3 GG für das Gebiet des Disziplinarrechts ausschlossen und somit ein Nebeneinander von Strafe und Disziplinarmaßnahme explizit zuließen.10 Dementsprechend hat auch das BVerfG diese Parallelität gebilligt und sowohl im Bereich des Disziplinarrechts des öffentlichen Dienstes11 als auch im Disziplinarrecht der freien Berufe12 eine weitere Sanktionierung nach Strafurteil zugelassen. Kritik an dieser Rechtsprechung (und an der sich daran orientierenden h. M.) wurde v. a. deshalb laut, weil das BVerfG seine Entscheidungen maßgeblich auf die Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 3 GG stützte.13 Die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift ist „nach allen Methoden der Verfassungsinterpretation immer nur ein Hilfsgesichtspunkt“, der eine bereits vorgenommene Auslegung bestätigen und Zweifel ausräumen könne.14 Das BVerfG selbst bekräftigt diese Ansicht in anderem Zusammenhang und stellt lediglich auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers ab, der sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang ergibt, nicht aber auf „die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung.“15 Dieser Grundsatz muß selbstverständlich auch hier gelten, die subjektive Vorstellung einzelner verfassungsgebender oder gar vorberatender Organe kann nicht ausschlaggebend für die Normauslegung sein. Dennoch muß hier die Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 3 GG – wenn auch nicht allein ausschlaggebend – Beachtung finden. Denn sowohl der Verfassungskonvent als auch der 10

Vgl. JöR N.F. Bd. 1 [1951], S. 742 u. 744. Hier betreffend das Wehrdisziplinarrecht; BVerfG v. 2.5.1967 – 2 BvR 391/64, 263/66, BVerfGE 21, 379 = NJW 1967, 1651 und BVerfG v. 2.5.1967 – 2 BvL 1/66, BVerfGE 21, 391 = NJW 1967, 1654. 12 Hier betreffend das Disziplinarrecht der Ärzte; BVerfG v. 29.10.1969 – 2 BvR 545/68, NJW 1970, 507. 13 Vgl. Kreuzer, NJW 1970, 507; Fliedner, S. 242, 251. 14 So Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 251. 15 BVerfG v. 21.5.1952 – 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 301, 312. 11

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4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

zuständige Rechtspflegeausschuß des Parlamentarischen Rats waren sich einig und ließen keinen Zweifel daran, daß der Grundsatz nur für gerichtliche Strafen gelte16 und zu den „allgemeinen Strafgesetzen“ keine Sonderstrafgesetze, wie eben das Dienststrafrecht, zählen.17 Dementsprechend änderte der Rechtspflegeausschuß den insoweit mißverständlichen Wortlaut-Vorschlag des Verfassungskonvents „Niemand darf wegen derselben Tat zweimal gerichtlich verfolgt werden“ in die heute gültige Fassung um. Die Eindeutigkeit des gesetzgeberischen Willens zeigt sich auch darin, daß der Allgemeine Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rats darüber hinaus sogar die komplette Streichung des Absatzes empfahl, weil er befürchtete, „daß aus der vorgeschlagenen Fassung geschlossen werden könne, neben einer disziplinarrechtlichen Strafe sei eine kriminalrechtliche Strafe unzulässig.“18 In diesem Sinne läßt sich durchaus von einem definierten gesetzgeberischen Willen auch aufgrund der Hinzuziehung der Entstehungsgeschichte der Norm sprechen. Nichtsdestotrotz reicht diese Auslegung für sich alleine noch nicht aus, um die These der Verfassungskonformität – jedenfalls was Art. 103 Abs. 3 GG betrifft – zu untermauern. Eine weitere Auslegung ist deshalb nötig. 2. Auslegung nach dem Normzweck des Art. 103 Abs. 3 GG a) Unterschiedliche Funktion und Zielrichtung von Strafe und anwaltsgerichtlicher Maßnahme – Begriff der „allgemeinen Strafgesetze“ in Art. 103 Abs. 3 GG Schon der Herrenchiemseer Verfassungskonvent begründet die Möglichkeit des Nebeneinanders von Straf- und Disziplinarrecht damit, daß beide „ganz verschiedene Rechtsgrundlagen, dort das allgemeine Verhältnis des einzelnen zum Staat, hier ein besonderes Gewaltverhältnis“19, hätten. Auch nach herrschender Meinung sind Disziplinarrecht und Ehrenrecht kein Minus gegenüber dem kriminellen Unrecht, sie stehen vielmehr im Verhältnis des aliud zueinander.20 Begründet wird dies v. a. damit, daß Disziplinarrecht und Ehrenrecht primär Erziehungs- und Reinigungsfunktion besäßen, im Gegensatz zum Strafrecht aber nicht der Vergeltung oder der Sühne dienten.21

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JöR N.F. Bd. 1 [1951], S. 742. JöR N.F. Bd. 1 [1951], S. 744. 18 JöR N.F. Bd. 1 [1951], S. 742; vgl. auch Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 247. 19 JöR N.F. Bd. 1 [1951], S. 742. 20 Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 987; Eb. Schmidt, Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 867. 21 Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 987 m. w. N. 17

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Diese Ansicht ist aber in der Literatur nicht ohne Kritik geblieben. So wird hinsichtlich der unterschiedlichen Wirkung der jeweiligen Maßnahme dagegen argumentiert, daß sowohl die Kriminalstrafe als auch die Disziplinarmaßnahme individual- und generalpräventive Wirkung entfalten und von daher keinen Unterschied zueinander aufweisen würden.22 Dem kann zwar insoweit zugestimmt werden, daß rein formal beide Sanktionen diese Wirkungen aufweisen. Dennoch bedeuten General- und Individualprävention für den Bereich des Disziplinarrechts etwas anderes als im Strafrecht. So ist durch die Generalprävention im disziplinarrechtlichen Sinn nur der interne Kreis der jeweiligen Berufsgruppe, hier der Anwaltschaft, angesprochen.23 Im Gegensatz zur Kriminalstrafe soll aber die Allgemeinheit gerade nicht Adressat sein. Im Sinne der Reinhaltung der Anwaltschaft wird im Gegenteil ja gerade keine Warn- sondern eher eine Isolationsfunktion gegenüber der Allgemeinheit verfolgt, da Pflichtverletzungen intern geklärt werden und dadurch nach außen das Bild der Anwaltschaft unbeschädigt bleiben soll. Ebenso fehlt dem spezialpräventiven Charakter der Disziplinarmaßnahme „jede Beziehung zu den Gemeinschaftsanforderungen der allgemeinen Rechtsordnung“24: Maßstab für die Strafzumessung bei der einzelnen Pflichtverletzung ist die „gesamte innere Einstellung zu den berufsethischen Grundsätzen und Pflichten“25. Danach ist zu beurteilen, ob und in welcher Art und Weise (i. e. durch welche Sanktion) der Täter zu zukünftigem pflichtgemäßem Handeln im Rahmen seines Berufes angehalten werden kann. Mit Eb. Schmidt zu sprechen, läßt sich somit feststellen, daß sich Kriminalstrafe und Disziplinarmaßnahme hinsichtlich deren general- und individualpräventiver Wirkung zwar in den Vokabeln, nicht aber qualitativ in dem dahinter stehenden jeweiligen Sinn gleichen. Auf der anderen Seite wird aber auch die These kritisiert, dem Disziplinarrecht fehle die repressive Wirkung der Sühnefunktion. Vielmehr würde auch das Disziplinarrecht eine solche Wirkung entfalten, indem aus der Sicht des Betroffenen durch Auferlegung eines zusätzlichen Übels „in genau dieselbe Wunde“ geschnitten werde.26 Zumindest auf der unteren Ebene der disziplinarrechtlichen Sanktionen kann dies aber gerade bezweifelt werden, weil etwa die Warnung gem. § 114 Abs. 1 Nr. 1 BRAO als gewissermaßen „letzter Schuß vor den Bug“ und der Verweis 22 Vgl. Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 250; Lambrecht, S. 47 f.; AK-Hassemer, vor § 1 Rn. 364. 23 So auch Eb. Schmidt, Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 869. 24 Eb. Schmidt, Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 869. 25 Eb. Schmidt, Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 869. 26 Lambrecht, S. 50; so auch sinngemäß AK-Hassemer, vor § 1 Rn. 366.

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4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

(§ 114 Abs. 1 Nr. 2 BRAO) wenigstens in seiner praktischen Wirkung auf den Rechtsanwalt kaum repressive, sühneartige Wirkung aufweisen. Schon diese Differenzierung zur Kriminalstrafe, der „die Intention zur Sühne grundsätzlich nicht fehlen darf“27, rechtfertigt eine Unterscheidung im Ganzen.28 Aber auch die anderen anwaltsgerichtlichen Maßnahmen dienen primär den oben bereits genannten Zwecken der Ermahnung für die Zukunft und der Reinhaltung des Anwaltsstandes und nicht der Vergeltung begangenen Unrechts; hier ist in der Tat das Strafrecht gefragt. Auf irgendwelche (vielleicht sogar hypothetische) Annahmen, wie ein Betroffener möglicherweise eine solche Maßnahme empfindet, kann es aber nicht ankommen. Nach all dem Gesagten ist also davon auszugehen, daß eine zweifache Sanktionierung durch Kriminalstrafe und anwaltsgerichtliche Maßnahme im Hinblick auf die unterschiedliche Funktion der beiden Sanktionen mit Art. 103 Abs. 3 GG und dem Grundsatz ne bis in idem prinzipiell vereinbar ist. Zuletzt sei noch ein weiteres Argument gegen die Verfassungsmäßigkeit der zweifachen Sanktion erwähnt, das in diesem Zusammenhang genannt wird: Da Art. 103 Abs. 3 GG in analoger Anwendung auch für das Disziplinarrecht gilt, sei es inkonsequent, diesen nicht auch im Überschneidungsbereich von Strafund Disziplinarrecht anzuwenden.29 Dieser auf den ersten Blick logische Schluß erweist sich aber als wenig belegkräftig: Wenn für den Bereich des Disziplinarrechts zu Recht Art. 103 Abs. 3 GG analog angewendet wird, um zu vermeiden, daß ein Betroffener mehrmals disziplinarrechtlich wegen derselben Pflichtverletzung belangt wird und er dadurch innerhalb des disziplinären Bereichs geschützt wird, läßt sich daraus keine Verknüpfung zum Kriminalstrafrecht und ein Verstoß gegen das Gebot ne bis in idem bezogen auf die Querverbindung Disziplinarrecht-Strafrecht herstellen. b) Bedürfnis getrennter staatlicher Reaktion auf das jeweilige Unrecht Relevanter noch als die Betrachtung der unterschiedlichen Funktionen von Strafe und anwaltsgerichtlicher Maßnahme ist die Auseinandersetzung mit dem Zweck und den dogmatischen Grundlagen des Art. 103 Abs. 3 GG. Das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG soll als negatives Abwehrrecht des Bürgers gegenüber dem Staat das subjektive Recht des einzelnen sichern, wegen einer Tat nicht mehrmals strafrechtlich belangt zu werden.30 Es 27

Eb. Schmidt, Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 868. So auch Eb. Schmidt, Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 868. 29 So Lambrecht, S. 43; Baumann, JZ 1964, 612, 615; Kreuzer, NJW 1970, 507; für den Bereich des Wehrstraf- und -disziplinarrechts im Ansatz Hagedorn, NJW 1965, 902. 28

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hat seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip31 und soll im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 GG gewährleisten, daß der Betroffene nach Abschluß des Verfahrens auf die Endgültigkeit der Entscheidung vertrauen kann und es ihm ermöglicht wird, „einen Schlußstrich unter sein von der Rechtsordnung mißbilligtes Verhalten zu ziehen und es einmal als endgültig erledigt betrachten zu können.“32 Ansatzpunkt für die Überlegungen, ob dies hier auch gilt, ist die Frage, ob sich der einzelne auf diese Endgültigkeit auch hier verlassen darf oder vice versa ob die Abgeltung des gesamten durch die Tat des betroffenen Unrechts bereits durch das Strafverfahren stattgefunden hat. Ein Vertrauensschutz findet also nur insoweit statt, als eine Würdigung und Ahndung überhaupt möglich war. Wenn allerdings die Würdigung unter einem gewissen Aspekt im Strafverfahren nicht durchgeführt werden kann, ist die spätere Ahndung insoweit „nicht aus Gründen des von Art. 103 Abs. 3 GG gewährten Vertrauensschutzes ausgeschlossen“.33 Eine zweifache Ahndung desselben Verhaltens ist also nur dann zulässig, „wenn dasselbe Verhalten voneinander verschiedenes, eigenständiges Unrecht verwirklicht, das jeweils in dem anderen Strafverfahren einer Berücksichtigung entzogen ist.“34 Dies ist dann anzunehmen, wenn ein besonderer Rechtfertigungsgrund für eine „getrennte Reaktion auf das jeweilige Unrecht“ vorliegt.35 Für die hier zu behandelnde Problematik bedeutet dies, daß geprüft werden muß, ob und warum sich das im anwaltsgerichtlichen Verfahren abzuurteilende Unrecht von dem im Strafverfahren zu behandelnden unterscheidet. Abzustellen ist dabei auf die Schutzbereiche und Wertmaßstäbe der beiden Rechtsgebiete. Der Maßstab für das kriminelle Unrecht (und die kriminelle Schuld36) folgt aus den „allgemeinen rechtsethischen Pflichten, die Jedermann dem Ganzen der staatlichen Wertordnung gegenüber hat.“37 Sein Wesen besteht „in der Verletzung der allgemeinen Rechtsgüter, deren Aufrechterhaltung zum Schutz des Gemeinschaftslebens erforderlich ist.“38 Bezogen auf den anwaltschaftlichen Be30

Vgl. oben Kap. 4. A. I. (Fn. 6, 7). Maunz/Dürig-Schmidt/Aßmann Art. 103 Abs. III Rn. 258 ff. 32 Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 254. 33 So auch Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 261. 34 Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 263. 35 Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 265. 36 Eb. Schmidt verwendet den Begriff der jeweiligen Schuld, die ihrerseits dem jeweiligen Unrecht entspricht (Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 867), während Fliedner (AöR 99 [1974], 242, 262) die jeweilige Schuld als Vergleichsmaßstab ausscheidet, da Schuld immer unrechtsbezogen sei und daher nicht unabhängig von dem verwirklichten Unrecht die Ahndung eines Verhaltens begründe und bestimme. Im Ergebnis gehen beide aber in dieselbe Richtung. 37 Eb. Schmidt, Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 868. 31

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4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

reich bedeutet dies mit anderen Worten, daß dem Anwalt im Strafverfahren das von ihm durch sein Verhalten und seine Tat verwirklichte Unrecht abgegolten wird, das der Anwalt als Teilnehmer des Gemeinschaftslebens und aus seiner Pflicht der Allgemeinheit gegenüber verwirklicht hat. Demgegenüber besteht das Wesen des disziplinären Unrechts im anwaltsgerichtlichen Sinn darin, daß der Anwalt seine beruflichen Pflichten innerhalb und gegenüber seines Anwaltsstandes verletzt hat, die der Aufrechterhaltung und der Wahrung der Reinheit innerhalb desselben aber auch gegenüber der Allgemeinheit dienen.39 Die qualitative Eigenart des disziplinären Unrechts gründet sich also auf die „berufsethischen Treuebindungen“ und das interne Pflichtenverhältnis zwischen berufsethisch Verpflichtetem und seinem Stand.40 Dies ist also der Hauptunterschied zwischen der Behandlung desselben Verhaltens im anwaltsgerichtlichen und im Strafverfahren. Demnach stehen sich anwaltschaftliches Disziplinarrecht und Strafverfahren entsprechend ihres jeweiligen Anspruchs auf Behandlung der unterschiedlichen und spezifischen Rechtsgutsverletzungen nicht im Verhältnis des minus zum plus, sondern als aliud gegenüber. Inhaber des Strafanspruches muß demzufolge beim allgemeinen Strafverfahren auch der Staat (an sich) mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit sein. Im anwaltsgerichtlichen Verfahren hingegen ist der Anwaltsstand selbst mit der Einrichtung seiner grundsätzlich eigenen Gerichtsbarkeit Inhaber des Sanktionierungsanspruches. Dies äußert sich auch in einem größtenteils selbständigen standesinternen Verfahren41, was nicht zuletzt ein lange gehegter Wunsch der Anwaltschaft des 19. Jahrhunderts und dessen größte Errungenschaft durch die RAO von 1878 war42, auch wenn es sich bei den Anwaltsgerichten weiterhin und verfassungskonform um staatliche Gerichte handelt.43 Zusammenfassend läßt sich also die Parallelität von anwaltsgerichtlichem und Strafverfahren insbesondere aus dem jeweiligen Bedürfnis nach Sanktionierung 38

Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 266. Vgl. dazu eingehend Kap. 1. B. 40 Eb. Schmidt, Strafrecht und Disziplinarrecht, S. 861, 866; wenngleich Eb. Schmidt das Beamtendisziplinarverfahren behandelt, läßt sich dieses auf das anwaltsgerichtliche Verfahren übertragen: hier geht es um die Treuepflicht des Anwalts gegenüber seinem Stand, dort um die des Beamten gegenüber dem Staat i. S. eines besonderen Gewaltverhältnisses. 41 In erster und zweiter Instanz werden Anwaltsgerichte und Anwaltsgerichtshöfe ausschließlich (§ 94 Abs. 1 BRAO) bzw. mehrheitlich (§ 104 i. V. m. § 101 Abs. 3 BRAO) mit Rechtsanwälten besetzt. Lediglich am Senat für Anwaltssachen des BGH überwiegt die Zahl der hauptamtlichen Richter mit 4:3 (§ 106 Abs. 2 S. 1 BRAO). 42 Vgl. dazu oben Kap. 1. A. I. und 1. A. II. 43 BVerfG v. 11.6.1969 – 2 BvR 518/66, NJW 1969, 2192. 39

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unterschiedlichen Unrechts und der daraus entwickelten Konsequenz der Behandlung durch das jeweils „sachnähere“ Gericht herleiten. Eine gesonderte Ahndung ist demnach unverzichtbar.44 Oder anders gesagt: Der Staat muß den „allgemein gesellschaftlich“ vorwerfbaren Teil der vorwerfbaren Handlung im Strafverfahren behandeln und den für das anwaltliche Standesrecht relevanten Teil den (zwar staatlichen aber von der Anwaltschaft dominierten) Anwaltsgerichten überlassen. c) Auch: Konsequenz aus der Annahme eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 GG Bei Bejahung eines Verstoßes gegen das ne bis in idem würde sich im übrigen folgende Situation ergeben: Selbst der im Grundsatz unstrittige disziplinäre Überhang könnte dann wegen der Erstreckung der Rechtskraft auf das anwaltsgerichtliche Verfahren nicht mehr behandelt und beurteilt werden. Selbst eine Beurteilung nach § 115b S. 1 letzter Halbsatz BRAO wäre nicht möglich und ebenso verfassungswidrig wie § 115b S. 2 BRAO, da die Parallelsanktionierung wegen eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 GG insgesamt unmöglich wäre. Der Umkehrschluß von Lambrecht, zu fragen, ob es in der Praxis (durch die Anwendung von § 115b BRAO) überhaupt zu Doppelbestrafungen kommt und wenn ja, dann ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG vorliegt,45 kann demnach nicht überzeugen. Auch die Möglichkeit der anwaltsgerichtlichen Ahndung trotz Freispruchs im Strafverfahren (§ 118 Abs. 3)46 müßte aufgrund des dann eingetretenen Strafklageverbrauchs verneint werden. Schon aufgrund der unterschiedlichen Qualität der jeweiligen Ahndungen (der Ansatz anwaltsgerichtlicher Ahndung findet bei weit geringerem Unrechtsgrad als die Strafbarkeit statt) käme man dann zu unbilligen und den Sinn der anwaltsgerichtlichen Ahndung widersprechenden Ergebnissen: So müßte ein Anwalt, der sich (nur) einer leichten Pflichtverletzung schuldig gemacht hat, etwa mit einer Warnung sanktioniert werden, während ein anderer, der wegen eines schwereren Vergehens angeklagt wird, aus Mangel an Beweisen aber freigesprochen wird, wegen des dann eingetretenen Strafklageverbrauchs nicht einmal mehr wegen einer eventuell übrig bleibenden (ggf. wertungsmäßig höheren) anwaltsgerichtlichen (insoweit bewiesenen) „Restschuld“ belangt werden könnte.

44 Vgl. Fliedner, AöR 99 [1974], 242, 267 im Hinblick auf das Beamtendisziplinarverfahren. Er bezieht sich hierbei auf das „Sonderverhältnis öffentlicher Dienst“, welches aber auf das standesinterne Verhältnis der Anwaltschaft übertragbar ist. 45 Lambrecht, S. 55. 46 Dazu eingehend unter Kap. 4. E.

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4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Auch daran wird deutlich, daß anwaltsgerichtliche Ahndung und kriminelle Strafe nicht zwei Seiten derselben Medaille darstellen, sondern vielmehr zwei Medaillen unterschiedlicher Größe sind. d) Zwischenergebnis Festzustellen ist deshalb, daß die parallele Sanktionierung durch Straf- und Anwaltsgericht nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem des Art. 103 Abs. 3 GG verstößt. Des weiteren ist aber zu prüfen, ob durch eine (grundsätzlich zulässige) doppelte Sanktionierung ohne weitere Differenzierung und ggf. Anpassung der Sanktionen, wie etwa durch § 115b BRAO oder auch § 118 Abs. 2 BRAO, andere Verfassungsgrundsätze berührt oder verletzt sind.

II. Die Parallelsanktionierung im Lichte sonstiger Verfassungsgrundsätze Auch wenn im Grundsatz ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG nicht anzuerkennen ist, stellt sich dennoch die Frage, ob ein absolutes Nebeneinander von anwaltsgerichtlicher Maßnahme und Kriminalstrafe in bestimmten Fällen aus anderen Gründen als verfassungswidrig zu beurteilen ist. Zwar wurde bereits festgestellt, daß aufgrund unterschiedlicher Funktion und Zielrichtung47 und vor allem wegen der verschiedenen Schutzbereiche48 eine Doppelsanktionierung gerechtfertigt ist. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, daß vor allem dem Zweck der anwaltsgerichtlichen Sanktion bereits durch das vorangegangene Strafurteil Genüge getan sein kann. So wird anzunehmen sein, daß der Anwalt bereits durch das im Zusammenhang mit der anwaltschaftlichen Tätigkeit ergangene Strafurteil nicht nur im Sinne der allgemeinen Strafzwecke geläutert ist, sondern auch im Hinblick auf sein anwaltschaftliches Verhalten für die Zukunft ausreichend zur Rechtmäßigkeit angehalten wird, zumal auch schon im Strafurteil regelmäßig seine Stellung und Tätigkeit als Anwalt berücksichtigt sein wird.49 So kann im Einzelfall die „strafgerichtliche Verurteilung auch den disziplinarrechtlichen Erfordernissen gerecht“50 werden. Hierbei werden vor allem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot relevant.51 Beide haben als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang.52 Danach sind die Gerichte „verfassungsrechtlich gehalten, im 47

Vgl. soeben Kap. 4. A. I. 2. a). Vgl. soeben Kap. 4. A. I. 2. b). 49 Vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 2. 50 BVerfG v. 29.10.1969 – 2 BvR 545/68, NJW 1970, 507, 509. 51 Vgl. BVerfG v. 29.10.1969 – 2 BvR 545/68, NJW 1970, 507, 509; Kleine-Cosack § 115b Rn. 1, 7. 48

A. Die Verfassungskonformität der anwaltsgerichtlichen Ahndung

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einzelnen Fall eine gesetzlich an sich zulässige Maßnahme auch am Übermaßverbot zu messen“53. Dieses wiederum hat zum Inhalt, daß „die Mittel des Eingriffs zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet sein müssen und den einzelnen nicht übermäßig belasten dürfen.“54 Somit muß jede Sanktion „in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen.“55 Anhand dieses Maßstabes ist somit die Zulässigkeit der zweifachen Sanktion durch Straf- und Anwaltsgericht zu messen: In der Regel wird bereits die strafrechtliche Sanktion auch den durch das im anwaltsgerichtlichen Verfahren verfolgten Zielen, der Anhaltung des Rechtsanwaltes zum zukünftigen pflichtgemäßen Verhalten und der Reinhaltung des Anwaltsstandes, gerecht, so daß in diesen Fällen eine nochmalige anwaltsgerichtliche Sanktion über das Ziel hinausschießen würde und den Anwalt in der Tat übermäßig belasten würde. Auf der anderen Seite gibt es aber durchaus Konstellationen, bei denen dem anwaltsgerichtlichen Sanktionierungsbedürfnis zur Erreichung seiner Zwecke durch das Strafurteil noch nicht genug Rechnung getragen wurde und demzufolge eine anwaltsgerichtliche Ahndung zusätzlich nötig ist.56 Indiz dafür kann z. B. das Verhalten des Rechtsanwalt nach dem Strafurteil in bezug auf seine Einsichtsfähigkeit sein, etwa wenn der Rechtsanwalt zu erkennen gibt, daß er seine beruflichen Pflichten in dem durch das Strafurteil umfaßten Gebiet nicht erkennt und nicht einhalten will.57 Dies wiederum unterscheidet die hier getroffene verfassungsrechtliche Einordnung in das Verhältnismäßigkeitsprinzip von der absoluten Kollision durch den ne bis in idem-Grundsatz, der – wie ausgeführt – eine Parallelität von straf- und anwaltsgerichtlicher Sanktion von vornherein unmöglich machen würde. In Konsequenz des soeben Dargelegten hat der Gesetzgeber durch den § 115b BRAO (und in anderer Richtung § 118 Abs. 2 BRAO) eine Regelung gefunden, die einerseits dem Bedürfnis der Anwaltschaft nach eigener berufsgerichtlicher Ahndung gerecht wird und andererseits die verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen im Einzelfall auf Schutz vor tatsächlicher zweifacher Bestrafung im Auge behält.

52 Vgl. nur BVerfG v. 5.3.1968 – 1 BvR 579/67, BVerfGE 23, 127, 133 = NJW 1968, 979 m. w. N.; HK-Krehl, Einleitung Rn. 19; KK-Pfeiffer, Einleitung Rn. 30. 53 BVerfG v. 10.6.1963 – 1 BvR 790/58, BVerfGE 16, 194, 202. 54 BVerfG v. 7.4.1964 – 1 BvL 12/63, BVerfGE 17, 306, 314. 55 Prütting, AnwBl 1999, 361, 367. 56 Vgl. dazu eingehend unten Kap. 4. C. 57 Feuerich/Weyland § 115b Rn. 35 (EGH Berlin v. 13.1.1993 – II EGH 12/92, BRAK-Mitt. 1993, 176).

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Im einführenden Beispielsfall (siehe S. 85) würde das Anwaltsgericht dementsprechend wohl von einer zusätzlichen anwaltsgerichtlichen Ahndung absehen, da die Stellung des Rechtsanwalts im Strafurteil bereits entsprechend berücksichtigt wurde.

III. Zusammenfassung Als Ergebnis obiger Ausführungen läßt sich eine klare Linie erkennen, die so auch schon das BVerfG festgestellt hat58: Zunächst ist festzustellen, daß die zweifache Sanktionierung durch Straf- und Anwaltsgericht nicht gegen den in Art. 103 Abs. 3 GG normierten Grundsatz ne bis in idem verstößt. Sodann ist aber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes im Einzelfall von einer anwaltsgerichtlichen Sanktionierung abzusehen, wenn durch das vorangegangene Strafurteil den Zwecken des anwaltsgerichtlichen Verfahrens bereits Genüge getan ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot sind also keine Umschreibung des ne bis in idem59, sondern dessen notwendige60 Ergänzung zur Vermeidung unbilliger Härten zu Lasten des Betroffenen.

B. Begriffsbestimmung von „Strafe“ und „Ordnungsmaßnahme“ gem. § 115b BRAO Nach der Klarstellung, daß das Nebeneinander anwaltsgerichtlicher und sonstiger Maßnahmen i. S. d. § 115b BRAO grundsätzlich zulässig ist, muß nun geklärt werden, welche Strafen und Maßnahmen i. S. d. § 115b BRAO überhaupt in Betracht kommen, die mit den entsprechenden anwaltsgerichtlichen kollidieren, wie genau also die Begriffe Strafe, Disziplinar-, berufsgerichtliche und Ordnungsmaßnahme zu definieren sind. Dabei soll sich hier im Sinne des übergeordneten Themas der Abhandlung auf die im Strafverfahren möglichen Strafen und Maßnahmen beschränkt werden.

58 BVerfG v. 29.10.1969 – 2 BvR 545/68, NJW 1970, 507, 508 f.; krit. dazu Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 991, der in der dort aufgezeigten Linie eine Vermengung der verschiedenen Grundsätze ne bis in idem, „Verhältnismäßigkeit“ und „Übermaßverbot“ erkennen will. 59 So Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 991. 60 Deshalb läßt sich auch nur insofern von einer „Rechtswohltat“ (BVerwG v. 1.9.1981 – 1 D 90.80, BVerwGE 73, 252, 257 im Hinblick auf den entsprechenden § 14 BDO a. F.) zugunsten des Betroffenen und einer „verfassungsfreundlicheren“ (Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 2) Regelung sprechen, als der Grundsatz der Parallelität von Straf- und anwaltsgerichtlicher Sanktion in § 115b BRAO umgekehrt wird und die Parallelität und die Zulassung eines disziplinären Überhangs entsprechend der praktischen Relevanz nur als Ausnahme formuliert wird.

B. Begriffsbestimmung von „Strafe‘‘ und „Ordnungsmaßnahme‘‘

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I. Strafe Als Strafe i. S. d. § 115b BRAO gelten zunächst alle Verurteilungen zu Freiheits- oder Geldstrafe nach dem Strafgesetzbuch oder nach den strafrechtlichen Nebengesetzen.61 Auch die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB)62, die Verwarnung mit Geldauflage i. S. d. §§ 14, 15 Abs. 1 Nr. 4 JGG63 und das Absehen von Strafe (§ 60 StGB)64 sind von § 115b BRAO erfaßt. Letztgenannte Sanktionen in den Strafbegriff des § 115b BRAO zu integrieren, ist nicht unumstritten.65 Mit dem Hinweis darauf, daß diese letztlich eine „bloße Feststellung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit ohne Sanktionsfolge“66 darstellten, wird dies stellenweise abgelehnt. Dem läßt sich entgegenhalten, daß auch in diesen Fällen die Schuld des Täters festgestellt ist und eine Bestrafung deshalb grundsätzlich möglich wäre67, die Verhängung einer Sanktion aber aufgrund der Umstände nicht nötig erscheint (§ 59 StGB) oder nicht möglich68 ist (§ 60 StGB). Deshalb ist es auch hier geboten zu prüfen, ob durch das getroffene Urteil der Rechtsanwalt schon genügend zur zukünftigen Pflichterfüllung angehalten und der Anwaltsstand reingehalten wird. Auch in diesen Fällen kann deshalb von einer zusätzlichen anwaltsgerichtlichen Sanktion abzusehen sein. Insoweit ist der Maßstab und das Kriterium, ob der Rechtsanwalt durch Freiheits- oder Geldstrafe sanktioniert wurde,69 irrelevant. Einzig die Frage ist entscheidend, ob die Strafe geeignet ist, den Rechtsanwalt zur Pflichterfüllung anzuhalten und den Berufsstand reinzuhalten. Allein dies ist auch in den Fällen der §§ 59, 60 StGB denkbar und möglich.

II. Ordnungsmaßnahme Unter die in § 115b BRAO genannten Ordnungsmaßnahmen fallen nach allg. M. nur solche mit Strafcharakter. Dies folgt aus einem Vergleich mit den übri61 Vgl. nur Feuerich/Weyland § 115b Rn. 14; Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 7; zum insoweit identischen § 14 BDO a. F. (§ 14 BDG) Claussen/Janzen § 14 Rn. 3b; Köhler/Ratz-HummelHummel § 14 Rn. 19. 62 Feuerich/Weyland § 115b Rn. 14; Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 7. 63 Feuerich/Weyland § 115b Rn. 14; im Zusammenhang mit dem anwaltsgerichtlichen Verfahren ist jedoch die Anwendung des JGG kaum denkbar. 64 BVerwG v. 11.12.1990 – 1 D 13/90, BVerwGE 86, 379, 384 = NJW 1991, 2583, 2584 (zu § 14 BDO a. F.); Feuerich/Weyland § 115b Rn. 14. 65 Vgl. Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 19, siehe aber dort Rn. 20 zur analogen Anwendung. 66 Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 19. 67 Vgl. nur T/F § 59 Rn. 2; § 60 Rn. 2. 68 Sch/Sch-Stree, § 60 Rn. 2; T/F § 60 Rn. 5. 69 So andeutungsweise Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 19.

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4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

gen in § 115b BRAO genannten Strafen und Maßnahmen. Dementsprechend gehören etwa Ordnungswidrigkeiten nach dem OWiG dazu, nicht jedoch sitzungspolizeiliche Maßnahmen nach § 176 GVG, gebührenpflichtige Verwarnungen, Eintragungen in die Verkehrssünderkartei etc.70 Inwieweit es sinnvoll ist, u. a. auch letztgenannte zwar nicht unter den Begriff, dennoch aber in den Anwendungsbereich des § 115b BRAO zu fassen, wird sogleich unter Kap. 4. B. IV. zu betrachten sein.

III. Auflagen und Weisungen nach § 153a StPO und die analoge Anwendung des § 115b BRAO Auch die Auflagen und Weisungen gem. § 153a StPO sind nach allgemeiner Auffassung weder Strafen noch sonstige Maßnahmen gem. § 115b BRAO.71 Dies ist auch hier unbestritten. Da sie jedoch trotz des fehlenden Strafcharakters i. e. S. bei deren Verhängung zumindest gewisse „Opfer“ für den Betroffenen darstellen, etwa bei § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO (Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse), ist fraglich, ob eine analoge Anwendung des § 115b BRAO an dieser Stelle angezeigt ist, um einerseits einen gerechten Ausgleich zwischen allgemeinen und anwaltsgerichtlichen Sanktionen herbeizuführen und zum anderen (damit auch) dem Sinn und Zweck des § 115b BRAO zu entsprechen.72 Als Voraussetzungen für eine Analogie sind eine planwidrige Regelungslücke einerseits und eine vergleichbare Interessenslage zwischen dem Geregelten und dem analog Anzuwendenden anerkannt. 1. Planwidrige Regelungslücke Anders als in der Neufassung des § 14 BDG, wo die Einbeziehung des § 153a StPO nunmehr ausdrücklich zugelassen ist73, fehlt eine vergleichbare Regelung in § 115b BRAO. Als Grund dafür ist die simple Tatsache zu sehen, daß die Einfügung des § 115b in die BRAO74 zeitlich vor der Schaffung des § 153a StPO75 lag, mithin dieser damals noch gar nicht bekannt war. 70 Zum Ganzen vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 14; Jessnitzer/Blumberg § 115b Rn. 2; Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 7; BGH v. 25.10.1976 – AnwSt (R) 5/ 76, EGE XIV, 155, 156; BGH v. 13.11.1978 – AnwSt (R) 13/78, BGHSt 28, 174, 176 = NJW 1979, 770 = EGE XIV, 206, 207 f. m. w. N.; Aufzählung weiterer einzelner Maßnahmen bei Claussen/Janzen § 14 Rn. 3b (zu § 14 BDO a. F.). 71 Allg. M.; vgl. nur LR-Rieß § 153a Rn. 8. 72 Dazu im Zusammenhang mit § 14 BDO a. F. Köhler/Ratz (2. Aufl.) § 14 Rn. 10. 73 Dazu sogleich mehr.

B. Begriffsbestimmung von „Strafe‘‘ und „Ordnungsmaßnahme‘‘

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Entscheidend ist allerdings die Frage, ob diese Regelungslücke auch planwidrig ist. Die lange Zeit des gesetzgeberischen Nichthandelns in bezug auf eine Neuregelung des § 115b BRAO bis zum heutigen Tag76 spricht eher gegen einen gesetzgeberischen Willen zur Integration des § 153a StPO. Bezüglich des gesetzgeberischen Willens läßt sich aber dafür die Neufassung des § 14 BDO a. F., jetzt § 14 BDG, anführen, der den § 153a StPO ausdrücklich einschließt. Hier zeigt der Gesetzgeber deutlich und ausdrücklich, daß er die Wirkung des § 153a StPO auf das beamtenrechtliche Disziplinarverfahren, das bislang zumindest in der Formulierung des § 14 BDO a. F. mit § 115b BRAO inhaltlich übereinstimmte, anerkennt.77 Da eine dahingehende Änderung der BRAO i. S. d. § 14 BDG auf dem Gesetzeswege momentan nicht in Sicht ist78 und somit eine Regelungslücke vorliegt, muß weiter geprüft werden, ob eine analoge Anwendung des § 115b BRAO auf § 153a StPO nach derzeitiger Lage möglich ist. 2. Vergleichbare Interessenslage Dazu ist zu untersuchen, ob eine vergleichbare Interessenslage zwischen der anwaltsgerichtlichen „Aufrechnung“ von Strafen und Ordnungsmaßnahmen und einer solchen möglichen der Auflagen und Weisungen des § 153a StPO besteht. a) Strafcharakter der Auflagen und Weisungen? Dabei ist zunächst einmal nach dem Charakter der Auflagen und Weisungen zu fragen. Bereits die Qualifizierung als „Strafcharakter“ ist umstritten: Während BGH, der auch bislang die Einbeziehung des § 153a StPO in § 115b BRAO insgesamt verneint79, und ein überwiegender Teil der Literatur dies ablehnt80, gibt es sowohl Stimmen, die für eine derartige Einordnung – zumindest

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G. v. 13.1.1969 (BGBl. I S. 25). G. v. 2.3.1974 (BGBl. I S. 469). 76 § 115b BRAO wurde seit Schaffung des § 153a StPO auch an anderer Stelle geändert, G. v. 18.8.1976 (BGBl. I S. 2181). 77 Siehe BR-Drs. 467/00, S. 95; BT-Drs. 14/4659, S. 38; vgl. auch Köhler/RatzHummel § 14 Rn. 7. 78 So die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer vom 1.11.2002 (dortiges Az. A IV 01 zBR) zur dahingehenden Anfrage des Autors. 79 BGH v. 13.11.1978 – AnwSt (R) 13/78, BGHSt 28, 174 = NJW 1979, 770 = EGE XIV, 206. 80 Mertes, Legalitätsprinzip, S. 73, 90; Wolter, GA 1989, 397, 401; M-G § 153a Rn. 12; LR-Rieß § 153a Rn. 8; so wohl auch schon der Gesetzgeber: BT-Drs. VII/ 1261 S. 28. 75

100 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

als „strafähnlich“ – sprechen81, als auch eine Auffassung, die je nach Höhe der Auflage differenziert82. Anerkannte Voraussetzungen für den Strafcharakter einer Maßnahme sind nach dem BVerfG83 v. a., daß durch Kriminalstrafe Freiheitsentziehung zumindest möglich ist, eine Eintragung in entsprechende (Straf-)Register erfolgt und die Maßnahme vollstreckbar ist. All diese Voraussetzungen erfüllt § 153a StPO nicht, da danach weder Freiheitsentzug angeordnet werden kann, noch eine Eintragung in das Bundeszentralregister (§§ 2, 3 BZRG), nicht einmal in das Straßenverkehrsregister beim Kraftfahrtbundesamt Flensburg84 erfolgt. Weiterhin ist die Unterwerfung unter eine Auflage oder Weisung des § 153a StPO freiwillig, was nach Ansicht des BGH überhaupt im Widerspruch zum Wortlaut des § 115b BRAO („durch ein Gericht oder eine Behörde [. . .] verhängt worden“) steht85. Ob der Wortlaut aber in dieser Weise einschränkend zur Argumentation herangezogen werden kann, läßt sich bezweifeln. Schließlich ist es die Staatsanwaltschaft als Behörde i. S. d. § 115b BRAO, die die Einstellung nach § 153a StPO vornimmt86, auch wenn deren Wirksamkeit i. d. R. von der Zustimmung des Beschuldigten und deren verfahrenshindernde Wirkung von der Auflagenerfüllung abhängt. Der wohl entscheidende Aspekt, der gegen einen Straf- oder strafähnlichen Charakter spricht, ist das Fehlen der Schuldfeststellung bei § 153a StPO87 als zentrale Bedingung von Strafe.88 Mithin fehlen zentrale Voraussetzungen, die eine Einordnung des § 153a StPO als Strafe oder als Maßnahme mit Strafcharakter rechtfertigen könnten. b) Sanktioneller Charakter Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Auflagen und Weisungen im Auge des Betroffenen einen „sanktionellen Eindruck“ hinterlassen: Die Zahlung eines Geldbetrages zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse (§ 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2) stellt jedenfalls ein Übel i. S. e. Vermö81

Kausch, S. 100 ff., S. 241; Bandemer, NStZ 1988, 297, 298. Paschmanns, S. 169. 83 BVerfG v. 4.7.1967 – 2 BvL 10/62, BVerfGE 22, 125, 132; vgl. auch Mertes, Legalitätsprinzip, S. 73, 90. 84 Vgl. G. v. 28.12.1982 (BGBl. I S. 2090); KK-Schoreit § 153a Rn. 46. 85 BGH v. 13.11.1978 – AnwSt (R) 13/78, BGHSt 28, 174, 177 = NJW 1979, 770 = EGE XIV, 206. 86 Dazu nur KK-Schoreit § 153a Rn. 23 ff. 87 Vgl. BGH v. 13.11.1978 – AnwSt (R) 13/78, BGHSt 28, 174, 177 = NJW 1979, 770 = EGE XIV, 206; BT-Drs. VII/550 S. 298 und VII/1261 S. 27. 88 Vgl. nur Jarras/Pieroth, Art. 20 Rn. 71; beispielhaft BVerfG v. 26.3.1987 – 2 BvR 589/79, 740/81 und 284/85, BVerfGE 74, 358, 371. 82

B. Begriffsbestimmung von „Strafe‘‘ und „Ordnungsmaßnahme‘‘

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genseinbuße auf Seiten des Betroffenen dar. Aber auch die Erbringung sonstiger gemeinnütziger Leistungen (§ 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 3), die keine Geldleistungen darstellen (etwa die Ableistung eines sozialen Dienstes), bedeutet auf der Seite des Betroffenen einen persönlichen Einschnitt. Daran ändert auch der Hinweis nichts, daß die Maßnahmen des § 153a StPO freiwillig seien89 und insofern der Betroffene gleichsam ohne Zwang damit einverstanden sei, wenn man betrachtet, daß demjenigen, der sich dem § 153a StPO unterwirft, bei Ablehnung der Auflagen und Weisungen ein ordentliches Strafverfahren mit all seinen Belastungen und Konsequenzen „blüht“. Insbesondere bei der Betrachtung im Zusammenhang mit dem hier relevanten Verfahren von betroffenen Rechtsanwälten gewinnt der bereits im Zusammenhang mit dem Beschleunigungsverbot genannte90 Aspekt der wirtschaftlichen Belastung durch ein öffentliches Strafverfahren besonderes Gewicht. Selbst wenn am Ende eines solchen sogar die Aussicht auf einen Freispruch besteht, kann es aus wirtschaftlich-existentiellen Gründen (das Ansehen eines Anwalts gehört wohl zu den entscheidenden Kriterien der Qualitätsbewertung einer Kanzlei) opportun – wenn nicht aus der Sicht des Anwalts sogar zwingend – sein, in der Akzeptanz der Einstellung gegen Auflagen oder Weisungen den Weg des geringsten Aufsehens zu wählen. Freilich kann dem wiederum entgegengehalten werden, daß gerade dann der sanktionelle Charakter gering ist. Nichtsdestotrotz steht – Freiwilligkeit hin oder her – für den betroffenen Anwalt ein ideeller oder finanzieller Einschnitt, ein „Übel“ in Aussicht, das in der Höhe durchaus die Intensität von Geldbußen bis hin zu Geldstrafen erreicht, wenn nicht sogar übertrifft.91 Ein „sanktioneller Charakter“ der Auflagen und Weisungen des § 153a ist deshalb aus der individuellen Sicht des Betroffenen grundsätzlich zu bejahen.92 Der Wortlaut des § 153a StPO selbst unterstreicht aber auch, daß der sanktionelle Charakter auch auf der generalpräventiven Seite zum Ausdruck kommt, da Auflagen oder Weisungen in diesem Sinne nur dann in Betracht kommen, „wenn diese geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen“ (§ 153a Abs. 1 S. 1 StPO).93

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Siehe oben. Siehe oben Kap. 3. D. III. 91 Beispielhaft seien folgende Beträge genannt: Verfahren gegen Christoph Daum wegen Verstoßes gegen das BtMG – 10.000 EUR („Die Welt online“ v. 13.05.2002); Verfahren gegen Dr. Helmut Kohl wegen Untreue – 200.000 DM („Die Welt online“ v. 24.07.2000); Verfahren gegen Steffi Graf wegen Steuerhinterziehung – geschätzt zwischen 2 und 5 Mio. DM („Die Welt online“ v. 18.1.1996); dagegen gilt gem. § 17 Abs. 1 OWiG der Regelrahmen von 5 bis 1.000 EUR bei einem momentanen Höchstsatz von 1,5 Mio. EUR (§ 39 Abs. 4 WpHG). 92 So auch die neuere h. Lit., vgl. nur LR-Rieß § 153a Rn. 8 (Fn. 22 m. w. N.). 90

102 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

c) Der sanktionelle Charakter der einzelnen Auflagen und Weisungen des § 153a Abs. 1 StPO Die Einzelbetrachtung des Auflagen- und Weisungskatalogs des § 153a StPO als abschließende Beurteilung des Sanktionscharakters der Einstellung ist durch die Öffnung des Kataloges obsolet geworden.94 Deshalb müßte eine auf alle denkbaren und möglichen Auflagen und Weisungen zugeschnittene Festlegung getroffen werden, was eben aufgrund der Offenheit wohl kaum möglich sein wird. Somit wird im Ergebnis nichts anderes übrig bleiben, als im Einzelfall festzustellen, ob die jeweilige Auflage oder Weisung einen entsprechenden sanktionellen Charakter aufweist. Aufgrund der Orientierung an dem weiterhin vorhandenen Katalog des § 153a Abs. 1 S. 2 StPO und der grundsätzlichen Voraussetzung, daß auch andere Auflagen und Weisungen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigen müssen95, wird der Sanktionscharakter aber regelmäßig zu bejahen und die Tragweite der Sanktion im Rahmen der „Anrechnung“ der Auflage oder Weisung gem. § 115b BRAO zu prüfen sein. 3. Vergleichbarkeit zwischen den von § 115b BRAO umfaßten Sanktionen und den Auflagen und Weisungen des § 153a StPO Der sanktionelle Charakter der Auflagen und Weisungen nach § 153a StPO kann also zumindest von seinem Grundsatz her befürwortet werden. Dennoch muß geprüft werden, ob dies ausreicht, eine analoge Anwendung des § 115b BRAO zu rechtfertigen. Mithin ist die Frage nach der Vergleichbarkeit zwischen der vom Gesetz genannten Strafe oder Ordnungsmaßnahme und der Sanktion der Auflagen und Weisungen des § 153a StPO zu stellen. a) Beurteilung anhand des Sinns des § 115b BRAO Der Sinn des § 115b BRAO ist darin zu sehen, straf- und anwaltsgerichtliche Doppelbestrafung zu vermeiden. Dabei spielt die Frage nach der Konformität mit Art. 103 Abs. 3 GG eine untergeordnete Rolle, da die Gleichzeitigkeit von straf- und anwaltsgerichtlicher Ahndung in dieser Hinsicht als grundsätzlich zulässig erachtet wird.96 Insofern ist eine Prüfung, ob die staatsanwaltschaftliche Einstellung von Art. 103 Abs. 3 GG umfaßt wird, nicht weiter zielführend.97 93 Auf die teilweise auch verfassungsrechtliche Auseinandersetzung mit § 153a StPO soll hier verzichtet werden; vgl. dazu die bereits genannte Lit. (Fn. 80 ff.). 94 G. v. 24.4.1998 (BGBl. I 747); insofern ist der Hinweis des Gesetzesentwurfes (BT-Drs. 13/6914, S. 123) im Zusammenhang mit der Einführung des Aufbauseminars als Auflage berechtigt, daß auch diese letztlich überholt ist. 95 HK-Krehl § 153a Rn. 23.

B. Begriffsbestimmung von „Strafe‘‘ und „Ordnungsmaßnahme‘‘

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Vielmehr soll aus eher allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen grundsätzlich von anwaltsgerichtlicher Ahndung abgesehen werden, da es regelmäßig an der Notwendigkeit fehlt, noch disziplinär einzuschreiten, weil „dem Zweck des Disziplinarrechts schon durch die vorangegangene Strafe oder Ordnungsmaßnahme Genüge getan ist“, während eine zusätzliche Sanktion nur dann in Frage kommt, wenn diese nötig ist, eine „erzieherische Wirkung“ auf den Rechtsanwalt auszuüben und das Ansehen des Anwaltsstandes zu wahren.98 Dies allein muß also der Beurteilungsmaßstab sein, ob eine bestimmte außeranwaltsgerichtliche Maßnahme eine weitere anwaltsgerichtliche Sanktion hindert. Nach dem Sinn der Vorschrift und dem soeben Gesagten ist es unerheblich, ob es sich bei der Parallelsanktion um eine Strafe oder Ordnungsmaßnahme nach dem Wortlaut des § 115b BRAO handelt oder um jedwede andere Ahndung, die ihrer Zielrichtung nach einer solchen gleichkommt. So verhält es sich auch mit den Auflagen und Weisungen des § 153a StPO: Wenn es im Einzelfall oder wegen der Betrachtung als freiwillige Sanktion durchaus auch sein kann, daß diese in ihrer Wirkung in die Nähe der Ordnungswidrigkeiten rücken99, kann das nicht die Entscheidung beeinflussen, ob sie als Parallelsanktionen bei der Beurteilung im Rahmen des § 115b BRAO zu beachten sind. Es ist dann lediglich die Frage, in welchem Maße die jeweilige Vorsanktion, hier die Auflage oder Weisung, auf das anwaltsgerichtliche Ahndungsbedürfnis einwirkt. Um so deutlicher wird dies, wenn man sich die Spannweite der Sanktionen vor Augen führt, die bereits nach dem Wortlaut des § 115b BRAO eingeschlossen sind. So ist eine lebenslange Freiheitsstrafe ebenso (natürlich in anderem Maße) zu berücksichtigen wie eine Geldbuße in geringster Höhe.100 Bei einer solchen niedereren Sanktion wird der disziplinäre Überhang101, der noch Platz für eine anwaltsgerichtliche Ahndung läßt, deshalb in der Regel größer sein als etwa bei einer Strafe. b) Schluß „a majore ad minus“ Außerdem gebietet ein Schluß „a majore ad minus“ auf der Seite des Betroffenen eine entsprechende Berücksichtigung der Auflagen und Weisungen: So kann es nicht zu Lasten des Betroffenen gehen, wenn wegen seiner geringeren Schuld zu seinen Gunsten eine strafrechtliche Einstellung erfolgt, die daraus 96

Siehe dazu eingehend Kap. 4. A. I. Wohl eher abzulehnen, vgl. Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 3 Rn. 296. 98 Vgl. zum Ganzen BT-Drs. V/2848, S. 25 (in Anlehnung an § 14 BDO a. F.). 99 Vgl. Erb, Legalität, S. 243. 100 Vgl. Isele § 115b III B (S. 1392). 101 Siehe dazu eingehend unten Kap. 4. C. 97

104 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

resultierende Auflage oder Weisung dann aber nicht einer eventuell noch ausstehenden anwaltsgerichtlichen Ahndung angerechnet wird, während dem Anwalt, dessen Strafverfahren wegen der Schwere seiner Schuld nicht eingestellt und er daraufhin verurteilt wird, eine Anrechnung nach § 115b BRAO zugute kommt.102 Auch wenn der verurteilte Anwalt durch das Endurteil selbstverständlich mehr belastet ist als der, dessen Verfahren nach § 153a StPO eingestellt wird, muß aus Gleichbehandlungsgründen die Auflage oder Weisung zumindest in Relation berücksichtigt werden. 4. Zwischenergebnis Aus diesen Gründen hat sich der Gesetzgeber im Rahmen der Neuordnung des Beamtendisziplinarrechts zur Integration des § 153a StPO in den entsprechenden § 14 Abs. 1 BDG entschlossen.103 Unterstellt, der Gesetzgeber behält im übrigen seine Auffassung bei, § 115b BRAO sei dem Grunde nach mit § 14 BDG (§ 14 BDO a. F.) zu vergleichen104, sollte der durch die entsprechende Änderung im vergleichbaren Beamtendisziplinarrecht zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers zumindest insoweit berücksichtigt werden, daß die Auflagen und Weisungen des § 153a StPO in die Konfliktlösung von strafund disziplinargerichtlicher Sanktion des § 14 BDG und damit eben sinngemäß auch des § 115b BRAO aufzunehmen sind, solange eine dahingehende Gesetzesänderung der BRAO nicht in Sicht ist.

IV. Die analoge Anwendung anderer Sanktionen Sinnvoller als die in § 14 BDG getroffene „Einzelfallösung“ mit Blick auf § 153a StPO erscheint aber eine abstraktere Regelung, die einerseits den Normzweck in gleicher Weise erfüllt, andererseits aber die Option für entsprechende Anwendungsfälle offen läßt. Unter Berücksichtigung des soeben Erarbeiteten erscheint dies durchaus möglich: Sinn der Sperrwirkung des § 115b BRAO ist die Vermeidung doppelter Sanktionierung (auch wenn dies verfassungsrechtlich unproblematisch wäre), wenn durch die erste Sanktion die durch das Disziplinarrecht bezweckte Wirkung, einerseits den Betroffenen zum zukünftig pflichtgemäßen Verhalten anzuhalten und andererseits die Reinheit und das Ansehen des Berufsstandes in der Öffentlichkeit wiederherzustellen, eingetreten ist. Welche Maßnahme dies zu bewirken im Stande ist, kann dahingestellt sein und die 102 So auch (im Hinblick auf § 14 BDO a. F.) BDiszG v. 28.10.1987 – VIII VL 70/ 87, DÖV 1988, 388. 103 G. v. 9.7.2001 (BGBl. I S. 1510), S. 1513; zur Begründung vgl. BT-Drs. 14/ 4659, S. 38 (inhaltsgleich BR-Drs. 467/00). 104 Amtl. Begr. zu § 115b BRAO, BT-Drs. V/2848, S. 26.

B. Begriffsbestimmung von „Strafe‘‘ und „Ordnungsmaßnahme‘‘

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Prüfung der Voraussetzungen hierfür in das pflichtgemäße Ermessen der den § 115b BRAO anwendenden Staatsanwaltschaften und Gerichte105 gelegt werden. Sollte sich also in Folge der Neufassung des § 14 BDG eine Änderung des § 115b BRAO anbahnen, böte es sich an, eine abstrakte Regelung etwa in folgender Gestalt aufzunehmen, auch wenn nach dem hier Gesagten eine Änderung wegen der Möglichkeit der analogen Anwendung des § 115b BRAO nicht zwingend nötig erscheint: „§ 115b Anderweitige Ahndung Ist durch ein Gericht oder eine Behörde eine Maßnahme verhängt worden, die geeignet ist, den Rechtsanwalt zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und das Ansehen der Rechtsanwaltschaft zu wahren, so ist von einer anwaltsgerichtlichen Ahndung wegen desselben Verhaltens abzusehen, es sei denn zur Erfüllung dieser Zwecke ist eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Maßnahme nötig. Einer Ahndung gemäß § 114 Abs. 1 Nr. 4 oder 5 steht eine anderweitig verhängte Maßnahme nicht entgegen.“

Nach dieser Regelung wird in Satz 1 auf die konkrete Nennung von Strafe, Disziplinar-, berufsgerichtliche und Ordnungsmaßnahme sowie § 153a StPO (wie bei § 14 BDG) verzichtet und durch die allgemeine Formulierung einer den Zwecken des § 115b BRAO entsprechenden Maßnahme ersetzt. Der Grundsatz des Regel-Ausnahmeprinzips zu Gunsten des Absehens zusätzlicher anwaltsgerichtlicher Ahndung wird dabei beibehalten. Auch Satz 2 wird entsprechend der Verallgemeinerung angepaßt. Selbstverständlich wird das zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndungsbedürfnis bei geringeren (anderweitig-)gerichtlichen oder behördlichen Maßnahmen in Fällen eines Übergewichts standesinterner Interessen der disziplinäre Überhang regelmäßig zu bejahen sein106, so daß dann der genannte Vorrang des Absehens von anwaltsgerichtlicher Ahndung eher zurückstehen und in diesen Fällen ggf. das Regel-Ausnahmeprinzip zumindest in der Praxis umzukehren sein wird. Wenn allerdings dabei überhaupt von einem Problem gesprochen werden kann, dann ist dieses jedenfalls keines, das durch die hier vorgeschlagene Einbeziehung von Maßnahmen ohne Strafcharakter geschaffen wird: Im Bereich der gering gewichtigen Ordnungswidrigkeiten, also bei bestehender Rechtslage, wird man darauf bereits jetzt schon stoßen. Vielmehr bietet diese Alternative die Chance, daß unabhängig von Art, Charakter und Bezeichnung der jeweiligen Maßnahme durch die entscheidenden Institutionen Staatsanwaltschaft und Anwaltsgericht flexibel bewertet werden kann, ob und inwieweit eine zusätzliche berufsgerichtliche Sanktionierung des 105 Zur Anwendung durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 26; Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 8. 106 Siehe dazu im Einzelnen unten Kap. 4. C und 4. E.

106 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

anwaltlichen Fehlverhaltens vonnöten ist, um die Grundprinzipien anwaltsgerichtlicher Ahndung erfüllen zu können. So wäre auch im Einzelfall zu prüfen, ob die Maßnahmen, die nach den Ausführungen unter Kap. 4. B. II. nicht unter den Begriff der Ordnungsmaßnahmen gehören, doch in den Anwendungsbereich des § 115b BRAO fallen können, wobei auch hier gelten wird, daß dann der disziplinäre Überhang in der Regel als wesentlich betrachtet werden muß und somit einer anwaltsgerichtlichen Ahndung kaum im Weg stehen wird.

V. Ausländische Maßnahmen 1. Grundsatz Unbestritten ist, daß § 115b BRAO auch bei sachgleichen Strafen oder Ordnungsmaßnahmen durch ausländische Gerichte oder Behörden Anwendung finden muß.107 Diese müssen aufgrund eines rechtsstaatlichen Verfahrens zustande gekommen sein.108 Dagegen könnte eingewendet werden, daß auch Strafen und Ordnungsmaßnahmen, die nicht aufgrund eines rechtsstaatlichen, mit dem deutschen vergleichbaren Verfahren zustande gekommen sind, eine ebenso sanktionelle Wirkung auf den betroffenen Rechtsanwalt haben können, wie rechtsstaatlich zustande gekommene. Im Gegenteil ist es sogar denkbar, daß diese Sanktionen als noch härter empfunden werden, da dem Betroffenen der rechtsstaatlich gewährleistete Rechtsweg abgeschnitten wird. Dagegen erheben sich aber in zweifacher Hinsicht Bedenken: Zum einen kommt es bei der Beurteilung, ob die anderweitige Maßnahme die Wirkung hat, daß der Rechtsanwalt zukünftig zu standesgemäßem Verhalten angehalten wird, nicht in erster Linie auf die Intensität des Eingriffs an, sondern auf die Frage, ob die Maßnahme für sich geeignet war, den Rechtsanwalt „auf den rechten Weg zurückzubringen“. Dies erfüllt eine nicht nach Rechtsstaatsprinzipien zustande gekommene Strafe oder Ordnungsmaßnahme gerade nicht, da sie sich für den Betroffenen im Einzelfall zwar als belastend, aus rechtsstaatlicher Sicht niemals aber als akzeptabel darstellen wird. Zum anderen geht eine nicht nach Rechtsstaatsprinzipien zustande gekommene Maßnahme im Hinblick auf den zweiten Zweck anwaltlicher Sanktion völlig fehl: Sie ist nämlich keinesfalls geeignet, das Ansehen der Rechtsanwaltschaft wieder herzustellen. Deshalb ist es sinnvoll, ausländische Maßnahmen auf rechtsstaatlich zustande gekommene zu beschränken. 107 Vgl. nur Feuerich/Weyland § 115b Rn. 16 m. Verw. auf BVerwG v. 1.9.1981 – 1 D 90.80, BVerwGE 73, 252; Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 7; Kleine/Cosack § 115b Rn. 5. 108 Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 7; Kleine/Cosack § 115b Rn. 5.

B. Begriffsbestimmung von „Strafe‘‘ und „Ordnungsmaßnahme‘‘

107

Nicht rechtsstaatlich zustande gekommene ausländische Maßnahmen können, verglichen mit rechtsstaatlichen, im Einzelfall gleich starke, wenn nicht sogar – gerade aufgrund ihres Defizits an Rechtsstaatlichkeit – erheblich größere sanktionelle Wirkungen auf den betroffenen Rechtsanwalt ausstrahlen. Deshalb gebietet es der Rechtsstaatsgrundsatz und insbesondere das Gerechtigkeits- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip, daß solche Maßnahmen ungeachtet der Tatsache, daß diese nicht im Rahmen des § 115b BRAO berücksichtigt werden, zumindest auf der Ebene der Maßnahmenzumessung einbezogen werden. In Frage käme hierbei die Anwendung des Rechtsgedankens des § 60 StGB, nach dem ein Absehen von Sanktionierung möglich ist, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben eine Sanktionierung für verfehlt erscheinen lassen. Dieser Rechtsgedanke greift auch dann, wenn die Folgen der Tat zwar schwer wiegen, eine Sanktionierung aber dennoch weiterhin in Frage kommt und so die Sanktion entsprechend gemindert werden muß.109 Auch mittelbare Folgen der Straftat können dabei Berücksichtigung finden.110 Aus rechtsstaatlicher Sicht müssen dementsprechend Sanktionen, die nicht auf einem rechtsstaatlichen Verfahren beruhen und damit als mittelbare Folge der Tat bezeichnet werden können, bei der Maßnahmenzumessung nach dem Rechtsgedanken des § 60 StGB berücksichtigt werden. In Fortsetzung der oben behandelten Problematik der Beschränkung auf die in § 115b BRAO genannten Maßnahmen ergibt sich bei der Betrachtung ausländischer Maßnahmen aber noch eine weitere Schwierigkeit: Aufgrund der Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtssystemen kann im Einzelfall die Abgrenzung, ob es sich bei der ausländischen Maßnahme um eine Strafe oder Maßnahme i. S. d. § 115b BRAO handelt, schwierig sein, da die Grenzziehungen und Voraussetzungen, die in anderen Staaten an den Begriff „Strafe“ gestellt werden, vielleicht ganz anders als im deutschen Rechtssystem sind. Eine (zurecht) bejahte Anwendung ausländischer Sanktionen läuft jetzt schon auf eine Auslegung und analoge Anwendung des § 115b BRAO hinaus, da sich eine exakte Beurteilung nach den Begriffen „Strafe“, „Disziplinarmaßnahme“, „berufsgerichtliche Maßnahme“ und „Ordnungsmaßnahme“ schon aufgrund unterschiedlicher Rechtssystematik und möglicher Übersetzungsschwierigkeiten als ungeeignet darstellen wird. Als Maßstab wird hier – anders als bei anderweitigen inländischen Maßnahmen – wiederum lediglich der Zweck der disziplinären Ahndung und die Beurteilung, ob die ausländische Strafe diesen Zweck erfüllt, gewählt.111 109 Vgl. LK-Hirsch § 60 Rn. 44; Sch/Sch-Stree § 60 Rn. 12; T/F § 60 Rn. 7; Schäfer FS Tröndle, S. 395, 401; Zipf, JR 1975, 162, 164. 110 Lackner/Kühl § 60 Rn. 2; Sch/Sch-Stree § 60 Rn. 6; Schäfer FS Tröndle, S. 395, 401. 111 BVerwG v. 1.9.1981 – 1 D 90.80, BVerwGE 73, 252, 256.

108 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Auch deshalb bietet die hier vertretene Ansicht der Verallgemeinerung des Maßnahmenbegriffs und der Konzentration auf den Zweck der disziplinären Ahndung die Möglichkeit, auch im Hinblick auf ausländische Maßnahmen eine ausgewogene und gerechte Lösung zu bieten und insgesamt betrachtet eine für alle Formen in- und ausländischer sanktionierender Maßnahmen einheitliche Regelung zu treffen. 2. Beschränkung durch gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen? Die oben bereits behandelte112 innerstaatliche Problematik des Grundsatzes ne bis in idem gewinnt durch den fortschreitenden europäischen Einigungsprozeß und die zunehmende Globalisierung einen weiteren internationalen Aspekt. So ist der Grundsatz des Doppelbestrafungsverbotes „in den letzten dreißig Jahren im Völker- und Europarecht in immer weiterem Umfang anerkannt worden.“113 Dennoch galten die zwischenstaatlichen ne bis in idem-Regelungen lange Zeit wohl aufgrund der einzelstaatlichen Sorge um Souveränitätsverlust114 „als Ausnahme zu dem Regelfall einer vollkommen unabhängigen staatlichen Bestimmung von Jurisdiktion“115. a) Relevante Bestimmungen Auf europäischer Ebene wurde deshalb erst in jüngerer Vergangenheit der Grundsatz des Doppelbestrafungsverbotes auch zwischen den Vertragsstaaten als Regel festgeschrieben. Es sind dies insbesondere folgende Vorschriften: 1. Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.6.1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den Grenzen vom 19.6.1990 (SDÜ)116, 2. Art. 1 des Übereinkommens über das Verbot der doppelten Strafverfolgung vom 25.5.1987 (ÜVDS)117, 3. Art. 7 Abs. 1 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 27.11.1995118,

112 113 114 115 116 117 118

Kap. 4. A. I. Specht, S. 116. Vgl. Specht, S. 117. Specht, S. 119. BGBl. 1993 II, S. 1010. BGBl. 1998 II, S. 2226. Abl. EG C 316.

B. Begriffsbestimmung von „Strafe‘‘ und „Ordnungsmaßnahme‘‘

109

4. Art. 10 Abs. 1 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 Absatz 2 Buchstabe c) des Vertrags über die Europäische Union über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind, vom 25.6. 1997119. b) Vergleichbarkeit der Vorschriften Da Art. 54 SDÜ mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages zum 1.5.1999 in Gemeinschaftsrecht überführt ist120, ist dieser europarechtlich auszulegen121, anders als die unter den Nrn. 2 bis 4 genannten Bestimmungen, für die ein völkerrechtlicher Ansatz zu wählen ist122. Aufgrund des inhaltsgleichen Wortlautes und der engen Verbindung der jeweiligen Übereinkommen zu den Europäischen Gemeinschaften (sämtliche betreffen nur Staaten der EG) ist deren Schutzwirkung jedoch mit der des Art. 54 SDÜ vergleichbar123, so daß sich die Betrachtung im folgenden auf Art. 54 SDÜ stellvertretend für alle anderen konzentrieren kann. Art. 54 SDÜ: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, daß im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

Die zukünftige Verfassung der Europäischen Union wird den Rechtsgedanken des Art. 54 SDÜ übernehmen und in Art. II-50124 das Verbot der doppelten strafrechtlichen Verfolgung garantieren. Im folgenden werden die Ausführungen zunächst zwar noch auf den bereits geltenden Art. 54 SDÜ gestützt, diese werden aber wohl in entsprechender Weise auf die zukünftige Verfassungsbestimmung anwendbar sein.

119

Abl. EG C 195. Plöckinger/Leidenmühler, wistra 2003, 81, 88; zu den Einzelheiten diesbezüglich vgl. Specht, S. 124 dort Fn. 318. 121 Specht, S. 125. 122 Vgl. Specht, S. 177. 123 Vgl. Specht, S. 178. 124 Nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages des Europäischen Konventes nach Übermittlung an den Europäischen Rat, korrigierter Text v. 4.7.2003, für die Plenartagung in Thessaloniki am 13.6.2003 (CONV 820/3/03 REV 3), http://register. consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00820-re03de03.pdf, S. 60. 120

110 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

c) Art. 54 SDÜ als Doppelbestrafungsverbot für das anwaltsgerichtliche Verfahren? Abgesehen von den hier nicht zu behandelnden Problemen, die sich im Rahmen der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale ergeben125, stellt sich im Zusammenhang mit der Kollision von ausländischem Strafverfahren und deutschem anwaltsgerichtlichem Verfahren die Frage, ob Art. 54 SDÜ anders und weitergehender als Art. 103 Abs. 3 GG nicht nur weitere Strafverfahren, sondern auch andere sanktionierende Verfahren hindert, wie etwa das anwaltsgerichtliche Verfahren in gleicher Sache. Während Art. 103 Abs. 3 GG, wie oben dargestellt126, Strafverfahren und Disziplinarverfahren wegen ihres unterschiedlichen Schutzzweckes, der unterschiedlichen Richtung und dem voneinander zu trennenden Bedürfnis nach jeweiliger Sanktion nebeneinander zuläßt und das Doppelbestrafungsverbot schon in seinem Wortlaut („aufgrund der allgemeinen Strafgesetze“) auf kollidierende Straf- (und vergleichbare) Verfahren beschränkt, geht dies zumindest aus dem Wortlaut des Art. 54 SDÜ, der ganz allgemein von einem Verfolgungsverbot nach vorheriger fremdstaatlicher Aburteilung spricht, eine solche Differenzierung nicht hervor. d) Auslegung des Art. 54 SDÜ Es bedarf deshalb einer Auslegung des Art. 54 SDÜ dahingehend, ob das Verfolgungsverbot für sämtliche staatliche Verfahren gilt, gleich ob in Strafoder Disziplinarsachen, oder ob auch hier – ähnlich wie bei Art. 103 Abs. 3 GG – nach Art und Zielrichtung differenziert werden muß. Auf die übrigen Fragen der Auslegung, insbesondere auf die Unterschiede zwischen europa- und völkerrechtlicher Auslegung und auf die sonstigen Tatbestandsmerkmale des Art. 54 SDÜ soll in diesem Zusammenhang verzichtet werden.127 Das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.6.1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den Grenzen vom 19.6.1990 (SDÜ)128 folgt dem Ziel, die Kontrollen an den Binnengrenzen abzuschaffen und den Warenverkehrs zu erleichtern.129 Dies soll durch 125 Vgl. dazu eingehend Specht, S. 129 ff.; zur Frage der Anwendbarkeit auf nichtgerichtliche, insb. staatsanwaltschaftliche (Einstellungs-)Entscheidungen vgl. jüngst EuGH v. 11.2.2003 – C-187/01 u. C-385/01, NJW 2003, 1173 = wistra 2003, 137 = StV 2003, 201 m. Anm. Stein NJW 2003, 1162; s. a. Plöckinger/Leidenmühler wistra 2003, 81. 126 Kap. 4. A. I. 127 Siehe hierzu eingehend Specht, S. 119 ff. 128 BGBl. 1993 II, S. 1010.

B. Begriffsbestimmung von „Strafe‘‘ und „Ordnungsmaßnahme‘‘

111

„eine Reihe von geeigneten Maßnahmen“130 erreicht werden. Art. 54 SDÜ dient in diesem Zusammenhang zum einen der Effizienzsteigerung der Verwaltungstätigkeit in den Vertragsparteien131, da hierdurch eine mehrfache Strafverfolgung vermieden wird. Zum anderen und wesentlich bedeutsamer in diesem Kontext ist der Gedanke, daß die verstärkte Zusammenarbeit der Vertragsparteien auch in der staatenübergreifenden Verfolgung von Straftaten (Titel III, Kapitel 1, Art. 39 ff. SDÜ) und die Rechtshilfe in Strafsachen (Titel III, Kapitel 2, Art. 48 ff. SDÜ) gleichzeitig einen effektiveren Rechtsschutz des Unionsbürgers vor Bestrafung durch mehrere Vertragsstaaten fordern.132 Hieraus läßt sich erkennen, daß es den Vertragsparteien bei Vereinbarung der Bestimmungen darum ging, mehrere Strafverfahren in gleicher Sache zu vermeiden. Aus einer Zusammenschau der Regelungen über die Zusammenarbeit der Polizei (Titel III, Art. 39 ff. SDÜ) läßt sich dieser Gedanke der Beschränkung auf Strafverfahren auch herleiten, da hier durchgängig von „Strafverfahren“ (Art. 39 Abs. 2), „Straftat“ (Art. 40, 41), „Strafverfolgung“ (Art. 45, 49, 50 Abs. 3, 53 Abs. 5, 61) etc. die Rede ist. Dies deutet zumindest darauf hin, daß die Vertragsparteien bei der ne bis in idem-Regelung des Art. 54 SDÜ, die im selben Kapitel zu finden ist, nur auf vergleichbare Strafverfahren, nicht aber auf Verfahren anderen Zwecks und anderer Zielrichtung abgestellt hatten.133 Auch das „Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen“134, das als Leitlinie zur unionsweiten Umsetzung der genannten Ziele gedacht ist, geht in Punkt 1.1. (Verbot der doppelten Strafverfolgung) in Anknüpfung an Art. 54 ff. SDÜ von der Vermeidung der Infragestellung einer ergangenen rechtskräftigen Verurteilung in einer Strafsache durch einen anderen Mitgliedsstaat aus.135 In gleicher Weise soll dies auch ausdrücklich für Art. II-50 der Europäischen Verfassung gelten.136 129

So aus der Präambel, 3. Absatz, BGBl. 1993 II, S. 1013. Präambel, letzter Absatz, BGBl. 1993 II, S. 1014. 131 Vgl. Specht, S. 148. 132 Siehe dazu eingehend Specht, S. 149 f. 133 Zur Unterscheidung von Zweck und Zielrichtung zwischen Strafverfahren und anwaltsgerichtlichem Verfahren siehe oben Kap. 4. A. I. 2. 134 Abl. EG C 12 v. 15.1.2001, S. 10. 135 Abl. EG C 12 v. 15.1.2001, S. 12; ebenso wird in der Literatur im Zusammenhang mit Art. 54 SDÜ (zumeist ohne nähere Begründung) durchgängig auf konkurrierende Strafverfahren, Strafverfolgung, Strafklageverbrauch etc. Bezug genommen; vgl. etwa Radtke/Busch, NStZ 2003, 281; Bohnert/Lagodny, NStZ 2000, 636; Schomburg, NJW 2000, 1833. 136 Siehe Aktualisierte Erläuterungen zum Text der Charta der Grundrechte, CONV 828/03 v. 9.7.2003, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00828de03.pdf, S. 45. 130

112 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Dementsprechend hat der Generalanwalt Dámaso Ruíz-Jarabo Colomer in seinen Schlußanträgen zum Vorabentscheidungsverfahren Gözütok und Brügge137 vom 19.9.2002 ausgeführt: „Nach diesem [ne bis in idem] Rechtsgrundsatz ist es untersagt, dass jemand zum Schutz der gleichen Rechtsgüter [. . .] mehr als einmal strafrechtlich verfolgt und gegebenenfalls bestraft wird“.138 Daraus folgt weiter: „Nach der klassischen Formulierung des Ne-bis-in-idem-Prinzips muss Identität in drei Punkten bestehen: derselbe Sachverhalt, ein einziger Täter und ein einziges geschütztes Rechtsgut – ein und derselbe Wert, der geschützt ist. Entscheidend ist [. . .], dass – unabhängig von der Person, die die Sanktionsgewalt ausübt – für die Entscheidung, ob eine Handlung mehrfach bestraft werden kann, geprüft werden muss, ob mit den verschiedenen Sanktionen dieselben Rechtsgüter geschützt werden sollen oder ob es sich um verschiedene Rechtsgüter handelt.“139 So wird für die Konkurrenz zwischen Bußgeld- und Strafverfahren eine Sperre durch Art. 54 SDÜ abgelehnt. Anknüpfungspunkt dafür ist die Überlegung, daß das Vorliegen eines behördlichen Bußgeldbescheides140 auch innerhalb Deutschlands wegen derselben Tat nicht vor Strafverfolgung schützt und somit keine innerstaatliche Erledigungswirkung ausstrahlt. Dies begründet sodann aufgrund der Bezugnahme des Art. 54 SDÜ auf die Erledigungswirkung auch kein zwischenstaatliches Verfolgungshindernis.141 Bei der hier interessierenden, aus dem soeben Dargelegten folgenden Frage, ob durch Strafverfahren und anwaltsgerichtliches Disziplinarverfahren dieselben oder verschiedene Rechtsgüter geschützt werden sollen, kann auf die Ausführungen zum ne bis in idem-Prinzip bei Art. 103 Abs. 3 GG (Kap. 4. A. I. 2.) verwiesen werden. Danach werden in der Tat unterschiedliche Rechtsgüter geschützt, was im europarechtlichen Zusammenhang also ebenso wie national zum Ergebnis führt, daß Art. 54 SDÜ (wie auch die anderen oben genannten Regelungen) eine nochmalige anwaltsgerichtliche Ahndung nicht grundsätzlich hindern. Dies ergibt sich ebenso aus der im Zusammenhang mit dem Konkurrenzverhältnis Strafprozeß – Bußgeldverfahren erwähnten verfahrensrechtlichen Überlegung, daß das anwaltsgerichtliche Verfahren – ebenso wie das Bußgeld-

137

Az. EuGH C-187/01 und C-385/01. Schlußanträge v. 19.9.2002 – C-187/01 u. C-385/01, Nr. 48 (Hervorhebungen nicht im Original). 139 Schlußanträge v. 19.9.2002 – C-187/01 u. C-385/01, Nr. 56 (Hervorhebungen nicht im Original); vgl. dazu auch schon EuGH v. 18.11.1987 – 137/85, Nr. 21 ff., der auf den unterschiedlichen Zweck und unterschiedliche Zielrichtungen der Sanktionen (dort: Kautionen) abstellt. 140 Hiervon zu unterscheiden ist das rechtskräftige Urteil über die Tat als Ordnungswidrigkeit, das gem. § 84 Abs. 2 OWiG die Strafverfolgung hindert. 141 Vgl. zum Ganzen Hecker, StV 2001, 306, 310; ähnlich, für eine „allseitige Rechtskraftwirkung“ Lagodny, NStZ 1997, 265 f. 138

C. Gründe für eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung

113

verfahren innerstaatlich keine Bindung für das Strafverfahren bewirken. Somit kann diese Erledigungswirkung auch nicht im Sinne des Art. 54 SDÜ greifen. Entsprechend den Ausführung zu der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 115b BRAO auf ausländische Maßnahmen (s. o. Kap. 4. B. V. 1.) bleibt es also dabei, daß anwaltsgerichtliche Maßnahmen auch im Verhältnis zu Strafsanktionen von Mitgliedsstaaten der EU zulässig sind, diese allerdings entsprechend ihrer Wirkung auf die anwaltsgerichtliche Maßnahme anzurechnen sind.142

C. Gründe für eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung (positiver disziplinärer Überhang, § 115b BRAO) Nachdem die Verfassungskonformität der Parallelsanktionierung und die Anwendbarkeit der Vorschrift des § 115b BRAO aufgezeigt wurde, sollen nun die Gründe erörtert werden, wann und warum trotz der soeben festgestellten grundsätzlichen Möglichkeit zweifacher Sanktion von anwaltsgerichtlicher Sanktionierung abzusehen ist und in welchen Fällen ein positiver disziplinärer Überhang verbleibt. Wie bereits erörtert, wird durch § 115b BRAO der Grundsatz der Parallelahndung im Straf- und im anwaltsgerichtlichen Verfahren umgekehrt und zur Ausnahme143 gewandelt: Demnach ist grundsätzlich von anwaltsgerichtlicher Ahndung abzusehen. Die anderweitige Ahndung steht dieser in aller Regel im Wege144, es sei denn, eine entsprechende Maßnahme ist zusätzlich erforderlich, um die Ziele des anwaltsgerichtlichen Verfahrens zu erreichen. Umgekehrt bedeutet dies: Nur dann, wenn der Anwalt nicht schon durch die anderweitige Ahndung145 ausreichend zur Erfüllung seiner Pflichten angehalten und das Ansehen der Rechtsanwaltschaft gewahrt wird, ist zusätzlich ein anwaltsgerichtliches Verfahren zulässig.146 Dabei ist zu verlangen, daß beide Voraussetzungen – unzureichende Pflichtermahnung und ungenügende Wahrung des Ansehens der Anwaltschaft – kumulativ gegeben sein müssen.147 Ansonsten besteht die Gefahr, daß ein „voreiliger Rekurs“ etwa auf das Merkmal der An142 Anders – wegen des damals noch nicht geltenden Art. 54 SDÜ – noch Brangsch, NJW 1981, 1177, 1179. 143 Vgl. Kleine-Cosack § 115b Rn. 8. 144 Vgl. nur Feuerich/Weyland § 115b Rn. 5, 17. 145 Im Hinblick auf das Thema der Arbeit beschränkt sich die Betrachtung auf die Parallelität mit der kriminellen Strafe. 146 Vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 30. 147 So schon im Hinblick auf den Wortlaut des § 115b BRAO zutreffend EGH Hamm v. 19.10.1982 – 6 EVY 4/82, BRAK-Mitt. 1983, 96, 97; Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 993; Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 10.

114 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

sehenswahrung des Standes zu einem „nicht mehr vertretbaren Automatismus“148 führen würde. Beispiel: Der Präsident der Anwaltskammer veruntreut in seiner rechtsanwaltschaftlichen Tätigkeit Mandantengelder und wird wegen Untreue strafgerichtlich verurteilt. Dabei wird seine Stellung als Rechtsanwalt im Rahmen der Strafzumessung ebenso berücksichtigt, wie ein Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46a StGB), da der Rechtsanwalt den betroffenen Mandanten vollständig entschädigt hat.

Hier darf eine anwaltsgerichtliche Verurteilung nicht alleine darauf gestützt werden, daß der Rechtsanwalt Kammerpräsident ist und deshalb das Ansehen der Rechtsanwaltschaft erheblich gefährdet ist. Die Tatsache, daß seine berufliche Stellung im Strafurteil berücksichtigt ist und der Anwalt das Opfer bereits entschädigt hat, zeigt vielmehr, daß der Zweck, den Anwalt zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten, wohl bereits durch das Strafverfahren erfüllt ist.

I. Die Beurteilung des disziplinären Überhangs Die Beurteilung, welches Verhalten Anlaß gibt, im Sinne der vorgenannten Ziele eine zusätzliche Maßnahme zu verhängen, wird im Einzelfall nicht leicht zu vollziehen sein. Objektive Kriterien für die beiden Tatbestandsmerkmale der Voraussetzung eines disziplinären Überhangs „sind nur schwer faßbar“149. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, diese Voraussetzungen etwas einzugrenzen. 1. Beurteilung anhand der vorherigen unzureichenden Pflichtenmahnung Nach § 115b BRAO ist die eine Voraussetzung einer zusätzlichen anwaltsgerichtlichen Ahndung das Erfordernis, den Rechtsanwalt zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. Dieses Kriterium orientiert sich also subjektiv an der Person des Rechtsanwalts, an dessen Persönlichkeitsbild150. Danach kann nicht darauf abgestellt werden, ob eine anwaltsgerichtlichen Maßnahme neben einer kriminellen Strafe abstrakt zusätzlich geeignet und nötig ist, um einen Rechtsanwalt zum künftig pflichtgemäßen Handeln anzuhalten. Vielmehr muß nach der konkreten Betroffenheit des Rechtsanwalts gefragt werden. Es muß demnach geprüft werden, ob die vorherige Maßnahme im konkreten Fall den Rechtsanwalt bereits ausreichend ermahnen konnte oder ob es zusätzlicher anwaltsgerichtlicher Sanktion bedarf. 148 149 150

Kleine-Cosack § 115b Rn. 8. Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 995. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 31.

C. Gründe für eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung

115

Als (einigermaßen) objektivierbar ist dabei das Kriterium der Strafzumessung im kriminellen Verfahren anzusehen: Wenn bereits im Strafverfahren die Tatsache, daß der Verurteilte als Rechtsanwalt und Organ der Rechtspflege gehandelt hat und deshalb von ihm „eine besondere Rechtstreue und kein rechtsfeindliches Verhalten zu erwarten ist“151, erschwerend ins Gewicht fällt, wird die Notwendigkeit einer zusätzlichen anwaltsgerichtlichen Maßnahme geschmälert152, da grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, daß der Rechtsanwalt dann auch im Sinne des Berufsrechts ausreichend geläutert wurde. Insbesondere muß dies dann gelten, wenn durch die Tatsache, daß der Angeklagte Rechtsanwalt ist, Möglichkeiten der Strafmilderung oder etwa die Aussetzung zur Bewährung153 durch das Strafgericht nicht mehr ergriffen werden. Beispiel: Weil sich der Rechtsanwalt über einen Zeugen ärgert, der zuungunsten seines Mandanten aussagt, verpaßt der Anwalt dem Zeugen noch im Gerichtssaal eine Ohrfeige. Der Rechtsanwalt wird daraufhin wegen einfacher Körperverletzung verurteilt. Aufgrund seiner anwaltlichen Stellung und der Gerichtssituation wird statt einer der Schwere der Verletzung entsprechenden Geldstrafe eine Freiheitsstrafe verhängt. Hier kann eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung wegen § 115b BRAO entfallen.

Andererseits kann aber auch die Erwägung des Strafgerichts zu Gunsten des Betroffenen, der Rechtsanwalt habe im Anschluß noch ein anwaltsgerichtliches Verfahren zu erwarten, erschwerend hinzukommen und die Notwendigkeit einer zusätzlichen Ahndung erhöhen154 oder diese sogar fordern, da in diesem Fall bereits das Strafgericht deutlich gemacht hat, daß der berufsgerichtliche Gehalt der Tat noch nicht verbraucht ist155, eine Ermahnung des Rechtsanwalts insoweit also noch nicht stattgefunden hat. Letztlich haben aber diese Strafzumessungskriterien doch nur Indizwirkung156, denn primär ist auf die konkret-subjektive Wirkung der vorausgegangenen Maßnahme und deren Konsequenz für die „Anrechnung“ zum anwaltsgerichtlichen Vorwurf abzustellen. So kann einerseits der Rechtsanwalt trotz der Berücksichtigung seiner beruflichen Stellung und des daraus resultierenden höheren Strafmaßes im Anschluß an das Strafverfahren zeigen, daß er (auch) im Hinblick auf die berufsdisziplinäre Konsequenz aus dem Strafurteil nicht „dazugelernt“ hat. Dies ist beispiels151

Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 10. Vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 32; Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 10. 153 Vgl. Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 995. 154 Vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 32. 155 Vgl. AnwG München v. 23.3.1995 – 1 AG 45/94, BRAK-Mitt. 1995, 171, 172; Feuerich/Weyland § 115b Rn. 32. 156 In dieser Richtung EGH Stuttgart v. 20.5.1978 – EGH 47/77 (I), EGE XIV, 252. 152

116 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

weise dann anzunehmen, wenn der Rechtsanwalt im anschließenden anwaltsgerichtlichen Verfahren zu den Vorwürfen, wegen der er bereits strafgerichtlich verurteilt wurde, weder Stellung nimmt noch sein Verhalten erklärt noch verständlich macht. Dadurch macht er deutlich, daß er seine beruflichen Pflichten trotz Strafurteil noch nicht erkannt hat und sie deshalb auch nicht einhalten wird.157 Eine mögliche Ablehnung seiner beruflichen Pflichten durch den Anwalt kommt auch z. B. dadurch zum Ausdruck, daß der Rechtsanwalt bereits wiederholt gegen auch standesrechtlich relevante Pflichten verstoßen hat, ohne bislang anwaltsgerichtlich belangt worden zu sein.158 Beispiel: Ein Strafverteidiger hat in einer Hauptverhandlung den Staatsanwalt beleidigt und ist deshalb wegen § 185 StGB verurteilt worden. Von einer anwaltsgerichtlichen Ahndung wurde wegen § 115b BRAO abgesehen. Bei einer erneuten Beleidigung kann nunmehr angenommen werden, daß der Rechtsanwalt durch das Strafurteil nicht genügend zur Erfüllung seiner Pflichten angehalten ist.

Andererseits kann sich im anwaltsgerichtlichen (Folge-)Verfahren trotz expliziter Nichtberücksichtigung der beruflichen Stellung im vorausgegangenen Urteil (s. o.) herausstellen, daß der Rechtsanwalt einsichtsfähig ist und bereits durch das Strafurteil entsprechend zu pflichtgemäßem Verhalten angehalten wurde. Denkbares Beispiel hierfür wäre etwa, daß der Rechtsanwalt weitere Schritte zur Wiedergutmachung und Opferentschädigung unternimmt, die über das im Strafurteil Angeordnete hinausgehen. Dann wäre eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung sicherlich unzulässig. a) Fallgruppen bei berufsinternen Pflichtverletzungen Trotz notwendiger individueller Betrachtung lassen sich Fallgruppen bestimmen, bei denen in der Regel eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Sanktion nötig ist: Insbesondere bei Verfehlungen, die im Rahmen der Berufsausübung gegenüber anderen Organen der Rechtsordnung begangen werden, wird ein disziplinärer Überhang meist zu bejahen sein, da hier der berufsrechtliche Unrechtsgehalt besonders hoch ist und erheblich ins Gewicht fällt, etwa bei übler Nachrede oder Verleumdung bezüglich eines Richters oder seiner Tätigkeit159, so daß hier grundsätzlich anzunehmen ist, daß der Rechtsanwalt nur durch eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Sanktion zur Einhaltung der beruflichen Pflichten angehalten werden kann. 157 EGH Berlin v. 13.1.1993 – II EGH 12/92, BRAK-Mitt. 1993, 176; Feuerich/ Weyland § 115b Rn. 35. 158 So im Falle einer dritten strafgerichtlichen Verurteilung wegen Trunkenheitsfahrt, EG Hamburg v. 1.12.1986 – I 33/86, BRAK-Mitt. 1987, 98; Jessnitzer/Blumberg § 115b Rn. 4. 159 EGH München v. 29.11.1988 – BayEGH II – 9/88; EGH München v. 20.11. 1990 – BayEGH II – 9/90.

C. Gründe für eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung

117

Relevant sind hierbei erhebliche Verletzungen gegen die Rechtsordnung im Rahmen oder in Verbindung mit anwaltschaftlicher Tätigkeit: So erfordert die Beihilfe zu einer Straftat (etwa zum unerlaubten Aufenthalt im Bundesgebiet160) regelmäßig eine weitere berufsgerichtliche Ahndung. Als standesrechtlich besonders verwerflich und deshalb in der Regel zusätzlich anwaltsgerichtlich zu verfolgen sieht die ehren-/anwaltsgerichtliche Rechtsprechung Verstöße gegen die Wahrheitspflicht an, egal ob innerhalb oder außerhalb der eigentlichen beruflichen Tätigkeit (also gleichgültig ob für einen Mandanten oder für sich selbst), insbesondere bei Wiederholung.161 Dies wird zurecht darauf begründet, daß mit der Verletzung der Wahrheitspflicht der Rechtsanwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) und als unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten (§ 3 Abs. 1 BRAO) in erheblichem Maße insbesondere gegen seine beruflichen Grundsätze verstößt, so daß der „Kernbereich des Berufes“162 berührt ist. Selbst wenn dann im Einzelfall ein temporäres Vertretungsverbot oder der Ausschluß aus der Rechtsanwaltschaft (noch) nicht festgestellt werden kann163, bleibt dennoch grundsätzlich immer ein disziplinärer Überhang neben dem Strafurteil stehen.164 Auch hier kann regelmäßig angenommen werden, daß die Ermahnung des Rechtsanwalts zum zukünftig pflichtgemäßen Verhalten nur durch ein weiteres, anwaltsgerichtliches Verfahren erreicht werden kann. 2. Beurteilung anhand der vorherigen ungenügenden Wahrung des Ansehens der Anwaltschaft Als zweites (kumulatives) Kriterium für die Beurteilung der Notwendigkeit zusätzlicher disziplinärer Ahndung ist die Wirkung der vorangegangenen Sanktion hinsichtlich der Wahrung des Ansehens der Rechtsanwaltschaft nach außen durch § 115b BRAO vorgegeben. Zunächst läßt sich feststellen, daß grundsätzlich jedes durch den Rechtsanwalt begangene Delikt geeignet ist, das Ansehen der Rechtsanwaltschaft in der Öffentlichkeit mehr oder weniger herabzusetzen.165 Um deshalb diese Voraussetzung des § 115b BRAO nicht ad absurdum zu führen, muß sie näher umgrenzt werden.

160 161 162 163

EGH München v. 8.10.1991 – BayEGH II 10/91. Vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 37. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 37. So aber BGH v. 5.10.1964 – AnwSt (R) 8/64, EGE VIII, 62, 64 = BGHSt 20,

73. 164 EGH München v. 10.2.1988 – BayEGH II – 8/87; vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 37. 165 So auch Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 992.

118 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

a) Grundsatz Ähnlich dem Vorgenannten ist auch hier der jeweilige Einzelfall und die besonderen Umstände des Einzelfalls Maßstab der Beurteilung.166 So hängt es hauptsächlich von der Person des betroffenen Rechtsanwalts ab, ob dessen Verhalten nach außen hin eher als dessen persönlicher Fehltritt erscheint oder ob die Pflichtverletzung mit dessen beruflicher Position derart verknüpft wird, daß ein negatives Bild der Rechtsanwaltschaft in der Öffentlichkeit insgesamt entsteht. Beispiel: Eine einfache Körperverletzung, die ein Rechtsanwalt im privaten Umfeld begeht, wird wohl anders zu bewerten sein als eine, die etwa der Kammerpräsident vor Gericht begeht.

Psychische oder große familiäre Probleme können etwa dazu führen, daß eine Verletzung des Ansehens der Rechtsanwaltschaft gering erscheint.167 Der Schluß von der persönlichen Schuld des Anwalts auf die Erheblichkeit der Öffentlichkeitswirkung168 ist also insoweit gerechtfertigt, als jene als Indiz dafür anzusehen ist, inwieweit die Verfehlung des Rechtsanwalts in seiner eigenen individuellen Persönlichkeit zu suchen ist oder andererseits die Pflichtverletzung sich als Ausdruck eines „freiverantwortlichen“ Widerspruchs zu den Standesregeln und damit als Störung des Bildes der Rechtsanwaltschaft nach außen darstellt. Die Öffentlichkeitswirkung einer strafbaren Handlung ist dabei an sich gegenüber anderen von § 115b BRAO umfaßten, geringer sanktionierten Taten derart hoch, daß die „Regel-Ausnahme-Vermutung“ des § 115b BRAO zugunsten des Verzichts auf zusätzliche Ahndung wesentlich abgeschwächt wird.169 b) Bewertung der vorausgegangenen Sanktion des Strafverfahrens Im Rahmen des disziplinären Überhangs ist dann aber insbesondere zu fragen, ob dem Ziel der Standesreinhaltung gegenüber der Öffentlichkeit nicht schon durch das Strafverfahren Genüge getan ist. Das muß etwa dann – parallel zum Kriterium der genügenden Pflichtenmahnung170 – anzunehmen sein, wenn innerhalb der Strafzumessung auf die Besonderheiten der Stellung des Angeklagten als Rechtsanwalt eingegangen worden ist und nach außen hin deutlich

166 167

Vgl. Feuerich/Weyland § 115b Rn. 32 ff. So auch Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 995; Feuerich/Weyland § 115b Rn. 32

a. E. 168 169 170

So Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 995. Vgl. Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 995 f. Vgl. oben Kap. 4. C. I. 1.

C. Gründe für eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung

119

wird, daß die Bestrafung auch oder gerade wegen der anwaltschaftlichen Stellung erfolgt. Andererseits wird (ebenfalls in Einklang mit obigem Kriterium) auch gegenüber der Öffentlichkeit die „standesreinigende“ Wirkung schon durch das Strafverfahren zu verneinen sein, wenn das Strafgericht ausdrücklich auf ein noch durchzuführendes berufsgerichtliches Verfahren hinweist. Auch wenn Maßstab für das Bedürfnis zusätzlicher anwaltsgerichtlicher Ahndung primär die vorausgegangene Strafe und das dort festgelegte Strafmaß ist, spielt auch das Verhalten des Rechtsanwalts, das in mittelbarem Zusammenhang mit der Straftat und dem Strafverfahren steht, eine nicht zu unterschätzende Rolle: So kann von Bedeutung für eine Wirkung gegenüber der Öffentlichkeit sein, daß z. B. der Rechtsanwalt sein Fehlverhalten bewußt öffentlich gemacht hat171 oder in welcher Weise er sich im Strafverfahren verhält und dadurch einen möglichen negativen persönlichen Eindruck gegenüber der Öffentlichkeit von sich auf den gesamten Anwaltsstand projiziert. Dieser Aspekt gewinnt vor allem deshalb an Bedeutung, da das Strafverfahren gem. § 169 S. 1 GVG im Gegensatz zum anwaltsgerichtlichen Verfahren (§ 135 Abs. 1 S. 1 BRAO) grundsätzlich öffentlich ist. Somit kann der Zweck der Wahrung der Reinheit des Anwaltsstandes schon im Strafverfahren selbst verfolgt werden, wenn auch für dessen endgültige Erfüllung in erster Linie das Strafurteil herangezogen werden muß. 3. Außerberufliche Pflichtverletzungen Da auch Fehltritte außerhalb der eigentlichen Berufsausübung zu den beruflichen Pflichtverletzungen i. w. S. zählen (vgl. §§ 43 S. 2, 113 Abs. 2 BRAO), ist auch hier zu fragen, ob durch ein vorausgegangenes Strafurteil der Wahrung des Anwaltsstandes gegenüber der Öffentlichkeit schon ausreichend Genüge getan wurde. Bei leichten und mittelschweren (auch schwerwiegenden) Pflichtverletzungen soll nach erfolgter Verurteilung in der Regel von weiterer anwaltsgerichtlicher Ahndung abgesehen werden. Lediglich bei schwerwiegendsten, den Verbleib in der Anwaltschaft nicht mehr rechtfertigenden Verfehlungen ist diese zusätzliche Sanktion möglich172, wovon schließlich auch § 115b S. 2 BRAO ausgeht173. Zur Begründung174 kann angeführt werden, daß in Fällen leichterer und mittelschwerer außerberuflicher Pflichtverletzungen insbesondere die Öffentlichkeits171

Feuerich/Weyland § 115b Rn. 33. Vgl. BGH v. 10.11.1975 – AnwSt (R) 2/75, BGHSt 26, 241, 243 = NJW 1976, 526, 527; Feuerich/Weyland § 115b Rn. 39. 173 Vgl. dazu Kap. 4. C. II. 172

120 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

wirkung im Hinblick auf den Anwaltsstand gering ist, weil dort der Rechtsanwalt weniger als ein solcher gesehen wird, sondern vielmehr als „Privatperson“. Insofern ist das Ansehen der Rechtsanwaltschaft insgesamt als wenig gefährdet anzusehen. 4. Notwendigkeit der Einzelfallentscheidung Letztlich muß es aber sowohl hinsichtlich der Frage der ausreichenden Pflichtenmahnung für die Zukunft als auch in bezug auf das Kriterium der Ansehenswahrung in der Öffentlichkeit bei einer zwingenden Beurteilung des Tatsachengerichts im jeweiligen konkreten Einzelfall bleiben175, da nur so den Umständen und der individuellen Einsichtsfähigkeit und -bereitschaft des Rechtsanwalts zum zukünftig pflichtgemäßen Verhalten und der Frage, ob durch die vorherige Sanktion der Wahrung der Reinheit des Anwaltsstandes genügend Rechnung getragen werden kann. Dabei können und müssen aber die soeben dargelegten Grundsätze und Fallgruppen entsprechend herangezogen und angewendet werden.

II. Der „Sonderfall“ des § 115b S. 2 BRAO Nach § 115b S. 2 BRAO hindern anderweitige Ahndungen die anwaltsgerichtlichen Maßnahmen des temporären Vertretungsverbotes (§ 114 Abs. 1 Nr. 4) und der Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft (§ 114 Abs. 1 Nr. 5) nicht. Kommt also das Anwaltsgericht zur Überzeugung, daß die anwaltschaftliche Pflichtverletzung derart erheblich war, daß völlig unabhängig von einer strafrechtlichen oder sonstigen Beurteilung der Handlung(en) ein temporäres Vertretungsverbot oder die Ausschließung gerechtfertigt sind, kann die vorherige Strafe die Durchführung eines anwaltsgerichtlichen Verfahrens nicht hindern und nicht zu einem Absehen von anwaltsgerichtlicher Ahndung i. S. v. § 115b S. 1 BRAO führen. Diese Konsequenz ergibt sich aber nicht erst konstituierend aus § 115b S. 2 BRAO, sondern vielmehr aus der Notwendigkeit, daß es bei erheblichen Pflicht174 Obige Stellen (Fn. 172) entbehren einer dahingehenden Begründung und erschöpfen sich in der Feststellung, daß eine zusätzliche Ahndung nur dann zulässig sei, „wenn sie ,zusätzlich erforderlich ist, um den Rechtsanwalt zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und das Ansehen der Rechtsanwaltschaft zu wahren‘.“ (BGH a. a. O.). 175 So auch BGH v. 10.11.1975 – AnwSt (R) 2/75, BGHSt 26, 241, 243; Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 995 f.; Feuerich/Weyland § 115b Rn. 32; Henssler/Prütting-Dittmann § 115b Rn. 11 (für das zweite Kriterium); beachte auch die dementsprechend umfangreiche (und teilweise „kursorische“) Kasuistik in Paepcke FS Pfeiffer, S. 985, 993 ff.

C. Gründe für eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung

121

verletzungen des Rechtsanwalts, die diesen für die Ausübung seines Berufes teil- und zeitweise oder völlig untragbar machen, dem Anwaltsgericht und damit der standesinternen Sanktionierung ohne Rücksicht auf das Strafgericht überlassen sein muß, derartige Maßnahmen aussprechen zu können.176 § 115b S. 2 BRAO hat deshalb lediglich eine klarstellende Funktion.177 Trotz dieser prozessualen Möglichkeit formell paralleler Sanktion ohne Anrechnung nach § 115b S. 1 BRAO kann es im Einzelfall für die Bestimmung und Zumessung der jeweils zu verhängenden anwaltsgerichtlichen Maßnahme im Einzelfall sachlichrechtlich durchaus von Belang sein, ob und inwiefern der Rechtsanwalt bereits durch eine verbüßte oder noch zu verbüßende Kriminalstrafe im Sinne des Anwaltsdisziplinarrechts sanktioniert wurde178, so daß dann im Einzelfall die zu verhängende anwaltsgerichtliche Maßnahme wiederum geringer ausfallen kann. Dementsprechend hindert zwar eine vorherige Sanktion die Verhängung einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme nach § 114 Abs. 1 Nr. 4 und 5 BRAO nicht, angesichts vorheriger anderweitiger Ahndung kann aber das Anwaltsgericht trotz Vorliegens sonstiger Voraussetzungen für die Verhängung einer derart schwerwiegenden Maßnahme dennoch eine geringere wählen. So kann z. B. trotz Vorliegens schwerer Verfehlungen des Anwalts auf die Verhängung eines temporären Vertretungsverbotes seitens des Anwaltsgerichts verzichtet werden, wenn das Strafgericht etwa schon ein Berufsverbot nach § 70 StGB verhängt hat. Andererseits ist aber das Anwaltsgericht wiederum nicht an derartige Entscheidungen gebunden, so daß die Verhängung eines temporären Vertretungsverbotes neben dem strafgerichtlichem Berufsverbot gem. § 70 StGB zulässig wäre.179 Genausowenig wird das Anwaltsgericht durch die Feststellung des Strafgerichts, die Voraussetzungen für ein Berufsverbot lägen nicht vor, gebunden, von der Verhängung eines temporären Vertretungsverbotes oder der Ausschließung abzusehen. Dies alles folgt daraus, daß die BRAO lediglich eine Bindung an die strafprozessualen Tatsachenfeststellungen 180, nicht aber an den Straf- und Maßregelausspruch des Strafgerichts kennt.181

176

Im Ergebnis auch Feuerich/Weyland § 115b Rn. 41. Vgl. bereits amtl. Begr., BT-Drs. V/2848, S. 26. 178 Vgl. Gribbohm FS Pfeiffer, S. 911, 924 m. w. N. 179 Vgl. etwa BGH v. 12.5.1975 – AnwSt (R) 8/74, EGE XIII, 112 = NJW 1975, 1712; Gribbohm FS Pfeiffer, S. 911, 924 f. 180 Siehe dazu unten Kap. 4. G. 181 Vgl. BGH a. a. O., EGE XIII, 112, 113 f. = NJW 1975, 1712; Gribbohm FS Pfeiffer, S. 911, 925. 177

122 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

D. Der Einfluß einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme auf ein späteres Strafurteil I. Problemaufriß Im Zusammenhang mit der Konkurrenz zwischen anwaltsgerichtlichem Verfahren und Strafverfahren eröffnet sich in diesem Zusammenhang eine weitere Problematik: In § 118 Abs. 1 BRAO ist zwar geregelt, daß das anwaltsgerichtliche Verfahren nicht zu eröffnen oder auszusetzen ist, sobald wegen desselben Verhaltens ein kriminelles Strafverfahren eingeleitet wird.182 Dennoch ist es denkbar, daß bereits vor Beginn eines Strafverfahrens das anwaltsgerichtliche Verfahren abgeschlossen ist und der Rechtsanwalt mit einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme belegt wurde, etwa weil der Staatsanwaltschaft erst nach Verfahrensbeendigung Tatsachen bekannt werden, die eine strafrechtliche Relevanz begründen, oder Staatsanwaltschaft und Anwaltsgericht ein paralleles Strafverfahren schlicht übersehen oder unter Mißachtung von § 118 Abs. 1 oder § 118b BRAO das anwaltsgerichtliche Verfahren fortsetzen (was in der Praxis aber wohl eher unwahrscheinlich sein dürfte). Wird dann das Strafverfahren eingeleitet (was – wie erörtert183 – vice versa nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem verstößt), so fehlt eine dem § 115b BRAO entsprechende Regelung, die eine angemessene Lösung für solche Fälle bietet. Das Beamtendisziplinarrecht kennt mit § 71 Abs. 1 Nr. 8 BDG (entspricht § 123 BDO a. F.184) eine Vorschrift, die Antwort auf diese Konfliktfrage gibt: Danach muß das Disziplinarverfahren wiederaufgenommen werden, wenn im Straf- oder Bußgeldverfahren wegen desselben Sachverhalts eine unanfechtbare Entscheidung ergeht, nach der eine Disziplinarmaßnahme wegen der in § 14 BDG bezeichneten Konkurrenz nicht mehr zulässig wäre. Das bereits abgeschlossene Disziplinarverfahren muß also neu aufgerollt werden und im Hinblick auf die inzwischen ergangene Entscheidung am Maßstab des § 14 BDG beurteilt werden. Für das anwaltsgerichtliche Verfahren hat der Gesetzgeber eine solche Regelung allerdings nicht getroffen. Mit dem Hinweis auf das BVerfG185, das eine geeignete Lösung für diese Fälle anbiete, hat er bewußt darauf verzichtet.186

182

Dazu im einzelnen Kap. 2. A. Siehe Kap. 4. A. I. 184 Vgl. BT-Drs. 14/4659, S. 51 (inhaltsgleich BR-Drs. 467/00, S. 130). 185 BVerfG v. 2.5.1967 – 2 BvR 391/64, 263/66, BVerfGE 21, 379, 387 ff. = NJW 1967, 1651, 1653 f. = MDR 1967, 904 = DÖV 1967, 681. 186 Amtl. Begr., BT-Drs. V/2848, S. 26; vgl. auch Feuerich/Weyland § 115b Rn. 29. 183

D. Der Einfluß einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme

123

Richtigerweise führt das BVerfG zunächst aus, daß es dem Prinzip der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit widersprechen würde, wenn eine Tat, die auch (und vor allem) ein Strafgesetz verletzt, nur mit einer Disziplinarstrafe abschließend geahndet werden würde. Andererseits liegt aber – ebenso wie im Verhältnis der vorherigen kriminellen Strafe zur nachrangigen Disziplinarmaßnahme187 – ohne gegenseitige Berücksichtigung der jeweiligen Sanktionen ein Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip und den Grundsatz der Gerechtigkeit vor.

II. Lösungsansätze Zur Lösung dieser Problematik schlägt das BVerfG deshalb eine Anrechnung der Disziplinarmaßnahme auf das spätere Strafurteil vor. Eine solche Anrechnung entspreche auch der „rechtsstaatlichen Tradition“188. Diese in der Entscheidung beschriebene Tradition bezieht sich allerdings – ebenso wie die Entscheidung selbst – auf das Gebiet des Wehrdisziplinar- und Wehrstrafrechts. In einem solch eingrenzbaren Bereich des Wehrrechts, in dem sowohl auf Disziplinarebene wie auch Strafrechtsebene in aller Regel rein „berufsspezifische“ Taten behandelt werden, erscheint es durchaus akzeptabel, eine vorausgegangene Disziplinarmaßnahme der späteren Strafe anzurechnen. Es ist deshalb zu fragen, ob diese „Anrechnungslösung“ auch auf das anwaltsgerichtliche Verfahren übertragbar ist. 1. Anrechnung über § 51 StGB? Das StGB sieht die Möglichkeit einer Anrechnung in § 51 vor. Im Unterschied zu der hiesigen Situation wird bei § 51 StGB stets eine frühere (Kriminal-)Strafe auf eine zweite (oder eine vorausgegangene Untersuchungshaft auf die spätere Freiheitsstrafe, Abs. 1) angerechnet, wenn beide Sanktionen also gleichartig und prinzipiell gleichwertig189 sind. Im Gegensatz wird hier eine grundsätzlich andersartige und im Ergebnis auch meist geringere Sanktion des anwaltsgerichtlichen Verfahrens an eine Strafe des kriminellen Verfahrens, das im Hinblick auf die Allgemeinwirkung schwerer wiegt und deshalb auch den grundsätzlichen Vorrang verdient190, angerechnet. Damit wird aber der oben erörterte Grundsatz des Vorrangs des Strafverfahrens aufgehoben.

187

Vgl. oben Kap. 4. A. II. BVerfG a. a. O., BVerfGE 21, 379, 388. 189 Teilweise wird der Anwendungsbereich des § 55 Abs. 2 auf alle „Deliktsreaktionen“ ausgeweitet (so Sch/Sch-Stree, § 51 Rn. 25; a. A. T/F, § 51 Rn. 14; SK-Horn, § 51 Rn. 17), jedoch stets auf solche des Strafrechts. 190 Vgl. dazu Kap. 2. B. 188

124 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Außerdem ergeben sich in dieser Konstellation nicht unbeachtliche negative Auswirkungen für den Betroffenen: Während im „Normalfall“ grundsätzlich nach § 115b BRAO eine anwaltsgerichtliche Ahndung entfällt oder zumindest im Sinne des disziplinären Überhangs weitaus geringer ausfällt, wird hier der Rechtsanwalt zunächst voll standesrechtlich sanktioniert, um sodann (nur) eine etwas geminderte Strafe zu erfahren. Schon aufgrund der Verschiedenartigkeit einzelner anwaltsgerichtlicher Maßnahmen zu den kriminellen Strafen wäre eine echte Anrechnung wohl nur beim Zusammentreffen von Geldbuße (§ 114 Abs. 1 Nr. 3 BRAO) mit Geldstrafe denkbar. Schon bei der Anrechnung von Geldbuße mit Freiheitsstrafe läßt sich anzweifeln, ob erstere i. S. d. § 51 Abs. 4 S. 1 StGB etwa auf Tagessätze „umrechenbar“ und damit vergleichbar wird. Diese Ungleichbehandlung des jeweils Betroffenen in den beiden Konstellationen ist um so weniger hinnehmbar, als die oben genannten möglichen Ursachen, die die hier behandelte Situation auslösen, stets Staatsanwaltschaft und/ oder Anwaltsgericht zuzurechnen sind, der Rechtsanwalt also unverschuldet schlechter gestellt wird. Eine Anrechnung entsprechend § 51 StGB ist deshalb abzulehnen. 2. Anrechnung über die Strafzumessung De lege lata empfiehlt sich deshalb eher eine Anrechung der vorhergehenden anwaltsgerichtlichen Sanktion im Rahmen der Strafzumessung. Hierdurch könnten unbillige Härten zuungunsten des Rechtsanwalts unkompliziert ausgeglichen und eine gerechte „Gesamtsanktion“ gefunden werden, die die (zumeist fehlerhaft) zuvor verhängte anwaltsgerichtliche Ahndung im Strafurteil entsprechend berücksichtigt. 3. Regelung im Beamtendisziplinarrecht als Vorbild Trotz der wegen § 118 Abs. 1 BRAO wohl geringen praktischen Relevanz dieser Problematik ist dennoch de lege ferenda eine dem Beamtendisziplinarverfahren angelehnte Lösung vorzugswürdig. Danach müßte der BRAO eine dem § 71 Abs. 1 Nr. 8 BDG entsprechende Vorschrift hinzugefügt werden. Dabei sollte nicht nur die Konstellation i. S. d. § 115b BRAO, sondern auch die des § 118 Abs. 2 BRAO191 berücksichtigt werden, wie dies durch Verweis auf § 14 (Abs. 1 und 2) BDG auch bei § 71 Abs. 1 Nr. 8 BDG entsprechend der Fall ist192. 191 Wenn auch diesbezüglich nur zur Klarstellung und wegen des systematischen Zusammenhangs; dazu siehe sogleich ausführlicher Kap. 4. E. III. 3. 192 § 115b BRAO entspricht § 14 Abs. 1 BDG, § 118 Abs. 2 BRAO entspricht § 14 Abs. 2 BDG; vgl. dazu die Tabelle in Einleitung C.

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

125

Vorstellbar wäre etwa eine Ergänzung des § 118 Abs. 4 BRAO, der bereits jetzt eine Wiederaufnahme des anwaltsgerichtlichen Verfahrens vorsieht, wenn dieses vor Abschluß des Strafverfahrens wegen scheinbar gesicherter Sachaufklärung fortgesetzt wird und sich danach diese Prognose als unrichtig herausstellt193: „§ 118 Verhältnis des anwaltsgerichtlichen Verfahrens zum Straf- oder Bußgeldverfahren (1) . . . (3) (4) [S. 1 wie bisher] Ferner ist die Wiederaufnahme zulässig, wenn nach rechtskräftigem Abschluß des anwaltsgerichtlichen Verfahrens in einem wegen desselben Sachverhalts eingeleiteten gerichtlichen oder behördlichen Verfahren unanfechtbar eine Entscheidung ergeht, nach der gemäß § 115b oder § 118 Absatz 2 die bereits verhängte anwaltsgerichtliche Maßnahme nicht zulässig wäre. [S. 2 als S. 3 wie bisher]“

E. Anwaltsgerichtliche Ahndung trotz Freispruchs im Strafverfahren (negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO) Aus der Natur der Sache ergibt sich, daß nicht nur bei strafgerichtlicher Bestrafung die anwaltsgerichtliche Maßnahme am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips gemessen und entsprechend angepaßt oder auf sie verzichtet werden muß. Auch wenn der betroffene Rechtsanwalt im vorhergehenden Strafverfahren freigesprochen wurde, muß dies Auswirkungen auf die anwaltsgerichtliche Maßnahme haben, da dann der in der Regel weitergehende strafrechtliche Vorwurf wegfällt und zu fragen ist, ob und wenn ja was vom spezielleren anwaltsgerichtlichen Vorwurf noch übrig bleibt.

I. Systematik und Vergleichbarkeit von § 115b und § 118 Abs. 2 BRAO Auf den ersten Blick scheinen Struktur und Zielrichtung von § 115b und § 118 Abs. 2 BRAO verschieden zu sein: 1. Gesetzessystematischer Unterschied oder historische Entwicklung? Zum einen stehen beide systematisch an unterschiedlicher Stelle. Der positive disziplinäre Überhang ist mit § 115b BRAO im sechsten Teil der BRAO, „Die anwaltsgerichtliche Ahndung von Pflichtverletzungen“, normiert, während der 193

Vgl. nur Feuerich/Weyland § 118 Rn. 57, 17.

126 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

negative Überhang bei § 118 Abs. 2 BRAO im siebten Teil bei den allgemeinen Verfahrensbestimmungen zu finden ist. Vergleicht man damit die Systematik des BDG in diesem Zusammenhang, fällt auf, daß dort die den §§ 115b, 118 Abs. 2 BRAO entsprechenden Regelungen in einem Paragraphen, § 14 BDG, zusammengefaßt sind: So wird dort der positive Überhang (entspricht § 115b BRAO, wenn auch mit anderen Tatbestandsvoraussetzungen194) in Absatz 1 und der negative Überhang (entspricht § 118 Abs. 2 BRAO) in Absatz 2 geregelt. Allerdings wurde dieser Zusammenhang der Maßnahmeverbote195 in §§ 14, 15 BDG erst jetzt im Zuge der Neufassung des Beamtendisziplinarrechts hergestellt. Zuvor war der positive Überhang ähnlich der BRAO in § 17 BDO (Aussetzung des Disziplinarverfahrens, entspricht § 118 BRAO) geregelt. Die Trennung von positivem und negativen Überhang in der BRAO begründet sich also weniger auf einem echten systematischen Unterschied, sondern vielmehr auf historischer Entwicklung: Während eine dem § 118 Abs. 2 BRAO entsprechende Regelung bereits in § 65 Abs. 2 RAO-1878 existierte, wurde § 115b BRAO erst 1969196 im Zusammenhang mit der Konkurrenz zur Rüge (§ 115a BRAO) eingefügt. Sicherlich würde dementsprechend § 118 Abs. 2 BRAO besser in den Kontext der §§ 115a, 115b BRAO passen. Eine diesbezügliche Gesetzesänderung nach dem Beispiel des Beamtendisziplinarrechts wäre daher zwar überlegenswert, dennoch nicht zwingend notwendig. 2. Unterschied in Wertung und Zweck Zum anderen aber umfaßt § 115b BRAO die Konkurrenz zu gerichtlichen und behördlichen Maßnahmen unterschiedlicher Art, nach obigen Ausführungen (Kap. 4. B. IV.) sogar alle Maßnahmen, die geeignet sind, die anwaltsgerichtlichen Ziele (mit) zu erreichen. Dagegen ist § 118 Abs. 2 BRAO nur auf gerichtliche Verfahren wegen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten beschränkt. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen § 115b und § 118 Abs. 2 BRAO: § 115b BRAO geht davon aus, daß in der Regel ein – wie auch immer geartetes – vorheriges anderweitiges Verfahren mit der ihm eigenen Sanktion den Zielen des anwaltsgerichtlichen Verfahrens – Pflichtenmahnung des Rechtsanwalts und Ansehenswahrung des Standes – gerecht wird. 194 Einerseits beschränkt sich § 14 Abs. 1 BDG im Vergleich zu § 115b BRAO auf Straf- und Bußgeldverfahren, andererseits wird § 153a StPO ausdrücklich aufgenommen (vgl. zu diesem Problemkreis Kap. 4. B. III.). 195 Amtl. Begr. zu § 14 BDG, BT-Drs. 14/4659, S. 38. 196 G. v. 13.1.1969, BGBl. I S. 25.

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

127

Dagegen folgt aus § 118 Abs. 2 BRAO nur, daß ein vorheriger Freispruch den straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtlich relevanten Teil der anwaltlichen Pflichtverletzung entfallen läßt. Das vorherige Verfahren strahlt aber – anders als bei § 115b BRAO – im übrigen nicht auf das anwaltsgerichtliche Verfahren aus, als etwa angenommen werden könnte, daß wegen der Behandlung des Sachverhalts und des (aus der Sicht des anwaltsgerichtlichen Verfahrens) negativen Ergebnisses des Freispruchs gefolgert werden kann, daß auch das anwaltsgerichtliche Verfahren nicht mehr nötig sei.197 Während also im Rahmen der Prüfung eines möglichen Überhangs bei § 115b BRAO eher die wertende Frage, ob durch die vorausgegangene Sanktion die Zwecke des anwaltsgerichtlichen Verfahrens „miterfüllt“ sind, im Vordergrund steht, reduziert sich die Prüfung bei § 118 Abs. 2 BRAO auf die faktische Feststellung, ob außer dem (insofern widerlegten) straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtlichen Vorwurf noch ein anwaltsgerichtlicher bestehen bleibt. So ist es durchaus vorstellbar, daß im gleichen Verfahren sowohl § 115b BRAO als auch § 118 Abs. 2 BRAO zur Anwendung kommen, wenn nämlich der Anwalt wegen desselben Sachverhalts bezüglich einer schweren Straftat freigesprochen wird, aber wegen einer leichteren Straftat oder Ordnungswidrigkeit in diesem Zusammenhang verurteilt wird. Der Vorwurf der schweren Straftat darf dann im anwaltsgerichtlichen Verfahren wegen § 118 Abs. 2 BRAO nicht mehr zur Beurteilung herangezogen werden. Bezüglich der leichten Straftat oder Ordnungswidrigkeit muß sodann aber geprüft werden, ob eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Maßnahme nach § 115b BRAO nötig ist. 3. Gemeinsamkeit: Behandlung eines disziplinären „Restes“ Aus einem anderen Blickwinkel gehen beide Normen jedoch wiederum in dieselbe Richtung, als bei beiden lediglich ein standesrechtlicher „Rest“, der nach „Subtrahierung“ anderer Entscheidungen in vorausgehenden anderweitigen Verfahren, sei es wegen Zweckerreichung einerseits oder Freispruch andererseits, zur Sanktionierung im anwaltsgerichtlichen Verfahren übrig bleibt. 4. Fazit Obgleich §§ 115b und 118 Abs. 2 BRAO also gesetzestechnisch getrennt voneinander stehen, sind beide insofern dennoch im Kontext zu lesen und zu verstehen,198 auch wenn deren Systematik im einzelnen Unterschiede aufweist. 197 Isele (§ 118 III B 1) schlägt deshalb eine Umformulierung und grammatikalische Umkehrung des § 118 Abs. 2 vor, „daß wegen derselben Tatsachen gleichwohl ein ehrengerichtliches Verfahren eingeleitet oder fortgesetzt werden kann, wenn sie unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung eine Verletzung der anwaltlichen Pflichten erhalten.“

128 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Im folgenden sollen vor diesem Hintergrund Tatbestand und Rechtsfolgen des § 118 Abs. 2 BRAO dargestellt werden.

II. Der Tatbestand des § 118 Abs. 2 BRAO „Wird der Rechtsanwalt im gerichtlichen Verfahren wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit freigesprochen, so kann wegen derselben Tatsachen, die Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung waren, ein anwaltsgerichtliches Verfahren nur dann eingeleitet oder fortgesetzt werden, wenn diese Tatsachen, ohne den Tatbestand einer Strafvorschrift oder einer Bußgeldvorschrift zu erfüllen, eine Verletzung der Pflichten des Rechtsanwalts enthalten.“

1. Dieselben Tatsachen Anders als § 115b BRAO, der von demselben „Verhalten“ spricht, legt § 118 Abs. 2 BRAO die „Tatsachen, die Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung waren“, als Maßstab für die Sachverhaltsidentität zugrunde. Die unterschiedliche Benennung des Tatbestandsmerkmals darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Ergebnis das Gleiche gemeint ist.199 Ob als Maßstab die Tatsachen, die durch das Verhalten des Rechtsanwalts geschaffen wurden, oder das Verhalten selbst angesetzt wird, ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Der Begriff der Tatsachen ist allerdings insofern irreführend, als er dergestalt aufgefaßt werden könnte, als würden bei der Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit nur objektive Gesichtspunkte eine Rolle spielen und etwa subjektive Kriterien bis hin zur Schuldfrage außer Acht bleiben. Wird ein Rechtsanwalt wegen fehlenden Vorsatzes200 oder Schuldlosigkeit im Strafverfahren freigesprochen, muß dies selbstverständlich auch im anwaltsgerichtlichen Verfahren berücksichtigt werden. Die Formulierung „Tatsachen“ ist historisch begründet und findet sich bereits in der RAO-1878 (§ 65 Abs. 2). Bereits dort umfaßte der Begriff entsprechend desselben Verhaltens i. S. d. § 115b BRAO denselben „historischen Vorgang“201. Der Gesetzgeber hat deshalb für das Beamtendisziplinarrecht auch klarstellend und einheitlich sowohl für den negativen als auch den positiven Überhang (wie auch für die Aussetzung gem. § 22 BDG) den Begriff desselben „Sachverhalts“ in § 14 Abs. 1 und 2 BDG gewählt.

198

Vgl. die systematische Zusammenstellung bei Isele § 115b I. So auch Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 12, der ohne näher darauf einzugehen auch hier von demselben Verhalten spricht. 200 Zur Auswirkung der Vorsatzfrage auf den disziplinären Überhang siehe sogleich Kap. 4. E. III. 2. 201 Friedländer, § 65 Anm. 14. 199

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

129

2. Freispruch im vorausgehenden Verfahren a) Grundsatz § 118 Abs. 2 BRAO beschränkt sich im Wortlaut alleine auf den rechtskräftigen202 Freispruch wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit in einem gerichtlichen Verfahren. Insofern setzt er engere Grenzen als § 115b BRAO, der bei der Bewertung des positiven Überhangs auch Disziplinar-, berufsgerichtliche und Ordnungsmaßnahmen einschließt. Darüber hinaus beschränkt sich § 118 Abs. 2 BRAO auf gerichtlich verhängte Maßnahmen, während bei § 115b BRAO auch behördliche Maßnahmen einbezogen werden. Die Begründung für eine solche Divergenz zwischen positivem und negativem disziplinärem Überhang ist wohl im bereits aufgezeigten Unterschied zwischen beiden Normen zu finden: Nur der Freispruch in einem gerichtlichen Verfahren kann eine derartige Bindungswirkung entfalten, daß auch der anwaltsgerichtliche Vorwurf – quasi als „a maiore ad minus“-Schluß (auch wenn das anwaltsgerichtliche Verfahren gegenüber dem Strafprozeß kein „minus“, sondern vielmehr ein „aliud“ darstellt) – in dieser Hinsicht wegfällt, während im Fall des § 115b BRAO durchaus auch andere, nicht-gerichtliche Sanktionen in der Lage sein können, den anwaltsgerichtlichen Zweck zu erfüllen203. b) Vergleichbare strafprozessuale Verfahrensbeendigungen Vor diesem Hintergrund läßt sich allerdings fragen, ob im Rahmen des strafgerichtlichen Verfahrens alleine der Freispruch diese Wirkung entfaltet oder ob auch andere, den Beschuldigenden entlastende, verfahrensbeendende Schritte im Strafverfahren das anwaltsgerichtliche Verfahren insoweit sperren können. aa) Staatsanwaltschaftliche Beschlüsse In Frage kommen zunächst einmal Beschlüsse der Staatsanwaltschaft, die auf eine Beendigung des Vorverfahrens hinzielen. Hier sind insbesondere die Einstellungen gem. §§ 153 ff. StPO und gem. § 170 Abs. 2 StPO relevant. Denkbar ist weiterhin die Einstellung mit Verweisung an den Privatklageweg204 oder die Abgabe an die Verwaltungsbehörde gem. § 43 OWiG.

202 Die Rechtskraft wird im Gesetz zwar nicht erwähnt, ist aber nach allg. M. Voraussetzung; vgl. bereits zu § 65 RAO-1878 Friedländer, § 65 Anm. 13; heute Isele § 118 III A; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 24; zur insoweit klarstellenden Neufassung des § 14 BDG vgl. amtl. Begr., BT-Drs. 14/4659, S. 38. 203 Vgl. dazu oben Kap. 4. B. 204 Vgl. etwa HK-Krehl, § 170 Rn. 5.

130 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Bevor jedoch über die einzelnen verfahrensbeendenden oder -hemmenden Maßnahmen diskutiert werden kann, soll zunächst über die prinzipielle Frage entschieden werden, ob staatsanwaltschaftliche Maßnahmen für die Anwendung von § 118 Abs. 2 BRAO einem gerichtlichen Freispruch gleichgestellt werden können. Parallel zur Diskussion der Einbeziehung von § 153a StPO in § 115b BRAO205 spricht für die Gleichstellung, daß die Wirkung der staatsanwaltschaftlichen Maßnahme in die gleiche Richtung wie der gerichtliche Freispruch geht: Hier wie dort wird das Verfahren gegen den Beschuldigten ohne Sanktion beendet. Dem voran geht eine Bewertung des Sachverhaltes durch Gericht einerseits und Staatsanwaltschaft andererseits, daß die öffentliche Anklage bezüglich einer Straftat nicht gerechtfertigt ist. Dies allein genügt jedoch nicht, um im Zusammenhang mit § 118 Abs. 2 BRAO eine Gleichstellung von staatsanwaltschaftlicher Einstellung und gerichtlichem Freispruch herzuleiten. Abgesehen davon, daß der Wortlaut des § 118 Abs. 2 BRAO vom Freispruch im gerichtlichen Verfahren spricht, insofern also zunächst eindeutig formuliert ist, entfalten die Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft im Gegensatz zum (rechtskräftigen) Freispruch keine Rechtskraft.206 Wenn diese also schon innerhalb des (allgemeinen) Strafverfahrens fehlt, kann eine entsprechende staatsanwaltschaftliche Verfügung erst recht keine Auswirkung auf ein gänzlich anderes Verfahren vor dem Anwaltsgericht haben. Doch selbst wenn man mit Teilen der Literatur eine Rechtskraftwirkung für gewisse staatsanwaltschaftliche Einstellungsverfügungen annähme, ist zu beachten, daß der Grundsatz ne bis in idem im Verhältnis zwischen anwaltsgerichtlichem Verfahren und Strafverfahren keine Rolle spielt, weil beide Verfahren v. a. aufgrund ihrer unterschiedlichen Zielrichtung und ihres voneinander verschiedenen Unrechts voneinander zu trennen sind.207 Lediglich das Verhältnismäßig205

Vgl. Kap. 4. B. III. Zu § 170 Abs. 2 StPO: RG v. 9.10.1933 – II 391/33, RGSt 67, 315, 316; OLG Hamm v. 26.4.1979 – 2 Ss OWi 729/79, VRS 58, 33 = JMBlNW 1979, 179; Loos, JZ 1978, 592, 594; Radtke, NStZ 1999, 481, 483; HK-Krehl, § 170 Rn. 4; M-G § 170 Rn. 9; KK-Schoreit, § 170 Rn. 23; mit einschränkendem Hinweis auf ein Willkürverbot LR-Graalmann-Scheerer, § 170 Rn. 49 f.; krit. LR-Rieß (24. Aufl.), § 170 Rn. 45 ff. Zu § 153 Abs. 1 StPO: RG a. a. O.; HK-Krehl, § 153 Rn. 14; M-G § 153 Rn. 37; LR-Beulke, § 153 Rn. 56; einschränkend mit der Forderung eines „sachlich einleuchtenden Grundes“ KK-Schoreit, § 153 Rn. 44 m. w. N.; eingehend und krit. Loos, JZ 1978, 592, 594 ff.; a. A. Radtke, Zur Systematik des Strafklageverbrauchs verfahrenserledigender Entscheidungen im Strafprozeß, 1994, S. 383 ff.; ders., NStZ 1999, 481, 483. 207 Siehe im Zusammenhang mit § 115b BRAO Kap. 4. A. I.; die dort gefundenen Erkenntnisse sind auch hier entsprechend anwendbar. 206

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

131

keitsprinzip hindert bei der anwaltsgerichtlichen Ahndung nach strafgerichtlicher Verurteilung eine absolute Parallelität beider Sanktionen.208 Letzteres ist aber im Zusammenhang mit dem strafgerichtlichen Freispruch irrelevant, da nur eine erneute Ahndung nach der Strafsanktion als im Einzelfall unverhältnismäßig betrachtet werden kann. Demgegenüber stellt eine vorausgehende strafrechtliche „Entlastung“, sei es durch Einstellung oder Freispruch, keine Beeinträchtigung des Beschuldigten dar. Insofern ist die mögliche anwaltsgerichtliche Ahndung in ihrer Wirkung noch nicht „vorbelastet“ und deshalb jedenfalls in dieser Hinsicht verhältnismäßig. In letzter Konsequenz bedeutet dieses Ergebnis freilich, daß selbst die Durchführung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens nach strafgerichtlichem Freispruch verfassungsrechtlich bedenkenlos hinnehmbar wäre209, wenn nicht der eindeutige Wortlaut des § 118 Abs. 2 BRAO dies de lege lata verbieten würde. So gab es denn auch legislative Bestrebungen, diesen als „allgemeingültige Norm des Disziplinarrechts“210 bezeichneten Ausschluß bei strafgerichtlichem Freispruch zumindest auf dem Gebiet des Beamtendisziplinarrechts abzuschaffen211, was jedoch letztlich vom Gesetzgeber abgelehnt wurde212. Vor dem Hintergrund der Vermeidung unterschiedlicher, eventuell sogar widersprüchlicher Ergebnisse in beiden Verfahren erscheint dies – bezogen alleine auf den gerichtlichen Freispruch – aber auch sinnvoll.213 Dies alles zeigt, daß die Auslegung des § 118 Abs. 2 BRAO hinsichtlich des gerichtlichen Freispruchs restriktiv gehandhabt werden sollte, um letztlich auch die durch das anwaltsgerichtliche Verfahren geschaffene Souveränität der standesinternen Sanktionierung weitestgehend zu ermöglichen, zumal es – anders als etwa bei § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO – dem Anwaltsgericht in § 118 Abs. 2 BRAO versagt ist, die strafgerichtliche Entscheidung nachzuprüfen und gegebenenfalls anders zu beurteilen. Letztlich geht es bei der Nichtanwendung des § 118 Abs. 2 BRAO auf staatsanwaltschaftliche Beschlüsse nur darum, den Weg zur anwaltsgerichtlichen Beurteilung auch der strafrechtlich relevanten Pflichtverletzungen offen zu halten und dem Anwaltsgericht die Möglichkeit des eigenen Urteils eines zuvor (noch) nicht gerichtlich behandelten Falls zu geben. Im übrigen werden in der Praxis die Gründe, die im Strafverfahren zur Einstellung geführt haben, auch im 208

Kap. 4. A. II. In dieser Richtung für das Beamtendisziplinarrecht schon Döring, DVBl. 1963, 171, 172 ff. 210 BT-Drs. III/120, S. 99. 211 Vgl. BT-Drs. V/325, Begr. zu Nr. 17. 212 Vgl. BT-Drs. V/1693, S. 5 und Nr. 16. 213 Vgl. zum Ganzen Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts, § 80 V, S. 337. 209

132 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

anwaltsgerichtlichen Verfahren zumindest bezüglich des auch strafrechtlich relevanten Vorwurfs zur Einstellung führen, so daß diese Streitfrage wohl eher theoretischer Natur sein dürfte. Festzuhalten bleibt daher, daß staatsanwaltschaftliche Beschlüsse vom Anwendungsbereich des § 118 Abs. 2 BRAO nicht umfaßt sind und das anwaltsgerichtliche Verfahren in diesen Fällen nicht gesperrt wird. bb) Gerichtliche Entscheidungen Neben dem vom Wortlaut des § 118 Abs. 2 BRAO intendierten Freispruch aufgrund Urteil gem. § 260 Abs. 1 StPO sind andere, den Beschuldigenden direkt oder indirekt entlastende gerichtliche Beschlüsse denkbar, über deren Einbeziehung trotz der zuvor erläuterten restriktiven Auslegung nachzudenken ist. (1) Nichteröffnungsbeschluß, § 204 StPO Während in der anwaltsgerichtlichen Kommentierung der (nicht mehr anfechtbare) Nichteröffnungsbeschluß gem. § 204 StPO dem Freispruch gleichgestellt wird214, lehnt die beamtendisziplinarrechtliche Literatur dies durchweg ab215. Die Annahme, der Nichteröffnungsbeschluß stehe dem Freispruch gleich, wird darauf gestützt, daß jener gem. § 211 StPO eine ähnlich bindende Sperrwirkung entfaltet.216 Deshalb diene der Nichteröffnungsbeschluß in gleicher Weise dem Schutz des Angeschuldigten „vor erneuter Anklageerhebung wegen derselben Tat“.217 Insofern sei nicht auf den Wortlaut „Freispruch“ abzustellen, sondern darauf, ob durch den Beschluß ein rechtskräftiger Verbrauch der Strafklage eingetreten ist.218 Wie jedoch bereits im Zusammenhang mit staatsanwaltschaftlichen Beschlüssen gezeigt werden konnte, kommt es bei der Beurteilung der Gleichsetzung mit dem Freispruch nicht in erster Linie auf die entsprechende Rechtskraftwirkung an. Vielmehr ist von entscheidender Bedeutung, daß es der Grundsatz ne bis in idem nicht verbietet und die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der anwaltschaftlichen Standesgerichtsbarkeit es gebietet, die Einflüsse und „Vorwegnah214 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 25; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 14; Kleine-Cosack § 118 Rn. 4. 215 Claußen/Janzen § 17 Rn. 16a; Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 11; Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts 2. Bd., § 80 V A (S. 338). 216 Vgl. BGH v. 18.1.1963 – 4 StR 385/62, BGHSt 18, 225 = NJW 1963, 1019; LR-Rieß, § 211 Rn. 7; KK-Tolksdorf Rn. 4; M-G § 211 Rn. 1. 217 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 25. 218 Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 14.

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

133

men“ durch die ordentliche Gerichtsbarkeit auf ein Minimum zu reduzieren und deshalb restriktiv zu handhaben. Daher gilt: Nur dann, wenn das andere Gericht in einem abgeschlossenen Verfahren mit Beweisaufnahme und Urteil die Entlastung des im ordentlichen Verfahren Beschuldigten festgestellt hat, kann die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Anwaltsgerichtsbarkeit im Sinne einer „Urteilseinheit“ des Rechtssystems durchbrochen werden und die Entscheidung auf das anwaltsgerichtliche Verfahren ausstrahlen. Eine Anwendung des Nichteröffnungsbeschlusses auf § 118 Abs. 2 BRAO ist deshalb abzulehnen. (2) Gerichtliche Einstellung Was für den soeben behandelten Nichteröffnungsbeschluß gilt, muß im Grundsatz erst recht für die gerichtliche Verfahrenseinstellung gelten. Deshalb sind solche Gerichtsentscheidungen dem Freispruch i. S. d. § 118 Abs. 2 BRAO nicht gleichzustellen.219 Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht für alle Einstellungsfälle uneingeschränkt: In den Fällen, bei denen das Gericht irrtümlicherweise eingestellt hat, obwohl es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Freispruchs vor der Einstellung hätte freisprechen müssen220, soll § 118 Abs. 2 BRAO gleichwohl anwendbar sein.221 Trotz Nichtvorliegens eines Freispruchs und oben dargestellter restriktiver Anwendung des § 118 Abs. 2 BRAO erscheint diese Ausnahme sinnvoll: Anders als in all den anderen Fällen zuvor hätte hier ohne einen Rechtsfehler zu begehen ein Freispruch aufgrund dessen Vorrangs erfolgen müssen. Da hier aber aufgrund eines Fehlers zu Lasten des Betroffenen ein Freispruch ausgeblieben ist, muß zum Schutz des Beschuldigten dieser so gestellt werden, als ob ein Freispruch vorläge. Dies gebietet schon der Gleichheitsgrundsatz. Denkbare Konstellationen sind in diesem Zusammenhang zum einen die Verfahrenseinstellung wegen Verjährung oder mangels Strafantrag eines leichteren Delikts, während das gleichzeitig angeklagte, in Gesetzeskonkurrenz oder Tateinheit stehende schwerere Delikt nicht erwiesen ist und deshalb freigesprochen werden müßte, weil der schwerer wiegende Vorwurf den Urteilsspruch bestimmen muß222.223 Zum anderen liegt ein zur Anwendung des § 118 Abs. 2 BRAO 219 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 26; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 14; Claußen/Janzen § 17 Rn. 16a. 220 für viele BGH v. 17.8.2000 – 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 136 f. = NJW 2000, 3293, 3294 m. w. N.; KMR-Stuckenberg, § 260 Rn. 31; M-G § 260 Rn. 44 f.; HK-Julius, § 260 Rn. 8; KK-Engelhardt, § 260 Rn. 49 f. 221 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 25; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 14; Claußen/Janzen § 17 Rn. 15b; Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 11.

134 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

führender Rechtsfehler vor, wenn das Gericht rechtsirrig Tateinheit zwischen der nicht erwiesenen und der zur Verurteilung führenden Tat annimmt224, weil dann aufgrund der Tatsache, daß es wegen ein und derselben Tat einen Teilfreispruch nicht geben und das Urteil in diesem Fall nur einheitlich auf Verurteilung oder Freispruch lauten kann225, wegen der nicht erwiesenen Tat irrtümlich nicht freigesprochen wurde.226 § 118 Abs. 2 BRAO muß im Hinblick auf den Freispruch im Strafverfahren aufgrund des Gleichheitssatzes also insofern erweiternd ausgelegt werden, als die einen Freispruch verhindernden Rechtsfehler zu Lasten des Betroffenen als einem Freispruch gleich stehend gewertet werden müssen. Im Gegensatz dazu liegt beim Nichteröffnungsbeschluß (neben der Tatsache, daß dort, wie oben erörtert, dieser keine gerichtliche Entscheidung nach durchgeführter Hauptverhandlung darstellt) und bei rechtmäßiger Einstellung eben gerade kein gerichtlicher Fehler vor. Auch deshalb ist dort eine Anwendung des § 118 Abs. 2 BRAO ausgeschlossen. Bei ordnungsgemäßer Annahme von Tateinheit zwischen zwei Delikten, wovon eines nicht erwiesen ist, greift § 118 Abs. 2 BRAO ebenfalls nicht.227 Demzufolge darf auch bezüglich dieser Tat ein anwaltsgerichtliches Verfahren stattfinden. Voraussetzung für den Vorrang des Freispruchs und erst recht für die Gleichsetzung der fehlerhaften Situation mit dem Freispruch im Rahmen des § 118 Abs. 2 BRAO muß in allen Fällen sein, daß die betreffende Strafsache „ohne weiteres im Sinne eines Freispruches entscheidungsreif ist“228, es also nach „hinreichender Klärung des Sachverhalts“229 „feststeht“230, daß keine Straftat vorliegt.231 Wären dagegen etwa noch weitere Erörterungen zur Schuldfrage nötig, genießt ein potentieller Freispruch strafverfahrensrechtlich keinen Vorrang.232 Für die Konkurrenz zum anwaltsgerichtlichen Verfahren bedeutet dies folgerichtig, daß in einem solchen Fall § 118 Abs. 2 BRAO keine Anwendung findet. 222

LR-Gollwitzer, § 260 Rn. 103 m. w. N. in Fn. 249. Vgl. auch zum Verhältnis der in Frage kommenden Delikte M-G § 260 Rn. 46. 224 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 25. 225 M-G § 260 Rn. 12. 226 Beispiele nach Claußen/Janzen § 17 Rn. 15b. 227 Vgl. Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts 2. Bd., § 80 V A (S. 338 a. E.). 228 OLG Oldenburg v. 27.5.1981 – Ss 63/81, NJW 1982, 1166; vgl. auch HK-Julius, § 260 Rn. 8. 229 BGH v. 28.10.1965 – KRB 2/65, BGHSt 20, 333, 335. 230 RG v. 24.3.1936 – 1 D 980/35, RGSt 70, 193, 196. 231 Dazu auch BayObLG v. 13.2.1963 – Beschw(W)Reg. 4 St 39/62, BayObLGSt 63, 44, 47; M-G § 260 Rn. 45. 232 BGH v. 25.4.1996 – 5 StR 54/96, NStZ-RR 1996, 299; BGH v. 29.10.1998 – 5 StR 288/98; M-G § 260 Rn. 44. 223

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

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Sinn des § 118 Abs. 2 BRAO ist die den Betroffenen schützende Vermeidung einer erneuten Verfolgung in anwaltsgerichtlicher Hinsicht trotz Freispruchs in einem ordnungsgemäßen gerichtlichen (Straf-)Verfahren. Dies ist zwar verfassungsmäßig nicht geboten, jedoch gesetzgeberisch gewünscht.233 Ein solcher Schutz kann aber nur dann zugestanden werden, wenn es feststeht, daß der Betroffene freizusprechen wäre. Eine dahingehende Möglichkeit genügt indes nicht. Diese Voraussetzung wird aber nur entweder von einem rechtskräftigen Freispruch oder einer Entscheidungsreife im Sinne eines Freispruchs erfüllt. Damit ist geklärt, daß neben dem formell und materiell richtigen Freispruch auch Situationen in den § 118 Abs. 2 BRAO einbezogen werden können, in denen zwar materiell ein Freispruch gegeben wäre, dieser aber formell nicht vorliegt. (3) Irrtümlicher (fehlerhafter) Freispruch Nicht weniger erörterungsbedürftig ist die umgekehrte Situation: Wie ist ein Freispruch zu beurteilen, der zwar faktisch vorliegt, formell oder materiell jedoch nicht gerechtfertigt ist? a) Formell fehlerhafter Freispruch Eine denkbare Konstellation ist dabei, daß ein Freispruch erfolgt, obwohl die Tat nicht angeklagt war, etwa weil Zeiträume von einer Reihe von Einzeltaten vom Gericht irrtümlich dahingehend vertauscht wurden, daß wegen Taten freigesprochen wurde, die in einem nicht von der Anklage erfaßten Zeitraum lagen234. In einem solchen Fall gilt der Grundsatz des Vorrangs des Freispruchs nicht, da die (hier fehlende) Anklage „die Grundlage und unabdingbare Voraussetzung für das gerichtliche Verfahren insgesamt“235 darstellt. Wenn also, wie in diesem Fall, die gerichtliche Einstellung angezeigt gewesen wäre, statt rechtsirrig freizusprechen, kann dieser faktisch ergangene aber formell fehlerhafte Freispruch keine Wirkung auf das anwaltsgerichtliche Verfahren haben, auch wenn der Wortlaut des § 118 Abs. 2 im Hinblick auf den Freispruch insoweit eindeutig erscheint. Dies ergibt sich aus dem oben Gesagten, der wegen der verfassungsrechtlich nicht gebotenen Regelung des § 118 Abs. 2 BRAO und der daraus folgenden restriktiven Handhabung der Norm. Aufgrund der Eigenständigkeit des Anwaltsgerichts und seiner Souveränität hin-

233 234 235

3294.

Vgl. oben Kap. 4. E. II. 2. BGH v. 17.8.2000 – 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130 = NJW 2000, 3293. BGH v. 17.8.2000 – 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 137 = NJW 2000, 3293,

136 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

sichtlich der Sanktionierung standesinterner Verstöße darf ein strafprozessualer Freispruch, der eigentlich gar nicht hätte ergehen dürfen, keine Auswirkung auf das anwaltsgerichtliche Verfahren entfalten. Etwas anderes muß gelten, wenn die Tat strafgerichtlich statt freizusprechen wegen Verjährung hätte eingestellt werden müssen. Wegen der unterschiedlichen Verjährungsfristen von § 78 StGB und § 115 BRAO – insbesondere § 78 Abs. 1 Nr. 5 sieht mit drei Jahren eine kürzere Verjährungsfrist als § 115 BRAO (fünf Jahre) vor – kann dieser Aspekt durchaus auch praktische Relevanz bekommen.236 Da hier ungeachtet möglicher Verjährungsfristen tatsächlich und – dies vorausgesetzt – ansonsten rechtsfehlerfrei ein Freispruch ergangen ist, muß dieser im Interesse und zum Schutz des Angeklagten im Sinne des § 118 Abs. 2 BRAO Geltung erhalten. Ebenso muß dieses Schutzinteresse auch bei Freispruch trotz fehlendem Strafantrag im Strafverfahren die Anwendung von § 118 Abs. 2 BRAO ermöglichen, da die Tatsache daß ein Strafantrag nicht vorlag und dennoch freigesprochen wurde, umgekehrt im anwaltsgerichtlichen Verfahren nicht zu Lasten des betroffenen Rechtsanwalts gehen darf. Dies würde zu Wertungswidersprüchen auf Kosten des Angeklagten führen. b) Materiell (offensichtlich) fehlerhafter Freispruch In gleicher Weise wird die Anwendung von § 118 Abs. 2 BRAO angenommen, wenn nicht, wie soeben erörtert, aus formellen Gründen ein Freispruch unzulässig ist, sondern der Freispruch in materieller Hinsicht falsch ist. Dies soll sogar im Fall offensichtlich fehlerhafter Freisprüche gelten.237 Es kann demnach eine Parallele zum rein strafprozessualen Strafklageverbrauch gezogen und gefolgert werden, daß immer dann, wenn durch einen Freispruch die Strafklage verbraucht ist, auch das anwaltsgerichtliche Verfahren insoweit gem. § 118 Abs. 2 BRAO gehindert wird.238 Wenigstens bei offensichtlich materiell fehlerhaften Freisprüchen lassen sich aber möglicherweise Bedenken anmelden, die u. a. auf der Gesetzessystematik des § 118 BRAO fußen:

236 Für das anwaltsgerichtliche Verfahren gilt auch unbesehen der möglichen kürzeren Verjährungsfristen des StGB ausschließlich § 115 BRAO; vgl. Feuerich/Weyland § 115 Rn. 1. 237 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 25; zu § 17 Abs. 5 BDO a. F.: Claußen/Janzen § 17 Rn. 15a m. w. N.; Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 12. 238 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 25.

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

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§ 118 Abs. 3 S. 2 BRAO sieht vor, daß das Anwaltsgericht im Falle des Zweifels an tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts die nochmalige Prüfung dieser Feststellungen beschließen kann.239 Dies kann allerdings nur für Feststellungen verurteilender Strafverfahren gelten, da die anwaltsgerichtliche Behandlung de lege lata durch § 118 Abs. 2 BRAO von vornherein ausgeschlossen ist. Eine analoge Anwendung des § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO auf Abs. 2 scheidet aus, da sich dieser aufgrund der Systematik nur auf § 118 Abs. 3 S. 1 bezieht. Zumindest in der Variante des § 118 Abs. 2 BRAO, die die Einleitung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens verbietet und es an einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft fehlt, bekäme das Anwaltsgericht auch erst gar nicht die Möglichkeit, einen Lösungsbeschluß herbeizuführen. Dieser ist also zunächst einmal nicht möglich.240 Danach ist es also möglich, daß das Anwaltsgericht Erkenntnisse eines Strafverfahrens anzweifeln kann, das mit Verurteilung endet, wohingegen selbst offensichtlich falsche Erkenntnisse eines mit Freispruch endenden Strafprozesses durch das Anwaltsgericht nicht korrigiert werden können. Freilich läßt sich für diese Unterscheidung auch eine treffliche Argumentation finden: Aus Gründen der Rechtssicherheit zugunsten des Angeklagten, wegen Art. 103 Abs. 3 GG, hinsichtlich des Bestrebens, unterschiedliche und widersprüchliche Urteile zu vermeiden und nicht zuletzt aufgrund der insoweit eindeutigen und wohl auch aus den vorgenannten Gründen folgenden Entscheidung des Gesetzgebers, den strafrechtlichen Freispruch, egal ob auf richtiger oder falscher Tatsachenbasis, zu priorisieren und zum Maßstab auch des Disziplinarrechts zu machen241, müsse das dadurch geschaffene Defizit an Gerechtigkeit hingenommen werden. Außerdem liegt es nahe, auf die Möglichkeit der Wiederaufnahme im Strafprozeß zu verweisen: Unter den Voraussetzungen des § 362 StPO läßt sich auch ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten wiederaufnehmen, was bei einem Freispruch schließlich immer der Fall wäre. Insofern erscheint es schlüssig, bei (offensichtlich) falschen Strafurteilen zunächst diese Möglichkeit des Strafprozesses auszunutzen. Dann könnte es bei erfolgreicher Wiederaufnahme eventuell zur Verurteilung kommen und die Sperre des § 118 Abs. 2 BRAO wäre beseitigt.242

239

Dazu im einzelnen Kap. 4. G. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 25 m. w. N. 241 Letzteres war für BVerwG v. 29.11.1978 – 2 WD 46/78, BVerwGE 63, 167 im Zusammenhang mit § 76 Abs. 5 WDO a. F. (jetzt entsprechend § 16 Abs. 3 WDO) entscheidend, die Durchbrechung bei fehlerhaften Freisprüchen abzulehnen. 242 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 26. 240

138 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Dabei ist sicherlich zu beachten, daß die Wiederaufnahme, die ganz allgemein im „Spannungsfeld zwischen Rechtsfrieden und Gerechtigkeit“243 steht, zu Ungunsten des Angeklagten gem. § 362 StPO im Hinblick auf Art. 103 Abs. 3 GG sehr restriktiv zu handhaben ist244 und nur unter den dort genannten Bedingungen, die mit Ausnahme von § 362 Nr. 4 StPO immer strafbares Handeln von Prozeßbeteiligten voraussetzen, durchgeführt werden kann. Die Wiederaufnahme würde also bei weitem nicht alle Fälle festgestellter oder offensichtlicher Fehlurteile umfassen, was andererseits mit Blick auf die Rechtssicherheit zugunsten des betroffenen Rechtsanwalts durchaus auch sinnvoll erscheint. Allerdings kollidiert, wie bereits festgestellt worden ist245, die parallele Behandlung desselben Verhaltens im anwaltsgerichtlichen Verfahren und im Strafprozeß wegen verschiedener Zielrichtung und dem unterschiedlichen jeweils zu sanktionierenden Unrecht nicht mit Art. 103 Abs. 3 GG. Somit schlägt das Argument des Doppelbestrafungsverbotes nicht durch, das eine nochmalige Sanktion nach Freispruch in jedem Fall verbieten würde. Deshalb wäre auch das Argument der Rechtssicherheit zumindest abgeschwächt, da bei abgeschlossenem Strafverfahren weniger Vertrauen hinsichtlich des anwaltsgerichtlichen Verfahrens geschaffen wird. Letztlich steht das Argument im Raum, durch eine Durchbrechung des § 118 Abs. 2 BRAO würde die „Gefahr“ widersprüchlicher Entscheidungen bestehen. Hauptargument für die Notwendigkeit der Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen ist jedoch, daß dadurch „das Vertrauen des Staatsbürgers in die Rechtspflege [. . .] untergraben“246 werden kann. Bei Vorliegen eines falschen vorausgehenden Urteils kann aber gerade dies umgekehrt werden: Das Vertrauen in die Rechtspflege würde nicht minder erschüttert werden, wenn trotz festgestellter Falschheit eines Freispruchs der Angeklagte dann nur aus Gründen der Widerspruchsvermeidung disziplinarrechtlich nicht belangt wird. Allerdings besteht dann die Gefahr, daß durch die Lösung von der Bindungswirkung des strafgerichtlichen Freispruchs gem. § 118 Abs. 2 (S. 1) BRAO eine nachträgliche Bestrafung des Rechtsanwalts „durch die Hintertür“ erfolgt. Unter Umgehung der restriktiven Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten nach § 362 StPO könnte die Staatsanwaltschaft, die ja sowohl im Straf- (§ 170 Abs. 1 StPO) als auch im anwaltsgerichtlichen Verfahren (§ 121 BRAO) Anklagebehörde ist, geneigt sein, Fälle dieser Art im anwaltsgerichtlichen Verfahren erneut aufzurollen und dort auf eine tendenziell höhere Maßnahme mit der Absicht zielen, die „verpaßte“ Strafe zumindest teilweise auszugleichen. 243 244 245 246

HK-Krehl, Vor § 359 Rn 1. HK-Krehl, § 362 Rn. 1. Siehe Kap. 4. A. I. Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts, § 80 V, S. 337.

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

139

Außerdem wird die Grenzziehung dann schwierig, wenn nur der einfache Verdacht besteht, das Strafurteil könnte falsch sein, oder wenn gar nur die Staatsanwaltschaft aufgrund subjektiver Eindrücke ein an sich korrektes Urteil als falsch betrachtet. Dann wiederum müßte die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Gefahr widersprüchlicher Urteile einerseits und Gerechtigkeitsprinzip andererseits im Hinblick auf den Wortlaut und die Intention des § 118 Abs. 2 BRAO zugunsten einer Sperre des anwaltsgerichtlichen Verfahrens ausfallen. Die Überlegung einer Durchbrechung des § 118 Abs. 2 BRAO müßte dann sinnvoller Weise also nur auf die Fälle offensichtlich falscher Strafurteile beschränkt werden.247 Jenseits aller Argumentation für oder wider die Anwendung von § 118 Abs. 2 BRAO auf (offensichtlich) fehlerhafte Freisprüche steht einer solchen Durchbrechung aber § 118 Abs. 2 BRAO selbst entgegen, da dieser unmißverständlich formuliert, daß der rechtswirksame Freispruch im Strafverfahren die Einleitung oder Fortführung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens hindert.248 Damit konstatiert der Gesetzgeber, daß eine Erweiterung auf (offensichtlich) fehlerhafte Freisprüche wohl nicht gewollt ist und somit die als möglicherweise problematisch zu bezeichnende, praktisch jedoch wohl wenig relevante Konstellation hingenommen werden kann. (4) Freispruch wegen strafrechtsspezifischer Gründe Einen weiteren Problembereich stellen solche Freisprüche dar, die alleine deshalb ergehen, weil alleine im Strafrecht selbst liegende Gründe eine Verurteilung verbieten. Als nicht von § 118 Abs. 2 BRAO umfaßt werden solche gerichtliche Entscheidungen – gleichgültig ob auf Einstellung oder Freispruch lautend – dargestellt, die eine Straftat zwar feststellen, eine Strafe aber aus bestimmten Erwägungen, etwa aus kriminalpolitischen Gründen oder zum Schutz der Familienbande, aber nicht verhängt und von ihr abgesehen wird.249 Als im Rahmen anwaltschaftlicher Tätigkeit u. U. relevant ist hier beispielhaft der persönliche Strafausschließungsgrund250 des § 258 Abs. 6 StGB zu nennen, wenn sich etwa 247 Diesen Gedanken verfolgte wohl auch – durch das BVerwG verworfen – der Wehrdisziplinaranwalt bei BVerwG v. 29.11.1978 – 2 WD 46/78, BVerwGE 63, 167, 169. 248 So auch BVerwG v. 29.11.1978 – 2 WD 46/78, BVerwGE 63, 167, 169. 249 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 26; Claußen/Janzen § 17 Rn. 16a. 250 Vgl. BGH v. 22.12.1955 – 1 StR 381/55, BGHSt 9, 71, 73 f.; BGH v. 15.3. 1960 – 1 StR 46/60, BGHSt 14, 172 f.; Sch/Sch-Stree, § 258 Rn. 39; Tröndle/Fischer § 258 Rn. 21; Lackner/Kühl, § 258 Rn. 16; a. A. Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rn. 135, § 23 Rn. 16.

140 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

der Strafverteidiger im Rahmen seines Mandats zugunsten eines Angehörigen gem. § 258 Abs. 1 StGB schuldig gemacht hat.251 Ebenfalls von gewisser Bedeutung für die anwaltschaftliche Praxis ist § 371 Abs. 1 AO, der als persönlicher Strafaufhebungsgrund zu einer Straffreiheit hinsichtlich der Streuerhinterziehung führt.252,253 Aus hiesiger Sicht sind allerdings nur solche Entscheidungen als in diesem Zusammenhang unproblematisch zu bezeichnen, die nicht auf Freispruch lauten, sondern bei der ein Schuldspruch ergeht und das Gericht lediglich von der Verhängung einer Sanktion absieht (etwa gem. § 60 StGB)254, da hier schließlich auch kein Freispruch im Wortlaut im Raum steht.255 Anders stellt sich die Lage aber bei solchen Entscheidungen dar, die zwar zunächst eine Straftat feststellen, aus den genannten Erwägungen aber eben (z. B. wegen § 258 Abs. 6 StGB) durch Freispruch von einer Bestrafung absehen. Ausgehend vom bereits in diesem Kapitel Erörterten kann de lege lata aufgrund der Eindeutigkeit des Gesetzeswortlauts bei einem Freispruch das Prozeßhindernis des § 118 Abs. 2 BRAO nur in solchen Situationen entfallen, in denen der Freispruch formell fehlerhaft war, statt dessen also etwa eingestellt hätte werden müssen.256 Wenn also – wie hier – der Freispruch aufgrund eines persönlichen Strafausschließungsgrundes in keiner Hinsicht (weder formell noch materiell) fehlerhaft, also völlig korrekt ausgesprochen wird, steht unumstößlich der klare Wortlaut des § 118 Abs. 2 BRAO einer Ausnahme entgegen. Dagegen wendet sich allerdings das BVerwG, das in seiner Entscheidung vom 6.6.2000257 darlegt, eine Einschränkung des Begriffs sei „bereits in der Vorschrift selbst angelegt“, da der Begriff nach dem Sinn und Zweck der Norm auch die Schuldfrage umfasse, aber – hier entscheidend – insoweit beschränkt ist. Somit würden alle die Strafbarkeit ausschließenden Gründe, die jenseits der Schuldfrage liegen, von der Anwendung des § 118 Abs. 2 BRAO ausgeklam-

251 Zur Problematik der Anwendung von § 258 StGB beim Strafverteidiger allgemein vgl. im Überblick Lackner/Kühl, § 258 Rn. 8 ff.; Sch/Sch-Stree, § 258 Rn. 20; SK-Hoyer, § 258 Rn. 24 ff.; Tröndle/Fischer, § 258 Rn. 8 ff. 252 Hierzu jüngst (die Anwendung § 17 Abs. 5 BDO ablehnend) BVerwG v. 6.6. 2000 – 1 D 66/98, DokBer B 2000, 299 = DÖD 2000, 290. 253 Einen Überblick über die weiteren in Frage kommenden Normen gibt Claussen/ Janzen § 17 Rn. 16a a. E. 254 So auch Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 14. 255 Diesbezüglich zutreffend Claußen/Janzen § 17 Rn. 16a a. E. 256 Vgl. oben Kap. 4. E. II. 2. b) bb) (3). 257 BVerwG v. 6.6.2000 – 1 D 66/98, DokBer B 2000, 299 = DÖD 2000, 290.

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

141

mert werden. Das Gericht stützt seine Annahme darauf, daß der Sinn des § 17 Abs. 5 BDO a. F. (und in gleicher Weise auch des § 118 Abs. 2 BRAO) sei, neben der Nutzung der besseren Ermittlungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden in erster Linie gegensätzliche Entscheidungen zu verhindern. Dies gehe aber nur soweit, wie „das Prüfungsprogramm von beiden Gerichten Ermittlungen zur Tat- und Schuldfrage verlangt“258. Bei Gründen für einen Freispruch im Strafverfahren, die aber Tatbestand und Schuldvorwurf gerade voraussetzen, werde die Rechtsfolge des § 17 Abs. 5 BDO a. F. (entsprechend § 118 Abs. 2 BRAO) gerade nicht ausgelöst.259 Eine Entscheidung in dieser Richtung ist im Grundsatz zwar nicht zu beanstanden und widerspricht auch nicht dem Willkürverbot, da gegen dieses nur dann verstoßen wird, „wenn die Rechtsanwendung unter keinem rechtlichen Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluß aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht.“260 So weit geht die Auslegung des § 17 Abs. 5 BDO a. F. (§ 118 Abs. 2 BRAO) sicherlich nicht. Allerdings wird dabei ein weiterer, vom Gesetzgeber formulierter Gesetzeszweck übersehen, der dazu tendieren läßt, § 118 Abs. 2 BRAO doch entsprechend des strengen Gesetzeswortlautes anzuwenden und in den Begriff sämtliche formell korrekten Freisprüche unabhängig sowohl von ihrem materiellen Inhalt (s. o.) als auch von ihrem Rechtsgrund aufzunehmen. Dieser Gesetzeszweck wird sogar von denselben Autoren, die oben die Anwendung des § 118 Abs. 2 BRAO wegen der disziplinarrechtlichen Unerheblichkeit ablehnen, beim Vorliegen von Rechtfertigungsgründen oder wegen Fehlens einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit die Sperrwirkung des § 118 Abs. 2 BRAO – wenn auch kritisch kommentiert – so formuliert: Der Gesetzgeber hat „an der Vorschrift offenbar in der Vorstellung festgehalten, ein strafgerichtlicher Freispruch solle auch disziplinarrechtlich über alle systematischen Bedenken hinweg zum endgültigen Rechtsfrieden führen, so daß einem auf den genannten Gründen beruhenden strafgerichtlichen Freispruch die Sperrwirkung des [§ 17] Abs. 5 [BDO a. F.] nicht versagt werden kann.“261 Aus diesem Grund kann ebenso der Standpunkt vertreten werden, nach momentaner Gesetzeslage muß der Begriff des Freispruchs in § 118 Abs. 2 BRAO im strengen Wortsinn verstanden werden.

258

BVerwG a. a. O. BVerwG a. a. O. 260 So im Rahmen der nicht angenommenen Verfassungsbeschwerde gegen obiges BVerwG-Urteil: BVerfG v. 8.2.2002 – 2 BvR 1566/00 (unveröffentlicht). 261 Claussen/Janzen § 17 Rn. 16b, vgl. auch Feuerich/Weyland § 118 Rn. 26. 259

142 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Dennoch ist die Kritik daran verständlich und nachvollziehbar. Wiederum ausgehend vom Sinn und Zweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens selbst, das aus seiner geschichtlichen Entwicklung heraus dem Anwaltsstand eine von der staatlichen Strafgerichtsbarkeit weitestgehend unabhängige Sanktionierung standesinternen Fehlverhaltens zubilligt, ist auch im Hinblick auf die hier relevante Problematik die starre Regelung des absoluten Prozeßhindernisses bei vorausgehendem Freispruch problematisch. In der Tat ist nicht einzusehen, daß ein Anwalt nur deshalb vor einem standesinternen Disziplinarverfahren geschützt wird, weil er im vorhergehenden Strafverfahren aus Gründen freigesprochen wird, die mit seiner Pflichtverletzung im Sinne des Standesrechts in keinerlei Zusammenhang stehen, sondern lediglich aufgrund strafrechtsdogmatischer oder -politischer Erwägungen eine strafgerichtliche Verurteilung verhindern. Nachdem aber der Wortlaut des § 118 Abs. 2 BRAO einer solchen Auslegung widerspricht oder diese bei den oben genannten Konstellationen des Absehens von Strafe i. w. S., die jenseits des strafrechtlichen Schuldspruchs liegen, zumindest nicht unumstritten ist, sich aber dennoch die Öffnung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens in diese Richtung nach dem soeben Erörterten anbietet, bleibt in letzter Konsequenz nur die Lösung über eine legislative Änderung. Damit würde zum einen bezüglich der Fälle Klarheit geschaffen werden, die zwar bereits jetzt schon von der Rechtsprechung aus dem Anwendungsbereich des § 118 Abs. 2 BRAO im Rahmen einer möglichen aber durchaus problematischen Auslegung herausgenommen wurden, und zum anderen für alle anderen strafrechtsspezifischen Freispruchgründe, die nach jetziger Meinung das anwaltsgerichtliche Verfahren hindern, zumindest die Möglichkeit einer den Freispruch durchbrechenden Behandlung ergeben. Demnach könnte eine Gesetzesänderung in Betracht gezogen werden, die in etwa wie folgt aussehen könnte: Nach § 118 Abs. 2 S. 1 BRAO wäre einzufügen: 2

Das Anwaltsgericht kann beschließen, daß das Verfahren dennoch eingeleitet oder fortgesetzt wird, wenn das Gericht im anderen Verfahren aus Gründen freigesprochen hat, die die anwaltsgerichtliche Bewertung der Pflichtverletzung nicht berühren. 3Absatz 3 Satz 2 gilt entsprechend.

Satz 3 verweist entsprechend auf den Lösungsbeschluß des § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO, so daß der Beschluß mit Stimmenmehrheit des Gerichts zustande kommen und die Begründung des Lösungsbeschlusses in den Urteilsgründen ausgeführt werden muß.

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

143

(5) Freispruch in ausländischen Strafverfahren a) Grundsatz Abgrenzungsprobleme bei der Anwendung von § 118 Abs. 2 BRAO ergeben sich auch im Hinblick auf die räumliche Geltung und die Frage, ob auch ausländische Freisprüche die Sperrwirkung nach § 118 Abs. 2 BRAO entfalten können. Die beamtendisziplinarrechtliche Literatur steht dem durchwegs ablehnend gegenüber, da § 14 Abs. 2 BDG/§ 17 Abs. 5 BDO a. F. (entspricht § 118 Abs. 2 BRAO) nur Entscheidungen deutscher Strafgerichte umfasse.262 Ausgangspunkt für eine angemessene Betrachtung dieses Themenkreises muß aber auch hier der bereits dargelegte Gesetzeszweck des § 118 Abs. 2 BRAO sein: Trotz verfassungsrechtlicher Unbedenklichkeit einer etwaigen gegenteiligen Handhabung (Disziplinarverfahren trotz Freispruch)263 hat sich der Gesetzgeber zu dieser Regelung entschlossen, um einerseits möglicherweise gegensätzliche oder widersprüchliche264 Entscheidungen zu vermeiden und dadurch „das Vertrauen des Staatsbürgers in die Rechtspflege zu untergraben“265 und andererseits im Sinne des Betroffenen im Vertrauen auf die besseren Ermittlungsmethoden der Strafermittlungsbehörden Rechtsfrieden und Rechtssicherheit einkehren zu lassen. Auf letzteren Aspekt stützt sich auch die folgende Überlegung: Der Betroffene kann sich nur dann auf die Wirksamkeit eines ausländischen Freispruchs „verlassen“ und insofern Rechtssicherheit und Rechtsfrieden genießen, wenn er dies auch im Hinblick auf ein mögliches einheimisches Strafverfahren kann. Dies ist freilich nur dann der Fall, wenn durch das ausländische freisprechende Urteil Strafklageverbrauch eintritt. Ein solcher wird allerdings im Grundsatz einhellig abgelehnt.266 Somit lösen ausländische Urteile grundsätzlich auch keine Sperrwirkung i. S. d. § 118 Abs. 2 BRAO aus.267

262 Claussen/Janzen § 17 Rn. 14; Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 11; Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts, § 80 V A. 263 Siehe bereits oben Kap. 4. E. II. 2. b) aa). 264 Da anwaltsgerichtliches und Strafverfahren verfassungsrechtlich aber nicht kollidieren (s. o. Kap. 4. B. V.), ist die Formulierung „widersprüchliche Entscheidungen“ allerdings nicht ganz passend. 265 Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts, § 80 V. 266 Maunz/Dürig, Art. 103 Rn. 303 m. w. N. 267 Insofern auch wie oben bereits dargelegt zutreffend (für § 14 Abs. 2 BDG/§ 17 Abs. 5 BDO a. F.) Claussen/Janzen § 17 Rn. 14; Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 11.

144 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

b) Einschränkung durch das Gemeinschaftsrecht Etwas anderes könnte im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechtes gelten. Wie bereits oben erörtert, findet hinsichtlich strafgerichtlicher Entscheidungen von Gerichten innerhalb des Geltungsbereichs des Gemeinschaftsrechts eine Gleichstellung mit innerdeutschen strafgerichtlichen Entscheidungen, insbesondere nach Art. 54 SDÜ268, statt.269 Diese Gleichstellung bewirkt einen Strafklageverbrauch für die deutsche Strafgerichtsbarkeit270 und gilt auch für einen Freispruch.271 Entsprechend dem soeben Gesagten muß dieser Strafklageverbrauch auf § 118 Abs. 2 BRAO übertragen werden, was zur Folge hat, daß ein Freispruch eines Gerichts im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts das anwaltsgerichtliche Verfahren in gleicher Sache aufgrund von Art. 54 SDÜ sperrt. Angesichts aktueller Rechtsprechung des EuGH zum Strafklageverbrauch ausländischer Entscheidungen im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts272 ist zu überlegen, ob diese Konsequenz auch für nichtgerichtliche Entscheidungen europäischer Stellen, wie etwa die Verfahrenseinstellung, gelten muß – anders als für nichtgerichtliche Entscheidungen deutscher Stellen273.274 Zwar gilt auch diesbezüglich der insoweit eindeutige Wortlaut des § 118 Abs. 2 BRAO, der vom „gerichtlichen Verfahren“ ausgeht. Ob mit Blick auf oben genannte Rechtsprechung des EuGH dies einer europarechtlichen Überprüfung Stand hält, kann durchaus bezweifelt werden. Konsequenz daraus wäre freilich die sog. „Inländerdiskriminierung“275, da dann die Sperre des § 118 Abs. 2 BRAO zwar für ausländische nichtgerichtliche Entscheidungen in EUMitgliedsstaaten, nicht aber für inländische gelten würde.276 268

BGBl. 1993 II, S. 1010. Siehe Kap. 4. B. V. 2. 270 Nach dem oben in Kap. 4. B. V. 2. erörterten gilt der Strafklageverbrauch allerdings nicht im Verhältnis ausländisches Strafurteil – deutsches Disziplinarverfahren im Rahmen von § 115b BRAO. 271 BGH v. 28.2.2001 – 2 StR 458/00, NStZ 2001, 557. 272 EuGH v. 11.2.2003 – C-187/01 u. C-385/01, NJW 2003, 1173 = StV 2003, 313 m. Anm. Mansdörfer = NStZ 2003, 332 m. Anm. Thym; krit. Radtke/Busch, Transnationaler Strafklageverbrauch in der Europäischen Union, NStZ 2003, 281. 273 Vgl. oben Kap. 4. E. II. 2. b) aa). 274 Auf eine Erörterung der Entscheidung des EuGH in dieser Sache und deren Konsequenzen soll an dieser Stelle verzichtet werden, da dies zu weit vom eigentlichen Thema ablenken würde; siehe hierzu die Nachw. Fn. 272. 275 Zu dem Problem der „Inländerdiskriminierung“ allgemein: Weis, NJW 1983, 2721; Wesser, insb. S. 165 ff.; zur grds. Verfassungsmäßigkeit der „Inländerdiskriminierung“ siehe BGH v. 18.9.1989 – AnwZ (B) 24/89, BGHZ 108, 342 = NJW 1990, 108; VGH Mannheim v. 7.8.1995 – 13 S 329/95, NJW 1996, 72 = NVwZ 1996, 203; anders aber wohl (für Österreich) ÖstVerfGH v. 9.12.1999 – G 42/99, G 135/99, EuZW 2001, 219 m. Anm. Huber-Wilhelm. 269

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

145

g) Ausnahme: Straftat im Ausland begangen und dort nicht strafbar? Schließlich muß noch überprüft werden, wie eine Meinung der beamtendisziplinarrechtlichen Literatur zu bewerten ist, § 118 Abs. 2 BRAO wäre dann auf einen ausländischen Freispruch anzuwenden, wenn „die vom ausländischen Gericht beurteilte Tat im Ausland geschah und nach ausländischem Recht keine Straftat darstellt“277, diese hierzulande aber als Pflichtverletzung vorgeworfen wird. Diese Überlegung stützt sich wohl auf den Gedanken des § 7 Abs. 2 StGB, der das deutsche Strafrecht für Taten anwendbar macht, die von einem Deutschen im Ausland begangen wurden und dort mit Strafe bedroht ist, was im Umkehrschluß bedeutet, daß das deutsche Strafrecht dann nicht anwendbar ist, wenn die Tat im Ausland nicht unter Strafe gestellt ist. Fraglich ist aber, ob dieses Prinzip ohne weiteres auf das Disziplinarrecht übertragbar ist, da dieses prinzipiell unabhängig vom Strafrecht zu betrachten und zu beurteilen ist, die anwaltsgerichtliche Pflichtverletzung grundsätzlich von der Kriminalstrafe zu trennen ist und nur aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips ein Ausgleich im Rahmen des § 115b BRAO stattfindet278. Aufgrund dieser Trennung und Eigenständigkeit des anwaltsgerichtlichen Verfahrens und des Disziplinarrechts überhaupt kann hier § 7 Abs. 2 StGB kein Maßstab für eine mögliche Verfahrenssperre i. S. d. § 118 Abs. 2 BRAO sein. Es muß demnach beim allgemeinen Grundsatz bleiben, daß ein ausländischer Freispruch nur dann das deutsche anwaltsgerichtliche Verfahren sperrt, wenn ihm hinsichtlich eines möglichen deutschen Strafverfahrens ebenfalls eine Sperrwirkung im Sinne eines Strafklageverbrauchs zukommt. Dies ist derzeit – wie oben gezeigt – nur bei Freisprüchen von Gerichten innerhalb der Europäischen Union wegen Art. 54 SDÜ der Fall. cc) Zusammenfassung Die gesetzgeberische Idee, ein anwaltsgerichtliches Verfahren dann nicht durchzuführen, wenn ein strafgerichtlicher Freispruch in gleicher Sache vorliegt, ist zwar verfassungsmäßig nicht geboten, aber dennoch grundsätzlich und für die meisten Fälle strafgerichtlicher Freisprüche sinnvoll, da hierdurch zum einen Rechtssicherheit geschaffen und zum anderen durch die Vermeidung unterschiedlicher Urteile im Straf- und im anwaltsgerichtlichen Verfahren die Ein276 Eine Lösung der Problematik ist aufgrund der sich diesbezüglich noch am Anfang befindlichen Rechtsprechung des EuGH spekulativ, weshalb an dieser Stelle der Hinweis auf den Problemkreis genügen soll. 277 So angedeutet in Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 11. 278 Vgl. hierzu oben Kap. 4. A. II.

146 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

heit des Rechtssystems und das Vertrauen des Bürgers in den Rechtsstaat gefestigt wird. Dabei muß es sich bei innerstaatlichen Entscheidungen stets um gerichtliche Freisprüche handeln. Auf vergleichbare staatsanwaltschaftliche Beschlüsse, vornehmlich die Einstellung, findet § 118 Abs. 2 BRAO keine Anwendung. Aufgrund von Art. 54 SDÜ gilt für den Geltungsbereich des europäischen Gemeinschaftsrechts zum einen, daß entgegen dem Grundsatz, daß ausländische Freisprüche von § 118 Abs. 2 BRAO nicht umfaßt sind, diese das anwaltsgerichtliche Verfahren sperren. Zum anderen sind auch auf „Freispruch“ i. w. S. lautende nichtgerichtliche Entscheidungen von Gerichten der EU umfaßt, soweit diese i. S. d. Art. 54 SDÜ gerichtlichen Entscheidungen gleichgestellt sind. Die Regelung des § 118 Abs. 2 BRAO zeigt allerdings in anderer Hinsicht aufgrund ihrer Starrheit und Absolutheit Schwächen, insbesondere wenn der Betroffene aus Gründen freigesprochen wird, die die standesdisziplinarrechtliche Beurteilung der Pflichtverletzung nicht berühren. Für diesen (Ausnahme-)Fall wird vorgeschlagen, den Tatbestand des § 118 Abs. 2 BRAO zu öffnen und unter Berücksichtigung der Voraussetzungen, die auch auf den Lösungsbeschluß des § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO zutreffen, den Gesetzeswortlaut dahingehend zu erweitern: § 118 (2) 1Wird der Rechtsanwalt im gerichtlichen Verfahren wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit freigesprochen, so kann wegen der Tatsachen, die Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung waren, ein anwaltsgerichtliches Verfahren nur dann eingeleitet oder fortgesetzt werden, wenn diese Tatsachen, ohne den Tatbestand einer Strafvorschrift oder einer Bußgeldvorschrift zu erfüllen, eine Verletzung der Pflichten des Rechtsanwalts enthalten. 2Das Anwaltsgericht kann beschließen, daß das Verfahren dennoch eingeleitet oder fortgesetzt wird, wenn das Gericht im anderen Verfahren aus Gründen freigesprochen hat, die die anwaltsgerichtliche Bewertung der Pflichtverletzung nicht berühren. 3Absatz 3 Satz 2 gilt entsprechend.

III. Folge des § 118 Abs. 2 BRAO: Prozeßhindernis oder „negativer“ disziplinärer Überhang 1. Grundsatz Die Folge bei Eingreifen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 118 Abs. 2 BRAO ist grundsätzlich die Sperrwirkung für das anwaltsgerichtliche Verfahren; ein anwaltsgerichtliches Verfahren darf nicht eingeleitet oder muß eingestellt werden, da der strafgerichtliche Freispruch ein Prozeßhindernis darstellt.279 Die279 Vgl. Feuerich, NJW 1988, 181, 183; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 24; Henssler/ Prütting-Dittmann § 118 Rn. 13; Kleine-Cosack § 118 Rn. 4; zu § 17 Abs. 5 BDO

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

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ses Prozeßhindernis gilt gem. § 118 Abs. 2 BRAO nur insofern, als dieselben Tatsachen im Straf- und im anwaltsgerichtlichen Verfahren betroffen sind.280 Da ein Lösungsbeschluß entsprechend § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO hier de lege lata nicht möglich ist281, gilt für das Anwaltsgericht somit die Fiktion, „daß die in dem rechtskräftigen Urteil festgestellten Tatsachen keinen Straftatbestand und keine Ordnungswidrigkeit darstellen.“282 2. „Negativer“ disziplinärer Überhang Dennoch ist es nach § 118 Abs. 2 BRAO möglich, daß der Anwalt trotz strafgerichtlichen Freispruchs anwaltsgerichtlich belangt werden kann. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß die Tatsachen, die zum Freispruch geführt haben, als anwaltliche Pflichtverletzung zu werten sind, wobei diese „unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt“283 den Tatbestand einer Straf- oder Bußgeldvorschrift erfüllen dürfen. Vice versa bedeutet dies, daß die Sperrwirkung dann eintritt, wenn die in Frage kommende Pflichtverletzung im Sinne einer Strafoder Bußgeldvorschrift tatbestandsmäßig ist, aber „nur“ Rechtswidrigkeit oder Schuld entfällt oder sonstige Strafausschließungs- oder -aufhebungsgründe284 einschlägig sind. Als typische Konstellation kann der Fall zitiert werden, daß ein Rechtsanwalt, obwohl wegen (vorsätzlichen) Parteiverrats gem. § 356 StGB mangels Vorsatz freigesprochen, wegen einer fahrlässigen (§ 113 Abs. 1 BRAO, „schuldhaft“) Pflichtverletzung gem. §§ 43, 43a Abs. 4 oder etwa 45 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. 113 Abs. 1 BRAO anwaltsgerichtlich belangt werden kann.285 Aber auch wenn etwa die Strafbarkeit wegen Anstiftung zur Strafvereitelung daran scheitert, daß die Haupttat noch nicht ins Versuchsstadium gelangt ist (und deshalb freigesprochen wurde), kann in der (nicht strafbaren) Anstiftung eine Berufspflichtverletzung liegen.286 Ebenso kann eine Pflichtverletzung vor-

a. F.: BVerwG v. 8.3.1985 – 1 DB 16/85, NJW 1986, 444; BVerwG v. 9.5.1990 – 1 D 54/89, NJW 1990, 3289; BVerwG v. 8.3.1985 – 1 DB 16/85, NJW 1986, 444; Claussen/Janzen § 17 Rn. 14; Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 10; Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts, § 80 V A. 280 Zum Begriff derselben Tatsachen siehe bereits oben Kap. 2. D. 281 Siehe hierzu und zu einem Änderungsvorschlag der bestehenden Gesetzeslage oben Kap. 4. E. II. 2. b) bb). 282 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 24. 283 Claussen/Janzen § 17 Rn. 17a. 284 Zu dieser Problematik im Zusammenhang mit der Bindungswirkung des Freispruchs siehe Kap. 4. E. II. 2. b) bb) (4). 285 Nach Feuerich/Weyland § 118 Rn. 24; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 15; s. a. amtl. Begr. BT-Drs. III/120 S. 99. 286 EGH Stuttgart v. 5.3.1982 – EGH Z 9/82 (III), BRAK-Mitt. 1983, 195.

148 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

liegen, wenn eine Bestrafung wegen Tatbestandsirrtum (§ 16 Abs. 1 StGB) ausscheidet, die Entstehung oder Aufrechterhaltung des Irrtums für die Dauer der Straftat aber standesrechtlich zu beanstanden ist.287 Es muß also ein disziplinärer Überhang vorliegen, der aufgrund der Tatsache, daß trotz strafgerichtlichen Freispruchs eine anwaltsgerichtliche Ahndung „übrig bleibt“, das anwaltsgerichtliche Verfahren insoweit also „in eine andere Richtung“ geht, als „negativer“ disziplinärer Überhang bezeichnet werden kann.288 Wegen der sich für den Betroffenen nachteilig auswirkenden Ausnahme zum Grundsatz des Prozeßhindernisses bei Freispruch müssen die Gründe dafür in der Anschuldigungsschrift oder in einer nachträglichen Stellungnahme angemessen substantiiert werden. Der Unterschied der standesrechtlichen Anschuldigung zum strafgerichtlichen Freispruch muß also „sorgfältig herausgearbeitet und ausdrücklich als Pflichtverletzung gewertet werden.“289 Eine Klarstellungsvorschrift ähnlich § 118 Abs. 3 S. 2 a. E. BRAO fehlt zwar, aus § 130 BRAO ergibt sich aber eine dahingehende Substantiierungspflicht.290 3. Wirkung eines strafgerichtlichen Freispruchs nach anwaltsgerichtlicher Verurteilung a) Ausgangssituation Problematisch erscheint die denkbare Konstellation, daß ein anwaltsgerichtliches Verfahren in gleicher Sache bereits durchgeführt und eine Maßnahme bereits verhängt wurde, bevor das entsprechende Strafverfahren eingeleitet wurde (etwa weil sich eine mögliche Strafbarkeit erst im Nachhinein herausgestellt hat), das dann allerdings zu einem Freispruch führt. Fraglich ist dann, ob dieser (nachträgliche) Freispruch noch Einfluß auf das bereits abgeschlossene anwaltsgerichtliche Verfahren haben kann. Zu erörtern ist dabei jedoch zunächst einmal, ob eine nachträgliche Veränderung des anwaltsgerichtlichen Urteils überhaupt nötig ist. Unter Hinnahme einer gewissen Ungleichbehandlung zu Lasten des betroffenen Rechtsanwalts im Vergleich zum Regelfall des Freispruchs vor möglichem anwaltsgerichtlichem Verfahren ist daran zu denken, daß möglicherweise ausgehend vom gesetz-

287

Nach Rössler FS Peters, S. 249, 259. Im Gegensatz dazu zum „positiven disziplinären Überhang“ vgl. Kap. 4. C. 289 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 27; vgl. auch zu § 14 Abs. 2 BDG/§ 17 Abs. 5 BDO a. F. Claussen/Janzen § 17 Rn. 17b; Köhler/Ratz-Hummel § 14 Rn. 14. 290 Vgl. Feuerich, NJW 1988, 181, 183; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 27, § 130 Rn. 12; zu § 17 Abs. 5 i. V. m. dem § 130 BRAO entsprechenden § 65 BDO a. F. vgl. BVerwG v. 8.3.1985 – 1 DB 16/85, NJW 1986, 444; Claussen/Janzen § 65 Rn. 12. 288

E. Negativer disziplinärer Überhang, § 118 Abs. 2 BRAO

149

geberischen Zweck des § 118 Abs. 2 BRAO eine nachträgliche Veränderung nicht nötig ist: Wie bereits dargestellt, ist der gedachte Sinn der Regelung des § 118 Abs. 2 BRAO, einerseits möglicherweise gegensätzliche Entscheidungen zu vermeiden, durch die „das Vertrauen des Staatsbürgers in die Rechtspflege“291 untergraben werden würde, und andererseits im Sinne des Betroffenen im Vertrauen auf die besseren Ermittlungsmethoden der Strafermittlungsbehörden Rechtsfrieden und Rechtssicherheit einkehren zu lassen.292 Während letzteres Argument der hier in Frage stehenden Konstellation sicher nicht entgegensteht, da zeitlich nach dem strafgerichtlichen Freispruch, wenn also (und gerade eben weil) sich kein anwaltsgerichtliches Verfahren mehr anschließt und insofern Rechtssicherheit und Rechtsfrieden eingetreten ist, bleibt der Kritikpunkt der gegensätzlichen Entscheidungen selbstverständlich weiter bestehen, da anwaltsgerichtliche Verurteilung und strafgerichtlicher Freispruch sich weiterhin divergierend gegenüber stehen. Somit ist zu fragen, wie der strafgerichtliche Freispruch in das bereits rechtskräftige anwaltsgerichtliche Urteil entsprechend dem Sinn des § 118 Abs. 2 BRAO einfließen kann. Eine Lösung dieser Frage ist in der BRAO direkt nicht vorgesehen. b) Lösung de lege lata: Analoge Anwendung von § 118 Abs. 4 BRAO Denkbar wäre allerdings eine analoge Anwendung von § 118 Abs. 4 BRAO. Dieser sieht in seiner direkten Anwendung die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des anwaltsgerichtlichen Verfahrens vor, ein nach § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO fortgesetztes und sodann rechtskräftig abgeschlossenes anwaltsgerichtliches Verfahren wiederaufzunehmen, wenn dessen Feststellungen, auf denen das Urteil beruht, denen des nachfolgenden Strafverfahrens widersprechen.293 aa) Vergleichbare Interessenslage Die Interessenslage von § 118 Abs. 4 BRAO und der hiesigen Situation ist durchaus vergleichbar. Voraussetzung der direkten Anwendung von § 118 Abs. 4 BRAO ist eine sich im nachfolgenden Strafverfahren als unrichtig herausstellende Prognoseentscheidung hinsichtlich der gesicherten Sachaufklärung für die Tatsachenfeststellungen im anwaltsgerichtlichen Verfahren.

291 292 293

Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts, § 80 V. Vgl. oben Kap. 4. E. II. 2. b) bb) (5) a). Dazu siehe Kap. 3. C.

150 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Hier ist die Problematik ähnlich: Im nachfolgenden Strafverfahren stellt sich heraus, daß die Bewertung der Tat im anwaltsgerichtlichen Verfahren „unrichtig“ war, da das Anwaltsgericht verurteilt hat, während das Strafgericht auf Freispruch erkennt. Diese „Unrichtigkeit“ ist allerdings nicht im Sinne einer tatsächlichen Falschheit oder Fehlerhaftigkeit der anwaltsgerichtlichen Beurteilung zu verstehen, denn es ist durchaus denkbar, daß das Anwaltsgericht abweichend vom Strafgericht auf Basis derselben Tatsachen korrekterweise zu einer anderen Bewertung der Tat kommt. Vielmehr definiert sich diese „Unrichtigkeit“ in diesem Zusammenhang aus der gesetzlichen Fiktion des § 118 Abs. 2 BRAO, der die Verurteilung des Rechtsanwalts nach strafgerichtlichem Freispruch per se grundsätzlich verbietet.294 Zudem ist Zweck des § 118 Abs. 4 BRAO die „möglichst weitgehende Übereinstimmung der Entscheidungen“295 von Strafgericht und Anwaltsgericht. Durch die Lockerung der Sperre des § 118 Abs. 1 S. 1 und 2 BRAO zugunsten der Prozeßökonomie entsteht durch § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO in Einzelfällen eine Abweichung vom Grundsatz des Vorranges des Strafverfahrens. Diese wird durch § 118 Abs. 4 BRAO wieder ausgeglichen.296 Möglicher Zweck einer hier in Frage stehenden Korrektur der anwaltsgerichtlichen Entscheidung ist die Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs des Strafverfahrens, wie er sich in § 118 Abs. 2 BRAO äußert, und die möglichst weitgehende Übereinstimmung von anwalts- und strafgerichtlicher Entscheidung im Sinne des § 118 Abs. 2 BRAO. Anders als bei der direkten Anwendung von § 118 Abs. 4 BRAO genügt hier als Voraussetzung für eine Wiederaufnahme das bloße Vorliegen eines Freispruchs im Sinne des § 118 Abs. 2, unabhängig davon ob und inwieweit die jeweiligen Tatsachenfeststellungen voneinander abweichen. Nur so kann dem Zweck des § 118 Abs. 2 BRAO im Nachhinein zur Geltung verholfen werden. Dafür ist eine entsprechende Anwendung des § 118 Abs. 4 BRAO sinnvoll und angemessen. c) Lösung de lege ferenda: Ergänzung des § 118 Abs. 4 BRAO Allerdings erscheint es zur Klarstellung und zur Herstellung eines systematischen Zusammenhangs sinnvoll, den Wiederaufnahmegrund nicht nur analog herzuleiten, sondern vielmehr in Anlehnung an die Bestimmung des § 71 Abs. 1 Nr. 8 BDG i. V. m. § 14 Abs. 2 BDG explizit in die BRAO aufzunehmen und § 118 Abs. 4 BRAO entsprechend zu ergänzen: 294 295 296

Vgl. oben Kap. 4. E. III. 1. BT-Drs. 11/3253; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 17. Siehe dazu Kap. 3. C. III.

F. Bewertung des disziplinären Überhangs

151

„§ 118 Verhältnis des anwaltsgerichtlichen Verfahrens zum Straf- oder Bußgeldverfahren (1) . . . (3) (4) [S. 1 wie bisher] Ferner ist die Wiederaufnahme zulässig, wenn nach rechtskräftigem Abschluß des anwaltsgerichtlichen Verfahrens in einem wegen desselben Sachverhalts eingeleiteten gerichtlichen oder behördlichen Verfahren unanfechtbar eine Entscheidung ergeht, nach der gemäß § 115b oder § 118 Absatz 2 die bereits verhängte anwaltsgerichtliche Maßnahme nicht zulässig wäre. [S. 2 als S. 3 wie bisher]“297

F. Bewertung des disziplinären Überhangs bei Überlappung der strafrechtlich und anwaltsgerichtlich zu ahndenden Taten Neben dem Problem der Aussetzung des Verfahrens298 ist im Hinblick auf die Überlappung strafrechtlich relevanter und irrelevanter Pflichtverletzungen die Frage der Bewertung und Maßnahmenzumessung in solchen Fällen von Belang. Überschneidungen können einerseits auftreten, wenn bereits strafrechtlich abgeurteilte und deshalb gem. § 115b BRAO „geminderte“ Pflichtverletzungen neben solche von jeglichem Strafvorwurf unabhängige treten (Kap. 4. F. I.). Andererseits ist zu beurteilen, wie trotz strafgerichtlichen Freispruchs nach § 118 Abs. 2 BRAO zu ahndende Pflichtverletzungen neben anderen zu bewerten sind (Kap. 4. F. II.).

I. Bewertung des positiven disziplinären Überhangs Die Bewertungskriterien für eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Sanktion wurden bereits oben unter Kap. 4. C. ausführlich erörtert. Demnach ist eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Maßnahme gem. § 115b BRAO dann möglich, wenn sie zusätzlich erforderlich ist, um den Anwalt zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und um das Ansehen der Rechtsanwaltschaft zu wahren.299 In diesem Fall wird aber wohl der Einfluß der vorhergehenden (Straf-)Sanktion zumindest dahingehend berücksichtigt werden müssen, daß die zu verhängende Maßnahme milder sein wird, als diese nach abstrakter Betrachtung und Bewertung der standesinternen Pflichtverletzung ausfallen würde.

297

Text identisch zu dem bei Kap. 4. D.; beachte auch die dortigen Ausführungen. Siehe dazu ausführlich Kap. 3. D. 299 Vgl. oben unter Kap. 4. C. und zusammenfassend Feuerich/Weyland § 115b Rn. 30. 298

152 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Treten nun aber neben Einzeltaten, die bereits strafrechtlich abgeurteilt wurden und somit nach § 115b BRAO zu beurteilen sind, weitere nicht strafrechtlich relevante Taten, ist zu fragen, wie in einem solchen Fall die Maßnahmenzumessung erfolgen muß. Nach dem noch herrschenden Verständnis der einheitlichen Pflichtverletzung, wonach alle dem Rechtsanwalt zur Last gelegten Taten als eine Pflichtverletzung gesehen werden müssen, stellt sich eine exakte Bewertung des „Gesamtverhaltens“ problematisch dar. Nach bisheriger Auffassung soll ein solches Zusammentreffen der unterschiedlichen Taten zu einer weitgehenden Unanwendbarkeit von § 115b BRAO führen.300 Dies führt jedoch dazu, daß der Gesetzeszweck des § 115b BRAO, die Berücksichtigung anderweitiger Ahndungen zu Gunsten des Rechtsanwalts, in solchen Fällen völlig verfehlt wird, was zu Recht der Kritik unterworfen ist.301 Unter Beibehaltung des Begriffs der einheitlichen Pflichtverletzung wäre deshalb zu fordern, daß in solchen Konstellationen § 115b BRAO zumindest sinngemäß angewendet und bei der Gesamtbewertung der Einheitspflichtverletzung hinsichtlich des strafprozessual sanktionierten Teils das Strafurteil entsprechend berücksichtigt werden muß. Freilich ist auch eine solche Lösung unbefriedigend, da sie undurchsichtig ist und eine klare Strukturierung und Bewertung vermissen läßt. Deshalb ist es sinnvoll, auch im Rahmen der hiesigen Bewertung den oben bereits entwickelten302 Begriff der Einheitsmaßnahme anzuwenden, wonach zunächst jede Einzeltat des Rechtsanwalts getrennt von den anderen betrachtet und bewertet werden muß und erst auf der Ebene der Maßnahmenverhängung eine einheitliche Sanktion erfolgt. Dann läßt sich auch problemlos die einzelne strafrechtlich abgeurteilte Tat betrachten und unter Berücksichtigung von § 115b BRAO diese aus der Gesamtsanktion aussondern, wenn kein disziplinärer Überhang erkennbar ist. Andernfalls muß die strafrechtliche Sanktion zunächst entsprechend bei der Einzelbewertung berücksichtigt werden und kann dann dementsprechend in die Einheitssanktion einfließen.

II. Bewertung des negativen disziplinären Überhangs Die Bewertung des negativen disziplinären Überhangs bei strafgerichtlichem Freispruch hinsichtlich eines Teils der anwaltsgerichtlich vorgeworfenen Taten 300 Vgl. BGH v. 5.12.1977 – AnwSt (R) 5/77, BGHSt 27, 305, 306 = NJW 1978, 836 = EGE XIV, 162; Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 944; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 76 Rn. 54, § 115b Rn. 7. 301 Vgl. Jähnke FS Pfeiffer, S. 941, 949 f.; Feuerich/Weyland § 114 Rn. 76; siehe schon oben Kap. 3. D. II. 302 Kap. 3. D. II. 3.

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

153

bereitet keine Probleme im Hinblick auf eine Konkurrenz mit dem strafprozessualen Urteil, da die anwaltsgerichtliche Betrachtung und Beurteilung völlig abstrahiert von jeglicher strafrechtlicher Bewertung vorgenommen werden kann. Weil hier wegen des Freispruchs gerade kein strafrechtlicher Vorwurf mehr besteht, kann der übrig bleibende, vom Strafrecht unabhängige standesrechtliche Pflichtwidrigkeitsvorwurf zusammen mit den übrigen, von vornherein nicht mit dem strafrechtlichen Vorwurf konkurrierenden Pflichtverletzungen nach den allgemeinen Maßnahmenzumessungsregeln bewertet werden.

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen im Strafverfahren (§ 118 Abs. 3 BRAO) I. Geschichte und Zweck Nach § 118 Abs. 3 S. 1 BRAO ist das Anwaltsgericht an die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts grundsätzlich gebunden. 1. Geschichte Diese Bindung war in der RAO von 1878 noch nicht ausdrücklich geregelt. Dennoch war in der ehrengerichtlichen Rechtsprechung von vornherein eine Bindung des Ehrengerichts an strafgerichtliche Feststellungen zumindest im Grundsatz mehrheitlich anerkannt.303 Umstritten war lediglich, ob diese Bindung unbedingt, also ohne Möglichkeit einer Lösung durch das Ehrengericht, gelte,304 oder ob es möglich sei, davon abzuweichen, „wenn gegen ihre Richtigkeit besondere Umstände geltend gemacht wurden.“305 Bereits in der RRAO von 1936 war mit § 67 Abs. 4 S. 2 die Bindung festgeschrieben und durch die Möglichkeit des einstimmigen Lösungsbeschlusses der Meinungsstreit erledigt. Einzig die Frage, ob die Tatsachenprüfung hinsichtlich der Voraussetzungen der Schuldfähigkeit gem. § 51 StGB a. F. (entspr. § 20 StGB) auch von § 67 Abs. 4 S. 2 RRAO umfaßt ist, war zunächst vom EGH ablehnend beurteilt worden306, was aber wenig später wieder aufgegeben wurde.307 303

Vgl. Friedlaender, § 65 Anm. 27. So Friedlaender (1. Aufl.), § 65 Anm. 27. 305 Friedlaender (1. Aufl.), § 65 Anm. 27; s. dort auch den entsprechenden Rspr.Nachw. zu beiden Ansichten; siehe auch die umfangreichen Rspr.-Nachw. in Isele § 118 IV B 2, S. 1565. 306 EGH v. 26.10.1932 – II. Senat. G. 40/32, EGH 26, 208, 210. 307 EGH v. 16.10.1934 – 3. Senat. G 137/34, EGH 28, 194; s. a. Noack, § 67 2 b. 304

154 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Die grundsätzliche Bindung mit Lösungsmöglichkeit wurde dann auch mit § 118 Abs. 3 in die BRAO übernommen, wobei anfänglich der Lösungsbeschluß nur einstimmig ergehen konnte. Erst später308 wurde entsprechend der Neuregelung im Beamtendisziplinarrecht die Einstimmigkeit durch einen Mehrheitsbeschluß ersetzt, weil „in der Praxis die bisherige Bindung als zu starr empfunden worden sei und die Lockerung den Grundsatz der Rechtssicherheit nicht entscheidend antaste“309. 2. Zweck des § 118 Abs. 3 BRAO Als Begründung für die Bindung ist die Vermeidung einander widersprechender richterlicher Entscheidungen über denselben Sachverhalt anzuführen.310 Im Gegensatz zu den obigen Ausführungen bei der Bindungswirkung von §§ 115b und 118 Abs. 2 BRAO, wo diese nicht von tatsächlichen Feststellungen, sondern lediglich vom alleinigen Vorliegen verurteilender oder freisprechender Entscheidungen ausgeht, erscheint hier die grundsätzliche Bindung weit über das Argument der gesetzgeberischen, quasi rechtspolitischen Entscheidung (bei § 115b BRAO auch wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit) hinaus aus folgenden Gründen gerechtfertigt: Da das Strafverfahren im allgemeinen über die besseren Ermittlungsmethoden verfügt311 und die Tatsachenermittlung nach Verfahrensabschluß in der Regel bereits umfassend und gründlich abgeschlossen ist, erscheint es aus prozeßökonomischen Gründen plausibel, die gleichen Ermittlungen im anwaltsgerichtlichen Verfahren nicht nochmals anzustellen. Würde dies erfolgen, würden in der Mehrzahl der Fälle wohl dieselben Ergebnisse erzielt, andererseits teilweise wirklich widersprüchliche und nicht nur unterschiedliche Resultate herauskommen, zudem wäre dadurch der Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt. In den wenigen Fällen, wo die strafprozessualen Ermittlungen dem Anwaltsgericht falsch erscheinen, steht immer noch der Lösungsbeschluß nach § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO offen. Eine Bindung in der Form des heutigen § 118 Abs. 3 BRAO ist also grundsätzlich zu befürworten.

308 309 310 311

G. v. 13.1.1969 (BGBl. I, S. 25). BT-Drs. V/2848, S. 28. Vgl. BT-Drs. III/120, S. 99. Siehe dazu schon Kap. 2. B., dort Fn. 19.

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

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II. Reichweite der Bindungswirkung 1. Grundsatz Die Bindung des Anwaltsgerichts an die das Urteil des Strafgerichts tragenden Feststellungen stellt im Verhältnis zu einer möglichen Nachprüfung gem. § 118 Abs. 3 S. 2 die Regel dar. Ausgehend von diesem Grundsatz ist allgemein anerkannt, daß die Entscheidung des Anwaltsgerichts, an den strafprozessualen Feststellungen festzuhalten, keiner Begründung im anwaltsgerichtlichen Urteil bedarf.312 Mit Blick auf den Sinn der Vorschrift erscheint dies auch plausibel, da der Effizienzzweck der Bindungsvorschrift, die Vermeidung nochmaliger Beweisaufnahme im Vertrauen auf die Richtigkeit des Strafprozesses, geschmälert werden würde, müßte das Anwaltsgericht darlegen, warum es an den Feststellungen des Strafgerichts festhält. Wohl vor demselben Hintergrund ist auch anerkannt, daß eine Beweiserhebung darüber, ob und in welcher Weise Zweifel an der Richtigkeit im Vorfeld einer Entscheidung nach § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO313 bestehen, unzulässig ist. Entsprechende dahingehende Beweisanträge sind ebenfalls nicht gestattet.314 Im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG und den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör muß es jedoch möglich sein, daß dieser die Möglichkeit eingeräumt bekommt, „alles das, was er gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils glaubt vorbringen zu können, vorzutragen.“315 So, aber wohl auch nur so, entspricht § 118 Abs. 3 BRAO der Vorschrift des Art. 103 Abs. 1 GG.316 Hält sich das Anwaltsgericht nicht an die Bindung gem. § 118 Abs. 3 BRAO, weil es ohne Lösungsbeschluß abweichende Tatsachenfeststellungen trifft, liegt ein in der Regel zur Revision führender schwerer Verfahrensfehler ebenso vor, wie wenn es nicht bindende Feststellungen317 übernimmt318, zumindest wohl dann, wenn die (formell unzulässigen) Tatsachenfeststellungen von denen des Strafgerichts abweichen und das Urteil somit gem. § 337 StPO auf dem Verstoß beruht. 312 BGH v. 4.3.1985 – AnwSt (R) 22/84, BGHSt 33, 155, 156 m. Verw. auf BDH v. 4.1.1956 – I D 47/54, BDHE 3, 107, 109; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 35; Jessnitzer/ Blumberg § 118 Rn. 6. 313 Siehe dazu sogleich unter Kap. 4. G. III. 314 BGH v. 4.3.1985 – AnwSt (R) 22/84, BGHSt 33, 155; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 35; Jessnitzer/Blumberg § 118 Rn. 6. 315 EGHbritZ v. 17.7.1957 – EV 515/57 B, EGE V, 71, 75; vgl. auch Feuerich/Weyland § 118 Rn. 35 m. Hinw. auf Claussen/Janzen § 18 Rn. 14b. 316 Vgl. EGHbritZ a. a. O.; Isele § 118 IV J 1, S. 1567. 317 Vgl. etwa unten Fn. 396. 318 Vgl. Claussen/Janzen § 18 Rn. 12c; Köhler/Ratz-Köhler § 57 Rn. 14.

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2. Begriff des „Urteils im Strafverfahren“ Voraussetzung für eine wirksame Bindung gem. § 118 Abs. 3 S. 1 BRAO ist das Vorliegen eines Urteils im Strafverfahren, das auf den relevanten tatsächlichen Feststellungen beruht319. Zweifelsohne bezieht sich der Gesetzestext dabei in erster Linie auf ein rechtskräftiges Urteil deutscher Gerichte in Straf- (und Bußgeld-)verfahren.320 Gerichtliche Beschlüsse sind deshalb grundsätzlich321 nicht umfaßt.322 Hierbei gilt es aber zu differenzieren und neben dem Urteil in einem vollständig durchgeführten und rechtskräftig abgeschlossenen Offizialverfahren weitere Möglichkeiten zu betrachten: a) Urteil nach § 267 Abs. 4 StPO Durch § 267 Abs. 4 StPO wird dem Strafgericht ermöglicht, die Gründe des Urteils abzukürzen. In diesem Fall braucht dieses neben der Bezeichnung der einschlägigen Strafgesetze „nur die Angabe der für erwiesen erachteten Tatsachen zu enthalten, in denen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlungen gefunden werden.“323 Nach h. M. müssen zudem die Rechtsfolgen und die hierfür maßgeblichen Bestimmungen aufgeführt werden.324 Indes kann auf alles andere, wie die Darlegung von Indizien, die Auseinandersetzung mit behaupteten strafzumessenden Umständen, verzichtet werden.325 Die Vereinfachung besteht also darin, daß § 267 „Abs. 1 S. 2 und Abs. 2, 3 und 6 StPO nicht angewendet werden müssen.“326 Voraussetzung hierfür ist ein allseitiger Rechtsmittelverzicht oder das Verstreichen der Rechtsmittelfrist (§ 267 Abs. 4 S. 1 1. Halbsatz StPO), also die Rechtskraft bezüglich aller Anfechtungsberechtigten im Schuld- und Strafausspruch.327 Darüber hinaus genügt nach Abs. 4 S. 1 2. Halbsatz unter vollständigem Verzicht auf gesonderte Abfassung der Gründe328 sogar ein diesbezüglicher Ver319 Zur Frage des „Beruhens auf den tatsächlichen Feststellungen“ siehe sogleich unter Kap. 4. G. II. 3. 320 Vgl. nur Feuerich/Weyland § 118 Rn. 40. 321 Zu den Ausnahmen siehe sogleich Kap. 4. G. II. 2. e) und Kap. 4. G. II. 2. g). 322 Claussen/Janzen § 18 Rn. 3b. 323 Peters, S. 480. 324 HK-Julius, § 267 Rn. 27; KK-Engelhardt, § 267 Rn. 38; M-G § 267 Rn. 25. 325 Vgl. Peters a. a. O. 326 KK-Engelhardt, § 267 Rn. 38; s. a. M-G § 267 Rn. 25; genauer: Eigentlich ist Abs. 3 S. 1 1. Halbsatz anzuwenden. 327 Vgl. auch weitergehend KK-Engelhardt, § 267 Rn. 37. 328 Rieß, NJW 1978, 2265, 2271.

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

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weis auf die Anklageschrift oder deren genannte Surrogate, wenn durch das Urteil lediglich Geldstrafe oder in Verbindung damit Fahrverbot oder Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet wird und „sich die Feststellungen in der Hauptverhandlung in allen wesentlichen Punkten mit ihm [sic.: dem Anklagesatz] dekken.“329 Vor allem letztere Verweisungsmöglichkeit wirft die Frage auf, ob solch abgekürzte Urteile eine Bindungswirkung gem. § 118 Abs. 3 BRAO entfalten. Ansatzpunkt für eine Beantwortung dieser Frage ist wiederum der Zweck der Vorschrift: Aufgrund des Vertrauens auf das Strafverfahren und des Effizienzgebots sind solche Tatsachenfeststellungen bindend, die nach umfassender Beweisaufnahme durch das Strafgericht aus dessen Urteil hervorgehen. Ein Verweis auf andere Erkenntnisquellen ist deshalb grundsätzlich unzulässig, da schriftliche Urteilsgründe aus sich heraus verständlich sein müssen.330 Eine Ausnahme ist allerdings dann zuzugestehen, wenn das Gesetz eine Ausnahme und damit eine Verweisung gerade vorsieht und zuläßt. So gebildete Urteile stehen dann ungekürzten gleich.331 Daraus läßt sich herleiten, daß eine Bindung nach § 118 Abs. 3 BRAO jedenfalls dann gegeben ist, wenn und soweit die festgestellten Tatsachen aus dem Urteil direkt oder über gesetzlich zugelassene Verweisung indirekt ersichtlich sind.332 b) Urteil im Privatklageverfahren Zwar ergeht mit Blick auf § 384 Abs. 1 StPO grundsätzlich im Privatklageverfahren das Urteil in demselben Verfahren wie im Offizialverfahren und hat auch dieselben Wirkungen.333 Gemäß § 384 Abs. 3 StPO bestimmt aber das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme. Dabei ist es einerseits an den Untersuchungs- und Amtsaufklärungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO gebunden. Andererseits hat es diesbezüglich einen größeren Ermessensspielraum als im Offizialverfahren, da es an die vergleichsweise restriktiven Ablehnungsgründe für Beweisanträge der §§ 244 Abs. 3 und 4 sowie 245 StPO gerade nicht gebunden ist und so die Möglichkeit der Beweisantizipation „in gewissen Grenzen“334 eingeräumt bekommt.335 329

Rieß, NJW a. a. O. BGH v. 5.11.1984 – AnwSt (R) 11/84, BGHSt 33, 59, 60. 331 BGH v. 30.11.1987 – AnwSt (R) 8/87, BRAK-Mitt. 1988, 212 m. Verw. auf BGH v. 5.11.1984 a. a. O. 332 Feuerich, NJW 1988, 181, 184; auch (ohne nähere Begründung) Claussen/Janzen § 18 Rn. 3a. 333 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 40. 334 M-G § 244 Rn. 12. 330

158 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Hingegen ist im anwaltsgerichtlichen Verfahren § 244 StPO nach § 116 S. 2 BRAO vollständig entsprechend anwendbar.336 Insofern könnten dem beschuldigten Rechtsanwalt möglicherweise Beweisanträge im anwaltsgerichtlichen Verfahren durch die Bindung nach § 118 Abs. 3 BRAO verweigert werden337, die bereits im Privatklageverfahren abgelehnt wurden, nach §§ 116 S. 2 BRAO, 244 StPO aber ohne eine solche Bindung zuzulassen wären und möglicherweise das Ergebnis der Beweisaufnahme korrigiert hätten.338 Deshalb könnte es fraglich sein, ob § 118 Abs. 3 BRAO auf das strafrechtliche Privatklageverfahren überhaupt anwendbar ist339, denn dem Betroffenen werden hierdurch immerhin Rechte im anwaltsgerichtlichen Verfahren genommen. Zurückkommend auf den Zweck der Bindung nach § 118 Abs. 3 BRAO müßte nun wieder geprüft werden, ob sich das angesprochene Vertrauen auf das vorangegangene Strafverfahren unter diesen Voraussetzungen auch auf das Privatklageverfahren beziehen kann. Auch für das Privatklageverfahren steht außer Frage, daß es mit Blick auf die aus dessen Beweisaufnahme gewonnenen Tatsachenfeststellungen aufgrund von § 244 Abs. 2 StPO dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundrecht auf rechtliches Gehör entspricht. Zwar stellt das Beweisantragsrecht insgesamt höhere Anforderungen an die gerichtliche Sachaufklärungspflicht als das Amtsaufklärungsgebot nach § 244 Abs. 2 StPO.340 Dies bedeutet im Gegenzug aber nicht, daß eine Tatsachenfeststellung, die sich lediglich auf die Beweiserhebung nach § 244 Abs. 2 StPO stützt, die Grenze des rechtlich Zulässigen unterschreitet. Ein Vertrauen in ein so durchgeführtes Privatklageverfahren kann deshalb angenommen werden, zumal die Möglichkeit der erneuten Beweiserhebung durch § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO in kritischen Zweifelsfällen immer noch offensteht. Eine Bindungswirkung von Tatsachenfeststellungen des Privatklageverfahrens ist damit im Ergebnis zu befürworten,341 wenn auch im Hinblick auf die dort 335

HK-Kurth, § 384 Rn. 10 ff.; KK-Senge, § 384 Rn. 3; M-G § 284 Rn. 14. Mit Ausnahme für das Verfahren zum vorläufigen Berufs- und Vertretungsverbot nach § 150 ff. BRAO: siehe § 151 Abs. 4 BRAO; vgl. Isele Anhang 2 zu § 116, StPO § 244 (S. 1502); Feuerich/Weyland § 116 Rn. 48; Henssler/Prütting-Dittmann § 116 Rn. 22. 337 Vgl. soeben Kap. 4. G. II. 1. (bei Fn. 314). 338 Vgl. dazu Herdegen, NStZ 1984, 97, 99. 339 Dazu schon krit. aber ohne Begr. EGH v. 20.10.1926 – II. Senat. G. 54/26, EGH XX, 80, 82; zweifelnd aber bejahend, jedoch auch ohne Begr. Isele § 118 IV D 3. 340 Vgl. BGH v. 24.8.1983 – 3 StR 136/83, BGHSt 32, 68; Julius, NStZ 1986, 61. Dagegen geht die sog. „Identitätslehre“ (vgl. dazu die Nachw. bei Julius a. a. O. Fn. 1) davon aus, daß das Amtsaufklärungsgebot mit der Beweiserhebungspflicht aufgrund Beweisantrags inhaltlich identisch ist und ersteres lediglich zur Informationsbeschaffung für eine die Gerichte ohnehin bindende Ermittlungspflicht dient. 336

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

159

eingeschränkte Beweisantragsmöglichkeit dahingehende Hinweise der Verteidigung bei der konkreten Entscheidung über eine erneute Prüfung nach § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO vom Anwaltsgericht berücksichtigt werden sollten.342 c) Ausländisches Urteil Entsprechend obiger Ausführungen zur grundsätzlichen Anwendbarkeit von § 115b343 und § 118 Abs. 2 BRAO344 auf ausländische Urteile läßt sich zunächst feststellen, daß sich auch § 118 Abs. 3 zunächst nur auf Urteile deutscher Gerichte bezieht.345 Mit Blick auf den ne bis in idem-Grundsatz des Art. 54 SDÜ und zukünftig Art. II-50 der Verfassung der EU346 könnte im Bereich des Gemeinschaftsrechts jedoch etwas anderes gelten: Zwar statuieren Art. 54 SDÜ und Art. II-50 EUVerfassung keine zwischenstaatliche Pflicht der Bindung tatsächlicher Erkenntnisse. Dennoch könnte sich aus der europarechtlichen gegenseitigen Anerkennung der Strafrechtspflege innerhalb der Mitgliedsstaaten, die dem Verbot der Doppelbestrafung innewohnt, etwas anderes ergeben. Wenn Art. 54 SDÜ und zukünftig Art. II-50 EU-Verfassung schon eine zwischenstaatliche Bindung strafgerichtlicher Urteile statuieren und damit ein gegenseitiges Vertrauen in die jeweiligen Entscheidungen der Mitgliedsstaaten fordern347, impliziert dies notwendigerweise auch ein Vertrauen in die zum jeweiligen akzeptierten Urteil führenden tatsächlichen Erkenntnisse. Vice versa könnte eine Nichtakzeptanz von Tatsachenfeststellungen mitgliedsstaatlicher Gerichte niemals zu einer Akzeptanz der darauf fußenden Entscheidungen führen, was aber wiederum Art. 54 SDÜ und Art. II-50 EU-Verfassung widersprechen würde. Dennoch wäre eine entgültige Entscheidung zu dieser Problematik zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund der sich noch in der Entwicklung befindlichen Forschung zum gemeinschaftsrechtlichen ne bis in idem gerade auch im Zusammenhang mit Art. II-50 EU-Verfassung wohl noch verfrüht. Deshalb sollen die

341

So auch Feuerich, NJW 1988, 181, 184. Im Sinne der obigen allgemeinen Feststellungen bei Fn. 315. 343 Vgl. Kap. 4. B. V. 1. 344 Vgl. Kap. 4. E. II. 2. b) bb) (5) a). 345 So auch Feuerich, NJW 1988, 181, 184; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 41; Claußen/Janzen § 18 Rn. 3a. 346 Siehe dazu schon Kap. 4. B. V. 2. und Kap. 4. E. II. 2. b) bb) (5) b). 347 Vgl. „Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen“, Abl. EG C 12 v. 15.1. 2001, S. 10. 342

160 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

obigen Ausführungen Anlaß geben, auch in dieser Richtung über das gemeinschaftsrechtliche ne bis in idem nachzudenken. d) Strafbefehlsverfahren Die frühere ehren- und anwaltsgerichtliche Rechtsprechung hat die Anwendung von § 118 Abs. 3 BRAO auf die Tatsachenfeststellungen von Strafbefehlen – allerdings meist ohne nähere Begründung – durchweg angenommen.348 Dagegen wird eine Bindungswirkung von Strafbefehlen in der Literatur zumeist abgelehnt.349 Der BGH hat sich nunmehr der Literaturmeinung angeschlossen und eine Bindung von Strafbefehlen für das anwaltsgerichtliche Verfahren abgelehnt.350 Dieser Ansicht ist zuzustimmen. Zum einen widerspräche eine Einbeziehung von Strafbefehlen dem Wortlaut des § 118 Abs. 3 BRAO, der von einem „Urteil“ ausgeht.351 Auch § 410 Abs. 3 StPO, der den Strafbefehl, gegen den nicht rechtzeitig Einspruch erhoben wurde, einem rechtskräftigen Urteil gleichstellt, kann eine derartige Identität, die zur Bindung nach § 118 Abs. 3 BRAO führen könnte, nicht entnommen werden.352 Zum anderen entspräche eine solche Bindungswirkung nicht dem Sinn und Zweck des § 118 Abs. 3 BRAO. Dieser darf sich zunächst nämlich nicht an der vergleichbaren Wirkung von Urteil und Strafbefehl orientieren, sondern an der Frage, ob auch das Strafbefehlsverfahren dem „Vertrauen des anwaltsgerichtlichen Verfahrens“ in die besseren Ermittlungsmöglichkeiten des Strafprozesses353 gerecht wird. Der Strafbefehl ergeht – anders als etwa ein Urteil im strafgerichtliche Hauptverfahren – aufgrund „vergleichsweise summarischer Prüfung, regelmäßig nur nach Aktenlage auf der Grundlage der Annahme hinreichenden Tatverdachts bei nicht entgegenstehenden weiteren richterlichen Bedenken.“354 Dies 348 Vgl. etwa EGH Celle v. 7.5.1969 – EGH 1/69, EGE X, 160, 161; EG Kassel v. 15.5.1975 – EG 2/74, EGE XIII, 208; anders noch EGH v. 8.1.1927 – I. Senat. G 53/ 26, EGH 21, 39 mit entsprechend zutreffender Argumentation (siehe sogleich). 349 Vgl. Feuerich NJW 1988, 181, 184; Isele § 118 IV D 2; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 42; Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 22 f.; Jessnitzer/Blumberg § 118 Rn. 7; Kleine-Cosack § 118 Rn. 5. 350 BGH v. 12.4.1999 – AnwSt (R) 11/98, BGHSt 45, 46 = NJW 1999, 2288 = MDR 1999, 895 = BRAK-Mitt. 1999, 146 = AnwBl 1999, 607. 351 Vgl. Feuerich/Weyland, § 118 Rn. 42. 352 So BGH a. a. O., BGHSt 45, 46, 47. 353 Vgl. oben Kap. 4. G. I. 2. 354 BGH a. a. O., BGHSt 45, 46, 48; wobei die genannten Voraussetzungen im einzelnen nicht unumstritten sind.

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

161

genügt freilich einem rechtsstaatlich geordneten, auf Wahrheitsermittlung zielenden Verfahren.355 Dennoch ist der Unterschied zwischen den Erkenntnisgrundlagen des Urteils und des Strafbefehls „prinzipieller Art“356: Zwar kann auch die Grundlage eines Urteils im Einzelfall eine möglicherweise nur oberflächliche Tatsachenermittlung in der Hauptverhandlung bilden. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Möglichkeit einer fundierten Tatsachenermittlung aufgrund einer umfangreichen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung im Strafbefehlsverfahren gänzlich fehlt. Die in dieser Hinsicht „schwächere“ Stellung des Strafbefehls gegenüber dem Endurteil läßt sich auch aus dem Gesetz selbst herleiten: § 373a StPO erweitert die Wiederaufnahmemöglichkeit eines Strafbefehlsverfahrens zuungunsten des Verurteilten im Vergleich zur Möglichkeit der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten gem. § 362 StPO, die aufgrund des Schutzes des Verurteilten mit Blick auf den Grundsatz ne bis in idem stark eingeschränkt ist. Daran läßt sich erkennen, daß der Gesetzgeber selbst dem Strafbefehlsverfahren eine hinsichtlich seines Ergebnisses (das ja wegen § 373a StPO leichter aufgehoben werden kann) wesentlich geringere Bedeutung zukommen läßt. Damit wird aber auch konstatiert, daß die Grundlage des Ergebnisses, die Tatsachenfeststellungen des Strafbefehls eine gegenüber den Tatsachenfeststellungen des Urteils geringere Qualität besitzen, wenn es für § 373a StPO ausreicht, daß lediglich neue Tatsachen beigebracht werden müssen, die die Tat zu einem Verbrechen qualifizieren. Dagegen geht das Argument fehl, der beschuldigte Rechtsanwalt hätte es durch Einlegung eines Einspruchs nach dem Strafbefehl in der Hand, die strafprozessuale Hauptverhandlung und damit eine umfangreiche Beweisaufnahme herbeizuführen. Zum einen sind es für den betroffenen Rechtsanwalt oftmals andere Gründe als die materielle Akzeptanz des Strafbefehls aufgrund der Anerkennung der Tatsachenfeststellungen, die für die Annahme des Strafbefehls sprechen.357 So dürften insbesondere wirtschaftliche Aspekte des Rechtsanwalts eine Rolle spielen, denn ein „schnell aus der Welt geschafftes“ Verfahren könnte den Anwalt ökonomisch weniger schädigen als ein lang andauerndes Hauptverfahren, auch wenn dies im Ergebnis für ihn vielleicht positiv ausgeht.358 Zum anderen geht es hier nicht darum, ob eine Entscheidung des Strafgerichts eine dem strafgerichtlichen Urteil entsprechende Wirkung entfaltet und ob 355

Vgl. BGH a. a. O., BGHSt 45, 46, 48; vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 43. BGH a. a. O.; vgl. Feuerich/Weyland a. a. O. 357 Vgl. BGH a. a. O., BGHSt 45, 46, 49; vgl. Feuerich/Weyland a. a. O. 358 Vgl. diesen Gedanken bereits im Zusammenhang mit dem Bestreben nach Beschleunigung des Verfahrens bei Kap. 3. D. III. 356

162 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

der Strafbefehl dementsprechend dem Urteil gem. § 410 Abs. 3 StPO gleichsteht. Vielmehr ist für die Frage, ob die Tatsachenfeststellungen aus solchen Entscheidungen nach § 118 Abs. 3 BRAO für das Anwaltsgericht bindend sein sollen, entscheidend, daß die zur Diskussion stehende Entscheidung in ihrem Ablauf und Verfahren und somit in der Art und Weise, wie die die Entscheidung stützenden Erkenntnisse gewonnen wurden, mit einem Urteil nach durchgeführter Hauptverhandlung vergleichbar sind. Hier bestehen jedoch zwischen Strafbefehl und Urteil erhebliche, ja prinzipielle Unterschiede.359 Die daraus folgende Annahme, daß § 118 Abs. 3 BRAO auf Strafbefehle nicht anwendbar ist360, durchbricht gewiß für diesen Bereich die Maxime der Vermeidung divergierender Entscheidungen im Straf- und Disziplinarverfahren.361 Da aber das für das anwaltsgerichtliche Verfahren (ebenso wie für das Strafverfahren) geltende Prinzip der Erforschung der „materiellen Wahrheit“362 dem gegenübersteht und dem anwaltsgerichtlichen Verfahren aufgrund seiner bereits eingehend dargelegten Eigenständigkeit die Unabhängigkeit vom Strafprozeß zumindest insoweit zugebilligt werden muß, als das Verfahren des Strafprozesses zur Findung der materiellen Wahrheit bezüglich seines Umfangs und seiner Gründlichkeit hinter dem anwaltsgerichtlichen Verfahrens zurückfällt, ist eine solche Durchbrechung gerechtfertigt. Dennoch ist, dem BGH363 folgend, den im Strafbefehl dargelegten Tatsachen zwar keine formelle Bindung, zumindest jedoch eine Indizwirkung für das anwaltsgerichtliche Verfahren zuzubilligen. Dementsprechend wird das Anwaltsgericht regelmäßig von Amts wegen nicht verpflichtet sein, diesbezüglich eine „besonders ausführliche und kritische Beweiserhebung“364 durchzuführen und insbesondere mögliche, dem Strafbefehl widersprechende entlastende Beweise einzuholen. So wird zumeist eine erleichterte Beweisführung möglich sein, etwa die Protokollverlesung nach § 138 Abs. 1 BRAO. Diese „Erleichterung“ aufgrund der Indizwirkung wird jedoch selbstverständlich dann aufgehoben, wenn dem Gericht entsprechende anderslautende Verdachtsmomente bekannt werden. Dann ist wiederum eine umfassende Beweiserhebung angezeigt. Außerdem besteht für den Beschuldigten im Unterschied zur Sperre des § 118 Abs. 3 BRAO die Möglichkeit, zu seiner Entlastung in dieser Richtung mögliche Beweisanträge zu stellen.365 359

Siehe oben (bei Fn. 356). So auch EGH v. 8.1.1927 – I. Senat. G. 53/26, EGH XXI, 39; BGH a. a. O., BGHSt 45, 46. 361 Vgl. BGH a. a. O., BGHSt 45, 46, 48; vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 43; a. A., bereits das Vorliegen verwertbarer Tatsachenfeststellungen durch den Strafbefehl ablehnend Henssler/Prütting-Dittmann § 118 Rn. 22 f. 362 So schon EGH a. a. O., EGH XXI, 39, 40. 363 BGH a. a. O., BGHSt 45, 46, 49; vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 44. 364 BGH a. a. O. 360

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

163

e) Bindung an Einstellungsbeschlüsse Eine Bindungswirkung von tatsächlichen Feststellungen innerhalb eines Gerichtsverfahrens, das mit Einstellung endet, kann schon aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts des § 118 Abs. 3 BRAO („des Urteils im Strafverfahren“) nicht angenommen werden. Außerdem werden in einem solchen Fall die tatsächlichen Feststellungen die für ein Urteil notwendige Sorgfalt vermissen lassen, da diese für eine Einstellung in der Weise nicht nötig sind.366 Hiervon lassen sich allerdings Ausnahmen erkennen: f) Einstellung nach Rechtsmittelbeschränkung auf das Strafmaß Nach § 318 S. 1 StPO ist eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch und somit auf die Frage des Strafmaßes grundsätzlich zulässig.367 Auch in der Revision ist eine gesonderte rechtliche Prüfung des Rechtsfolgenausspruchs grundsätzlich möglich.368 Fraglich ist dann, ob die tatsächlichen Feststellungen der Tatsachengerichte i. S. d. § 118 Abs. 3 BRAO auch dann für das Anwaltsgericht bindend sind, wenn das Strafverfahren nach der Beschränkung eingestellt wird. Um dies zu beantworten, lohnt ein Blick auf die Rechtsfolgen der Rechtsmittelbeschränkungen. Diese sind jedoch im einzelnen sowohl in der Berufung als auch in der Revision umstritten: Während Teile der Literatur und früherer Rechtsprechung wie bei der vertikalen Rechtsmittelbeschränkung die Teilrechtskraft hinsichtlich des Schuldspruchs annehmen369, wird zunehmend dahin tendiert, eine Rechtskraft bezogen auf den Schuldspruch abzulehnen und lediglich eine innerprozessuale Bindung für das Rechtsmittelgericht zuzugestehen370. Für die Frage der Bindung des Anwaltsgerichts i. S. d. § 118 Abs. 3 BRAO ist dieser Streit jedoch von untergeordneter Bedeutung: Zwar findet sich in der Rspr. der Hinweis, eine Bindung an solche Feststellungen sei deshalb anzunehmen, weil die „Feststellungen im Urteil des Strafgerichts [. . .] rechtskräftig“371 365

Vgl. Kap. 4. G. II. 1. bei Fn. 314; s. a. Bockemühl BRAK-Mitt. 2000, 165, 166. Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 45 m. w. N. 367 Vgl. auch zu den Ausnahmen von der Beschränkung HK-Rautenberg § 318 Rn. 13 ff.; KK-Ruß § 318 Rn. 7 ff.; M-G § 318 Rn. 16 ff. jeweils m. w. N. 368 Vgl. HK-Temming § 344 Rn. 4; KK-Kuckein § 344 Rn. 9. 369 Vgl. RG v. 22.2.1927 – I 873/26, RGSt 61, 209, 201; HK-Rautenberg § 318 Rn. 5; HK-Temming § 344 Rn. 4; KK-Kuckein § 344 Rn. 14. 370 Vgl. LR-Gössel § 318 Rn. 30; LR-Hanack § 344 Rn. 66; M-G § 318 Rn. 31, § 344 Rn. 7b; KMR-Sax Einl. XIII Rn. 87 ff.; KMR-Paulus § 318 Rn. 7. 371 BVerwG v. 24.11.1999 – 1 D 68/98, NVwZ-RR 2000, 364. 366

164 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

seien. Die Frage der Rechtskraft i. e. S. spielt hier aber weniger eine Rolle als vielmehr die Tatsache, daß zumindest die (jedenfalls durchwegs zugestandene) innerprozessuale Bindung des Rechtsmittelgerichts an die Feststellungen des Tatsachengerichts über den Sinn und Zweck372 des § 118 Abs. 3 BRAO, der sich seinerseits schließlich auf die Bindung von Tatsachenfeststellungen konzentriert, auf eine Bindung des Anwaltsgerichts an die betreffenden Feststellungen übertragen werden kann. Deshalb erscheint es sinnvoll und verstößt auch nicht etwa gegen die Unschuldsvermutung373, daß die Bindung gem. § 118 Abs. 3 BRAO auf solche Tatsachenfeststellungen erstreckt wird, die innerhalb des Strafprozesses unangreifbar geworden sind.374 Ob das „übriggebliebene“ Verfahren im weiteren Verlauf zum Abschluß durch rechtskräftiges Urteil kommt oder eingestellt wird, ist dann unerheblich. g) Beschluß nach § 371 Abs. 2 StPO Außerdem wird § 118 Abs. 3 BRAO auch auf einen Beschluß375 im Wiederaufnahmeverfahren auf sofortigen Freispruch nach § 371 Abs. 2 StPO angewendet.376 Dagegen ließen sich jedoch Bedenken erheben: Der Beschluß nach § 371 Abs. 2 StPO ergeht ohne Hauptverhandlung, teilweise wird sogar die Anhörung des Verurteilten und dessen möglicherweise entgegenstehender Wille für irrelevant gehalten.377 Dies legt eine Parallele hinsichtlich der Ausführlichkeit und Gründlichkeit der Beweiserhebung zum dem beim Strafbefehl Gesagten378 nahe. Demnach wäre § 118 Abs. 3 BRAO hier nicht anwendbar, weil die Entscheidung ohne Hauptverhandlung und somit ohne eine dem anwaltsgerichtlichen Verfahren genügenden Beweisermittlung ergehe. Außerdem dient § 371 StPO – ähnlich dem Strafbefehlsverfahren – hauptsächlich der Vermeidung unnötiger Arbeitsbelastung der Justiz.379 Dennoch stellt sich hier die Situation anders dar: § 371 Abs. 2 StPO kann nur in Ausnahmefällen angewendet werden.380 Voraussetzung dafür ist das Vor372

So auch Feuerich/Weyland § 118 Rn. 46. Hierzu BVerwG a. a. O. 374 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 28, 46. 375 Vgl. BGH v. 20.12.1955 – 5 StR 363/55, NJW 1956, 478; HK-Krehl § 371 Rn. 6; LR-Gössel § 371 Rn. 25; M-G § 371 Rn. 11. 376 Vgl. BDH v. 17.3.1960 – II D 35/59, BDHE 5, 77; Claussen/Janzen § 18 Rn. 3b. 377 KK-Schmidt § 371 Rn. 5; SK-Frister/Deiters § 371 Rn. 11 m. w. N. 378 Kap. 4. G. II. 2. d). 379 BGH v. 11.12. 1959 – 4 StR 321/59, BGHSt 14, 64, 66; LR-Gössel § 371 Rn. 16; SK-Frister/Deiters § 371 Rn. 10. 380 SK-Frister/Deiters § 371 Rn. 12, s. a. Nr. 171 Abs. 1 S. 2 RiStBV. 373

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

165

liegen genügenden, hinreichenden und eindeutigen Beweises381, der somit aus prozeßökonomischen Gründen eine erneute Hauptverhandlung überflüssig macht. Dies ist der entscheidende Unterschied etwa zum Strafbefehlsverfahren. Während dort die Entscheidung aufgrund einer eher summarischen Prüfung382 ergeht, liegt hier ein eindeutiger entlastender Beweis vor. Die Forderung nach Durchführung einer Hauptverhandlung wäre in diesem Sinne383 reiner Formalismus. Deshalb muß auch hier trotz des anderslautenden Wortlauts des § 118 Abs. 3 BRAO („Urteil“) sein Gedanke auf den Beschluß gem. § 371 Abs. 2 StPO dergestalt anwendbar sein, als die Tatsachenfeststellungen, die dem Freispruch zugrunde liegen, für das Anwaltsgericht bindend sind. h) Fazit Aus der vorstehenden Differenzierung läßt sich folgendermaßen verallgemeinernd formulieren: Eine Bindungswirkung ist immer, aber auch nur dann anzuerkennen, wenn der strafgerichtlichen Entscheidung eine vollständige gerichtliche Beweisaufnahme mit allen Möglichkeiten und Mitteln der strafprozessualen Ermittlung vorangegangen ist und dies auch aus dem Urteil selbst direkt oder schlüssig nachvollziehbar indirekt hervorgeht. Erst dann kann auch dem konkret in Frage stehenden Strafverfahren hinsichtlich dessen Tatsachenfeststellung der Vorrang mit dem berechtigten Argument zugebilligt werden, dieses habe die besseren Methoden der Sachverhaltsermittlung. In Ausnahmefällen, bei Eindeutigkeit der Beweislage etwa (§ 371 Abs. 2 StPO), kann aber auf die Durchführung einer umfangreichen Beweisaufnahme verzichtet werden. 3. Begriff der „urteilsberuhenden tatsächlichen Feststellungen“ Weiterhin relevant für eine Bindung des Anwaltsgerichts sind nur solche tatsächlichen Feststellungen, auf denen das Strafurteil beruht. Von einem derartigen Beruhen kann dann gesprochen werden, „wenn ohne diese Feststellungen möglicherweise anders entschieden worden wäre.“384 Dies entspricht der Begriffsdefinition bei § 337 Abs. 1 StPO385 hinsichtlich des Beruhens des Urteils 381 HK-Krehl § 371 Rn. 4; KK-Schmidt § 371 Rn. 5; SK-Frister/Deiters § 371 Rn. 12. 382 Vgl. oben bei Fn. 354. 383 Auf die Diskussion, ob die Durchführung einer Hauptverhandlung der Rehabilitation des Angeklagten dient, soll hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu KK-Schmidt § 371 Rn. 5 m. Hinweis auf Ulsenheimer NStZ 1984, 441, 444. 384 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 31. 385 Vgl. die zit. Formulierung mit der zu § 337 Abs. 1 StPO etwa bei BGH v. 15.11.1968 – 4 StR 190/68, BGHSt 22, 278, 280; BayObLG v. 27.7.1977 – RReg. 5

166 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

auf einer Gesetzesverletzung, weshalb es möglich erscheint, die dort entwickelten Grundsätze hinsichtlich des Begriffs „Beruhen“ bei § 118 Abs. 3 S. 1 BRAO entsprechend anzuwenden. Gefordert ist also ein Kausalzusammenhang zwischen Tatsachenfeststellung und Strafurteil, der aber nicht notwendig nachgewiesen sein muß. Andererseits schließt eine Verneinung des Kausalzusammenhangs oder nur das Vorliegen einer rein theoretischen Möglichkeit der Kausalität ein Beruhen aus.386

III. Die anwaltsgerichtliche Lösung von der Bindung gem. § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO 1. Grundsatz § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO erlaubt den Anwaltsgerichten, sich von der Bindung des S. 1 zu lösen, wenn mehrheitlich387 Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen bestehen. Diese Lösungsmöglichkeit soll allerdings die Ausnahme darstellen388, was sich nicht zuletzt darin äußert, daß der Lösungsbeschluß zu protokollieren und in den Gründen der Entscheidung darzulegen ist, wohingegen der Regelfall der Bindung weder zu protokollieren noch zu begründen ist.389 2. Begriff des „Zweifels an der Richtigkeit“ Bereits ohne nähere Betrachtung läßt sich vermuten, daß die Formulierung des „Bezweifelns“ in § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO aufgrund ihrer relativen Unbestimmtheit in der Praxis wohl zu Definitions- und Abgrenzungsschwierigkeiten führt. Der Begriff und mit ihm auch die Auseinandersetzung darüber war noch in der RRAO von 1936 nicht vorgesehen.390

St 138/77, NJW 1978, 232; Sarstedt/Hamm Rn. 482, S. 235; KK-Kuckein, § 337 Rn. 33; M-G § 337 Rn. 37; u. a. 386 Vgl. nur KK-Kuckein, § 337 Rn. 33; M-G § 337 Rn. 37. 387 Zur Änderung des einstimmigen in einen Mehrheitsbeschluß siehe bereits oben Kap. 4. G. I. 1. 388 Vgl. schon Noack § 67 2 b a. E.; Prütting (AnwBl 1999, 361, 366) hält diese Regelung gesetzessystematisch für überraschend. Mit Blick auf die Souveränität des Anwaltsgerichts gegenüber der Strafgerichtsbarkeit (vgl. die Argumentation bei Kap. 4. E. II. 2. b) bb) (4) erscheint diese Regelung jedoch systematisch sinnvoll. 389 Vgl. BGH v. 4.3.1985 – AnwSt (R) 22/84, BGHSt 33, 155, 156 = NJW 1985, 2037; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 48. 390 § 67 Abs. 4 S. 2 RRAO: „Für die Entscheidung im ehrengerichtlichen Verfahren sind die tatsächlichen Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils bindend, wenn nicht das erkennende Gericht einstimmig die wiederholte Prüfung beschließt.“

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

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In der Tat kommt der Versuch, den Begriff des „Zweifels“ abstrakt einzugrenzen, über eine definitorische Annäherung nicht hinaus, eine „rechtlich faßbare Grenzlinie“391 kann hingegen nicht gezogen werden. Der BGH hat den Begriff zwar noch weiter eingegrenzt und als Voraussetzung „erhebliche Zweifel“392 statuiert, was direkt nicht aus dem Gesetz hervorgeht, jedoch aufgrund der Tatsache, daß es sich beim Lösungsbeschluß um eine Ausnahme handelt393, das Strafverfahren seinerseits „mit den strengsten rechtsstaatlichen Garantien ausgestattet“394 ist und deshalb das Anwaltsgericht keine „Überprüfungsinstanz für Strafurteile“395 darstellen darf, zumindest tendenziell sinnvoll erscheint. So sind Feststellungen, die nicht gegen Denkgesetze396 oder Erfahrungssätze verstoßen, selbst dann für das Anwaltsgericht bindend, wenn dieses aufgrund einer anderen Würdigung des Sachverhalts zu anderen Ergebnissen kommen würde.397 Ansonsten wäre § 118 Abs. 3 BRAO in der Praxis wohl weitestgehend überflüssig, da sich die Anwaltsgerichte dann nur an solche Feststellungen gebunden fühlen, die sie ohnehin für richtig halten.398 Andererseits müssen aber auch Zweifel an der Richtigkeit im Sinne einer Möglichkeit des Verstoßes gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze genügen, da die Bindung nach § 118 Abs. 3 BRAO ihrerseits wiederum eine „Ausnahme von der Freiheit der Gerichte bei der Sachverhaltsfeststellung“399 und im Zusammenhang insbesondere mit dem Disziplinarverfahren freier Berufe eine Ausnahme von der grundsätzlichen Unabhängigkeit der Berufsgerichtsbarkeit darstellt. So gelangt man sicherlich auch zu einer weitergehenden Eingrenzung, überwindet allerdings die bestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten nicht endgültig. Demnach muß man sich darauf beschränken, sich dem Begriff des Zweifels von zwei Seiten zu nähern: Einerseits reicht „noch nicht jede Unsicherheit bezgl. der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen“400, andererseits muß das Gericht noch nicht der Überzeugung sein, die strafgerichtlichen Feststellungen

391

BGH a. a. O., BGHSt 33, 155, 157 f.; Feuerich/Weyland, § 118 Rn. 50. BGH a. a. O., BGHSt 33, 155, 156. 393 Siehe oben unter Kap. 4. G. III. 1. 394 Feuerich/Weyland § 118 Rn. 50. 395 Feuerich/Weyland a. a. O. 396 Feststellungen, die gegen Denkgesetze verstoßen, sollen allerdings nach Claussen/Janzen § 118 Rn. 10a an sich schon ohne Lösungsbeschluß nicht bindend sein. Danach würde sich der Anwendungsbereich von § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO auf Feststellungen, die gegen Erfahrungssätze verstoßen, und auf Zweifel über den Verstoß gegen Denkgesetze reduzieren. 397 So auch Feuerich/Weyland § 118 Rn. 50; für das Beamtenrecht zuletzt BVerwG v. 10.3.1992 – 1 D 50/91, DokBer B 1992, 249 ff.; Köhler/Ratz-Köhler § 57 Rn. 10. 398 Vgl. BVerwG a. a. O. 399 So auch Köhler/Ratz-Köhler § 57 Rn. 10. 400 Feuerich/Weyland a. a. O. 392

168 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

seien falsch. Des weiteren genügt wiederum die fehlende Überzeugung von der Richtigkeit, um entsprechende Zweifel anzunehmen.401 Somit bleibt es den (Revisions-)Gerichten überlassen, innerhalb des soeben gesteckten Rahmens im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob das Gericht, das die Lösung beschlossen hat, berechtigte Zweifel an den Feststellungen des Strafgerichts hatte. Beispielhaft sind allerdings folgende Konstellationen als feststehend zu nennen: So wird – zu Recht – angenommen, daß Zweifel in der Regel dann gegeben sind, wenn die tatsächlichen Feststellungen auf Verfahrensfehlern im Strafprozeß beruhen. Andernfalls würde nicht nur gegen den Amtermittlungsgrundsatz des § 244 StPO i. V. m. § 116 S. 2 BRAO, sondern auch gegen den Verfassungsgrundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör verstoßen werden.402 Zweifel sind auch jedenfalls dann angebracht, wenn die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils von denen etwa eines rechtskräftigen Zivilurteils abweichen.403 Gleiches muß für jedes andere Urteil (etwa vor dem Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits- oder Sozialgericht) in gleicher Sache gelten. Schließlich werden auch dann Zweifel gegen die Richtigkeit strafprozessualer Feststellungen angezeigt sein, wenn neue Beweismittel aufgetaucht sind, die das Strafgericht nicht mehr berücksichtigt hat. Auch dann nötigt der Amtermittlungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO i. V. m. § 116 S. 2 BRAO das Anwaltsgericht, dementsprechende Zweifel durch einen Lösungsbeschluß und eine darauffolgende Beweisaufnahme zu beseitigen.404 Allerdings ist dann zu beachten, daß zumindest bei neuen Beweismitteln, die den Betroffenen begünstigen, die strafgerichtliche Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 5 StPO möglich und wahrscheinlich ist, weshalb folglich zunächst das anwaltsgerichtliche Verfahren gem. § 118 Abs. 1 S. 2 BRAO auszusetzen und das Ergebnis des wiederaufgenommenen Strafverfahrens abzuwarten wäre. Dann allerdings träte eine erneute Bindung das Anwaltsgerichts an die nunmehr durch die im Rahmen der Wiederaufnahme gewonnenen, veränderten Tatsachenfeststellungen gem. § 118 Abs. 3 BRAO ein. 3. Verfahren Wie bereits erwähnt, genügt für einen Lösungsbeschluß – anders als früher – die Stimmenmehrheit (§ 118 Abs. 1 S. 2 BRAO) des beschließenden Gerichts. Zu beachten ist hierbei allerdings, daß sich die Mehrheit auf dieselben Tatsa401 402 403 404

Vgl. BGH a. a. O., BGHSt 33, 155, 157; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 50. Siehe Rössler, Festgabe Peters, S. 249, 259; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 52. Vgl. BVerwG v. 12.4.1989 – 1 D 120/87, NJW 1989, 2074. Vgl. Rössler, Festgabe Peters, S. 249, 259 f.

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

169

chenfeststellungen bezieht. Es liegt also keine Stimmenmehrheit i. S. d. § 118 Abs. 1 S. 2 BRAO vor, wenn das Anwaltsgericht zwar allgemein mehrheitlich der Meinung ist, dem strafgerichtlichen Urteil könne hinsichtlich einzelner Tatsachenfeststellungen nicht gefolgt werden, sich dabei aber je Richter auf verschiedene Tatsachenfeststellungen bezieht.405 Daraus läßt sich aber auch erkennen, daß nicht zwingend die gesamte Beweisaufnahme des Strafgerichts wiederholt werden muß, sondern eine Beschränkung auf bestimmte Fragen möglich ist.406 Dies schließt sogar die Teilbarkeit der Überprüfung auf Fragen innerhalb desselben Sachverhalts ein, also etwa auch eine Beschränkung auf die äußere oder innere Tatseite. Eine davon abweichende Auffassung, eine solche „vertikale Trennung“ sei nicht möglich,407 findet indes im Gesetz keinen Halt.408 Der Lösungsbeschluß, der nur in der Hauptverhandlung möglich ist, ist unanfechtbar.409 Die Prüfung, ob die Feststellungen des Strafgerichts möglicherweise falsch sind, darf nur anhand des Urteils des Strafprozesses erfolgen410, eine Beweisaufnahme darüber ist unzulässig.411 Isele dagegen hielt es für möglich, eine Beweisaufnahme durchzuführen, hielt diese lediglich für nicht verpflichtend.412 Das Verbot der Beweisaufnahme erscheint aber schon aus logischen Gründen richtig: Durch das Anstellen von Ermittlungen und die alleinige Tatsache, daß die Beweisaufnahme vorgenommen wird, konstatiert das Anwaltsgericht (zumindest schlüssig), daß Zweifel an den Tatsachenfeststellungen bestehen. Damit sind aber bereits die Voraussetzungen für einen Lösungsbeschluß gegeben, so daß dieser sogleich erfolgen muß.413 Der Anwaltsgerichtshof als Berufungsinstanz ist seinerseits nicht an die Entscheidung des Anwaltsgerichts gebunden. So kann er sich entgegen dem Anwaltsgericht von der Bindung gem. § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO lösen. Er kann sich aber auch ungeachtet des erstinstanzlichen Lösungsbeschlusses an die strafgerichtlichen Feststellungen binden.414 405

BT Drs. III/120, S. 99 f. BGH a. a. O., BGHSt 33, 155; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 53; Isele § 118 IV E 2 (S. 1567); Claussen/Janzen § 18 Rn. 12d; Lindgen § 80 VI E (S. 355). 407 So Isele § 118 IV E 2 (S. 1567). 408 Vgl. BGH a. a. O., BGHSt 33, 155, 158; s. dazu auch Feuerich, NJW 1988, 181, 185; Feuerich/Weyland § 118 Rn. 54. 409 Claussen/Janzen § 18 Rn. 12d; Köhler/Ratz § 57 Rn. 14. 410 Vgl. Feuerich/Weyland § 118 Rn. 49. 411 Vgl. BGH a. a. O., BGHSt 33, 155. 412 Isele § 118 IV E 1 (S. 1566). 413 In diesem Sinn auch BGH a. a. O., BGHSt 33, 155, 157. 414 Vgl. EGHBritZ v. 22.5.1958 – EV 501/58 B, EGE V, 187; AGH Hamm v. 1.12.2000 – (2) 6 EVY 4/00 AGH NW; Feuerich, NJW 1988, 181, 185; Feuerich/ Weyland § 118 Rn. 47; Isele § 118 IV F (S. 1567). 406

170 4. Kap.: Doppelbewertung desselben Verhaltens und der disziplinäre Überhang

Da die Sachverhaltserforschung auch im anwaltsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich den Tatsachengerichten vorbehalten ist, findet eine Nachprüfung in der Revisionsinstanz nicht mehr statt.415 4. Ausnahme vom Lösungsbeschluß: Vorrang der innerprozessualen Bindung vor § 118 Abs. 3 BRAO Fraglich ist letztlich, wie zu verfahren ist, wenn die anwaltsgerichtliche Rechtsmittelinstanz bei Beschränkung des Rechtsmittels auf Art und Höhe der Maßnahme entscheiden muß und dabei sowohl (gegensätzliche) strafgerichtliche als auch (unter Verstoß gegen § 118 Abs. 3 BRAO) vorinstanzliche Feststellungen vorgelegt bekommt. Einerseits besteht nach § 118 Abs. 3 BRAO auch für die Rechtsmittelinstanz Bindungswirkung, die zudem in der Revision nicht mehr durch Lösungsbeschluß überwunden werden kann. Andererseits ist das Revisionsgericht bei horizontaler Rechtsmittelbeschränkung an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebunden.416 Da sich beide jedoch gegenseitig widersprechen, muß eine Entscheidung getroffen werden. § 118 Abs. 3 BRAO schreibt eine absolute Bindung der Anwaltsgerichte an die strafgerichtlichen Feststellungen vor, die nur durch einen Lösungsbeschluß zu beseitigen ist. Zweck dieser Bindung ist, wie bereits erläutert417, die Vermeidung widersprüchlicher Tatsachenfeststellungen in Strafprozeß und anwaltsgerichtlichem Verfahren. Dieser Grundsatz wird überlagert vom Prinzip der Wahrheitsfindung, das durch die Möglichkeit des Lösungsbeschlusses in § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO konstatiert wird. In Fällen, in denen berechtigte Zweifel418 an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen angebracht sind, muß also die Bindungspflicht hintanstehen, was im „Normalfall“ durch den Lösungsbeschluß „bestätigt“ wird. Somit könnte zumindest für die Fälle, bei denen das Abweichen von der Bindung gem. § 118 Abs. 3 BRAO lediglich formell (mangels Lösungsbeschluß) fehlerhaft war, in der Sache die Abweichung aber berechtigt gewesen wäre, den vorinstanzlichen Feststellungen der Vorrang zugebilligt werden. Aber auch dann, wenn materiell keine berechtigten Zweifel des Anwaltsgerichts zu erheben gewesen wären, wenn also etwa die strafgerichtlichen Feststellungen gänzlich übersehen wurden, muß den innerprozessualen Feststellun415 BGH v. 5.10.1964 – AnwSt (R) 8/64, EGE VIII, 62, 64 = BGHSt 20, 73 (insoweit aber nicht abgedruckt). 416 Hierzu schon Kap. 4. G. II. 2. f). 417 Kap. 4. G. I. 2. 418 Dazu siehe soeben Kap. 4. G. III. 2.

G. Bindung des Anwaltsgerichts an tatsächliche Feststellungen

171

gen grundsätzlich der Vorrang gewährt werden.419 Dies folgt aus zwei Überlegungen: Zum einen ist im Stadium der rechtsmittelbeschränkten Instanz der Zweck des § 118 Abs. 3 BRAO bereits verfehlt, da sozusagen „das Kind in den Brunnen gefallen ist“ und bereits ggf. widersprüchliche Feststellungen grundsätzlich bindend getroffen wurden. Demgegenüber stehen die Grundsätze der Freiheit der Gerichte bei der Sachverhaltfeststellung und hier insbesondere die oft zitierte Eigenständigkeit der anwaltsgerichtlichen Disziplinargerichtsbarkeit420, die letztlich den Ausschlag zugunsten der innerprozessualen Bindung geben, da eben der Zweck des § 118 Abs. 3 BRAO nicht mehr erfüllt werden kann und diese Bindung somit zurücktritt. Zum anderen bringt gerade die Beschränkung des Rechtsmittels auf die anwaltsgerichtliche Maßnahme das Vertrauen des Angeklagten wie auch der Staatsanwaltschaft in die Feststellungen des Anwaltsgerichts zum Ausdruck. Hätten sie dieses nicht, könnten und dürften sie die Feststellungen mit Hinweis auf § 118 Abs. 3 BRAO begründet überprüfen lassen, da ein Verstoß gegen § 118 Abs. 3 BRAO in der Regel einen Revisionsgrund darstellt.421 Deshalb ist es angebracht, der innerprozessualen Bindung den Vorrang vor der möglichen Bindung nach § 118 Abs. 3 BRAO zu gewähren. Das Gericht ist dann trotz fehlendem (und in der Revision überhaupt nicht möglichem422) Lösungsbeschluß nicht an die strafprozessualen Feststellungen gebunden.423 Eine Ausnahme davon wird wohl bei offensichtlicher Fehlerhaftigkeit der Tatsachenfeststellungen der anwaltsgerichtlichen Vorinstanz zuzubilligen sein. Aufgrund der eben erwähnten Möglichkeit von Angeklagtem und Staatsanwaltschaft zur Überprüfung solcher Fehler hat dies in der Praxis wohl nur geringe Relevanz. Aufgrund der erheblichen Abweichung vom Grundsatz des § 118 Abs. 3 BRAO wird verfahrenstechnisch aber zumindest eine Darlegung der Konkurrenz und der Entscheidung zugunsten der innerprozessualen Bindung in den Urteilsgründen zu fordern sein.

419 420 421 422 423

So auch Claussen/Janzen §18 Rn. 12b. Zu beidem siehe bereits oben Kap. 4. G. III. 2. (bei Fn. 397). Siehe schon oben Kap. 4. G. II. 1. a. E. Vgl. soeben Kap. 4. G. III. 3. a. E. So auch Feuerich, NJW 1988, 181, 185.

5. Kapitel

Ergebnisse und Schlußbetrachtung A. Ergebnisse Aufgrund einer Analyse der Konkurrenz zwischen dem Strafverfahren und dem anwaltsgerichtlichen Verfahren in gleicher Sache vor dem Hintergrund einer historischen Betrachtung und des Sinn und Zwecks des anwaltsgerichtlichen Verfahrens (Kap. 1), einerseits hinsichtlich der Rangfolge der Verfahren (Kap. 2 und 3) und andererseits in bezug auf die Doppelbewertung desselben Verhaltens (Kap. 4), gelangt die Untersuchung zu folgenden Ergebnissen: Aus dem 1. Kapitel 1. Zwar ist das anwaltsgerichtliche Verfahren aufgrund seiner vergleichsweise geringen Verfahrenszahlen für sich gesehen von eher geringer praktischer Relevanz. Dennoch erlangt die Betrachtung seiner Konkurrenz mit dem Strafverfahren aufgrund der vorbildhaften Stellung im Rahmen der Disziplinarverfahren der freien Berufe und wegen der Vergleichbarkeit der einschlägigen Konkurrenzvorschriften mit anderen Disziplinarvorschriften eine standesübergreifende Bedeutung (vgl. Einleitung). 2. Die Regelungen des anwaltsgerichtlichen Verfahrens gründen sich bereits auf die erste Rechtsanwaltsordnung von 1878 und sind in ihren Grundzügen seitdem kaum verändert worden. Lediglich im „Dritten Reich“ wurde das anwaltschaftliche Standesrecht – wie vieles andere – für das nationalsozialistische Gedankengut ge- und mißbraucht. Mit der Novelle der BRAO von 1994 wurde durch begriffliche Umformulierungen versucht, das anwaltschaftliche Standesrecht zeitgemäßer zu gestalten, ohne jedoch dabei inhaltliche Änderungen vorzunehmen (Kap. 1. A.). 3. Der Schutzzweck des anwaltsgerichtlichen Verfahrens ist unabhängig von seiner nicht zu leugnenden Außenwirkung primär rein standesintern. Durch die mit der anwaltsgerichtlichen Maßnahme bewirkten Anleitung des betroffenen Rechtsanwalts zum zukünftig standesgemäßen Verhalten soll zum einen die Reinhaltung des Anwaltsstandes und zum anderen die Aufrechterhaltung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Anwaltschaft erreicht werden (Kap. 1. B.).

A. Ergebnisse

173

Aus dem 2. Kapitel 4. Die in § 118 Abs. 1 S. 1 und 2 fixierte Entscheidung des chronologischen Vorrangs zunächst eines der beiden Verfahren ist aus Gründen der Effizienz und der Vermeidung von Widersprüchen nötig. Außerdem ist die Bevorzugung gerade des Strafprozesses wegen dessen allgemein größerer Bedeutung, seiner umfangreicheren Mittel für die Tatsachenfeststellung und der Gesamtsystematik grundsätzlich sachgerecht (vgl. Kap. 2. B.). Dieser Vorrang gilt allerdings nicht für das Privatklageverfahren und das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren. Ebenso gilt der Vorrang des Strafverfahrens und die Pflicht zur Aussetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens nicht, wenn das anwaltsgerichtliche Verfahren bereits in das Stadium der Revision gelangt ist, weil dann die Gefahr widersprüchlicher Tatsachenfeststellungen durch ein Aussetzen nicht mehr gebannt werden kann (Kap. 2. C.). 5. Bei der Frage „derselben Tatsachen“, „desselben Verhaltens“ oder „desselben Sachverhalts“ liegen Strafprozeß und anwaltsgerichtlichem Verfahren dieselbe Definition zugrunde. Demnach sind das zur Aburteilung in beiden Verfahren bestehende Lebensverhältnis und das einheitliche geschichtliche tatsächliche Ereignis maßgebend. (Kap. 2. D.) Aus dem 3. Kapitel 6. Bei schwebendem Strafverfahren wird das anwaltsgerichtliche Verfahren zunächst zwar eingeleitet, muß sodann aber ausgesetzt werden (§ 118 Abs. 1 S. 1 BRAO). Ist das anwaltsgerichtliche Verfahren bereits vor dem Strafprozeß eingeleitet, muß es in jedem Verfahrensstadium bis hin zur Berufungsinstanz ausgesetzt werden (Kap. 3. A.). 7. Wenn die Sachaufklärung als durch die Verhandlung im anwaltsgerichtlichen Verfahren so gesichert erscheint, daß bei vernünftiger Überlegung eine entgegenstehende Entscheidung hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen in dem später abgeschlossenen Strafverfahren nicht zu befürchten ist, ist nach § 118 Abs. 1 S. 3 1. Alt. BRAO das anwaltsgerichtliche Verfahren fortzusetzen (Kap. 3. C. I.). Die zweite Alternative des § 118 Abs. 1 S. 3 BRAO, die eine Fortsetzung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens vorsieht, wenn aus Gründen nicht verhandelt werden kann, die in der Person des Rechtsanwalts liegen, wird eher von geringer Bedeutung sein, da diese Hinderungsgründe im Strafprozeß meist auch zum Verhandlungshindernis im anwaltsgerichtlichen Verfahren führen werden (Kap. 3. C. II.).

174

5. Kap.: Ergebnisse und Schlußbetrachtung

Aus dem 4. Kapitel 8. Bei Überschneidung von Strafprozeß und anwaltsgerichtlichem Verfahren in tatsächlicher Hinsicht, wenn also die in der ehrengerichtlichen Einheitstat zusammengefaßten Geschehnisse über den Gegenstand des Strafverfahrens hinausreichen, können die strafprozessual nicht tangierten Teile des anwaltsgerichtlich vorgeworfenen Verhaltens unter Teilaussetzung der strafrechtlich relevanten weiterverhandelt werden, es sei denn das Ende des konkurrierenden Strafverfahrens ist nicht abzusehen, so daß auch die Verhandlung über die strafrechtlich nicht relevanten Teile gem. § 229 Abs. 4 StPO i. V. m. § 116 S. 2 BRAO von neuem zu beginnen wäre. Dann wäre von vornherein das gesamte anwaltsgerichtliche Verfahren auszusetzen. Damit sind sowohl das Beschleunigungsgebot als auch das Einheitsprinzip sowie die Einhaltung des Vorrangs des Strafverfahrens und die Konzentrationsmaxime angemessen berücksichtigt. Ein freies Wahlrecht des Gerichts in der Entscheidung über ein Vorgehen in dieser Situation ist grundsätzlich abzulehnen. Dieser Sichtweise liegt die Überlegung zugrunde, daß der Begriff der „einheitlichen Pflichtverletzung“, wie er bislang in Rechtsprechung und Literatur vornehmlich betrachtet wurde, als überholt anzusehen ist. Vielmehr bleibt vom Einheitsprinzip die auch dem Gesetzeswortlaut des § 113 Abs. 1 BRAO genügende Einheitssanktion übrig, so daß die einzelnen Pflichtverletzungen zunächst – anders als bisher – getrennt voneinander zu beurteilen und zu bewerten sind und dann entsprechend § 113 Abs. 1 BRAO in einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme zusammengefaßt werden (Kap. 3. D.). 9. Die parallele Sanktionierung durch Straf- und Anwaltsgericht in der gleichen Sache verstößt nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem des Art. 103 Abs. 3 GG. Wegen der verfassungsmäßigen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes ist jedoch im Einzelfall von einer anwaltsgerichtlichen Sanktionierung abzusehen, wenn durch das vorangegangene Strafurteil den Zwecken des anwaltsgerichtlichen Verfahrens bereits Genüge getan ist. Dieser Systematik wird die durch § 115b BRAO normierte Gesetzeslage gerecht (Kap. 4. A.). 10. Strafe i. S. d. § 115b BRAO sind alle Verurteilungen zu Freiheits- oder Geldstrafe nach dem Strafgesetzbuch oder nach den strafrechtlichen Nebengesetzen, die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB), die Verwarnung mit Geldbuße (§§ 14, 15 Abs. 1 Nr. 3 JGG) und das Absehen von Strafe (§ 60 StGB) (Kap. 4. B. I.). Als die in § 115b BRAO genannten Ordnungsmaßnahmen gelten nur solche mit Strafcharakter. So zählen etwa Ordnungswidrigkeiten nach dem OWiG dazu, nicht jedoch sitzungspolizeiliche Maßnahmen nach § 176 GVG, ge-

A. Ergebnisse

175

bührenpflichtige Verwarnungen, Eintragungen in die Verkehrssünderkartei o. ä. (Kap. 4. B. II.). Aufgrund des sanktionellen Charakters der Auflagen und Weisungen des § 153a StPO empfiehlt es sich, diesen in analoger Anwendung in den Tatbestand des § 115b BRAO aufzunehmen, so daß auch die Auflagen und Weisungen eine entsprechende kompensierende Wirkung auf mögliche anwaltsgerichtliche Maßnahmen haben können. Dies hat der Gesetzgeber bei der Neufassung des BDG für das Beamtendisziplinarrecht (§ 14 Abs. 1 BDG) bereits entsprechend berücksichtigt (Kap. 4. B. III.). Darüber hinaus ist entsprechend dem Normzweck des § 115b BRAO eine Ausdehnung seines Einzugsbereichs auf sämtliche solche Sanktionen und Maßnahmen (unter bewußter Allgemein- und Offenhaltung des „Sanktionenkatalogs“) ratsam, die die durch das Disziplinarrecht bezweckte Wirkung, einerseits den Betroffenen zum zukünftig pflichtgemäßen Verhalten anzuhalten und andererseits die Reinheit und das Ansehen des Berufsstandes in der Öffentlichkeit wiederherzustellen, auslösen. Eine entsprechende Gesetzesänderung wäre hierzu allerdings etwa dergestalt angezeigt (Kap. 4. B. IV.): „§ 115b Anderweitige Ahndung Ist durch ein Gericht oder eine Behörde eine Maßnahme verhängt worden, die geeignet ist, den Rechtsanwalt zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und das Ansehen der Rechtsanwaltschaft zu wahren, so ist von einer anwaltsgerichtlichen Ahndung wegen desselben Verhaltens abzusehen, es sei denn zur Erfüllung dieser Zwecke ist eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Maßnahme nötig. Einer Ahndung gemäß § 114 Abs. 1 Nr. 4 oder 5 steht eine anderweitig verhängte Maßnahme nicht entgegen.“

Gleiches gilt auch im Zusammenhang mit vorausgehenden ausländischen Sanktionen, da auch hier – beschränkt auf rechtsstaatlich zustande gekommene Maßnahmen – eine jeweilige Anwendung des § 115b BRAO entsprechend der Wirkung der Sanktion zu beurteilen ist. Das gemeinschaftsrechtlich normierte Prinzip des gegenseitigen ne bis in idem nötigt insoweit zu keiner speziellen Betrachtung (Kap. 4. B. V.). 11. Eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung ist nur dann i. S. d. § 115b BRAO erforderlich, wenn diese einerseits zusätzlich nötig ist, den Anwalt zum zukünftig pflichtgemäßen Verhalten anzuhalten. Dabei ist auf die konkret-subjektive Wirkung der vorausgegangenen Maßnahme und deren Konsequenz für die „Anrechnung“ zum anwaltsgerichtlichen Vorwurf abzustellen. Andererseits ergibt sich aber die Notwendigkeit zusätzlicher anwaltsgerichtlicher Ahndung nur dann, wenn das Ziel der Reinhaltung des Anwaltsstandes und der Ansehenswahrung in der Öffentlichkeit nicht bereits durch die vorausgegangene Sanktion erreicht wurde. Auch dies läßt sich nicht pauschal beurteilen, sondern muß einer Bewertung anhand des konkre-

176

5. Kap.: Ergebnisse und Schlußbetrachtung

ten Einzelfalls unterzogen werden. Eine große Rolle spielt dabei – insbesondere auch im Zusammenhang mit einem vorausgehenden Strafverfahren – das Verhalten des Rechtsanwalts selbst und inwieweit dieses (v. a. durch ihn selbst) in Verbindung mit dessen anwaltschaftlicher Tätigkeit gebracht wird. Daraus folgt auch, daß eine zusätzliche anwaltsgerichtliche Ahndung außerberuflicher Pflichtverletzungen nur bei schwerwiegendsten, den Verbleib in der Anwaltschaft nicht mehr rechtfertigenden Verfehlungen möglich ist. § 115b S. 2 BRAO stellt jedoch klar, daß die Notwendigkeit besteht, der standesinternen Sanktionierung bei erheblichen Pflichtverletzungen, die den Anwalt für seine berufliche Tätigkeit teil- und zeitweise oder völlig untragbar machen, ohne Rücksicht auf das Strafgericht zu überlassen, die dort genannten Maßnahmen auszusprechen (Kap. 4. C.). 12. Für den (Ausnahme-)Fall, daß bereits vor einem Strafurteil das anwaltsgerichtliche Verfahren abgeschlossen ist und eine anwaltsgerichtliche Maßnahme verhängt wurde, empfiehlt sich aus Gründen der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung sowie wegen möglicher Schwierigkeiten, die anwaltsgerichtliche Maßnahme dem Strafurteil anzurechnen, einen gesetzlichen Wiederaufnahmegrund des anwaltsgerichtlichen Verfahrens zu schaffen, der wie folgt lauten könnte (Kap. 4. D.). „§ 118 Verhältnis des anwaltsgerichtlichen Verfahrens zum Straf- oder Bußgeldverfahren (1) . . . (3) (4) [S. 1 wie bisher] Ferner ist die Wiederaufnahme zulässig, wenn nach rechtskräftigem Abschluß des anwaltsgerichtlichen Verfahrens in einem wegen desselben Sachverhalts eingeleiteten gerichtlichen oder behördlichen Verfahren unanfechtbar eine Entscheidung ergeht, nach der gemäß § 115b oder § 118 Absatz 2 die bereits verhängte anwaltsgerichtliche Maßnahme nicht zulässig wäre. [S. 2 als S. 3 wie bisher]“

13. Auch wenn §§ 115b und 118 Abs. 2 BRAO gesetzestechnisch getrennt voneinander stehen, sind beide insofern dennoch im Kontext zu lesen und zu verstehen, als beide auf die Frage eingehen, was für das anwaltsgerichtliche Verfahren nach einem abgeschlossenen Strafverfahren (§ 115b BRAO darüber hinaus auch bei anderen Verfahren) für die Bemessung der Maßnahme als disziplinärer Überhang „übrig bleibt“. Dabei spielt bei § 115b BRAO eher die wertende Betrachtung eine Rolle, ob also nach vorausgegangener Sanktion noch Raum für eine anwaltsgerichtliche Maßnahme bleibt, während § 118 Abs. 2 BRAO auf das tatsächliche Vorliegen eines strafrechtlichen Freispruchs abstellt und davon eine mögliche zusätzliche Ahndung abhängig macht (Kap. 4. E. I.). 14. Der Begriff derselben „Tatsachen“ in § 118 Abs. 2 BRAO ist historisch begründet und umfaßt entsprechend der Formulierung „desselben Verhaltens“

A. Ergebnisse

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i. S. d. § 115b BRAO denselben historischen Vorgang im Straf- wie im anwaltsgerichtlichen Verfahren. Im Rahmen der Novellierung des Beamtendisziplinarverfahrens durch das BDG hat sich der Gesetzgeber deshalb dort für den einheitlichen Begriff desselben „Sachverhalts“ entschieden (Kap. 4. E. II. 1.). 15. § 118 Abs. 2 BRAO beschränkt sich im Wortlaut alleine auf den rechtskräftigen Freispruch wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit in einem gerichtlichen Verfahren. Staatsanwaltschaftliche Beschlüsse sind vom Anwendungsbereich des § 118 Abs. 2 BRAO ebensowenig umfaßt wie ein gerichtlicher Nichteröffnungsbeschluß und im Grundsatz eine gerichtliche Verfahrenseinstellung. Wenn allerdings das Gericht irrtümlicherweise eingestellt hat, obwohl es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Freispruchs vor der Einstellung hätte freisprechen müssen, ist § 118 Abs. 2 BRAO gleichwohl anwendbar. Voraussetzung hierfür ist, daß ein potentieller Freispruch in diesem Sinne entscheidungsreif gewesen wäre. Andererseits ist § 118 Abs. 2 BRAO trotz Vorliegen eines Freispruchs dann nicht anwendbar, wenn dieser in dem Sinn formell fehlerhaft ist, als er ergeht, obwohl die freigesprochene Tat nicht angeklagt war. Ist der Freispruch allerdings nur deshalb formell fehlerhaft, weil die Tat strafrechtlich verjährt war oder ein nötiger Strafantrag nicht vorlag, steht der Anwendung im Schutzinteresse des Angeklagten nichts im Wege. § 118 Abs. 2 BRAO ist auch anwendbar, wenn ein materiell fehlerhafter Freispruch vorliegt. Dies gilt aufgrund des Wortlauts des § 118 Abs. 2 BRAO trotz einiger Bedenken auch für offensichtlich fehlerhafte Freisprüche. Vor allem wegen des Wortlautarguments ist es auch derzeit nicht möglich, Freisprüche, die alleine aufgrund strafrechtsspezifischer Gründe ergehen, aus dem Anwendungsbereich des § 118 Abs. 2 BRAO herauszunehmen. Aufgrund des aufgezeigten spezifischen Interesses des anwaltsgerichtlichen Verfahrens wäre allerdings eine Gesetzesänderung in etwa folgender Weise anzudenken: Nach § 118 Abs. 2 S. 1 BRAO wäre demnach einzufügen: 2 Das Anwaltsgericht kann beschließen, daß das Verfahren dennoch eingeleitet oder fortgesetzt wird, wenn das Gericht im anderen Verfahren aus Gründen freigesprochen hat, die die anwaltsgerichtliche Bewertung der Pflichtverletzung nicht berühren. 3Absatz 3 Satz 2 gilt entsprechend.

Auch ausländische Urteile lösen wegen ihrer fehlenden strafklageverbrauchenden Wirkung grundsätzlich keine Sperrwirkung i. S. d. § 118 Abs. 2 BRAO aus. Etwas anderes gilt nur für Urteile im Bereich der Europäischen

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5. Kap.: Ergebnisse und Schlußbetrachtung

Union, da diese eine zwischenstaatliche Bindung im Sinne eines Strafklageverbrauchs nach Art. 54 SDÜ entfalten (Kap. 4. E. II. 2.). 16. Der strafgerichtliche Freispruch stellt nach § 118 Abs. 2 BRAO grundsätzlich ein Prozeßhindernis dar. Wenn aber die Tatsachen, die zum Freispruch geführt haben, als anwaltliche Pflichtverletzung zu werten sind, und diese unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt den Tatbestand einer Straf- oder Bußgeldvorschrift erfüllen, liegt ein „negativer“ disziplinärer Überhang vor, der die Durchführung des anwaltsgerichtlichen Verfahrens trotz Freispruchs möglich macht. Im Ausnahmefall der anwaltsgerichtlichen Verurteilung vor einem strafgerichtlichen Freispruch kann das anwaltsgerichtliche Verfahren analog § 118 Abs. 4 BRAO wiederaufgenommen und der Freispruch nach den Maßstäben des § 118 Abs. 2 BRAO gewertet werden. De lege ferenda empfiehlt sich zur Klarstellung eine am Beamtendisziplinarrecht angelehnte Änderung des § 118 Abs. 4 BRAO (siehe hierzu die Formulierung bei Ergebnis Nr. 12) (Kap. 4. E. III.). 17. Wenn strafrechtlich relevante und irrelevante Taten im einheitlich durchgeführten anwaltsgerichtlichen Verfahren gemeinsam abgeurteilt werden, kann das Gericht für die Maßnahmenzumessung unter Anwendung des entwickelten Prinzips der Einheitsmaßnahme unter Berücksichtigung von § 115b BRAO den strafrechtlich relevanten (und bereits abgeurteilten) Teil aus der Gesamtsanktion aussondern, wenn kein disziplinärer Überhang erkennbar ist. Andernfalls muß die strafrechtliche Sanktion zunächst entsprechend bei der Einzelbewertung berücksichtigt werden und dann dementsprechend in die Einheitssanktion einfließen. Beim „negativen“ disziplinären Überhang kann, da wegen des Freispruchs gerade kein strafrechtlicher Vorwurf mehr besteht, der übrig bleibende disziplinäre Überhang zusammen mit den übrigen, von vornherein nicht mit dem strafrechtlichen Vorwurf konkurrierenden Pflichtverletzungen nach den allgemeinen Maßnahmenzumessungsregeln bewertet werden (Kap. 4. F.). 18. Zweck der Bindung des § 118 Abs. 3 BRAO, die in der RAO von 1878 zwar noch nicht festgeschrieben, dennoch von Anfang an von der Rechtsprechung im Grundsatz anerkannt war, ist die Vermeidung doppelter Beweisaufnahme aus prozeßökonomischen Gründen wie auch zur Verhinderung widersprüchlicher Feststellungen von Straf- und Anwaltsgericht (Kap. 4. G. I.). 19. Das Festhalten an den strafgerichtlichen Tatsachen muß weder protokolliert noch im Urteil begründet werden. Auch wenn eine Beweisaufnahme über die Frage, ob Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen bestehen, nicht zulässig ist, muß im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG

A. Ergebnisse

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und den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör dieser die Möglichkeit eingeräumt bekommen, alles das, was er gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils glaubt vorbringen zu können, vorzutragen. Voraussetzung des § 118 Abs. 3 S. 1 BRAO ist ein Urteil im Strafverfahren, das auf den relevanten tatsächlichen Feststellungen beruht. Davon umfaßt ist auch das verkürzte Urteil nach § 267 Abs. 4 StPO und das Urteil im Privatklageverfahren. Aufgrund der eher summarischen Prüfung und der daraus resultierenden schwächeren Tatsachenbasis des Strafbefehlsverfahrens ist § 118 Abs. 3 BRAO nicht auf dieses anwendbar. Ebenfalls keine Bindungswirkung entfalten grundsätzlich ausländische Urteile. Etwas anderes kann jedoch mit Blick auf den europarechtlichen ne bis in idem-Grundsatz des Art. 54 SDÜ und zukünftig Art. II-50 EU-Verfassung gelten. Auch gerichtliche Beschlüsse sind schon aufgrund ihres Wortlauts nicht von § 118 Abs. 3 BRAO umfaßt. Ausnahmen sind allerdings für Einstellungsbeschlüsse nach Beschränkung auf das Strafmaß und somit nach horizontaler Teilrechtskraft des Urteils bezogen auf den Schuldspruch sowie für den Beschluß nach § 371 Abs. 2 StPO im Wiederaufnahmeverfahren zuzugestehen. Allgemeiner formuliert bedeutet dies, daß § 118 Abs. 3 BRAO immer dann anwendbar ist, wenn der strafgerichtlichen Entscheidung eine vollständige gerichtliche Beweisaufnahme mit allen Möglichkeiten und Mitteln der strafprozessualen Ermittlung vorangegangen ist und dies auch aus dem Urteil selbst direkt oder schlüssig nachvollziehbar indirekt hervorgeht. In Ausnahmefällen, etwa bei eindeutiger Beweislage, kann aber auf das Bedürfnis der Durchführung einer umfangreichen Beweisaufnahme im Strafprozeß verzichtet werden. Die Definitionsfrage des „Beruhens“ entspricht im Grundsatz der Begriffsdefinition bei § 337 Abs. 1 StPO hinsichtlich des Beruhens des Urteils auf einer Gesetzesverletzung, weshalb die dort entwickelten Grundsätze hinsichtlich des Begriffs „Beruhen“ bei § 118 Abs. 3 S. 1 BRAO entsprechend anzuwenden sein dürften (Kap. 4. G. II.). 20. § 118 Abs. 3 S. 2 BRAO erlaubt den Anwaltsgerichten in Ausnahmefällen, sich von der Bindung des S. 1 zu lösen, wenn mehrheitlich Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen bestehen. (Kap. 4. G. III.). Der anwaltsgerichtliche Zweifel muß dabei erheblich sein. Eine abstrakte Eingrenzung des Begriffs des Zweifels erschöpft sich allerdings in einer definitorische Annäherung, eine rechtlich faßbare Grenzlinie kann hingegen nicht gezogen werden. Dementsprechend genügt noch nicht jede Unsicherheit bezogen auf die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts. Andererseits ist eine Überzeugung des Gerichts hinsichtlich der

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5. Kap.: Ergebnisse und Schlußbetrachtung

Falschheit der Feststellungen nicht notwendig, die fehlende Überzeugung von der Richtigkeit genügt allerdings. Die für einen Lösungsbeschluß notwendige Stimmenmehrheit des Anwaltsgerichts muß sich auf dieselben angezweifelten Tatsachen beziehen. Nicht nötig ist nach dem Lösungsbeschluß die Wiederholung der gesamte Beweisaufnahme des Strafgerichts, eine Beschränkung auf bestimmte Fragen, auch innerhalb desselben Sachverhalts, ist möglich. Eine Beweisaufnahme im Vorfeld der Entscheidung über die Lösung von der Bindung ist nicht zulässig. Bei der Bewertung hinsichtlich des Zweifels über die Feststellungen des Strafgerichts ist das anwaltschaftliche Berufungsgericht von der Entscheidung des Anwaltsgerichts unabhängig. Eine Nachprüfung in der Revisionsinstanz findet indes nicht mehr statt. Die innerprozessuale Bindung des anwaltschaftlichen Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanzen hat Vorrang vor der möglichen Bindung an die strafgerichtlichen Feststellungen nach § 118 Abs. 3 BRAO. Insofern liegt eine Ausnahme von der Bindungspflicht nach § 118 Abs. 3 BRAO vor.

B. Zusammenfassende Schlußbetrachtung Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, daß im Spannungsfeld zwischen Strafprozeß und anwaltsgerichtlichem Verfahren, das stellvertretend für die Disziplinarverfahren der freien Berufe steht und vergleichbar ist mit dem Disziplinarverfahren im öffentlichen Dienst, vieles einer systematisch sinnvollen gesetzlichen Regelung zugeführt ist. Insbesondere die Rangfolge der Verfahren folgt einer weitestgehend schlüssigen Struktur, die aus vielerlei Gründen dem Strafprozeß den Vorrang zuspricht. Einzig das in diesem Zusammenhang betrachtete, von der Rechtsprechung entwickelte „Einheitsprinzip“ kann als überkommen und undogmatisch aber auch unpraktikabel bezeichnet werden. Vielmehr bietet sich die Anwendung des Systems der „Einheitsmaßnahme“ an, vergleichbar etwa mit dem der Einheitsstrafe im JGG. So sehr der chronologische Vorrang des Strafverfahrens zu befürworten ist, so vorsichtig muß mit der inhaltlich-materiellen Bevorzugung und einem dahingehenden Einfluß des Strafrechts auf das anwaltsgerichtlichen Verfahren umgegangen werden. Die sich aus der geschichtlichen Entwicklung der Rechtsanwaltschaft ergebende Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Anwaltsstandes muß sich auch weiterhin in einer weitgehend unabhängigen anwaltschaftlichen Disziplinargerichtsbarkeit niederschlagen, die nur durch übergeordnete Verfahrensinteressen und Schutzinteressen des betroffenen Rechtsanwalts, etwa begründet auf dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, eingeschränkt werden darf.

B. Zusammenfassende Schlußbetrachtung

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Gerade aber auch der Blick zu den europarechtlichen Aspekten, die im Vergleich zu der seit 1878 im Grundsatz weitestgehend unveränderten Rechtsanwaltsordnung noch jung erscheinen, hat gezeigt, daß die rechtlichen Konsequenzen des zusammenwachsenden Europas – wenn auch nicht an erster Stelle und mit oberster Priorität – das anwaltliche Disziplinarrecht tangieren und verändern werden. So wird das Disziplinarrecht einer ständigen Veränderung und Anpassung an die gesetzgeberischen und gesellschaftlichen Verhältnisse unterliegen, was ja nicht zuletzt die Neuordnung des Beamtendisziplinarrechts gezeigt hat. Hierbei spielt die Forderung nach einem Umdenken der bisherigen disziplinarrechtlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem überkommenen anwaltsrechtlichen Einheitsprinzip eine vordringliche Rolle. Dennoch macht es selbst in einer Zeit, in der Wertebegriffe wie „anwaltschaftliche Ehre“ oder „Ansehen der Rechtsanwaltschaft in der Öffentlichkeit“ immer mehr an Bedeutung zu verlieren scheinen, vor allem aus dem ureigensten Interesse der Rechtsanwaltschaft an der Funktionsfähigkeit des Anwaltsstandes als „unabhängiges Organ der Rechtspflege“ sowie aus dem Individualinteresse eines jeden Rechtsanwalts an der Glaubwürdigkeit und einer daraus nicht zuletzt folgender wirtschaftlicher Sicherheit heraus Sinn, diesen Grundsatz weiterhin als Maßstab einer selbständigen und unabhängigen anwaltschaftlichen Disziplinargerichtsbarkeit anzulegen. Selbstverständlich kommt man dabei nicht umhin, aus Gründen der Effizienz, der Einheitlichkeit der Rechtsordnung, der Rechtssicherheit und des Verhältnismäßigkeitsprinzips gewisse Einschränkungen in der absoluten Selbständigkeit neben dem allgemeinen Strafverfahren zuzulassen. Dies wird grundsätzlich durch die angesprochenen Regelungen der BRAO gewährleistet und bietet einen weitgehend gerechten Ausgleich zwischen den genannten widerstreitenden Interessen.

Schrifttumsverzeichnis Bandemer, Dagmar: Einstellung hinter der Einstellung, in: NStZ 1988, 297 Beulke, Werner: Der prozessuale Tatbegriff, in: Festgabe 50 Jahre BGH, S. 781 Brangsch, Heinz: Grenzüberschreitende Dienstleistungen der Anwälte in der Europäischen Gemeinschaft, in: NJW 1981, 1177 Bruns, Hans-Jürgen: Rechtsgrundlage und Zulässigkeitsgrenzen strafrichterlicher Auflagen und Weisungen, in: GA 1959, S. 193 Büchting, Hans-Ulrich/Heussen, Benno (Hrsg.): Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, München 2. Aufl. 1991 Claussen, Hans Rudolf/Janzen, Werner: Bundesdisziplinarordnung Handkommentar, 8. Aufl., Köln/Berlin/Bonn/München 1996 Conrad, Hermann/Dilcher, Gerhard/Kurland, Hans-Joachim: Der Deutsche Juristentag 1860 bis 1994, München 1997 Dahs, Hans: Die Revision im Strafprozeß, München 1987 Detmer, Hubert: Der Begriff der Tat im strafprozessualen Sinn, Jur. Diss. Bonn 1989 Dilcher, Hermann: Die Bewährungsauflage der Schadenswiedergutmachung im Verhältnis zur zivilrechtlichen Haftung, in: NJW 1956, 1346 Döring, Paul: Das Verhältnis des Disziplinarverfahrens zum sachgleichen Strafverfahren, in: DVBl. 1963, 171 Erb, Volker: Die Reichweite des Strafklageverbrauchs bei Dauerdelikten und bei fortgesetzten Taten, GA 1994, 265 – Legalität und Opportunität, Berlin 1999 Eylmann, Horst: Unsachlichkeit als Charakterfehler ahnden?, in: AnwBl 1999, S. 338 Feuerich, Wilhelm E.: Verhältnis des ehrengerichtlichen Verfahrens zum Straf- oder Bußgeldverfahren (§ 118 BRAO), in: NJW 1988, 181 Feuerich, Wilhelm E./Weyland, Dag: Bundesrechtsanwaltsordnung, 6. Aufl., München 2003 Fliedner, Ortlieb: Die verfassungsrechtlichen Grenzen mehrfacher staatlicher Bestrafung aufgrund desselben Verhaltens, in: AöR Bd. 99 [1974], S. 242 Friedländer, Adolf/Friedländer, Max: Kommentar zur Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878, München 1908 Gellner, Elmar: Klageerzwingung im Ehrengerichtsverfahren, in: NJW 1963, S. 995 Geppert, Klaus: Gedanken zur Rechtskraft und Beseitigung prozessualer Beschlüsse, GA 1972, 165

Schrifttumsverzeichnis

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Giesebrecht, Helmut: Das Verfahren vor Ehrengerichten, Jur. Diss. Berlin 1938 Glanzmann, Roderich: Berufsrecht beim Bundesgerichtshof, in: 25 Jahre Bundesgerichtshof, S. 185, München 1975 (zit.: FS BGH 25 J.) Gössel, Karl Heinz: Gutachten C zum 60. Deutschen Juristentag in Münster 1994, München 1994 Gribbohm, Günter: Die ehrengerichtlichen Berufs- und Vertretungsverbote in der Rechtsprechung des Senats für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofs, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, Köln/Berlin/Bonn/München 1988, S. 911 Hagedorn, Manfred: Verbot der Doppelbestrafung nach Wehrdisziplinarrecht und (Wehr-)Strafrecht?, in: NJW 1965, S. 902 Hanna, Jörg: Anwaltliches Standesrecht in Konflikt mit zivilrechtlichen Ansprüchen des Mandanten, Jur. Diss. Köln/Berlin/Bonn/München 1988 Hartstang, Gerhard: Anwaltsrecht, Köln/Berlin/Bonn/München 1991 – Der deutsche Rechtsanwalt, Heidelberg 1986 Hecker, Bernd: Das Prinzip „Ne bis in idem“ im Schengener Rechtsraum (Art. 54 SDÜ), in: StV 2001, S. 306 Heintschel-Heinegg, Bernd/Stöckel, Heinz: KMR Kommentar zur Strafprozessordnung, Neuwied 2001 Hellmann, Uwe: Strafprozeßrecht, Berlin/Heidelberg 1998 Henssler, Martin/Prütting, Hanns: Bundesrechtsanwaltsordnung, 2. Aufl., München 2004 Hettinger, Michael (Hrsg.): Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik, Band 4: Reform des Sanktionenrechts, Teilband 2: Einführung der Einheitsstrafe, Baden-Baden 2001 Hillenkamp, Thomas: Verwirkung des Strafanspruches durch Verfahrensverzögerung?, in: JR 1975, 133 Holly, Günter: Geschichte der Ehrengerichtsbarkeit der deutschen Rechtsanwälte, Frankfurt a. M. 1989 Huffmann, Helga: Kampf um freie Advokatur, Essen 1967 Husmann, J. H.: Ehrengerichte oder verfassungsmäßiger Richter?, Würzburg 1970 Isele, Walter: Bundesrechtsanwaltsordnung, Essen 1976 Jähnke, Burkhard: Kritische Bemerkungen zum Grundsatz der Einheit der Standesverfehlung, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, Köln/Berlin/Bonn/München 1988, S. 941 Jescheck, Hans-Heinrich/Weigend, Thomas: Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Berlin 1996 Jessnitzer, Kurt/Blumberg, Hanno: Bundesrechtsanwaltsordnung, 8. Aufl., Köln/Berlin/ Bonn/München 1998 Joecks, Wolfgang/Miebach, Klaus (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, München 2003 (zit.: MüKomm-Verfasser)

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Schrifttumsverzeichnis

Karl, Wolfram (Hrsg.): Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Köln/Berlin/Bonn/München 1996, 5. Lfg. 2002 (zit.: IntKomm-Verfasser) Kausch, Erhard: Der Staatsanwalt, ein Richter vor dem Richter?, Jur. Diss. Berlin 1980 Kleine-Cosack, Michael: Bundesrechtsanwaltsordnung, 4. Aufl., München 2003 Kloepfer, Michael: Verfahrensdauer und Verfassungsrecht, in: JZ 1979, S. 209 Köhler, Heinz/Ratz, Günter: Bundesdisziplinargesetz, 3. Aufl., Köln 2003 Kohlmann, Günter: Der Anspruch des Beschuldigten auf schnelle Durchführung des Ermittlungsverfahrens, in: Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag, Karlsruhe 1972, S. 501 Kopp, Stephan: Die Anwaltsgerichtsbarkeit – Geschichte, Rechtsnatur und Verfahren, in: BRAK-Mitt. 1998, S. 56 Lackner, Karl/Kühl, Kristian: Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 24. Aufl., München 2001 Lagodny, Otto: Teileuropäisches „ne bis in idem“ durch Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ), in: NStZ 1997, S. 265 Lemke, Michael/Julius, Karl-Peter u. a.: Heidelberger Kommentar zur Strafprozeßordnung, 2. Aufl., Heidelberg 1999 (zit.: HK) Lindgen, Erich: Handbuch des Disziplinarrechts, Erster Band, Berlin 1966 Mertes, Norbert: Legalitätsprinzip oder Opportunitätsprinzip im Strafverfahren?, in: Prütting Hanns (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog III, Köln/Berlin/Bonn/München 1986, S. 73 Meyer-Goßner, Lutz: Strafprozeßordnung, 46. Aufl., München 2002 (zit.: M-G) Noack, Erwin: Kommentar zur Reichs-Rechtsanwaltsordnung, 2. Aufl., Leipzig 1937 Olshausen, Th.: Der deutsche Juristentag, Berlin 1910 Ostermann, Erhard: Der Rechtscharakter der Ehrengerichte für Rechtsanwälte und der Berufsgerichte für Heilberufe, Jur. Diss. Münster 1962 Ostler, Fritz: 100 Jahre Rechtsanwaltsordnung, NJW 1979, S. 1959 Paepcke, Peter: Die Grenzen anwaltschaftlicher Ehrengerichtsbarkeit mit Rücksicht auf den Grundsatz ne bis in idem, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, Köln/Berlin/Bonn/ München 1988, S. 985 ff. Paschmanns, Norbert: Die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit nach §§ 153, 153a StPO, Jur. Diss. Frankfurt/Main 1988 Pentz, A.: Nochmals: Die Bewährungsauflage der Schadenswiedergutmachung, NJW 1956, S. 1867 Peters, Karl: Strafprozeß, 4. Aufl., Heidelberg 1985 Pfeiffer, Gerd: Das strafrechtliche Beschleunigungsgebot, in: Festschrift für Jürgen Baumann zum 70. Geburtstag, Bielefeld 1992, S. 329 (zit.: FS Baumann)

Schrifttumsverzeichnis

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– Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, Kommentar, 2. Aufl., München 1999 (zit.: Pfeiffer, StPO) – (Hrsg.): Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung, 4. Aufl., München 1999 (zit.: KK-Bearbeiter) Plöckinger, Oliver/Leidenmühler, Franz: Zum Verbot doppelter Strafverfolgung nach Art. 54 SDÜ 1990, wistra 2003, S. 81 Prütting, Hanns: Die rechtlichen Grundlagen anwaltlicher Berufspflichten und das System der Reaktionen bei anwaltlichem Fehlverhalten, in: AnwBl 1999, S. 361 Radtke, Henning: Bestandskraft staatsanwaltschaftlicher Einstellungsverfügungen und die Identität des wiederaufgenommenen Verfahrens, NStZ 1999, 481 Ranft, Otfried: Strafprozeßrecht, 2. Aufl., Stuttgart 1995 Ranz, Werner: Das Anwaltsrecht in den Ländern des Bundesgebietes, Stuttgart 1950 Rieß, Peter: Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979, in: NJW 1978, 2265 – (Hrsg.): Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Großkommentar, Berlin/New York, Bd. 4, 25. Aufl. 2001, (zit.: LR-Bearbeiter) Rössler, Georg F.: Gerichtsverfassungs- und strafverfahrensrechtliche Normen in der Ehrengerichtsbarkeit, in: Festgabe für Karl Peters, Heidelberg 1984, S. 249 Rudolphi, Hans-Joachim (Hrsg.): Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Frankfurt am Main 1986 ff. (zit.: Bearbeiter SK StPO) Sarstedt, Werner/Hamm, Rainer: Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Berlin/New York 1998 Schäfer, Gerhard: Zur Individualisierung der Strafzumessung, in: Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1989 Schall, Hero: Bedeutung der zivilrechtlichen Verjährungseinrede bei Anordnung der Wiedergutmachungsauflage, in: NJW 1977, S. 1045 Schlüchter, Ellen: Beschleunigung des Strafprozesses und insbesondere der Hauptverhandlung ohne Rechtsstaatsverlust, in: GA 1994, S. 397. Schmidt, Eberhard: Strafrecht und Disziplinarrecht, in: Deutsche Landesreferate zum III. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in London 1950, S. 861 Schomburg, Wolfgang: Die Europäisierung des Verbots doppelter Strafverfolgung – Ein Zwischenbericht, in: NJW 2000, S. 1833 Schönke, Adolf/Schröder, Horst: Strafgesetzbuch Kommentar, 26. Aufl., München 2001 (zit.: Sch/Sch-Bearbeiter) Schroeder, Ernst: Die anwaltliche Berufsgerichtsbarkeit, in: BRAK-Mitt. 1997, S. 11 Specht, Britta: Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem, Berlin/ Heidelberg/New York 1999 Stranz, J.: Die Umgestaltung des Ehrengerichtshofs für Rechtsanwälte, in: DJZ 1909, S. 123

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Schrifttumsverzeichnis

Tröndle, Herbert/Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 50. Aufl., München 2001 (zit.T/F) Volk, Klaus: Strafprozeßrecht, 2. Aufl., München 2001 Vollkommer, Max: Anwaltshaftungsrecht, München 1989 Wassermann, Rudolf: Aktuelle Fragen der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), in: JR 1967, S. 138 Weis, Hubert: Inländerdiskriminierung zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht, in: NJW 1983, 2721. Weißler, Adolf: Geschichte der Rechtsanwaltschaft, Frankfurt a. M. 1967 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1905) Wessels, Johannes/Beulke, Werner: Strafrecht Allgemeiner Teil, 29. Aufl., Heidelberg 1999 Wesser, Sabine: Grenzen zulässiger Inländerdiskriminierung, Bonn 1995 Wolter, Jürgen: Informelle Erledigungsarten und summarische Verfahren bei geringfügiger und minderschwerer Kriminalität, in: GA 1988, S. 397 Ziegenhagen, Christina: Die Berufsgerichtsbarkeit der freien Berufe, Jur. Diss. Münster 1998

Sachwortverzeichnis Abtrennung 55, 59, 77–79 allgemeine Strafgesetze, Art. 103 Abs. 3 GG 15, 36, 47–48, 58, 86–88, 90–91, 93–94, 96, 102, 110, 112, 137–138, 174 Anrechnung 80, 86, 102, 104, 115, 121, 123–124, 175 Anwaltschaft 20–25, 27–28, 30, 34, 36, 89, 92–93, 95, 113, 117, 119, 172, 176 anwaltsgerichtliches Verfahren 16–17, 19–20, 28, 36–45, 48–58, 60–61, 66– 67, 69, 74–78, 82–84, 91–93, 95–97, 110, 112–113, 115–117, 119–120, 122–123, 125–129, 131–139, 142, 144–146, 148–151, 154, 158, 160, 162, 164, 168, 170, 172–174, 176– 178, 180 Anwaltsgerichtsbarkeit 36, 133 – Anwaltsgericht 16–17, 26, 35–36, 38– 39, 44, 50, 52, 54–55, 63–64, 70–71, 76, 85–86, 92–96, 105, 120–122, 124, 130–131, 135, 137, 142, 146–147, 150, 153–155, 159, 162–171, 174, 177–180 – Anwaltsgerichtshof 26, 36, 70, 169 Auflagen und Weisungen, § 153a StPO 98–104, 175 ausländische Maßnahmen 106–108, 113 ausländisches Urteil 143, 159, 177, 179 Aussetzung 27, 38–39, 43–45, 49–52, 54–56, 75–84, 115, 122, 126, 128, 151, 168, 173–174 – Teilaussetzung 77, 81, 83–84, 174 Aussetzungszwang 50, 52, 56, 77 Beamtendisziplinarrecht 19, 48, 64, 66, 104, 122, 124, 126, 128, 131, 154, 175, 178, 181

Beschleunigungsgebot 55–56, 71–78, 81–84, 174 Beschluß, staatsanwaltschaftlicher 131– 132, 146 Bindung – des Anwaltsgerichts 75, 81, 155, 163, 165 – innerprozessuale 53, 163–164, 170– 171, 180 dasselbe Verhalten, dieselben Tatsachen 38, 41, 45, 48–49, 85–86, 91–92, 105, 122, 127–128, 138, 147, 150, 169, 172–173, 175–176 disziplinärer Überhang 41–42, 54, 96, 114, 116–118, 124, 128–129, 146, 148, 151–152, 176, 178 – negativer 39, 85, 125, 147, 152 – positiver 39, 113, 148, 151 Doppelbestrafung 47, 85–86, 93–94, 102, 113, 159 Doppelbestrafungsverbot, s. a. ne bis in idem 15–16, 36, 48, 86, 90, 93–96, 108, 110–112, 122, 130, 132, 159, 161, 174–175, 179 Doppelbewertung 85–86, 172 ehrengerichtliches Verfahren 26–30, 34, 49, 53, 127, 166 Ehrengerichtsbarkeit 20, 26, 28, 30–32, 34, 38 – Ehrengericht 26, 29–31, 33–35, 50, 153 – Ehrengerichtshof 19, 26, 29–30, 33 Einheitsprinzip 55–58, 60–62, 70–71, 76–78, 80–81, 83–84, 174, 180–181 Einheitssanktion 60–63, 65, 69, 71, 78, 80, 83, 152, 174, 178

188

Sachwortverzeichnis

Einstellung 59, 68, 89, 100–103, 129, 131, 133–134, 139, 146, 163, 177 – gerichtliche 135 – staatsanwaltschaftliche 102, 130 Feststellungen, tatsächliche 39, 42, 44– 45, 52–53, 75, 81–82, 137, 149, 153– 157, 159, 163, 165–171, 173, 178–180 Freispruch 27, 39, 42, 54, 68, 85, 93, 101, 125, 127, 129–153, 164–165, 176–178

Rechtsanwaltsordnung 22, 24–25, 28– 29, 31–32, 172, 181 Rückwirkungsverbot 66–67 Sachaufklärung, gesicherte 125, 149

39, 53–54,

Sachverhaltsidentität, einheitlicher Sachverhalt 55–56, 72, 128 sanktioneller Charakter 175

41, 101–102,

Schutzzweck 17, 36–37, 41, 45, 172 Geschichte 15, 17, 20, 87, 153

Strafcharakter 97–100, 105, 174

Konzentrationsmaxime 81–84, 174 Lösung des Anwaltsgerichts 138, 166, 180 Lösungsbeschluß 137, 142, 146–147, 153–155, 166–171, 180

Strafe 15, 24, 39, 54, 74, 85, 87–88, 90, 94, 96–100, 102–103, 105–107, 113– 114, 119–120, 123–124, 138–139, 142, 145, 174 Strafurteil, späteres 122 Tatbegriff, strafprozessualer 48, 58

ne bis in idem, s. a. Doppelbestrafungsverbot 15–16, 36, 48, 86, 90, 93–96, 108, 110–112, 122, 130, 132, 159, 161, 174–175, 179 Nichteröffnungsbeschluß 132–134, 177

Tenor 68 Überlappung 55–56, 151 Verjährung 49, 58, 65–66, 133, 136

Ordnungsmaßnahme 85, 96–97, 102–103, 105–107, 129, 174

99,

Vorrang des Strafverfahrens 38–43, 49, 51, 53–56, 84, 123, 150, 173–174, 180 – chronologisch 39, 49, 173

Pflichtverletzung 15–17, 39, 48, 55, 57– 72, 76–78, 83, 85, 89–90, 93, 118– 121, 125, 127, 131, 142, 145–148, 151–153, 174, 176–178 – außerberuflich 16, 63, 65, 119, 176 – berufsintern 116 Privatklageverfahren 43, 157–158, 173, 179

Wiederaufnahme 54–55, 67–68, 122, 125, 137–138, 149–151, 161, 168, 176, 178 Zweifel 40, 87–88, 137, 155, 166–170, 178–180